Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/7/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es einen Grund gibt, die ganzen Zusatzpunkte heute hier von der Tagesordnung abzusetzen, dann ist es einer, der sich damit begründen lässt, was der Bundesinnenminister in der ARD gesagt hat – ich darf zitieren –: Das Gesetz nennt man Datenaustauschgesetz. Ganz stillschweigend eingebracht. Wahrscheinlich deshalb stillschweigend, weil es kompliziert ist, das erregt nicht so. Ich hab’ jetzt die Erfahrung gemacht in den letzten 15 Monaten: Man muss Gesetze kompliziert machen. Liebe Freunde von der SPD, wenn Sie noch irgendeinen Grund brauchen, um nicht stehen zu bleiben, dann bitte. Das ist zunächst einmal ein Grund für einen Rücktritt. Was steckt für ein Bild der Bürgerinnen und Bürger und des Parlamentes dahinter? So ein Denken ist das Allerletzte. ({0}) So etwas kann man sich nicht ausdenken. Jetzt ein Zitat von jemandem, der seriös etwas dazu sagen kann: ({1}) Bei diesen Verfahren ist auch eine der Schwere der Grundrechtseingriffe angemessene parlamentarische Auseinandersetzung mit den Gesetzentwürfen nicht möglich. Das sagt nicht irgendein linker Ortsverein, sondern das Deutsche Institut für Menschenrechte. ({2}) Man muss ja einmal einordnen, was hier in dieser Woche passiert ist. ({3}) – Dass Sie das alles toll finden, das ist klar. Das ist auch der Hauptgrund, warum wir dagegen sind. Wenn Sie dafür sind, sind wir grundsätzlich dagegen. Da können Sie ganz sicher sein. ({4}) Man kann doch nicht allen Ernstes in einer Woche solche derart schweren Grundrechtseingriffe in einem solchen Verfahren hier durch den Bundestag peitschen. ({5}) Jedes einzelne Gesetz hätte es verdient, ausführlich im Parlament und mit Vereinen, Verbänden und der Zivilgesellschaft diskutiert zu werden. Man muss sich das einmal reinziehen: Am letzten Montag werden die Anhörungen zu all diesen Gesetzen an einem Tag zwischen 10 und 18 Uhr durchgezogen. Was ist das erstens für ein Umgang mit den Sachverständigen? Und zweitens: Was ist das für ein Umgang mit dem Gesetzgeber, mit Ihnen allen? ({6}) Und Sie lassen das mit sich machen! Das ist unnormal, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Damit nicht genug – man muss sich das mal reinziehen! –: Am Ende dieser Anhörungen gegen 18 Uhr, exakt, glaube ich, um 18.10 Uhr, übersendet die Große Koalition allen Ernstes noch Änderungsanträge mit einem Umfang von 31 Seiten. Und da sagen Sie, das sei eine seriöse Befassung mit solchen Gesetzentwürfen! Da stimmt doch wirklich grundsätzlich etwas nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Man muss das Ganze auch politisch einordnen. Hinsichtlich des Verfahrens ist es, glaube ich, offensichtlich, dass man das so nicht machen kann. Für jeden einzelnen Abgeordneten gilt – das ist eine kleine Information an die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen –: Sie sitzen hier doch nicht als die Pressesprecher und die Vollzugsorgane dieser runtergerockten Bundesregierung. ({9}) Sie sind frei gewählte Abgeordnete. So können Sie doch nicht mit sich umgehen lassen. Egal wie man zu der Sache steht, kann man das doch nicht machen. ({10}) Herr Innenminister, Sie haben ja angekündigt, dass Sie bis 2021 weitermachen wollen. Damit sind Sie vermutlich der Einzige, der glaubt, dass diese Chose bis 2021 hier weitergeht. ({11}) Das kann man nun wirklich keinem wünschen. Nur: Wenn es bei Ihnen angekommen ist, dass bald vielleicht Schluss sein könnte, dann kann es trotzdem nicht sein, dass man als Abschiedsgeschenk hier so etwas vorlegt in einem solchen Verfahren und das Parlament so behandelt. Das geht nicht, egal was für ein politisches Leben man sich selbst ausmalt. ({12}) Zum Schluss eine letzte Anmerkung zu den Genossinnen und Genossen der Sozialdemokraten. Nach dem, was politisch passiert ist, nach diesem politischen Erdbeben bei Ihnen und überhaupt nach den letzten Wahlen haben Sie drei Tage innegehalten und nachgedacht. ({13}) Sie sagen jetzt, dass Sie wirklich etwas ändern wollen, dass Sie sich wirklich erneuern wollen und ein Zeichen setzen wollen. Wir haben selber Probleme; darüber können wir gerne ein anderes Mal reden. ({14}) – Sie auch, Kollege Grosse-Brömer, in Ihrem Laden haben Sie auch große Probleme. Ja, wir haben alle sehr große Probleme. ({15}) Letzte Anmerkung. Liebe Freunde von den Sozialdemokraten, wenn Sie es mit der Erneuerung wirklich ernst meinen, dann dürfen Sie bei dieser Farce, die Ihnen vom Innenminister hier aufgetischt wurde, keinesfalls mitmachen. ({16}) Es kann nicht sein, dass die Grund- und Menschenrechte im Untergangsszenario der Großen Koalition verramscht werden. Machen Sie da nicht mit! Stimmen Sie unserem Geschäftsordnungsantrag zu, das alles heute nicht zu beschließen! Vielen Dank. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Michael Grosse-Brömer, CDU/CSU. ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Korte, auch energisch vorgetragener Unsinn bleibt Unsinn. Das ist die erste Feststellung. ({0}) Zweite Feststellung: Sie haben so ein schönes Hobby, Angeln. Ich hätte Ihnen gewünscht, Sie hätten heute den Sonnenaufgang beim Angeln verbracht und vielleicht nicht diesen Unsinn erklärt. ({1}) Vor allen Dingen brauche ich eines von Ihnen überhaupt nicht: Anregungen, wie ich mich als frei gewählter Abgeordneter zu verhalten habe. Da arbeiten Sie in Ihrer Fraktion mal manches nach. Schönen Dank für diese Anregung! ({2}) Das mit dem energisch vorgetragenen Unsinn sage ich auch gleich präventiv mit Blick auf die Kollegin Haßelmann, die nach mir sprechen wird, allerdings auf eine etwas freundlichere und nettere Art. ({3}) Ich hoffe, sie erspart sich solche Anregungen, die ich von Ihnen nun schon gar nicht brauche. Nun zur Sache, weil dies eine Geschäftsordnungsdebatte ist und nicht eine Anregung, wie sich die SPD verhalten sollte. ({4}) Ich kann mich an kaum einen Bundesparteitag der Linken erinnern, der ohne massiven Streit vonstattengegangen ist. Kehren Sie einmal vor Ihrer eigenen Tür! Da müssen Sie erst den Besen suchen und haben noch wochenlang zu tun. ({5}) Nun zur Geschäftsordnung. Bei allen Vorlagen, die wir heute beraten und die Sie wieder absetzen wollen, werden die Fristen der Geschäftsordnung eingehalten. Diese Vorschriften haben wir im Übrigen gemeinsam mit Ihnen und mit allen hier verabredet. ({6}) Das heißt, Sie kritisieren die Einhaltung von Vorschriften, denen Sie selbst zugestimmt haben. ({7}) Nur zur Erinnerung: Sie wettern offensichtlich gegen Regeln, die Sie selbst mit aufgestellt haben. Jetzt kommen Sie natürlich mit der alten Kiste, das sei ein Zerrbild der übereilten Beratungen, das gehe so gar nicht, man hätte die Gesetzentwürfe überhaupt nicht beraten können. ({8}) Dazu sage ich nur: Wenn Sie die Gesetzentwürfe gelesen haben – ob Sie das getan haben, weiß ich nicht –, dann haben Sie es verschwiegen, oder Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Die Gesetzentwürfe waren teilweise vor Monaten im Kabinett, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz im Dezember 2018. ({9}) Oh Gott, wie überstürzt beraten! Aber vielleicht haben wir da eine unterschiedliche Auffassung von Arbeit und Beratungszeit. ({10}) Es kann ja auch sein, dass Sie länger brauchen als wir, bis Sie irgendwas verstanden haben. Aber kurz war es auf jeden Fall nicht. ({11}) Zum Datenaustauschgesetz. Man kann ja darüber reden, wie man will. Am 4. April fand die erste Lesung statt, also öffentliche Beratung und Behandlung. Die Anhörung war am 13. Mai. ({12}) Auch da hatten Sie doch ein bisschen Zeit, nachzuarbeiten. Jetzt nur noch mal so – das ist ja das Beste bei der ganzen Geschichte; das hat der Herr Korte auch vergessen zu erwähnen –: ({13}) Sie kritisieren unsere Vorlagen und die Anhörung, haben aber selbst eigene Vorlagen dazugesetzt. ({14}) Dafür reichte offensichtlich die Zeit. Jetzt wollen Sie die wieder absetzen. Haben Sie denn auch Probleme, Ihre eigenen Vorlagen in der Zeit zu verstehen, oder was? ({15}) Ich begreife es nicht. Ich finde es auch nicht besonders schlüssig. ({16}) Ihre Argumentation passt vorne und hinten nicht. Ich habe schon das Gefühl, Sie wollten hier nur mal wieder reden, damit Sie der SPD ein paar Vorschläge machen können. Die, glaube ich, sind nicht darauf angewiesen. ({17}) Ich will einmal sagen: Ihre Absetzungsanträge sind nicht nur Unsinn, sie würden auch zu konkreten Problemen in unserem Land führen. Nehmen wir zum Beispiel die Entfristung des Integrationsgesetzes. Wenn wir das heute nicht beschließen, wird die Wohnsitzauflage im August auslaufen. Vielleicht wollen Sie, dass die ganzen Menschen in Deutschland sich auf den Weg in die großen Städte machen, insbesondere nach Berlin. Wir haben ja in Berlin eine unglaublich erfolgreiche Regierung von Rot-Rot-Grün. ({18}) Die wissen dann auch, damit umzugehen. Ich will nur mal sagen: Mit Rot-Grün ist man linkes und rotes und grünes Ungemach gewohnt. Ich glaube, leider steht uns das jetzt auch in Bremen bevor. Das ist ja so eine Geschichte: Man setzt auf grünes Licht und steht vor der dunkelroten Ampel. ({19}) Das ist ja vielleicht auch eine mögliche Erkenntnis der letzten Tage: Das grüne Licht führt zu dunkelroten Ampeln. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu sage ich: Täglich grüßt das Murmeltier. – Was schön ist: Sie haben diesmal angefangen und nicht Frau Haßelmann. Deswegen hatte ich jetzt eine neue Inspiration. ({20}) Was bleibt, ist: Die Absetzungsanträge von Grünen und Linken bleiben formal unbegründet, in der Sache schädlich. Klug, wie wir sind, lehnen wir sie deshalb ab. Vielen Dank. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung der Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir mal wieder zur Sache, nämlich zu unserem Antrag zur Geschäftsordnung. ({0}) Für alle die, die das bisher noch nicht verfolgen konnten: Wir haben einen Antrag gestellt zur Absetzung von der Tagesordnung der Beratungen der Entwürfe zum Geordnete-Rückkehr-Gesetz, zum Datenaustauschverbesserungsgesetz, zum Integrationsgesetz, zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz, zum Beschäftigungsduldungsgesetz, zum Asylbewerberleistungsgesetz und zum Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz. Meine Damen und Herren, diesen Antrag stellen wir nicht einfach so, ({1}) sondern weil sich mit dieser Befassung im Beratungsverfahren heute weder die Beratung im Umfang noch im Inhalt noch gegenüber den Sachverständigen – – ({2}) – Herr Fraktionsvorsitzender Brinkhaus, ({3}) wenn Sie mir zuhören würden, hätten Sie gemerkt, dass ich mit keinem Wort gesagt habe, dass das nach der Geschäftsordnung nicht zulässig ist. ({4}) Ich argumentiere anders, und wenn Sie mir antworten wollen, dann hören Sie meinen Argumenten erst mal zu. ({5}) – Ich argumentiere mit der Art und Weise des Beratungsverfahrens. Melden Sie sich doch einfach zu Wort. Sie scheinen ja getroffen zu sein, mein Herr. ({6}) Meine Damen und Herren, wieso Absetzungsantrag? ({7}) Weil die Art der Beratungen, die Intensität der Grundrechtseingriffe, der Umfang der Inhalte dieser Gesetzentwürfe, ({8}) die Frage der Eingriffstiefe für die Betroffenen, für die Verbände, für viele Institutionen, für die Länder gravierend sind. Deshalb finden wir, dass dieses Beratungsverfahren so nicht in Ordnung ist, und stellen daher den Absetzungsantrag. ({9}) Meine Damen und Herren, wir haben am Montag zu fünf Gesetzentwürfen eine Anhörung gehabt, die bis kurz nach 18 Uhr gedauert hat. Um 18.10 Uhr gingen die ersten Änderungsanträge ein. Um 18.12 Uhr gingen die nächsten Änderungsanträge zum Gesetz ein. ({10}) Um 18.15 Uhr gingen die weiteren Änderungsanträge ein. Das waren alles Änderungsanträge, die weder den Parlamentariern noch den Sachverständigen während der Anhörung bis 18 Uhr vorlagen. ({11}) Um 18.15 Uhr waren sie aber schon gedruckt, waren sie schon geschrieben, waren sie alle schon eingegangen. Und da wollen Sie mir erklären, das wäre immer die alte Leier, Herr Brinkhaus? Was soll das denn? ({12}) Sie haben das nicht seriös beraten. Wie soll dieses Parlament eigentlich nach außen die selbstbewusste Ausstrahlung haben, dass man als Abgeordnete den Diskurs pflegt, dass man die Argumente ernst nimmt, dass man sich mit Sachverständigen austauscht? ({13}) Wir dürfen uns doch nicht wundern, wenn wir demnächst keine Sachverständigen mehr finden, die Lust und Interesse haben, sich auf ein solches Verfahren einzulassen. ({14}) Denn, meine Damen und Herren, Sie degradieren diese wichtigen Sachverständigenanhörungen, die uns allen doch ein Anliegen sein sollten, zur Farce. Und das ist ein Problem, ({15}) und auch deshalb stellen wir heute einen Absetzungsantrag. ({16}) Jetzt noch ganz kurz zum ordentlichen Beratungsverfahren. Wissen Sie, was Sie darunter verstehen? Im Ausschuss hatte jede Fraktion für einen Gesetzentwurf drei Minuten Zeit. Unsere Fraktion hatte drei Minuten Redezeit zu einem Gesetz. Das heißt: Die Erörterung, die Fragemöglichkeit, die Auswertung der Anhörung – drei Minuten für ein Gesetz. Kommen Sie mir nicht damit, dass das ordentlich beraten ist, meine Damen und Herren! ({17}) Es ist dem in keiner Weise angemessen, was wir heute beraten und was am Ende beschlossen wird, und das wissen die meisten Parlamentarierinnen und Parlamentarier von Ihnen auch. Und deshalb stellen wir hier den Absetzungsantrag gemeinsam mit den Linken. ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Carsten Schneider, SPD. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesetzentwürfe, die die Oppositionsfraktionen von Linken und Grünen hier absetzen wollen, werden im Bundestag schon sehr lange beraten. ({0}) Insbesondere das Einwanderungsgesetz ist ein Gesetz, das die Gesellschaft in Deutschland seit Jahrzehnten beschäftigt. Wir hören heute mit der Mär auf, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Das war immer eine Mär. ({1}) Und deswegen sind wir für die Beratung und für die Abstimmung über diese Gesetzentwürfe. Es ist eine historische Wende, dass wir in Deutschland ein Gesetz für gesteuerte Zuwanderung erlassen, ein Gesetz, das mit der Mär aufräumt, dass wir kein Einwanderungsland sind, und das vielen Menschen die Chance gibt, zu uns zu kommen. Und wir entscheiden nach den Kriterien Recht und Ordnung; denn diese gelten. ({2}) Wenn ich Sie, Frau Haßelmann und Herrn Korte, richtig verstanden habe, dann gibt es in der Sache Unterschiede; aber dass es geschäftsordnungsmäßig richtig ist, stellen Sie nicht infrage. Von daher müssten Sie eigentlich zur Debatte kommen wollen. Denn wir müssen dann auch zu einer Entscheidung kommen, um zu sehen, wie Sie sich verhalten. ({3}) Eigentlich müssten Sie den Antrag zurückziehen. Ich will aber auf einen zweiten Punkt eingehen; darüber habe ich mich extrem geärgert. Ich habe mich wirklich sehr geärgert, Herr Bundesinnenminister, als ich gestern Ihr Interview mit den Einlassungen zum Datenschutzgesetz gesehen habe. Da muss ich Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten haben uns an dieser Stelle verhöhnt gefühlt; ich sage Ihnen das ganz offen. ({4}) Ich finde es eine Frechheit und eine Dreistigkeit, was Sie sich da erlaubt haben. Vielleicht sollte das witzig sein, aber das Ding hatte keine Pointe. ({5}) Im Gegenteil: Es führt dazu, dass Sie bei einem regulär zu beratenden Gesetzentwurf, der gar nicht so kompliziert ist, in der Öffentlichkeit per Video die Leute verunsichern und Vertrauen zerstören. Ihr Job müsste es jedoch sein, Vertrauen aufzubauen. ({6}) Das macht es nicht leicht; das sage ich Ihnen ganz offen. Deswegen hoffe ich sehr, dass wir zur Sacharbeit zurückkommen können und dass wir heute auch entscheiden. Denn diese Entscheidung ist historisch, und wir als Sozialdemokraten wollen, dass das kommt. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe die Linken und Grünen einfach nicht. ({0}) Sie haben heute diese Geschäftsordnungsdebatte beantragt. Sicher: Die Regierung brachte diese Woche sehr kurzfristig mehrere Gesetze auf die Tagesordnung. Das ist nie gut, aber das hat sie vorher auch schon getan, ohne dass Linke und Grüne eine Geschäftsordnungsdebatte hier anberaumt haben. ({1}) Beide Linksparteien haben das Ganze wohl nur deshalb aufgesetzt, weil sie die heute zur Debatte stehenden Migrationsgesetze hassen. ({2}) In den Ausschüssen hat die Hysterie ja schon ihren freien Lauf genommen. Das ist der wahre Grund. ({3}) Schon der Anschein von Migrationsbegrenzung ist für Links-Grün ein Sakrileg. Deshalb wollen Sie die Tagesordnung umbauen; und das geht so nicht. ({4}) Meine Damen und Herren, wenn in diesem Haus wirklich jemand eine Geschäftsordnungsdebatte zu beantragen hat, dann ist das die AfD. ({5}) Sie haben uns gestern wieder verweigert, was uns nach der Geschäftsordnung wie allen anderen Fraktionen zusteht: das wichtige Amt des Vizepräsidenten im Deutschen Bundestag. ({6}) Darauf haben wir einen Anspruch, und das verweigern Sie uns. Das wäre ein Fall für eine Geschäftsordnungsdebatte. ({7}) Sie haben erneut unseren Kandidaten, Gerold Otten, abgelehnt – einen Berufssoldaten, der einen Eid auf die Verfassung abgelehnt hat, der bereit gewesen wäre, dafür zu sterben. ({8}) – Abgelegt hat! Ich stelle es richtig: abgelegt hat! – Den haben Sie wieder nicht gewählt. ({9}) Das sind die Probleme mit Demokratie und Geschäftsordnung in diesem Haus. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Als letztem Redner in dieser Geschäftsordnungsdebatte erteile ich dem Kollegen Dr. Marco Buschmann, FDP, das Wort. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Der legitime Platz des Liberalen“, so sagt Marion Gräfin Dönhoff, „ist zwischen allen Stühlen.“ Ich muss ganz ehrlich sagen: Hier steht ein Elefant im Raum, und alle reden um den heißen Brei herum. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum diese Große Koalition in dieser Sitzungswoche das Parlament mit ihren Anträgen flutet. Dieser lautet: Sie weiß selber nicht, wie lange sie das Verfahren noch unter Kontrolle hat. Das ist der Grund, warum das Parlament hier mit Anträgen geflutet wird. ({0}) Dass das rechtlich geht, stellt niemand in Zweifel. ({1}) Darüber, ob das klug ist, auch in Hinblick auf das Ansehen dieses Hauses, kann man aus unserer Sicht nicht mal streitig debattieren. Denn offen gestanden: Parallel zu einer Sachverständigenanhörung zu sagen, man habe schon eine Lösung gefunden, heißt nichts anderes, als den Sachverständigen zu sagen: Was ihr beitragt, interessiert uns nicht. ({2}) Es wird hier versucht, in der Sache vom Verfahren abzulenken. Wir führen hier allerdings eine Geschäftsordnungsdebatte. Was ist für uns der entscheidende Grund, warum wir diesem Absetzungsantrag trotzdem nicht zustimmen? ({3}) Der Grund ist: Was würde es denn ändern, wenn man ihm stattgeben würde? Weil diese Große Koalition die Panik auf der Stirn hat, ({4}) würde nichts anders passieren, als dass all diese Anträge in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause auf die Tagesordnung kommen. Das würde zu nichts anderem führen, als dass noch mehr Verfahren nicht sachgemäß beraten werden können. Das würde dazu führen, dass wir hier demnächst noch bis 4 Uhr nachts sitzen. ({5}) Das würde zu nichts anderem führen, als dass hier in der letzten Sitzungswoche das totale Chaos ausbricht. Wir wollen nicht, dass das Chaos in dieser Regierung zum Chaos hier im Parlament wird. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit kommen wir zur Abstimmung über den Absetzungsantrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dafür, die genannten Punkte von der Tagesordnung heute abzusetzen? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist der Antrag gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt.

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Herausforderungen der weltweiten Migration erfordern ein System der Ordnung. Mit diesem Migrationspaket, das wir heute beraten – schade, dass wir es in verschiedenen Zeitabschnitten beraten –, wird für die Bundesrepublik Deutschland ein Regelwerk geschaffen, ein Regelwerk, das die Gesichtspunkte der Humanität und Ordnung beinhaltet, ein Regelwerk, das ich in dieser Form in keinem anderen Land Europas kenne. Es ist eine Zäsur in unserer Migrationspolitik, ({0}) der Auftakt dafür, dass wir die Ziele, die wir mit der Migrationspolitik verbinden, noch besser erfüllen können ({1}) als in der Vergangenheit. ({2}) Meine Damen und Herren, nachdem wir bei der Zuwanderung schon im letzten Jahr weit von dem Zielkorridor, den wir innerhalb der Koalition vereinbart hatten, entfernt waren, werden wir diesen Zielkorridor von 180 000 bis 220 000 Migranten nach den neuesten Zahlen, die mir vorliegen, auch in diesem Jahr nicht erreichen. ({3}) Das ist schon ein Erfolg; denn, meine Damen und Herren, kein Land auf dieser Welt kann unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen. Nur mit einer Begrenzung von Zuwanderung kann eine erfolgreiche Integration gelingen. ({4}) Wir werden – wie gesagt: zeitlich versetzt – auch das Fachkräftezuwanderungsgesetz beraten. Es ist aber wichtig, es hier bereits zu nennen. Denn es ist ein ganz wichtiger Aspekt der künftigen Migrationspolitik in Deutschland, dass wir unseren Fachkräftebedarf in Deutschland mit einem modernen Gesetz regeln. Es handelt sich um ein Gesetz, dass dazu beitragen wird, dass die illegale Migration zurückgedrängt wird, weil es künftig einen legalen Weg zur Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gibt, und zwar für Leute, die wir in Deutschland für unseren Arbeitsmarkt brauchen. Das ist eine ganz wichtige Weichenstellung. ({5}) Außerdem verbessern wir mit den Gesetzen, die heute verabschiedet werden, die Integration von Menschen, die Schutzbedarf haben, die das Verfahren durchlaufen haben, die anerkannt schutzbedürftig sind. Wir verbessern dies im Bereich der Bundesagentur für Arbeit durch das Arbeitsförderungsgesetz und im BAMF, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, durch die Förderung des Spracherwerbs. Ich kenne wiederum international kein Land, das für schutzbedürftige Menschen so viel an Integrationsbemühungen aufwendet wie wir in Deutschland. ({6}) Dazu kommt die großartige Anstrengung vieler ehrenamtlicher Männer und Frauen in Deutschland, die sich um diese Personen kümmern. ({7}) Ich habe in den vergangenen Monaten immer und immer wieder gesagt, dass uns all dies – das Asylrecht zu gewährleisten, die Integration erfolgreich zu bestreiten, die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten – nur gelingen wird, wenn wir die Zuwanderung begrenzen – das ist für die Akzeptanz entscheidend – und wenn wir als Rechtsstaat gleichzeitig konsequent gegen jene vorgehen, die diesen Schutzbedarf nicht haben, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren wollen. Da sage ich ganz deutlich: Wir erwarten, dass Antragsteller aktiv an ihrem Asylverfahren mitwirken. Wir wollen verhindern, dass Personen während oder nach einem Asylverfahren untertauchen oder ihre wahre Identität verschleiern. Darum geht es in dem vorliegenden Gesetzentwurf, über den wir heute im ersten Abschnitt reden. Menschen ohne Bleiberecht müssen unser Land verlassen. Einer Pflicht zur Ausreise muss auch eine tatsächliche Ausreise folgen. ({8}) Es geht nicht darum, Menschenrechte mit Füßen zu treten. Niemand muss uns überzeugen, Menschenrechte zu achten. Wir achten alle rechtsstaatlichen Regeln. Aber wir reden jetzt bei diesem Rückkehrgesetz über Personen, ({9}) die in einem rechtsstaatlichen Verfahren als Asylbewerber abgelehnt worden sind und für die ein Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde. Es geht nur um solche Personen. Wir müssen darauf achten, dass die konsequente Durchsetzung des Rechts das Vertrauen in den Rechtsstaat stärkt. Die Akzeptanz des Asylverfahrens hängt ganz wesentlich davon ab, dass abschlägige Bescheide auch tatsächlich zur Ausreise von Antragstellern führen. Das ist der Hauptpunkt dieses Gesetzes. ({10}) Ich bitte, das Gesamtpaket zu betrachten, dessen Erarbeitung zum großen Teil schon vor langer Zeit begonnen worden ist. Das wird jetzt durch die Verabschiedung von sieben Gesetzen und durch ein späteres Gesetz zur Regelung der Staatsbürgerschaft von ehemaligen oder aktiven IS-Kämpfern und bei Mehrehen abgerundet. Deshalb kann ich sagen: Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland das modernste Migrationsrecht und die modernste Migrationspolitik in ganz Europa. ({11}) Das sollten wir nicht kritisieren, sondern wir sollten stolz darauf sein. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Haben Sie den Namen Mahmoud Al-Zein schon einmal gehört? Das ist der Chef eines der größten kriminellen Clans, die in Deutschland ganze Stadtteile beherrschen, Schutzgeld erpressen, die rauben und schwere Gewalt verüben. Viele Bürger fragen sich: Warum haben wir solche Gangster bei uns? Dieser Mahmoud Al-Zein, so konnte man jüngst in der Presse lesen, hatte schon vor 31 Jahren den ersten Abschiebebescheid im Briefkasten. Er war jahrzehntelang vollziehbar ausreisepflichtig, er wurde aber nie abgeschoben, wie Hunderttausende andere auch nicht. Seit 31 Jahren terrorisiert er die deutsche Bevölkerung. Wer hat in diesen 31 Jahren regiert? CDU, CSU, FDP, SPD, Linke und Grüne. Sie haben in Bund und Ländern regiert. Was wir hier sehen, ist ein Totalversagen sämtlicher Altparteien ohne Ausnahme. ({0}) Aber immerhin nehmen Sie eines wahr: das Sinken Ihrer Umfragewerte. Vor jeder wichtigen Wahl schaffen Sie neue Gesetze. Die hören sich dann so an, als würden sie Abhilfe schaffen. Wie 2017 vor der Bundestagswahl: Da überschlug sich die Merkel-Regierung, weil die AfD vor dem Einzug in den Bundestag stand. Erst gelobte die Kanzlerin, das Wichtigste sei jetzt – wörtlich – „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“. Dann verspricht sie den Deutschen eine – wörtlich – „nationale Kraftanstrengung“ für mehr Abschiebungen. Und schließlich, kurz vor der Bundestagswahl 2017, trat das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht in Kraft. Was ist das Ergebnis all dieser Versprechungen, all dieser Ankündigungen und Gesetze? Gab es mehr Abschiebungen? Keine einzige! Im Gegenteil: Es wurden weniger abgeschoben. Meine Damen und Herren, schlimmer noch als die Asyltäuscher sind die Wahltäuscher. Die einen erschleichen sich Asyl, die anderen hohe politische Ämter. ({1}) Jetzt, kurz vor den entscheidenden Landtagswahlen im Osten, peitscht die Regierung das sogenannte Geordnete-Rückkehr-Gesetz durchs Parlament, wieder ein Katalog hohler Ankündigungen. Ihr neues Gesetz verspricht: Wer den Pass wegwirft, um hinsichtlich seiner Herkunft zu täuschen, müsse jetzt beim Beschaffen neuer Dokumente kooperieren. Aber Fakt ist: Jeder Migrant muss bloß einen Zettel unterschreiben und bestätigen, er habe sich um Papiere bemüht. ({2}) Belegen muss er das nicht. Kontrollieren tut das niemand. Es reicht die bloße Unterschrift, und alle bleiben da. Über diese Naivität lachen sich Hunderttausende Asyltäuscher in aller Welt kaputt. Damit muss Schluss sein. ({3}) Das Gesetz verspricht eine Wiedereinreisesperre für Intensivtäter. Wie soll das gehen? Würde es klappen, dass einer wie Al-Zein abgeschoben wird, könnte er doch jederzeit wieder ins Land. Die Grenzen sind offen; Sie kontrollieren doch nicht. 15 000 Personen kommen jeden Monat neu in unser Land, die Hälfte ohne Pass. Das bringt also gar nichts. Ihr Gesetz verspricht weiter, wer Migranten vor Abschiebung warnt, würde bestraft. Fakt ist: Alle links-grünen Flüchtlingshelfer, die vor einer Abschiebung warnen, sollen straffrei bleiben. Ihr Gesetz für angeblich geordnete Rückkehr ist eine Doppellüge: Es schafft weder Ordnung noch Rückkehr. Aber die Wähler merken das. ({4}) Die Wähler merken, dass Sie unaufrichtig sind. Und so wie Abschiebung die richtige Antwort auf Asyltäuscher ist, ist Abwahl die richtige Antwort für Wahltäuscher. ({5}) Die Sachsen, die Brandenburger und die Thüringer werden Sie das schon in wenigen Wochen bei den Landtagswahlen spüren lassen, und das nicht zu knapp, meine Damen und Herren. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Eva Högl, SPD. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen schönen guten Morgen. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir beraten heute über sieben Gesetzentwürfe zum Thema Migration. Wir haben die Punkte, um die es geht, alle miteinander im Koalitionsvertrag vereinbart. Wir haben im Übrigen ein Jahr lang daran gearbeitet. Wir haben formuliert. Wir haben intensiv beraten und intensiv verhandelt. Wir wollen unsere Vorhaben heute verabschieden. Ich finde, das ist ein gutes Signal. Das zeigt: Die Koalition ist handlungsfähig. ({0}) Unsere Migrationspolitik folgt vier Prinzipien: humanitäres Asylrecht, das Schutz und Sicherheit bietet, modernes Einwanderungsrecht, das Chancen eröffnet und Perspektiven aufzeigt, eine gelingende Integration für gutes Zusammenleben und klare Regeln für die Rückkehr. ({1}) Wir geben Menschen Schutz und Sicherheit. Wir sorgen für schnelle Verfahren, damit zügig und gleichzeitig sorgfältig geprüft wird, wer in Deutschland bleiben darf. Wir eröffnen frühzeitig und umfassend den Zugang zu Sprach- und Integrationskursen und zum Arbeitsmarkt. Wir schaffen die Möglichkeit, dass die Menschen, die zu uns gekommen sind, Teil unserer Gesellschaft werden. Zu so einer humanitären Flüchtlingspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einem guten Asylrecht mit klaren Regeln und zu Rechtsstaat und Demokratie gehört: Wer nicht als asylsuchend anerkannt wird und unter gar keinen Umständen in unserem Land bleiben darf, der muss unser Land auch wieder verlassen. ({2}) Nur so kann und nur so wird die Aufnahme Schutzsuchender in der Gesellschaft dauerhaft Akzeptanz finden. Es ist sehr wichtig, das heute Morgen zu betonen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – und ich hoffe, für alle anderen auch – hat die freiwillige Ausreise absolute Priorität. Wir würden es uns wünschen, dass alle ausreisepflichtigen Menschen freiwillig ausreisen. ({3}) Wir schaffen dafür viele Programme in Bund und Ländern. Deswegen sind für uns die Abschiebung und gegebenenfalls Ausreisegewahrsam und Abschiebehaft immer nur das allerletzte Mittel ganz am Ende. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland sind rund 240 000 Personen vollziehbar ausreisepflichtig, davon sind 180 000 geduldet, das heißt, ihre Abschiebung ist aus ganz unterschiedlichen Gründen ausgesetzt. Mit dem Rückkehrgesetz schaffen wir jetzt Regelungen, diese Ausreisepflicht besser durchzusetzen, und zwar vor allem bei denjenigen, die hinsichtlich ihrer Identität täuschen und ihre Mitwirkung verweigern und damit ihre Ausreise schuldhaft verhindern oder erschweren. Dazu gehört, dass wir bei Ausreisepflichtigen sehr sorgfältig und ganz klar unterscheiden zwischen verschuldeten und unverschuldeten Ausreisehindernissen und dass wir zumutbare Pflichten gesetzlich konkretisieren. Genau das machen wir in unserem Gesetzentwurf. ({5}) Diese Pflichtverletzung kann jederzeit im Nachhinein geheilt werden. Die Tatsachen können auch durch Versicherung an Eides statt glaubhaft gemacht werden. Das ist keine Duldung light. ({6}) Das hat die SPD verhindert. ({7}) Wir schaffen klare Voraussetzungen für Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam, und ich sage es noch mal: Das ist das allerletzte Mittel. Deswegen gibt es hierfür enge Voraussetzungen. Weil viel darüber diskutiert wird, sage ich hier auch noch mal sehr deutlich: Das muss ein Richter bzw. eine Richterin anordnen. Damit folgen wir rechtsstaatlichen Grundsätzen. ({8}) Wir haben vereinbart, dass die Person, die in einem AnKER-Zentrum untergebracht wird, nicht länger als 18 Monate dort verweilt; hier gibt es ein paar Ausnahmen. Keine Ausnahme gibt es aber bei Familien und Kindern. Wir haben ganz klar festgelegt: Familien und Kinder bleiben nicht länger als 6 Monate in einem ­AnKER-Zentrum. ({9}) Was wir als SPD als Erfolg verbuchen, ist, dass es eine individuelle und unabhängige Asylverfahrensberatung geben wird, ({10}) und ich freue mich, dass wir das in der Koalition gemeinsam vereinbart haben. Die Wohlfahrtsverbände und Nichtregierungsorganisationen werden Asylsuchende beraten können. Das ist ein ganz wichtiger Erfolg im Zusammenhang mit den AnKER-Zentren. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns wird vorgeworfen, wir würden die Zivilgesellschaft kriminalisieren. Das ist absolut falsch und großer Quatsch. ({12}) Wir kriminalisieren keine Fluchthelferinnen und Fluchthelfer und niemanden, der Asylsuchenden zur Seite steht und sie berät. Amtsträgerinnen und Amtsträger unterliegen einer besonderen Geheimhaltungspflicht. Darunter fallen auch Personen, die im Asylverfahren mit Informationen betraut sind. Dass sie über den Ablauf der Abschiebung und Details dieses Prozesses nicht Auskunft geben dürfen, sichert, dass die Abschiebung überhaupt stattfinden kann; denn viele Abschiebungen scheitern genau daran. ({13}) Damit kriminalisieren wir nicht Dritte und nicht Wohlfahrtsverbände, ({14}) und wer das behauptet, sagt die Unwahrheit. ({15}) Ich weiß, dass die gemeinsame Unterbringung in den Haftanstalten ein ganz sensibler Punkt ist; auch für die SPD-Bundestagsfraktion ist das im Übrigen ein ganz schwieriger Punkt. ({16}) Wir haben jetzt geregelt, dass wir den Ländern befristet bis 2022 die Möglichkeit geben, das übergangsweise zu machen. Natürlich müssen die Personen in den Haftanstalten dann räumlich voneinander getrennt sein. Das ist absolut klar und rechtsstaatlich vertretbar sowie im Übrigen auch mit dem europäischen Recht vereinbar. ({17}) Unsere Gesetzentwürfe verstoßen weder gegen Grund- und Menschenrechte noch gegen das Europarecht, und ich möchte mich an dieser Stelle zum Schluss ganz herzlich bei der Bundesregierung – beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales und beim Bundesinnenminister – für die gute Beratung, die gute Vorlage und auch die Unterstützung bei unserer parlamentarischen Beratung bedanken. ({18}) Für die SPD-Bundestagsfraktion sage ich sehr deutlich: Die Gesetzentwürfe sind kein fauler Kompromiss, sondern enthalten viele wichtige und praktikable Regeln. Die SPD kann ihnen zustimmen, und ich bitte das Parlament ebenfalls um Zustimmung. Vielen Dank. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unabhängig von der Geschäftsordnungsdebatte gerade eben war die Kritik, die von Linken und Grünen in den letzten Tagen an diesen Gesetzentwürfen geäußert wurde, vollkommen maßlos und überzogen. Von den Linken habe ich nichts anderes erwartet. Aber von den Grünen, deren Vorsitzende in Interviews gern mal betont, dass Abschiebungen auch durchgesetzt werden müssten, sollte und müsste man mehr Lösungsorientierung und Sachlichkeit erwarten können. ({0}) Sosehr ich das Verhalten von Linken und Grünen hier missbillige: Gute Gesetzentwürfe haben Union und SPD hier nicht vorgelegt. ({1}) Es ist mit Händen zu greifen: Diese Koalition ringt um die eigene Handlungsfähigkeit. Die Handlungsfähigkeit unseres freiheitlichen Rechtsstaates gerät dabei leider in den Hintergrund. ({2}) Das gilt für das Rückkehrgesetz, das wir hier jetzt besprechen, aber auch für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Ausbildungsduldungsgesetz und die übrigen Gesetze, über die wir heute entscheiden. Die Koalition arbeitet hier weiter, um es mit den Worten des Nationalen Normenkontrollrates zu sagen, als „Ad-hoc-Reparaturbetrieb“. Statt das über die Jahre schief und baufällig gewordene Gebäude unseres Asyl- und Aufenthaltsrechts endlich grundlegend zu überholen, betreiben Sie immer noch Flickschusterei, womit Sie das ganze System noch unübersichtlicher, komplizierter und fehleranfälliger machen. Ihr Vorgehen eine Politik der kleinen Schritte zu nennen, wäre da noch eine Untertreibung. Sie haben uns ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorgelegt, mit dem im Saldo jährlich bestenfalls 18 000 zusätzliche Fachkräfte nach Deutschland kommen – und das, obwohl in den nächsten Jahren 3 Millionen Stellen neu zu besetzen sein werden. ({3}) Das ist kein Fortschritt, sondern – von ein paar Punkten abgesehen – Politik gewordener Stillstand. ({4}) Im Vergleich dazu machen Sie mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz immerhin ein paar größere Schritte: die Neuregelung des Ausreisegewahrsams, die Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, die Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung von Passersatzpapieren. Diese und andere Punkte sind erkennbare Verbesserungen. Die grundlegenden Probleme werden aber auch in diesem Gesetz nicht angegangen; es wird nicht einmal der Versuch unternommen. Das gilt vor allem für das ungelöste Kompetenzchaos zwischen Bund und Ländern. Es wäre höchste Zeit, dass der Bund hier endlich die Zuständigkeit für das gesamte Rückführungsmanagement an sich zieht. ({5}) In Ihrem großspurig angekündigten Masterplan Migration war da auch von Handlungsbedarf die Rede. Davon ist aber nicht viel Meisterliches übrig geblieben. Das ist kein großer Aufschlag. Sie könnten übrigens die Bundesländer, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, umso besser und glaubwürdiger in die Pflicht nehmen, wenn Sie die Bundesländer, die sich um konsequente Abschiebungen bemühen, endlich wirksamer unterstützen würden, Herr Bundesinnenminister. ({6}) Außerdem werden die Probleme durch die Einschränkung des Trennungsgebotes in fragwürdiger Weise übertüncht. Auch das Problem der Dublin-Rückkehrer und die Aufgabe, hier endlich dringend benötigte beschleunigte Verfahren einzuführen, um die Anreize zur Wiedereinreise zu reduzieren, werden übrigens nicht angegangen. Hier zeigt sich leider: Die Koalition hat die Zeichen der Zeit noch immer nicht verstanden. Dabei geht es um nicht weniger als um das Vertrauen in rechtsstaatliche Asylverfahren und genau darum, dass es einen Unterschied macht, wie ein Verfahren ausgeht. Nur das wird Akzeptanz für die notwendige verstärkte legale Arbeitsmigration und auch für die Herausforderungen der Integration schaffen. Es geht um rechtsstaatliche Konsequenz statt um Beliebigkeit. ({7}) Statt schwarz-roter Flickschusterei brauchen wir endlich eine grundlegende Reform und ein echtes Einwanderungsgesetz, mit dem Asyl, Einwanderung und Abschiebung insgesamt neu geordnet werden. Ein Einwanderungsgesetz aus einem Guss. Dazu haben wir Vorschläge gemacht. Und dafür werden wir weiter werben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ulla Jelpke, Die Linke, ist jetzt die nächste Rednerin. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Högl, Sie haben hier gesagt, ein Jahr lang hätten Sie im Kabinett um diese Gesetzentwürfe gestritten. Mit einem beispiellosen Angriff auf die Schutzrechte der betroffenen Flüchtlinge wollen Sie von der Koalition diese Gesetzentwürfe hier jetzt einfach innerhalb weniger Tage „durchzocken“, ohne dass die Öffentlichkeit wirklich eine Debatte darüber führen konnte, geschweige denn das Parlament. Das ist wirklich eine Unverschämtheit. ({0}) Man muss wirklich sagen: Gerade die Gesetzentwürfe, die wir jetzt zu diesem Tagesordnungspunkt beraten, sind aufgrund der Angriffe auf die Grundrechte von Flüchtlingen wirklich voller Schäbigkeiten. Sie haben eben selber ein Beispiel genannt: Die Regelungen zur Abschiebehaft werden so weit ausgeweitet, dass man jetzt auch Flüchtlinge mit Strafgefangenen unterbringen kann. Das ist eindeutig europarechtswidrig. ({1}) Auch die Einführung einer Duldung zweiter Klasse für Geflüchtete, die aus Sicht der Behörden bei ihrer Abschiebung nicht genügend mitgewirkt haben, ist einfach ein Skandal. Die Hürden für Asyl sind sehr hoch, aber in Abschiebehaft geht man ganz schnell. Auch bei der Einstufung von Abschiebeterminen als Dienstgeheimnis gab es eine Korrektur. Amtspersonen müssen dann künftig mit einer Haftstrafe von fünf Jahren rechnen, Ähnliches gilt auch für andere Personen. Damit kriminalisieren Sie die Solidarität mit Flüchtlingen. ({2}) Meine Damen und Herren, ein anderer Punkt ist das verfassungswidrige Aushungern von anerkannten Schutzflüchtlingen, auch von Familien mit Kindern, die aus einem anderen EU-Staat nach Deutschland kommen, zum Beispiel aus Griechenland, Bulgarien oder Italien, wo Flüchtlinge schutzlos auf der Straße landen. Sie bekommen hier keine Sozialhilfe mehr. Ohne jede inhaltliche Begründung werden nach dem Willen der Koalition die gutachterlichen Stellungnahmen von Psychotherapeuten nicht mehr als Abschiebehindernis akzeptiert. Das bedeutet in der Konsequenz, dass kranke oder traumatisierte Menschen abgeschoben werden können, ohne dass wirklich genau geprüft wurde. Dieses „Hau-ab-Gesetz“, wie es die NGOs nennen, ist ein Katalog der Grausamkeiten, der von Menschenverachtung und Anbiederung an Rassisten und skrupellose Ordnungsfanatiker nur so strotzt. ({3}) Mit dem Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetz treibt die Koalition das Projekt „Gläserner Ausländer“ weiter voran. Datenschutz gibt es für Migranten einfach nicht mehr. Mit der Entfristung des Integrationsgesetzes werden anerkannte – anerkannte! – Flüchtlinge dazu verdammt, über Jahre in strukturschwachen Regionen zu leben, möglicherweise in Sammelunterkünften, getrennt von ihren Familien und Freunden. Das ist integrationsfeindlich; das haben auch die Sachverständigen sehr deutlich gesagt. Die Einschränkung der Freizügigkeit entspricht ebenfalls nicht EU-Recht. Meine Damen und Herren, ausnahmslos alle zivilgesellschaftlichen Organisationen – wir haben hier auf der Tribüne einige Vertreter des Bayerischen Flüchtlingsrats, die ich herzlich begrüße – ({4}) haben all diese Gesetze abgelehnt und auf die verheerenden Folgen hingewiesen. Wir müssen im Gegenteil diesen NGOs – dazu gehören auch die Kirchen und viele Wohlfahrtsverbände – für den Einsatz, den sie für Flüchtlinge immer wieder unermüdlich zeigen, dankbar sein. ({5}) Die Koalition kommt immer mit dem Argument, dass es bei den Abschiebungen ein Vollzugsdefizit gäbe. Doch statistisch belegen Sie diese Aussage überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Sie bestätigen in Ihren Antworten auf Kleine Anfragen, dass das Ausländerzentralregister fehlerhaft geführt wird. Sie arbeiten mit Zahlen von Menschen, die angeblich abgeschoben werden müssen, die es aber gar nicht gibt. Viele Menschen, die hier leben, haben eine Duldung aus humanitären Gründen, weil sie familiäre Bindungen haben, eine Ausbildung machen, krank sind oder aus einem Kriegsland kommen. Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich auf, mit falschen Zahlen den Notstand zu suggerieren und Stimmung gegen Geflüchtete zu machen. ({6}) Meine Damen und Herren, man hat hier wirklich den Eindruck, dass die Große Koalition, vor allen Dingen die Union, diese Gesetze durchpeitschen will, weil sie sieht, dass die Große Koalition am Ende ist. Deshalb will sie möglichst noch ein paar Verschärfungen durchsetzen. Die Rolle der SPD bei diesem Verfahren ist, muss ich sagen, wirklich nur noch armselig. Man muss Sie wirklich fragen: Wie viel Anstand haben Sie eigentlich noch? Warum stoppen Sie diese menschenfeindlichen und ‑verachtenden Horrorpakete nicht? ({7}) Machen Sie sich nicht weiter zur Handlangerin bei der Demontage der Rechte von Schutzsuchenden durch die Koalition; denn diese Gesetze atmen den Geist von AfD und Union. ({8}) Meine Damen und Herren, statt Geflüchtete immer massiver unter Druck zu setzen, brauchen wir eine ernsthafte Bekämpfung von Fluchtursachen, eine humanitäre Bleiberechtsregelung und positive Angebote, vor allen Dingen in der Integration. Deswegen werden wir heute diese Gesetze ablehnen. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, hat nun das Wort. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit geschlagenen 14 Jahren trägt die Union die Verantwortung im Bundesinnenministerium. Sie, Herr Seehofer, tun heute so, als wäre Ihnen justamente eingefallen, wie man die Probleme endlich angehen kann, wie man hier endlich zu einer sinnvollen Politik kommt. Kommen Sie mir jetzt nicht mit einem Jahr Kabinettsberatung, Frau Högl. Das Kabinett interessiert hier niemanden. Hier ist der Deutsche Bundestag. ({0}) Da ist es unmöglich, am Montag sechs Anhörungen zu machen und am Freitag hier mit einem solchen Gesetzes­potpourri aufzulaufen. ({1}) Das ist schlicht unseriös, meine Damen und Herren. ({2}) Frau Högl, bei Ihrer Rede muss man sich sehr wundern. Es gibt zu diesem Gesetz Kritik aus den eigenen Reihen. Lesen Sie einmal den Brief der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen. Ich zitiere: … wir geben mit diesem Gesetz grundlegende Werte und Rechte unseres Staates auf, bekämpfen rechtswidrige Zuwanderung nicht und vernichten zugleich Integrationserfolge. ({3}) Man denkt: Immerhin! Das führt aber nicht etwa dazu, dass Sie hier heute das Gesetz ablehnen, sondern Sie verlassen sich darauf, dass irgendjemand klagt und dass das Bundesverfassungsgericht irgendwann das mit Ihren Stimmen verabschiedete verfassungswidrige Gesetz wieder einsammelt. Wer soll das verstehen, meine Damen und Herren? ({4}) Erst kürzlich haben wir hier an dieser Stelle 70 Jahre Grundgesetz gefeiert – zu Recht, kann ich nur sagen. Heute aber greift man erneut Prinzipien dieser Verfassung an, verbunden mit einem Angriff auf die Zivilgesellschaft, bei dem man inzwischen den Eindruck bekommt: Das hat Methode. Nach rhetorischen Angriffen auf die Kirchen und die Menschen, die sich im besten Sinne der christlichen Nächstenliebe engagieren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ({5}) sollen nun Menschen kriminalisiert werden, die Abschiebetermine weitergeben. Ob rhetorische oder gesetzliche Attacken auf Flüchtlingshelfer und Seenotretter, auf die Deutsche Umwelthilfe oder Attac, auf Fridays for Future, kritische YouTuber oder Kritiker des Nestlé-­Klöckner-Videos: Wer weite Teile der Zivilgesellschaft diffamiert und bedroht, statt mit ihnen in den Dialog zu treten und sie einzubinden, der zeigt, dass er jedwedes Gespür verloren und aus den letzten Wochen nichts gelernt hat, meine Damen und Herren. ({6}) Zum euphemistischen Datenaustauschverbesserungsgesetz, das in dieses Paket so hineingemauschelt wird. Sie ignorieren die scharfe Kritik der großen Mehrheit der Sachverständigen und schaffen einen Zweiklassendatenschutz, den unsere Verfassung schlicht nicht gestattet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Zu guter Letzt. Der Minister hat ja angekündigt, 2021 Schluss machen zu wollen. Das ist eine große politische Karriere, Herr Seehofer, die da zu Ende geht; das sage ich mit Respekt. ({8}) Aber für die Zuverlässigkeit und Seriosität bundesdeutscher Innenpolitik kommt 2021 vier Jahre zu spät. Ganz herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Morgen ein umfangreiches Gesetzespaket – sieben Gesetze, 500 Seiten Gesetzestext –, mit dem wir die Fachkräftezuwanderung nach Deutschland auf eine völlig neue Grundlage stellen und mit dem darüber hinaus geltendes Recht tatsächlich umgesetzt wird, und zwar für diejenigen, die in Deutschland ohne eine Bleibeperspektive sind. Deshalb ist dieses Gesetz und das gesamte Paket, das wir heute Vormittag beraten, ein großer Erfolg für die Koalition, und zwar für alle drei sie tragenden Parteien, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Es ist in der Tat so, wie es der Bundesinnenminister gesagt hat: Dieses Paket muss zusammengelesen werden. Man muss beides zusammendenken. Die Regelungen, um Menschen, die mit Kompetenz und Leistungsbereitschaft dieses Land gemeinsam mit uns voranbringen möchten, Möglichkeiten zur Einwanderung in den Arbeitsmarkt zu eröffnen, und gleichzeitig die Regelungen, um die Menschen, die nicht schutzbedürftig sind und auch keine Bleibeperspektive haben, zeitnah wieder außer Landes zu bringen, gehören zusammen. Das ist eine schlüssige und in sich konsistente Einwanderungspolitik. Dafür steht diese Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Deswegen haben wir entschieden, uns zu überlegen, wie wir die richtigen Grundlagen dafür schaffen können, dass auch Menschen von außerhalb Europas in unseren Arbeitsmarkt einwandern. Wir sind uns auch einig, dass wir dort mehr Härte brauchen, wo diejenigen, die nicht schutzbedürftig und nicht bleibeberechtigt sind, außer Landes müssen. Das beginnt schon bei der Einreise nach Deutschland. Darauf sind wir bisher kaum eingegangen. Da geht es beispielsweise darum, dass dem Asylrecht in Europa jedenfalls eine Erkenntnis zugrunde liegt: Es gibt kein Recht, in dem Land Asyl zu beantragen, wo man es gerade möchte; vielmehr macht man das dort, wo man das erste Mal europäischen Boden betreten hat. ({2}) Trotzdem haben wir allein im vergangenen Jahr 55 000 Dublin-Ersuche gehabt. Das heißt, ein Drittel der eröffneten Asylverfahren betraf Personen, die bereits in einem anderen europäischen Staat einen Asylantrag gestellt haben oder sogar bereits einen Schutzstatus hatten. ({3}) Deshalb ist es nur konsequent, dass wir hier handeln, dass wir denen, die rechtswidrig bei uns um Asyl gebeten haben, abgesenkte Leistungen zumuten, und dass wir denen, die bereits einen Schutzstatus in einem anderen Land haben, im Prinzip nichts mehr geben, bis auf die Rückfahrkarte. Damit begrenzen wir Binnenmigration in Europa, und das ist auch absolut notwendig. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte sehr, Frau Kollegin Bayram.

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege, Sie haben jetzt gesagt, dass Sie Menschen, von denen Sie annehmen, dass sie nicht schutzbedürftig sind, nichts mehr geben wollen, außer einer Rückfahrkarte. Das heißt, Sie sind sich sehr wohl dessen bewusst, dass Sie mit Verabschiedung des Gesetzentwurfs, den wir jetzt beraten, und des ganzen Pakets an Vorlagen Kinder, Familien aushungern, einknasten, ({0}) nur damit Sie Ihr Ziel erreichen, dass die Menschen Deutschland verlassen. ({1}) Da stelle ich mir und auch Ihnen als Christdemokrat schon die Frage: Können Sie so was verantworten, und wie erklären Sie es eigentlich den Menschen? ({2})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um ganz ehrlich zu sein, Frau Kollegin: Ich weiß wirklich nicht, wie man so einen Schwachsinn, den Sie hier geäußert haben, begründen kann. ({0}) Da fallen mir keine Worte ein. In anderen Debatten reden wir hier im Deutschen Bundestag darüber, dass wir mehr europäische Zusammenarbeit und mehr europäische Integration brauchen. In diesem Fall ist es so, dass es um Menschen geht, die in einem der anderen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union Asylrecht bekommen haben. ({1}) Sie haben nicht das Recht, nach Deutschland oder in irgendein anderes europäisches Land weiterzureisen. ({2}) Deshalb setzen wir geltendes Recht durch, und deshalb bringen wir diese Menschen dorthin zurück, wo sie sicher sind. ({3}) Eines ist klar: Diese Menschen sind sicher vor Verfolgung, und sie haben kein Recht darauf, sich das Land auszusuchen, das sie gerne hätten. ({4}) Insofern setzen wir geltendes Recht um, und wir verstoßen nicht etwa gegen Europarecht oder sonst etwas. Als wichtige Voraussetzung, um dies zu erreichen, setzen wir auf eine klare Trennung von Asyl und Arbeitsmigration. Deswegen haben wir beispielsweise in das Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz und das Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung klare Stichtagsregelungen aufgenommen, womit wir verhindern, dass es zu Pull-Faktoren und zu Anreizen für die Zukunft kommt. Das haben wir in diesem Gesetzespaket mitbedacht, und deshalb ist es ein gutes. ({5}) Ich will außerdem darauf hinweisen, dass wir auch an das Ende der Asylverfahren herangehen. Da geht es darum, dass wir beispielsweise zwischen denen unterscheiden, die hier eine Duldung bekommen, weil sie unverschuldet an ihrer Ausreise gehindert sind, und denen, die ihre Rückführung verhindern. Für Letztere schaffen wir ein neues Rechtsinstitut – „Duldung mit ungeklärter Identität“ –, womit wir diejenigen ansprechen, die tricksen, täuschen, die Identitätstäuscher, Mitwirkungsverweigerer sind, die glauben, dem deutschen Staat auf der Nase herumtanzen zu können. ({6}) Die nehmen wir uns vor, und die müssen dafür auch Konsequenzen tragen. ({7}) Das ist eine deutliche Verbesserung, die wir insbesondere im parlamentarischen Verfahren erreicht haben. Ein weiterer Punkt ist: Ausreisepflicht muss auch durchgesetzt werden. Das gewährleisten wir mit dem Ausreisegewahrsam. Daher ist es ein großer Vorteil, dass im Gesetz klar stehen wird, dass es dafür der Fluchtgefahr nicht bedarf. Es ist richtig, dass man die Prognoseentscheidung der Gerichte so eingeschränkt hat, dass klar ist: Wer den Ausreisetermin um 30 Tage verpasst, der hat die materiellen Voraussetzungen für den Ausreisegewahrsam erfüllt. Das ist ein effektiver Fortschritt. ({8}) Damit verbunden haben wir weitere wichtige Dinge erreicht, etwa das Betretensrecht der Polizei bundeseinheitlich zu regeln. Dieses Recht gibt es in Bayern, in Baden-Württemberg, während Berliner Polizeibeamte riskieren, eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zu bekommen – weil sie geltendes Recht durchsetzen wollen. Das ist doch absurd, und damit räumen wir mit diesem Gesetzespaket auf. ({9}) Wenn die Polizei einen Ausreisepflichtigen zum Richter bringen möchte, dann muss er auch mitgehen. Dafür haben wir als Ergebnis des parlamentarischen Verfahrens eine entsprechende Regelung ins Gesetz gebracht. Damit wird nichts anderes erreicht, als dass das Ganze rund wird, damit wird nichts anderes erreicht, als dass wir geltendes Recht auch durchsetzen – darum geht es –, und das erwarten die Menschen auch völlig zu Recht von uns. Ich bin davon überzeugt: Es ist in der Tat nicht der kleinste gemeinsame Nenner, der uns hier verbindet, sondern es ist etwas, hinter dem man wirklich stehen kann. Ich schließe mich dem Dank an die beteiligten Ministerien an. Ich danke dem Bundesinnenminister, dem Bundesminister für Arbeit und Soziales und ausdrücklich auch Ihnen, liebe Frau Högl, und der SPD-Bundestagsfraktion, weil wir ein sehr, sehr konstruktives Verfahren hatten und am Ende, von den gemeinsamen Zielen geleitet, etwas Gutes für unser Land erreicht haben. Darauf dürfen wir stolz sein. Das ist ein echter Beweis der Handlungsfähigkeit dieser Koalition, und genau so sollten wir weitermachen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Gottfried Curio, AfD. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele Hunderttausende abgelehnte Asylbewerber werden weiter voll versorgt. Dafür wurde der absurde Status einer „Berechtigung der Unberechtigten“ erfunden – die Duldung. Viele sind aber selbst nach diesem pervertierten Rechtsverständnis abzuschieben – vollziehbar. Was aber geschieht? Die Zahl der Abschiebungen sinkt immer weiter; die Zahl Ausreisepflichtiger steigt. ({0}) Jede zweite Abschiebung scheitert. Die Leute tauchen ab, leisten Widerstand, greifen die Polizei an, oder einer ruft plötzlich nach dem Arzt, da er sich angeblich nicht gut fühlt – und diese Leute kassieren weiter. Der Bürger, der das hört, fühlt sich noch viel weniger gut. Wie wird hier mit Recht und Ordnung, wie mit dem von ihm erarbeiteten Steuergeld umgegangen? ({1}) Die Koalition hat nun an vielen kleinen Stellschräubchen ein wenig gedreht. Über 50 Seiten Gesetzentwurf liegen vor. So schwer ist es unter dieser Regierung, geltendes Recht durchzusetzen. Jüngst wurde der Entwurf noch erweitert: Die Polizei dürfe zum Zwecke seiner Ergreifung sogar die Wohnung des Abzuschiebenden betreten. Was für eine Klarstellung! Ja, wenn nötig, dürfe man die Wohnung sogar durchsuchen. Was für harte Jungs wir doch im Innenministerium haben! ({2}) In Berlin nämlich lässt die SPD Abschiebungen einfach nicht mehr regelrecht durchführen. Unterkünfte dürfen nicht mehr einfach betreten werden. Auf Zwang soll verzichtet werden. Die Polizei wird dem Asylbetrüger wohl eine Einladung aussprechen, ({3}) sich am Abschiebungsvollzug doch bitte zu beteiligen – kultursensibel, definitiv unrassistisch. Vermutlich stärkt das sogar den Zusammenhalt zwischen diesen Herrschaften und ihrer Beute, dem deutschen Sozialstaat. ({4}) Es fehlt aber am politischen Willen, tatsächlich die Hunderttausenden Unberechtigten wieder aus dem Land zu bringen. Stattdessen belässt das neue Duldungsgesetz die Abgelehnten durch Spurwechsel im Land: Man ist dann mal in Ausbildung. – Und: Abschiebungen scheitern oft, weil die Personen gewarnt werden. Reaktion im Gesetzentwurf: weitgehende Straffreiheit für das Durchstechen des Termins. – Das Gesetz lässt seine eigene Vereitelung straffrei. Viel mehr muss man darüber schon nicht mehr sagen. Wenn Abschiebung so schwer ist, sollte man vielleicht mal die Grenze schützen, statt Hunderttausende weiter ungehindert reinzulassen. Auch der Ruf „Frontex stärken“ bringt keinen Grenzschutz: Dort registriert man nur und winkt durch. In Wahrheit will die GroKo die Masse der Illegalen in Deutschland behalten. So wird die Spaltung der Gesellschaft weiter vorangetrieben: am Wohnungsmarkt, wo es dann für deutsche Niedrigverdiener zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt, am Arbeitsmarkt, wo Konkurrenzkampf und Lohndumping gefördert werden, bei der gelebten Heimat, wo mit vieltausendfacher kulturfremder Zuwanderung geprägter Lebensraum, von lang her ererbt, unwiederbringlich verloren geht, bei der zugehörigen Diffamierung von jedem, der das Ganze inklusive Heimatverlust und finanzieller Beraubung nicht toll findet. Wir sagen: Schluss damit! ({5}) Mit diesem Gesetz soll noch einmal Arbeitsfähigkeit vorgetäuscht werden. Aber was für Verrenkungen, was für Regelungsakrobatik, statt einfach zu sagen: Grenze wird ab jetzt gesichert, ({6}) Artikel 16a Grundgesetz gilt wieder, Syrien-Krieg ist aus, bei Kriminalität Ausweisung, für Schutzbedürftige Sachleistungen, Integration in Richtung Heimatland. ({7}) Doch nichts von alledem. Eine grundsätzliche Wende hin zum Effektiven ist nicht erwünscht. Stattdessen wird dieser kleine Tausch zwischen Koa-Kumpels vorgenommen: ein bisschen Recht im Abschiebungsgesetz gegen Unrecht im Duldungsgesetz. Alle Wege dieses programmierten Misslingens führen ins Dauerbleiberecht, samt Familiennachzug, samt überwiegend staatlicher Alimentation – ein alljährliches Zig-10‑Milliarden-Grab. Nein, meine Damen und Herren, die Fortsetzung dieses Koalitionsversuchs ist nur noch ein Trauerspiel. Deshalb: Schluss damit! Dauer-GroKo ist Trauer-GroKo. Anderthalb Jahre Regierungsbildungsversuch sind genug, die demokratische Legitimation ist verbraucht. ({8}) Geben Sie die Entscheidung wieder zurück, zurück in die Hand des Souveräns! ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Helge Lindh, SPD. ({0}) – Wir müssen gerade etwas klären. Es gab einen Zwischenruf, der vermutlich einen Ordnungsruf verdient. Herr Kollege Lindh, bis Sie zu Ende gesprochen haben, haben wir das geklärt. Sie haben das Wort.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nach einigen in diesem Hohen Hause und nach einigen außerhalb dieses Hohen Hauses geht, steht vor Ihnen jetzt ein Unmensch, ein Verräter der Menschenwürde, ein Rassist oder, wie wir es eben gehört haben, ein Annäherer an die AfD und ein Anbiederer an den Rassismus. Ich muss mich an diese Vorstellung erst einmal mit Irritation gewöhnen. Sie ist nicht ganz neu; aber sie ist irritierend für jemanden, der, auch weil er jahrelang versucht hat, sich für Geflüchtete, für Seenotrettung einzusetzen, weil er einem YouTuber zu dieser Frage ein Interview gegeben hat, mit Morddrohungen, einem Kopfgeld und tagtäglichen Hassschreiben konfrontiert ist. Das ist die Realität in diesem Land. Wenn auch Mitglieder dieses Bundestages heute nicht wagen, frei als Abgeordnete abzustimmen, weil sie Angst haben, dass Aktivisten ihre Büros angreifen oder zerstören, ist, glaube ich, etwas nicht richtig. ({0}) Vielleicht haben Sie es gemerkt: Wenn es notwendig ist, dass ich auf meine eigene Biografie verweise, wenn ich mich – wie viele andere hier auch in den letzten Tagen – also genötigt fühle, mich zu rechtfertigen, und mit über die Grenze gehenden moralischen Erpressungsversuchen konfrontiert werde, dann stimmt etwas nicht, dann ist etwas nicht in Ordnung. ({1}) Ich begrüße es sehr – das kennzeichnet und würdigt unsere Demokratie –, dass sich so viele Menschen in diesen Tagen und auch zuvor für Menschenrechte und Menschenwürde einsetzen, dass sie es laut tun und dass sie auch gegen ihre Einschränkungen kämpfen. Aber wenn dieser durchaus gut gemeinte Idealismus in der Debatte zum Absolutismus wird, dann stirbt die Diskursfähigkeit, ({2}) und dann stirbt die Fähigkeit zur fairen Auseinandersetzung mit der Kraft des Arguments. ({3}) Es ist sehr wichtig und auch verständlich, dass wir emotional werden, wenn es um Abschiebungen geht, um Fragen der Ingewahrsamnahme, wenn es darum geht, dass Menschen abgeschoben werden. Es geht schließlich um existenzielle Schicksale, um Fragen, die uns berühren. Aber wenn wir eine Situation der reinen Emotionalität erreichen, in der Sachlichkeit und Fairness in der Auseinandersetzung nicht mehr möglich sind, dann stirbt auch jede Form der Ehrlichkeit und Differenziertheit der Auseinandersetzung, die wir in der Frage von Migration und Asyl dringender denn je gebrauchen können. ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Grundlage internationalen und nationalen Rechts müssen wir, um gerade nicht Getriebene des Rechtspopulismus zu sein, imstande sein, über Fragen von Migration und Asyl auf der Ebene von Kompromissen, von Entscheidungen und auf der Ebene einer Diskurskultur, die dem anderen nicht vorwirft, moralisch defizitär zu sein, zu diskutieren. Das ist Grundvoraussetzung einer selbstbewussten, souveränen Demokratie. ({5}) Deshalb werde ich wie auch viele andere Abgeordnete in diesem Haus, die Sie vorhin adressiert haben, ({6}) nicht wegen und nicht trotz dieser moralischen und weit unter die Gürtellinie gehenden Anwürfe entscheiden, sondern aufgrund einer bewussten Entscheidung zustimmen, einer Entscheidung für eine unzweifelhaft sozialdemokratische Migrationspolitik, die sich deutlich in dem heute zur Entscheidung stehenden Migrationspaket einschließlich des Geordnete-Rückkehr-Gesetzes ausdrückt. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lindh, die Kollegin Mihalic würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie ja ohnehin jetzt meinen Redefluss unterbrochen haben und ich, wie ich eben begründet habe, –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sagen Sie Ja oder Nein?

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– für eine Kultur des Diskurses stehe, sage ich Ja. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, wenn sich ein Kollege zu einer Zwischenfrage meldet, muss ich den Redner fragen. Ich bitte Sie, das nicht als eine Unterbrechung des Redners zu würdigen. ({0}) Das geht so nicht, bei allem Respekt. Jetzt hat die Kollegin Mihalic das Wort zu einer Zwischenfrage.

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Lindh, Sie sagten ja gerade selber, Sie sind an einem sachlichen Diskurs interessiert. Aber wenn Sie so ein großes Interesse daran haben, dann können Sie mir vielleicht mal erklären, warum Sie hier ein verkürztes Verfahren praktizieren, ({0}) warum wir erst am Montag Marathon-Anhörungen von Expertinnen und Experten hatten und heute, am Freitag, bzw. in dieser Sitzungswoche das hier im Hauruckverfahren durchs Parlament bringen, ohne in aller gebotenen Tiefe ordentlich darüber beraten zu können. Das erklären Sie mir mal bitte, wenn Sie sagen, dass Ihr Interesse an einem sachlichen Diskurs in all diesen Fragen so unermesslich groß ist. ({1})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen sehr für diese Frage. Es wurde ja am Anfang, in der Geschäftsordnungsdebatte, mehr als deutlich gemacht, dass wir uns absolut im Rahmen der parlamentarischen Gepflogenheiten und unserer Vorgaben bewegen. ({0}) Sie haben die Antwort auf Ihre Frage selbst gegeben: Wir wollen selbstständig entscheiden, und zwar schnellstmöglich, um dieses dringend notwendige Gesetzespaket auf den Weg zu bringen. Wir wollen vor Beginn des Ausbildungsjahres die Möglichkeit einer Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung schaffen. ({1}) In einer Situation aufgehetzter Diskussionen gibt es nicht nur 22 Organisationen, die sich verständlicherweise aufregen und für diejenigen kämpfen, für die sie sich einsetzen. Es gibt auch viele andere in meinem Wahlkreis und anderswo, die fragen: „Wann sorgt ihr für Ordnung in der Migrationspolitik?“, ({2}) die fragen: „Wie wird sichergestellt, dass ein Unterschied zwischen unverschuldet und verschuldet an ihrer Ausreise Gehinderten gemacht wird?“, die danach fragen: Wie klären wir das faktische Problem der Identitätsfeststellung? – Antworten auf diese Fragen zu geben, ist politische Aufgabe. Politische Aufgabe ist Gestaltung und nicht, uns hier verschwörungstheoretisch zu unterstellen, wir würden aus irgendwelchen Koalitionsgründen etwas durchpeitschen wollen. ({3}) Weil Sie sich permanent im Modus des Moralischen befinden, frage ich Sie: Wenn Sie – und Sie haben das gute Recht, sich aufzuregen – uns bei jeder Frage betreffend Abschiebung vorwerfen, wir brächen die Menschenrechte, warum schieben Sie dann in Baden-Württemberg ab? Warum ist das Praxis in Hessen? ({4}) Warum hat die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein ein Abschiebehaftgesetz beschlossen, bei dem übrigens auch Kinder und Familien im Ausnahmefall inhaftiert werden können? Das werfe ich Ihnen nicht vor, aber diese Doppelmoral werfe ich Ihnen vor. ({5}) Es ist gut, für Rechte zu kämpfen. Aber manchmal gibt es einen ganz schmalen Grat zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit. ({6}) Es ist gut, Würde zu betonen; aber es gibt eben auch – ich habe mir das lange genug in unzähligen Ausschusssitzungen angehört – einen sehr schmalen Grat zwischen Heiligkeit und Scheinheiligkeit, ({7}) und der ist hier überschritten. Daher hoffe ich sehr, dass wir bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen endlich einmal wieder in der Lage sind, uns pragmatisch und humanitär mit der zentralen Zukunftsfrage der Migration auseinanderzusetzen. Wenn wir nicht wollen, dass an Grenzen generell zurückgewiesen wird – das wollen wir als Sozialdemokraten eben nicht –, wenn wir kein neues Nauru nach dem Modell Australiens wollen, wenn wir nicht wollen, dass Europa zur Festung mit Mauern wird, und wenn wir erst recht nicht wollen, dass Menschen im Mittelmeer verrecken, weil wir die Seenotrettung verhindern, wenn wir all das nicht wollen, dann müssen wir eben nicht nur Fluchtursachen bekämpfen, sondern wir müssen in Zukunft auch dafür sorgen, dass wir Menschen, die keine Bleibeperspektive in unserem Land haben, die keine Perspektive auf Asyl haben, davon abhalten, sich in die Hände von Schleppern zu begeben und sich auf die Reise zu machen. ({8}) Das ist mindestens so ethisch und moralisch wie Ihre Einwürfe.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lindh, achten Sie bitte darauf, dass Ihre Redezeit zu Ende ist. ({0}) – Also, wenn die CDU/CSU-Fraktion Ihnen ein bisschen Redezeit gibt, ({1}) können Sie gerne weiterreden; aber ich werde sie bei dem nächsten Redner abziehen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Ich will nicht unsolidarisch sein. Ich appelliere an alle hier, dass wir den Diskurs nicht weiter vergiften und uns für eine pragmatische, humanitäre Politik einsetzen und es vielleicht beim nächsten Mal schaffen, dass nicht so viele Abgeordnete hier unter solchen Drohszenarien und inakzeptablen Bedingungen der moralischen Unterdrucksetzung entscheiden müssen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Abgeordnete Michel Brandt hat während der Rede des Kollegen Dr. Curio hier laut gerufen: Nazis aus dem Bundestag. – Dafür rufe ich Sie zur Ordnung. ({0}) – Machen Sie keine weiteren Bemerkungen, studieren Sie erst die Geschäftsordnung, um sich über die weiteren Folgen zu vergewissern. Jetzt hat das Wort der Kollege Stephan Thomae, FDP. ({1})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Herr Minister! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach einer wirklich sehr langen Findungsphase von etwa einem Jahr bekommt die Große Koalition jetzt plötzlich Torschlusspanik und legt in dieser Woche acht Gesetzentwürfe vor, von denen wir heute sieben in zwei Etappen beraten. Nach so langer Zeit sollte man glauben, dass nun ein großer Wurf den Bundestag erreichen würde, ein mutiger Schritt nach vorn, ein neues Konzept; aber statt eine konzeptionell neue Systematik vorzulegen, wird wieder nur Flickschusterei betrieben. ({0}) Für uns Freie Demokraten wäre ein neues Konzept, ein großer Schritt, ein mutiger Entwurf gewesen, ein einheitliches Einwanderungsgesetzbuch, ein Gesetz aus einem Guss auf den Weg zu bringen, in dem beschrieben ist, unter welchen Bedingungen, unter welchen Konditionen Menschen ins Land kommen dürfen und hier bleiben dürfen, aber natürlich auch, wann Menschen nicht ins Land dürfen und wann sie das Land wieder verlassen müssen – nötigenfalls unter Anwendung von Verwaltungszwang. Weltoffen, aber mit klaren Regeln – das wäre ein großer Wurf, ein neues Konzept gewesen. Stattdessen erhalten wir heute hier wieder neue Flickschusterei. ({1}) Man darf eben auch nicht die Augen davor verschließen, dass in den letzten vier Jahren 93 000 Abschiebungen in Deutschland gescheitert sind. Allein im letzten Jahr, 2018, sind mehr Abschiebungen gescheitert als gelungen. Davor, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken und den Grünen, verschließen Sie die Augen; ({2}) das darf nicht sein. Auch das gehört zu einer klaren Regelung des Einwanderungsrechtes. Diese unangenehmen Wahrheiten müssen Sie ertragen. Wir sagen Ja zu einer offenen Einwanderungsgesellschaft; aber das gilt eben nicht grenzenlos. Wenn man Nein sagt, wenn jemand eben nicht im Land bleiben kann, dann muss man das auch entsprechend durchsetzen können. ({3}) Herr Minister, die Methoden, die Sie anwenden, Ihre Mittel, wären nicht unsere erste Wahl gewesen. Eine Lockerung des Trennungsgebotes zwischen Strafhaft und Abschiebehaft ist – ich sage mal: bis an die äußersten Grenzen – gerade noch rechtlich und politisch vertretbar. Oder die Aufnahme in § 97a Aufenthaltsgesetz, dass Abschiebetermine Dienstgeheimnisse sind und ein Verrat strafbar ist – das sind Dinge, die eigentlich die Behörden und Organisationen betreffen –, wäre nicht unser erster Gedanke gewesen. Für uns hätte Priorität besessen, einmal die Zuständigkeiten zu bündeln und klar zu sagen: Für die Aufenthaltsbeendigung ist der Bund und dort das BAMF zuständig. – Das wäre ein klarer Schritt gewesen, um die uneinheitliche Praxis in der Handhabung der Länder zu beenden. Daran fehlt es. Weil wir uns aber nicht in Fundamentalopposition üben wollen, können wir uns, nach intensiver Diskussion in der Fraktion, gerade noch dazu durchringen, uns heute bei der Abstimmung über dieses Gesetz zu enthalten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist und bleibt ein schwarzer Tag für unsere Demokratie. Herr Lindh, Sie brauchen sich gar nicht zu freuen, wenn Sie vonseiten der AfD und Union Applaus bekommen. ({0}) Das zeigt, welchen Stellenwert das Migrationspaket hier in diesem Hause hat. ({1}) Die Bundesregierung verliert mit diesem Abschottungs- und Abschiebepaket nun vollends Maß und Mitte in der Migrationspolitik. Es ist und bleibt so, dass Sie massive und unverhältnismäßige Einschnitte in die Grund- und Menschenrechte auch von abgelehnten Asylbewerbern vornehmen. Das Grundgesetz gilt für alle Menschen, egal welcher Herkunft, auch für abgelehnte Asylbewerber. ({2}) Ich will noch mal auf zwei, drei Punkte eingehen; ich habe nicht mehr viel Redezeit. Sie beschließen heute, dass Familien mit Kindern, den allenfalls zur Last gelegt werden kann, nicht ausgereist zu sein, mit teils gefährlichen Straftätern in Gefängnissen untergebracht werden können. ({3}) Meine Damen und Herren, um das auch noch mal zu sagen, und das ist fatal – darauf hat der Deutsche Anwaltverein hingewiesen –: In Abschiebehaftsachen – Frau Högl, das wissen Sie – korrigierte der Bundesgerichtshof seit 2015 jede dritte Entscheidung, weil die Anforderungen schon heute oftmals nicht ausreichend beachtet sind. ({4}) Das heißt, jede dritte Haft in Deutschland war rechtswidrig. ({5}) Das waren Menschen, die keine Straftat begangen haben. Vielleicht noch eine Zahl: Johanna Schmidt-Räntsch, Richterin am BGH, stellte schon 2014 fest, Haftentscheidungen der Amtsgerichte hätten sich bei einer BGH-Prüfung in einem bemerkenswerten Umfang als rechtswidrig herausgestellt. Wissen Sie, wie hoch die Zahl war? Es waren 85 bis 90 Prozent. Und das ist der Skandal in Deutschland. ({6}) Und was machen Sie? Sie machen die Geflüchteten dafür verantwortlich. Und so wundert es nicht, dass 22 Anwalts- und Richtervereinigungen, Kinderrechts-, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen insbesondere an die SPD appellieren, dieses Gesetz heute nicht zu verabschieden. Auch die Menschenrechtskommissarin des Europarates schaltete sich letzte Woche ein und sagte, dieses Gesetz habe das Potenzial, die Aktivitäten von NGOs zu kriminalisieren, die Meinungsfreiheit zu beeinflussen und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger bei ihrer Arbeit zu beschränken. Das ist die Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, meine Damen und Herren! Und diesen drohen Sie Haft an. ({7}) Die Union, allen voran Innenminister Seehofer, hat sich schon längst von ihren christlichen Idealen verabschiedet und wandelt auf rechtsstaatlichen Abwegen. ({8}) Aber dass von der SPD im Bundestag so wenig Gegenwehr kommt ({9}) – ja, Sie verteidigen dieses Paket noch –, ist wirklich erschreckend, meine Damen und Herren. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb appellieren Ihre eigenen fachpolitischen Funktionsträgerinnen und Funktionsträger auch hundertfach an Sie, die in ihrem Brief massive Kritik äußern und schreiben, es übertreffe ihre schlimmsten Albträume. Dieses Gesetz ist und bleibt eine humanitäre und rechtsstaatliche Bankrotterklärung, meine Damen und Herren. Wir werden diesem Gesetz nicht zustimmen. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Asyl und Migration“ hat in den vergangenen vier Jahren sowohl die Politik als auch die Gesellschaft stark gefordert. Wir sehen das auch an der heutigen Debatte. Wir haben uns auf ein Migrationspaket mit insgesamt acht Gesetzesvorhaben verständigt, die auch mit Rückblick auf die vergangenen vier Jahre abgeschlossen werden. Ich will mal an die Grünen, die Saubermänner des Parlamentarismus, einige Worte zum Verfahren richten. Wir hatten am 13. Mai zum Integrationsgesetz und zum Datenaustauschgesetz eine Anhörung im Ausschuss. ({0}) Wir hatten am 4. April die erste Lesung im Bundestag. Wir haben am Montag drei weitere Gesetze beraten. ({1}) Ich habe ausdrücklich angeboten, dass man die Ausschusssitzung um 16 Uhr fortsetzt, damit jeder mehr Zeit als drei Minuten hat. Das ist insbesondere von Ihrer Fraktion abgelehnt worden, ({2}) und wir haben uns darauf verständigt, dass wir alles am Vormittag beraten. Das findet sich im Übrigen zweimal im Protokoll des Innenausschusses. Ich verwahre mich dagegen, dass man sagt, es wären nur drei Minuten Redezeit vorgesehen gewesen. Für Ihre Fraktion, die Fraktion der Linken, gab es zum Geordnete-Rückkehr-Gesetz sogar noch eine Sonderrunde, in der Sie Nachfragen stellen konnten. ({3}) Zum Thema „Uhrzeit und Anhörungen“: Ich habe angeboten, dass wir mit den Anhörungen schon um 8 Uhr beginnen. Es ist aber insbesondere in Ihrer Fraktion nicht möglich, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen schon morgens um 8 Uhr hier für Anhörungen erscheinen. ({4}) Zu guter Letzt hat sich Ihre Fraktion auch noch im Ausschusssekretariat beschwert, war aber mittwochs ab 16 Uhr nicht mehr zu erreichen – und zwar niemand. ({5}) Ich will damit nur sagen: Wenn man hier Verfahren kritisiert, dann muss man sich auch bereit erklären, länger und zu anderen Uhrzeiten zu arbeiten und hierbei auch mal Kompromisse zu machen. ({6}) An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich – ich stelle das voran – bei den Kolleginnen und Kollegen der Union und vor allen Dingen der SPD, aber auch bei den Mitarbeitern in den Ministerien, in den Ausschusssekretariaten und in den Abgeordnetenbüros bedanken, die sich in den letzten Wochen und Tagen mit uns teilweise bis Mitternacht – auch in der sitzungsfreien Zeit – zusammengesetzt haben, um diese Gesetze zu beraten und das Migrationspaket unter Dach und Fach zu bringen. Das war keine selbstverständliche Leistung, Frau Högl. Das wissen wir sehr zu schätzen. ({7}) Das zeigt im Übrigen auch, dass wir uns natürlich sehr wohl mit vielen Argumenten auseinandergesetzt haben und viel beraten haben. Man hat es auch dem Kollegen Lindh gerade angemerkt. Er hat einen breiten Abriss gegeben und gesagt, was uns bewegt hat. Genau das kam auch in den Verhandlungen raus, und es wurde verhandelt. Wir sind keine Erfüllungsgehilfen der Regierung. Wir haben 58 Seiten Änderungsanträge eingebracht. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Lindholz, die Kollegin Polat würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu. ({0}) Wir ordnen mit diesem Gesetz weiterhin die Zuwanderung. Wir steuern sie, und wir blicken in Vergangenheit und Zukunft. Wir haben selbstverständlich auch Einwendungen der Sachverständigen mitberücksichtigt. Wir haben beim Geordnete-Rückkehr-Gesetz zum Beispiel das geforderte Betretungsrecht mitberücksichtigt. ({1}) Wir haben bei der Frage der Asylverfahrensberatung die Wohlfahrtsverbände angehört. Ich könnte noch mehr nennen; dafür reicht die Redezeit nicht. Wir hatten viele Anhörungen und haben uns natürlich auch in unseren Beratungen mit vielen Einwendungen beschäftigt. Die Sachverständigen haben ihre Gutachten teilweise schon vor der Anhörung bei uns abgegeben, sodass man natürlich zumindest die schriftlichen Stellungnahmen lesen konnte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Lindholz, ich habe Sie richtig verstanden: Sie möchten keine Zwischenfragen zulassen.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau. – Wir begrenzen mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz die Zuwanderung. Ja, wir haben den Aufenthalt in AnKER-Einrichtungen geregelt. ({0}) Wir sind teilweise härter; aber wir sind an anderer Stelle großzügiger. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz schaffen wir mehr legale Möglichkeiten, nach Deutschland zu kommen, und mit dem Gesetz zur Beschäftigungsduldung geben wir denjenigen, die hier sind, die sich gut integriert haben, die unser Land so schnell nicht mehr verlassen werden, bessere Perspektiven. Das hat die Wirtschaft gefordert. Das haben die Arbeitgeber gefordert. Das haben die Wohlfahrtsverbände gefordert. Und das setzen wir auch um. Ja, an mancher Stelle ist mehr Härte; aber es gibt an anderer Stelle auch wesentlich mehr Chancen. Deswegen bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, dem Gesamtpaket heute zuzustimmen. Es enthält viele gute Regelungen. Nicht jeder von uns ist mit jeder Regelung einverstanden; aber es ist ein großes und ein wichtiges Paket – auch für die Zukunft. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort der Kollegin Polat, Bündnis 90/Die Grünen.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Lindholz, das, was Sie hier machen, ist wirklich ein starkes Stück. Sie sind unsere Ausschussvorsitzende im Innenausschuss. ({0}) Sie sollten wirklich mal Ihren eigenen Brief, den Sie an das Bundesinnenministerium geschrieben haben, veröffentlichen, in dem Sie den Umgang mit diesem, unserem, Ausschuss kritisiert haben. Dieses ganze Verfahren geht ja schon länger und beschränkt sich nicht auf das Migrationspaket. In jeder Obleuterunde sitzen wir da und haben keinen konkreten Zeitplan. ({1}) Dann, in letzter Minute, tischen Sie uns die Gesetzentwürfe auf und jagen diese im Eiltempo durch. Ich will nur mal ein Beispiel nennen; denn das haben Sie auch gerade angesprochen: das Integrationsgesetz. Warum haben wir denn in einer Sitzung protestiert? Weil Sie den Gesetzentwurf im Innenausschuss eingebracht haben, obwohl dieser noch nicht mal in erster Beratung im Plenum des Deutschen Bundestages war. Wir haben keinen Sachverständigen bekommen. Es musste eine zweite Anhörung stattfinden. Diese Beispiele können wir fortführen. Am Ende zu sagen, dass wir in unserer Dreiminutenrunde unsere Fragen nicht stellen können, und uns eine Nachmittagssitzung am Mittwoch aufdrücken zu wollen, obwohl am Donnerstag – – ({2}) Sie hätten die Möglichkeit dazu gehabt, den Innenausschuss auch beim nächsten Mal – – ({3}) – Ende Juni findet noch eine Bundesratssitzung statt. Es wäre ohne Not möglich gewesen, die Gesetzentwürfe im Innenausschuss noch in der letzten Juniwoche zu beraten. ({4}) Das haben Sie nicht getan. Das zeigt, dass Sie das im Hauruckverfahren durchziehen wollten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Lindholz, Sie können – Sie müssen nicht – antworten. Mögen Sie antworten? – Dann haben Sie jetzt das Wort.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch, ich möchte darauf antworten. ({0}) Man kann ja kritisieren und sagen, dass es manch einem zwischen Anhörung und Beschlussfassung zu schnell geht. Das habe ich immer gesagt. Das kann man kritisieren. ({1}) – Nein, nein, es hörte sich nicht anders an. ({2}) Wir beraten dieses Gesetz schon seit September bzw. seit April. ({3}) Ich habe ausdrücklich angeboten, dass wir die Sitzung – – ({4}) – Vielleicht hören Sie einfach mal zu. ({5}) Ich habe ausdrücklich angeboten, dass wir mit den Anhörungen zu früheren Uhrzeiten beginnen, dass wir die Ausschusssitzung fortsetzen, damit jeder so viele Fragen stellen kann, wie er will. Aber wenn sich die Fraktionen im Obleutegespräch darauf verständigen, dass die Sitzung um 12.45 Uhr enden soll, ({6}) dass Nachmittagssitzungen nicht gewünscht werden, und – im Gegenteil – erst vor einigen Wochen eine von mir anberaumte Nachmittagssitzung – um 16 Uhr – zur Abarbeitung von Oppositionspunkten – ausschließlich Oppositionspunkte! – ({7}) moniert wurde und gesagt wurde, wie man so unmöglich sein kann, ({8}) eine Zusatzsitzung anzuberaumen, dann frage ich Sie, was Sie für ein parlamentarisches Verständnis haben, wenn Ihre Arbeitszeit um 13 Uhr zu Ende ist. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Liebe Kolleginnen und Kollegen, voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte – aber heute weiß man nie – ist der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU. ({0}) Ich bitte, ihm genauso zuzuhören wie allen anderen Rednern.

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Koalition macht einen großen Schritt zur besseren Steuerung der Migration nach Deutschland, der gewünschten Migration von Fachkräften, aber auch zur Beendigung illegalen Aufenthalts hier in Deutschland. Ja, Abschiebung ist der unschöne Teil unseres Flüchtlingssystems, aber er gehört dazu. Wer die Akzeptanz in der Bevölkerung für den umfassenden Flüchtlingsschutz aufrechterhalten will, der muss auch dafür sorgen, dass Asylbewerber, die rechtskräftig abgelehnt sind, das Land tatsächlich verlassen und nicht nur in der Theorie; das gehört zum Verantwortungsbewusstsein angesichts einer solchen Entscheidung hier im Bundestag. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen, Sie werfen der AfD oft eine plumpe Stimmungsmache vor – zu Recht; das haben wir heute wieder hören müssen. Aber Sie machen dasselbe heute hier mit Ihren Wortäußerungen, nur mit anderen Vorzeichen. ({1}) Sie zeichnen hier ein Zerrbild unseres Umgangs mit Flüchtlingen in Deutschland, das mit der Realität wirklich nichts zu tun hat. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier in Deutschland offenkundig ein Vollzugsdefizit. Bei über 50 Prozent aller geplanten Abschiebungen im letzten Jahr ist es beim Versuch geblieben. Deshalb stellen wir hier heute als Koalitionsfraktionen auch Anträge, die das gute Gesetz der Regierung noch etwas verbessern werden. Erstmals soll es ein bundesweites Betretens- und Durchsuchungsrecht geben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Throm, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Baerbock? ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. – Tut mir leid, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nein. So ist es in Ordnung. Parlament heißt Diskussion. ({0}) Jetzt hat das Wort zu einer Zwischenfrage die Kollegin Baerbock.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Throm, dass Sie die Frage zulassen, damit man sich austauschen kann. – Da wir ja viel über das Verfahren gesprochen haben und weniger über den Inhalt des Gesetzes und hier ja auch immer in den Raum gestellt wurde, dass Gesetze nicht angewandt würden, auch in Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung, würde ich Ihnen gerne zum Inhalt des Gesetzes eine Frage stellen. Es geht hier um Menschen, von denen Sie sagen: Die müssen abgeschoben werden. – Viele Abschiebungen finden nicht statt, weil wir eine Rechtsordnung haben, die besagt: Die Menschen müssen vollziehbar ausreisepflichtig sein. Es geht bei dieser Debatte nicht um diejenigen, die einfach so abgeschoben werden können. Da gibt es unterschiedliche Probleme in unterschiedlichen Bundesländern, warum das nicht zum Tragen kommt. ({0}) Sie machen jetzt ein Gesetz für all diejenigen – das wurde ja im vorherigen Wortbeitrag noch einmal deutlich –, die nicht ausreisen, unabhängig davon, ob sie überhaupt vollziehbar ausreisepflichtig sind. ({1}) Auf alle findet dieses Gesetz gleichermaßen Anwendung. In diesem Gesetz steht ja auch drin, dass die Menschen, die geduldet sind und keine Papiere beschaffen können, nicht mehr arbeiten können, zum Beispiel Afghanen, die in Mecklenburg-Vorpommern in der Gastronomie arbeiten. Sie konterkarieren damit ja das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. ({2}) Ich frage Sie: Wollen Sie wirklich, dass in Zukunft Menschen, die hier zehn Jahre gelebt haben, die hier berufstätig sind, die Kinder haben, durch dieses Geordnete-Rückkehr-Gesetz nicht mehr arbeiten können und damit die Teilhabe dieser Menschen ({3}) und vor allen Dingen ihrer Kinder am gesellschaftlichen Leben nicht mehr möglich ist? ({4})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin Baerbock, für Sie war die Beratungszeit offensichtlich wirklich zu kurz; denn Sie haben das Gesetz nicht gelesen. ({0}) Wenn Sie es gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass es nicht nur um die Menschen geht, die eine sogenannte Duldung haben ({1}) und für die die Duldung bei ungeklärter Identität greifen soll, ({2}) sondern auch um die Menschen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, derer wir aber am Abschiebetag nicht habhaft werden. ({3}) Bei den Menschen mit ungeklärter Identität ist die Ausreisepflicht gegeben. Momentan sind das etwa 184 000 Menschen in Deutschland; davon liegen bei etwa 40 Prozent keine Passpapiere vor. Vor diesem Hintergrund ist es doch nur logisch und richtig, wenn wir von ihnen alles Zumutbare fordern, damit sie sich bei der Passpapierbeschaffung beteiligen. ({4}) Wer das nicht tut, der hat in der Tat mit Konsequenzen zu rechnen, etwa in der Form, dass er keine Arbeitserlaubnis mehr erhält. ({5}) Diese Menschengruppe muss erkennen – hören Sie bitte zu; ich habe Ihnen auch zugehört –, dass für sie hier in Deutschland keine Perspektive gegeben ist. ({6}) Da ich gerade bei Ihrer Frage bin, will ich noch sagen: Ich habe davon gesprochen, dass auch die Linken und die Grünen eine plumpe Stimmungsmache betreiben. Ich habe nach Ihrem Auftritt gestern Abend im Fernsehen heute mal geschaut, was die Grünen auf ihrer Homepage veröffentlichen. Da steht: … die Möglichkeiten, Menschen in Ausreisegewahrsam zu nehmen, werden noch weiter ausgeweitet … – so weit richtig und gut – einer richterlichen Anordnung bedarf es nicht mehr. ({7}) Grob falsch, grobe Unkenntnis. Mein früherer Juraprofessor hat immer gesagt: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. ({8}) Das hätte Ihnen, liebe Kolleginnen der Grünen, auch einmal genutzt. Im Übrigen: Wir haben beim Ausreisegewahrsam eine richterliche Anordnung. Wir sind das einzige Land in Europa, das dies noch unter einen Richtervorbehalt stellt und nicht von den Verwaltungen entscheiden lässt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Ein weiterer Punkt – ich habe es gesagt –: Eines Großteils der Menschen werden wir am Abschiebetag nicht habhaft. Wir haben diesen Montag eine Anhörung durchgeführt. Ich hoffe, Sie haben bei dieser Anhörung auch gut zugehört, insbesondere dem Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Herrn Mazanke. Der hat nämlich gesagt, dass wir ganz dringend ein Betretens- und Durchsuchungsrecht und eine klare bundesgesetzliche Regelung brauchen. Er hat das insbesondere damit begründet, dass es hier um die Eigensicherung der Polizeibeamten geht, dass es um ihren eigenen Schutz an Leib und Leben geht, wenn sie mit Widerstand bei einer Abschiebemaßnahme rechnen müssen. ({10}) Deswegen kommen wir dieser Aufforderung der Praxis mit unserem Änderungsantrag heute auch nach. Und ich will den Innenminister in den Ländern sehen, der diese Regelung zum Ausreisegewahrsam und zum Betretensrecht nicht anwenden lässt und seiner Bevölkerung erklären muss, dass er Abschiebungen nicht effektiv durchführt und vor allem seine Polizeibeamten nicht ordentlich schützt. Insofern haben wir, glaube ich, heute ein gutes Maßnahmenpaket, um der Rechtsgeltung wirklich zur Durchsetzung zu verhelfen. Ich möchte mich zum Abschluss noch einmal ausdrücklich bei den Ministerien und vor allem auch bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion für die gute und konstruktive Zusammenarbeit bei den Beratungen bedanken. Herzlichen Dank! Ich bitte um Zustimmung. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht. Mir liegen inzwischen 28 schriftliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/10706, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/10047 und 19/10506 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – So richtig übersichtlich ist das nicht. Ich vermute mal, es sind die Fraktionen von CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – AfD, Linke, Grüne. Wer enthält sich? – FDP. Dann ist der Gesetzentwurf mit diesen Mehrheitsverhältnissen in der zweiten Beratung angenommen. Damit kommen wir zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentliche Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/10047 und 19/10506. Ist noch ein Mitglied im Haus anwesend, das seine Stimme abgeben möchte? – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte, Platz zu nehmen. – Wir können nicht abstimmen, wenn wir nicht einigermaßen Gewähr haben, dass wir die Mehrheitsverhältnisse erkennen können. Wir kommen zu Zusatzpunkt 13. Das ist die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10705, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8752 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – CDU/CSU, SPD, AfD. Wer stimmt dagegen? – FDP, Linke, Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Dann ist der Gesetzentwurf mit der eben mitgeteilten Mehrheit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen damit zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? Erheben Sie sich bitte. – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und FDP – die Reihenfolge entspricht nicht der Stärke der Fraktionen – angenommen. Zusatzpunkt 14. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Entfristung des Integrationsgesetzes. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/10704, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/8692 und 19/9764 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD gegen die Stimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit der gleichen Mehrheit wie in zweiter Beratung angenommen.

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Grüß Gott, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir leben in fürchterlichen Zeiten: Fachkräftemangel, Ressourcenknappheit, Klimanotstand und – das Wichtigste – allüberall Rechtspopulisten. Bald wird uns der Himmel auf den Kopf fallen. ({0}) Wir retten gemeinsam die Erde, zuerst aber retten wir Deutschland vor den erstarkenden politisch „rechten Horden“, vor allem in den neuen Bundesländern. ({1}) Im August 2018 hatten wir in Chemnitz nach dem tödlichen Messerstechereinzelfall Nummer xy angeblich „Zusammenrottungen“. Wir hatten angeblich Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, wie man auf den Videos sehen konnte; so hat es der Herr Seibert gesagt. Auch die Frau Bundeskanzlerin erklärte gleichlautend: Wir haben Videoaufzeichnungen darüber, dass es Hetzjagden gab und Zusammenrottungen. – Diese offensichtlich falschen Tatsachenbehauptungen ({2}) wurden weiter aufrechtgehalten, auch noch, als der sächsische Ministerpräsident sagte: Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome. Das Gleiche hat ja auch der Herr Maaßen gesagt. ({3}) Viele Medien haben die Darstellungen des Herrn Seibert und der Frau Merkel ungeprüft und eilfertig übernommen und breit publiziert. Diese Regierung hat es fürwahr weit gebracht auf der nach unten offenen Skala. ({4}) Ich sage Ihnen: Es ist nicht legitim, Ex-DDR-Bürger zu Deutschen zweiter Klasse zu machen, die man beschimpfen und in aller Welt verunglimpfen kann, nur weil diese eine andere politische Meinung haben. ({5}) Es ist eine Missachtung des Parlaments, wenn Sie, Herr Seibert, geschlagene sechs Monate Zeit benötigen, um auf eine Große Anfrage einer vom Souverän gewählten Fraktion zu antworten. Es ist eine Frechheit, wenn Ihre Antworten auf unsere Große Anfrage letztlich nur ausdrücken, man habe sich auf die Berichterstattung der Medien bezogen. – Ich fordere Sie auf, Herr Seibert: Treten Sie von Ihrem Amt zurück! ({6}) Frau Merkel, Sie haben kürzlich in Harvard eine Rede gehalten. Sie sagten – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen. Frau Merkel, Sie treiben vor der Weltöffentlichkeit einen Spaltkeil in das eigene Volk. Statt Politik für die Bürger, für alle Bürger zu machen, hetzen Sie die Bürger gegeneinander auf, ({7}) ohne eigene Ermittlungen, gegen den Ermittlungsbefund der Polizei und der freien Medien. Wir haben in Deutschland und in der EU demokratisch hoch zweifelhafte Konzepte gegen Fake News und Hate Speech. Aber unsere Regierung produziert am laufenden Band selber Hate Speech und Fake News, und das gegen das eigene Volk gerichtet. ({8}) Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Das ist „corriger la fortune“, also Falschspielerei. Aber in Wirklichkeit ist es ein skandalöses Ablenkungsmanöver nach dem Motto: Lasst uns doch nicht über das bedauernswerte x‑te Opfer in unserem Land reden. Reden wir lieber über das „Pack“, das uns wegen seiner widerständigen Meinung ohnehin ein Dorn im Auge ist. Sie sagten in Harvard, Frau Merkel: Es gehört dazu, dass wir Missstände nicht als unsere Normalität akzeptieren. Wir akzeptieren die von Ihnen zu verantwortenden Missstände nicht als Normalität. Wir wurden gewählt, um Sie aufzufordern: Treten Sie zurück, räumen Sie Ihren Platz, und zeigen Sie endlich Verantwortung! Verschonen Sie uns mit Ihrem seltsam seelenlosen Salbadern ({9}) über multilaterale, multikulturelle, globalistische, internationalsozialistische One-World-Phantasmen und irrationale und undurchsichtige neue Weltordnungen. Danke schön. ({10})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Chemnitz ist weder grau noch braun“ – das ist nach den Erlebnissen Ende August letzten Jahres ein Poster, welches als Reaktion auf diese Tage durch meinen Kollegen Frank Müller-Rosentritt und andere aus Chemnitz entstanden ist. Chemnitz ist meine Stadt, und ich liebe sie so, wie sie ist, auch in Zeiten, wie wir sie seit August letzten Jahres erleben, aber ganz besonders im Monat danach erlebt haben. Eines möchte ich hier klipp und klar zum Ausdruck bringen: Die Ereignisse in Chemnitz sind von den verschiedensten Seiten instrumentalisiert worden, und sie werden bis heute instrumentalisiert – Sie sehen es –, auch indem diese Debatte geführt wird. Die Große Anfrage der AfD zielt in die Richtung, die Ereignisse in Chemnitz wieder und wieder für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren; das habe ich in diesen Tagen auch von Wählern und Ihren Leuten in Chemnitz gehört. Instrumentalisieren Sie doch bitte nicht diesen Mord. Es geht doch um etwas anderes. Sie stellen diese Anfrage und beschäftigen sich mit Worten. Manche sagen, es sei Wortklauberei, zu fragen, ob es „Hetzjagden“ gegeben hat. Dabei geht es doch darum, was tatsächlich passiert ist. Ich möchte angesichts der vielen Stimmen, die die Ereignisse am 26. August und in den Folgetagen für ihre Zwecke instrumentalisiert haben, nicht verschweigen, was in Chemnitz zu kurz gekommen ist: Ein Mensch wurde umgebracht. ({0}) Und es tut weh, wenn das im eigenen Wahlkreis passiert. Mir tut aber auch Ihr Verhalten weh und, ehrlich gesagt, auch das Ihresgleichen. Ich beschränke mich jetzt nur auf das, was ich am eigenen Leib und mit Freunden so erlebt habe: Unbeteiligte sind bedroht worden, ({1}) wie es in dem Video, über das wir heute unter anderem reden und das um die Welt ging, zu sehen war. Und jetzt wird über die Worte, die gebraucht wurden, geredet. Dabei sind an diesem Tag Freunde von mir ({2}) dort gewesen; sie haben Panik erlebt. ({3}) Mitbürger, bei denen aufgrund ihres Aussehens ein Migrationshintergrund vermutet werden konnte, haben sich einige Tage und Wochen auf unseren Straßen nicht mehr sicher gefühlt. ({4}) – Das sagen meine eigenen Freunde mit Migrationshintergrund. Hier oben auf der Tribüne sitzt eine junge Frau aus Afghanistan. Ich stelle mir vor, wie Mahmaz darauf reagiert hätte, auf der einen Seite wegen der Demos, andererseits auch wegen der Berichterstattung. Der von Ihnen organisierte sogenannte Trauermarsch hat Bürger dazu gebracht, mich, weil ich dieses Schild schweigend neben mich gehalten habe, ({5}) aus der Situation so anzugreifen, dass drei Leute von der Bundespolizei zwischen mich und Ihre Leute gehen mussten. Wirtschaftsdelegationen aus dem Ausland haben fest vereinbarte Termine mit Firmen aus Chemnitz abgesagt und in andere Städte verlegt, zum Schaden meiner liebenswerten Stadt. ({6}) Ich möchte nicht verschweigen, dass wir als Chemnitzer erleben mussten, dass auch weitere Akteure die aufgeheizte Stimmung missbraucht haben. ({7}) Es gab – Sie haben das gerade reingerufen – auch Angriffe gewaltbereiter linksgerichteter Aktivisten. Auch die nationale Berichterstattung haben viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger vor allem in den ersten Tagen als missbräuchlich erlebt. Ich hätte mir deutlich mehr Zurückhaltung von allen Seiten gewünscht. Ich fordere Sie auf: Stellen Sie endlich die Instrumentalisierung der Ereignisse in Chemnitz ein! ({8}) Stattdessen empfehle ich dringend in dieser komplexen Situation, in der Diskussion um das erstochene Opfer, um die Straftat in der Innenstadt: Geben wir dem Rechtsstaat die Chance, auch wenn es schmerzt, eine ordentliche Aufklärung zu betreiben. Die juristische Aufarbeitung in unserem Land, auf die ich stolz bin, soll die nötige Zeit bekommen, damit es am Schluss fair ausgeht. ({9}) Halten Sie sich mit voreiligen Schlüssen zurück, ({10}) auch in Bezug auf die Große Anfrage. Genau diese Herangehensweise hätte ich mir in den Tagen, Wochen und Monaten nach August letzten Jahres zum Besten meiner Stadt Chemnitz gewünscht. „Chemnitz ist weder grau noch braun“ – ich habe es Ihnen vorhin gezeigt. ({11}) Ich habe die lebendige Kulturszene meiner Stadt vor Augen. Ich erinnere mich an die Tausenden Studenten der Technischen Universität, die über die Berichte schockiert waren und sich deutlich positioniert haben. Wenn ich die industriellen Leistungen von Chemnitz in Vergangenheit und Gegenwart sehe, wenn ich an die NINERS denke, die Basketballmannschaft, die Vielfalt verkörpert, und an die vielen weiteren Vereine, die Integration leben, ({12}) dann denke ich: Wir werden und wollen mit Recht aus ganz anderen Gründen als denen, die Sie aufgemalt haben, Europäische Kulturhauptstadt 2025 werden. Das ist mein Chemnitz. Ich danke Ihnen. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Jürgen Martens für die FDP. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon beachtlich, dass wir heute hier auf Antrag der AfD diese Debatte führen, nahezu zehn Monate nach diesen Vorgängen, ({0}) die eigentlich in der Sache hinreichend aufgeklärt sind. ({1}) Es geht Ihnen aber offensichtlich gar nicht mehr um den Gewinn irgendwelcher Erkenntnisse. ({2}) Sie bemängeln hier die Verwendung des Wortes „Hetzjagden“ und sagen: Ja gut, da hat es eben auch mal ein paar Beleidigungen gegeben, ein paar Angriffe. – Nennen wir es dann doch einfach „Übergriffe“. Damit wäre die Sache erledigt, aus und vorbei. Schluss mit der Semantik, meine Damen und Herren. Wir könnten etwas Wichtigeres tun, ({3}) nämlich uns den Problemen zuwenden, die dahinterstehen. Aber daran haben Sie kein Interesse. ({4}) Sie wollen ein Verbrechen und die darauffolgende Reaktion zum einen umdeuten und zum anderen für Ihre Zwecke instrumentalisieren. ({5}) Wenn jemand, wie der Regierungssprecher, das falsche Wort – „Hetzjagd“ – verwendet – sagen wir: Übergriffe –, ({6}) dann bezeichnen Sie das als Fake News. ({7}) Es geht Ihnen nicht um Erkenntnisgewinn. Sie wussten am 26. August um 8 Uhr morgens doch bereits alles; denn AfD-Vertreter verbreiteten über Social Media, es habe ein schlimmes Verbrechen in Chemnitz gegeben, eine – natürlich – deutsche Frau sei Opfer einer versuchten Vergewaltigung geworden ({8}) und ein – Klammer auf: deutscher; Klammer zu – Mann, der sich dem entgegenstellen wollte, sei von – natürlich – Ausländern erstochen worden. ({9}) Das landgerichtliche Verfahren ist noch nicht zu Ende – da ist noch nichts festgestellt –, und manches, was dort erzählt wurde, hat sich im Laufe der Zeit als grundfalsch herausgestellt; aber Sie, Sie wissen ja bereits Bescheid. ({10}) Sie haben nicht einmal Respekt vor der gerichtlichen Aufklärung. ({11}) – Und da schreien Sie hier in der Gegend rum. Warten Sie doch mal in Ruhe ab, was der Rechtsstaat und seine Justiz in diesem Land herausfinden und wie sie dann urteilen. ({12}) Aber diese Geduld und auch diesen Respekt haben Sie nicht, meine Damen und Herren. Was in den Tagen darauf passierte, war ganz in Ihrem Sinne. Da zogen Bürger durch die Stadt und am Rande dieser Bürger eben auch schlicht Nazis. Die haben sich hingestellt, ausländerfeindliche Parolen gegrölt und den Hitlergruß gezeigt. Und das waren beileibe nicht alles Chemnitzer Bürger. ({13}) Die kamen auch von ganz woanders her; die sind auch von ganz woanders geschickt worden. Es waren auch Chemnitzer dabei, ja. Aber wo war denn die Chemnitzer AfD in diesen Tagen? Was hat die Chemnitzer AfD gesagt zu diesem öffentlichen Verwenden der Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen, dem Zeigen des Hitlergrußes? Wo war die AfD in Chemnitz in diesen Tagen, als ein jüdisches Restaurant angegriffen und beschädigt worden ist? ({14}) Hat man da von Ihnen gehört: „Hört auf damit!“? Man hat Sie höchstens hinter den Kulissen rumschleichen sehen – mit dem Benzinkanister der Demagogie in der Hand. Das ist das, was Sie heute wieder machen, meine Damen und Herren. ({15}) Das ist die alte Strategie: Erst wird mit Fake-Meldungen Stimmung gemacht – das richtet sich vor allem gegen Minderheiten, bei Ihnen stets gegen Ausländer, vor allem gegen Muslime –, und die so erzeugte öffentliche Empörung befördert Grenzüberschreitungen. Ja, aber das ist ganz in Ihrem Sinne. Diesen Grenzüberschreitungen treten Sie nicht entgegen. Sie fördern sie weiter, bis es zu Enthemmungen und tatsächlich zu Übergriffen kommt. Und dann wird es zynisch: Diese Übergriffe schieben Sie dann in der Regel den Opfern in die Schuhe, nach dem Motto, die seien daran schuld. ({16}) Das ist schlicht und ergreifend widerlich, meine Damen und Herren. ({17}) Das ist widerlich, ({18}) nicht nur, weil es einen Vorgang in Chemnitz betrifft; aus der Gegend komme ich; ich wohne weniger Kilometer von Chemnitz entfernt. Es wäre genauso widerlich, wenn es um ein Verbrechen im Westen, im Rheinland, in Bayern oder Baden-Württemberg, oder auch in Mecklenburg-Vorpommern gehen würde. ({19}) Chemnitz ist nur ein willkommener Anlass, aber nicht der Grund. ({20}) Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, wenn Sie hier ein ums andere Mal versuchen, mit diesen vergifteten Debatten die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, um die wahren Absichten Ihrer Politik zu verheimlichen. ({21})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Detlef Müller. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir heute noch einmal über die erschütternden Vorfälle in meiner Heimatstadt sprechen, ist richtig. Warum? Weil die AfD eben hier ihr wahres Gesicht zeigt. ({0}) Der AfD geht es nicht um Aufklärung. Es geht Ihnen um Wortklauberei; ({1}) denn es ist schlussendlich egal, ob es sich bei den Vorfällen am 26. und 27. August um „Hetzjagden“ handelte oder um „Jagdszenen“. Richtig ist, dass hier Menschen verfolgt und angegriffen wurden, verbal und körperlich ({2}) – hören Sie doch erst mal zu –, aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer politischen Einstellung, ihrer Herkunft oder auch nur aufgrund ihrer Tätigkeit. Gewerkschafter, Linke, Ausländer, Journalisten und Polizisten wurden gejagt. ({3}) Beispiele, und zwar nur für den 26. August: Auf dem Johannisplatz befinden sich laut Augenzeugen mehrere junge Männer, mutmaßlich Migranten. Als der Demonstrationszug den Platz erreicht, kommt es zu Prügelszenen. ({4}) Es wird geschlagen und getreten. Menschen gehen zu Boden. In einem Video ist festgehalten, dass sich Polizisten nähern und die Menge zurückdrängen. Es kommt zu Handgemengen. Mindestens ein Polizist geht zu Boden. Polizisten werden aus der Gruppe heraus mit Steinen und Flaschen beworfen. Eine Auseinandersetzung beobachten Journalisten auf der Brückenstraße nach dem Abschluss dieser Demonstration. Dabei rennen drei bis vier Männer plötzlich weg. Verfolgt werden sie ebenfalls von drei oder vier Männern aus der Demonstration heraus, die anschließend wieder umkehren. Eine Videoaufnahme einer Chemnitzer Sozialarbeiterin zeigt den Moment, in dem die Masse in Richtung Johannisplatz abbiegt. Die Stimmung ist aggressiv. Schimpfwörter sind zu hören. Die Frau wird attackiert. Ein Mann ruft: Hau hier ab! – Dann ist ein Polizist da. „Es bringt nichts, wenn der Mob Sie angreift“, sagt er, und: Wir können hier für Ihre Sicherheit nicht garantieren. Im Bereich Bahnhofstraße beobachten Journalisten eine Szene, bei der es erst eine verbale Auseinandersetzung zwischen einem jungen Mann und vier bis fünf Männern auf der anderen Seite gab. Anschließend rennt der junge Mann über die Bahnhofstraße Richtung Parkplatz an der Johanniskirche. Er wird ebenfalls verfolgt von vier bis fünf Männern, kann sich aber auf dem Parkplatz zwischen den Autos verstecken und dann flüchten. ({5}) Ähnliches berichten junge Gewerkschafter, die über die Augustusburger Straße flüchteten, sich in Hauseingängen und in Innenhöfen verstecken mussten. Menschenjagden, Hetzjagden, Jagdszenen – und das war nur der 26. August. Wenn ich mir den 27. August angucke: Angriff auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz. Weiteres geschah am 28. August oder auch am 1. September. ({6}) Weil Herr Dr. Martens gerade gefragt hat, wo denn die AfD war: Am 1. September waren Sie da, und zwar in der ersten Reihe, ({7}) gemeinsam mit Pegida und Pro Chemnitz: Bernd Höcke, Ihre Abgeordneten Otten, Müller, Oehme in der ersten Reihe, Schulter an Schulter mit Pro Chemnitz. ({8}) Pro Chemnitz wird übrigens vom sächsischen Verfassungsschutz klar als rechtsextrem bewertet. Das ist die Wahrheit. ({9}) Die rein semantische Diskussion über das korrekte Wort ist sinnlos und nützt vor allem den Opfern gar nichts. Sie beziehen sich ja immer gern auf die „Freie Presse“. Die „Chemnitzer Tageszeitung“ hat genau auseinandergenommen, ob es nun „Hetzjagden“ oder „Jagd­szenen“ waren. Aber es ist so wie immer bei der AfD: Sie lassen halt immer die Hälfte weg. ({10}) Deswegen bringe ich das Zitat aus der „Freien Presse“ vom 3. September 2018 noch einmal komplett: Wir, die Redaktion der Freien Presse, haben uns bewusst entschieden, für das Geschehen am Sonntag von Anfang an den Begriff Hetzjagd nicht zu verwenden … ({11}) Wenn aus dieser Differenzierung interessierte Gruppen und Medien nun ableiten, es sei alles halb so schlimm gewesen oder eine große Erfindung, dann ist das weder in unserem Sinne noch entspricht es der Wahrheit. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({12}) Sie, die AfD in Chemnitz, plakatieren und schalten Anzeigen in der Tagespresse mit dem Slogan: Wir fordern eine Entschuldigung für die Chemnitz-Lüge. – Wissen Sie, was die eigentliche Chemnitz-Lüge war? Die Fake-Meldungen und Lügen nur wenige Stunden nach der Tat; Dr. Martens hat darauf hingewiesen. ({13}) Daniel wollte angeblich sexuelle Übergriffe auf anwesende Frauen abwehren, und es gäbe ein zweites Todesopfer – das alles aus Ihren ganz sicheren Quellen, von angeblichen Augenzeugen bestätigt, von der Boulevardpresse aufgenommen, tausendfach geteilt, auch von Ihren Leuten –, das alles ist gezielte Falschinformation. Diese Lügen haben das Klima vergiftet, und Sie halten das Thema weiter am Köcheln, obwohl Stadt, Polizei und Klinikum diese Fakes sofort dementierten und alles richtigstellten.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne. – Ist das der mit der Wetterkarte? Ja, oder? ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. – Sie sind ja sehr besorgt um das Klima in der Gesellschaft und sind ein großer Demokrat; so stellen Sie sich hier zumindest dar.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Augenblick mal, Herr Kollege. Hinter Ihnen sitzt jemand, der gerade Zeitung liest, während Sie eine Zwischenfrage stellen. Das gehört nicht zu den Gepflogenheiten dieses Hauses. ({0}) Gut, dass die Zeitung jetzt weggelegt worden ist. – Jetzt können Sie Ihre Frage stellen.

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es ist nun schon einige Monate her, dass in Ihrer Parteizeitung „Vorwärts“ dafür geworben wurde, mit Antifa und Antideutschen offen zusammenzuarbeiten. Die Antifa ist ja eine Gruppierung, aus der heraus auch immer wieder Angriffe auf Polizisten und eben auch auf Politiker verübt wurden. Die Jusos haben geworben – auch das ist schon einige Zeit her – mit Slogans wie „Rechte Strukturen zerschlagen“, und dabei sind Baseballschläger zu sehen. Sie haben nun viel Zeit gehabt, darauf zu reagieren. Welche Schritte haben Sie innerparteilich unternommen, um das zu unterbinden? ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Whataboutism, das ist Ihre Strategie. ({0}) Ihre Strategie ist Ablenken von eigenen Geschichten. ({1}) Was ist denn mit Ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss, mit Ihrer Unvereinbarkeitsliste? ({2}) Was ist denn mit Pro Chemnitz? Was ist denn mit Pegida? ({3}) – Alles gut. ({4}) Die Jusos, der Jugendverband der SPD, sind ein eigenständiges Glied der SPD. Die Chemnitzer SPD arbeitet mit den Jusos zusammen. Wir machen aber keinerlei Gewaltaufrufe, ({5}) im Gegensatz zu Ihnen. Das mussten wir in Chemnitz am 1. September erleben, wo Sie in der ersten Reihe gestanden haben. ({6}) Herr Nolte, jeder kehre vor seiner eigenen Tür. Denken Sie an das Thema Wetterkarte, das Sie losgetreten haben. Sie vergiften das Klima, indem Sie Menschen auf die völlig falsche Fährte ziehen, indem Sie nur halbherzig Politik machen. – Danke schön. ({7}) Letzter Gedanke. Sie machen das Ganze mit dem Ziel, Ängste zu schüren und Menschen aufzubringen, und marschieren mit Rechtsextremisten. ({8}) Aber das wird Ihnen nicht gelingen. Wenn ich mir die Ergebnisse der Kommunalwahl in Chemnitz anschaue, sehe ich, dass 76 Prozent der Menschen in Chemnitz eben nicht die AfD gewählt haben. ({9}) Sie haben in Sachsen im Vergleich zur Bundestagswahl 150 000 Stimmen verloren. Das gibt mir Hoffnung, dass es dabei bleibt: Chemnitz ist weder grau noch braun. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Dr. André Hahn. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die AfD-Fraktion heute vorhat, ist ebenso durchsichtig wie zynisch. Sie führt einen grotesken Streit um das Wort „Hetzjagd“, um den Blick auf das Wesentliche zu verschleiern. Die AfD verdreht Tatsachen, um die gewalttätigen und rassistischen Übergriffe im vergangenen Jahr in Chemnitz zu verharmlosen. Und die AfD möchte heute offenbar eine Gedenkstunde für Hans-Georg Maaßen, den gescheiterten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, veranstalten, ({0}) den sie immer noch als Kronzeugen für ihre Position ansieht. Ich bin sehr sicher: Das alles wird der AfD nicht gelingen. ({1}) Meine Damen und Herren, rufen wir uns die Ereignisse des vergangenen August noch einmal in Erinnerung. Am Rande des Stadtfestes 2018 eskaliert ein nächtlicher Streit. Drei Männer kommen schwerverletzt ins Krankenhaus, ein 35-Jähriger stirbt an den Folgen der Auseinandersetzung. ({2}) Dieses tragische Ereignis wird in den darauffolgenden Tagen in beispielloser Weise von AfD, Pegida und weiteren rechtsextremen Parteien und Gruppierungen für sogenannte Trauermärsche instrumentalisiert, die am Ende in Hetzjagden gegen Migrantinnen und Migranten münden. ({3}) Journalistinnen und Journalisten werden angepöbelt und beleidigt. Ein jüdisches Restaurant wird angegriffen. Die Einsatzkräfte der Polizei werden mit Steinen und Glasflaschen beworfen. Dutzende Demoteilnehmer der Rechten zeigen ungeniert den Hitlergruß. Es sind beklemmende Szenen, die vielen Menschen Angst machen. Es sind Szenen, die mich wütend machen. So etwas darf es in unserem Land nicht geben. ({4}) Umso erschreckender war es, wie Teile der Politik sich zu den Ereignissen in Chemnitz verhalten haben. ({5}) Eigentlich hätte es quer durch die Republik einen Aufschrei geben müssen. Stattdessen hielt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer eine Regierungserklärung, in der er allen Ernstes behauptete – Zitat –: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd, ({6}) und es gab keine Pogrome in dieser Stadt. – Dann wandte sich Hans-Georg Maaßen – damals noch amtierender Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz – über die „Bild“-Zeitung mit der grotesken Behauptung an die Öffentlichkeit, bei dem Video aus Chemnitz, das einen Übergriff auf Migranten dokumentiert, könnte es sich um eine gezielte Falschinformation handeln, und stellte sich ohne Prüfung der Sachlage auf die Seite derjenigen, die von Fake News und Lügenpresse sprechen. ({7}) Dann gab es mit Horst Seehofer auch noch einen Bundesinnenminister, der erst tagelang zu den Vorfällen schwieg, dann sogar Verständnis für den rechten Mob zeigte und schließlich die Migration zur Mutter aller Probleme erklärte. Für uns als Linke ist klar: Rassismus bekämpft man nicht dadurch, dass man Rassisten nach dem Mund redet. Rassismus bekämpft man, indem man klare Kante gegen die Gefahr von rechts zeigt. ({8}) Meine Damen und Herren, nicht die Migration ist das Problem. Die gesellschaftliche Entsolidarisierung, der ungezügelte Hass, der sich auch in sogenannten sozialen Medien artikuliert und auf den Straßen entlädt, die wachsende Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik, die sich die AfD zunutze macht, das sind die größten Gefahren unserer heutigen Zeit. Aber zum Glück gibt es viele Menschen, die für ein anderes, ein solidarisches und weltoffenes Deutschland stehen. ({9}) Mehr als 60 000 Personen kamen Anfang September vergangenen Jahres unter dem Motto „Wir sind mehr“ in Chemnitz zusammen, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. ({10}) Ich finde es einfach nur skandalös, dass dieses großartige Ereignis nunmehr Eingang in den aktuellen Verfassungsschutzbericht aus Sachsen gefunden hat, ({11}) weil eine Band wie Feine Sahne Fischfilet dort aufgetreten ist. Man muss sich das einmal vorstellen: Der Verfassungsschutz sagt, wenn es auf einer Demonstration mehrfach Rufe wie „Nazis raus!“ gebe, dann sei das eine linksextremistische Position. ({12}) Dieser Verfassungsschutz ist völlig inakzeptabel. ({13}) Ich finde es unerträglich, wie der sächsische Verfassungsschutz auf diese Weise Menschen diskreditiert, die aufstehen und sich Rassismus und Antisemitismus entgegenstellen. Ihnen gilt daher unsere Solidarität. ({14}) Im Übrigen stehe auch ich persönlich weiterhin für die Forderung: Nazis raus, aus den Köpfen wie aus den Parlamenten! ({15}) Ich möchte mich an dieser Stelle auch ausdrücklich an die Bandmitglieder von Feine Sahne Fischfilet wenden: Über Musikstile mag man streiten. Aber euer Engagement gegen rechts finde ich einfach nur großartig. Macht weiter so! ({16}) Meine Damen und Herren, mit der AfD sitzt inzwischen eine Partei im Bundestag, die mit rassistischen Äußerungen, mit nationalistischen und geschichtsrelativierenden Aussagen provoziert ({17}) und versucht, die Grenzen dessen, was in diesem Land – –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Hahn, einen Augenblick, ich muss Sie unterbrechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, auch wenn Sie diese Debatte erkennbar erregt, ({0}) gehört es doch zum Stil dieses Hauses, dass man auch Rednern zuhört, die eine andere Meinung vortragen. ({1}) Deshalb bitte ich Sie jetzt, dem Redner die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken. ({2}) Fahren Sie bitte fort.

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren, mit der AfD sitzt inzwischen eine Partei im Bundestag, die mit rassistischen Äußerungen, mit nationalistischen und geschichtsrelativierenden Aussagen provoziert und versucht, die Grenzen dessen, was in diesem Land gesagt und getan werden kann, Stück für Stück nach rechts zu verschieben. In Chemnitz übte die AfD den Schulterschluss mit der extremen Rechten und marschierte gemeinsam mit Pegida, Pro Chemnitz und Hitlergruß zeigenden Nazis. All das zeigt: Die AfD ist zu einer Bedrohung für den inneren Frieden in unserem Land geworden. ({0}) Deshalb werden wir uns als Linke der AfD überall und jederzeit mit friedlichen Mitteln entgegenstellen. ({1}) Wir lassen es nicht zu, dass gegen Andersdenkende, Andersaussehende und Andersliebende gehetzt wird, dass Tatsachen verdreht und Medienvertreter angegriffen werden. Wir stehen für ein tolerantes und solidarisches Land. ({2}) Wir sind mehr – auch in Chemnitz. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihre sogenannte Große Anfrage, meine Damen und Herren von der AfD, ist sicherlich vieles – sie ist geschichtsvergessen, sie ist unerträglich relativierend –, aber eines ist sie ganz sicher nicht: Sie ist nicht groß. Denn ganz im Gegenteil: Auf niedrigerem Niveau kann man kaum fragen, wie Sie es hier getan haben, meine Damen und Herren. ({0}) Deshalb war es von der Bundesregierung auch richtig, das in ihrer Antwort auch klar zum Ausdruck zu bringen, nur das Nötigste zu sagen und auf Provokationen, die einen zutiefst menschenverachtenden Charakter haben, gar nicht erst einzugehen. Übrigens: Ich finde, der sächsische Ministerpräsident könnte sich in dieser Frage in puncto Klarheit wirklich eine Scheibe abschneiden. Denn es ist doch zynisch, angesichts der Vorgänge in Chemnitz Wortklauberei zu betreiben, ob das, was dort passiert ist, per Definition eine Hetzjagd war oder nicht. Es geht darum, was dahinter steht. Es geht um gewaltsame Ausschreitungen gegen eine Gruppe von Menschen, an denen ein Exempel statuiert werden sollte. Aber für die AfD scheinen all diese Übergriffe überhaupt kein Problem zu sein, solange die Betroffenen nicht dabei getötet werden. Denn nur so ist Ihre Frage unter der Nummer 10 zu verstehen, in der Sie anführen, dass das zentrale Kriterium einer Hetzjagd sei, dass die – ich zitiere – potentielle Beute so lange verfolgt wird, bis sie nicht mehr entweichen kann – und weiter –, sodass sie erlegt werden kann. ({1}) Das ist ekelerregend. Das ist widerwärtig, meine Damen und Herren. ({2}) Wie verroht denken Sie eigentlich, dass Sie das zum Maßstab Ihrer Bewertungen der Ausschreitungen von Chemnitz machen? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur vor dem Hintergrund unserer Geschichte wissen wir: Wehret den Anfängen! Wenn Menschen verfolgt, bedroht, gehetzt und genötigt werden, dann müssen wir uns gemeinsam mit der Zivilgesellschaft vor diese Opfer der Ausschreitungen stellen, und zwar entschieden und mit aller Klarheit und kompromisslos, meine Damen und Herren. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen über Chemnitz diskutieren, aber nicht im Geiste einer solchen Wirklichkeitsverdrehung, wie sie die Anfrage der AfD prägt, sondern weil die Ausschreitungen von Chemnitz gezeigt haben, wie vernetzt der Rechtsextremismus heute agiert. Wie war es denn möglich, dass sich innerhalb kürzester Zeit Hunderte von Menschen zu menschenverachtenden Ausschreitungen in Chemnitz versammeln konnten? Wie war es möglich, dass der Rechtsextremismus so breit in Deutschland mobilisieren konnte, und zwar unter den Augen des Verfassungsschutzes? Deswegen mahnt uns Chemnitz, rechtsextreme Bestrebungen und Vernetzungen endlich mit der gebotenen Professionalität und auch Genauigkeit zu analysieren, damit sich solche schrecklichen Ereignisse nicht wiederholen können, meine Damen und Herren. ({4}) Das ist das Signal, das wir heute senden müssen: dass wir als Gesellschaft geschlossen gegen solche Rechtsextremisten stehen, dass wir uns schützend vor die Opfer solcher Ausschreitungen stellen, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen und dass wir die Gefahren des Rechtsextremismus endlich ernst nehmen, anstatt eine solche Wirklichkeitsverdrehung zu betreiben. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Christoph Bernstiel für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit Herrn Renner anfangen. Sie haben davor gewarnt, Fake News zu verbreiten. Da fällt mir das Sprichwort ein: Wer selbst im Glashaus sitzt, der sollte keine Steine werfen. – Diese furchtbaren Ereignisse in Chemnitz sind nun fast ein Jahr her, und man muss sich schon die Frage stellen, warum Sie ausgerechnet jetzt mit einer Großen Anfrage hier im Deutschen Bundestag eine Debatte anfangen. ({0}) Kommen wir direkt zu Ihrer Anfrage. Sie stellen 21 Fragen. Nicht eine einzige Frage bezieht sich auf die Opfer. Es gibt auch keine Fragen nach dem Sachstand des Verfahrens und danach, was weiterhin passiert ist. ({1}) Sie zeigen mit dem Finger auf die Bundesregierung, Sie zeigen auf die Kanzlerin, und Sie haben überhaupt gar kein Interesse daran, herauszufinden, wie es weiterging und was passiert ist. Sie wollen hier eine politische Inszenierung vollziehen. Bevor Sie jetzt wieder schreien, das wäre alles gefakt und es wäre nicht so: Es scheint ja Methode zu haben, dass Sie Gewaltverbrechen für Ihre Zwecke ausnutzen. Ich bringe Ihnen ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit – ein sehr trauriges Beispiel –: Vor fünf Tagen wurde der überaus beliebte CDU-Politiker Walter ­Lübcke vor seinem Haus erschossen. Dazu kommt auf Facebook von Ihrem AfD-Vorsitzenden in Dithmarschen – ich zitiere –: „Mord???? Er wollte nicht mit dem Fallschirm springen“. Daraufhin gab es eine große öffentliche Debatte. Der Post wurde gelöscht. Jetzt könnte man meinen, es kam zu einer Einsicht. Ganz im Gegenteil: Ihr AfD-Vorsitzender meldet sich und sagt dem NDR, er sehe keinen Grund für einen Rücktritt, er gehe davon aus, dass ihm große Teile der Partei und der Fraktion den Rücken stärken werden. Ist das der Umgang, wenn wir über Menschenleben reden, wenn wir hier im Deutschen Bundestag über so etwas diskutieren? ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn ich in keinerlei Weise dafür verantwortlich bin, so schäme ich mich für diese Aussage. Ich möchte hier an dieser Stelle ganz herzlich mein Beileid und mein Mitgefühl den Angehörigen und der Familie von Walter Lübcke ausdrücken. ({3}) Aus Mord schlägt man kein politisches Kapital, und genau das ist leider in Chemnitz passiert. Daniel H. wurde im Streit mit zwei Asylbewerbern getötet. Das löste Demonstrationen auf beiden Seiten aus. Es führte zu Hetze. Es führte zu Gewalt. Am Ende verzeichnete die Polizei 239 Strafverfahren, 20 Verletzte, darunter zahlreiche Beamte, und – es ist wichtig, das in dem Zusammenhang zu erwähnen – es gab Gewalt von beiden Seiten der Demonstrationslager. ({4}) Im Mittelpunkt der Diskussionen stand nicht mehr das schreckliche Verbrechen um Daniel H., sondern es ging nach kurzer Zeit nur noch um ein Video, das das linke Aktionsbündnis „Antifa Zeckenbiss“ mit dem Titel „Menschenjagd in Chemnitz, Nazihools sind heute zu allem fähig“ online gestellt hat. Kurz darauf formierte sich auf beiden Seiten ein auch teilweise gewaltbereiter Demonstrationszug, und Chemnitz geriet international und national in Verruf. Es wurde von „Dunkeldeutschland“ geredet. Es wurde von „rechtsextremen Hochburgen“ gesprochen. Es gipfelte sogar darin, dass die „Tagesschau“ Bilder veröffentlichte, die sie nachweislich im Nachgang als falsch titulieren musste. Man muss sich daher die Frage stellen: Welches Ziel wurde damit verfolgt? Die Opposition hier im Deutschen Bundestag übertraf sich mit Schuldzuweisungen. Angela Merkel, Horst Seehofer – alle waren verantwortlich für die furchtbaren Verbrechen und sollten umgehend zurücktreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier im Deutschen Bundestag tragen wir nicht nur Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, sondern auch für das politische Klima. ({5}) Und genau um dieses mache ich mir große Sorgen. Rechtsextremismus bekämpft man nicht mit linker Militanz. Überzogene Rücktrittsforderungen machen Verbrechen nicht ungeschehen. Ganz im Gegenteil: Sie tragen dazu bei, dass wir das gesellschaftliche Klima in unserem Land weiter vergiften und den Nährboden für Radikalisierung bereiten. Das kann nicht unser Ziel und auch nicht unser Anspruch sein. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestern haben wir eine Debatte zu 30 Jahren Friedlicher Revolution geführt. Darin haben – mit bemerkenswerter Anerkennung – auch AfD-Abgeordnete davon gesprochen, Spaltungen in unserer Gesellschaft zu beenden. Sie haben die Bundesregierung explizit aufgefordert, diesem Prozess entgegenzuwirken. Heute fordere ich Sie auf: Bitte hören Sie auf, mit solchen Debatten hier im Deutschen Bundestag unsere Bevölkerung zu spalten, und benehmen Sie sich bitte der Debatte angemessen. Danke. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster redet für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Ulrich Oehme. ({0})

Ulrich Oehme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004843, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wie Sie wissen: Ich bin Sachse, Erzgebirgler und Chemnitzer, das heißt einer jener Menschen, die nach Ihrer Meinung aus Dunkeldeutschland kommen und auf deren Rücken die Bundesregierung versucht, von ihrer eigenen Unfähigkeit und falschen Politik abzulenken. ({0}) Was geschah wirklich in Chemnitz? An dem Wochenende des Stadtfestes von Chemnitz wurden am frühen Sonntagmorgen des 25. August drei junge Deutsche mit Messern schwer verletzt, niedergestochen. Einer, Daniel Hillig, verstarb noch am Tatort. Trotz dieser blutigen Tat wurde am Sonntagvormittag das Stadtfest weitergeführt. Menschen mit Gewissen und Moral konnten nicht verstehen, wie nach so einer Tat ein Fest fortgesetzt wurde, als wäre nichts geschehen. Dies war der offensichtliche Anlass für die Spontandemonstration, ({1}) die nach Beendigung des Stadtfestes stattfand. Dieser Demonstration schlossen sich Besucher des Stadtfestes und Familien mit Kindern an; ich selbst war dabei. Während wir marschiert sind, wurden wir permanent von abseits Stehenden provoziert. Genau da entstand das Video „Hase, du bleibst hier“, welches von der Bundesregierung und Kanzlerin Merkel als Beweis von Hetzjagden benutzt wurde, ohne sich über dessen Entstehung und dessen Verbreitung über das Portal „Antifa Zeckenbiss“ zu informieren. ({2}) Übrigens brauchte unsere Anfrage – damit es auch die Zuhörer draußen hören – sechs Monate zur Beantwortung. Deswegen sind wir heute hier. ({3}) Die spannende Frage ist nun: Warum wurde diesem Fake-Video von der Bundeskanzlerin eine solche Bedeutung beigemessen, obwohl die Chemnitzer Polizei, die Staatsanwaltschaft Sachsen, die regionale „Freie Presse“ und später auch der geschasste Verfassungsschutzpräsident Maaßen bestätigten, dass es keine Hetzjagden in Chemnitz gegeben hatte? ({4}) Dieses Video war perfekt geeignet, um vom eigenen Versagen in der Flüchtlingspolitik abzulenken. ({5}) Die Bundeskanzlerin und ihr Pressesprecher Seibert nahmen billigend in Kauf – das ist der eigentliche Skandal –, dass die Chemnitzer Bevölkerung, Sachsen, aber auch die gesamte Republik nachhaltig in ihrem internationalen Ansehen beschädigt wurden. ({6}) In den sozialen Netzwerken der arabischen Community wurde aufgrund der Art und Weise, wie die Berichterstattung stattgefunden hat, zu Hass und Deutschenfeindlichkeit aufgerufen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die verwendeten Termini. Ich möchte hier gern zwei Quellen zitieren, mit Erlaubnis des Präsidenten. Die erste Quelle: Im Bereich der Zentralhaltestelle rotteten sie sich zusammen, störten das Volksfest und legten den öffentlichen Verkehr lahm. – Die zweite: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen …“. – Fällt Ihnen bei diesem Duktus etwas auf? Beide Aussagen wurden von Staatsorganen über die Bürger von Chemnitz getroffen. ({7}) Beide wurden von Regierungen getroffen, die um ihren Machterhalt fürchten. Die erste über die Bürger der DDR am 9. Oktober 1989, und die zweite vom Regierungssprecher Seibert auf der Pressekonferenz am 27. August 2018. ({8}) Lassen Sie sich sagen: Die Menschen in Chemnitz, in Sachsen und auch im Rest des Landes haben Sie durchschaut. Ihre tollen Reden zur Einheit der Nation sind einfach heuchlerisch. ({9}) Sie stellen sich hierhin und verurteilen dieselben Menschen, die Sie gestern für ihr mutiges Einstehen und ihre Friedliche Revolution vor 30 Jahren rühmten. Daran sieht man, dass es Ihnen nicht mehr um das Wohl dieses Landes und seiner Bevölkerung, sondern ausschließlich um Ihr politisches Überleben geht. ({10}) Aus den Ereignissen um den Mord von Daniel ­Hillig, der Handlung der Bundesregierung und vor allem der fehlenden Empathie für die Bürger kann es nur eine Schlussfolgerung geben: Frau Dr. Merkel, bitte, bitte bewahren Sie unser Land und unser Volk vor weiterem Schaden, und treten Sie zurück! ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Susann Rüthrich. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und wenige Herren auf der rechten Seite! ({0}) Wenn Sie doch nur einmal sensibel mit Ihren eigenen Worten umgehen würden. Vogelschiss, Schuldkult, Menschen entsorgen, politische Verantwortungsträger jagen – das sind Ihre Worte. ({1}) Was heißt denn bitte schön „jagen“? Haben Sie die Waffen schon dabei? Ganze Bevölkerungsgruppen werten Sie pauschal ab. Sie treten die Lehre aus der deutschen Geschichte mit Füßen, und Sie verunglimpfen unsere Demokratie. Aber das wird man ja noch sagen dürfen, ja? ({2}) Wenn Menschen vor Gewalt, die Ihnen angedroht wird, wegrennen müssen, wenn Polizisten den Davonlaufenden sagen: „Da lang“, weil sie den Mob nicht mehr aufhalten könnten, dann – ja, dann – sezieren Sie, wie wir das nennen dürfen. ({3}) Als wenn es darum ginge, ob die Bedrohung stark genug war, um schon „Hetzjagd“ genannt zu werden. Als wenn das Wort und nicht die Tat weltweit für Entsetzen gesorgt hätte. ({4}) Und als wenn es jemals okay sein könnte, Menschen aufgrund rassistischer, sexistischer, politischer oder sonst irgendwelcher Motive zu bedrohen. Das Problem ist, dass die Menschen dort Angst hatten. Aber das interessiert Sie nicht die Bohne. Oder freuen Sie sich etwa sogar daran? ({5}) Es wurde ein jüdisches Restaurant angegriffen, das erst nach Tagen überhaupt in den Zusammenhang mit den Teilnehmenden der Demos gebracht wurde. Wollen Sie vielleicht in Wahrheit davon ablenken? Oder wollen Sie hiervon ablenken: Mir gegenüber stehen „Dritter Weg“, NPD, Pro Chemnitz, NSU-Unterstützerumfeld – ich war im NSU-Untersuchungsausschuss; ich erinnere mich gut, wer damals in Chemnitz und Zwickau aktiv war; die Leute sind nicht weg, die sind jetzt einfach 20 Jahre älter –, ({6}) HooNaRa-Leute – zur Erinnerung: das ist die Abkürzung für Hooligans, Nazis, Rassisten – und AfD. Hitlergrüße werden gezeigt, die Stimmung ist zum Explodieren gespannt. Mit den vielleicht 800 Rechtsextremisten hätte die Polizei fertigwerden können, wenn – ja, wenn – sie ausreichend vor Ort gewesen wäre. Aber da standen nicht 800 Leute, sondern einige Tausend: ({7}) Papa mit dem Kind auf den Schultern, Rentner, junge Leute, Chemnitzer, Nachbarn. Und wissen Sie, was eine ältere Dame rübergeschrien hat? Sie hat geschrien: Kapiert es endlich: Wir haben hier vor 30 Jahren schon mal ein System gestürzt, und das machen wir jetzt wieder. – Jede Demokratin und jedem Demokraten und schon gar jedem und jeder Abgeordneten des Deutschen Bundestages gefriert doch angesichts solcher Selbstoffenbarung das Blut in den Adern. ({8}) Das System stürzen? Mit denen, die da standen? Das muss den Verfassungsschutzpräsidenten in Bund und Ländern den Schlaf rauben, genauso wie Pegida-Demos, bei denen im Zusammenhang mit Seenotrettung „Absaufen! Absaufen!“ geschrien wird. Als Gegensatz dazu ist das Konzert am 3. September zu nennen, organisiert von der Chemnitzer Band Kraftklub. Ich bin allen 65 000 Teilnehmenden dankbar, dass sie da waren. ({9}) Und ich bin allen – allen! – Bands dankbar, dass sie mit uns gezeigt haben: Nazis raus! Und: Wir sind mehr! Ich frage Sie also noch mal: Wovon wollen Sie eigentlich ablenken? Dass Sie gemeinsam mit Rechtsextremen unsere Grundordnung abschaffen wollen? Wir sollten den Chemnitzerinnen und Chemnitzern in ihrer spannenden, in ihrer jungen, in ihrer wirklich faszinierenden Stadt den Rücken stärken, zum Beispiel bei der Bewerbung als Kulturhauptstadt. Es bleibt viel zu tun. Aber wir sind mehr, und zwar auch in Sachsen. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Frank Müller-Rosentritt für die Fraktion der FDP. ({0})

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident Liebe Kolleginnen und Kollegen! Chemnitz ist mit 250 000 Einwohnern eine der prosperierendsten Städte und eine der führenden Forschungs- und Entwicklungsstandorte Deutschlands. ({0}) Seit 1995 sind in der Region über 7 000 neue Unternehmen entstanden. Zahlreiche Hidden Champions haben ihren Sitz in der Stadt am Fuße des Erzgebirges. Junge Start-ups, vor allem im Bereich des autonomen Fahrens, beschäftigen heute mehrere Tausend Mitarbeiter aus der ganzen Welt. Chemnitz ist Sitz einer hervorragenden Technischen Universität mit einem sehr hohen Anteil ausländischer Studierender. Chemnitz ist vielfältig, lebenswert und Heimat zahlreicher Künstler internationalen Formates wie zum Beispiel Jean Schmiedel. Chemnitz hat eine lebendige Zivilgesellschaft und ist weder grau noch braun. ({1}) Um all dies zu erhalten, brauchen wir Fachkräfte aus dem In- und Ausland. Wer den Wohlstand unserer Bürger erhalten und ausbauen möchte, muss alles dafür tun, dass Chemnitz eine der attraktivsten und lebenswertesten Städte in Deutschland wird. Umso widerlicher finde ich es, wie die AfD das Ansehen der Stadt mit Aggressivität, gezielten Falschmeldungen und Aufruf zum Hass nachhaltig beschädigt hat. ({2}) Die selbsternannte Stimme des Volkes, von der übrigens bei der letzten Stadtratswahl 83 Prozent überhaupt gar nicht vertreten werden wollten, spaltet die Gesellschaft, wo immer es geht, und das ist sehr hässlich. ({3}) Durch Ihre Aktion sind Sie maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Ruf meiner Stadt in den Dreck gezogen wird. Jeder Rassist ist Mist. Da ist es völlig egal, ob er von rechts oder von links kommt. ({4}) Dass Chemnitz seit vergangenem August weltweit mehrfach Sinnbild für rechtsradikale Ausschreitungen war, ist maßgeblich die Folge Ihrer permanenten Aufhetzung. ({5}) Ja, auch mich hat die Tötung eines jungen Menschen betroffen. Doch Sie instrumentalisieren die Tötung. Die Debatte hier über die Hetzjagd ist für Sie doch nur eine willkommene Gelegenheit, das Thema zu instrumentalisieren. Auch ich würde den Begriff „Hetzjagd“ so nicht verwenden. Ja, und vielleicht haben Teile der Medien in der Berichterstattung etwas überzogen. ({6}) Aber Übergriffe auf Migranten und auf das jüdische Restaurant „Schalom“ gab es sehr wohl. ({7}) Doch die Begrifflichkeit ist völlig irrelevant; denn nicht der Kameramann, der die Bilder filmte, sorgte für das schlechte Image, sondern das, was vor der Linse passierte. ({8}) Mitten unter den Demonstranten war Ihr Bundestagsabgeordneter Hansjörg Müller, der sich mitten in der rechten Menge vor laufender Kamera offen gegen unsere freiheitliche Demokratie geäußert hat. Schämen Sie sich! Das ist nicht die Partei, von der sich die Chemnitzer regieren lassen wollen. ({9}) Es gibt genügend belegte Übergriffe am Rande von Demonstrationen, begleitet von Sprüchen wie „Haut ab, ihr Kanaken!“ oder „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!“

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Müller-Rosentritt, gestatten Sie eine Zwischenfrage von den Linken?

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben eben gesagt, es sei Ihnen egal, woher der Rassismus kommt, ob von rechts oder von links, und haben dabei auf uns gezeigt.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Also der Extremismus.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es in unserer Fraktion keine Rassisten gibt? ({0}) Würden Sie Ihre Aussage zurücknehmen? Ich finde, ein paar Spielregeln sollten wir einhalten. Wir können gemeinsam gegen rechts kämpfen, aber dass Sie auch die Linksfraktion als Rassisten bezeichnen, ist eine Frechheit. Könnten Sie sich dafür entschuldigen? ({1})

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich entschuldige mich dafür. Ich meinte den Begriff „Extremisten“; ({0}) denn ich habe mit eigenen Augen gesehen, als wir als Stadträte zusammenstanden, dass linke Extremisten ihre schwarzen Kappen heruntergezogen haben und von berittenen Polizisten quasi zurückgehalten werden mussten. ({1}) Es gibt Gewalt sowohl von links als auch von rechts. ({2}) Durch von lokalen AfD-Politikern verbreitete Falschmeldungen über angebliche Vergewaltigungen durch Asylbewerber am Morgen nach dem Vorfall wurde die Stimmung entscheidend aufgeheizt. Sie und Ihre demokratiefeindlichen Freunde haben dafür gesorgt, dass Chemnitz ein enormer Schaden entstanden ist. Meine Botschaft ist daher: Niemand sollte sich von rassistischen Scharfmachern in die Irre führen lassen. Chemnitz ist eine weltoffene und moderne Stadt, in der ich mit meiner Frau und meinen drei Töchtern gerne lebe. Wer mit dem Regierungshandeln unzufrieden ist, muss nicht Nationalismus, Rassismus und Abschottung wählen, sondern er kann sich auch, wie ich, aus Frust wegen Stillstand für Pluralismus, Fortschritt und Weltoffenheit entscheiden. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Monika Lazar. ({0})

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die durchscheinende Absicht der AfD, den Vorfall in Chemnitz Ende August letzten Jahres hetzerisch und polarisierend zu thematisieren, ist nicht aufgegangen. ({0}) Wie es in Chemnitz wirklich war, haben schon die Kolleginnen und Kollegen Susann Rüthrich, Detlef Müller und André Hahn berichtet. Ich selber war auch mit dabei und spare mir jetzt die Schilderung, die ich in meiner letzten Rede zum Thema Chemnitz ausgeführt habe. Zu Ihrer vermeintlich Großen Anfrage. Es ist eigentlich nur interessant, welche Fragen Sie nicht gestellt haben. Warum fragen Sie nicht, wie sich seit dem Vorfall in Chemnitz die rechtsextreme Gewalt entwickelt hat? Sie ist deutlich gestiegen. Die Opferberatungsstellen haben deutschlandweit 93 Taten gezählt, davon allein 34 in Chemnitz. Warum fragen Sie nicht, ob sich seither das rechtsextreme Personenpotenzial erhöht hat? Das ist nämlich der Fall. Warum fragen Sie nicht nach den Fällen, in denen Menschen und Journalisten der Medien beschimpft und eingeschüchtert wurden? Das ist alles passiert und dokumentiert. Warum fragen Sie nicht danach, von wie vielen Menschen der Hitlergruß gezeigt wurde? ({1}) Auch das ist passiert und steht jetzt sogar im sächsischen Verfassungsschutzbericht. Aber das scheint Sie nicht zu interessieren. Ihnen geht es nur um Hetze, Spaltung und Polarisierung. ({2}) Die Vorfälle in Chemnitz haben die Bürgerinnen und Bürger beschäftigt und ein Nachdenken und eine Diskussion in der Stadtgesellschaft darüber ausgelöst, wie wir miteinander umgehen und gemeinsam leben wollen. ({3}) Es gilt, gemeinsam tragfähige Lösungen für die Zukunft zu finden. Dazu können auch die politischen Diskussionen der nächsten Wochen und Monate vor der Landtagswahl in Sachsen genutzt werden. Mit den Menschen reden und gemeinsam ein Konzept zu erarbeiten, das ist wichtig. Das brauchen wir. ({4}) Wir Grüne wollen Menschen stärken, die sich unter teilweise schwierigen Bedingungen bürgerschaftlich engagieren. Wir fordern eine niedrigschwellige, verlässliche politische und finanzielle Unterstützung der Zivilgesellschaft im städtischen und im ländlichen Bereich. ({5}) Zum Schluss möchte ich eine Einladung für das Konzert „#wirsindmehr“ Anfang Juli in Chemnitz aussprechen. Ich hoffe, wir sehen uns alle; denn wir sind mehr. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute anlässlich der Großen Anfrage der AfD über vermeintliche Hetzjagden in Chemnitz diskutieren, dann zeigt das vor allem eines: Sie haben vor allem ein Interesse am Landtagswahlkampf in Sachsen, aber nicht an Sacharbeit in diesem Parlament, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({0}) Dass Sie kein großes Interesse an Sacharbeit haben, zeigt auch schon die Qualität der Großen Anfrage. Sie beschweren sich hier im Parlament, dass die Bundesregierung Ihnen nicht die Antworten gegeben hat, die Sie gerne gehabt hätten. Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, wie die Qualität Ihrer Anfrage war. Ich sage Ihnen nur eines: Sie können nicht mit dem Tretroller beim Formel-1-Rennen antreten und dann erwarten, als erster über die Ziellinie zu kommen. Da müssen Sie Ihre Arbeit schon besser machen. ({1}) Ich will die Debatte nicht weiterführen, indem ich Ihre Narrative bediene. Ich will vor allem drei Bemerkungen machen. Ich möchte, weil es heute in der Diskussion öfter Thema war, auf Hans-Georg Maaßen eingehen. Außerdem möchte ich etwas zum Thema Desinformation und zur Spaltung in unserer Gesellschaft sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, Hans-Georg Maaßen ist eine Person, die politisch durchaus kontrovers diskutiert wird. Aber so kontrovers über ihn auch diskutiert wird, will ich Ihnen eines sagen: Er hat es sicherlich nicht nötig, sich von Ihnen vor den Karren spannen zu lassen. Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Hans-Georg Maaßen ist ein Spitzenjurist, seit Jahrzehnten Mitglied der CDU. Er hat in seiner Arbeit engagiert gegen Extremismus, auch gegen Rechtsextremismus, gegen Einflüsse aus dem Ausland und für unsere Verfassung gekämpft. Von einer Truppe wie Ihnen, die sich nicht gegen den Einfluss Russlands abgrenzen kann und auch keine klare Abgrenzung zum Rechtsextremismus hinbekommt, braucht sich Hans-Georg Maaßen nicht vor den Karren spannen zu lassen. ({2}) Ihre Zwischenrufe zeigen, wie polarisiert diese Debatte ist. Die einen wollen sich fremde Federn von sachlicher Arbeit anheften, Sie wollen Hans-Georg Maaßen unter Generalverdacht von Extremismus stellen. Ich möchte an dieser Stelle Hans-Georg Maaßen zitieren, der in seiner Amtszeit als Verfassungsschutzpräsident sagte – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Wir dürfen Gewalt nicht als Mittel in der politischen Auseinandersetzung akzeptieren – egal mit welcher ideologischen Begründung sie stattfindet. Das ist die Marschroute für CDU und CSU, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir sind gegen Extremismus jedweder Form. Wir sollten uns hier in der Debatte ehrlich machen. Wenn wir Monate danach über die Ereignisse in Chemnitz reflektieren, dann sollten wir den Blick darauf werfen, wie unser Staat und auch wir in der politischen Debatte mit Desinformationen umgehen. Ich will offen sagen: Als Innenpolitiker bereitet es mir schon Sorge, dass ein Video der Gruppe „Antifa Zeckenbiss“, die nachrichtendienstlich durchaus im Fokus steht, so verbreitet wird. Das müssen wir kritisch hinterfragen. Das ist das eigentliche Thema, über das wir hier im Parlament eine Debatte führen müssen, nicht darüber, dass die Bundesregierung angesichts der schlimmen Bilder von Chemnitz durchaus richtig reagiert hat. Es geht darum, dass wir über Desinformation reden müssen und das nicht so ausschlachten, wie Sie das hier tun. Da wir gerade über Desinformation reden: Fragen Sie sich mal in dieser Situation, in der eine Gruppe wie „Antifa Zeckenbiss“ so ein Video lanciert, was Ihre Freunde aus Russland dann machen können. Dafür gibt es genug Beispiele, und ich glaube, das wäre ein Thema, das eine sachliche Auseinandersetzung wert wäre, und nicht diese Finten, die Sie hier legen, um daraus Profit im Landtagswahlkampf zu schlagen. Es geht auch darum, dass wir darüber reden müssen, dass dieser Fall von Chemnitz zuallererst zeigt, wie gespalten unsere Gesellschaft ist: Die einen zeichnen ein Bild von grassierendem, um sich greifendem Rechtsextremismus in Chemnitz, während sie vergessen, wie stark die Zivilgesellschaft dort ist, wie das auch die Abgeordneten von vor Ort hier beschrieben haben. Andere sagen, es gebe dort gar keine Ausschreitungen. Die Hitlergrüße, die extremistischen Ausschreitungen haben bei ihnen gar keine Erwähnung gefunden. Gerade in dieser aufgeheizten Debatte muss man sagen: CDU und CSU stehen ganz klar gegen jede Form von Extremismus und dafür, dass wir uns gemeinsam für unsere Verfassung und unsere Werte einsetzen, und das ist auch die Marschroute, die es in dieser Debatte braucht. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Martin Rabanus für die Fraktion der SPD. ({0})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rasierte Köpfe, die Arme zum stilisierten oder gar ganz offenen Hitlergruß ausgestreckt, teilweise vermummt, leuchtende, qualmende Bengalos, hasserfüllte Gesichter, Aggression, Gewaltbereitschaft in Pose, in Gestik und in Mimik: Das sind keine Fantasien, sondern das sind Beschreibungen von dem, was wir an unterschiedlichen Stellen – fotografisch und in tatsächlich mehr als nur einem Video, das hier als umstritten bezeichnet wurde, festgehalten – haben sehen können. In dieser Situation kommt die AfD mit der Chemnitz-Lüge um die Ecke. Das ist jämmerlich. Sie sollten sich was schämen! ({0}) Um das gleich zu Beginn deutlich zu machen: Selbstverständlich ist es durch nichts zu entschuldigen und nicht hinnehmbar, dass ein Mord geschieht, dass ein Mensch stirbt. ({1}) Auch in diesem Moment gehört unser Mitgefühl den Angehörigen des Opfers. Das rechtfertigt aber gar nichts und erst recht nicht, dass sich auf Straßen und Plätzen Menschen zusammenrotten ({2}) – ich sage das ganz bewusst – und anderen absprechen, Mensch zu sein. Das ist das, was im Kern passiert. ({3}) Andersdenkende, Andersaussehende werden tatsächlich zu Niemanden erklärt, und das dürfen wir nicht durchgehen lassen. ({4}) Um klarzumachen, worüber wir hier eigentlich streiten: Die Aussage von Steffen Seibert, dem Sprecher der Regierung, die hier in der Kritik steht, lautete – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Was gestern in Chemnitz zu sehen war ... hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft ... nehmen wir nicht hin. Damit hat er recht. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Rabanus, gestatten Sie eine Zwischenfrage der AfD?

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen. – Die AfD sieht in dieser Wortwahl einen Schaden für die Bundesrepublik Deutschland, für Sachsen und für die Bürger der Stadt Chemnitz. Ich sage Ihnen: Das, was Sie machen, schadet Deutschland und ist auch eine Schande für unser Deutschland. ({0}) Während Sie von der AfD die freien Medien als fremdgesteuerte Lügenpresse diffamieren, will ich für die SPD und sicherlich auch für die ganz große Mehrheit in diesem Haus klipp und klar sagen: Wir sind nicht gegen die freie Presse, sondern wir sind für die freie Presse, und wir sind für die Stärkung der Presse- und Medienfreiheit in unserem Land. ({1}) Wir müssen wirklich aufpassen, dass sich nicht mehr und mehr ein Klima verbreitet, das die Arbeit der freien und unabhängigen Medien erschwert oder gar infrage stellt. Ich erinnere an die Fake-News-Hysterie. Übrigens habe ich ein Beispiel für Fake News der AfD mitgebracht: Die AfD Kinzigtal hat nämlich ein Bild gepostet und darüber „Chemnitz im September 2018“ geschrieben. Dieses Bild ist aber tatsächlich bei der friedlichen Revolution in Leipzig 1989 entstanden. ({2}) Ich finde es besonders perfide, dass eine solche Instrumentalisierung stattfindet. ({3}) Das darf nicht sein. Wir wollen die freien Medien, die Meinungsfreiheit und die Demokratie schützen und die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass man ungehindert berichten kann. Das ist auch vor dem Hintergrund von 30 Jahren Friedlicher Revolution ein wichtiges Signal. ({4}) Wie gestern bereits meine Kollegin Katrin Budde in der Debatte zu unserem Antrag mit dem Titel „30 Jahre Friedliche Revolution“ ausgeführt hat: wir Demokratinnen und Demokraten dürfen den Ruf von 1989 „Wir sind das Volk“ bzw. „Wir sind ein Volk“ nicht den Populisten überlassen. Die Demokratie lebt von Diskussionen, ({5}) von der Presse- und Meinungsfreiheit und von der Kontroverse, aber ganz sicher nicht von Gewalt und Populismus. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herzlichen Dank. – Der Kollege Thomas Ehrhorn von der AfD erhält Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank für das Wort. – Lieber Herr Kollege, bei dieser ganzen Debatte geht es doch eigentlich darum, dass bestimmte Narrative, die von vorwiegend linken Kräften hier in die Welt gesetzt werden, unbedingt erhalten werden müssen, Narrative, die dazu dienen, den gesellschaftspolitischen Umbau in diesem Land zu begründen, Narrative wie das, dass überwiegend Fachkräfte zu uns kommen – wir alle wissen, dass dies Desinformationen, dass dies Lügen sind –, Narrative wie das, dass die Menschen, die zu uns kommen, überwiegend eine ganz große Bereicherung wären, was auch eine Desinformation ist. Die Bevölkerung begreift das, und Ereignisse wie der Mord in Chemnitz beweisen und zeigen das. Die Bevölkerung merkt das langsam. Jetzt geht es doch ganz einfach darum, wie man diese Narrative dennoch am Leben erhalten kann. Dabei schreckt man eben auch nicht vor Lügen und davor zurück, die Wahrheiten zu unterdrücken, wie damals bei den Ereignissen auf der Domplatte in Köln, als die Medien vier Tage gebraucht haben, bis sie unter dem Druck bereit waren, zu reagieren und darüber zu berichten. Die Propagandalüge von den Hetzjagden in Chemnitz gehört ebenfalls dazu. Bedauerlicherweise war es die Bundesregierung, die sich an diesen Propagandalügen beteiligt hat. Das ist die Wahrheit, und das hat in der Tat überhaupt nichts damit zu tun, dass hier irgendjemand irgendetwas instrumentalisieren würde. Das nehmen Sie doch bitte mal zur Kenntnis! ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Möchten Sie darauf antworten, Herr Rabanus? – Bitte sehr. ({0})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das nutzt in der Tat nichts; das beweist in beeindruckender Weise, in welche Parallelwelt Sie abgerückt sind. ({0}) Ich bin mir nicht ganz sicher, aber dieses Weltbild, das sich offensichtlich in Ihrem Kopf befindet, muss sehr hässlich, sehr dunkel und sehr grau sein. Wenn ich ein bisschen versuche, mich in das reinzuversetzen, was Sie denken, dann merke ich: Das ist fast schon bedauernswert. Tatsächlich geht es um was völlig anders. Als Sie von der Fachkräftezuwanderung sprachen, war mein erster Gedanke: Sie haben den falschen Sprechzettel. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird nämlich erst beim folgenden Tagesordnungspunkt behandelt. ({1}) Sie leben offenbar tatsächlich in einer angstzerfressenen Vorstellung von diesem Land, die ich überhaupt nicht habe. ({2}) Wir leben in Deutschland in einem tollen Land, in einem Land, das demokratisch, frei und in der Mitte von Europa ist. Es geht darum, genau dieses tolle Deutschland in Europa und unsere Demokratie zu erhalten und gegen Leute wie Sie zu verteidigen, die aus welchen Gründen auch immer glauben, dass man noch eindimensional, engstirnig, klein und kleinkariert in dieser Welt unterwegs sein kann. ({3}) Genau das wollen wir nicht. Genau das ist auch der Grund, warum wir die Konfrontation mit Ihnen gerne und offen aufnehmen. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Wir fahren in der Debatte fort. Nunmehr spricht Alexander Hoffmann für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tod eines Menschen muss uns dazu bringen, innezuhalten, seiner und auch der Angehörigen zu gedenken. Der gewaltsame Tod eines Menschen muss im Rechtsstaat dazu führen, dass die Ereignisse aufgearbeitet werden, und zwar nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Dafür sind bei uns die Gerichte, die Staatsanwaltschaften und die Polizei zuständig. Ich sage das im Vorfeld meiner Rede deshalb so ausdrücklich, weil man an dieser Großen Anfrage merkt, dass die AfD das an mancher Stelle anders sieht. Das zeigt auch ein Blick in jene Spätsommertage 2018. Da machen Sie sich von der AfD ein tragisches Ereignis zunutze. Sie instrumentalisieren es geradezu, versuchen sofort, die Deutungshoheit über diese Tage und all das zu bekommen, was da geschieht, spulen sich nach oben und versuchen, die Bevölkerung anzustacheln. Wenn man Ihre Große Anfrage genau liest, dann muss man feststellen, dass Sie – das ist schon angeklungen – überhaupt kein Interesse an Sachverhaltsaufklärung haben, sondern es geht letztendlich darum, dieses Thema am Leben zu erhalten. Das Interesse dafür gaukeln Sie nur vor. ({0}) Das Tragischste ist eigentlich, dass Sie bei all den Redebeiträgen, bei all den Fragen, die Sie formulieren, an keiner Stelle, aber wirklich an gar keiner Stelle, auch nur ein einziges Bild bedauern, das an diesen Tagen aus Chemnitz um die Welt gegangen ist. ({1}) Man kommt dann – ich kann es gar nicht anders sagen –, wenn man die Große Anfrage liest, zum eigentlichen Treppenwitz. Wenn es nicht so tragisch wäre, müsste man fast lachen. Aus der Großen Anfrage geht hervor, dass die AfD sich Gedanken über das Image Chemnitz’, über das Image Sachsens, über das Image Deutschlands in der Welt macht. ({2}) Ich glaube schon, dass das ein wichtiges Thema ist, das uns alle hier beschäftigen muss. Aber ich will Ihnen schon sagen: Wenn Sie Sorge um das Image Deutschlands in der Welt haben, dann tragen Sie Sorge dafür, dass Ihr Fraktionsvorsitzender Adolf Hitler nicht als „Vogelschiss“ in der Geschichte verharmlost. ({3}) Wenn Sie Sorge um das Image Deutschlands in der Welt haben, dann sorgen Sie dafür, dass bei Parteiveranstaltungen nicht die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen wird. ({4}) Wenn Sie Sorge um das Image Deutschlands in der Welt haben, dann distanzieren Sie sich doch von Bildern und von Demonstrationen, auf denen der Hitlergruß gezeigt wird. ({5}) Wenn Sie Sorge um das Image Deutschlands in der Welt haben, dann kümmern Sie sich um Funktionsträger bei Ihnen, die sich vor Hitlerweihestätten im Internet ablichten lassen. Wenn Sie Sorge um das Image Deutschlands in der Welt haben, dann entfernen Sie Abgeordnete aus Ihren Reihen, die eigentlich nichts anderes als bessere Marionetten Russlands sind. ({6}) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Es ist eigentlich ganz einfach, für ein positives Gesicht Deutschlands in der Welt zu sorgen. Daran sollten Sie arbeiten. Danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit ist die Aussprache über die Große Anfrage beendet.

Not found (Minister:in)

Lieber Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Von all den Gesetzen des Migrationspaktes ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus meiner Sicht das notwendigste und das wichtigste. Eine jahrzehntelange Debatte zu diesem Thema geht damit zu Ende. Ich weise noch einmal darauf hin, dass dieses Gesetz geeignet ist, durch legale Möglichkeiten die illegale Migration zurückzudrängen. ({0}) Ich teile auch nicht die Befürchtung von manchen, dass dieses Gesetz zu großer zusätzlicher Einwanderung führen wird. ({1}) Meine Sorge ist eine andere: Wir müssen uns darum kümmern, dass das Gesetz in der Praxis Wirkung entfaltet. Darauf möchte ich mich konzentrieren. Das Gesetz ist gut. Es ist von den Fraktionen sauber behandelt worden. Es gewährleistet, dass wir eine Zuwanderung in dem Bereich bekommen, in dem es notwendig ist, nämlich Fachkräfte – Menschen, die für unser Land nützlich sind und die wir brauchen –, dass wir also eine Zuwanderung in die Arbeitsplätze bekommen und keine Zuwanderung in die Sozialsysteme. ({2}) Das ist eine ganz wichtige Botschaft dieses Gesetzes. ({3}) Warum habe ich bei der Umsetzung Sorge? Wir betreten mit diesem Gesetz Neuland. Es gibt viele Beteiligte, die sich in diesem Neuland bewähren müssen. Ich bitte alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, dass sie auf den jeweiligen Ebenen die Umsetzung dieses Gesetzes unterstützen. Sie alle haben diverse Möglichkeiten, das zu tun. Ich beginne mit der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft hat etwa 80 Außenhandelsvertretungen. Wir werden die Wirtschaft bei der Anwerbung von Fachkräften in bestimmten Ländern mit ihrem Know-how bei der Beurteilung der Ausbildung brauchen. Die duale Ausbildung kennt man ja in anderen Ländern – Ausnahme: Österreich – so gut wie nicht. Gleiches gilt bei der Organisation; das ist ein ganz wichtiger Teil des Gesetzes. Es kann ja sein, dass man zwar ein Grundwissen durch berufliche Tätigkeit, zum Beispiel in Tunesien, erworben hat, aber nicht formal die Voraussetzungen, beispielsweise eines Fliesenlegers hier in der Bundesrepublik Deutschland, erfüllt. Ich finde, es ist eine sehr kluge gesetzliche Regelung, dass man diese Qualifikation in Deutschland erwerben kann. Dazu brauchen wir die Wirtschaft. Dazu brauchen wir das Handwerk. Wir haben auch Gespräche sowohl mit dem Wirtschaftsminister Peter Altmaier als auch mit DIHK und Handwerkskammer geführt. Ich bitte Sie, uns dabei zu unterstützen. Das brauchen wir zur Funktionsfähigkeit des Gesetzes. Ich möchte nicht, was manche heute vermuten, dass es ein oder eineinhalb Jahre dauert, bis eine Fachkraft das ganze Verfahren durchlaufen hat, und sie erst danach in Deutschland arbeiten kann. Der zweite Punkt ist – das habe ich schon mit dem Kollegen Maas besprochen –: Wir müssen bei den Botschaften dafür sorgen, dass die Visaerteilung nicht an unendlich langen Terminabläufen scheitert oder durch sie verzögert wird. Es ist auch beim Familiennachzug oft der Fall, dass man Monate auf einen Termin warten muss. Wir müssen hier die Dinge so organisieren, dass die Visaerteilung in sehr kurzer Zeit erfolgt. Außerdem brauchen wir hier die Bundesländer. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn sich sämtliche Ausländerbehörden in Deutschland mit dieser Thematik beschäftigen. Deshalb ist es ein guter Vorschlag im Gesetz, dass die Länder gebeten werden, so etwas wie Schwerpunktausländerämter einzurichten, die sich nur mit dieser Frage beschäftigen, damit auch hier die Dinge zügig, aber auch sachgerecht bearbeitet werden können. Schließlich gibt es noch die Bundesagentur für Arbeit. Sie sehen, es gibt eine Menge von Beteiligten, und das ist immer eine gewisse Gefahr. Die Bundesagentur für Arbeit hat natürlich in vielen Bereichen Zuständigkeiten, und sie bereitet sich schon sehr gut auf die Anliegen der Arbeitgeber- und der Gewerkschaftsseite vor. Ich empfinde das heute als eine schöne Sache; es ist eine gute Sache. Bei mir persönlich löst es auch Zufriedenheit aus, dass wir es nach all diesen Diskussionen – der Gesetzentwurf ist ja schon vor Weihnachten vom Kabinett beschlossen worden – geschafft haben, auch diesen Punkt voranzubringen. Ich stehe nicht an, zu sagen: Es war auch in meiner Partei über viele, viele Jahre ein höchst umstrittenes Vorhaben. Es ist mir als noch amtierender Parteivorsitzender nicht gelungen, das Vorhaben zum Tragen zu bringen. Deshalb ist es eine nachgezogene Freude, dass es jetzt im Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorliegt. Sie werden sehen: Es wird viel in der Migrationsfrage ausgleichen, weil jetzt legale Möglichkeiten für die Personen zur Verfügung stehen, die wir in der deutschen Wirtschaft unzweifelhaft brauchen. Der Bundeswirtschaftsminister weist mich immer darauf hin, dass das Fehlen von Fachkräften mittlerweile ein echtes Wachstumshemmnis in der Bundesrepublik Deutschland ist. ({4}) Ich bitte also um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete René Springer. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor uns liegt der Entwurf eines Einwanderungsgesetzes der Bundesregierung, der Entwurf eines Gesetzes, das von vielen Interessen geleitet ist, nur nicht von dem, was die Menschen in diesem Land wollen, und auch nicht von dem, was wir als AfD wollen. Was wäre das? Erstens. Wir wollen, dass Fachkräfteprobleme dort gelöst werden, wo sie tatsächlich bestehen. Da gibt es regional große Unterschiede. So ist die Nachfrage nach Pflegekräften in Hamburg in den letzten acht Jahren um 28 Prozent gesunken, im ländlichen Brandenburg hingegen um 450 Prozent gestiegen. Das ist auch eine Folge Ihrer katastrophalen Ostpolitik. ({0}) Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt, dass sich diese Gegensätze durch das Einwanderungsgesetz noch deutlich verschärfen werden, weil Migranten nach den bisherigen Erfahrungen nicht aufs Land, sondern in die Städte streben. Welchen Sinn hat, bitte, ein Gesetz, das keine Antwort darauf gibt, wie Pflegekräfte in Zukunft in die Regionen kommen, in denen schon heute ein Pflegenotstand herrscht? Zweitens. Wir wollen keine Einwanderung in unsere Sozialsysteme. Da hören wir gebetsmühlenartig immer wieder, wie nach ausländischen Fachkräften gerufen wird, weil in einigen Branchen Fachkräfte fehlen. Einen besonders großen Mangel gibt es bei den Altenpflegern. Aber wie kann es eigentlich sein, dass trotz des großen Mangels in diesem Beruf die Arbeitslosigkeit ausländischer Altenpfleger in den letzten acht Jahren um 64 Prozent gestiegen ist? Wie kann es sein, dass die Arbeitslosigkeit bei Altenpflegern aus den Top-8-Asylherkunftsländern in den letzten acht Jahren um 753 Prozent gestiegen ist? Das sind offizielle Zahlen der Bundesregierung. Bevor wir also nach neuen Fachkräften rufen, sollten wir erst einmal diejenigen in Arbeit bringen, die schon hier sind. ({1}) Drittens. Wir wollen kein Lohndumping durch Arbeitsmigration. Wir haben bereits heute riesige Lohnunterschiede zwischen Deutschen und Ausländern. Der Bundesregierung zufolge verdienen ausländische Fachkräfte im Mittel 509 Euro weniger als deutsche Fachkräfte. Bei Fachkräften aus den Top-8-Asylherkunftsländern liegt dieser Unterschied bei 1 055 Euro je Monat – 1 055 Euro, die ausgebildete ausländische Fachkräfte im Mittel weniger verdienen als deutsche. Das Einwanderungsgesetz ignoriert das vollkommen. Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund stellt warnend fest, dass dieses Gesetz das Lohndumping nicht stoppen, sondern verschärfen wird. ({2}) Das alles sind Gründe, die gegen das Gesetz sprechen. Wir lehnen den Gesetzentwurf aber auch ab, weil wir darin eine Handschrift wiedererkennen: die Handschrift des Globalen Migrationspakts, vor dem wir immer gewarnt haben. Im Migrationspakt heißt es: „… Fristen für die Bearbeitung von Visa und … für … Beschäftigungsgenehmigungen“ sollen „verkürzt werden …“. Im Fachkräfteeinwanderungsgesetz heißt es nun: „Die Kapazitäten zur Bearbeitung von Visaanträgen müssen ausgebaut werden.“ ({3}) Der Innenminister hat es gerade noch einmal betont. Im Migrationspakt heißt es: „Wir werden … für Migranten … den Zugang zu Verfahren der Familienzusammenführung durch geeignete Maßnahmen erleichtern …“ ({4}) Im Gesetz heißt es nun: Das beschleunigte Fachkräfteverfahren „umfasst auch den Familiennachzug“. ({5}) Und: „Mit der zusätzlichen Fachkräfteeinwanderung ist ein Anstieg des Familiennachzugs zu erwarten.“ ({6}) Die Bundesregierung selbst sagte auf meine schriftliche Anfrage hin: Die Regelungen der von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwürfe eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes sowie eines Gesetzes über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung – das ist das Zweite, was hier zur Debatte steht – stehen im Einklang mit den grundsätzlichen politischen Zielen des Globalen Migrationspaktes. ({7}) Der „Welt“-Herausgeber Stefan Aust bezeichnete diesen Pakt im vergangenen Jahr als „Arche Noah der Vereinten Nationen … – als ultimative Rettungsmission für alle Migranten dieser Welt, die sich auf den Weg zu wohlhabenden Staaten machen –, Deutschland ganz vorneweg“. Als AfD-Fraktion werden wir diese perfide Mission nicht unterstützen. ({8}) Um es klar zu sagen: Wir sind gegen Lohndumping und gegen die weitere Einwanderung in die Sozialsysteme. Wir lehnen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ab. Danke sehr. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Lars Castellucci. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ein Einwanderungsland. Einwanderung braucht Regeln, sonst läuft sie ungeregelt, und mit diesem Fachkräfteeinwanderungsgesetz schaffen wir diese Regeln für unser Land. Es ist höchste Zeit. Es ist ein guter Tag für Deutschland, dass wir das heute tun. ({0}) Wir regeln, dass auch beruflich Qualifizierte in unser Land kommen können, nicht nur die Höchstqualifizierten und diejenigen, die schon einen hochdotierten Arbeitsvertrag in der Tasche haben. Wir regeln, dass Menschen zur Suche nach Arbeit oder zur Suche nach einer Ausbildung nach Deutschland kommen können. Wir regeln auch, dass Menschen, die sich hier über einen Asylantrag nach Deutschland begeben und festgestellt haben, dass sie kein Asylrecht haben, aber langwierige Verfahren erdulden mussten, die begonnen haben, sich hier zu integrieren, die hier arbeiten, die hier ihren Lebensunterhalt sichern können, hier auch ein Bleiberecht haben. Niemand versteht, dass wir einerseits Menschen aus dem Ausland anwerben, während wir gegenüber Menschen, die sich hier gut integriert haben und arbeiten, eine Abschiebung vollziehen. Es ist gut, dass wir diese Regelung heute hier verabschieden können. ({1}) Wir haben nun eine gesetzliche Grundlage, Einwanderung nach Deutschland zu steuern. Diese Einwanderung ist an strenge Voraussetzungen gebunden. Das soll auch so sein. Wir wollen behutsam vorgehen, und wir können nachsteuern, wenn das der Bedarf ergibt. Ich halte das für angemessen. Ich halte es für pragmatisch. Wir können dabei flexibel bleiben. Das nenne ich ein modernes Einwanderungsrecht. ({2}) Seit ich in den Bundestag gewählt wurde, setze ich mich dafür ein, dass wir legale Wege nach Deutschland eröffnen, auch um die irreguläre Migration zurückzudrängen, dass wir Geschäftsmodelle bekämpfen, bei denen Menschen in den Herkunftsländern vorgegaukelt wird, dass sie hier eine gute Zukunft haben und hier willkommen sind, egal ob sie die Voraussetzungen erfüllen. Diese Menschen lassen oft alles zurück und müssen ihr Geld für Schlepperorganisationen ausgeben. Am Ende werden sie auf Boote geschickt, die für die See nicht tauglich sind, und dort werden sie sich selbst überlassen, nur um am Ende, wenn sie es schaffen, festzustellen, dass es vergeblich war. Wir müssen diese Geschäftsmodelle unterbrechen. Das geht nicht mit Abschottung. Das geht, indem wir legale Wege eröffnen. Das tun wir mit diesem Einwanderungsgesetz. Deswegen ist es gut, dass es heute verabschiedet wird. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Castellucci, gestatten Sie eine Zwischenfrage von den Linken?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde jetzt gerne am Stück vortragen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Okay.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das, was wir heute verabschieden, ist noch nicht das Einwanderungsrecht aus einem Guss, es ist noch nicht das Einwanderungsgesetzbuch – ich sage für die SPD-Fraktion zu, dass wir daran weiter arbeiten werden –, aber es ist ein riesengroßer Schritt nach vorne; es ist ein guter Tag für unser Land. ({0}) Ich möchte etwas zum Fachkräftebedarf sagen. Da ist ja von Desinformationen geredet worden. Sie reden immer von Desinformationen, weil Sie sich damit bestens auskennen. Aber wir machen Politik – gestützt auf die Fakten, die wir haben. Hier geht es darum, dass wir in die Zukunft schauen müssen. Niemand kann wissen, wie sich der Bedarf genau entwickelt und was der digitale Wandel genau mit unserer Arbeitswelt macht. Aber was wir wissen können, ist, dass wir heute schon Fachkräftebedarf haben, etwa bei der Pflege oder im Handwerk. Und wir haben verlässliche Prognosen, dass bis zum Jahr 2060 die Zahl der Menschen, die erwerbsfähig sind, zurückgehen wird: von heute 47 Millionen auf dann unter 30 Millionen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland braucht Zuwanderung, und wir ermöglichen mit diesem Gesetz Zuwanderung. Deswegen ist es ein gutes Gesetz für das ganze Land. ({1}) Das „Handelsblatt“ kommentiert: Das Einwanderungsgesetz, das wir heute vorlegen, – ich zitiere – „sichert der GroKo einen Platz in den Geschichtsbüchern“. ({2}) – Ja, da habe ich jetzt ein paar Reaktionen eingepreist. – Ich will Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Wir haben 20 Jahre für dieses Gesetz gestritten und gekämpft. Die Union hat dieses Gesetz in Wahrheit 20 Jahre bekämpft. ({3}) Ich erinnere an Roland Koch. Ich erinnere an übelste Kampagnen, an Aussagen wie „Lieber Kinder statt Inder“. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das waren Tiefpunkte der politischen Diskussion in unserem Land, und ich will diese nie wieder erleben, schon gar nicht aus Kreisen der demokratischen Parteien. ({4}) Unser Koalitionspartner hat in Wahrheit lange gebraucht, um anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist; Rita Süssmuth möchte ich da mal ausnehmen. Aber heute ist es so weit, jetzt ist es geklärt. Und wenn wir uns vor Augen führen, was für ein langer Kampf das war, dann hat der Kommentator des „Handelsblattes“ recht: Heute ist ein Tag für die Geschichtsbücher. Deutschland anerkennt nach außen offen: Wir sind ein Einwanderungsland. – Gut, dass es endlich so weit ist. ({5}) Wir sprechen über Zuwanderung – wir brauchen sie auch –; aber wir alle treffen Menschen, die sagen, sie hätten 80, 90 Bewerbungen verschickt und keine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Deswegen sage ich: Wer in Teilzeit festhängt und eigentlich Vollzeit arbeiten möchte, wer einen prekären Arbeitsplatz hat und einen ordentlichen Arbeitsplatz verdient hat, wer nicht die Kindertageseinrichtung findet, die er braucht, um einem Beruf nachzugehen, wer die Pflege der Eltern nicht organisiert bekommt – wir dürfen nicht nachlassen, für Perspektiven für alle diese Menschen zu sorgen. Deswegen ist es gut, dass wir nicht nur ein Einwanderungsgesetz machen, sondern dass die Bundesregierung auch eine Fachkräftestrategie erarbeitet hat. Beides muss mit Nachdruck verfolgt werden. ({6}) Wir verabschieden heute ein Einwanderungsgesetz, und das klingt so, als wäre das nur gut für Einwanderer. Ich glaube aber, es ist deutlich geworden: Ein Einwanderungsgesetz ist gut für das ganze Land. Wir haben in manchen Branchen und Regionen heute bereits Fachkräftebedarf. Wir steuern auf einen eklatanten Mangel an Arbeitskräften zu. Wir brauchen also Einwanderung. Einwanderung ist gut für alle – wenn man sie ordentlich organisiert, so wie wir das hier tun. Sie kann ein Gewinn für alle sein: für die Menschen, die zu uns kommen, für die Herkunftsländer, in die die Rücküberweisungen stattfinden, und auch für die Bevölkerung hier, die beispielsweise schon unter Arbeitsverdichtung klagt, weil die Arbeitsplätze, die hier im Lande frei sind, nicht für andere zur Verfügung gestellt wurden. Zuwanderung kann uns allen nützen. Das ist die Geschichte unseres Landes – ein Land, in dem bereits heute etwa ein Viertel der Menschen Migrationshintergrund hat. Wir sind stark – nicht trotz dieser Leute, sondern Seite an Seite mit diesen Leuten haben wir dieses Land stark gemacht, und das werden wir auch in Zukunft mit den Menschen tun, die neu zu uns kommen. ({7}) Gleichzeitig kümmern wir uns um Perspektiven für alle, die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. Das nenne ich „soziale Politik“; das ist Politik für das ganze Land. Ich bitte Sie alle um Zustimmung und die Bundesregierung anschließend um eine engagierte Umsetzung dessen, was wir heute verabschieden. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Handwerker, IT-Start-ups, Pflegeeinrichtungen, mittelständische Unternehmer, sie alle suchen bereits in unserem Land teils händeringend nach Fachkräften. VW baut aktuell zwei Softwareentwicklungszentren für autonomes Fahren auf, eins an der amerikanischen Westküste und eins an der chinesischen Ostküste. Warum nicht in Deutschland? Weil in Deutschland nach Aussage von VW die IT-Fachkräfte fehlen! ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist die Größe der Herausforderung. Natürlich können wir das nicht nur durch Einwanderung lösen, sondern müssen es auch durch Bildung und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen angehen. Aber wir können es eben auch nicht ohne mehr Fachkräfteeinwanderung lösen. Das müssen wir angehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist die Aufgabe. ({1}) Jetzt muss man aber leider sagen: Nach jahrelangen quälenden Debatten über das Thema Migration und im Angesicht dieser Herausforderung legen Sie uns heute nach dem Starke-Familien-Gesetz und nach dem Faire-Kassenwahl-Gesetz jetzt das Eindeutig-nicht-genug-Fachkräfteeinwanderung-Gesetz vor, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, und das ist zu wenig. Das sagen nicht nur wir, sondern das hat auch Ihr eigener Minister eben bei der Begründung des Gesetzes gesagt. Es wird nicht zu viel mehr Einwanderung führen. Man muss nur in Ihre Gesetzesbegründung schauen: Sie selber gehen von nur 25 000 zusätzlichen Fachkräften pro Jahr durch dieses Gesetz aus. Aktuelle Studien sagen: Wir brauchen mindestens 260 000 Fachkräfte zusätzlich pro Jahr. ({2}) Andere Studien sprechen sogar von mehr. Einer der anerkanntesten Migrationsforscher dieses Landes hat Ihnen in der Anhörung am Montag erneut bestätigt – ich zitiere ihn –: Das ist nicht der große Wurf, den wir brauchen. ({3}) Die große Reform müsse man dann in einigen Jahren angehen. – Wir finden, so mutig sollten wir heute schon sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Deutschland ist seit Jahrhunderten ein Einwanderungsland, und das ist großartig so. Mit neuen Köpfen kommen übrigens auch neue Ideen zu uns. Diese Innovativität und Wettbewerbsfähigkeit, die braucht unser Land. Wir als Freie Demokraten fragen nicht, woher jemand kommt, sondern uns interessiert alleine, wohin jemand mit uns will. Das ist unser Bild von unserem Einwanderungsland Deutschland. Ein modernes Einwanderungsland, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht dann aber auch ein modernes Einwanderungsrecht. Und ja, in den letzten Jahren ist in der Migration einiges durcheinandergeraten. Ja, wir müssen drei Gruppen klar voneinander trennen: Erstens: Wer braucht unseren Schutz? Zweitens: Wen wollen wir auf unseren Arbeitsmarkt und in unsere Gesellschaft einladen? Drittens: Für wen gilt weder noch? Es ist richtig: Teile der linken Seite dieses Hauses scheinen mit der dritten Gruppe ein Problem zu haben. Das gehört in einem Rechtsstaat aber auch dazu. Genauso richtig ist aber auch: Die Innenpolitiker der Union scheinen Fachkräfteeinwanderung immer noch aus der Perspektive der Gefahrenabwehr zu diskutieren. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fachkräfte, die wir dringend brauchen, die warten nicht an der Grenze; die haben weltweit Alternativen. Und wir können uns auch nicht auf die Einwanderung aus der Europäischen Union verlassen; denn genau dann, wenn bei uns die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, wird auch die innereuropäische Migration abnehmen, weil Europa insgesamt ein alternder Kontinent ist. Deshalb brauchen wir endlich den großen Wurf in der Einwanderungspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Dafür wären drei Dinge zu tun. Erstens. Die Bluecard, die für die, denen sie zur Verfügung steht, heute schon sehr gut funktioniert, und die von der OECD hoch gelobt wird, müssen wir als den Zugangsweg für Menschen mit Arbeitsvertragsangebot erweitern. Zweitens. Ja, wir brauchen endlich ein Punktesystem, wie uns das andere Länder erfolgreich vormachen. Ein Punktesystem ist einfach, und es ist weltweit erfolgreich. Das kann man sehen, wenn man einfach nur mal auf die Fakten schaut. Wenn man sich anschaut, in welche Industrieländer überhaupt relevante Einwanderung stattfindet, dann stechen – bezogen auf das Ziel „mehr Einwanderung auf den Arbeitsmarkt“ – drei krass heraus, die im globalen Wettbewerb um Talente besser sind. Und welche Länder sind das? Kanada, Australien und Neuseeland. Was haben all diese Länder gemeinsam? Ein Punktesystem! Das brauchen wir endlich auch in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Drittens. Neben einem modernen Einwanderungsrecht brauchen wir auch moderne Behörden. Sie gehen das Thema an, indem Sie zum Beispiel der Bundesagentur für Arbeit eine neue Rolle als Lotse durch das Behördenchaos geben. Das finde ich persönlich sympathisch, weil ich die Einheit in der Bundesagentur für Arbeit, der Sie diese Aufgabe geben wollen, einmal selber mit aufgebaut habe. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, schaffen Sie doch lieber gleich weniger Behördenchaos, anstatt nur Lotsen aufzubauen. Wo sind denn die bundesweit einheitlichen Anerkennungsstellen für jeden Beruf? ({8}) Wo sind flächendeckend die Ausländerbehörden mit Verkehrssprache Englisch? Wo ist das Auswärtige Amt, das sich wirklich für das Thema zuständig fühlt? Wir haben gerade in der Anhörung am Montag wieder gelernt: Wenn man heute als IT-Fachkraft aus Indien nach Deutschland kommen will, dann kriegt man in der deutschen Visastelle nicht mal einen Termin. – Das muss sich ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen; da müssen wir besser werden. ({9}) Herr Präsident, mein letzter Satz. – Das „Handelsblatt“ wurde vorhin schon zitiert. Ich habe den Kommentar zu diesem Gesetz auch gelesen. Da stand wörtlich, dieses Gesetz sei das Beste, was dieser Regierung möglich war. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz hebt gerade mal den Fuß, es schafft nicht mal einen echten Schritt. Angesichts der Größe der Herausforderung ist das zu wenig – leider. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, schafft die GroKo es noch immer. ({0}) Im Schweinsgalopp, der jedwedem geordneten parlamentarischen Verfahren Hohn spricht, werden von Union und SPD sieben Gesetze durchgepeitscht, die erst am Montag in Anhörungen massiv kritisiert worden sind, ohne dass deren Ergebnisse noch halbwegs seriös berücksichtigt werden konnten. Die Panik in der Koalition vor dem absehbaren Ende ist offenbar so groß, dass man alle Skrupel über Bord wirft. Vor zwei Stunden stimmte die SPD wider die eigene Überzeugung der von der Union geforderten drastischen Verschärfung der Abschiebepraxis zu. ({1}) Jetzt soll es dafür mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz eine Kompensation geben, die uns die Sozialdemokraten als riesigen Erfolg verkaufen wollen. Selten gab es eine größere Mogelpackung. ({2}) Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung bedient einseitig die Interessen von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen. Er orientiert sich weder am Gemeinwohl, noch hat er die Interessenlage von Migrantinnen und Migranten im Blick – weder von denen, die bereits hier leben, noch von denjenigen, die zu uns kommen möchten. Mit diesem Gesetz wird Einwanderung allein nach ökonomischen Verwertbarkeitskriterien ausgerichtet: Wer nützlich ist, darf kommen. Alle anderen müssen draußen bleiben. ({3}) Eine solche Einwanderungspolitik können und werden wir als Linke nicht mittragen! ({4}) Ich bin sicher, auch viele linke Sozialdemokraten sehen das kritisch. Dennoch bewirbt die SPD den Gesetzentwurf als das Einwanderungsgesetz, für das sie seit 20 Jahren gekämpft haben. Herr Castellucci hat es eben auch wieder so dargestellt. ({5}) Fakt ist: Wer hochqualifiziert ist, erhält bereits nach der geltenden Rechtslage eine Niederlassungserlaubnis und damit einen unbefristeten und sicheren Aufenthaltsstatus. Auf die eigentlichen Probleme und Baustellen der Einwanderungspolitik, die ganz woanders liegen, geht das von der Koalition vorgelegte Gesetz mit keinem Wort ein. Die schikanösen Regelungen zum Familiennachzug etwa sollen unverändert bestehen bleiben. Die seit 2006 geltenden Anforderungen für Sprachkenntnisse von Personen, die nachziehen wollen, sind diskriminierend und benachteiligen vor allem sozial Schwache, die keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen haben. Zehntausende von Familien bleiben dadurch über Jahre hinweg getrennt. Ich finde das unerträglich, und hier bedarf es dringend umfassender Erleichterungen. ({6}) Meine Damen und Herren, eine Neuausrichtung der Einwanderungspolitik muss menschenrechtlich orientiert sein, und sie muss mit Maßnahmen einhergehen, die eine gesellschaftliche Teilhabe von Eingewanderten frei von Diskriminierungen ermöglichen. Alle dauerhaft hier lebenden Menschen müssen gleiche Rechte haben, unabhängig von ihrer Herkunft. ({7}) Es wird Zeit, dass wir endlich die Voraussetzungen für eine wirklich solidarische und demokratische Einwanderungsgesellschaft schaffen. Dafür stehen wir als Linke. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute könnte ein historischer Tag sein: Die Union – das ist so – bekennt sich erstmalig zum Einwanderungsland Deutschland. Aber dieses Bekenntnis hilft nicht, bleibt der so dringend nötige Paradigmenwechsel im Einwanderungsrecht aus. Und so setzt die Bundesregierung auch dieses Projekt in den Sand. Ein echtes Einwanderungsgesetz hätte ein Meilenstein werden können; aber wenn in einem Gesetz im Titel „Einwanderung“ steht, bedeutet das noch lange nicht, dass auch Einwanderung drinsteckt. Wer Arbeitsmigration aus Drittstaaten befördern will, muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen und flexibel auf die Bedarfe unseres Arbeitsmarktes reagieren. ({0}) Die Einreise für Nicht-EU-Bürger und -Bürgerinnen ist nach wie vor schwierig. So bewegt sich die Einwanderung zu Erwerbszwecken nach wie vor im einstelligen Bereich. Herr Professor Dr. Brücker hat es in der Sachverständigenanhörung gesagt: 2017 lag sie bei 5 Prozent. – Wer dann überhaupt noch einreist und die Familienangehörigen später gegebenenfalls nachholen möchte, erlebt einen Gang durch die Mühlen der Bürokratie, der nicht selten mit einem Ablehnungsbescheid zum Visumsantrag endet. So sind wir natürlich kein attraktives Einwanderungsland, meine Damen und Herren. ({1}) Bündnis 90/Die Grünen haben immer für die Chancen der Einwanderung geworben und haben seit Jahren immer wieder aufgezeigt, dass wir ein faires, transparentes Einwanderungsgesetz brauchen, das auch einladend ist. Ein Einwanderungsgesetz, das seinen Namen verdient, muss transparent, globalisierungstauglich und fair sein, und dafür – der festen Überzeugung sind wir – braucht es ein Punktesystem und einen echten Spurwechsel. ({2}) Wir müssen aber auch attraktiv sein, und dazu gehören sowohl die Aussicht auf einen schnellen unbefristeten Aufenthaltstitel als auch die Perspektive auf eine erleichterte Einbürgerung. Deshalb haben wir in unseren Gesetzentwurf die erleichterte Einbürgerung im Rahmen einer Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes aufgenommen. Meine Damen und Herren, die in Ihrem Entwurf neugeschaffenen Einwanderungsmöglichkeiten zur Berufsausbildung oder zur Einreise zur Anerkennung des im Ausland erworbenen Abschlusses werden allerdings mit so hohen Voraussetzungen überfrachtet, dass diese in der Praxis zu einer Einzelfallregelung verkommen werden. Ich will ein Beispiel nennen: Ein Auszubildender muss, wenn er aus dem Ausland kommt, eine Hochschulzugangsberechtigung vorweisen. Das muss ein deutscher Auszubildender nicht; da reicht ein qualifizierter Schulabschluss. Warum diese Ungleichbehandlung, meine Damen und Herren? ({3}) Gleichzeitig scheint die Bundesregierung den Fachkräftemangel nicht ernst zu nehmen; denn mit Ihrem Entwurf lassen Sie vor allem die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen im Stich, die auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen sind. So schreibt Dinah Riese in der „taz“ heute treffend in ihrem Kommentar: Dem „Wir wollen Einwanderung“ der SPD setzte der Koalitionspartner sein „Wir wollen Abschiebungen“ entgegen. Laut dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist es in erster Linie nötig, das inländische Potenzial zu heben. ({4}) Ja, das inländische Potenzial, meine Damen und Herren. Dazu gehören aber auch die 130 000 erwerbsfähigen Geduldeten in diesem Land. Das wollen wir mit einer Initiative zur erleichterten Bleiberechtsregelung ändern. ({5}) So ist Ihr Vorschlag zum Ausbildungs- und Beschäftigungsduldungsgesetz vollkommen unzureichend. Er wird für Tausende Geduldete trotz gelungener Integration die Abschiebung bedeuten, meine Damen und Herren. Statt Perspektiven zu schaffen, werden Auszubildende – der Überzeugung sind wir – von der Werkbank abgeschoben. Sie brauchen nur nach Bayern zu kucken; das ist heute dort schon Realität. ({6}) Wir Grünen haben hier heute als einzige Fraktion eine Globalalternative vorgelegt, die die nötige Einwanderung tatsächlich ermöglicht. Unser Gesetzentwurf ist übersichtlicher und einfacher gestaltet. Wir haben eine deutliche Straffung und Systematisierung vorgenommen. Neben den aus dem Unionsrecht abgeleiteten Aufenthaltserlaubnissen fassen wir die Aufenthaltserlaubnisse zu Ausbildung, Bildung und Arbeitsmigration auf nur noch sechs zusammen. Das ist wirklich ein einfaches Einwanderungsrecht.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Polat, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. – Nach wie vor ist – das wurde in der Sachverständigenanhörung deutlich – die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen ein weiteres großes Problem. Auch dieses Problem lösen Sie nicht. Wir lösen das Problem – das wurde vom Deutschen Verein gelobt –, indem wir die informell erworbenen Abschlüsse akzeptieren, angelehnt an die Qualifikation im Sinne der Empfehlung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen. Auch hier bieten wir eine echte Alternative. Mit der Einführung einer „Talentkarte“ auf Basis eines kriterienbasierten Punktesystems können sich Arbeitskräfte in Deutschland unbürokratisch einen Job oder eine Ausbildung suchen. Das bietet nicht nur die Chance, flexibel auf die Bedarfe des Arbeitsmarktes zu reagieren, sondern ermöglicht Einwanderungswilligen auch ein transparentes und faires Verfahren. Mit unserem modernen Einwanderungsgesetz ermöglichen wir Einwanderung, stellen die Talente der Menschen in den Mittelpunkt und sorgen gleichzeitig dafür, dass wir den Bedarf an Arbeitskräften auch in Zukunft decken können. ({0}) Nicht zuletzt – ich habe es bereits gesagt – wollen wir in Deutschland lebenden Asylsuchenden und Geduldeten durch einen Spurwechsel die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme, der Ausbildung und des Studiums gewähren. Das ist bitter nötig; denn Ausbildung statt Abschiebung und echte Bleibeperspektiven sind unsere Antwort auf die Einwanderungsverhinderungspolitik der Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({1}) Ich komme zum Schluss: Der schwarz-roten Koalition fehlen Mut, Überzeugung und Innovationskraft für einen großen Wurf in der Migrationspolitik. Ein wirksames und praxistaugliches Einwanderungsgesetz und ein echter Spurwechsel sind keine Wohltat, sondern notwendig und längst überfällig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Mathias Middelberg. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, das jetzt vorliegende Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist ein sehr guter und ausgewogener Kompromiss, eine ausgewogene Lösung zwischen Öffnung hin zu mehr Einwanderung, die wir brauchen, und dem Ziel, diese Einwanderung gleichzeitig klug und bedarfsorientiert zu steuern. Deswegen ist das heute ein guter Tag, wenn wir dieses Gesetz beschließen. ({0}) Diese Debatte, die ich auch mit Ihren kontroversen Einwürfen für durchaus erfreulich sachlich halte, zeigt ja, dass es gar nicht so einfach ist, dieses Thema anzugehen; denn wir wissen am Ende gar nicht ganz genau, wie der eine oder andere Tatbestand funktionieren wird. Wir haben erlebt – das hat der Kollege Vogel eben gesagt –, dass die Bluecard, die wir schon seit 2012 haben, für die hochqualifizierte Einwanderung sehr gut funktioniert und sehr gut greift. Dazu will ich auch mal sagen: Wir haben in den letzten sechs Jahren in Deutschland über 100 000 Zuwanderer über die Bluecard gehabt. Wir in Deutschland stellen damit 85 Prozent aller in der EU erteilten Bluecards. Es ist also nicht so, dass wir heute den, ich sage mal, absoluten Quantensprung machen. Vielmehr haben wir auch bisher schon Einwanderungstatbestände in unserem Aufenthaltsgesetz oder etwa über europäische Regelungen, über die Bluecard. Es ist also nicht etwa so, dass wir nicht bisher schon Tatbestände für qualifizierte Einwanderung gehabt hätten und diese Einwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. Viele kritisieren den Entwurf und sagen, das sei ein unzureichender Schritt. Ich glaube aber, dass wir jetzt ganz erhebliche Schritte machen und hier ganz erhebliche Veränderungen in unserer Zuwanderungspolitik in die Wege leiten. Wir schaffen beim Thema Fachkräfte jetzt die Mangelberufsliste, die es bisher gab, völlig ab. Es wird in Zukunft keine Vorrangprüfung mehr geben. Wir können sie zwar nach Bedarf wieder einsteuern, aber sie fällt zunächst weg. Es wird demnächst die Möglichkeit der sechsmonatigen Arbeitsplatzsuche in Deutschland geben; – diese gab es bisher überhaupt nicht. ({1}) Das bedeutet: Ich habe noch kein festes Arbeitsplatzangebot, kann nach Deutschland kommen und kann mir diesen Arbeitsplatz in Deutschland suchen. Diese Möglichkeit gibt es. Es gibt außerdem die Möglichkeit, dass ich, wenn meine Qualifikation noch nicht voll anerkannt wird, nach Deutschland komme und mich nachqualifiziere. Auch diesen Weg gestalten wir neu. Ich glaube, das sind ganz erhebliche Änderungen. Und allen denjenigen, die kritisieren, diese Hürden seien zu hoch, will ich mal zwei Beispiele nennen und zeigen, wie praktikabel das jetzt ausgestaltet ist. Bei den IT-Spezialisten zum Beispiel legen wir keinen Wert auf einen formalen Abschluss, wir legen auch keinen Wert auf den Nachweis langer Berufserfahrung im einschlägigen Bereich. Da sagen wir: Drei Jahre genügen uns. – Was wir allerdings dann verlangen, ist – das ist sehr pragmatisch handhabbar – ein vernünftiges wettbewerbsfähiges Salär, das dabei dann in Rede steht. Das ist der Indikator dafür, dass es sich um qualifizierte Leute in diesem Bereich handelt. Es war gerade ein Wunsch aus dem Mittelstand und aus dem Start-up-Bereich, dies so schlicht und so pragmatisch zu gestalten. Ein Gehalt von 4 000 Euro muss künftig nachgewiesen werden. So wird Zuwanderung in diesen Bereich eben sehr leicht und unter einfachen Bedingungen möglich. ({2}) Ich könnte auch noch auf die Ausbildungsplatzsuche eingehen. Da legen wir – Sie haben das kritisiert, Frau Polat – auf eine Hochschulzugangsberechtigung wert, aber wir adressieren damit sämtliche Schüler in der ganzen Welt. Wir machen keine Liste mehr nur für die deutschen Auslandsschulen. Wir machen keine Liste mehr, die auf diejenigen begrenzt ist, die bei uns zum Hochschulzugang berechtigt sind. Vielmehr kann jeder kommen, der ein Zertifikat erwirbt, das ihn in seinem Heimatland, nach den dortigen Kriterien, zum Hochschulzugang berechtigt – diese Kriterien unterscheiden sich mitunter von unseren –, wenn er die weiteren Kriterien erfüllt. Das ist eine ganz große Öffnung; denn es handelt sich ja hierbei nicht um Fachkräfte, sondern um Leute, die erst noch Fachkräfte werden wollen und sich ausbilden lassen wollen. Das sind denkbar große Erweiterungen. ({3}) Hier ist zu Recht betont worden: Der entscheidende Schritt ist, dass wir jetzt auch im Verwaltungsverfahren – ich sage das wirklich – in die Hufe kommen. Da krankt es an vielen Stellen: Es krankt an der schnellen Anerkennung der Bildungsabschlüsse in Deutschland. Da sind vor allen Dingen die Länder gefragt. ({4}) Es krankt bei den Ausländerbehörden. Da sind die Länder gefragt, das jetzt vernünftig zu zentralisieren. Dieses Gesetz gibt ihnen die Möglichkeit dazu. Außerdem hat der Kollege Vogel zu Recht das Auswärtige Amt erwähnt. Hier kommt es darauf an, dass wir in Zukunft eine zügige Visaerteilung bekommen. Dafür schafft dieses Gesetz über das beschleunigte Fachkräfteverfahren die Möglichkeiten. Es würde mich freuen, wenn in Zukunft alle Ämter an diesem Thema mitarbeiten, auch das Auswärtige Amt, das – Herr Kollege Vogel, diesen kleinen Zusatz erlauben Sie mir noch –, wenn ich mich recht entsinne, lange Zeit von den Freidemokraten geführt worden ist. Wenn da also heute manche Visabearbeitungszeiten sehr lang sind, mag das auch mit dieser Führung in damaligen Zeiten zusammenhängen. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio für die Fraktion der AfD. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ein Gesetz zur Behebung eines Fachkräftemangels damit beginnt, dass es eine Arbeitsmarktöffnung für jeden gibt, auch in Sparten, wo gerade kein Mangel herrscht, auch da, wo ein Deutscher oder einer der Millionen arbeitsuchenden EU-Staatler den Job machen könnte – das will man aber nicht wissen; Wegfall der Vorrangprüfung –, auch da, wo der Einreisende überhaupt keine Jobzusage hat und keine klare Qualifikation, dann ist klar, worum es dieser Regierung geht: um immer weitere Zuwanderung nach Deutschland, gern fremdkulturell. ({0}) Wie beim Globalen Migrationspakt, der Migration als Ziel an sich fördern will, so im Globalen Flüchtlingspakt mit Umsiedlung schon in Sicherheit befindlicher Personen. Wohin, dürfen Sie raten. Wie bei Dublin III – der Migrant verbleibt im Erstzutrittsstaat; von der Kanzlerin mal eben für obsolet erklärt –, so in Dublin IV: Einreise dorthin, wo man angeblich Bekannte hat. Wo das ist, dürfen Sie raten. Das alles ist verantwortungslos: Schädigung Deutschlands als Kanzlerrichtlinie. ({1}) Will man aber wissen, wes Geistes Kind diese Regelungen sind, schaut man nach Berlin, dem Versuchslabor für rot-grünen Weltuntergang. Da will die SPD einen Krankenschein für anonyme Illegale, ({2}) medizinische Vollversorgung für 50 000 komplett Unberechtigte auf Beitragszahlerkosten. Unterstützung von Rechtsbruch durch Rot-Rot-Grün – wer das künftig auch im Bund haben will, ({3}) braucht nur eine dieser Parteien zu wählen oder die Union, die mit Grünen kuschelt, deren Vorsitzender sich mit der Aussage „Es gibt kein Volk“ zur Kanzlerschaft qualifiziert. Wie würde wohl sein Amtseid lauten? ({4}) Der Innenminister wollte in seinem Fachkräfteeinwanderungsgesetz keine neuen Duldungsansprüche. Das hat er geschafft. All die verheerenden Ausweitungen der Duldung – sie stehen jetzt versammelt im Giftschrank des ausgelagerten Parallelgesetzes zur Duldung, einer Bad Bank der Schrottparagrafen. Da sollen all die Hunderttausenden nicht schutzbedürftigen Asylbetrüger per Spurwechsel im Land bleiben – als Lohn der Lüge. Den Unrechtscharakter verdecken sollen Bedingungen, die herstellbar sind: Deutschkurse besuchen, mal in Ausbildung gehen. Wer mag ihn nicht, den herzigen jungen Afri­kaner, der für die TV-Reportage fröhlich integriert an seiner Schraube dreht? ({5}) Nein, meine Damen und Herren, das Ergebnis von permanenter Zuwanderung, mangelnder Abschiebung, Spurwechsel und Familiennachzug ist eine schnell wachsende Menge nicht integrierter Menschen. Dieses Duldungsgesetz hebelt doch Abschiebung aus, macht auch dem Letzten klar: Man will sowieso alle behalten. Dafür bekommen wir auch etwas zurück: massiv sinkende Bildung in Kitas und Schulen, Leistungsabfall in Handwerk und Hochschulen, Lehr- und Ordnungskräfte, die dem schon jetzt nicht mehr gewachsen sind. Es gibt ein Gegenmodell: Statt Illegale und Betrüger zu päppeln, Leistungen für den deutschen Staatsbürger. Dafür steht die AfD, und zwar nur die AfD. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Karamba Diaby für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich sollten alle seinen Namen und seine Geschichte kennen. Weil das heute kaum noch jemand weiß, will ich kurz an ihn erinnern: Auf dem Kölner Bahnhof traf er nach einer Reise von drei Tagen ein. Auf dem Kopf trug er einen Hut, und mit müden Augen blickte er auf die Menge, die vor ihm stand. Die Arbeitgeberverbände hatten die Presse zusammengetrommelt, und einige Menschen tanzten schon auf ihren Plätzen. Armando Rodrigues de Sá: Er war der einmillionste Gastarbeiter, und er kam vor über einem halben Jahrhundert nach Deutschland, um hier eine neue Zukunft zu finden. Er war herzlich willkommen in Deutschland. ({0}) Armando Rodrigues de Sá steht stellvertretend für eine Geschichte dieses Landes. Dieser Teil der Geschichte wird noch wenig erzählt, wenig im Unterricht behandelt und wenig in unseren Museen im ganzen Land gezeigt. Dazu passend schreibt die Integrationsforscherin Naika Foroutan Folgendes: In Deutschland fehlt es der Politik und infolgedessen auch dem öffentlichen Raum an einem politischen und öffentlichen Narrativ, das Deutschland nicht nur kognitiv, sondern auch emotional als Einwanderungsland neu erzählt … Politisch schreiben wir heute mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz wieder an einem Narrativ. Deutschland ist ein Einwanderungsland. ({1}) Doch was schaffen wir auf der emotionalen Ebene? Wir haben eine Geschichte, die zeigt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Deutsche und Zugewanderte aus Ländern wie Portugal, Griechenland, Türkei, Vietnam, Mosambik dieses Land mit aufgebaut und zum Wohlstand beigetragen haben. Es ist eine Geschichte des Zusammenhalts in Deutschland. ({2}) Sie blieb es leider nicht immer. Liebe Damen und Herren, nach der Ölkrise der 70er-Jahre gab es einen Anwerbestopp, der bis 2007 und teilweise darüber hinaus galt. Zwölf Jahre später, also heute, zeigen wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, dass wir Menschen die Möglichkeit geben wollen, legal zu uns zu kommen. Zum ersten Mal in der Migrationsgeschichte wird es einen einheitlichen Fachkräftebegriff geben. ({3}) Dieser gilt gleichermaßen für Akademikerinnen und Akademiker, aber auch für Menschen mit Berufsausbildung. Alle Fachkräfte können für sechs Monate nach Deutschland kommen, um einen Arbeitsplatz zu suchen, und – ganz wichtig – die Vorrangprüfung fällt weg. Liebe Damen und Herren, das Gesetz wird nur eine Wirkung haben, wenn wir den Aktenstau bei den Auslandsvertretungen beseitigen, die Rahmenbedingungen bei den Ausländerbehörden genauso wie in unseren Kitas und Schulen verbessern. ({4}) Apropos Wirkung von Gesetzen. Frau Polat, Sie haben ja vieles dargestellt, aber Sie haben vergessen, zu sagen, dass es bei der Umsetzung der Drei-plus-zwei-Regelung in Baden-Württemberg nicht so klappt, wie man es sich wünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auch das mal anbringen. ({5}) Eine Sache noch, meine Damen und Herren. Natürlich sind die 50er- und 60er-Jahre nicht mit unserer Zeit zu vergleichen. Die Rahmenbedingungen sind andere. Doch was heute wie gestern für Menschen wie ­Armando Rodrigues de Sá gilt, ist: Menschen werden kommen, Menschen werden bleiben, Menschen werden dieses Land weiterbringen. Ein Einwanderungsgesetz bietet dafür einen guten Rahmen. Heute ist ein guter Tag. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Herr Minister! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe auch aus den Reihen der Koalition so viel Lob für den Beitrag meines Kollegen Johannes Vogel soeben gehört, vor allem in Ihrer, wie ich fand, sehr sachlichen, abgewogenen, wohltuenden Rede, Herr Kollege Middelberg, dass ich mich ein bisschen frage, weshalb Ihr Gesetzentwurf so halbherzig, so mutlos ist und auf halbem Wege stehen bleibt. ({0}) Wir haben jetzt viel über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz gesprochen. Ich will es anhand des anderen Gesetzes, das wir heute beraten und über das wir zu beschließen haben, ein bisschen ausführen, das Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung. Da gilt nämlich genau das Gleiche: Auch bei diesem Gesetz wirken Sie halbherzig und mutlos und bleiben auf halbem Wege stehen. Sie führen da nämlich ein paar neue Duldungsstatus ein für etwas, was wir Freie Demokraten mal den Spurwechsel genannt hatten. Diesen Begriff lieben Sie nicht, und deswegen nennen Sie das jetzt anders, führen mehrere neue Duldungsstatus ein, eine Art Duldung light, eine Duldung zweiter Klasse, eine Duldung minderer Art – ganz verschämt. Man merkt, dass Sie es eigentlich nicht wollen, dass das von Ihnen nicht gewollt ist. Woran sieht man das? Das sieht man vor allem daran, dass Sie das Ganze in der Ausschussberatung noch mit einer Stichtagsregelung versehen und eingeschränkt haben und damit auf solche Menschen begrenzt haben, die vor dem 1. August 2018 ins Land gekommen sind. Für Menschen, die ab dem 1. August 2018 ins Land kommen, ist ein solcher Spurwechsel, wie wir das nennen würden, eben nicht mehr möglich. Das heißt: Sie verlängern im Grunde diese irrwitzige Praxis, dass wir gut integrierte Menschen, die sich sprachlich, wirtschaftlich, rechtlich bei uns integriert haben, auch kulturell angekommen sind in der Mitte unserer Gesellschaft, abschieben, während wir Gefährder und Kriminelle, also Menschen, die wir eigentlich loswerden wollen, mithin nur unter großen Mühen loswerden können. Sie verlängern also diese ungewollte Praxis, und das ist ein gewolltes Ergebnis; das ist eine halbe Sache. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie es jetzt, oder wollen Sie es nicht? Unser Weg wäre, zu sagen: Leuten, die man bei uns brauchen kann, Leuten, die bei uns in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, die ihren Beitrag leisten zum Gelingen dieser Gesellschaft, sollte man legale Möglichkeiten eröffnen, bei uns im Land zu bleiben, echte Bleibeperspektiven eröffnen, egal ob sie nun vor oder nach dem 1. August 2018 nach Deutschland gekommen sind. ({1}) Das Ganze ist so einschränkend, dass es vor allen Dingen zeigt: Sie wollen es eigentlich nicht. Ihr Gesetz bleibt auf halbem Wege stehen. Es ist nicht warm, es ist nicht kalt. Es bleibt lau und findet deshalb nicht unsere Zustimmung. Von daher werden wir dieses Gesetz heute ablehnen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Susanne Ferschl für die Fraktion Die Linke. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Lassen Sie mich eines vorneweg sagen: Die Verknüpfung der Arbeitsmigration mit dem vorhin beschlossenen Abschiebegesetz ist eine politische Bankrotterklärung dieser Bundesregierung. ({0}) Die einzige Kategorie – das haben Sie ja heute wieder mehrmals bestätigt, Herr Minister –, nach der Sie Menschen bewerten, ist der wirtschaftliche Nutzen, und wenn die Menschen da nicht reinpassen, schiebt man sie mit aller Härte ab ({1}) oder steckt sie auch noch in den Knast. Das und die Art und Weise, wie Sie das diese Woche hier durchgezogen haben, zeigt doch ganz deutlich: Offensichtlich ist Ihnen jeglicher politische und auch jeglicher humanitäre Anstand verlorengegangen. ({2}) Nun zum vorliegenden Gesetzentwurf. Die Bundesregierung will ja mit diesem Gesetz Fachkräfte anwerben, die gleichen Rechte werden ihnen jedoch verweigert. Indem Sie als Bundesregierung den Arbeitsvertrag an den Aufenthaltsstatus koppeln, machen Sie die angeworbenen Fachkräfte erpressbar und zwingen sie, schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne zu akzeptieren. Nachdem es in unserem deregulierten Arbeitsmarkt schon Beschäftigte zweiter Klasse gibt, also welche mit befristetem Arbeitsvertrag und in Leiharbeit, organisieren Sie den Unternehmen jetzt auch noch Beschäftigte dritter Klasse. ({3}) Mit diesem Gesetzentwurf werden angeworbene Fachkräfte in der Praxis zu Entrechteten im Betrieb. Das ist mit den Linken nicht zu machen. ({4}) Schon jetzt werden ausländische Arbeitskräfte häufig nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt. Sie sind doppelt so häufig in befristeten Arbeitsverhältnissen und in Leiharbeit wie einheimische Arbeitskräfte. Sorgen Sie doch endlich für gute Arbeit für alle Beschäftigten, ({5}) und nehmen Sie endlich die Arbeitgeber in die Pflicht. Das Mindeste sind Tariflöhne und feste Arbeitsverträge. Und es ist schön, liebe SPD, dass Sie sich bei der Beschäftigungsduldung durchgesetzt haben. ({6}) Aber leider sind die Hürden so hoch, dass sie für kaum jemanden zu nehmen sind. Bei Ihnen können sich die Geduldeten anstrengen, wie sie wollen, eine echte Bleibeperspektive bekommen sie mit diesen Gesetzen nicht. Der Spurwechsel gelingt so nicht. ({7}) Und oben drauf garnieren Sie die Beschäftigungsduldung dann noch mit einer Stichtagsregelung. Sie gilt nur für diejenigen, die bis Mittwoch, den 1. August 2018, angekommen sind. Wer am Donnerstag gekommen ist, der hat Pech gehabt. ({8}) Diese Regelungen und diese Gesetze können wir nicht mittragen. Die Linke steht für eine solidarische Zuwanderung und gute Arbeit für alle. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Mark Helfrich das Wort. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fachkräfte sichern Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, Fachkräfte sichern Wachstum und Beschäftigung, Fachkräfte sichern Wohlstand und Lebensqualität. Der sich einstellende Fachkräftemangel ist die Achillesferse der deutschen Wirtschaft. Wir sind uns deshalb alle einig: Die Sicherung des Fachkräftebedarfs ist angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland eine der großen Herausforderungen von Politik und Wirtschaft. Klar ist, dass wir dabei zuerst das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland und in Europa nutzen wollen und nutzen müssen. Klar ist aber auch, dass dies absehbar nicht ausreichen wird, um den Fachkräftebedarf in unserem Land zu sichern. Wir brauchen deshalb Fachkräfte aus Drittstaaten, die geordnet und gesteuert zu uns kommen dürfen. Für die Union ist dabei wichtig: Bei einem Einwanderungsgesetz für Fachkräfte darf der Schwerpunkt nicht auf mittelfristigen Potenzialen liegen. Er muss vielmehr auf der konkreten Qualifikation der Menschen liegen, die nach Deutschland kommen; denn wir brauchen echte Fachkräfte und nicht potenzielle Fachkräfte und schon gar keine Geringqualifizierten, deren Arbeitsplätze beim nächsten Konjunkturabschwung gefährdet sind. Es wird bei den Arbeitskräften aus Drittstaaten allerdings nicht ganz unproblematisch sein, geeignete Fachkräfte zu finden; denn in vielen außereuropäischen Ländern gibt es keine formale Ausbildung, und das macht dann den Nachweis der Qualifikation schwierig. Gerade Handwerker lernen ihren Beruf dort meist nach dem Prinzip Learning by Doing. Gleichwohl stellen wir beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf die Qualifikation der Bewerber ab. Das ist der rote Faden, der sich durch das gesamte Gesetz zieht. Im Einzelnen regeln wir Folgendes: Erstens soll es Nicht-EU-Ausländern mit einer Berufsausbildung leichter gemacht werden, hier zu arbeiten. Eine Beschränkung auf Engpassberufe oder eine Vorrangprüfung ist deshalb nicht mehr vorgesehen. Zudem ist die Arbeitsplatzsuche jetzt auch für Fachkräfte geöffnet, nicht mehr nur für Hochschulabsolventen. Sie haben sechs Monate Zeit, einen Arbeitsplatz zu finden. Zweitens geben wir die Möglichkeit der Nachqualifizierung in Deutschland, wenn wir die Qualifizierung im Ausland nicht voll anerkennen können. Parallel dazu kann eine Beschäftigung im avisierten Beruf ausgeübt werden. Das soll zum Beispiel im Bereich des Handwerks dazu beitragen, Anerkennungsverfahren zu erleichtern. Drittens kann man zukünftig nicht nur nach Deutschland kommen, um eine Ausbildung zur Fachkraft zu absolvieren. Nein, wir öffnen sogar den Weg dafür, dass Jugendliche für sechs Monate zur Ausbildungsplatzsuche nach Deutschland kommen dürfen. Allerdings – das ist auch richtig so –, wenn es um die Suche nach einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz geht, legen wir die Messlatte etwas höher an. Voraussetzungen sind gute Deutschkenntnisse und entsprechende Berufs- und Schulabschlüsse. Dadurch stellen wir sicher, dass nur tatsächlich geeignete Bewerber zu uns kommen. Ich möchte noch einen wichtigen Punkt nennen, der für die Wirtschaft von Bedeutung ist. Es geht bei alldem, was wir heute hier verabschieden, auch um praktische Aspekte wie zum Beispiel administrative Abläufe bei der Fachkräfteeinwanderung. Hier müssen wir auch in einigen Bereichen – das ist schon gesagt worden – besser werden, beispielsweise wenn es um raschere Verfahren zur Berufsanerkennung oder um schnellere Visaerteilung in unseren Auslandsvertretungen geht. Auch zentrale Anlaufstellen im In- und Ausland für Wirtschaft und Fachkräfte sind wichtig. Nur dann wird am Ende dieses Gesetz ein Erfolg sein. Das beschleunigte Fachkräfteverfahren, das wir mit diesem Gesetz neu schaffen, ist ein guter Ansatz. Dieses kann durch den Arbeitgeber bei der Zentralen Ausländerbehörde des jeweiligen Bundeslandes betrieben werden. Visumstellen, Anerkennungsstellen und Ausländerbehörden müssen entsprechende Anträge dann innerhalb kurzer Fristen bearbeiten. Sehr verehrte Damen und Herren, Sie sehen, der Gesetzentwurf enthält klare Kriterien, wer unter welchen Voraussetzungen zum Arbeiten nach Deutschland kommen kann. Wir schaffen damit Klarheit und Handlungssicherheit für die Unternehmen und – mindestens genauso wichtig – für künftige Interessierte und Bewerber. Packen wir es gemeinsam an! Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im letzten August – das Wetter war ähnlich gut wie heute – habe ich auf meiner Sommertour ein mittelständisches Unternehmen besucht, das seit 60 Jahren natürliche Arzneimittel herstellt. Ein guter Arbeitgeber in unserer ländlichen Region. Die Geschäftsführer, zwei Brüder, haben sich weder über Handelskonflikte noch über Steuerbelastung oder Strompreise beschwert. Es mangelte dem Unternehmen auch nicht an Aufträgen. Es mangelte an Personal. Um Laboranten zu finden, muss das Unternehmen in Indien auf Stellensuche gehen. Dieses Unternehmen hat wie fast jedes zweite in Deutschland Probleme, Stellen langfristig zu besetzen. Der Grund: ein Mangel an passenden Arbeitskräften. Seit drei Jahren gilt Personalknappheit als wichtigste Ursache für die Beeinträchtigung wirtschaftlicher Aktivitäten. Was können die Folgen für die Menschen in Deutschland sein? Eine Mehrbelastung der Belegschaft, die Einschränkung des Angebots, ja sogar Ablehnung der Aufträge, der Verlust von Innovationsfähigkeit, die Verlagerung des Standortes. Bisher haben wir erst in einigen Branchen und Regionen Fachkräftemangel. Aber schon in wenigen Jahren wird das Erwerbspersonenpotenzial aus demografischen Gründen rapide sinken. Und allen Unkenrufen zum Trotz: Es deutet nichts darauf hin, dass uns die Arbeit aufgrund des technologischen Wandels ausgehen wird. Was also tun? Ich fasse noch einmal zusammen: Zuallererst: die inländischen Potenziale heben. Verbesserungen der Bedingungen für erwerbstätige Frauen, Investitionen in Aus- und Weiterbildung, neue Chancen für Arbeitslose. Wichtige Gesetze hierfür haben wir in dieser Wahlperiode schon auf den Weg gebracht. Zur Wahrheit gehört jedoch, dass bereits 90 Prozent der Frauen Teil des Erwerbspotenzials sind und auch Nachqualifizierung an Grenzen stößt. Zweitens. Wir schauen nach Europa. In den vergangenen Jahrzehnten hat Deutschland vom Zuzug qualifizierter europäischer Arbeitnehmer profitiert. Gerade die Länder mit dem größten Potenzial weisen jetzt jedoch selbst steigenden Fachkräftebedarf und eine alternde Gesellschaft auf. Drittens. Wir suchen weltweit nach qualifizierten Personen. Für Hochqualifizierte gibt es bereits viele Wege, um nach Deutschland zu kommen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbessern wir nun auch die Möglichkeit für beruflich Qualifizierte, also für Fachkräfte. Wir erleichtern ihnen die Arbeitssuche in Deutschland und bieten mehr berufliche Perspektiven. Was ist uns hierbei besonders wichtig? Der wirtschaftliche Bedarf und die Qualifikation. Beide Kriterien sind Bestandteil des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Eine Fachkraft muss ein konkretes Arbeitsplatzangebot haben und eine passende Qualifikation nachweisen können. Für die dringend benötigten IT-Kräfte, die oft keinen regulären Abschluss aufweisen, sieht der Gesetzentwurf eine passgenaue Sonderregelung vor. Kleine und mittlere Unternehmen, die oft keine Möglichkeit haben, im Ausland aktiv zu werben, werden durch die sinnvoll regulierte Einreise zur Arbeitsplatzsuche unterstützt. Damit Fachkräfteeinwanderung ein nachhaltiger Erfolg wird, muss Deutschland bei der Gewinnung von Fachkräften strategisch vorgehen. Die Personalausstattung und räumlichen Kapazitäten in unseren Botschaften müssen verbessert, die Verfahrensabläufe in unseren Ausländerbehörden optimiert und die zu uns kommenden Fachkräfte bei der Integration in Betriebe und in die Gesellschaft unterstützt werden. ({0}) Auch bedarf es einer umfangreichen Evaluation des Gesetzes. Im Entschließungsantrag, der mir als Arbeitsmarktpolitikerin sehr wichtig ist, fordern wir die Bundesregierung auf, hierfür Maßnahmen zu ergreifen. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist ein wichtiger Schritt in gezielte, qualifizierte und nachfrageorientierte Erwerbsmigration. ({1}) Es wird dazu beitragen, unseren Wohlstand und unsere Innovationskraft nachhaltig zu sichern. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Danke. ({2})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer Hartz IV überwinden will, muss in einem ersten Schritt die Regelsätze erhöhen. ({0}) Denn Hartz IV ist immer noch Armut per Gesetz. Die Armutsquote in der Bevölkerung ist deutlich höher als noch vor 20 Jahren. Jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen. Fast 2 Millionen Kinder leben von Hartz IV und haben nicht die gleichen Voraussetzungen und Chancen wie andere Kinder. Kinderarmut ist immer die Armut der Eltern. Erwerbslose und Alleinerziehende sind besonders betroffen. Aber Armut macht auch vor Menschen in Arbeit nicht halt. Mittlerweile ist ein Drittel der Armen erwerbstätig, also arm trotz Arbeit. Ein Skandal in diesem reichen Land! ({1}) Hartz IV ist seit 15 Jahren ein Symbol für arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Scheitern auf ganzer Linie. Genauso lange kämpft Die Linke dagegen. Mit unserer Kritik sind wir nicht alleine. Die Wohlfahrts- und Sozialverbände wie auch die Gewerkschaften weisen ebenfalls darauf hin, dass Hartz IV nicht vor Armut schützt. Hartz IV macht nicht nur arm, sondern zwingt Erwerbslose durch Androhung von Sanktionen in miese, nicht existenzsichernde Jobs. Wer dieses unsägliche Spiel nicht mitspielt, wird bis unter das Existenzminimum sanktioniert und fliegt zum Teil ganz aus der sozialen Sicherung. Das Menschenbild, das sich dahinter verbirgt, ist ziemlich krude: Erwerbslosen muss man nur lange genug die Daumenschrauben anlegen; dann werden sie schon irgendwann einmal arbeiten. Dabei mangelt es doch nicht an der Arbeitsbereitschaft der Menschen. Für die meisten Menschen hat eine Arbeit auch etwas mit Würde zu tun, besonders eine existenzsichernde Arbeit. Durch diese Drohkulisse ist erst der größte Niedriglohnbereich in Europa entstanden. Die Bundesregierungen der letzten Jahre haben daran einen wesentlichen Anteil. Anstatt Arbeitgeber zu verpflichten, auskömmliche Löhne zu zahlen, werden Niedriglöhne der Beschäftigten mit Steuergeld aufgestockt. Damit subventioniert die Gesellschaft Arbeitgeber, die Niedriglöhne zahlen, jährlich mit Milliarden Euro. Mit diesen staatlichen Subventionen und mit dieser permanenten Umverteilung von unten nach oben muss endlich Schluss sein. ({2}) Es ist reichlich absurd, liebe SPD, die Regelsätze nicht erhöhen zu wollen, weil der Niedriglohnbereich so groß ist. Genau umgekehrt wird doch ein Schuh daraus. Die Regelsätze müssen erhöht werden, und der Arbeitsmarkt muss endlich reguliert werden. Wir sagen Nein zu prekärer Arbeit wie Leiharbeit, Befristung und Niedriglöhnen. ({3}) Hartz IV schafft keine Arbeit und schon gar keine gute Arbeit, sondern ist ein Disziplinierungsinstrument für Beschäftigte. Ich habe es als Betriebsrätin oft genug erlebt. Kolleginnen und Kollegen, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, sind bereit, jede Arbeit anzunehmen und jegliche Überstunde zu übernehmen, und trauen sich nicht, an Streiks teilzunehmen und für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Denn sie wissen: Wenn sie ihre Arbeit verlieren, ist demnächst jeder noch so mies bezahlte Job zumutbar. Hartz IV hängt wie ein Damoklesschwert über Beschäftigten und ganzen Belegschaften. Dieses Damoklesschwert muss endlich weg. ({4}) Neben den Sanktionen und der Tatsache, dass jede Arbeit zumutbar ist, ist die Höhe der Regelsätze ein entscheidender Faktor. Hier muss sich doch die Bundesregierung endlich ehrlich machen. Das Existenzminimum von 8 Millionen Menschen darf nicht länger politisch motiviert kleingerechnet werden. ({5}) Unter diesen 8 Millionen Menschen befinden sich 2 Millionen Kinder. Die gehören doch überhaupt nicht in dieses Hartz‑IV-System hinein, die müssen endlich eigenständig abgesichert werden! ({6}) Bei der komplizierten Berechnung der Regelsätze werden vermeintlich die tatsächlichen Ausgaben herangezogen, aber bestimmte Positionen werden überhaupt nicht berücksichtigt. Die Bundesregierung gesteht es Bezieherinnen und Beziehern von Hartz IV nicht zu, auch einmal einen Ausflug zu machen, Freunde einzuladen oder für die Kinder einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Soziale Teilhabe sieht anders aus. ({7}) Nicht nur die Linke kritisiert das, sondern eine Reihe von Verbänden fordern endlich Ehrlichkeit bei der Ermittlung der Regelsätze und einen Verzicht auf die willkürlichen Kürzungen – darunter der DGB, die Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der VdK usw. usf. Wenn das bestehende Konzept sauber und ehrlich gerechnet wird, dann ergibt sich für 2019 eine Regelleistung von 582 Euro pro Monat. Um das deutlich zu machen: Wir reden hier nicht von kleinen Rechenfehlern. Mit einer ehrlichen Rechnung haben die Menschen im Monat ein Drittel mehr – und das ist für die Betroffenen richtig viel Geld, auch wenn sich das viele hier vielleicht nicht mehr vorstellen können. ({8}) Die Linke ist aus den Kämpfen gegen die Agendapolitik entstanden. Wir wollen Hartz IV überwinden und durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen, die sich an der Armutsgrenze orientiert. Daran halten wir fest. ({9}) Aber es ist dringend notwendig, jetzt zu handeln; denn die Hartz‑IV-Leistungen sind weder armutsfest noch bedarfsdeckend. Es ist ja in den letzten Wochen und Monaten viel über die Erneuerung des Sozialstaates diskutiert worden. Ohne eine deutliche Erhöhung der Regelleistungen braucht man nicht weiter zu diskutieren. Es bietet sich jetzt die Möglichkeit – ich schaue in die Richtung von SPD und Grünen –, durch Zustimmung zu unserem Antrag einen gemeinsamen Schritt in Richtung Sozialstaat zu machen. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Anträge, die eigentlich typisch für das Profil der Parteien sind, die sie einbringen. Bei der FDP werden in der Regel alle Probleme durch weniger Bürokratie geregelt, bei den Linken durch mehr Geld. Das muss nicht falsch sein, man muss es sich aber eben etwas genauer anschauen. Die FDP will ich zunächst loben. Da ist einiges Bedenkenswertes in dem Antrag dabei, das ich gut finde, ({0}) wie beispielsweise die Einführung einer Bagatellgrenze oder die Vereinfachung der Beantragung des Bildungs- und Teilhabepakets. Diese ist wirklich einfach grotesk kompliziert und schreckt die Menschen eher ab. Bei anderen Vorschlägen bin ich nicht sicher, etwa bei der Einführung einer gesamtschuldnerischen Haftung für Bedarfsgemeinschaften; da steckt der Teufel vermutlich im Detail, vor allem dann, wenn Sie vorher den Ersatz einer temporären Bedarfsgemeinschaft durch einen pauschalierten Mehrbedarf gefordert haben. Bei einem Vorschlag habe ich aber geschmunzelt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, das ist der Vorschlag, wo unter dem Stichwort „Entbürokratisierung“ die Einrichtung einer Sprachkommission vorgeschlagen wird, die die Sprache der Anträge und Bescheide kundenfreundlich überarbeiten soll. Wenn Entbürokratisierung bedeutet, erst einmal neue Bürokratie zu schaffen, dann haben wir hier ein unterschiedliches Verständnis. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf die Beratung des Antrags im Ausschuss. ({1}) Kommen wir zu dem Antrag der Linken, den die Kollegin Ferschl eben eingeführt hat. Die Grundsicherung soll angehoben werden auf 582 Euro zuzüglich Miete und dann später als sanktionsfreie Mindestsicherung auf 1 050 Euro pro Monat inklusive Miete erweitert werden. Zunächst einmal stört mich, dass Sie eine sanktionsfreie Mindestsicherung einführen wollen. Jemand, der einfach keine Lust auf Arbeit hat, bekommt dann eine Alimentierung durch den Staat. ({2}) Diese müssen diejenigen bezahlen, die ihr eigenes Leben selbstverantwortlich gestalten und vielleicht nur unwesentlich über der sanktionsfreien Mindestsicherung liegen. Ich hatte immer gedacht, Sozialismus sei eigentlich der Idee der Gerechtigkeit verpflichtet, aber hier werden ja diejenigen, die fleißig sind und wenig Geld haben, von denen auch noch ausgebeutet, die anstrengungslos von der Umverteilung leben. Da kann ich nur sagen: Zur gesellschaftlichen Solidarität gehört auch, dass man seinen Lebensunterhalt selbst bestreitet und nicht den armen Nachbarn dafür aufkommen lässt. Deswegen wird es mit uns eine sanktionsfreie Mindestsicherung nicht geben. ({3}) Ich will aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Ihre sanktionsfreie Mindestsicherung soll ja ebenfalls die Mietkosten abbilden. Dafür schlagen Sie einen einheitlichen Satz vor. Nun ist das Wohnen in Frankfurt deutlich teurer als – sagen wir – in Mittelhessen oder in Mecklenburg. Das kann im Ergebnis nur zweierlei bedeuten: Entweder kämen Sie sofort wieder mit Aufschlägen für urbane Regionen um die Ecke, oder Sie hätten einen Anreiz gesetzt, dass Empfänger der Mindestsicherung dort hingehen, wo die Wohnbedingungen deutlich besser und billiger sind, also nicht in die Großstädte, mehr noch, aus den Großstädten heraus. So stelle ich mir den Sozialismus vor: Die urbanen Salonsozialisten werden nicht mehr von denen in ihrer Lebensgestaltung belästigt, die sie vorgeblich vertreten wollen. Sozialismus muss man sich eben leisten können. Ein letzter Punkt. Die von Ihnen geforderte Erhöhung der Regelsätze führt dazu, dass mehr Menschen Anspruch auf Hartz IV haben, weil sie nun gewissermaßen von den Regelsätzen eingeholt werden. Dann werden sie irgendwann sagen: Die Lage in Deutschland wird ja immer schlimmer. Der Beleg: Wir haben mehr Empfänger von Hartz IV. – Nein, ich muss mich entschuldigen, die Fachkollegen der Linken sind dafür zu klug, aber dem Strasser-Flügel der AfD würde ich dieses populistische Argument durchaus zutrauen. Wir werden die Regelsätze weiterhin ordentlich berechnen lassen und vor allem darauf achten, dass das Abstandsgebot von Sozialleistung und Niedriglohn beachtet wird. Die Vorschläge von den Linken sind geeignet, die gesellschaftliche Solidarität zu zerstören. ({4}) Wir wollen sie erhalten, und deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Gäste des Hohen Hauses! Der Grundtenor des Antrags der Linken, den Hartz-IV-Satz auf 582 Euro anzuheben, ist schlichtweg von der AfD abgeschrieben. ({0}) – Dass ich Sie einmal zum Lachen bringe! – In meiner Rede zum Haushalt 2019 habe ich bereits auf diesen Hartz-IV-Missstand hingewiesen. Ab 2011 wurde der Regelbedarf künstlich kleingerechnet, weil statt 20 Prozent nur noch die untersten 15 Prozent der Einkommensbezieher als Maßstab galten. ({1}) – Hören Sie doch einmal zu, Herr Kollege, dann können Sie noch etwas lernen. – Dies hat dazu geführt, dass der Regelsatz seit 2011 zu niedrig ausfällt und er heute eigentlich bei circa 582 Euro liegen müsste. Aber wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wenn es so einfach wäre, wie in Ihrem Antrag beschrieben, den Sie hier eingereicht haben, dann hätten wir selber einen entsprechenden Antrag bereits im vorigen Jahr gestellt. Wissen Sie, es geht hier nämlich um Lohnabstand, es geht darum, dass Menschen, die arbeiten, mehr in der Geldbörse haben müssen als Menschen, die von Hartz IV und anderen Sozialleistungen leben. ({2}) Es geht um Wertschätzung, Wertschätzung Menschen gegenüber, die sich nicht zu schade sind, im Niedriglohnbereich zu arbeiten, und am Ende des Monats kaum mehr Geld zur Verfügung haben als Hartz-IV-Empfänger. ({3}) – Ich merke, ich errege Sie. Sie, werte Mitglieder der Regierung, haben nicht nur dafür gesorgt, dass wir hier in Deutschland die zweithöchste Abgabenlast in der Welt tragen, nein, Sie haben es sogar geschafft, dass Millionen von Arbeitnehmern nicht genug Geld zum Leben übrig bleibt. ({4}) Genau da, werte Kollegen des Hohen Hauses, müssen wir ansetzen. Es geht um knapp 17 Millionen Arbeitnehmer, die kein Auskommen von ihrem Einkommen haben. Und genau da hat unser Antrag auf Drucksache 19/10170, den der Kollege Schneider und ich Ihnen am 16. Mai dieses Jahres vorgestellt haben, angesetzt, ein mutiges Konzept zur Entlastung von Geringverdienern. 17,5 Millionen Arbeitnehmer hätten jeden Monat bis zu 300 Euro netto mehr zur Verfügung. Aber es war ja eine Woche vor der Europawahl, und – oh Wunder – keine einzige Zeitung hat über diesen Antrag, der 17,5 Millionen arbeitende Menschen in diesem Land betrifft, berichtet. ({5}) Wozu auch? Womöglich hätte ja noch ein Wähler gemerkt, dass es tatsächlich eine Partei in diesem Land gibt, die an konkreten Lösungsansätzen für die Menschen in Deutschland arbeitet, nämlich die AfD. ({6}) Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, bevor Sie hier einen Antrag stellen, um die Hartz-IV-Sätze anzuheben, um dem nicht arbeitenden Teil der Bevölkerung zu helfen, versuchen Sie es doch einmal mit dem arbeitenden Teil der Bevölkerung, der derzeit alle unsere Ausgaben – nicht nur hier im Bundestag, sondern auch in ganz Deutschland – trägt. ({7}) Die Unterstützung unseres Antrages wäre nicht nur ein Beitrag zur Gerechtigkeit und zur Motivation, eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen. Nein, es wäre zusätzlich auch ein erstklassiges Konjunkturprogramm für den deutschen Binnenmarkt, das bitter nötig ist. Wer Ja zur Anhebung des Hartz-IV-Satzes sagen will, muss vorher auch den Lohnabstand wiederherstellen und unserem Antrag zur Entlastung von Niedriglohnempfängern und Soloselbstständigen zustimmen. ({8}) An die Medienvertreter: Jetzt können Sie über unseren Antrag berichten. Die Europawahl ist vorbei, und die SPD hat auch fertig. Danke schön. ({9})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In beiden Anträgen von Linkspartei und FDP werden wichtige Dinge angesprochen. Die einen adressieren die Höhe von Leistungen im Sozialgesetzbuch II und die anderen die Administration von Leistungen. Beide Anträge gehen uns nicht weit genug. Die einen enden wie schon öfter im bedingungslosen Grundeinkommen, die anderen enden in Vorschlägen, kleine Rädchen zu drehen. Diese kleinen Rädchen gehen zwar nicht alle in die falsche Richtung, aber es bleiben eben kleine Rädchen. Wir haben uns vorgenommen, zwei Dinge zu tun: kleine Rädchen – manchmal auch größere – in der Regierungsverantwortung zu drehen und darüber hinaus auch eine große Idee für die Zukunft zu skizzieren. Die Rädchen, die wir gedreht haben und noch drehen wollen, bewirken Gutes und manchmal sogar Großes: Mindestlohn, Gute-Kita-Gesetz, Starke-Familien-Gesetz. Die Linkspartei redet von der Erhöhung der Transferleistungen im SGB II. Wir reden von der Erhöhung vor allem niedriger Einkommen insgesamt. ({0}) Kleine Einkommen zu erhöhen – das betrifft auch die Regelsätze und Transferleistungen –, verbessert nicht nur die soziale Lage der Bürgerinnen und Bürger, sondern stärkt auch unser Wirtschaftswachstum; das hat die Gemeinschaftsprognose der Wirtschaftsforschungsinstitute gezeigt. Diesen Weg wollen wir auch gerne weitergehen. Mit unserem Sozialstaatspapier wollen wir jedoch mehr. Wir wollen eine grundsätzliche Reform des Sozialstaats einleiten. Ich bin der Überzeugung, dass wir zwischen denjenigen unterscheiden müssen, die selber etwas an ihrer Lebenssituation verändern können, und denjenigen, die das noch nicht oder nicht mehr können. Für Erstere wollen wir ein Recht auf Arbeit als Leitgedanken verankern und Hartz IV von oben wie von unten austrocknen. Wir wollen jede mögliche Unterstützung geben, damit Menschen nicht arbeitslos werden. Das beginnt mit Gesundheitsschutz und Reha und geht weiter mit Qualifizierung und Weiterbildung. ({1}) Dazu haben wir erste Räder gedreht. Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir die Weiterbildung verbessert, und bereits in der letzten Legislatur haben wir im Rahmen des Flexirentengesetzes Verbesserungen bei Prävention und Reha erreicht. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Arbeitslosigkeit ist selten ein selbst gewähltes Schicksal. Oftmals liegen die Gründe nicht in der Person, sondern in den Umständen. Deswegen wollen wir ein Recht auf Arbeit, also dass allen, die auch arbeiten wollen, Arbeit ermöglicht wird. Wir wollen, dass ihnen ein realistisches und adäquates Angebot gemacht wird, entweder in Form einer Qualifizierung, einer Weiterbildung oder eines angemessenen Jobangebots. ({2}) Es gibt genug gesellschaftlich notwendige Arbeit. Sie muss aber bezahlt werden. Und wir bezahlen eben lieber Arbeit als Arbeitslosigkeit. Auch diesen Weg wollen wir weitergehen. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt haben wir einen ersten Schritt getan, und zwar Hartz IV von unten auszutrocknen, indem wir Menschen, auch wenn der Weg lang und steinig ist, aus der Arbeitslosigkeit in ein selbstbestimmtes Leben holen wollen. Auch da gilt es, weitere Schritte zu gehen und ein Netz von Unterstützung vor Ort so aufzubauen, dass einfach, individuell und angstfrei geholfen werden kann, wenn es die Menschen besonders schwer haben. ({3}) Ein Vorschlag ist, dies in Form von Bürgerservicestellen zu tun. Diese fassen alle Sozialversicherungs- und Familienleistungen zusammen und geben Hilfen aus einer Hand. Sie können durch kurze Wege und ein Zusammenspiel der unterschiedlichen Leistungsträger auch komplexe Lebenslagen begleiten. Aber sie stehen genauso für Beratung und Beantragung von Sozialleistungen zur Verfügung und klären die Zuständigkeiten dann im Backoffice selbst. Die Bürgerinnen und Bürger haben an uns eine Erwartung. Sie erwarten eben nicht nur, dass wir gute Sozialleistungen vorhalten und beschließen, sondern auch, dass wir sie unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen, und gute Leistungen für Familien und Leistungen, die die Gesundheit fördern, zur Verfügung stellen. Sie erwarten zudem, dass sie gut beraten werden und einfach an die Leistungen gelangen, die ihnen zustehen. Sie erwarten, dass sie nicht von A nach B nach C geschickt werden und dass sie die Anträge, die sie ausfüllen sollen, auch verstehen. Wir wollen Hilfen aus einer Hand, einen Sozialstaat als Partner. Das Hin- und Herschicken von Bürgerinnen und Bürgern wollen wir beenden. ({4}) Dann gibt es noch diejenigen, die nichts mehr oder noch nichts an ihrer Einkommenssituation verändern können. Die brauchen eine Leistungshöhe, die ihnen auch gesellschaftliche Teilhabe garantiert. Aber allein die angemessene Höhe einer Grundsicherungsleistung garantiert das eben noch nicht. Der zunehmenden Einsamkeit von Menschen kann man nicht alleine durch die Höhe einer Transferleistung begegnen. Wir wollen da wohnortnahe soziale Angebote schaffen und eine soziale Infrastruktur aufbauen, die die Menschen auch in die Gemeinschaft holt. ({5}) Ein Recht auf Arbeit, ein Einkommen aus Arbeit, das ein gutes Leben sichert, eine Grundsicherungsleistung und eine soziale Infrastruktur, die die Menschen – alt wie jung – in die Mitte der Gesellschaft holt, und einfache Hilfen aus einer Hand zur Unterstützung von Familien, von Menschen in verschiedenen Lebensphasen, aber auch bei Krankheit und Not: So stellen wir uns die Zukunft vor. Glück auf! ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal Kober das Wort. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie haben einen Antrag mit dem Titel „Sozialstaat stärken“ vorgelegt. Dabei entlarven Sie sich selbst. Sie wollen den Sozialstaat stärken, erwähnen aber mit keinem einzigen Wort, dass Sie die Menschen wieder in Arbeit bringen wollen. Das zeigt, was Sie von den Menschen denken. Sie glauben nicht an die Menschen und ihre Fähigkeiten. Sie glauben nicht, dass die Menschen wieder in Arbeit zurückkommen wollen. Sie wollen sie dabei nicht unterstützen. Das ist zutiefst beschämend. Das zeigt Ihr Menschenbild, und das lehnen wir ab. ({0}) Letzten Endes geht es Ihnen nur darum, die Menschen in der Abhängigkeit des Sozialstaates zu lassen. Das ist nicht unser Ziel. Ein starker Sozialstaat bringt die Menschen zurück in Arbeit, soweit es irgend möglich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür arbeiten wir als Freie Demokraten. Das ist unser Verständnis eines starken Sozialstaates. Liebe Frau Kollegin Schmidt, wir müssen die großen Räder drehen; aber wir müssen auch die kleinen Räder drehen. Diese darf man nicht außer Acht lassen. Wenn wir jedes Jahr 1 Milliarde Euro aus den Fördermaßnahmen für langzeitarbeitslose Menschen nehmen müssen, um die Verwaltung von Hartz IV bezahlen zu können, dann ist das nicht nur ein kleines Rad; dann ist das ein großes Rad. Wir brauchen eine Lösung, damit die Mitarbeiter in den Jobcentern wieder mehr Zeit haben für die Beratung der Arbeitsuchenden, für die Beratung, welche Ausbildungsmaßnahme, welche Fortbildungsmaßnahme die richtige oder welches Jobangebot passend sein könnte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Kipping?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Es ist eine Zwischenbemerkung. – Herr Kober, Sie haben hier den Eindruck erweckt, dass wir kein Wort über Menschen verlieren würden, die arbeitsuchend oder in Arbeit sind. Ich muss das mit aller Entschiedenheit zurückweisen. ({0}) Denn auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass es gerade meine Partei, Die Linke, war, die sich über all die Jahre immer wieder für öffentliche Förderung, für entsprechende Arbeitsmarktmaßnahmen und für soziale Arbeitsmarktpolitik starkgemacht hat. Wir kämpfen von Anfang an, seit unserem Bestehen, darum, dass Menschen gute Arbeit finden, die zu ihrem Leben passt. Bei diesem Antrag geht es um ein sozialpolitisches Problem, das man lösen muss, nämlich die Höhe der Sozialleistungen. Davon profitieren mitnichten nur Langzeiterwerbslose. Von der Höhe dieser Regelsätze sind auch arme Rentner betroffen und zum Beispiel Menschen, die aufstocken müssen, ebenso Alleinerziehende, die viele Kinder großziehen und nebenbei vielleicht nur Teilzeit arbeiten können. Hören Sie auf, dies zum Popanz aufzubauen und sich damit rauszureden. ({1}) Positionieren Sie sich einfach dazu, wie hoch die Hartz‑IV-Regelsätze sein sollen, aber hören Sie auf mit diesen Unterstellungen. ({2})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Kipping, Sie waren es, die Ihren Antrag mit „Sozialstaat stärken“ betitelt haben. Sie haben beispielsweise nicht die Formulierung „Regelsätze anpassen“ gewählt. Insofern sind Sie verantwortlich für die Überschrift, die zum Inhalt passt. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass in Ihrem Antrag nicht davon die Rede ist, dass Sie Menschen in Arbeit bringen. Nach meinem Eindruck ist das nicht zufällig passiert, ({0}) sondern das ist das System. In vielen Ihrer Anträge ist es erkennbar so, dass es Ihnen nicht primär darum geht, die Menschen zurück in Arbeit zu bringen. ({1}) Das werde ich auch weiterhin von diesem Platz aus kritisieren. ({2}) Wir brauchen mehr Zeit für die Menschen in den Jobcentern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern brauchen mehr Zeit für die Menschen. Dazu müssen wir an verschiedenen Stellschrauben ansetzen. Wir müssten beispielsweise eine Bagatellgrenze einführen – wir schlagen vor: von 25 Euro –, damit nicht, wenn es zur Überzahlung von einzelnen Euro-Beträgen, von Cent-Beträgen kommt, Bescheide erstellt werden müssen, die manchmal Dutzende Seiten lang sind. Das ist nicht zielführend, das ist zu viel Bürokratie. Hier könnten wir tatsächlich für Entlastung sorgen. Wir brauchen rechtssichere Angaben für die Berechnung der Wohnkosten für die Menschen, die Hartz IV beziehen. Es kann nicht sein, dass die Jobcenter damit alleingelassen werden und selber die Angemessenheit von Kosten definieren müssen. Das führt zu viel zu vielen Gerichtsverfahren. Wir könnten beispielsweise über die Einführung von Pauschalen, aber auch durch klarere Definitionen von Rechtsbegriffen für eine Erleichterung sorgen. Des Weiteren. Natürlich müssen wir das Bildungs- und Teilhabepaket entbürokratisieren. Eine Digitalisierung wäre möglich. Das haben wir schon bei der Einführung vorgeschlagen; es ist damals leider an der SPD gescheitert. Wir könnten auch Bürokratie reduzieren, wenn wir es ermöglichen würden, dass die Einkommensbescheide der sogenannten Aufstocker direkt vom Arbeitgeber an das Jobcenter übermittelt werden, wenn die Betroffenen zustimmen. Und natürlich, lieber Kollege Zimmer: Wir brauchen eine einfachere Sprache im Umgang mit den Menschen in den Jobcentern. Es ist ein Wert an sich, dass ein Staat für die Bürgerinnen und Bürger verständlich und nachvollziehbar ist. Es würde Bürokratie minimieren, weil es dann nicht zu Einsprüchen aufgrund von Missverständnissen wegen einer unverständlichen Bürokratiesprache kommen würde. Lange Rede, kurzer Sinn; kleine Räder, aber auch große Räder: Wir wollen die Grenzen für den Zuverdienst zu Hartz IV verbessern. Wir wollen, dass mehr Menschen in Arbeit kommen. Wir haben bereits ein Konzept vorgelegt, das 300 000 Menschen in Arbeit brächte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind dabei, wir sind dran. Uns geht es darum, an die Menschen zu glauben, an ihre Fähigkeiten, sie dabei zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entdecken, zu entwickeln und dann das Ziel zu erreichen, dass sie wieder in den Arbeitsmarkt integriert sind. Das ist ein starker Sozialstaat, wie wir ihn uns vorstellen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Abgeordnete Sven Lehmann das Wort. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte jetzt sehr gerne auf Herrn Witt von der AfD reagiert, aber der hält es offenbar nicht für notwendig, an der weiteren Debatte teilzunehmen. ({0}) Das zeigt übrigens, wie ernst die AfD diese Debatten im Bundestag nimmt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Regelsatz in der Grundsicherung wird in der Tat seit vielen Jahren politisch kleingerechnet. Er reicht nicht aus, um an der Gesellschaft teilzuhaben, er zementiert Armut. Das ist inakzeptabel, und das wollen und das müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Im letzten Jahr gab es eine sehr spannende Debatte. Da hat Gesundheitsminister Jens Spahn mit seinen Aussagen zu Hartz IV heftige Debatten ausgelöst, und das zu Recht. Ich wiederhole noch mal, was er damals gesagt hat – Zitat –: Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. … Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Jetzt frage ich Sie: Ist das Leben mit täglichen Existenzängsten, ein Leben am Rand der Gesellschaft, tatsächlich das, was Menschen brauchen? Ich beantworte diese Frage mit der Schilderung des Alltags einer Frau aus Nordrhein-Westfalen, eines Alltags, den leider sehr viele Menschen mit wenig Geld kennen. Frau Müller ist seit drei Jahren auf Hartz IV angewiesen. Sie ist 61 Jahre alt und gelernte Bürokauffrau. Nach Abzug laufender Fixkosten bleiben ihr noch rund 50 Euro pro Woche für alle Ausgaben. Die Preise im Discounter für das billigste Brot kennt sie genau. Ihre Haare schneidet sie sich selbst, da ein Friseur einfach nicht zu bezahlen ist. ({3}) Ständig treibt sie die Angst um, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Die Waschmaschine darf nicht kaputtgehen, sonst muss sie ein Darlehen aufnehmen. Hoffentlich kommt mit der nächsten Stromrechnung keine Nachzahlung. Kinobesuche oder kleine Ausflüge sind schon lange nicht mehr drin. Aber zur Tafel geht sie nicht, weil sie keine Bittstellerin sein möchte. – Dieses Beispiel zeigt: Hartz IV reicht vielleicht zum Über leben, aber es reicht nicht zum Leben. Frau Müller ist nur eine von sehr vielen Menschen in Deutschland, denen es so geht. Teilweise wird in der Debatte gesagt: Wir können uns eine Erhöhung der Regelsätze finanziell nicht leisten. – Ich finde, die Frage ist erst mal nicht, ob wir uns das finanziell leisten können, sondern die Frage ist, ob wir es uns menschlich leisten können, es nicht zu tun. Und ich finde, das können wir nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Die Bundesregierung hat ihren Spielraum bei der Berechnung des Regelsatzes so weit nach unten ausgereizt, dass zuletzt sogar der Sozialrat der Vereinten Nationen Deutschland aufgefordert hat, die Grundsicherungsleistungen zu erhöhen, weil sie keinen ausreichenden Lebensstandard ermöglichen. Passiert ist aber seither nichts – nada, gar nichts, kein Satz im Koalitionsvertrag, einfach nichts. Bei der Regelsatzermittlung darf nicht die Haushaltslage, sondern es muss die Würde des Menschen leitend sein. Und die gilt nicht nur für Erwerbstätige, sondern die gilt für alle Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Auch das sogenannte Lohnabstandsgebot, was immer wieder gerne in Debatten genannt wird, darf für die Regelsatzermittlung keine Rolle spielen. ({6}) Denn gerne wird dieses Argument bedient, um einen niedrigen Regelsatz zu rechtfertigen. Ja, Menschen, die erwerbstätig sind, sollen selbstverständlich mehr haben als diejenigen, die es nicht sind. ({7}) Aber es ist komplett falsch, deswegen die Grundsicherung so dermaßen niedrig zu halten. Wir brauchen stattdessen höhere Löhne, bezahlbare Mieten und eine stärkere Tarifbindung. Wer stattdessen Menschen mit niedrigem gegen die mit keinem Einkommen ausspielt, der spaltet die Gesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Die derzeitige Regelsatzermittlung ist einfach Ausdruck einer falschen Politik; denn die Bundesregierung hat einen Weg gefunden, den Regelsatz politisch kleinzurechnen. Er wird derzeit nämlich aus den Ausgaben der Armutshaushalte abgeleitet, also von Haushalten, die selber jeden Cent umdrehen müssen und die deswegen in ständiger Existenzangst leben. Zusätzlich legt die Bundesregierung den Rotstift an, sodass der Regelsatz noch mal niedriger ausfällt. Die Liste von Dingen, die Erwerblose in diesem Land alles nicht dürfen, ist lang: kein Alkohol, kein Tabak, kein Eis im Sommer, keine Handykosten, keine Schnittblumen. Und auch Malstifte für Kinder werden centgenau aus dem Regelsatz herausgestrichen, weil sie nach Ansicht der Bundesregierung nicht zur Sicherung des Existenzminimums notwendig sind. Der Regelsatz ist dermaßen auf Kante genäht. Er ist einer Grundsicherung unwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Die Berechnung der Regelsätze sollte sich am Einkommen und Verbrauch der Mitte der Gesellschaft orientieren und nicht an den Ärmsten der Armen. ({10}) Das ist die zentrale Forderung, die wir Grüne hier heute erheben. Es ist Zeit für eine Neuberechnung des Existenzminimums. Von der würden übrigens alle Menschen durch einen höheren Steuerfreibetrag profitieren. Diese Neuberechnung muss erstens mit den Taschenspielertricks Schluss machen, sich zweitens an der gesellschaftlichen Mitte orientieren und drittens dem verfassungsrechtlich verankerten Anspruch auf soziale Teilhabe oberste Priorität einräumen. Und es muss natürlich klar sein – lieber Matthias Zimmer, da unterscheiden wir Grüne uns sehr eindeutig von der CDU –, dass das Existenzminimum vollständig von Sanktionen ausgenommen wird. ({11}) Ich komme zum Schluss. Wir Grüne streiten für eine existenzsichernde und sanktionsfreie Garantiesicherung; denn das Recht eines Menschen auf Teilhabe leitet sich nicht aus dem ab, was er auf dem Arbeitsmarkt leistet, sondern aus seiner Würde. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Kai Whittaker das Wort. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Sehr geehrter Herr Lehmann, nachdem sich die Grundsicherung in Zukunft an der Mitte der Gesellschaft orientieren soll, bin ich mir ziemlich sicher, dass die Mitte der Gesellschaft sehr brennend interessiert hätte, wer das am Ende bezahlt. ({0}) Ich fürchte, Sie meinen damit die gleiche Mitte. ({1}) Deshalb haben Sie sich hier wahrscheinlich um die Antwort gedrückt. Werte Kollegen, wir beraten heute zum achten Mal in dieser Legislaturperiode einen Antrag der Linken zu Verbesserungen von Hartz-IV-Leistungen. ({2}) Heute geht es darum, die Grundsicherung auf 582 Euro zu erhöhen. Wir haben hier schon beraten, ob eine eventuelle Finanzierungslücke bei den Kosten der Unterkunft beseitigt werden sollte, und wir beraten regelmäßig über die Abschaffung der Sanktionen. Ich frage mich wirklich, warum Sie immer wieder mit diesen Anträgen kommen, wenn Sie im Kern doch eigentlich etwas ganz anderes wollen, nämlich die komplette Abschaffung von Hartz IV. ({3}) Seien Sie wenigstens so ehrlich und arbeiten dafür, statt immer wieder Anträge auf Änderung innerhalb des Systems zu stellen. Warum machen Sie das? ({4}) Es gibt meiner Meinung nach nur zwei plausible Antworten: Entweder Sie versuchen uns als Große Koalition als knickrige und schlechte Menschen darzustellen, die den Menschen nicht den Cent unter den Fingernägeln gönnt, ({5}) oder aber – und ich vermute, das wird die Wahrheit sein; da hat Herr Kober schon recht – Sie wollen die Menschen nicht in Arbeit führen, sondern Sie wollen sie in der Arbeitslosigkeit etwas besserstellen. Sie wollen, dass sie finanziell ausgesorgt haben. Das ist, was Sie vorhaben. ({6}) Das entspricht nicht unserem Menschenbild. Wir sorgen dafür, dass es Arbeitsplätze in unserem Land gibt, so viele wie noch nie in der Geschichte unseres Landes. ({7}) Wir sorgen dafür, dass wir die Menschen zu den Arbeitsplätzen führen. Ich will ein Beispiel nennen, das zeigt, dass die Erhöhung, die Sie fordern, den Menschen, die davon betroffen sind, nichts bringt. Im „Berliner Kurier“ war von einem Max, 19 Jahre, aus Reinickendorf zu lesen, der nichts anderes kennt außer Arbeitslosigkeit. Seine Großeltern, so sagt er selber, seien Alkoholiker gewesen. Seine Mutter ist früh gestorben. Er selbst hat keinen Schulabschluss. Er hat zweimal versucht, eine Berufsausbildung zu starten, als Fensterputzer und als Bäcker. Er hat sie jeweils abgebrochen. Aktuell ist er in einem Praktikum für einen Hausmeisterjob, um eventuell eine Ausbildung zu machen. Was diesem Max 582 Euro mehr im Monat bringen, das hätte ich gerne gewusst; denn dieser Max sagt eindeutig, er hätte sich mehr Zuwendung gewünscht, ({8}) mehr Menschen, die ihm unter die Arme greifen, die ihm helfen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, die ihm helfen, am täglichen Leben teilzunehmen und zu lernen, wie man sich in der Gesellschaft bewegt. ({9}) Weil er den Alltag von Arbeit nicht kennt, wäre externe Hilfe notwendig gewesen. Da helfen Ihre 582 Euro keinen Deut. ({10}) Wir als Große Koalition haben genau auf diese Art der Unterstützung unseren Arbeitsschwerpunkt gelegt. Ich bin froh, dass wir das mit der SPD hinbekommen haben. Wir haben ein Teilhabechancengesetz auf den Weg gebracht. So können Coaches eingestellt werden. Wir haben die Mittel für die Förderung, um Arbeit zu finden, erhöht. Wir haben Qualifizierung unterstützt. Wir haben vor einiger Zeit das Bildungs- und Teilhabepaket verbessert, damit Kinder aus bildungsfernen Schichten eher in der Lage sind, einen Bildungsabschluss zu erlangen und später ins Berufsleben zu kommen. Das ist, glaube ich, der große Unterschied, der uns hier im Deutschen Bundestag trennt. Sie versuchen, durch immer stärker ausgeweitete Individualleistungen eine möglichst große Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, und konzentrieren sich aufs Finanzielle. Wir sagen: Lasst uns die Regeln so einfach und so schlank wie möglich machen, damit die Menschen in den Jobcentern die Zeit haben, sich um die Arbeitslosen zu kümmern und näher bei den Menschen zu sein. Damit ist dem Individuum viel mehr geholfen als mit Einzelfallgerechtigkeit, die Sie durch den Bundestag bringen wollen. ({11}) Es ist für uns als Union ganz klar: Ich will ein Land, in dem wir nicht zwischen Arm und Reich unterscheiden, ({12}) sondern jeder soll am wirtschaftlichen Erfolg in diesem Land teilhaben. Das ist die Aufgabe, die wir als Bundesregierung und als Land haben. Ich will ein Land, in dem alle Kinder die Chancen bekommen, über ihre Eltern und Großeltern hinauszuwachsen. Daran werden wir als Große Koalition weiterhin arbeiten, auch nach diesem Sommer. Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Sichert für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Wertes Präsidium! Über 5 Millionen Menschen beziehen hierzulande eine Rente von weniger als 500 Euro. Was machen Sie von der Linkspartei? Sie wollen mit dem vorliegenden Antrag die Asylbewerberleistungen für jeden Erwachsenen auf 582 Euro erhöhen. Das bedeutet bis zu 250 Euro mehr im Monat für jeden Asylbewerber. Wie wollen Sie das den 5 Millionen erklären, die weniger als 500 Euro Rente bekommen? ({0}) Viele dieser Armutsrentner mit Minirenten sind übrigens Frauen: Frauen, die Kinder großgezogen haben, Frauen, die Teilzeit oder im Familienbetrieb gearbeitet haben, Frauen, die sich um den Haushalt gekümmert haben. ({1}) Diese Frauen leben nun in Altersarmut. Sie treten die Lebensleistungen dieser Frauen mit Füßen und fordern, dass man das knappe Geld des Staates lieber den Asylbewerbern in den Rachen werfen sollte, ({2}) Asylbewerbern, für die Wohnungen nach modernstem Standard gebaut werden, Asylbewerbern, die schon jetzt Abermillionen der Asylbewerberleistungen jeden Monat in ihre Heimatländer überweisen, weil sie in ihren Unterkünften eine Vollversorgung bekommen, von der viele deutsche Rentner nur träumen können. ({3}) Wissen Sie, was Sie gemäß Ihrer eigenen Diktion sind? Gemäß Ihrer eigenen Diktion sind Sie Sexisten. Sie sind jene, die den Gender Pay Gap vergrößern, indem Sie die armen deutschen Rentnerinnen mit Füßen treten, während Sie den Asylbewerbern, die hauptsächlich jung und männlich sind, das Geld in den Rachen werfen. ({4}) Was die FDP hier fordert, geht in die richtige Richtung. Es ist aber eine Sammlung von bürokratischen Miniverbesserungen, die das Problem, das wir mit der zunehmenden Armut in unserem Land haben, in keiner Weise lösen. Wissen Sie, warum wir inzwischen so viele arme Mitbürger haben, warum Obdachlose in allen deutschen Großstädten zum Stadtbild zählen, warum so viele Menschen mit den Sozialleistungen nicht über die Runden kommen? Es gehört zur Realität, dass jeder dritte Bezieher von Hartz IV inzwischen Ausländer ist, Tendenz stark steigend. ({5}) Wir überweisen Hunderte Millionen Euro an Kindergeld ins Ausland, Tendenz ebenfalls stark steigend. Asylbewerber erhalten kostenlose Gesundheitsleistungen, für die Rentner massiv zuzahlen müssen. ({6}) Es ist wohl einmalig in der Welt, dass ein Staat so viel Geld für Ausländer in seinem Sozialsystem ausgibt, wie wir das in Deutschland gerade tun. ({7}) Sie alle hier haben mit Ihrer Politik der offenen Grenzen dafür gesorgt, dass es so weit gekommen ist, dass jeder Arme der Welt einfach ins deutsche Sozialsystem einwandern konnte und immer noch kann. Sie haben dafür gesorgt, dass Kommunen gezwungen waren, Abermilliarden für Asylbewerberunterkünfte auszugeben statt für den sozialen Wohnungsbau. ({8}) Sie haben dafür gesorgt, dass selbst abgelehnte Asylbewerber dauerhaft bleiben können – dazu gab es einen entsprechenden Gesetzentwurf – und über kurz oder lang Anspruch auf eine eigene Wohnung hierzulande haben werden. Sie haben dafür gesorgt, dass für minderjährige unbegleitete Asylbewerber wie den Attentäter von Würzburg mehr als 50 000 Euro im Jahr ausgegeben werden, während immer mehr Rentner und Obdachlose im Müll nach Pfandflaschen suchen. ({9}) Sie alle sind für die grassierende Armut in unserem Land verantwortlich. ({10}) Liebe Bürger, schauen Sie sich im Land um. Schauen Sie, wie die Zahl der Armutsrentner und der armen Menschen in allen Altersklassen zugenommen hat. Schauen Sie, wie viele Obdachlose wir inzwischen haben. Schauen Sie sich an, an wie vielen Stellen die Politik der Altparteien gescheitert ist. Es geht nämlich auch anders. Eine Alternative steht bereit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir fahren fort in der Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialstaat stärken – Hartz IV sofort auf 582 Euro erhöhen“ sowie des Antrags der Fraktion der FDP mit dem Titel „Hartz IV entbürokratisieren und vereinfachen“. ({0}) Dazu hat jetzt der Abgeordnete Martin Rosemann für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin, vielen Dank für den Hinweis. Er war offenbar notwendig. ({0}) Lassen Sie mich zu Ihrer Rede, Herr Sichert, Folgendes sagen: Ich finde es widerlich, wie Sie zum wiederholten Male Schutzbedürftige gegen die Ärmsten unserer Gesellschaft ausspielen. ({1}) Herr Sichert, Sie reden hier über Rente und über Altersarmut. Sie sind die einzige Partei in diesem Land, die kein Rentenkonzept vorlegt und nichts dazu sagt, wie sie Altersarmut bekämpfen will. Das ist die Wahrheit. ({2}) Wir sagen: Gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente. ({3}) Wir haben ein Konzept für eine Grundrente vorgelegt. Von Ihnen kommt nichts, aber auch gar nichts in diesem Zusammenhang. ({4}) Ja, es gibt Reformbedarf in der Grundsicherung, es gibt sogar großen, grundsätzlichen Reformbedarf. Dazu liegen Anträge der Linken und der FDP vor. Die Linke will mehr Geld, die FDP weniger Bürokratie. Das ist klassisch, das passt sehr gut zu Ihnen. ({5}) Und es ist wie immer nichts Neues. Ich frage mich: Ist das der Kern, um den es geht? In den vergangenen Jahren ist die Arbeitslosigkeit, auch die Langzeitarbeitslosigkeit, in unserem Land gesunken. Was aber ein Stück weit verloren gegangen ist – das wird klar, wenn wir mit Betroffenen sprechen –, das ist die Würde. Wir müssen auch kritisch sein: Trotz aller Erfolge der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre haben wir es zu wenig geschafft, individuell zu fördern und zu unterstützen. Wir haben es zu wenig geschafft, den Menschen Perspektiven zu geben, die schon sehr lange arbeitslos sind. Wir haben zu wenigen Menschen Teilhabe eröffnet und das Gefühl gegeben, Teil dieser Gesellschaft zu sein und dazuzugehören. Das ist meines Erachtens der Kern jedes Grundsicherungssystems: Wir müssen Würde und Teilhabe für alle sicherstellen. Jeder muss das Recht haben, Teil der Gesellschaft zu sein, und natürlich ist der zentrale Schlüssel dafür Arbeit; denn die allermeisten Menschen wollen arbeiten, sie wollen etwas zu dieser Gesellschaft beitragen. Ihnen das zu ermöglichen, das ist die Aufgabe der Gesellschaft und des Sozialstaats. Deshalb setzen wir in unserem Sozialstaatskonzept auf ein Recht auf Arbeit. ({6}) Dazu gehört, dass wir uns um die kümmern, die es alleine nicht schaffen – warum auch immer. Jede und jeder muss die Unterstützung bekommen, die er oder sie braucht: der Sozialstaat als Partner. Natürlich brauchen wir dazu mehr Geld, mehr Personal und weniger Bürokratie. Um das zu erreichen, schaffen wir zum Beispiel eine Bagatellgrenze für Kleinstforderungen im SGB II. Da sage ich mal in Richtung Union: Das hätten wir schon in der letzten Wahlperiode haben können. Sie haben es blockiert; Sie haben es nicht mitgemacht. Warum reden Sie dann jetzt darüber? Dann lassen Sie es uns doch jetzt machen, nachdem Sie offensichtlich dazugelernt haben. ({7}) Klar ist aber auch: Weniger Bürokratie darf es nicht auf Kosten derjenigen geben, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Wir müssen Perspektiven für die eröffnen, die schon sehr lange arbeitslos und ohne Chancen auf reguläre Beschäftigung sind. Deshalb haben wir den sozialen Arbeitsmarkt eingeführt. Hier muss ich auch wieder in Richtung des Koalitionspartners sagen: Ich glaube, den haben wir eher mit euch als ihr mit uns eingeführt. Auch da mussten wir euch ein paar Jahre lang ordentlich treiben. ({8}) Meine Damen und Herren, wir arbeiten an einem Kulturwandel. Dazu gehört, dass Menschen, die in unterschiedlichen Lebenslagen Unterstützungsbedarfe haben, eben keine Bittsteller, sondern Bürgerinnen und Bürger mit eigenen Rechten sind. Dazu gehört auch, dass sie eben nicht zwischen Ämtern hin- und hergeschoben werden, dass jemand da ist, der sich zuständig fühlt, und dass wir einfach und unbürokratisch Hilfe aus einer Hand gewähren – am besten in wohnortnahen Servicestellen, die die Leute einfach erreichen. ({9}) Unser Leitbild ist der Sozialstaat als Partner. Er muss das Leben für jede Einzelne und jeden Einzelnen einfacher machen. ({10}) Daran arbeiten wir ganz konkret. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rosemann, ich wollte Sie gerade darauf aufmerksam machen, dass Sie demnächst auf Kosten der Redezeit Ihrer Kollegen reden. Ich bitte darum, mir noch vor Ende dieses Tagesordnungspunktes das Vorabprotokoll zu übermitteln, um einen Zwischenruf, der hier akustisch nicht ganz genau zu verstehen war, bewerten zu können. Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Das Anliegen der Fraktion Die Linke ist in der Sache nicht ganz neu. Es ist aber eine schöne Gelegenheit, noch mal darüber zu diskutieren, damit vielleicht deutlich wird, welche grundlegend unterschiedlichen Blicke die hier im Bundestag vertretenen Parteien auf das Thema „Was muss eigentlich bei der Grundsicherung passieren?“ haben. Damit meine ich nicht die Kolleginnen und Kollegen von der AfD; denn sie haben kein Angebot, sondern sind nach wenigen Sekunden wieder bei ihrem Lieblingsthema, dass angeblich die Ausländer an allem schuld sind. – Damit muss man sich nicht näher auseinandersetzen. ({0}) Ich will mich näher mit den ernsthaften Parteien auseinandersetzen. Da ist für mich deutlich feststellbar: Die SPD sucht mit ihren Vorstellungen – Dagmar Schmidt hat das eben wieder dargelegt – den Sicherheitsabstand zur Agenda 2010, Grüne und Linke suchen die Nähe zum bedingungslosen Grundeinkommen, ({1}) und die CDU will im Wesentlichen ein Weiter-so. Wir finden: Es wäre doch eigentlich spannend, sich gemeinsam zu fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, wie der Sozialstaat für die neue Zeit der Digitalisierung aussehen muss. Das wäre doch eine spannende Debatte. ({2}) Da geht es natürlich bei Weitem nicht nur um Grundsicherung, sondern auch um Fragen der Weiterbildung, des lebenslangen Lernens und des Midlife-BAföGs sowie um die Frage, wie wir passende Regeln für eine viel selbstbestimmtere Arbeitswelt schaffen können. Es geht aber eben auch um die Grundsicherung, und ich sage für uns Freie Demokraten – der Kollege Pascal Kober hat das eben schon angedeutet –: Über diesen Antrag, den wir hier vorlegen, hinaus finden wir ganz grundsätzlich, dass die Grundsicherung erstens unbürokratischer, zweitens würdewahrender und drittens vor allem auch chancenorientierter werden muss. Auf den Gedanken, was das für uns heißt, will ich mal ganz kurz eingehen: Ja, wir haben einen Dissens zu den Linken und den Grünen. Wir sind nicht der Auffassung, dass das Existenzminimum mit Blick auf die Mitte der Gesellschaft berechnet werden sollte. Das Verfahren, das wir in Deutschland haben, ist vielleicht nicht perfekt, aber ich habe noch keinen besseren Vorschlag gehört. Das Wesen des Existenzminimums ist natürlich – und das wollen wir auch –, dass idealerweise niemand dauerhaft darauf angewiesen ist. Wir müssen uns gemeinsam die Frage stellen, wie wir die Menschen da rausbringen und den Sozialstaat besser machen können. Lieber Matthias Zimmer und lieber Martin Rosemann, das sollte man nicht einfach abtun und sagen, die FDP sei für unbürokratischere Regelungen, das sei typisch. Uns ist es wichtig, dass wir einen Sozialstaat haben, in dem sich Menschen, die in einer schwierigen Lage sind, nicht in langen Gerichtsverfahren mit dem Jobcenter um Cent-Beträge streiten und Details zu ihren Mietverträgen beantworten müssen. Das macht einen Sozialstaat besser und auch würdewahrender, und es ist uns sehr ernst damit. ({3}) Ein anderes Thema ist in der Tat, dass die Menschen mehr Chancen haben müssen. Dabei geht es um das Aufstiegsversprechen unserer Gesellschaft. Wenn man sich mal die Lage in den Jobcentern, in der Praxis, anschaut, dann sieht man: Es ist in der Tat grotesk, dass wir geradezu einen Magneten geschaffen haben, der verhindert, dass sich die Leute heute Schritt für Schritt da rausarbeiten können. Das passiert heute oft erst mal vielleicht über eine Helfertätigkeit im Umfang von ein paar Stunden in der Woche. Die Zuverdienstgrenzen sind heute so ausgestaltet, dass es maximal lohnenswert ist und man dabei unterstützt wird, sich 100 Euro zu Hartz IV dazuzuverdienen, dass es aber nicht lohnenswert ist, die Stundenzahl Schritt für Schritt auszudehnen und mit einer trittfesten Leiter aus der Grundsicherung rauszuwachsen. Da werden Steine in den Weg gelegt. Dieses Thema müssen wir endlich angehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Vogel, kommen Sie bitte zum Schluss.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass Sie in Ihrem Papier zur Zukunft des Sozialstaats das Thema Zuverdienstgrenzen mit keinem Wort erwähnen, zeigt, dass hier offenbar noch eine umfangreiche Debatte über das Thema notwendig ist. Wir wollen sie gerne führen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Peter Weiß das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was mich an dieser Debatte und den beiden Anträgen, die vorliegen, stört, ist: Wir haben es wieder mal mit der Frage zu tun, wie man die Arbeitslosigkeit besser verwalten kann. Bei den Anträgen geht es nicht darum, wie man aus der Arbeitslosigkeit rauskommt. Das ist aber die zentrale Frage. ({0}) Unser Ziel sind nicht 424 Euro – das ist der derzeit gültige Regelsatz –, unser Ziel sind auch nicht 582 Euro – das ist der beantragte neue Regelsatz –, sondern unser Mindestziel sind 1 560 Euro. ({1}) Ich sage Ihnen auch, warum. Durch das Teilhabechancengesetz, das diese Große Koalition beschlossen hat, machen wir den Langzeitarbeitslosen in unserem Land das Angebot, fünf Jahre lang eine geförderte Arbeit aufzunehmen, wobei sie die ersten zwei Jahre zu 100 Prozent aus Steuermitteln bezahlt werden. ({2}) Ich habe nun die ersten Maßnahmeteilnehmer in den Beschäftigungsgesellschaften besucht. Für jemanden, der bisher Arbeitslosengeld II bezog, beträgt das Monatseinkommen nun 1 560 Euro. Diese werden zu 100 Prozent vom Staat finanziert. Das ist also auch unser Ziel. ({3}) Deswegen möchte ich nicht über 582 Euro und auch nicht über 424 Euro diskutieren, sondern über 1 560 Euro und mehr. Das muss unser Ziel sein. ({4}) Damit bin ich bei dem entscheidenden Punkt. Das Prinzip des Förderns und Forderns, der aktivierende Sozialstaat: Das sind die Ideen der Zukunft. Es geht darum, wie wir mehr Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausbekommen. Sosehr wir uns über die Probleme, die wir heute haben, große Sorgen machen, muss man jetzt ja mal ehrlich sagen: Wir waren mit diesem Prinzip bislang äußerst erfolgreich. Noch 2007 hatten wir 6 Millionen Bezieher von Grundsicherungsleistungen, heute sind es unter 4 Millionen Bezieher. Das ist ein deutlicher Rückgang. In den Gruppen, die relativ kurz langzeitarbeitslos sind, haben wir besonders gute Erfolge erzielt, indem wir dort die Arbeitslosigkeit deutlich reduziert haben. Aber es gibt eine Problemgruppe, die uns leider bleibt: Das sind all die Menschen, die fünf und mehr Jahre lang arbeitslos sind. In dieser Gruppe ist die Zahl in fünf Jahren nur von 176 000 auf 154 000 zurückgegangen. Deshalb haben wir bei der letzten Reform etwas Zusätzliches gemacht, was ich für zukunftsweisend halte. Wir haben nämlich gesagt: Es kommt nicht nur darauf an, ein Angebot eines staatlich finanzierten sozialen Arbeitsmarktes zu machen, sondern es kommt auch darauf an, dafür zu sorgen, dass eine Beratungsperson, ein Coach, diese Menschen begleitet, um die vielfältigen Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, zu überwinden. Also, mein Ansatz für die Zukunft des Sozialstaates ist, eben nicht nur zu glauben, dass man mit finanzieller Hilfe etwas erreicht. Wir brauchen mehr personelle Hilfe, damit Menschen aus dem Teufelskreis von Armut herauskommen. ({5}) Das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Es ist doch erschreckend, festzustellen, dass heute viele Kinder und Jugendliche, deren Eltern von Arbeitslosengeld II gelebt haben, deren Großeltern von Arbeitslosengeld II bzw. der alten Sozialhilfe gelebt haben, auch Bezieher von Arbeitslosengeld II sind. Genau diesen Teufelskreis kann ich eben nicht mit Geld durchbrechen, sondern nur dadurch, dass wir – das haben wir in §16 h des SGB II bereits angedacht; diese Förderung würde ich in Deutschland gerne breiter aufstellen – junge Menschen aus Familien mit Arbeitslosengeld-II-Bezug durch die Schule und durch die Ausbildung begleiten, sodass sie aus der Armut herauskommen und das Aufstiegsversprechen unserer Gesellschaft für sie tatsächlich Realität wird: Durch Bildung und Arbeit kann man aus der Abhängigkeit staatlicher Leistungen herauskommen und auf eigenen Beinen stehen. Auf diese personelle Hilfe wollen wir in Zukunft setzen. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, dass wir gerade in Zeiten, in denen unser Arbeitsmarkt so boomt, mit einem System, das fordert und fördert und bei dem nicht nur aufs Geld geschaut wird, sondern bei dem auch verstärkt auf personelle Hilfe gesetzt wird, in der Tat etwas hinbekommen können: nämlich den Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit, den wir leider schon über viele Jahre haben, deutlich zu reduzieren. Das Aufstiegsversprechen muss für die Bezieher von Arbeitslosengeld II gelten. Es geht nicht darum, die Arbeitslosenbehörden besser zu verwalten. Nein, raus aus dem ALG II, raus aus Hartz IV – das ist unser Motto. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Gabriele Hiller-Ohm das Wort. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre dem Ausschuss für Arbeit und Soziales seit 2005 an. Ich sage Ihnen: Es hat immer Diskussionen um die Höhe der Regelsätze gegeben. Auch wenn wir die Regelsätze jetzt heraufsetzen, wie Sie es, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, vorschlagen, wird es weiterhin Streit über die Höhe der Regelsätze geben; davon bin ich überzeugt. Es gibt auf der ganzen Welt kein einziges objektives und schon gar kein gerechtes Bemessungssystem. Der Bemessung der Regelsätze liegen immer subjektive Bewertungen zugrunde. Diese Bewertungen werden immer angreifbar sein. ({0}) Trotzdem ist es natürlich richtig, die Regelsätze auf den Prüfstand zu stellen und zu hinterfragen. Das tut das Ministerium regelmäßig. Die Regelsätze wurden nach dieser Prüfung gerade Anfang des Jahres heraufgesetzt. Natürlich können wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns auch deutlich höhere Regelsätze vorstellen. Das Problem ist allerdings: Wir haben hier zurzeit keine politische Mehrheit, um das durchzusetzen. Dieser Umstand, liebe Kolleginnen und Kollegen, hält uns aber keineswegs zurück, uns auch als Koalitionsfraktion über den Koalitionsvertrag hinaus Gedanken über die Zukunft des Sozialstaates zu machen. Ich bin Andrea Nahles ausdrücklich dankbar dafür, dass sie die SPD als Parteivorsitzende hier auf einen zukunftsweisenden Weg geführt hat. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach 15 Jahren ist es Zeit, dass wir uns von dem ungeliebten Hartz IV verabschieden. Das tun wir. Wir haben ein umfangreiches Handlungskonzept mit ganz konkreten Maßnahmen für die Modernisierung unseres Sozialstaats ausgearbeitet; meine Kollegin, Frau Schmidt, und mein Kollege haben es gerade schon vorgestellt. Ich greife nur ganz wenige Beispiele heraus. Der Sozialstaat soll Partner und nicht länger Kontrolleur sein, ein ganz neues Verständnis. Hartz IV wollen wir durch ein modernes Bürgergeld ersetzen, das den Menschen mehr Sicherheit und Vertrauen gibt. ({2}) Tritt Arbeitslosigkeit ein, hätten die Menschen bei Bezug von Arbeitslosengeld I bis zu drei Jahre Zeit, sich einen neuen Job zu suchen und sich dafür zu qualifizieren. Angespartes Vermögen und Wohnungsgröße sollen nach Auslaufen von Arbeitslosengeld I erst nach zwei Jahren überprüft und angerechnet werden. Meine Damen und Herren, das würde schon sehr viel Sicherheit bringen. Wir wollen auch endlich die unwürdigen und teilweise kontraproduktiven Sanktionen für junge Menschen abschaffen. Das ist etwas, was mir besonders am Herzen liegt. Das Bundesverfassungsgericht wird ja in Kürze darüber urteilen. Ich hoffe sehr, dass es uns auffordern wird, diese ungleichen Sanktionsmechanismen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen endlich zu beenden. ({3}) Das Ganze ist unwürdig und muss geändert werden. ({4}) Wir wollen die Kinder mit einer Kindergrundsicherung aus Hartz IV und aus Armut herausholen; Frau Schmidt hat darauf hingewiesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre es nicht großartig, wenn alle Menschen ein Recht auf Arbeit hätten? Dann bräuchten wir nämlich überhaupt kein Hartz IV mehr. Mit dem Teilhabechancengesetz haben wir hier schon einen ersten richtig guten Schritt getan; Herr Kollege Weiß, Sie haben darauf hingewiesen. Endlich erhalten Menschen, die lange arbeitslos sind, wieder eine Chance, auf eigenen Beinen zu stehen, in einem richtigen Job zu arbeiten und ihr eigenes Geld zu verdienen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch großartig. Diesen Weg müssen wir weitergehen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, höhere Regelsätze zu fordern, das ist nicht schwer. Ein Gesamtkonzept für die Reform des Sozialstaates auszuarbeiten, so wie es die SPD getan hat, ist da schon eine ganz andere Nummer.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hiller-Ohm, Sie müssen jetzt bitte einen Punkt setzen.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie reden, wir handeln. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen heute zwei Anträge vor, einmal der zur Erhöhung der Sätze bei Hartz IV und gleichzeitig der zur Entbürokratisierung. Ich möchte den Antrag der Linken als Einstieg wählen und zuerst hervorheben, dass es bei dem Linkenantrag eigentlich nichts Neues gibt. Das einzig Neue, was es heute an diesem Tag gab, war, dass der Antrag von der Frau Ferschl vorgestellt wurde und nicht von Herrn Birkwald. Das ist vielleicht der einzige Unterschied gewesen. ({0}) – Sogar besser, Herr Birkwald. ({1}) Das war sogar eindrucksvoller gewesen. Aber auch dadurch war es nichts Neues. Von daher lohnt es sich sicherlich nicht, darauf einzugehen. Kollege Kober hat den Vorwurf getätigt, dass die Linken keinen Ansatz haben, um die Menschen in Arbeit zu bringen. Ich möchte dies noch einmal ausdrücklich bekräftigen und mit dem Einstieg von der Frau Ferschl untermauern. Sie hat nämlich formuliert – ich habe es mir extra aufgeschrieben –: Wer Hartz IV überwinden will, muss zuerst die Sätze erhöhen. – Das hat natürlich überhaupt nichts miteinander zu tun. Ich bin der Meinung: Wer Hartz IV überwinden will, der muss dafür sorgen, dass die Menschen in Arbeit kommen, und zwar in den ersten Arbeitsmarkt; ({2}) denn dadurch ist die Überwindung von Hartz IV möglich. Das müsste wesentlich stärker hier zum Ausdruck gebracht werden. Diesem Ziel hat sich auch die Große Koalition verschrieben. Damit haben wir auch große Erfolge erzielt. Fordern und Fördern: Das ist das richtige Instrument. Es hat sich gezeigt: Zu Zeiten von Rot-Grün gab es 5,5 Millionen Arbeitslose. Jetzt haben wir gut 2 Millionen Arbeitslose. Bundeskanzler Schröder hat seinerzeit postuliert, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Wir haben es geschafft, die Arbeitslosigkeit sogar noch stärker abzubauen, ({3}) und zwar nicht dadurch, dass wir die Sozialhilfesätze erhöht haben, sondern dadurch, dass wir den Arbeitsmarkt kräftig modernisiert haben und mit den Veränderungen bei der Bundesagentur für Arbeit und allem Weiteren, was hier getätigt worden ist, den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt besonders gefördert haben. ({4}) Heute wurde dargelegt: Den Menschen muss man entsprechend Arbeit geben. – Da haben wir sicherlich in einzelnen Bereichen noch große Herausforderungen zu bewältigen. Auf der einen Seite haben wir 1 Million offene Stellen, und auf der anderen Seite haben wir 2,2 Millionen arbeitslose Menschen. Es muss doch möglich sein, die 1 Million offenen Stellen mit den Menschen zu besetzen, die jetzt als arbeitslos gelten und arbeitslos gemeldet sind. Von daher haben wir eine Gesamtaufgabe. Über diese Aufgabe lohnt es sich wesentlich mehr zu diskutieren als über eine Erhöhung der Hartz‑IV-Sätze. ({5}) Ein weiterer Punkt. Werte Kollegen der Linken, Sie stellen dar, dass es politisch motivierte, herabgesetzte Hartz‑IV-Sätze gebe. Wir haben ein stichhaltiges System, nämlich die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Das ist letztendlich die Grundlage für die Ermittlung dieser Sätze. Ich gebe Frau Hiller-Ohm ausdrücklich recht, wenn sie sagt, dass man darüber immer streiten kann. Aber das Bundesverfassungsgericht hat diese Grundlage in den verschiedensten Urteilen auch bestätigt. ({6}) Das ist ein entscheidendes Kriterium. Die schöne Vorstellung einer zukünftigen grün-linken Welt, in der man die Höhe dieser Sätze sozusagen aus der Mitte der Einkommen ermittelt, bringt mich zu der Frage, warum Sie nicht fordern, dass man die höchsten Einkommen zugrunde legt. ({7}) Ich gebe denjenigen recht – ich glaube, Kollege Vogel hat die Frage gestellt –, die fragen: Wer soll das bezahlen? Insofern ist unser Sozialstaatsgebot schon richtig. Zuerst ist jeder selbst für sein Glück verantwortlich. Er ist gefordert, zumutbare Arbeit anzunehmen. Hier haben wir die richtigen Instrumente bereitgestellt. So werden wir Hartz IV im besten Sinne überwinden. Dafür werden wir auch weiterhin arbeiten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10621 und 19/10619 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz haben wir ein Gesetz, das zwar keinen schönen Namen, aber einen schönen Inhalt hat, ({0}) und darauf kommt es ja auch an. Mit dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz gehen wir heute der Frage nach: Wie gehen wir mit denjenigen um, die zu uns gekommen sind, die sich hier einbringen wollen, die auf eigenen Beinen stehen wollen, die die hiesige Sprache lernen wollen, die ihre Ausbildung hier machen wollen, die sich hier qualifizieren wollen? Wir eröffnen frühzeitig und umfassend Zugänge, insbesondere für Gestattete, zur assistierten Ausbildung, zu ausbildungsbegleitenden Hilfen und zu berufsvorbereitenden Maßnahmen. Das ist gut, richtig und wichtig. ({1}) Genauso richtig und wichtig ist es, dass wir mit diesem Gesetz die Sprachförderung frühzeitig einleiten und damit auch einen Systemwechsel durchführen; denn künftig stehen die Integrations- und die Sprachkurse allen arbeitsmarktnahen Gestatteten offen, und zwar nach drei Monaten. ({2}) Denn um miteinander auszukommen, muss man sich verstehen können, und um sich gegenseitig verstehen zu können, muss man sich erst einmal verständigen können. Es ist gut, dass dafür möglichst früh und umfassend Zugänge geschaffen werden, die es ermöglichen, nicht nur ein gutes Miteinander, sondern auch eine gute Integration in Gesellschaft und Arbeit voranzutreiben. ({3}) Außerdem ist es für die Wirtschaft wichtig. Wir wissen, dass die Wirtschaft Arbeitszugänge für Auszubildende benötigt und dass Sprache eine ganz zentrale Herausforderung ist, um hier gut standzuhalten. Auch deshalb ist es gut und richtig, dass wir mit den Zugängen, die wir jetzt auch für Gestattete ermöglichen, der Wirtschaft signalisieren: Hier bauen wir gemeinsam ein System der Unterstützung auf, um auch dafür zu sorgen, dass weniger Ausbildungen abgebrochen werden; vielmehr wollen wir die Menschen professionell begleiten, vorbereiten, und wir wollen mit Maßnahmen gute Unterstützung bieten. ({4}) Es ist für uns alle ein Gewinn; denn es ist in unserem ureigenen Interesse, dass wir für die Bereiche, für die wir so dringend Fachkräfte und Auszubildende suchen – wie bei den Köchen, bei den Handwerkern, bei den Pflegern, bei den Erziehern, wo auch immer –, mit unserer Eröffnung von schnellen Zugängen gute Möglichkeiten schaffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Tack, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Polat?

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Ich mache jetzt weiter, sonst sind Sie die Nächste, die mir am Schluss Redezeit wegnimmt. Deswegen führe ich das jetzt lieber zu Ende aus. Für uns ist auch zentral, dass wir – auch deshalb ist es gut, dass wir heute über die Gesetze reden – all diese Maßnahmen und die Zugänge bereits zum 1. August dieses Jahres in Kraft setzen. Wir organisieren mit den Förderinstrumenten und Fördermöglichkeiten schon für die Ausbildung in diesem Jahr eine gute und hilfreiche Unterstützung. Auch deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute dieses Gesetz verabschieden und es zum 1. August in Kraft treten lassen, sodass es kurzzeitig gute Unterstützung für all diejenigen gibt, die sie brauchen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Sebastian Münzenmaier für die AfD-Fraktion. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie verzweifelt müssen Sie eigentlich sein: Katastrophale Wahlergebnisse und Panik in der Koalition führen wieder mal zu wildem Aktionismus. Ein Beispiel ist dieses Maßnahmenbündel, das wir jetzt innerhalb kürzester Zeit hier noch durchpeitschen und worüber wir gerade sprechen. Bei der SPD wundert mich das alles schon lange nicht mehr – ihr Untergang ist vorbestimmt –; aber dass sich auch noch die CDU/CSU dazu hergibt, dass sie nach den katastrophalen Auswirkungen der Flüchtlingskrise hier schon wieder neue Anreize setzt, neue Pull-Faktoren schafft, das verstehe ich nicht; das ist für mich unverständlich. ({0}) Es ist doch absolut klar und nachvollziehbar, dass sich weltweit Menschen auf der Flucht Gedanken darüber machen, wo sie das meiste Geld und eine Bleibeperspektive für sich und für ihre Familie sehen. Sie sorgen mit diesen Gesetzen wieder mal dafür, dass Deutschland weiterhin das Sehnsuchtsland Nummer eins auf der Welt ist. ({1}) Schauen wir uns Ihre Maßnahmen im Einzelnen an. Sie wollen für Geduldete und Gestattete eine Förderlücke schließen, die für diese Personen während einer Berufsausbildung oder eines Studiums auftreten könnte. ({2}) Gestattete sind Menschen, die sich in einem laufenden Asylverfahren mit ungewissem Ausgang befinden, und Geduldete sind ausreisepflichtige Ausländer, die folglich überhaupt nicht hier sein dürften. Sie führen das komplette Asylsystem ad absurdum, wenn Sie nicht mehr nur Schutz für politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge versprechen, sondern jetzt auch schon abgelehnte Asylbewerber möglichst rasch in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren wollen. Wir als AfD-Fraktion lehnen diese unsägliche Vermischung von Asylpolitik und Arbeitsmigration ab. ({3}) Sie fabulieren dann ja grundsätzlich vom Fachkräftemangel, den Sie am liebsten mit Ihren ganzen ausreisepflichtigen Ausländern irgendwie lösen würden. Aber Sie haben es immer noch nicht verstanden: Zu uns kommen ja kaum Fachkräfte, zu uns kommen kaum Ingenieure oder Ärzte. Zu uns kommen überwiegend Analphabeten oder Messerstecher. ({4}) Diese sogenannten Fachkräfte, die damals in der Silvesternacht in Köln Frauen begrapscht haben, das waren keine Gynäkologen, meine Damen und Herren, sondern das waren kriminelle Ausländer, und die müssen abgeschoben werden. ({5}) Sie als SPD sollten doch eigentlich wissen, dass die Menschen, die hierherkommen und dann von Ihnen in den Arbeitsmarkt integriert werden, eigentlich keine hochqualifizierten Jobs bekommen. ({6}) Die einzig mögliche Folge einer Massenmigration in den Arbeitsmarkt – – ({7}) – Schreien Sie doch mal nicht so rum. – Können Sie für ein bisschen Ruhe sorgen bei diesem Kindergarten hier? ({8}) Die einzig mögliche Folge einer Massenmigration in den Arbeitsmarkt sind Lohndumping und eine enorme Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse. Das, meine Damen und Herren, ist nicht im Sinne des deutschen Arbeitnehmers und wird von uns abgelehnt. ({9}) Im gleichen Atemzug, in dem Sie in diesem Maßnahmenbündel Asyl-, Migrations-, Arbeitspolitik und Steuergeldverschwendung durcheinanderschmeißen, verabschieden wir heute das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das diesem Maßnahmenbündel diametral entgegensteht. Einerseits öffnen Sie dort alle Schleusen und wollen Ungelernten – so viel übrigens zu Ihren Fachkräften – erlauben, für sechs Monate hierherzukommen, um sich eine Ausbildung zu suchen. Andererseits legen Sie hier immerhin noch zwei bis drei Hürden auf; das begrüße ich. Die Kommenden sollen nicht älter als 25 sein – meistens sind das unsere Goldstücke sowieso nicht, die sind ja minderjährig; das wissen wir –, ({10}) sollten einen adäquaten Schulabschluss haben, und sie müssen ihren Lebensunterhalt hier für sechs Monate selbst sichern. Das finden wir sehr gut. ({11}) Aber erklären Sie mir bitte mal, wieso ein junger Mann aus Somalia, der für sechs Monate hierherkommt, sein Geld mitbringen sollte, wenn er weiß, er kann genauso gut einfach „Asyl“ schreien, nachdem er vom Sea-Watch-Kapitän oder von anderen Schleppern hierhergeschleppt wurde. ({12}) Dann muss er nämlich seinen Lebensunterhalt nicht mehr selbst finanzieren, sondern dann kommt der Steuerzahler für ihn auf. ({13}) Und Sie vergessen etwas Grundsätzliches: Während Sie Hunderttausende unqualifizierte Menschen hier reinholen, verlassen wahre Fachkräfte Deutschland. ({14}) Allein im Jahr 2017 verließen laut Statistischem Bundesamt über 250 000 Menschen Deutschland. ({15}) Laut dem Institut zur Zukunft der Arbeit handelt es sich hier bei über 70 Prozent der Auswanderer um hochqualifizierte Menschen überwiegend zwischen 25 und 30. Diese Menschen haben schlicht und ergreifend keine Lust mehr, mit ihren viel zu hohen Steuern die irrsinnigen Träumereien der rot-grünen Ideologen zu finanzieren. Wir sollten uns darum kümmern, dass wir diese Fachkräfte bei uns im Land halten, meine Damen und Herren. ({16}) Fassen wir zusammen: Ihr Maßnahmenbündel sorgt für neue Anreize, für neue Pull-Faktoren und wird die Migration wieder anheizen. Sie konterkarieren das eigene Fachkräfteeinwanderungsgesetz und vermischen schon wieder Asyl und Arbeitsmigration. ({17}) Sie wollen jetzt auch noch das Taschengeld für Asylbewerber auf 150 Euro erhöhen, ({18}) anstatt endlich mal auf Sachleistungen zu setzen. Wir als AfD-Fraktion stehen für eine klare Neuordnung der Migrationspolitik mit einem Schwerpunkt auf Abschiebungen, wir wollen den deutschen Arbeitsmarkt vor Lohndumping und prekären Arbeitsverhältnissen schützen, und wir möchten das Geld unserer Steuerzahler in erster Linie für unser eigenes Volk ausgeben. ({19}) Ihre ganzen Anträge, Maßnahmen und Gesetzentwürfe lehnen wir ab. Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Staatsministerin Annette ­Widmann-Mauz. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Gast)

Politiker ID: 11003259

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir können Integration, und im Unterschied zu Ihnen wollen wir Integration. ({0}) Das hat der gestrige Tag mit den Entscheidungen zwischen dem Bund und den Ländern zur Fortsetzung der Finanzierung der Flüchtlingskosten gezeigt, und auch heute gehen wir mit der Verabschiedung des Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetzes einen großen Schritt in die richtige Richtung. ({1}) Wir gehen einen notwendigen Schritt, weil wir mit den Fehlern der Vergangenheit aufräumen, und wir gehen einen sinnvollen Schritt, weil wir auf Integration von Anfang an setzen. Eingewanderte und Geflüchtete sollen ihre Potenziale besser und zügiger einbringen. Das fördern wir, aber das fordern wir auch ein. Beides ist im Interesse unseres Landes. ({2}) Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen mehr Integration. Vier Punkte stehen dafür: Erstens. Wir öffnen die Integrationskurse für mehr Asylbewerber, die vor dem 1. August dieses Jahres nach Deutschland gekommen sind. Denn wer hier lebt, soll deutsch sprechen und unsere Werteordnung verstehen. Darum ist der Kursbesuch unabhängig von der Bleibeperspektive schon nach drei Monaten Aufenthalt möglich, vor allen Dingen auch für Eltern, besonders für Mütter mit kleinen Kindern, die wegen familiärer Verpflichtungen als nicht arbeitsmarktnah gelten. Für diese Klarstellung im parlamentarischen Verfahren bin ich den Koalitionsfraktionen ausdrücklich sehr dankbar. Zum Zweiten. Mehr Menschen, die hier geduldet sind, erhalten nach sechs Monaten Zugang zu berufsbezogenen Sprachkursen. Das ist ein klarer und vernünftiger Schritt in Richtung Arbeitsmarktintegration. Zum Dritten. Wir unterstützen junge Geflüchtete vor und während der Ausbildung mit schnellerem Zugang zu berufsvorbereitenden Maßnahmen und Maßnahmen zur Ausbildungsvorbereitung und indem wir die Förderlücke bei der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Asylbewerberleistungsgesetz schließen. Viertens. Wir öffnen die ausbildungsbegleitenden Hilfen auch für EU-Bürgerinnen und -Bürger. Das stärkt die europäische Mobilität und die europäische Freizügigkeit. Als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle noch mehr Mut gewünscht. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Richtung stimmt. Mit dem Gesetz handeln wir nämlich pragmatisch, ohne Fehlanreize zu setzen; denn dieses Migrationspaket der Koalition setzt klare Zeichen: Diejenigen, die keinen Schutzanspruch haben, müssen unser Land zügig verlassen. Aber diejenigen, die Schutz benötigen, brauchen auch Integration. Zu diesem integrationspolitischen Pragmatismus gehört auch: Wer sich anstrengt, unsere Sprache lernt, in Lohn und Brot steht, wer seine Identität offenlegt, seinen Lebensunterhalt selbst verdient und sich gesetzestreu verhält, der verdient auch eine faire Bleibeperspektive. Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit; das ist auch ein Gebot der Wirtschaftlichkeit. ({3}) Dafür haben sich viele eingesetzt: die Unternehmen, der Mittelstand, Kirchen, Sozialverbände und viele Ehrenamtliche, die sich vor Ort für Integration engagieren. Die neuen, verbesserten Regeln zur Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung sind deshalb auch ihr Verdienst. Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute schaltet Deutschlands Integrationsmotor in den nächsthöheren Gang, er nimmt weiter Fahrt auf. Unterstützen wir ihn dabei auch mit den vorliegenden Gesetzentwürfen! Bereits heute sind 375 000 Personen aus den Hauptasylherkunftsstaaten in Arbeit, die meisten sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Über 31 000 sind in Ausbildung. Insgesamt sind 4,7 Millionen Ausländer beschäftigt. Auch sie backen unsere Brötchen, bauen Deutschlands Häuser und Straßen, pflegen unsere Angehörigen. Auch sie sind dringend benötigte Fachkräfte im Mittelstand und sichern das Qualitätssiegel „Made in Germany“ mit. Auch sie erwirtschaften die Renten von heute und morgen. Deshalb sind wir gut beraten und ist es in unserem ureigenen Interesse, mehr in Integration zu investieren. Das tun wir heute. Deshalb bitte auch ich Sie um Unterstützung. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal Kober das Wort. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, mit dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz ist Ihnen nicht nur ein langer Name mit 39 Zeichen gelungen, sondern Sie verbessern damit deutlich die Chancen der Menschen, die zu uns geflüchtet sind, im Übrigen auch vieler Unionsbürgerinnen und -bürger, sich hier zu integrieren und auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, indem Sie den Zugang zu Spracherwerb, aber auch zu Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik erleichtern. Das begrüßen wir ausdrücklich. Deshalb werden wir Ihrem Gesetzentwurf heute auch zustimmen. ({0}) Wir hätten uns sicherlich ehrgeizigere Schritte vorstellen können. Spracherwerb noch früher zu ermöglichen, wäre in unserem Sinne gewesen; denn Spracherwerb ist die Voraussetzung für Integration. Aber wir erkennen, dass Ihr Gesetzentwurf hier zu deutlichen Verbesserungen führt. Deshalb werden wir, wie gesagt, Ihrem Gesetzentwurf zustimmen, auch wenn wir uns ehrgeizigere Maßnahmen gewünscht hätten. Bei Ihrem zweiten Gesetzentwurf, dem Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes, werden wir uns allerdings enthalten. Auch da sind einige wichtige und richtige Punkte enthalten. Zugleich üben wir aber an einzelnen Punkten deutliche Kritik. So kürzen Sie beispielsweise die Leistungen für Asylbewerber in Sammelunterkünften mit der Behauptung, dass sie – vergleichbar zu Ehepaaren in Bedarfsgemeinschaften bei Hartz IV – eine gemeinsame Haushaltsführung haben. Sie unterstellen, dass die Menschen so eng zusammenleben wie Ehepartner und beispielsweise gemeinsam die Mahlzeiten einnehmen und entsprechend gemeinsam einkaufen. Ob das wirklich der Realität entspricht, ziehen wir in Zweifel. Es ist für uns fraglich, ob wir die Menschen wirklich so behandeln sollten. Vollkommen unklar ist auch, warum Sie bei Asylbewerbern, die in eigenen Wohnungen leben, die Stromkosten aus dem Regelsatz herausrechnen, um sie dann auf Antrag wieder zu erstatten. Das ist unnötige Bürokratie. Es ist vollkommen unnötig, das so zu regeln. Es wäre viel leichter, es ebenso zu machen wie bei den Regelsätzen nach Hartz IV, sie also in den Regelsatz schon einzurechnen. ({1}) Ganz und gar unverständlich ist für uns auch, dass die Leistungen für Bildung von Ihnen im Asylbewerberleistungsgesetz gekürzt werden sollen. Das ist kurzsichtig gedacht. Bildung ist für eine gelingende Integration von ganz zentraler Bedeutung. Der Zugang zu Bildung ist eine wichtige Voraussetzung zur Integration. Dass Sie ausgerechnet da kürzen, ist für uns völlig unverständlich. Ich fürchte, das wird sich langfristig rächen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, wir freuen uns ausdrücklich, dass die sogenannte Förderlücke nun endlich geschlossen wird. Wir freuen uns, dass der Lebensunterhalt von Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden, gesichert ist, wenn sie eine Ausbildung machen. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, dass Sie dafür über ein Jahr gebraucht haben und die Anträge der FDP, aber auch der Grünen über ein Jahr mit allen Tricks der Geschäftsordnung nach hinten geschoben haben, ist nicht in Ordnung. Da haben Menschen Lebenszeit verloren; sie haben Chancen verloren, durch Ausbildung voranzukommen. Menschen haben ein Jahr lang umsonst gewartet. Das ist vollkommen unnötig gewesen. Sie hätten das auf der Grundlage unserer Anträge schon früher lösen können und müssen. Das ist nun wirklich kein Ausweis von guter Regierungspolitik. ({2}) Ich hoffe, dass Sie hier in Zukunft besser werden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt: Dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz werden wir zustimmen. Ihren Veränderungen im Asylbewerberleistungsgesetz werden wir nicht zustimmen; da werden wir uns enthalten. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegen Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über mehrere Gesetzentwürfe, unter anderem den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes, der als sogenannter Beitrag zur Integration geflüchteter Menschen dienen soll, aber neben geringen Verbesserungen erhebliche Einschränkungen mit sich bringt. Es ist zynisch, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012 zitieren; denn Sie haben offensichtlich nicht verstanden, was das höchste Gericht dieses Landes damit sagen wollte. Die in Artikel 1 Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren. ({0}) Das bedeutet auch, dass eine weitere Kürzung für Leistungsempfängerinnen und -empfänger nicht hinnehmbar ist. Dennoch steht es so in Ihrem Gesetzentwurf. ({1}) Sie schlagen unter anderem eine 10-prozentige Leistungskürzung bei Bewohnern in Gemeinschaftsunterkünften vor, nur weil Menschen da zusammenwohnen. Diese Zwangsverpartnerung von Menschen, die sich nicht einmal kennen, ist schlichtweg untragbar. Oder finden Sie es gut, mit Ihrem Nachbarn Ihr Duschgel zu teilen? ({2}) Sie sollten sich schämen, dass Sie denjenigen, die sowieso wenig bis gar keine Ressourcen haben und hierherkommen, um endlich in Würde und Schutz zu leben, auch noch das letzte Hemd wegnehmen. Auch die SPD-Abgeordnete Daniela Kolbe sprach in der ersten Lesung dieses Gesetzes davon, dass die Begründung an den Haaren herbeigezogen sei. Das sei aber einem politischen Kompromiss geschuldet – einem Kompromiss auf Kosten von Grund- und Menschenrechten. Dazu sagen wir Nein, liebe SPD. ({3}) Das sagen wir auch zu dem gesamten migrationspolitischen Paket, das Sie hier durchpeitschen wollen. Was wir diese Woche erlebt haben, entbehrt aller Grundsätze einer parlamentarischen Demokratie. Wo bleiben eigentlich die Turbopakete der Großen Koalition zur Wohnungs-, Renten- und Umweltpolitik? Wo bleibt da das schnelle Durchpeitschen? Da brauchen wir schnelle und gute Lösungen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fordern die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Für Schutzsuchende sollten die gleichen Regelungen gelten wie für alle anderen Menschen in unserer Gesellschaft. Wir wollen deshalb eine Überführung in das allgemeine System der sozialen Sicherung nach den Sozialgesetzbüchern. ({5}) Herr Heinrich von der CDU hat in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs sogar eingeräumt, dass es der CDU hier darum geht, nicht noch mehr Anreize zu schaffen. Das ist einfach perfide. ({6}) Hier hat sich das Bundesverfassungsgericht ganz klar positioniert. Ich zitiere – vielleicht hören Sie ja auch zu –: Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Aber genau das passiert mit diesem Gesetz. Damit widersprechen Sie ganz klar dem Bundesverfassungsgericht. ({7}) In Bezug auf Anreize möchte ich hier wiederholen, was Experten in der Anhörung am Montag dieser Woche gesagt haben: Es gibt keine Empirie dazu, dass Menschen aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nach Deutschland kommen. – Ihre Begründung mit den Pull-Faktoren können Sie sich sparen; das ist einfach untragbar. Die Linke trägt diesen Verfassungsbruch der GroKo nicht mit. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Filiz Polat. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 25 Jahren wird um eine menschenwürdige Existenzsicherung gekämpft. Seit 1993 existiert mit dem Asylbewerberleistungsgesetz in Deutschland ein Sonderleistungssystem, dessen krasse Ungerechtigkeiten bis heute bestehen. Das von der Union so verteidigte Asylbewerberleistungsgesetz macht Geflüchtete – das ist leider so – zu Menschen zweiter Klasse. Dies betrifft Menschen, die noch auf ihre Anerkennung als Asylberechtigte warten; aber es betrifft auch Menschen, die bereits einen Aufenthaltstitel besitzen. Die Auswirkungen der Diskriminierung sind gravierend und beeinträchtigen die Betroffenen nachhaltig, insbesondere was den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung betrifft. Fakt ist, dass das menschenwürdige Existenzminimum immer das Gleiche ist, egal ob es sich um Deutsche, Ausländerinnen und Ausländer, Flüchtlinge oder wen auch immer handelt. ({0}) Ihr Gesetzesvorhaben wirkt wie ein kaum verhüllter Angriff auf das Bundesverfassungsgericht, das dieses Asylbewerberleistungsgesetz am 18. Juli 2012 in seinem Grundsatzurteil für verfassungswidrig erklärt hat. Der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, hielt der Regierung damals treffend entgegen – ich zitiere –: Ein bisschen Hunger, dann gehen die schon, das kann doch nicht sein! Recht hat er, meine Damen und Herren. ({1}) Diese Entscheidung ist heute so aktuell wie damals. Der Grundsatz der Nichtrelativierbarkeit der Menschenwürde muss auch heute uneingeschränkt in vielen anderen flüchtlingsrechtlichen Fragen gelten. Und dieser Grundgedanke gebietet uns, diese Novelle abzulehnen, meine Damen und Herren. ({2}) Heute wurde wieder deutlich: Ihnen geht es in erster Linie um den Bundeshaushalt statt um die Herstellung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Das halten wir für zynisch. Sie agieren hier nämlich mit einem perfiden Trick – die Kollegin hat es gesagt –: Alleinstehende Leistungsberechtigte in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften werden zu einer erfundenen Schicksalsgemeinschaft konstruiert, um die Leistungen signifikant zu senken. Diese Art der Zwangsverpartnerung und die Vorstellung, auf diese Weise Einsparpotenziale zu schaffen – das haben die Wohlfahrtsverbände deutlich gemacht –, ist fern jeder Realität. ({3}) Selbst der Deutsche Landkreistag bezweifelte in der Anhörung am Montag, ob diese Praxis überhaupt rechtens ist. Im Sozialrecht kennen wir eine solche Schicksalsgemeinschaft nicht. Der Hinweis in der Gesetzesbegründung auf ein anderes Bundesverfassungsgerichtsurteil, das die Annahme einer Kostenersparnis legitimieren soll, ist irreführend, da sich das Urteil explizit auf Fallkonstellationen des gemeinschaftlichen Wohnens innerhalb einer Familie bezieht. Meine Damen und Herren, nicht zuletzt deswegen scheiterte der letzte Reformversuch 2016, der ähnliche Regelungen enthielt, an der Blockade der grün regierten Länder, und das finden wir gut. Da nützen auch die Verbesserungen im Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz nichts, Frau Tack. Auch wenn die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes, beispielsweise die Leistungen der Ausbildungsförderung im SGB III von ausländerrechtlichen Zugangsvoraussetzungen zu entkoppeln, zu begrüßen ist, werden viele Maßnahmen – das dürfen Sie nicht außer Acht lassen – beispielsweise durch die Ausweitung der Arbeitsverbote – das wird Realität sein; das werden Sie auch in Niedersachsen sehen – durch das Geordnete-Rückkehr-Gesetz konterkariert. Ohne das Recht, zu arbeiten, und mit der Einschränkung auf Menschen mit Bleibeperspektive bleibt auch die Ausweitung der Arbeitsförderung weitgehend wirkungslos. Gleiches gilt auch für die Teilnahme an einem Integrationskurs für Gestattete. Das ist zu begrüßen. Wir haben immer einen Zugang zu Integrationskursen und auch zu berufsbezogener Deutschsprachförderung nach drei Monaten gefordert. Aber was nützt es, wenn die Menschen 18 Monate in AnKER-Zentren sind? Das ist absolut realitätsfern, was Sie da umsetzen, und wird ins Leere laufen. ({4}) Die Regierung versucht, die Versorgung von Geflüchteten von einem Grundrecht zu einer Frage politischer Prioritäten zu degradieren. Das können wir nicht mittragen. Die einzige Reform, die das Asylbewerberleistungsgesetz wirklich benötigt, ist seine Abschaffung. Dafür wollen wir keine weiteren 25 Jahre warten.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir brauchen keine Sondersysteme. Die Menschenwürde gilt für alle. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Der nächste Redner ist der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, Zeit, die Kritik am Asylbewerberleistungsgesetz zurückzuweisen. Besonders beschämend war Ihr Beitrag, Herr Münzenmaier. Es ist wirklich unsäglich, dass Sie behaupten, dass hauptsächlich Analphabeten und Messerstecher nach Deutschland kommen. Was ist das eigentlich für eine Hetze? Dass Sie sich trauen, das hier zu sagen, ist wirklich unsäglich. ({0}) Es gibt keine Statistik, die das auch nur annähernd beweist. Im Übrigen sind Ihre Ausführungen auch unlogisch. Sie sagen, es kämen lauter Unausgebildete hierher, lehnen die Schließung der Förderlücke aber ab, mit der wir dafür sorgen wollen, dass Menschen, die keine Ausbildung haben, eine Ausbildung machen können. Das ist doch völlig absurd. ({1}) Das ist die Fortsetzung dessen, was Herr Springer im Ausschuss gesagt hat. Auf das Beispiel, das die Bundesregierung gebracht hat, nach dem hier jemand Koch werden könne, hat er gesagt: Wir können diese Leute nicht brauchen; das überfordert Deutschland. – Deutschland braucht aber Köche, Deutschland braucht Altenpfleger, Deutschland braucht Menschen mit ganz vielen anderen Berufen. Es ist gut, wenn Zuwanderer in diesen Berufen ausgebildet werden. Insofern ist die Schließung der Förderlücke völlig richtig. ({2}) Was mich auch sehr ärgert, ist, dass Sie konsequent bei einer Lüge bleiben. Es gibt kein Taschengeld im Asylbewerberleistungsgesetz. Es wird nicht richtiger, wenn Sie immer wieder das Gegenteil behaupten. ({3}) Aus Berechnungsgründen wird zwischen sogenannten Grundbedürfnissen, Kleidung und Ernährung, einerseits und dem persönlichen Grundbedarf unterschieden. Das ist aber kein Taschengeld. Meine Kinder bekommen Taschengeld; aber deren Grundbedürfnisse finanzieren wir außerhalb dessen. Diese müssen die Kinder nicht von ihrem Taschengeld finanzieren. Es ist völlig lebensfremd, was Sie sagen. ({4}) Insofern gibt es erst recht keine Erhöhung des Taschengeldes und auch keinen Pull-Faktor. Ich kann Sie nur bitten – Sie sollen ja anderer Meinung bleiben; das ist in einer pluralistischen Gesellschaft so –: Verdrehen Sie bitte nicht die Fakten! Das tut unserer Gesellschaft nicht gut. Das ist die Grundlage dessen, was wir gerade in Bezug auf Kassel sehen, die Grundlage für diese unfassbare Hetze und die unfassbare Freude im Netz an einem Mord. Die Grundlage dafür legen Sie mit diesen ausländerfeindlichen und falschen Behauptungen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lieber Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die Nachfrage erlauben. – Sie haben gerade meinen Kollegen Münzenmaier angegriffen, weil er gesagt hat, ({0}) dass die meisten Migranten, die herkommen, Analphabeten sind. ({1}) – Genau, Analphabeten oder Messerstecher, manchmal sogar in Personalunion; aber das müssen wir jetzt nicht ausdiskutieren. ({2}) Ich habe auf die Schnelle ein bisschen gegoogelt und möchte Ihnen etwas vorlesen, und zwar von der Deutschen Welle – ich hoffe, Sie halten das für eine glaubwürdige Quelle –: Asylbehörde BAMF besorgt über Zahl der Analphabeten unter den Flüchtlingen Trotz spezieller Förderung wird das Erlernen der deutschen Sprache nach einem Zeitungsbericht für viele Analphabeten unter den Flüchtlingen zum großen Integrationshindernis. … Nach BAMF-Angaben erreichen mehr als 80 Prozent dieser Flüchtlinge in Sprachkursen nicht das Sprachniveau B1, das Jobcenter und Arbeitsagenturen als Mindestanforderung für einen Helfer-Job oder eine Ausbildung bezeichnen. 80 Prozent! Halten Sie das nicht für eine Mehrheit? ({3})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist eine hübsche Verdrehung der Tatsachen. Erstens. Wer nicht deutsch spricht, ist deswegen ja kein Analphabet. Was ist das denn für eine Logik? ({0}) Zweitens. Wenn Sie sich die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit anschauen, dann werden Sie feststellen: Es ist uns gelungen, bereits weit mehr als 20 Prozent der Flüchtlinge in sozialversicherungspflichtige Jobs in Deutschland zu vermitteln. ({1}) Deswegen kann das, so wie es da steht, gar nicht stimmen. Die Deutsche Welle scheint irgendjemanden zitiert zu haben, den ich nicht kenne und den Sie jetzt auch nicht benannt haben. Insofern kann ich dazu nichts sagen. Aber die Behauptung, die Mehrheit der Flüchtlinge seien Analphabeten, ist nach Ihrem eigenen Beleg falsch. Schon gar nicht sind die Mehrheit der Flüchtlinge Messerstecher. Es ist wirklich unerhört, dass Sie Deutschland so verhetzen wollen. Die Folgen sieht man ja. ({2}) Ich würde allerdings auch gerne noch etwas zu der Kritik der Linken an der Bedarfsstufe 2 sagen. Dass Sie die falsch finden, ist ja in Ordnung. Aber dass Sie dafür gleich die Menschenwürde als Argument nennen, ist doch ziemlicher Blödsinn. Ich will Ihnen sagen: Ich komme nicht aus einer reichen Familie. Ich habe in einem staatlichen Studentenwohnheim gewohnt, bei dem ich mir die Mitstudenten auch nicht aussuchen konnte; aber selbstverständlich haben wir zusammen eingekauft. Wir waren auch nicht zwangsverpartnert; ich habe das nie als Zwangspartnerschaft empfunden. Aber natürlich kann man so Geld sparen, und das haben wir getan. ({3}) Deswegen ist Ihre Annahme, dass man in einer Sammelunterkunft niemanden finden kann, mit dem man zusammen Geld sparen kann, aus meiner Sicht vollständiger Unsinn. ({4}) Sie können ja dagegen sein; aber ich finde die Regelung sehr sachnah. Ich kann Ihnen sagen, dass ich in meiner Tätigkeit für eine Hilfsorganisation, für die ich seit 15 Jahren arbeite, auch international viele Flüchtlingsunterkünfte gesehen habe. Auch da ist es üblich, dass die Menschen sich gegenseitig helfen, auch indem sie gemeinsam Dinge einkaufen. Insofern finde ich das nicht lebensfremd. Das Wort „lebensfremd“ würde ich ja noch akzeptieren, aber nicht, dass es gleich um die Menschenwürde geht. Ich finde, Sie übertreiben ein bisschen und sorgen damit leider nicht für den Zusammenhalt in unserer Bevölkerung. ({5}) Abschließend kann ich sagen: Ich finde, diese Koalition sorgt sehr wohl für den Zusammenhalt in der Bevölkerung, und zwar gerade durch das Gesetzespaket, das wir heute hier behandeln. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Daniela Kolbe. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute zwei sehr gute Gesetze. Wir gehen weitere Schritte, um denjenigen jungen Menschen, die zu uns gekommen sind, die hier dauerhaft bleiben werden und die auch arbeiten dürfen, eine Ausbildung zu ermöglichen und sie dabei zu unterstützen. Sie werden einen deutlich besseren Zugang zu Sprache bekommen. In jedem Fall wird ihr ehrenamtliches Engagement in unserer Gesellschaft besser wertgeschätzt. Also: Rundum wirklich gute Gesetze! ({0}) Da heute mehrfach das Thema „Schnelligkeit des Gesetzgebungsverfahrens“ angesprochen worden ist, möchte ich sagen: An diesen beiden Gesetzen erkennt man, warum es durchaus sinnvoll ist, diese Gesetze jetzt zu beschließen. Das Leben da draußen geht weiter. Im August beginnt das neue Ausbildungsjahr. Wir und der Bundesrat entscheiden jetzt, ob die kommenden Azubis weiterhin von einer Förderlücke betroffen sind, ob es Zugang zu Sprachkursen gibt und ob es Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Ich finde es gut, dass heute über diese beiden Gesetze abgestimmt wird. Wenn ich auf das Asylbewerberleistungsgesetz und die Änderungen schaue, die wir vornehmen, dann finde ich, dass das in sich ein guter Kompromiss ist. Wir setzen das Urteil des Verfassungsgerichts um. Ja, wir ändern die Bedarfsstufen. Aber da bitte ich, noch einmal einen Blick in das Protokoll der Anhörung zu werfen. Dort steht eindeutig drin, dass wir uns im Rahmen dessen bewegen, was ein Gesetzgeber an Möglichkeiten hat. Es stecken aber noch zwei richtig tolle Sachen in diesem Dritten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Das ist einmal das Thema Anerkennung „Ehrenamtspauschale“. Für Asylbewerber, für Gestattete werden zukünftig bis zu 200 Euro, die sie sich im ehrenamtlichen Engagement dazuverdienen, zum Beispiel als Kursleiter im Fußball, anrechnungsfrei bleiben. Das ist die herzliche Einladung an die Gestatteten, an die Geduldeten: Kommt rein in die Gesellschaft! Wenn ihr hier seid, nutzt die Zeit sinnvoll. Trainiert junge Leute. Helft, diese Gesellschaft zu gestalten. – Ich denke, dass diese Einladung von vielen dankend angenommen werden wird. ({1}) Auch ganz wichtig: Wir schließen endlich die „Förderlücke“. Der Begriff Förderlücke klingt komisch. Ich will es deshalb einmal plastisch beschreiben: Ich kenne viele junge Afghanen – es sind gerade Afghanen –, die eine Ausbildung machen wollen, die in Sachsen Berufe erlernen, die sonst keiner machen will. Die wollen Bäcker werden, die wollen im Hotel arbeiten, die wollen in den Gaststätten arbeiten, die wollen Köche werden, also Berufe ergreifen, in denen es wirklich schwer ist, Azubis zu finden. Im Moment ist es so: Wenn das Verfahren sehr lange dauert, sie länger als 15 Monate im Land sind, dann bekommen sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz keine Leistungen mehr. Das heißt, sie sind auf ihre Ausbildungsvergütung angewiesen. Die reicht in diesen Berufen nicht zum Leben. Das bedeutet: Wir setzen einen totalen Fehlanreiz. Es wäre aus Sicht der Jugendlichen besser, zu Hause zu sitzen, Däumchen zu drehen oder Blödsinn zu machen, als eine Ausbildung zu beginnen. Liebe AfD, auch Ihre Wähler verstehen nicht, wieso junge Leute besser daran tun, zu Hause zu sitzen und Blödsinn zu machen. Wir ändern das jetzt. Wir wollen, dass es sich für die jungen Leute lohnt, eine Ausbildung zu machen. Deswegen streichen wir den Leistungsausschluss. Sie bekommen auch zukünftig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, und es wird sich für sie lohnen, eine Ausbildung zu beginnen. ({2}) Ich schaue noch einmal in Richtung Grüne und Linke. Wir begegnen uns ja nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat. ({3}) Dort wird sich die Frage stellen: Wird es zukünftig keine Förderlücke mehr geben, weil dieses Gesetz auch durch den Bundesrat geht, oder wird es sogar noch eine schärfere Förderlücke geben, weil im Bundesrat keine Zustimmung erfolgt? Da geht es um ganz konkrete Menschen im nächsten Ausbildungsjahr. Insofern kann ich nur an Sie appellieren, sich das noch einmal genau anzuschauen. In Gänze ist es ein guter Kompromiss. Insofern empfehle ich Ihnen von Herzen zweimal Zustimmung. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Marc Biadacz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Lieber Herr Kollege Biadacz, Sie haben das Wort. – Ich bitte um etwas Ruhe, damit der Kollege akustisch durchdringen kann.

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute schon viele Beiträge gehört. Wir haben über insgesamt sieben Migrationsgesetze beraten und werden jetzt auch das letzte Paket beschließen. Wir haben über Zuwanderung gesprochen. Wir haben über Ausreisepflicht gesprochen. Wir haben über Integration gesprochen, und wir haben auch über Abschiebungen gesprochen. Wir haben über Humanität gesprochen, und wir haben über Härte gesprochen. Aber wir haben heute auch über ein historisches Gesetz gesprochen, über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Das ist ein historischer Moment, weil wir das heute hier beschlossen haben. Ich glaube, darauf können wir in diesem Parlament stolz sein. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir steuern und ordnen Migration mit diesen sieben Gesetzen. Wir werden aber auch Menschen aus EU-Staaten und aus Drittstaaten bessere Möglichkeiten der Integration auf dem Arbeitsmarkt und des Spracherwerbs geben. Das ist auch wichtig; denn diese Menschen brauchen Unterstützung. Diese Menschen sollen ein Teil dieser Gesellschaft sein, auch wenn sie vielleicht unser Land wieder verlassen müssen. Aber wenn sie unser Land verlassen müssen, sehr geehrter Herr Münzenmaier, dann gehen sie vielleicht mit der deutschen Sprache nach Hause. Das ist keine Schande, sondern darauf kann man stolz sein. Die deutsche Sprache zu erlernen, ist etwas Gutes und Richtiges. Deswegen: Stellen Sie das bitte nicht in Abrede. ({1}) Herr Münzenmaier, wenn Sie von Pull-Effekten reden, muss ich sagen: Ich glaube nicht, dass irgendjemand nach Deutschland kommt, nur weil er hier die deutsche Sprache erlernen kann. ({2}) – Nein, nein. Sie sagen, dass die deutsche Sprache Pull-Effekte habe. Das haben Sie gesagt, Herr Münzenmaier. Entschuldigung, das ist völliger Quatsch. ({3}) Herr Münzenmaier, wenn Sie über Messermigration sprechen ({4}) – doch, das hat er gesagt –, dann möchte ich Sie bitten, diese sieben Migrationsgesetze, die wir heute hier beraten haben, in den Mittelpunkt zu stellen. Angesichts von Begriffen wie „Härte“ und „Humanität“ reden wir immer über Menschen. Ich möchte nicht, dass Sie über Messermigration bzw. Menschen mit Messern reden. Das hat nichts mit der Sache zu tun. ({5}) Ich danke dem Koalitionspartner. Ich weiß, das waren harte Verhandlungen, das waren gute Verhandlungen. Ich danke auch der Opposition, besonders Pascal Kober von der FDP, der gesagt hat, dass er dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz zustimmen wird. Es ist ein richtiges Signal, dass auch die Opposition hier mitstimmen kann. Meine Damen und Herren, es ist ein historischer Tag. Wir haben heute das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, und wir werden jetzt beim Thema Migration ordnen und steuern. Stimmen Sie bitte auch bei dieser namentlichen Abstimmung zu. Vielen Dank. Danke schön. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Marc Biadacz. – Der Kollege Münzenmaier hat um die Möglichkeit einer Kurzintervention gebeten. Bitte kurz. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident, dass Sie das zulassen. – Ich möchte noch mal ganz kurz Herrn Heilmann ansprechen. Herr Heilmann, Sie haben mir vorgeworfen, dass ich gesagt habe, es sei mehrheitlich von Analphabeten die Rede. Ich möchte gerne begründen, wie ich dazu komme.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, wenn Sie bitte zu dem letzten Redner Stellung nehmen.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Okay, auch der Redner hat mich darauf angesprochen. ({0}) Ich möchte Ihnen gerne erläutern, wie ich auf die Zahlen komme. ({1}) Es gibt eine Studie des Bildungsökonomen Ludger ­Wößmann. ({2}) – Entschuldigung, ich habe gedacht, Debatte bedeutet, dass man sich zuhört.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kollegen, hören Sie bitte kurz zu.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Genau. – Es gibt eine Studie des Bildungsökonomen Ludger Wößmann, der für die OECD die Schulbildung in über 81 Ländern untersucht hat, unter anderem in Syrien und in Albanien. Er spricht davon, dass 65 Prozent eines Altersjahrgangs in Syrien und 59 Prozent in Albanien – ich zitiere hier den Hamburger Universitätspräsidenten ­Lenzen, der das in einem Interview in der „Welt“ geäußert hat – „im Grunde Analphabeten“ sind. Auf diese Zahlen habe ich mich gestützt. Von daher kann ich nicht erkennen, dass die Aussage falsch gewesen sein soll. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Biadacz, möchten Sie darauf antworten? – Herr Biadacz möchte darauf nicht antworten. Dann schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10692, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/10053 und 19/10527 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das ist die Koalition sowie die FDP. Wer ist dagegen? – Die AfD. Enthaltungen? – Grüne und Linke. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Liebe Kollegen, darf ich davon ausgehen, dass alle, die an den Urnen stehen, dem Gesetzentwurf zustimmen? Sollte dies nicht der Fall sein, bitte ich Sie, sich zu setzen. – Also, dafür stimmen die SPD, die CDU/CSU, die FDP und einzelne Abgeordnete der AfD. ({0}) Wer stimmt dagegen? – Dagegen stimmt die AfD, Die Linke und ein Teil der SPD und der Union. Enthaltungen? – Das gleiche Bild. Auch da Enthaltungen auf beiden Seiten des Hauses und beim Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Zusatzpunkt 19 a. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10693, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/10052 und 19/10522 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? – AfD, Grüne und Linke. Enthaltungen? – Die FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentliche Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/10052 und 19/10522. Liebe Kollegen, ich frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Alle haben ihre Stimmkarten abgegeben. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung später bekannt. Zusatzpunkt 19 b. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 19/10693 fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/2691 mit dem Titel „Ausbildung und Studium für Asylbewerber ermöglichen – Förderlücke schließen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalition und die AfD. Gegenprobe! – FDP, Grüne und Linke. Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5070 mit dem Titel „Förderlücke für Geflüchtete im Sozialgesetzbuch schließen – Bildung und Integration stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das ist die Koalition sowie die AfD. Gegenprobe! – Die Grünen, FDP und Linke. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vergangenen Jahren sind die Einnahmen der Arbeitslosenversicherung ständig gestiegen. Lagen die Beitragseinnahmen im Jahr 2011 noch bei 25,4 Milliarden Euro, so betrugen sie im Jahr 2018 bereits 34,2 Milliarden Euro. Gleichzeitig konnten die ausgezahlten Versicherungsleistungen jedoch sinken. Die Kernaufgabe der Arbeitslosenversicherung, nämlich die Auszahlung von Arbeitslosengeld, hat dabei in den meisten Fällen erstaunlich konstante 13,7 Milliarden Euro ausgemacht, während andere Direktzahlungen, etwa für Kurzarbeitergeld, aufgrund der besseren konjunkturellen Lage deutlich gesunken sind. Das Ergebnis: Die Agentur für Arbeit konnte eine Rücklage ansammeln. Diese ist wichtig; die brauchen wir auch. Denn es kann in einem Konjunkturabschwung – wir haben es bei der Wirtschafts- und Finanzkrise gesehen – natürlich eine Situation eintreten, in der die Einnahmen aus den Beiträgen wegbrechen. Allerdings stellt sich die Frage, wie hoch diese Reserve sein soll. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Agentur für Arbeit hat selber festgestellt, dass eine vernünftige Größenordnung für eine solche Konjunkturreserve 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein sollte. Deshalb sagen wir: Sozialkassen sind keine Sparkassen. ({0}) Wir wollen eine dynamische Entlastung der Arbeitslosenversicherung und haben hierzu einen Gesetzentwurf eingebracht. Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung soll ab dem 1. Januar 2020 von aktuell 2,5 auf 2,2 Prozent gesenkt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere an dieser Stelle daran: Als wir zum ersten Mal Anfang vergangenen Jahres gefordert haben, die Beiträge abzusenken, wurde dies von den Parteien der Großen Koalition noch verneint; dies sei nicht möglich. Unser Gesetzentwurf wurde nach längerer Beratung im Ausschuss abgelehnt, um ihn am Ende dann doch umzusetzen. Das heißt, die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge ist möglich. Wir machen Ihnen heute ein Angebot, damit wir wegkommen von diskretionären Eingriffen in die Sozialversicherungen und eine dynamische Entlastung der Bürgerinnen und Bürger einführen, die diese 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts praktisch als Untergrenze ansieht. ({1}) Wir glauben, dass das ein vernünftiges Vorgehen ist, das dazu führt, dass an dieser Stelle die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet werden können. ({2}) Die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge kommt unteren Einkommen direkt zugute; sie ist aber auch für den Mittelstand geboten. Wir erwarten ja einen Konjunkturabschwung. Um den zu verhindern, müssen die Bürgerinnen und Bürger dringend von Bürokratie, Steuern, Abgaben und Beiträgen entlastet werden. Man sollte nicht warten, bis der Konjunkturabschwung kommt, sondern man sollte dem jetzt entschlossen entgegensteuern, indem eine Entlastung der Einkommen realisiert wird. Deshalb plädieren wir für unseren Gesetzentwurf. ({3}) Meine Damen und Herren, wer sich die aktuellen Vorschläge des Sozialministers, der heute nicht da sein kann, ({4}) anschaut, der stellt fest, dass die gutgefüllten Kassen der sozialen Sicherungssysteme dazu führen, dass Begehrlichkeiten geweckt werden. Das Unfugpotenzial steigt. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf hier einen Riegel vorschieben. Es ist einfach nicht in Ordnung, wenn etwa bei dem Versuch einer Finanzierung der Grundrente ohne Bedürfnisprüfung das Äquivalenzprinzip über einen schamlosen, dreisten Griff in die Sozialkassen, etwa bei der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung oder der gesetzlichen Krankenversicherung, ausgehöhlt wird, weil im Haushalt nicht mehr genug Geld ist. Wir sagen: Das darf nicht sein. Sozialversicherungsbeiträge gehören den Beitragszahlern; das ist das Solidaritätsprinzip. Wir wollen die Beitragszahler durch unseren Entwurf eines Gesetzes zur dynamischen Beitragssenkung hier entlasten. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Albert Weiler. ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Wertes Präsidium! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal möchte ich mich bei Michael Theurer bedanken, dass er das gute Wirtschaften der CDU/CSU und auch der SPD so gelobt hat. ({0}) Vor Pfingsten sollten wir doch vielleicht etwas unaufgeregter, als ich das in den vergangenen Reden gesehen habe, sein und uns einander eher lieben und nicht beschimpfen. ({1}) Die Erfolge der unionsgeführten Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik, die ich gerade angesprochen habe, sind der Grund dafür, dass wir heute überhaupt über Beitragsentlastungen in der Arbeitslosenversicherung diskutieren können. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch auf einem historisch niedrigen Stand, und die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bleibt rekordverdächtig. Dies zeigt, dass die Große Koalition durch eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik den richtigen Anreizen gefolgt ist und den Arbeitsmarkt nachhaltig gestärkt hat. Das ist wahrlich, lieber Michael, ein Riesenerfolg. Diese positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben bereits zu Beginn dieser Wahlperiode alle zum Anlass genommen, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entscheidend zu senken. Mit einer Absenkung auf 2,5 Prozent haben wir die Arbeitnehmer und Arbeitgeber bereits sehr entlastet. Wir sind aber noch einen Schritt weitergegangen, als im Koalitionsvertrag vorher festgelegt wurde. Die Beitragszahler werden damit um insgesamt rund 6 Milliarden Euro jährlich entlastet – ich wiederhole: 6 Milliarden Euro! Seit 2005 hat sich der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung demnach mehr als halbiert. Sie sehen: Wir stehen für eine konsequente Entlastung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Unsere deutsche Wirtschaft steht aber auch weiterhin vor großen Herausforderungen: Digitalisierung, Fachkräftemangel, Integration Geflüchteter und ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen sind wichtige Themen, die unsere Arbeitswelt grundlegend verändern werden. Aus diesem Grunde müssen wir kluge Maßnahmen verabschieden, um unseren Arbeitsmarkt zukunftsfest zu machen. Dazu haben wir schon viele wichtige Programme auf den Weg gebracht. Mit dem Teilhabechancengesetz schaffen wir eine Reintegration von Langzeitarbeitslosen durch einen Passiv-Aktiv-Transfer. Von der Förderung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ können Menschen profitieren, die viele Jahre keiner regelmäßigen Beschäftigung nachgegangen sind oder dies nicht konnten und den beruflichen Anschluss verpasst haben. Wir geben diese Menschen nicht auf. ({2}) – Danke schön. Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir ein Recht auf Weiterbildung festgeschrieben. Wir bauen damit die bestehenden Fördermöglichkeiten der Bundesagentur für Arbeit aus. Seit diesem Jahr kann ein Teil der Weiterbildungskosten in Unternehmen von der Bundesagentur übernommen werden. Außerdem verstärkt die BA ihre Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung. Die Rücklagen der Bundesagentur haben in der Vergangenheit sichergestellt, dass wir in Krisenzeiten durch das Kurzarbeitergeld Unsicherheiten auffangen konnten. Mit dem aufkommenden Strukturwechsel werden weiterhin Rücklagen notwendig sein, um bei einer Abschwächung der Konjunktur angemessen zu reagieren. Für diese und noch weitere zukünftige herausfordernde Maßnahmen benötigt die BA finanziellen Rückhalt. Experimente mit dem Beitragssatz halte ich für den falschen Weg. ({3}) Was wir brauchen, ist eine Beitragssicherheit für eine langfristige Finanzplanung. Wir können jederzeit per Gesetz auf konjunkturelle Schwankungen reagieren und den Beitragssatz im Parlament anpassen, was wir in dieser Legislaturperiode bereits konsequent gemacht haben. Aber ein Automatismus, wie er hier vorgeschlagen wird, nur um uns Parlamentariern Entscheidungen oder vielleicht auch Arbeit abzunehmen, halte ich für den falschen Weg. Aus diesem Grunde ist es die einzig richtige Entscheidung, eine dynamische Beitragsentlastung in der Arbeitslosenversicherung abzulehnen. Ich bitte, dem zu folgen. Als bekennender Christ wünsche ich Ihnen allen ein schönes Pfingstfest. Ein kleiner Tipp: Stellen Sie sich nicht unters Dach, wenn der Heilige Geist auf die Erde kommt. Vielen Dank. ({4})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es mit einem Standardentwurf der FDP zu tun, ({0}) der erst mal vordergründig das Richtige, die Entlastung der Arbeitnehmer, vorsieht. Aber es ist leider wirklich so: Sie weigern sich in Ihrem Gesetzentwurf, das Ganze zu Ende zu denken. Ich weiß nicht, ob das aus parteiinternen Tabus heraus passiert, aber dazu komme ich gleich noch. Die Einleitung des Gesetzentwurfs beginnt mit einer unzutreffenden Voraussetzung; denn bei der jetzigen katastrophalen Wirtschaftspolitik haben wir es definitiv nicht mit einer „robusten Konjunktur“, wie es im Gesetzentwurf heißt, zu tun, meine Damen und Herren. Wir kennen die Prognosen der fünf führenden Wirtschaftsinstitute in Deutschland, und die haben noch Ende letzten Jahres ein Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent für dieses Jahr prognostiziert und dieses jetzt auf 0,8 Prozent gesenkt. ({1}) Sein Armutszeugnis übergaben sie Herrn Wirtschaftsminister Altmaier am 4. April dieses Jahres. Die EU-Kommission wie auch die Bundesregierung haben die Prognosen nochmals gesenkt, auf 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Und auch das ist momentan fraglich. Was momentan noch läuft, ist definitiv die aufgrund staatlicher Beauftragung durch die gut 2 Millionen neu Hinzugekommener in diesem Land wachsende und definitiv heißlaufende Baukonjunktur, wobei wir uns darüber klar sind, dass hier für die eigene Bevölkerung, die nun auch schon sehr nach Wohnungen sucht – Sozialfälle, Obdachlose, auch alteingesessene deutsche Familien; über 1 Million Wohnungen fehlen –, nichts, auch kein Geld, da war. ({2}) Das ist auch Ihnen, meine lieben Damen und Herren von der FDP, nicht verborgen geblieben. Aber da sind Sie jetzt offensichtlich politisch korrekt mit der Regierung dabei. Richtig ist an Ihrem Gesetzentwurf, dass die allgemeine Rücklage im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit schon seit Ende letzten Jahres die Sicherheitsgrenzmarke von 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschritten hat. Der Ansatz, jetzt etwas zu tun, ist deswegen folgerichtig und gut. Wir wissen aber auch, dass die solide Haushaltslage der Bundesagentur für Arbeit nicht nur in Deutschland bemerkt wurde, sondern auch von den Eurokraten in Brüssel. Genau diese Eurokraten sehen darin, dass Deutschland oder genauer gesagt die Arbeitnehmer in Deutschland ihre Sache gut machen, die Möglichkeit, auf deutsche Rücklagen zuzugreifen. Verehrte Damen und Herren, liebe Kollegen von der FDP, Ihr Gesetzentwurf wird keinen Bestand haben, wenn auf Rücklagen der deutschen Arbeitnehmer durch eine europäische Arbeitsbehörde zugegriffen wird. Genauer gesagt: Die Rücklagen wären verloren, und Ihr Gesetzentwurf wäre Makulatur, wenn eine europäische Arbeitsversicherung dann Raum greifen würde und auf diese Rücklagen entsprechend zugreifen könnte. ({3}) Das ist genau der Punkt; denn auch hier würden wiederum deutsche Arbeitnehmer für die Südländer zahlen. Sofern Sie Ihrem eigenen Gesetzentwurf Glaubwürdigkeit schenken wollen: Bitte sprechen Sie sich für unsere Arbeitnehmer in Deutschland und gegen die Pläne der Eurokraten in Brüssel aus! ({4}) Das gilt im Übrigen auch nicht nur für die FDP, sondern definitiv auch für die Kollegen der Union und gerne auch der SPD. Denn der Zugriff auf unsere Kassen erfolgt aus Brüssel. ({5}) Auch Frau Merkel – wir hatten sie gestern im EU-Ausschuss zu Gast – hat gestern so nett gesagt und klargestellt, dass deutsche Gesetze schlichtweg egal sind – sogar unser Grundgesetz –, wenn, so Merkel, übergeordnete Vorlagen aus Brüssel kommen. So ist laut Frau Merkel Artikel 16a Absatz 2 Grundgesetz von Brüssel aufgehoben, ja gar irrelevant. Und unser deutsches Verfassungsgericht, gut besetzt mit subalternen Parteisoldaten, schweigt. ({6}) Auch so was würde dann Ihrem Gesetzentwurf, liebe Kollegen von der FDP, blühen. In Genf wurden erst vergangene Woche Dienstag bei der UN-Organization ILO – International Labour Organization, für Sie übersetzt: Internationale Arbeitsorganisation – auf einem Treffen von Regierungsvertretern des Globalen Forums für Migration und Entwicklung den Bürgern unserer Länder ganz klar Vorgaben gesetzt, wie man die Narrative, die Erzählungen und Bilder zur Migration, zu manipulieren gedenkt. ({7}) Offen wurde auf Regierungsebene Einflussnahme auf Medien, auf Erziehungs- und Bildungssysteme, auf Kulturschaffende diskutiert, meine Damen und Herren. Und die Vertreter dieser Bundesregierung – die momentan nicht sehr zahlreich hier sind – waren nicht nur mit dabei, sondern sie haben auch den Vorsitz in diesem Gremium, in einer Troika gemeinsam mit Marokko und künftig auch mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. ({8}) Wenn wir also etwas für die Sicherung unserer solidarisch erwirtschafteten Rücklagen unserer Mitbürger tun wollen, dann müssen wir diese schützen, und zwar schützen gegen den Zugriff aus Brüssel genauso wie aus den UN-Organisationen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Rosemann das Wort. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach vier Minuten Unsinn zurück zum Thema. ({0}) Lieber Kollege Theurer, Beitragsentlastung hört sich ja erst mal gut an. Beschäftigte entlasten: Das könnte von der SPD sein. Aber hoppla, was ist denn Fakt? Wir haben schon gehandelt. Die Große Koalition hat schon gehandelt. Kollege Weiler hat darauf hingewiesen: Wir haben den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozentpunkte gesenkt, und zwar 0,4 Prozentpunkte per Gesetz und dann noch mal 0,1 Prozentpunkt per Verordnung. Wir haben gleichzeitig eine Mindestrücklage für die gesetzliche Arbeitslosenversicherung eingeführt. Damit machen wir den Beitrag dynamisch. Das alles machen wir mit dem Qualifizierungschancengesetz 2019. Ich habe Ihren Gesetzentwurf gelesen, Herr Theurer, und muss Ihnen von Schwabe zu Schwabe sagen: Wir haben eine Mindestrücklage eingeführt. Was Sie wollen, ist, die Mindestrücklage wieder abzuschaffen und eine Höchstrücklage einzuführen. Für einen Schwaben, der eigentlich etwas von solider Haushaltsführung verstehen sollte, ist das schon etwas merkwürdig. Und auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit: Wir wollen die Bundesagentur für Arbeit in jeder Hinsicht zukunftsfähig machen. Dazu gehört auch, dass wir verhindern, dass die Beiträge dann steigen, wenn es vielleicht mal in die Krise geht. ({1}) Vorsorge tut doch not, Herr Theurer. Vorsorge! Die sparsame schwäbische Hausfrau oder – wenn Sie das nicht kennen; Sie waren ja Kommunalpolitiker – der sparsame schwäbische Kommunalpolitiker sorgt in der Not vor. Zu der Zukunftsfähigkeit der Bundesagentur für Arbeit gehört auch, dass wir die Bundesagentur für Arbeit auf die zentralen Herausforderungen der Zukunft einstellen. Das heißt, dass wir Schutz und Chancen im Wandel gewährleisten, Schutz auch für Beschäftigte, die nur kurzfristig beschäftigt sind, zum Beispiel in Projektarbeit, die immer mehr zunimmt, dass wir verhindern, dass Arbeitslosigkeit überhaupt eintritt in einer Arbeitswelt, die sich immer schneller und immer stärker verändert, Stichwort „Digitalisierung und technologischer Wandel“. Der Schlüssel dazu – darin sind wir uns hoffentlich alle einig – ist doch Qualifizierung. Deshalb wollen wir die gesetzliche Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Deshalb wollen wir die Agentur für Arbeit zur Agentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln, und erste Schritte haben wir mit dem Qualifizierungschancengesetz gemacht, ({2}) indem wir die Weiterbildungsförderung für alle Beschäftigten geöffnet haben, unabhängig von Qualifizierung, Alter und Betriebsgröße, indem wir die Förderleistungen ausgebaut haben und Zuschüsse zu Weiterbildungskosten und zum Arbeitsentgelt zahlen. Damit wir die Weiterbildungsbedarfe rechtzeitig erkennen und wissen, wohin wir eigentlich qualifizieren müssen, haben wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsberatung geschaffen. All das muss auch solide finanziert werden. Auch das gehört zu einer nachhaltigen Politik für die Finanzierung der Sozialversicherung, meine Damen und Herren. ({3}) Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen diesen Weg weitergehen. Der nächste Schritt heißt für uns: Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Meine Damen und Herren, Beschäftigte bei Veränderungen begleiten und unterstützen, Beratung und Qualifizierung finanzieren, schnell und unbürokratisch unterstützen, der Sozialstaat als Partner: das ist die Philosophie, die uns leitet. Denn uns geht es darum, dass bei den Herausforderungen durch Digitalisierung, technologischen Wandel und Strukturwandel der Einzelne nicht alleingelassen wird, sondern dass wir diese Herausforderungen gemeinsam und solidarisch lösen, damit aus technologischem Fortschritt sozialer Fortschritt für alle wird. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Rosemann, jetzt sind Sie schon zum Ende gekommen. Der Kollege Theurer wollte nämlich eine Zwischenfrage stellen. – Aber dann kommen wir jetzt zum nächsten Redner. Das ist die Kollegin Sabine Zimmermann, Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Und täglich grüßt das Murmeltier – die FDP will wieder einmal die Sozialversicherungsbeiträge senken. ({0}) Es ist wie in dieser Filmkomödie von 1993: als wären wir in einer Zeitschleife gefangen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie sollten sich diesen Film doch wirklich einmal anschauen; denn im Gegensatz zu Ihnen lernt der Filmheld allmählich dazu. ({2}) Aber ich erkläre es Ihnen gern einmal: Sozialversicherungsbeiträge setzen sich aus dem Arbeitnehmeranteil und dem Arbeitgeberanteil zusammen. Der Arbeitgeberanteil ist Teil des Lohns. Wer davon redet, die Lohnnebenkosten zu senken, meint nichts anderes als die Senkung von Löhnen. ({3}) Das sollte er den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aber auch deutlich sagen. Und das trauen Sie sich eben nicht, Herr Theurer. Gerade das trauen Sie sich nicht. ({4}) Nun werden Sie sagen: Wir entlasten doch nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Arbeitnehmer. ({5}) Aber ist das wirklich so? Betrachten wir es als ein Tauschgeschäft: Wenn ich zum billigen Preis eine schlechtere Leistung bekomme, dann habe ich doch überhaupt nichts gewonnen. Gewonnen habe ich doch dann, wenn ich für einen kleinen Aufpreis eine deutlich bessere Leistung bekomme, vor allen Dingen, wenn ich von dem Aufpreis als Arbeitnehmer nur die Hälfte bezahlen muss. Das ist doch wohl logisch. Davon steht in Ihrem Antrag aber nichts. Deswegen ist Ihr Antrag nichts weiter als eine Mogelpackung. Da macht die Linke nicht mit. ({6}) Wir haben auch mit Nein gestimmt, als die Bundesregierung letztes Jahr den Arbeitslosenversicherungsbeitrag gesenkt hat. Wer 2 000 Euro brutto verdient, spart durch diese Absenkung 5 Euro im Monat; bei den Plänen der FDP kommen vielleicht einige Cent dazu. Sie verschweigen aber – und das ist doch das Wichtige –, was Sie den Beschäftigten dadurch verweigern: einen längeren Bezug des Arbeitslosengeldes, mehr Qualifizierung, bessere Leistungen, eine Arbeitslosenversicherung, auf die man sich verlassen kann. Das fordert die Linke schon seit Jahren. ({7}) Das ist doch ein Angebot für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. So günstig ist keine Versicherung der Welt, vor allem nicht für Menschen mit kleinem Einkommen. Deshalb heißt es ja auch Sozial-Versicherung. Aber Sie wollen der Sozialversicherung systematisch den Geldhahn zudrehen. „Privat vor Staat“, das ist Ihr Motto, koste es, was es wolle. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun! ({8}) Und ist der Sozialstaat erst ruiniert, dann kommen Sie mit privater Vorsorge. Das freut die Eigentümer von Banken und Versicherungen, aber sonst niemanden. Genau umgekehrt muss es sein: eine verlässliche Arbeitslosenversicherung zu stabilen Beiträgen. Das ist eine gute Arbeitsmarktpolitik. ({9}) Meine Damen und Herren der FDP, Sie brüsten sich – so wie vorhin wieder – immer mit Ihrer angeblichen Wirtschaftskompetenz. Dann müssten Sie wissen, dass auf jeden wirtschaftlichen Aufschwung ein Abschwung folgt. Alles deutet darauf hin, dass dieser Abschwung genau jetzt bevorsteht. Abschwung heißt aber auch eine höhere Erwerbslosigkeit. Und da wollen Sie der Bundesagentur für Arbeit die Rücklagen zusammenstreichen? Wie verrückt ist das denn? ({10}) Deswegen, vorausschauende Arbeitsmarktpolitik geht anders: Investieren, solange das Geld da ist, Rücklagen aufbauen, Leistungen verbessern, Menschen qualifizieren, dafür sorgen, dass alle Menschen gut durch die Krise kommen. Das ist das Konzept der Linken. Ich komme zum Schluss. Menschen, die befristete Verträge haben, Geringqualifizierte, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter und Menschen über 50, das sind die Ersten, die entlassen werden. Diese sind auf eine gute Arbeitslosenversicherung angewiesen. Darauf müssen sie vertrauen können. Danke schön. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen ist der nächste Redner der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der FDP ist kurzsichtig, ökonomisch problematisch und nicht zielgenau. Er ist kurzsichtig, weil er die Zukunftsherausforderungen überhaupt nicht in den Blick nimmt. Durch Digitalisierung, die ökologische Erneuerung der Wirtschaft und auch durch die demografische Entwicklung werden zahlreiche neue Arbeitsplätze entstehen, gleichzeitig werden zahlreiche alte Arbeitsplätze verschwinden. Das heißt, wir haben einen enorm großen Wandel vor uns. Bei diesem zukünftigen Wandel des Arbeitsmarktes wird die Bundesagentur für Arbeit eine zentrale Rolle spielen müssen. ({0}) Deswegen wollen wir Grüne die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln, die sich nicht nur um Arbeitslose kümmert, sondern auch um Erwerbstätige, um diesen Wandel zu begleiten. ({1}) Das wird auch Geld kosten, allein wegen des nötigen Umbaus der Bundesagentur für Arbeit. Deshalb ist es nicht sinnvoll, jetzt die Beiträge noch einmal stärker zu senken, wenn schon klar ist, dass in Zukunft die Arbeitslosenversicherung bzw. dann die Arbeitsversicherung mehr Einnahmen brauchen wird. Erst die Beiträge senken und sie dann später umso stärker zu erhöhen, ist ökonomisch schädlich. ({2}) Noch schlimmer aus ökonomischer Sicht ist der Vorschlag der FDP, dass die Rücklage der Arbeitslosenversicherung systematisch abgebaut werden soll. ({3}) Denken wir das einmal zu Ende. Wenn es, wie es in Ihrem Gesetzentwurf steht – der Kollege Rosemann hat schon darauf hingewiesen –, eine Obergrenze geben soll, über die die Rücklage nicht steigen darf, dann kann das im Zeitverlauf sukzessive dazu führen, dass sie absinkt und dass sie, wenn die Krise dann da ist, eben nicht ausreicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ökonomisch grob fahrlässig. ({4}) Die Rücklage muss erhalten bleiben. Das IAB sagt, dass die Rücklage ungefähr 0,65 Prozent des BIP betragen muss. Aber das ist nur eine ganz grobe Peilung, das kann auch weniger sein oder – je nach Stärke der Krise – auch mehr. Wenn man in den letzten IAB-Bericht sieht, dann kann man lesen, dass in der letzten Krise eine höhere Rücklage notwendig gewesen wäre. Das heißt, eine Absenkung macht auf gar keinen Fall Sinn. Die Rücklage muss also erhalten bleiben und nach grüner Vorstellung europäisiert werden in Form einer Rückversicherung der Arbeitslosenversicherung, um Krisen in der EU demnächst insgesamt besser gemeinsam abfedern zu können und die Ökonomie in der EU zu stabilisieren. Das wäre der richtige Weg. ({5}) – Nein, wir zahlen nicht dafür. Die Rücklage, die wir haben, wäre dann Teil dieser europäischen Arbeitslosenversicherung. Die anderen Länder müssten noch entsprechend nachliefern. Wir hätten insgesamt Vorteile davon, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({6}) Wenn man diese Punkte insgesamt betrachtet, dann stellt man fest, dass die FDP mit ihrem Gesetzentwurf eine Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahrhunderts vertritt. Wir brauchen aber eine Wirtschaftspolitik für das 21. Jahrhundert, zukunftsorientiert und europäisch. Schließlich wird der FDP-Gesetzentwurf auch noch damit begründet, dass Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen angeblich entlastet werden. Schauen wir uns das genauer an. Bei 2 000 Euro brutto bedeuten 0,3 Prozent weniger eine Entlastung – in dicken Anführungszeichen – von sage und schreibe 6 Euro, die dann auch noch auf Arbeitgeberin und Arbeitnehmer aufgeteilt werden. Das heißt, es bleiben 3 Euro für Arbeitgeber und Arbeitnehmerin. Das nennen Sie dann Entlastung. Sensationell! Die Entlastung aufgrund des Vorschlags der FDP ist also kaum spürbar. ({7}) Wir brauchen stattdessen eine deutliche und zielgenaue Entlastung, gerade bei den Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, wie das zum Beispiel Robert Habeck mit der Garantiesicherung vorgeschlagen hat. Dadurch würden untere und mittlere Einkommen spürbar entlastet. ({8}) Fazit. Eine Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, eine Beibehaltung und Europäisierung des Puffers gegen ökonomische Krisen und eine zielgenaue und spürbare Entlastung unterer Einkommen – das ist die Alternative zu dem Gesetzentwurf der FDP. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Torbjörn Kartes ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es so: Der Anlass zu dieser Debatte ist ein ausgesprochen positiver. Wir haben seit vielen Jahren eine herausragende wirtschaftliche Entwicklung, ein sehr hohes Beschäftigungsniveau und eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit. Darüber freuen wir uns sehr und in aller Demut; denn wir wissen: Ohne die vielen innovativen Unternehmerinnen und Unternehmer und die vielen fleißigen und sehr guten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland wäre das alles nicht möglich. Darauf sind wir sehr stolz. ({0}) Das ist im Übrigen die Grundlage dafür, dass wir Menschen und Unternehmen in dieser Legislaturperiode entlasten können. Trotzdem müssen wir zur Kenntnis nehmen: Es gibt deutliche Anzeichen, dass dieser positive Trend sich irgendwann auch einmal drehen könnte. Aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit deuten darauf hin, Wirtschaftsprognosen auch. Auch das von Ihnen zitierte und angeführte Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt – ich zitiere –: Die nächste Krise kommt bestimmt – früher oder später. – Da gilt es, politisch klug die Weichen zu stellen, und das gilt eben auch für die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und insbesondere für eine erforderliche Rücklage. Sie wollen nun – das haben Sie ja ausgeführt – die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung dynamisiert gestalten, sodass immer eine gewisse Rücklage vorhanden ist, die dann auch ausreichen soll, die nächste Wirtschaftskrise zu überstehen. Sie sagen, auf dieser Grundlage könnten Sie jetzt Beiträge senken und Bürgerinnen und Bürger entlasten. Was Sie aber verschweigen – das schreibt das IAB eben auch –, ist, dass Ihr Gesetz ganz schnell auch zu einem Bürgerbelastungsgesetz werden kann. Denn eine solche Rücklage – auch in dieser Höhe – wäre in einer nächsten Wirtschaftskrise sehr schnell aufgebraucht. Das IAB hat berechnet, dass die Rücklage dann sehr schnell wieder aufgefüllt werden müsste und mit erheblichen Beitragssteigerungen zu rechnen wäre. Ich glaube, dass es besser ist, wenn wir den Beitragssatz – so wie bisher auch – durch bewusste Entscheidungen steuern, uns vorausschauend an Prognosen orientieren und immer auch die Sozialabgaben insgesamt im Blick haben. In guten Zeiten müssen wir dann im Zweifel ein bisschen mehr ansparen, um besser auf Krisenzeiten vorbereitet zu sein. Sozialkassen sind zwar keine Sparkassen, aber sie haben durchaus Stabilisierungsfunktion, gerade in Krisenzeiten. ({1}) In einem sind wir uns allerdings einig: Wir müssen dringend die Menschen und die Unternehmen in diesem Land weiter entlasten, und das machen wir als Große Koalition. Wir haben dazu schon einiges auf den Weg gebracht. Ich kann Ihnen in der letzten Minute meiner Redezeit nicht mehr alles aufzählen, aber ein paar Dinge möchte ich kurz erwähnen: Wir haben das Kindergeld und den Kinderfreibetrag erhöht. Wir haben ein erfolgreiches Baukindergeld auf den Weg gebracht. Wir haben die Beitragsparität in der gesetzlichen Krankenversicherung hergestellt. Wir haben das BAföG erhöht. Wir haben bereits die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt, ({2}) und wir werden in dieser Legislaturperiode – zumindest für ganz viele Menschen – den Solidaritätszuschlag abschaffen. Darauf können wir auch stolz sein. Ich denke, das ist der richtige Weg, um die Menschen in diesem Land weiter zu entlasten. Die wirksamste Arbeitslosenversicherung ist im Übrigen, gute Wirtschaftspolitik zu machen. Ich kann Ihnen sagen – das wissen Sie auch –: Wir werden demnächst das dritte Bürokratieentlastungsgesetz vorlegen und so die Unternehmen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter substanziell entlasten. Das ist der richtige Weg für eine starke Wirtschaft, für sichere Jobs, aber eben auch für eine Vorsorge für Krisenzeiten. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Theurer, es ist wirklich selten, dass ich beim Lesen eines Antrags schon nach dem ersten Halbsatz eine Krise kriege. Aber Sie haben das geschafft. ({0}) Ihr erster Halbsatz lautet: „Angesichts der robusten Konjunktur“. Robuste Konjunktur? Ich frage Sie: Lesen Sie denn nicht mal eine Zeitung? Die „FAZ“ schrieb letzten Dienstag: „Die Börsen spielen Rezessionsgefahr“. Der „Focus“ schreibt: „Deutschland taumelt rapide in Richtung Rezession“. Das „manager magazin“ schreibt: „Das R-Wort ist wieder da“ und „Angst vor der nächsten Rezession“. Meine Damen und Herren, verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will eine Rezession nicht herbeireden. Aber der chinesisch-amerikanische Handelskrieg und die Auswirkungen des Brexit sind derzeit nicht kalkulierbar. Ich hoffe inständig, dass ein Konjunkturabschwung an uns vorbeigeht. Aber natürlich ist die Gefahr real. Und in einer solchen Situation wollen Sie die mühsam aufgebauten Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit abschmelzen. Mann, Mann, Mann! ({1}) Das kommt mir so vor wie ein Kapitän, der bei aufziehendem Orkan seine Rettungsringe verkauft, immer nach dem Motto: Wird schon irgendwie gut gehen. ({2}) Nein, meine Damen und Herren! Die Bundesagentur hat in der Tat eine erfreulich hohe Rücklage aufgebaut. Dafür hat sie nach der letzten Rezession aber auch zehn Jahre gebraucht. Sie hat damit genau das gemacht, was leider viel zu selten passiert: in guten Zeiten für schlechte vorzusorgen. Der Kollege Rosemann hat die schwäbische Hausfrau zitiert. Ich als Hamburger sage: Der Weltökonom Helmut Schmidt wird es von da oben mit Wohlwollen betrachten. ({3}) Keine andere Sozialversicherung ist so eng mit der gesamtwirtschaftlichen Lage verbunden wie die Arbeitslosenversicherung. In guten Zeiten hält man sie schnell für überflüssig. Aber wie wichtig sie ist, haben wir in der Wirtschaftskrise 2009 gesehen. Zu Beginn der Krise hatte die Bundesagentur für Arbeit eine Rücklage von knapp 18 Milliarden Euro. Am Ende der Krise hatte sie diese Rücklage komplett aufgebraucht und brauchte sogar noch einen Bundeszuschuss von 5 Milliarden Euro. 5 Milliarden Euro plus 18 Milliarden Euro ergibt 23 Milliarden Euro, also genau das, was die Bundesagentur derzeit an Rücklagen hat. Das soll auch so bleiben. Wir hoffen nicht, dass die Krise kommt. Aber wenn sie kommt, dann sind wir gut gerüstet, meine Damen und Herren. ({4}) Wenn die Krise kommt, zahlt die Bundesagentur mehr Arbeitslosengeld aus und stützt damit die Kaufkraft. Sie finanziert Kurzarbeit, um die Auswirkungen des Aufschwungs abzufedern und Menschen in Arbeit zu halten. Das kostet Geld, und das ist in schlechten Zeiten bekanntlich immer knapp. Dafür gibt es die Rücklage. Natürlich muss man die Rücklage nicht immer höher werden lassen und im Tresor horten. Wenn sie das erforderliche Maß übersteigt, dann können die Beiträge gesenkt werden. Und genau das haben wir zu Beginn des Jahres gemacht. Wir haben eine Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages um einen halben Prozentpunkt beschlossen; der Kollege Albert Weiler und der Kollege Rosemann haben darauf hingewiesen. Liebe FDP, Sie fordern eine automatische Rücklage von 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. ({5}) Wenn das Bruttoinlandsprodukt sinkt, soll also die Rücklage auch kleiner werden. Sie agieren damit völlig prozyklisch. Eine Rezession fällt ja meist nicht vom Himmel. Sie kündigt sich an. Vor der Krise sinkt das Inlandsprodukt allmählich, und in dieser Vorkrisenzeit würde man nach Ihrem Automatismus die Reserve reduzieren müssen. Sie wollen also direkt vor einer Rezession die Rücklagen mindern. Das ist das Falscheste, was man in einer solchen Situation machen kann. ({6}) Sie haben einmal gesagt: Lieber nicht regieren als schlecht regieren. – Nach Lektüre Ihres Antrages hat man fast den Eindruck, Sie setzen alles daran, dass dieses Land schlecht regiert wird. Aber ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag der FDP geben Sie uns heute die Möglichkeit, darzustellen, was die Bundesregierung, die Große Koalition, im letzten Jahr Positives für die Menschen in unserem Land erreicht hat. Es ist von meinen Vorrednern schon angesprochen worden: Seit dem 1. Januar beträgt der Beitragssatz bei der Arbeitslosenversicherung 2,5 Prozent. Das ist eine Senkung um 0,5 Prozentpunkte, die die Menschen, die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, um 6 Milliarden Euro entlastet. ({0}) – Das wollten wir, und das wollte vor allem die CSU, die dafür gekämpft hat, dass der Beitragssatz um 0,5 Prozentpunkte gesenkt wird. ({1}) Dazu brauchen wir auch nicht die FDP mit ihrer Bes­serwisserei. Dafür haben wir gekämpft, und wir haben es erreicht und jetzt zum 1. Januar umgesetzt. ({2}) Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist ein Verdienst der Großen Koalition, aber vor allem auch der CSU und unseres Landesgruppenvorsitzenden Alexander Dobrindt, der sich dafür eingesetzt hat, dass wir den Beitragssatz um 0,5 Prozentpunkte senken. ({3}) Mehr Netto vom Brutto – das ist ein ganz wesentlicher Aspekt von CSU-Politik und wird ein wichtiger Aspekt unserer Politik bleiben. ({4}) Deswegen ist es uns wichtig, dass wir bei den Sozialversicherungsbeiträgen unter 40 Prozent bleiben. Haben Sie mal überlegt, wie Ihr Automatismus funktionieren soll, damit man diese Grenze nicht überschreitet? Es gibt so viele Fragen bei Ihrem Vorschlag, die keine Beantwortung finden. Ihr Vorschlag ist deswegen abzulehnen. Meine Vorredner haben schon einige Punkte genannt; ich möchte weitere ergänzen: ({5}) Der Deutsche Bundestag, meine sehr geehrten Damen und Herren, nähme sich mit diesem Automatismus Gestaltungsspielraum. Es ist wichtig, dass wir uns parlamentarisch mit den Sozialversicherungsbeiträgen auseinandersetzen, damit die Menschen in unserem Land mitbekommen, wie wir uns um die einen oder anderen Themen und vor allem auch um das, was zu bezahlen ist, mühen. Ein Automatismus würde unserer Demokratie, unserer Meinungsbildung in diesem Hohen Hause nicht gerecht. Und: Ein Automatismus beschneidet die politische Handlungsfähigkeit, und die wirtschaftspolitische Herausforderung ist vor allem politisch zu beantworten. Ihr Vorschlag, meine sehr geehrten Damen und Herren der FDP, ist auch ökonomisch gesehen bedenklich. Konjunktur bewegt sich ja nach unten und nach oben. Nicht beantwortet ist, was bei einem konjunkturellen Abschwung passiert, wenn die Rücklage aufgebraucht ist, wenn man eine längere Rezession hat, wie es sich auf die Sozialversicherungsbeiträge auswirkt. All diese Fragen sind nicht beantwortet, vor allem dann nicht, wenn man eine antizyklische Wirtschaftspolitik machen sollte und sich Ihr Automatismus genau in die andere Richtung bewegt. Also, ein unausgegorener Vorschlag, meine sehr geehrten Damen und Herren der FDP, der vor allem Ihrer hohen Wirtschaftskompetenz entgegenspricht. Wir haben 2008 und 2009 eine Zeit erlebt, in der unser Land in einer wirtschaftlich schwierigen Lage war. In dieser Zeit hat die Bundesagentur für Arbeit sehr vorausschauend mit den Rücklagen gearbeitet und mit all den Maßnahmen, die Sie, Herr Theurer, angesprochen haben, sehr verantwortungsvoll konjunkturell schwierige Zeiten abgedämpft. Es war richtig und wichtig, dass wir diese Rücklage hatten und mit dieser Rücklage in unserem Land klug umgegangen sind. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind alles Aspekte, die heute wegen Ihres Antrags auf der Tagesordnung stehen. Aber wir könnten die Zeit auch sinnvoller nutzen. ({6}) – Wir haben unseren Vorschlag in Gesetzesform gegossen. Am 1. Januar haben wir um 6 Milliarden Euro entlastet, Herr Theurer. ({7}) – Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis, und geben Sie doch Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit: Wie gehen wir mit dem Thema Digitalisierung um? Wie gehen wir mit der neuen sozialen Marktwirtschaft um, den Herausforderungen, die im Zeitalter der Globalisierung auf uns zukommen? Meine Redezeit ist leider schon zu Ende. Deswegen wird eine Zwischenfrage wahrscheinlich auch nicht mehr zugelassen. ({8}) – Wir haben gesenkt. Wir haben am 1. Januar die Beiträge um 0,5 Prozentpunkte gesenkt. ({9}) – Wir könnten auch noch weiter senken, aber wir müssen auch alle anderen Aspekte im Auge behalten. ({10}) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Aumer. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10615 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. ({0}) Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Michael Meister (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002733

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hochschulen sind die tragende Säule unseres Wissenschaftssystems in Deutschland. Wir haben im Jahre 2006 in der damaligen Föderalismuskommission die Rahmenkompetenz, die die Bundesebene zur Regelung in diesem Bereich hatte, auf die Landesebene übertragen und damit die Möglichkeit verloren, über die Rahmengesetzgebung des Hochschulrahmengesetzes Regelungen inhaltlicher Art für unsere Hochschulen zu treffen. Heute ist es eine Aufgabe der Bundesländer, Regelungen für unsere Hochschulen aufzustellen. Die Länder tun dies, indem sie Hochschulautonomie gewähren, indem sie für Flexibilität und Freiheit an unseren Hochschulen in Deutschland sorgen. Die Bundesebene kann jenseits dieser Rahmenkompetenz versuchen, über Anreizsysteme unser Hochschulsystem in Deutschland zu stärken. Wir haben gerade gestern mit dem „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ und der Vereinbarung „Innovation in der Hochschullehre“ dafür gesorgt, dass die Qualität in der Lehre und die Qualität unserer Hochschulen in Deutschland dauerhaft und mit Planungssicherheit gestärkt werden. ({0}) Ich denke, dass sowohl die Ministerpräsidenten als auch die Bundeskanzlerin durch das Unterzeichnen dieser Vereinbarungen dafür gesorgt haben, dass unsere Hochschullandschaft dauerhaft international wettbewerbsfähig bleibt. Wir werden im nächsten Monat die Ergebnisse der Exzellenzstrategie erhalten. Bis zu elf Universitäten in Deutschland werden den Status „Exzellenzuniversität“ bekommen. Heute wurde im Bundesrat die BAföG-Novelle in zweiter Lesung verabschiedet, und damit werden Schülern, aber auch Studenten die Chance auf Teilhabe und Chancengerechtigkeit in der Hochschulbildung ermöglicht. ({1}) – Herr Gehring, warum sind Sie so ungeduldig? Sie werden doch auch noch reden können. ({2}) Es ist klar, dass Sie nicht verstehen wollen, dass diese Bundesregierung dafür sorgt, dass wir exzellente, international anerkannte Hochschulen haben. ({3}) Das mag Sie ja ärgern, aber ich glaube, es ist gut, wenn Sie es gelegentlich mal hören. Das Hochschulrahmengesetz existiert trotz der Föderalismusreform von 2006 fort. Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember 2017 beanstandet, wie die Studienplätze im Bereich Medizin vergeben werden. Es ist beanstandet worden, dass es eine unterschiedliche Notenvergabe in den einzelnen Bundesländern gibt, dass bezogen auf diese Notenvergabe ein Ausgleich fehlt und dass die Frage, wie Wartezeiten dort berücksichtigt werden, nicht der Verfassungslage entspricht. Deshalb gibt es Anpassungsbedarf: zum einen, verfassungswidrige Vorschriften aufzuheben, und zum anderen, die Zulassung zum Medizinstudium in Deutschland neu zu regeln. Zu dem ersten Aspekt kann die Bundesebene beitragen, indem sie verfassungswidrige Vorschriften aus dem jetzigen Hochschulrahmengesetz streicht. Genau das ist der Inhalt der achten Novelle des Hochschulrahmengesetzes: das Streichen dieser verfassungswidrigen Vorschriften. Die Länder werden in einem Staatsvertrag, den sie gemeinsam erarbeitet haben, bis zum 1. Dezember dieses Jahres die inhaltliche Frage regeln, nämlich wie die Zulassung zum Medizinstudium in Deutschland in Zukunft aussehen soll. An dieser Stelle können wir auf Bundesebene lediglich einen Beitrag dazu leisten, dass die Länder dies tun können, indem wir die verfassungswidrigen Teile des Hochschulrahmengesetzes entfernen. Wir können aber im Hochschulrahmengesetz nicht selbst inhaltlich regeln. Meine Bitte an Sie ist – mit der heutigen ersten Lesung beginnt das parlamentarische Verfahren –, dass wir diese parlamentarische Beratung auf der einen Seite zwar intensiv, aber auf der anderen Seite auch möglichst zügig durchführen. Denn wenn der Staatsvertrag ab 1. Dezember dieses Jahres Rechtssicherheit für die neue Zulassung zum Medizinstudium schaffen soll, dann darf es keine Zweifel daran geben, dass eine nachlaufende Änderung des Hochschulrahmengesetzes dies stört. Deshalb möchte ich Sie inständig bitten, dafür zu sorgen, dass die Gesetzesänderung vor Dezember dieses Jahres im Bundesgesetzblatt steht. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf konstruktive Beratungen in den Ausschüssen und hier im Parlament. Danke schön. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Für die AfD hat das Wort der Kollege Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Meister, ich muss Ihnen gleich zu Beginn widersprechen. Sie haben es so dargestellt, als hätte es keine Alternativen gegeben. Dann haben Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr oberflächlich gelesen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich freigestellt, dass der Bund in dieser Frage von seiner konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch macht. Davor haben Sie sich gedrückt; aber das verwundert mich wenig. Worum geht es? Jedes Jahr haben wir 40 000 Bewerber für das Studienfach Medizin, es gibt aber nur knapp 10 000 Plätze. Ein normal denkender Mensch würde sagen: Wie wählt man aus? Nach der Eignung. – Tatsächlich wurde in der Praxis und nach dem hier zur Debatte stehenden Hochschulrahmengesetz ein Teil der Bewerber nach dem Ortswunsch und der Wartezeit ausgewählt. Das ist absurd, meine Damen und Herren, und das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen diese Regelung zu Recht um die Ohren gehauen. ({0}) Dabei hätten Sie es eigentlich besser wissen müssen. Bereits 2004 musste unser höchstes Gericht Sie in ähnlicher Sache an die föderale Struktur unseres Staates erinnern und hat Ihre zentralstaatlichen Regelungsversuche für nichtig erklärt. Damals regierte die SPD mit den Grünen. Inzwischen wurden die Grünen durch die CDU ersetzt. Aber am Ende der Ära Merkel sind die Unterschiede hier nicht mehr so groß. ({1}) 2007 hat dann die Große Koalition in einem Anflug von Vernunft die Abschaffung des kompletten Hochschulrahmengesetzes beschlossen. Umgesetzt wurde diese Entscheidung jedoch interessanterweise bis heute nicht, und seitdem geistert das HRG als sogenannte konkurrierende Gesetzgebung des Bundes wie ein Scheintoter durch die Bildungsrepublik Deutschland. Meine Damen und Herren, sehen Sie doch endlich ein, dass in Bildungsfragen die Kompetenz bei den Ländern liegt, und zwar in der doppelten Bedeutung des Wortes: Die Länder sind zuständig, und sie können es offenbar auch besser; Ausnahmen bestätigen die Regel. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat Ihnen zwei Jahre Zeit eingeräumt, um den verfassungswidrigen Paragrafen zu bearbeiten. Kurz vor Ende dieser Frist legen Sie uns heute eine Regelung vor, die eine simple Streichung des strittigen Paragrafen beinhaltet. Warum streichen Sie dann nicht gleich das ganze Gesetz? Das wäre wenigstens konsequent gewesen. ({2}) Allen Unkenrufen zum Trotz haben die Länder in dieser Zeit einen ordentlichen Staatsvertrag auf den Weg gebracht, der die Bedeutung der Abiturnote stärkt und Eignungstests vorsieht. Wir als AfD-Fraktion begrüßen das ausdrücklich. Geht es nach dem Antrag der Linken, dann sollen Noten gar keine Rolle mehr spielen. Sie wollen das Los entscheiden lassen – eine Art Staatslotterie auf dem Rücken der Patienten. Da machen wir natürlich nicht mit. Sinnvoller ist das, was die FDP fordert. Sie konzentrieren sich auf die Kapazitätsverordnung. Wir haben bereits Ähnliches gefordert. Das unterstützen wir in der Sache. Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nichts anderes als eine Bankrotterklärung, aber er stärkt in der Folge die Länder. Wir als Partei des Grundgesetzes und Anwalt des Föderalismus ({3}) werden deshalb mit Vergnügen zustimmen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Dr. Wiebke Esdar. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um die erste Lesung zum Achten Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes. Warum geht es darum? Weil uns das Bundesverfassungsgericht aufgefordert hat, in puncto Chancengleichheit nachzubessern! Ich muss ganz ehrlich sagen: Das kommt uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr gelegen; denn das Thema Chancengleichheit ist für uns ein sehr wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Prinzip, nach dem wir das Bildungssystem ausrichten wollen. Heute geht es konkret darum: Wie organisieren wir, wer welchen Studienplatz an welcher Hochschule bekommt? Da auch der Zugang zu Bildung eine entscheidende Frage von Chancengleichheit ist, werden wir darüber, glaube ich, eine spannende Debatte im Ausschuss haben. Ich plädiere dafür, dass wir eine ehrliche Debatte führen, die nicht Luft- oder Traumschlösser aufbaut. Zum Antrag der Linken. Ich bin gespannt auf die Debatte im Ausschuss zu der Frage, wie realistisch das ist, was Sie vorschlagen, oder welche Verwerfungen im Hochschulsystem wir dann zu befürchten hätten. Wir können meines Erachtens perfekte Chancengleichheit nicht erreichen. Mit dem Versprechen sollten wir erst gar nicht aufwarten. Es muss darum gehen, die Kriterien zu finden, mit denen wir zu einer bestmöglichen Chancengleichheit kommen. In der bestehenden Praxis gibt es einige Kriterien, von denen keines perfekt ist, aber wir sollten die beste Kombination finden. Die Hochschulen stehen vor einer nicht leichten Herausforderung, wenn es darum geht, den Hochschulzugang zu organisieren; denn sie müssen die Bewerberinnen und Bewerber auswählen, die für ein Studium qualifiziert sind, und, wenn es mehr Bewerberinnen und Bewerber als Plätze gibt, auswählen, wer die beste Eignung, die beste Aussicht auf Erfolg hat. Dabei sollen sie so vorgehen, dass es keine Benachteiligungen gibt; das ist das Stichwort „Chancengleichheit“. ({0}) Wir wollen gleichzeitig die Qualität wahren. Dazu hat sich die AfD in einem Antrag versucht und das Thema Kapazitätsrecht aufgegriffen. ({1}) – Die FDP; danke für die Korrektur. ({2}) Aber dass in keinem Absatz auch nur einmal das Wort „Curricularnormwert“ genannt wird – also das Instrument, mit dem wir steuern können –, zeigt, dass bei der Analyse nicht zu Ende gedacht worden ist. Aber auch darüber werden wir im Ausschuss diskutieren. ({3}) Es liegen verschiedene Kriterien vor: die Abiturnote, bei Medizin gibt es einen zusätzlichen Auswahltest, den Test für medizinische Studiengänge. Zusätzliche Kriterien praktizieren auch die Hochschulen. Sie bedeuten aber immer zusätzlichen Aufwand. Wir werden Lösungen finden, bei denen der zusätzliche Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag, also zur Verbesserung der Chancengleichheit und der Prognose-, der Vorhersagevalidität, steht. Wir werden als Bund darauf achten, dass es am Ende keinen Flickenteppich gibt, sondern dass wir eine Lösung für alle 16 Bundesländer finden. Danke schön. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Jens Brandenburg hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfassungswidrige Paragrafen müssen gestrichen werden. Das ist klar, und dem stimmen wir natürlich gerne zu. Der eigentliche Reformbedarf beim Zulassungsrecht der Hochschulen ist aber weit größer als das, was Sie heute mit diesem kleinen Schritt reparieren wollen. Die Hochschule der Zukunft ist offen, digital und europäisch. Sie setzt auf die Qualität der Lehre und auf bessere Betreuungsverhältnisse. Sie investiert in moderne Lehrformate, und sie fokussiert sich nicht nur auf die akademische Erstausbildung, sondern schafft auch neue Perspektiven für das lebenslange Lernen. Auf diesem Weg in die Zukunft ist den Hochschulen das bisherige Kapazitätsrecht ein riesengroßer Klotz am Bein. ({0}) Kapazitätsverordnung – das klingt schon so sperrig, wie sie ist. Sie ist ein Relikt aus den frühen 1970er-Jahren. Damals war die größte Herausforderung tatsächlich, erstmals einer breiteren Schicht der Bevölkerung den Zugang zur Hochschule zu eröffnen. Damals waren nur 18 Prozent eines Jahrgangs überhaupt in der Lage, ein Studium aufzunehmen. Und ja, es war richtig, dass man damals gesagt hat: Wir wollen alle freien Kapazitäten an den Hochschulen nutzen, um neue Studienangebote zu schaffen. Heute stehen wir vor anderen Herausforderungen. Heute ist die Steuerungslogik, einfach die Anzahl der verfügbaren Semesterwochenstunden zu zählen, wie aus der Zeit gefallen. Frau Esdar, die Curricularnormwerte – ich habe in einer meiner letzten Reden bereits ausführlich darüber berichtet – sind der Grund dafür. Wir können darüber gerne im Ausschuss diskutieren. Heute nehmen 57 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf. Das bisherige Kapazitätsrecht bereitet uns ausgerechnet dann große Probleme, wenn wir nicht nur in die Anzahl der Studierenden, sondern auch in die Qualität der Lehre investieren wollen. Erstens. Es verhindert, dass zusätzliche Mittel in bessere Betreuungsverhältnisse investiert werden. Zweitens. Die Bologna-Reform, das Umstellen auf Bachelor- und Masterstudiengänge, ist in der Praxis nicht wirklich angemessen berücksichtigt worden. Drittens. Das Kapazitätsrecht schafft kaum Anreize, in innovative Lehrformate und digitale Lehre zu investieren, und zwar deshalb, weil in diesen Formaten nicht unbedingt die reine Anzahl von Teilnehmern entscheidend ist, sondern Einrichtung, Entwicklung und Qualität der Angebote entscheidend sind. Viertens. Das Kapazitätsrecht schafft es auch nicht, zunehmend Angebote für neue Zielgruppen zu schaffen, für Menschen, die an Massive Open Online Courses teilnehmen oder in der Mitte des Lebens vielleicht auch mal kleinere Module an den Hochschulen in Anspruch nehmen wollen. Die Kapazitätsverordnung nimmt den Hochschulen die nötige Luft zum Atmen. Wir brauchen kein altes Kapazitätsrecht, sondern ein neues Qualitätsrecht an den Hochschulen. ({1}) Frau Karliczek ist heute nicht hier. ({2}) Herr Staatssekretär, ich glaube, Sie verpassen mit Ihrer Untätigkeit eine riesengroße Chance, das Problem für die Zukunft endlich zu lösen. Sie überweisen ein großes Milliardenpaket mit dem Hochschulpakt-Nachfolgepakt, ohne dabei sicherzustellen, dass das Geld in der Qualität der Lehre auch landet. Die Experten sind sich einig: Wir brauchen eine Lösung. Das ist zugegebenermaßen technisch nicht ganz einfach, aber dafür haben wir ja eine Ministerin, auch wenn sie heute nicht hier ist. Packen Sie es also bitte endlich an! ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Nicole Gohlke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Linke möchte, dass sich junge Menschen möglichst ohne Hürden und ohne Einschränkungen für ihren Ausbildungsweg, für ihren Weg in den Beruf entscheiden können. Ich freue mich, dass sich immer mehr junge Menschen nach dem Abitur oder nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung für ein Studium entscheiden. Der Zugang zum Studium ist eine ganz wichtige Weichenstellung für das gesamte weitere Leben. Zulassungsbeschränkungen, die dazu führen, dass junge Menschen gar keinen Studienplatz bekommen oder eine Absage bekommen für das Studienfach, für das sie brennen, für das sie Leidenschaft haben, sind immer eine Einschränkung der Wahlfreiheit. Es sollte unser gemeinsamer politischer Wille sein, das zu vermeiden. ({0}) Denn eines muss man hier mal ganz klar sagen: Jede Zulassungsbeschränkung ist Ausdruck eines Mangels, eines Mangels aufseiten des Staates, ausreichend Studienplätze zur Verfügung zu stellen. Das ist ein Zustand, den wir nicht einfach akzeptieren, sondern im Sinne der jungen Generationen überwinden sollten. ({1}) Mittlerweile kann man sich in nur noch 15 Prozent aller Studiengänge einfach einschreiben. Für alle anderen Studiengänge sind zusätzliche Tests, Eignungsgespräche, Nachweise über absolvierte Praktika und dergleichen notwendig. Das Bundesverfassungsgericht hat das für den Medizinbereich deutlich kritisiert, und zwar, weil das intransparent und willkürlich ist. Jetzt soll also ein neuer Staatsvertrag zwischen den Ländern beschlossen werden, der das Problem zwar formell, aber leider nicht inhaltlich löst; denn er verzichtet darauf, die Sache für alle nachvollziehbar, verlässlich und bundesweit gleich zu regeln. Das lässt eben jede Menge Spielraum auch für undurchsichtige Regelungen, und genau die sind das Problem – im Übrigen auch, weil sie ganz stark sozial selektiv wirken. Es ist bekannt, dass zum Beispiel Auswahlgespräche diejenigen bevorzugen, die sich selbst gut präsentieren können, weil sie das zum Beispiel im familiären oder sozialen Umfeld gelernt haben. Am Ende zählen auf diese Art und Weise der soziale Habitus und das äußere Erscheinen mehr als Neigungen und Eignungen; und das darf doch nicht sein. ({2}) Natürlich ist es für Menschen aus ärmeren Familien nicht ohne Weiteres möglich, zwei oder drei unbezahlte Praktika – am besten auch noch im Ausland erbracht – vorzuweisen. Solche Vorbedingungen zum Studium darf es nicht geben. Kolleginnen und Kollegen, der Bund hat hier eine Verantwortung dafür, dass das Recht auf freie Berufswahl und die Rechte der Studierenden gestärkt werden und dass es gleichwertige Bedingungen in ganz Deutschland gibt. Deswegen ist es aus unserer Sicht falsch, das Hochschulrahmengesetz noch weiter auszuhöhlen. Der Zugang zum Studium muss von den Menschen her und von den Rechten der Studienberechtigten aus gedacht werden. Wir sollten junge Menschen bestärken und ihnen nicht Knüppel zwischen die Beine werfen, wenn sie sich für ein Studium entscheiden. Dafür steht auf jeden Fall Die Linke. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Grüne hat das Wort der Kollege Kai Gehring. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen Chancen für alle, Wahlfreiheit und breite Zugänge zum Studium. Deshalb ist es so dringend erforderlich, die Grundfinanzierung unserer Hochschulen zu stärken. ({0}) Wir reden heute über eine kleine, ja minimalistische Änderung am Hochschulrahmengesetz, die wir zügig vollziehen sollten. Es wird gestrichen der § 32 zur Vergabe von Studienplätzen in zulassungsbeschränkten Studiengängen. Wir erfüllen als Gesetzgeber damit einen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das insbesondere die Wartezeitquote im Bereich Humanmedizin moniert hat. Es ist deshalb ein wichtiger Schritt, das zu tun. Ich sage auch sehr klar: Das ist wirklich ein gelungenes Beispiel für die Bund-Länder-Zusammenarbeit. Das ist in so stürmischen Zeiten wie momentan sehr wichtig. Gemeinsam, zügig und handlungsfähig haben Bund und Länder hier was vorgelegt. ({1}) Manche hier im Haus hatten das Hochschulrahmengesetz längst vergessen, weil es 2005 durch eine Große Koalition quasi entkernt worden ist, weil die Länder ein Abweichungsrecht bekommen haben. Der Bund kann aber bei Zulassungen und Abschlüssen noch handeln. ({2}) – Bitte? ({3}) – Wollen Sie mir eine Zwischenfrage stellen? ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So machen wir es jetzt nicht. Würden Sie bitte weiterreden.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es macht auf jeden Fall keinen Sinn, dass das Hochschulrahmengesetz ein solches Schattendasein führt. Die Länder haben jetzt geliefert und einen Staatsvertrag zum zentralen Studienplatzvergabeverfahren in den Bereichen Medizin, Tiermedizin, Zahnmedizin und Pharmazie ausgehandelt. Die Kriterien sind neu ausbalanciert worden, und das macht auch Sinn. Es gibt drei zentrale Änderungen: Erstens. Die Abiturbestenquote wird von 20 Prozent auf 30 Prozent erhöht. Zweitens. Es wird eine Eignungsquote eingeführt. Das finden wir besonders wichtig. Das ist klasse, weil damit auch diejenigen, die beispielsweise Rettungssanitäter oder anderweitig beruflich qualifiziert sind, und auch diejenigen, die eben kein Einser-Abitur haben, die Chance auf ein Medizinstudium bekommen. Drittens. Die Hochschulauswahlverfahren werden jetzt endlich auch stärker standardisiert, und das ist doch vernünftig, wenn man hier eine Gleichwertigkeit erreichen will. ({0}) Ich sage sehr deutlich: Es muss digital und sozial nachgebessert werden. Im elften Jahr des „dialogorientierten Serviceverfahrens“ funktioniert es mit den Fächerkombinationen immer noch nicht gut. In einem Land, das digital vorneweg sein sollte, es aber leider nicht ist, sollte man hier jetzt nicht mit Übergangslösungen für das Medizinstudium arbeiten, sondern entsprechend vorankommen. Daneben ist die soziale Herkunft wichtig. Wir sehen, dass die soziale Herkunft noch maßgeblich darüber entscheidet, ob man ein Studium aufnimmt oder nicht. Das darf in unserem Land so nicht sein. Wir wollen mehr Arbeiterkinder auf dem Campus, und deshalb ist es so wichtig, über breitere Zugänge zu sprechen, zu handeln und Chancen für alle zu erreichen. Besten Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, zuzuhören, wenn ein Staatssekretär, wie Herr Meister, hier deutlich macht, dass wir mit der Streichung des § 32 des Hochschulrahmengesetzes ganz wesentlich das erfüllen, wozu wir beauftragt sind, während gleichzeitig darüber diskutiert wird, dass man das nicht so einfach machen kann und dass man noch etwas hinzufügen muss. Das Auswahlverfahren zum Medizinstudium verletzt mit der starken Gewichtung der Abiturnoten die grundrechtlichen Ansprüche der Studienplatzbewerber auf gleiche Teilhabe. Das Bundesverfassungsgericht hat uns am 19. Dezember 2017 letztendlich ins Stammbuch geschrieben, dass Bund und Länder bis Ende dieses Jahres die Auswahlkriterien neben der Abiturnote gemeinsam neu zu regeln haben. Das ist ein klarer Auftrag, und ich finde, darüber muss man nicht so lange diskutieren, sondern man muss sich jetzt auf vernünftige Weise einigen. ({0}) Zur Wahrung der Chancengleichheit müssen Eignungsgespräche an Universitäten bundesweit in standardisierter und strukturierter Form stattfinden, und zudem muss die Zahl der Wartesemester enger begrenzt werden. Ich glaube, das sind völlig nachvollziehbare Auflagen, die wir zu erfüllen haben. Bund und Länder haben sich daher schon im Dezember in der Kultusministerkonferenz auf einen Staatsvertrag geeinigt. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, und ich finde – da kann ich dem, was schon gesagt wurde, nur beipflichten –, das ist die richtige Art, den Föderalismus zu leben, und eine richtige Aufgabenwahrnehmung durch den Bund. Wir als Gesetzgeber im Bund müssen nun zügig die dafür nötige achte Novelle des Hochschulrahmengesetzes verabschieden und dabei – das ist ganz maßgeblich – die Streichung des § 32 zielorientiert durchführen. Insgesamt soll ein völlig neues System des Hochschulzugangs in den Bereichen Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie aufgestellt werden. Die sogenannte Abiturbestenquote wird von 20 Prozent auf 30 Prozent erhöht, und zusätzliche Eignungsquoten werden eingeführt. Ich denke, diese Eignungsquoten sind ganz wichtig, weil damit deutlich gemacht wird, dass der Chancengleichheit Rechnung getragen wird. Nach einer Übergangsphase von zwei Jahren soll die Wartezeit als Zugangskriterium abgeschafft werden. Das ist aus meiner Sicht auch ganz wichtig. Die durchschnittliche Wartezeit auf einen Medizinstudienplatz beträgt derzeit 14 bis 15 Semester, und zuletzt kamen etwa 62 000 Bewerber auf 11 000 Studienplätze. Diese Reglementierungen sind aber kein Zeichen von Mangel – da kann ich der Kollegin der Linken also wirklich nicht beipflichten –, sondern zeigen, dass die Zugangskriterien bislang falsch gewählt waren, und ich glaube, das können wir jetzt ändern. Fakt ist: Wir haben in unserer Bundesrepublik sicher keinen flächendeckenden Ärztemangel, sondern eine starke Ungleichverteilung von Medizinern im Land. Unter dem Gesichtspunkt, dass es notwendig ist, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, ist die geplante Form der Gesetzesänderung ein Schritt in die richtige Richtung. Einige Modellstudiengänge, die es heute schon gibt, zum Beispiel an der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, beweisen, wie erfolgreich diese Methode bereits umgesetzt wird. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der Aufhebung des § 32 des Hochschulrahmengesetzes wird die Verpflichtung aus dem Urteil im Bundesrecht umgesetzt. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung und um die Form der Diskussion, die wir auf einem solchen Gebiet gemeinsam führen sollten. Ich freue mich auf die Arbeit in den Ausschüssen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieter Hallervorden soll einmal gesagt haben: Die Wartezeit, die man bei Ärzten verbringt, würde in den meisten Fällen ausreichen, um selbst Medizin zu studieren. Um die Zeit, die wir im Wartezimmer verbringen, geht es bei der heutigen Reform zum Hochschulrahmengesetz zwar nicht, aber es geht indirekt um Wartezeiten. Die Entwicklung bei der Vergabe der Studienplätze in den medizinischen Studiengängen, vor allem in der Humanmedizin, war in den letzten Jahren alarmierend. Nicht selten kam es vor, dass angehende Medizinstudierende 14 oder 15 Semester auf ihren Studienplatz warten mussten. Aufgrund der sogenannten Wartezeitquote mussten sie also länger auf einen Studienplatz warten, als Studierende anderer Fachrichtungen überhaupt studieren. Trotzdem: Die Humanmedizin ist und bleibt für viele junge Menschen ein attraktives Studium. Das sieht man an der hohen Zahl der Bewerberinnen und Bewerber. Ende 2017 hat das Bundesverfassungsgericht nun Bund und Länder aufgefordert, das Verfahren grundlegend zu reformieren. Lieber Kai Gehring, ich möchte korrigieren: Das erwähnte Verfahren damals war nicht von der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden, sondern das war auch das Bundesverfassungsgericht. – Das muss man hier deutlich korrigieren. ({0}) Die Länder haben sich bereits auf ein neues Zulassungsverfahren verständigt und werden es durch einen Staatsvertrag entsprechend regeln. Folgerichtig wird das Hochschulrahmengesetz auf Bundesebene entsprechend angepasst und der dortige § 32 aufgehoben. Wir begrüßen, dass im neuen Zulassungsverfahren neben der Abiturnote nun weitere Kriterien eine zentrale Rolle spielen werden. Laut dem Entwurf für einen neuen Staatsvertrag wird unter anderem eine Eignungsquote eingeführt, nach der 10 Prozent der Studienplätze schulnotenunabhängig vergeben werden. Die Berücksichtigung neuer Kriterien im Zulassungsverfahren ist ein wichtiger Schritt; denn so haben angehende Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit, neben der Abiturnote auch ihre persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten einzubringen. Diese können für die Ausübung des Arztberufes genauso wertvoll sein. Nicht zuletzt wird dadurch die Studierendenschaft vielfältiger werden. Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass Bund und Länder bei der Reform schnell reagiert und sich abgestimmt haben. So kann das neue Zulassungsverfahren bereits für das Sommersemester 2020 zum ersten Mal angewendet werden. Das ist gut für die Studierenden in Deutschland. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Diaby. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10521, 19/10623 und 19/10620 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Liste der Länder mit der größten Akzeptanz gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen ist Deutschland in Europa gerade auf Rang 15 zurückgefallen, weil es immer noch zu viele Lebensbereiche gibt, in denen queere Menschen benachteiligt und diskriminiert werden. Noch immer werden junge Menschen nach ihrem Coming-out in der Familie, im Sportverein, in der Schule beschimpft, teilweise körperlich und seelisch angegriffen. Nicht selten werden diese jungen Menschen zu Hause rausgeworfen und landen auf der Straße. Auch nicht selten halten sie die Ausgrenzung nicht mehr aus und versuchen, sich das Leben zu nehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine offene und demokratische Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. ({0}) Sie sorgt dafür, dass alle Menschen verschieden sein können, aber gleich an Rechten, gleich an Würde und frei von Diskriminierung. Genau dafür muss auch dieser Bundestag jeden Tag einstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir Grüne legen heute einen umfassenden Aktionsplan für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt vor. Fast alle Bundesländer haben mittlerweile solche Aktionspläne auf den Weg gebracht. Der Bund muss hier endlich nachziehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich möchte hier nur drei Bereiche herausgreifen: Erstens. Über ein Viertel der lesbischen und schwulen Beschäftigten verschweigt ihre sexuelle Identität am Arbeitsplatz. Und das hat Gründe. Können Sie sich vorstellen, in einem Klima zu arbeiten, in dem man sich ständig erklären muss, in dem man Opfer von Gerüchten ist? Können Sie sich vorstellen, dass man eine Arbeitsstelle aufgrund der eigenen Sexualität entweder nicht bekommt oder verliert? Vielfalt in der Arbeitswelt muss viel stärker gefördert werden. Die Bundesregierung muss bei den eigenen Behörden Vorreiterin sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Punkt zwei. Wenn Sie oder wir verbale oder körperliche Gewalt erfahren, wenn wir Hasskommentaren im Internet ausgesetzt sind, dann zeigen wir alle miteinander diese vermutlich an, weil wir selbstbewusst sind und weil wir Vertrauen in die staatlichen Behörden haben. Das aber ist bei vielen LSBTI aufgrund schlechter Erfahrungen nicht mehr vorhanden. Genau deshalb ist die Anzeigenbereitschaft so enorm niedrig. Das muss sich ändern. Wir brauchen ein Bund-Länder-Programm gegen homo- und transfeindliche Gewalt. Wir brauchen umfassende Präventionsmaßnahmen. Und wir brauchen hauptamtliche Ansprechpersonen für Hasskriminalität bei Polizei und Behörden, wie es beispielsweise in Berlin und Schleswig-Holstein bereits umgesetzt ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Dritter Punkt. Eine Gruppe, an die selten gedacht wird, sind die älteren LSBTI; Menschen, die jahrzehntelang unter dem § 175 gelitten haben, die sich trotz eines feindlichen Klimas emanzipiert und die Freiheiten für uns alle erkämpft haben. Ich kann meine Dankbarkeit für diese mutigen Vorkämpferinnen und Vorkämpfer gar nicht genug zum Ausdruck bringen. ({5}) Genau deswegen müssen wir jetzt dafür sorgen, dass sie im Alter vor jeder Gefahr von Ausgrenzung, Anfeindung und Diskriminierung geschützt werden und dass für sie gesorgt wird. Deswegen müssen und wollen wir dafür sorgen, dass ihre Bedürfnisse in allen Bereichen der Altenhilfe und Seniorenarbeit auch ausreichend berücksichtigt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wenn ein solcher nationaler Aktionsplan wirksam sein soll, dann müssen alle Ressorts daran mitarbeiten, dann müssen alle Ressorts Maßnahmen entwickeln, die auch ausreichend finanziert sind. Vor drei Wochen haben wir hier in sehr, sehr großer Übereinstimmung in einer Aktuellen Stunde darüber debattiert. Ich hoffe, dass das Parlament endlich diesen Schritt geht, um Artikel 1 unseres Grundgesetzes zu verwirklichen; denn die Würde des Menschen gilt nicht nur für heterosexuelle Menschen. Sie gilt für alle. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Lehmann. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Bettina ­Wiesmann. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Notwendigkeit, eine Gesellschaft von Akzeptanz, Respekt und Toleranz auch für geschlechtliche Vielfalt zu erstreben, gibt es überhaupt keinen Dissens. Sie haben, liebe Grüne, mit Ihrem ausführlichen Antrag für einen bundesweiten Aktionsplan für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt aber indirekt einen Rundumschlag vorgelegt, der natürlich auch eine schöne Mängelliste enthält. Im Hinblick auf die Ziele, die uns gemeinsam sind, finde ich es doch ein wenig schade, dass Sie sich all diese Arbeit gemacht haben, um Defizite bei der Normalisierung des Lebens von homo-, inter- und transgeschlechtlichen Menschen aufzuzeigen. Wie Sie es selbst auch gesagt haben, braucht man zum Beispiel nur auf die Webseite des LSVD zu schauen. Dort findet man die Übersicht über die 13 von insgesamt 16 Bundesländern, die solche Aktionspläne bereits haben. ({0}) Warum ist das denn so? Das ist ja auch gut so. Weil in den Ländern und auf den darunterliegenden Ebenen, die näher an den Bürgern sind, Homo-, Inter- und Transphobie sehr viel besser angegangen werden können, als wir es von hier aus könnten. Vielleicht ist es dort ein bisschen weniger werbewirksam als im Bundestag, dafür aber wirksamer in der Wirklichkeit. ({1}) In Hessen, wo ich wohne – Sie haben viele andere Beispiele genannt –, wird in dieser Weise tatsächlich sehr handfest angepackt und den Phobien ein Ende gemacht, auch und besonders in den Schulen; und wir von der Unionsfraktion begrüßen das. Ein zentralistisches, am Ende millionenschweres Aktionspaket brauchen wir nach unserer Auffassung hingegen nicht, und wir stimmen deshalb Ihrem Antrag bei aller Gemeinsamkeit in den Zielen auch nicht zu. Aber der Antrag hat auch Gutes. Er hilft uns nämlich, zu erkennen, worum es bei der Sorge um die Gleichberechtigung und den Schutz vor allem von intersexuellen und transgeschlechtlichen Menschen geht und was wir auf Bundesebene tatsächlich noch tun müssen. Wir wollen nämlich entsprechende Regelungen schaffen. Es dauert schon ein wenig lange; nur Erklärungen angesichts der Mängellisten reichen nicht. ({2}) Als Unionsfraktion akzeptieren wir die Vielfalt der Geschlechter als Teil der Schöpfung, und deshalb wollen wir Benachteiligungen von Menschen mit anderer Geschlechtlichkeit, als sie die meisten Menschen haben, abbauen und uns gegen Schikanen, Nichtanerkennung oder auch gegen – ja, das gibt es; Sie haben es auch schon genannt und in Ihrem Antrag auch Zahlen geliefert – Angriffe auf diese Menschen einsetzen. ({3}) So steht es im Koalitionsvertrag, und so werden wir es tun. Wir machen ja auch Fortschritte: Erstens. Wir haben für Menschen mit einem anderen Geschlecht als männlich oder weiblich einen validen Begriff zum Eintrag in das Personenstandsregister gefunden. ({4}) – Es ist jetzt geschehen. – Die Bezeichnung „divers“ ist allgemein akzeptiert und wird mehr und mehr Menschen geläufig werden – ein Erfolg des gemeinsamen Handelns. Zweitens. Wir werden auch für Menschen mit angeborenem Intergeschlecht durchsetzen, dass ihre Geschlechtlichkeit nicht mehr, ohne sie zu fragen, durch operative Eingriffe manipuliert wird. Darüber wurde schon in den Ausschüssen gesprochen. Die zentralen Fragen dabei sind: Gibt es einen Tatbestand der Kindeswohlgefährdung, der einen Eingriff ohne kindliche Zustimmung rechtfertigen würde? Oder auch: Ab welchem Alter können Kinder auch ohne Zustimmung der Eltern selbst Eingriffe wünschen? Drittens. Menschen mit Geschlechtsinkongruenz, Transmenschen, haben ebenfalls das Recht auf Akzeptanz und Unterstützung bei der Bewältigung ihres Transitionsprozesses. Hierzu – das ist schon bekannt – wurde von zwei Ministerien, Innen und Justiz, gemeinsam ein erster Entwurf erarbeitet und dann sogleich breit diskutiert. Ich gehe davon aus, dass die Verbände ihre Stellungnahmen nicht nur den Medien übermittelt, sondern auch auf Ministeriumsebene eingebracht haben. Aber es gibt noch keine Ressortabstimmung, es gibt noch keinen hier im Bundestag zu verhandelnden Entwurf eines Gesetzes. Ich wünsche mir, dass wir dort jetzt vorankommen. Viertens. Die Regierung wird außerdem ein Verbot von sogenannten Konversionstherapien erarbeiten, die von einer sexuellen Variante heilen wollen. Ich finde – auch darin sind wir uns einig –, wer nicht krank ist, darf nicht krankmachend behandelt werden. ({5}) Alles dies sind wichtige Vorhaben. Was aber einen Entschädigungsfonds für Opfer von nicht notwendigen medizinischen Eingriffen betrifft, den Sie beispielsweise fordern, so kann ich nicht ganz nachvollziehen, wie Sie die Entschädigungsberechtigten identifizieren wollen. Und zu Ihren Forderungen nach Aufnahme der sexuellen Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes und nach einer Erweiterung des Elternbegriffs ist zu sagen, dass hier ganz sicher noch erheblicher, sehr grundsätzlicher Diskussionsbedarf besteht. Diese Themen jedenfalls gehören nicht in einen Aktionsplan, den der Bundestag beschließen könnte. Ich sehe außerdem nicht, wieso es nötig sein sollte, dass wir auch noch auf internationaler Ebene zusätzlich aktiv einwirken. Das findet doch schon statt, liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP. Sie schreiben selbst in Ihrem Antrag dazu, dass die EU bereits eine Grundrechtecharta hat, die all diese Forderungen bereits erfüllt. Sollen wir sie daran erinnern, darauf zu achten, dass ihre Grundrechtecharta auch umgesetzt wird? – Ich finde, wir sollten lieber den Bereich regeln, für den wir selbst hier zuständig sind, und deshalb können wir auch Ihrem Antrag nicht zustimmen. Um es noch einmal zu sagen: Der Antrag der Grünen beschreibt zutreffend, dass Menschen mit einem anderen oder einem übergehenden Geschlecht besonders oft Opfer von Missachtung oder auch Gewalt werden und oft an ihrer Situation verzweifeln. Das muss hier auch gesagt werden. Das können wir nicht hinnehmen, und das nehmen wir auch nicht hin. Die laufenden Vorhaben der Koalition dazu habe ich genannt. Aber einen Aktionsplan des Bundes, den wir hier im Bundestag beschließen würden, brauchen wir nicht. Das machen die Länder: 13 von 16 arbeiten bereits daran. Sie arbeiten daran, die Sensibilität derer zu erhöhen, die solche Taten präventiv verhindern wollen, und auch derer, die sich für die Opfer einsetzen, ob Pädagogen, Polizei, Gerichte oder andere Behörden – und neben den Familien auch aller anderen; denn das soziale Umfeld vor Ort ist gefragt, jeden Menschen bei sich auf- und für sich anzunehmen. Das Instrumentarium ist da, und wo es fehlt, schließt diese Koalition die Lücken. Nicht alle Fehler der Vergangenheit können wir damit rückgängig machen; aber dass Deutschland ein menschenrechtsorientiertes Land ist, daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Jetzt lassen Sie mich noch ganz kurz – ein paar Sekunden – auf den dritten hier zu besprechenden Antrag eingehen, der indes überhaupt nichts mit der ernsten Problematik inter- und transsexueller Menschen zu tun hat. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der AfD, Sie wollen, dass der Staat Kinderreichtum durch „wirkungsstarke ökonomische Anreize“ fördert, wie Sie schreiben. Ich halte dies für den falschen Weg. Ich erinnere an die aktive Förderung des Gebärens vieler Kinder in Rumänien vor 1989 oder in den 1930er-Jahren in Deutschland. Das war überhaupt nicht gut, gerade für die Kinder. Wenn der Staat sich in die Familien einmischt, dann geht das nicht gut, auch nicht, wenn er, umgekehrt, Geburten verhindern will. Dass obendrein das alles bei Ihnen unter „Antidiskriminierung“ läuft, das ist eine Begriffsverdrehung, die der Sache nicht dient, sondern nur Ressentiments und gegenseitiges Mit-dem-Finger-Zeigen befördern kann. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Familien brauchen Zeit, Geld, Infrastruktur und ein gesellschaftliches Klima, das Lust auf Familie macht und ihnen den Rücken stärkt. All das verfolgt eine gute Familienpolitik, wie wir sie als Union seit vielen Jahrzehnten für dieses Land verfolgen und auch weiter verfolgen werden. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Martin Reichardt. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestern in der Debatte zur Einbringung von Kinderrechten in das Grundgesetz ist hier ja die Formulierung „Kinder sind unsere Zukunft“ geradezu inflationär benutzt worden. Sie wurde nicht nur inflationär benutzt, sie wurde leider auch heuchlerisch benutzt. Grüne, SPD und Linke heucheln hier ständig ihre Familienfreundlichkeit, um auf der anderen Seite die traditionelle Familie in den Grundfesten zu erschüttern. ({0}) Ich sage es Ihnen ganz eindeutig: Wer Vater, Mutter und Kinder als Familie negiert, ({1}) der setzt die Axt an die Grundlagen unserer Gesellschaft und der wird stets und ständig mit unserem Widerstand zu rechnen haben. ({2}) Die ehemaligen Volksparteien haben es zugelassen, dass die familienfeindliche Ideologie der Links-Grünen überall in der Gesellschaft eingedrungen ist. Frau Ministerin Giffey hat sie übernommen. Auf dem Regenbogenportal des Ministeriums werden jetzt Lehrer aufgefordert, die Begriffe „Vater“ und „Mutter“ durch „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ zu ersetzen. ({3}) Meine Damen und Herren, alle Menschen in Deutschland wissen doch, dass „Vater“ und „Mutter“ nicht durch grünen und linken intellektuellen Mumpitz zu ersetzen sind. ({4}) „Vater“ und „Mutter“, das sind die Begriffe, die in Form von „Mama“ und „Papa“ jedes Kind als Erstes spricht, und wir werden nicht zulassen, dass diese Begriffe von Ihnen auf dem Genderaltar geopfert werden. ({5}) Ich will Ihnen noch etwas sagen: Eindrucksvoller als mit solchen Dingen können Sie Ihre ideologische Verblendung überhaupt nicht ins Volk tragen, meine Damen und Herren. ({6}) Der Grünenantrag „Vielfalt leben“ maßt sich nun den Vertretungsanspruch hinsichtlich einer Menschengruppe an, den ich persönlich in diesem Umfang überhaupt nicht sehe. ({7}) Ich kann Ihnen eins sagen: Die Homosexuellen in unserer Partei sind genau das, was sie sind – sie sind Teil der Gesellschaft, sie sind ein integraler Teil der Partei, und sie brauchen nicht Ihren ideologischen Unsinn, der das alles mit dem Bade ausschüttet. ({8}) Tatsächlich, meine Damen und Herren von den Grünen, ist es doch gerade Ihre Politik, ({9}) die durch den Import extrem homophober religiöser Minderheiten nach Deutschland die Bedrohung für die Menschen herbeiführt, die Sie hier überall schützen wollen. ({10}) Das sollten Sie einfach endlich einmal anerkennen. ({11}) Nun möchte ich Ihnen sagen: Im Unterschied zum Antrag des Linksblocks, der ja wieder mal versucht, unsere Gesellschaft in ein Sammelsurium von Kleinstgruppen aufzulösen, ({12}) ist unser Antrag „Babys willkommen heißen, Familie leben“ staatstragend und gesellschaftsverbindend. ({13}) Es ist ein Antrag für die Freiheit, besonders für die Freiheit junger Familien, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Es ist ein Antrag für Wärme und Aufmerksamkeit für Familien in unserem Land, für Eltern und Kinder. ({14}) Eltern und Kinder müssen doch in Deutschland wieder spüren: Ihr seid wichtig. Ihr seid willkommen. Wir hier sind da, um euch zu helfen. – Das muss die Botschaft sein. Familien werden doch nicht nur auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert, in Anzeigen wie „Es wird nur an kinderlose Paare vermietet“ und Ähnlichem, sondern auch von der Regierung. Bereits 2001 hat das Bundesverfassungsgericht im Pflegeversicherungsurteil angemahnt, dass die Benachteiligung von Familien in den Sozialversicherungssystemen zu beenden ist. Was ist bisher passiert? Nichts. ({15}) Auch hier sagen wir der Regierung: Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben! ({16}) Sorgen Sie für Gerechtigkeit für unsere Familien! Und verschlafen Sie nicht die Entwicklungen! ({17}) Außerdem fordern wir, dass Gesetze auf Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit überprüft werden. Hier ist als ganz besonders wichtig der Bereich der Kinderpornografie zu nennen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein. ({0}) 50 Prozent der Täter können nicht richtig verfolgt werden, weil der Datenschutz dem im Wege steht. Das muss im Vorfeld geklärt werden. Datenschutz darf nicht durch falsche Gesetze in Deutschland vor Kinderschutz gestellt werden. Auch das ist eine klare Forderung. Des Weiteren fordern wir, Familienbeauftragte auf allen Ebenen einzusetzen, die die Interessen von Familien in Deutschland vertreten. ({1}) Wir fordern eine positive Werbung für das traditionelle Familienbild. Wir fordern, dass junge Familien auch im Rahmen ehrenamtlicher Arbeit unterstützt werden. Wir fordern, dass Familien über eine Familienkarte bundesweit signifikante Vergünstigungen und Vergütungen erhalten. ({2}) Väter- und Mütterrechte sind auch in den Unternehmen eindeutig zu stärken. Meine Damen und Herren, unser Antrag ist ein erster Schritt dahin, ({3}) dass Kinder, Eltern und Familie in dieser Gesellschaft wieder die zentrale Rolle einnehmen, die ihnen zukommt. Meine Damen und Herren von den bürgerlichen Parteien – von den anderen rede ich gar nicht –, Sie werden sich in Zukunft immer wieder die Frage stellen lassen müssen, ob Sie endlich bürgerfreundliche Politik im Sinne einer seriösen Familienpolitik machen wollen – ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– oder ob Sie dem links-grünen Mummenschanz hinterherkriechen wollen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wer die Würde des Menschen im Mittelpunkt sieht, wer Kinder in diesem Land schützen und Familien in den Mittelpunkt stellen will, ({0}) der wird Familien und Kinder nicht bevormunden und ihnen vorschreiben, nach welchem Modell und in welchem Umfang sie das erreichen, was ein Mensch zu erreichen nur in der Lage sein kann, nämlich das Glück seines eigenen Lebens. Schreiben Sie den Menschen nicht zwangsweise vor, wie sie sich zu verhalten haben, sondern lassen Sie die Menschen so leben, wie sie geboren sind, so, wie sie leben wollen, so, wie sie leben müssen, damit sie am Ende ihres Lebens glücklich und zufrieden von dieser Erde gehen können. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte eigentlich die Absicht, heute wie folgt zu beginnen: Wir stehen am Anfang des Juni 2019, eines ganz besonderen Juni. Es ist der Juni, in dem sich zum 50. Mal das Wehren, der Stolz, der Pride der Community im „Stonewall Inn“ in den Vereinigten Staaten, in der Christopher Street in New York, jährt. Deshalb wird dieser Monat seit vielen Jahren als Pride Month bezeichnet wird. Es ist ein Monat des Stolzes, ein Monat der Würde, ein Monat, der den Menschen die Würde wieder zurückgibt, die in unserem Grundgesetz verankert ist und die keinen Unterschied macht, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern, mit welcher Orientierung, mit welcher Neigung, mit welchen Vorstellungen sie ihr Leben in Glück und Zuversicht führen wollen. Deshalb bin ich heute froh darüber, dass es die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und von der FDP gibt, die uns diese Diskussion in diesem Monat ermöglichen. Denn mit diesen Anträgen haben wir das Thema wieder auf der Agenda und sprechen darüber, was noch zu tun ist. Ich sage ganz deutlich: 50 Jahre nach Stonewall empfinde ich es als jemand, der schon in die Jahre gekommen ist, etwas bedauerlich, dass wir immer noch über Gleichbehandlung, über Stolz, über Gleichheit und über Akzeptanz in dieser Gesellschaft diskutieren müssen. Das sollte eigentlich überall Normalität sein. ({2}) Und ich empfinde es als fürchterlich, dass es auch 50 Jahre nach Stonewall auf unseren Schulhöfen oder hier, im weltoffenen Berlin, in der U-Bahn zu Lästereien, Belästigungen, Beschimpfungen und Körperverletzungen kommt, nur weil sich beispielsweise zwei Schwule in den Abendstunden verabschieden, weil vielleicht auf dem Schulhof der 14-jährige Junge seinen Freund oder das 14-jährige Mädchen ihre Freundin küsst, weil sie sich lieben. Das muss in diesem Land beendet werden, und dazu können Aktionspläne sehr wohl etwas beitragen. ({3}) Weil sie etwas dazu beitragen können, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir bereits im letzten Koalitionsvertrag als Koalitionspartner vereinbart, einen nationalen Aktionsplan auf den Weg zu bringen, der allerdings, wenn man sieht, was vorgelegt wurde – ich würde nicht das Wort „Chimäre“ benutzen –, etwas nachbesserungsbedürftig ist. Da können wir noch etwas tun. Ich glaube, wir werden mit unserem Koalitionspartner, vielleicht unter Einbeziehung von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, ({4}) etwas Vernünftiges auf den Weg bringen, um die Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Land abzubilden, um den Menschen in diesem Land den Raum und die Möglichkeiten zu geben, ihr Leben so zu leben, wie es ist. Am Ende meines Redebeitrags hätte ich die Bitte, nicht apodiktisch zu sagen: Nein, wir wollen und brauchen keine Grundgesetzänderung. – Ich möchte Sie alle noch einmal dazu aufrufen, in einen konstruktiven Dialog zu kommen, den Marsch, der vor 50 Jahren im „Stonewall Inn“ begann, zu beenden, indem auch sexuelle Orientierung und sexuelle Andersartigkeit in diesem Land als etwas, was man nicht vorschreiben kann, in unserem Grundgesetz nicht verankert, sondern als Selbstverständlichkeit niedergelegt wird. Vielen herzlichen Dank und uns vielleicht in den Pfingstferien die Erleuchtung, dass wir dazu kommen, diesen Weg zu beschreiten. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in einer Welt leben, in der wir über die Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gar nicht mehr diskutieren müssen, weil es egal ist, welches Geschlecht man hat, weil es auch egal ist, wen man liebt, und weil sich niemand für die eigene sexuelle oder geschlechtliche Identität rechtfertigen muss: nicht vor Nachbarn, nicht vor Ärzten und erst recht nicht vor öffentlichen Behörden. ({0}) Bei allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte: In einer solchen Welt leben wir leider auch bei uns noch nicht. Das sehen manche von Ihnen anders; aber als kleiner Beleg zusätzlich zu dem, was wir eben gehört haben, mal ein paar Ausschnitte aus der „Fanpost“, die ich in den letzten Monaten zu LSBTI-Themen bekommen habe. Zitate: „Geh doch zum Psychiater!“ – „Das ist ekelhaft.“ – „Irgendwann darf man wohl auch Tiere heiraten.“ – „Zuerst Sie und dann der Kahrs – was ist das? Ernie und Bert? Popoclub?“ – „Homosexualität macht krank. Warum ist das nicht verboten?“ – „Schwuchteln, Lesben und Transen“ seien „bemitleidenswerte Launen der Natur und der Witz schlechthin“. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich halte das aus, weil ich in meinem ganzen Leben gelernt habe, diesen Schwachsinn nicht an mich herankommen zu lassen. ({1}) Es gibt in diesem Land aber Hunderttausende Menschen, denen es nicht so geht: Menschen im Alter von 14, 15 Jahren, häufig auch deutlich jünger. Menschen, die große Zweifel an ihrer eigenen Identität haben. Menschen, die sich nicht trauen, mit den eigenen Eltern darüber zu sprechen. Menschen, die große Angst haben, mit ihrer Identität akzeptiert zu werden: im Freundeskreis, in der Schule, unter Kollegen, im Fußballverein. Menschen, die sich manchmal sogar ein Leben lang verstecken und darunter leiden. Viele, die sogar in der Öffentlichkeit dumme Sprüche und teils auch körperliche Gewalt erleben. Und leider auch viel zu viele Menschen, die im Suizid den letzten Ausweg sehen. Solange diese Menschen in unserem Land unter einer Gruppe von Schwachköpfen leiden, die aus dem eigenen Hass gegen andere Menschen und andere Lebensformen keinen Hehl machen, so lange werde ich alles dafür tun, dass sich dies ändert. ({2}) Zum Thema Aktionsplan wurde eben schon vieles, größtenteils auch Richtiges gesagt. Frau Wiesmann, nur als Ergänzung: Sie haben ja die Notwendigkeit eines Aktionsplans des Bundes infrage gestellt. Da würde ich zumindest mal einen Blick in die Bundeswehr und die Bundespolizei sehr empfehlen und auf manche Diskussionen in diesem Zusammenhang. Ich möchte meinen Blick jetzt aber auf die europäische Ebene richten. Wir sehen, dass in Frankreich die Anzahl der tätlichen Übergriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen im vergangenen Jahr um 66 Prozent zugenommen hat. In Großbritannien wirbt eine führende Politikerin der Populisten ganz offensiv für eine sogenannte „Homo-Heilung“. In Bulgarien habe ich selbst einen CSD, die Sofia Pride, erlebt, wo Demonstranten von der Polizei plus eigenen Sicherheitskräften vor rechtsextremen Skinheads geschützt werden mussten. In Litauen, also auch in der Europäischen Union, gibt es ein Gesetz gegen eine vermeintliche „Homo-Propaganda“. Das zeigt: Auch in Europa radikalisieren sich leider Demokratien. Lange sicher geglaubte Minderheitenrechte stehen zunehmend unter Beschuss. Wir wollen, dass sich die Bundesregierung im Ministerrat der Europäischen Union – das steht so auch im Antrag; dafür ist sie zuständig – dafür einsetzt, dass die Grund- und Menschenrechte dieser Menschen europaweit, unionsweit geschützt werden, dass die Menschenrechte von LSBTI weltweit künftig eine stärkere Rolle in der EU-Entwicklungspolitik spielen und dass die Anerkennung beispielsweise von in Deutschland rechtskräftig geschlossenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften oder Ehen endlich unionsweit ohne weitere Bedingungen durchgesetzt wird. Sie sehen: Es gibt sehr viel zu tun. Überlassen wir unser starkes Europa nicht den Populisten. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Doris Achelwilm. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Vielen Dank zunächst an meinen Kollegen Dr. Jens ­Brandenburg für die offenen Worte hier. Es gehört tatsächlich Mut dazu, das so kenntlich zu machen. Dafür ist aber hier genau der richtige Ort, um das zur Sprache zu bringen, gerade wenn wir selbst Betroffene sind, und es ist gut, wenn das im Bundestag so passiert. Vielen Dank! ({0}) Ich möchte im Hinblick auf das Jubiläum von Stonewall gern feststellen, dass Queer-Politik keine Nische ist, als die sie oft betrachtet wird, sondern eine Querschnittsaufgabe. So sollte es jedenfalls sein. Wir brauchen eine strategische Queer-Politik als Bollwerk gegen politische Versuche von rechts, die Errungenschaften von Lesben, Schwulen, bi-, trans-, intergeschlechtlichen Menschen zurückzudrehen. Wir brauchen ein ganzes Maßnahmenpaket gegen die erdrückende Zahl und noch höhere Dunkelziffer an Übergriffen und Diskriminierungen und auch als Konsequenz von Erfolgen, die es ja gibt, wie der Ehe für alle oder der Überwindung der starren Zweigeschlechtlichkeit. Auch hier im Bundestag geht es jetzt darum, das nächste Level zu erreichen, also queer-politische Maßnahmen größer zu planen, effektiver zu koordinieren. Ein bundesweiter Aktionsplan ist dafür ein adäquater Ansatz und hat gute Vorläufer auf Landesebene. ({1}) Der Maßnahmenplan aus Berlin, die Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“, wird übrigens demnächst zehn Jahre, wozu wir als Linke im Bundestag sehr herzlich gratulieren. ({2}) Wir hatten auch ein bisschen damit zu tun, die Grünen natürlich auch. Landesaktionspläne zur Förderung von Vielfalt und Akzeptanz und gegen Homo- und Transfeindlichkeit – wir haben es gehört – gibt es mittlerweile 13 an der Zahl, unter anderem auch in meinem Bundesland Bremen. Wie man hört, fehlt zur vollen Wirkmächtigkeit häufig das ausreichende Personal, es fehlt an finanzieller Untersetzung und Planungssicherheit. Klar ist, dass die lokalen Infrastrukturen nicht durch übergeordnete Aktionspläne auf Bundesebene infrage oder zur Disposition gestellt werden dürfen; aber ein nationaler Aktionsrahmen hätte eben den großen Vorteil, Lücken und Schwankungen im Flickenteppich auszugleichen und für koordinierte, vergleichbare Grundlagen zu sorgen; und dagegen können wir überhaupt nicht sein. ({3}) Dass queer-politische Ernsthaftigkeit regelmäßig infrage gestellt wird, war dieser Tage wieder in einer Kleinen Anfrage der AfD zur – so der Titel von ihr – „Genderstrategie der Bundesregierung“ zu lesen. In dieser wird von der AfD das Pseudoargument aufgeworfen, dass die Bundesregierung doch wohl andere Aufgaben habe als die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit und dritter Option, die Sie wahrscheinlich immer in Anführungszeichen setzen. Gegenfragen: Glauben hier eigentlich irgendwelche der noch anwesenden Abgeordneten, dass wirtschaftspolitische Baustellen deswegen vernachlässigt werden, weil sich hier und da und nachgewiesenermaßen zu wenig und meistens nur durch Druck der Gerichte auch um die Belange von Lesben, Schwulen, Trans-, Bi- oder Intersexuellen gekümmert wird? Ich glaube, das hält hier keiner für möglich. Aber Sie schreiben es trotzdem in Ihren Antrag, einfach um zu entsolidarisieren, einfach um diese spalterische Erzählung, weil sie so gut funktioniert, hochzuhalten. Und es ist leider eine spalterische Erzählung, die auch in Karnevalswitzen von Spitzenpolitikerinnen der CDU aufgegriffen wurde. Genau diese Beispiele zeigen, wie groß die Notwendigkeit eines verstärkten Schutzes vor Anfeindungen und Diskriminierungen ist. ({4}) Ganz kurz noch dazu, was wir als Linke in einem Bundesaktionsplan noch stärker berücksichtigt sehen wollen. Die nötigen Fördermittel, die hier mit 35 Millionen Euro pro Jahr beziffert werden, sollten auch dafür eingesetzt werden, gewachsene Ungleichverteilung zwischen Lesben- und Schwulenorganisationen ein Stück weit auszugleichen. Queer-, Frauen- und Transinitiativen sind oftmals schlechtergestellt. Es wäre gut, über entsprechende Maßnahmen für einen Ausgleich zu sorgen. Ich komme zum Schluss. Den Stopp von Operationen an intergeschlechtlichen Kindern haben wir ja selber in einem Antrag schon ins parlamentarische Verfahren gebracht. Ich finde nicht, dass das da reingehört; denn es ist eine gesetzliche Aufgabe des Bundestages und sollte nicht möglicherweise über einen Aktionsplan nach hinten geschoben werden. Ansonsten freue ich mich darauf, dass wir demnächst weiter zu diesem Anliegen und zu dem Antrag der FDP, der die europäische Ebene betrifft, in den Ausschüssen arbeiten werden. Ich wünsche allen ein schönes Pfingstwochenende. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Stephan Pilsinger ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der jetzige Tagesordnungspunkt widmet sich der Forderung nach verschiedenen Aktionsplänen. Es geht um den Schutz von geschlechtlicher, sexueller Vielfalt – Anträge der Grünen und der FDP –, Schutz der Ehe – Antrag der AfD –, Schutz von Familien und Schutz von Kindern – Antrag der AfD –, Schutz der geschlechtlichen sexuellen Vielfalt in der EU – Antrag der FDP. Nun wird niemand etwas gegen das Verteidigen schützenswerter Güter sagen. Ich hätte auch einige Ideen für Aktionspläne – für sinnvolle. Mir drängt sich aber die Frage auf, ob es immer ein solches Label braucht, um bessere Politik zu machen. Ich stelle Aktionspläne nicht grundsätzlich infrage, wichtiger ist aber, dass die Ergebnisse der Politik stimmen. An diesen Ergebnissen sollten wir uns messen lassen, und das können wir auch. Heute geht es um das Thema „geschlechtliche Vielfalt“ oder konkret: Wie verhindern wir Diskriminierung, Anfeindung oder Gewalt, die gegen sexuelle Identität gerichtet ist? Ich denke, die Ergebnisse der Politik in den letzten Jahren können sich sehen lassen. ({0}) Einige Beispiele dazu: Wir haben ein Diskriminierungsverbot verwirklicht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Wir haben die Möglichkeit der dritten Geschlechtsoption für intergeschlechtliche Menschen. Wir haben die Möglichkeit der Heirat für Paare gleichen Geschlechts. Die Gesetzgebung des § 175 Strafgesetzbuch ist längst abgeschafft worden. Wir stehen in den letzten Abstimmungen zur Reform des Transsexuellengesetzes. – Das sind wichtige Punkte. Auch wenn sicherlich nicht immer alles perfekt ist, sollten wir diese grundsoliden Fortschritte keinesfalls ignorieren. ({1}) Jetzt aber Aktionspläne, gerne mit der Forderung angereichert, etwas ins Grundgesetz aufzunehmen. So beantragen die Grünen, man möge die sexuelle Identität in den Gleichheitsartikel der Verfassung aufnehmen. Man kann geteilter Meinung sein, ob das eine sinnvolle Handlung ist oder einfach nur ein Label. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir Regeln, die längst de facto kodifiziert sind, nicht ins Grundgesetz aufnehmen müssen, sonst besteht die Gefahr des Wettstreits um die Durchsetzung symbolischer Regeln in unserer Verfassung, auch wenn diese bereits der Rechtswirklichkeit entsprechen. Sie mögen einwenden, dass das Ganze zwar rechtlich längst verbindlich, aber in manchen Milieus nicht angekommen ist. Das ist bedauerlich. Da wird aber auch ein neuer Passus in der Verfassung nicht helfen; denn Toleranz kann man nicht verordnen. Der Weg zu mehr Toleranz führt nicht über symbolhafte Grundgesetzänderungen. ({2}) Was das Thema „Kinder, Ehe und Familie“ angeht, möchte ich anmerken: Das ist ja nun wirklich ein zentrales Feld der Bundesregierung. Vor gut einem Monat haben wir das Gesetz zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern verabschiedet. Das Starke-Familien-Gesetz erreicht die Stärkung durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Im Januar ist das Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in den Kinderbetreuungseinrichtungen, das sogenannte Gute-KiTa-Gesetz in Kraft getreten. Die Reihe lässt sich weiter fortsetzen: die Mütterrente, das Elterngeld Plus, die Flexibilisierung der Elternzeit, die Anhebung des Kindergelds, die Erhöhung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende, die Erhöhung des Kinderzuschlags, die Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes, das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, das Bundesprogramm „KitaPlus“, das Programm „Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestalten“, die Erhöhung der Mittel für die Bundesstiftung „Mutter und Kind – Schutz des ungeborenen Lebens“, die Studie zu den psychischen Folgen von Abtreibungen. All das sind Projekte dieser und der letzten Wahlperiode. Nur im Hinblick auf die Redezeit führe ich viele der weiteren Maßnahmen nicht mehr auf. Sie sehen: Wir brauchen das, was Sie bundesweiten Aktionsplan nennen, nicht. Wir sorgen dafür, dass familienpolitisch auch wirklich etwas passiert. ({3}) Die drei Oppositionsparteien fordern den Schutz von Familien und Kindern, der Ehe und der geschlechtlichen sexuellen Vielfalt. Die Koalitionsfraktionen nehmen die angesprochenen Felder wirklich ernst. Wir stehen für den Schutz von Ehe, von Familien und von Kindern. Wir stehen für den Schutz vor Diskriminierung, vor Anfeindung und Gewalt aufgrund der sexuellen Identität, und wir machen auch die Politik dafür. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Pilsinger. – Die Kollegin Susann Rüthrich gibt ihre Rede zu Protokoll ({0}) – der Beifall ist berechtigt –, sodass ich an dieser Stelle die Aussprache schließen kann. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10224, 19/10553 und 19/10632 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Juni 2019, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen ein inspirierendes Pfingstfest. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 17.30 Uhr)