Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/6/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wo waren Sie am 9. November 1989? Zu Hause? Bei Freunden? Oder in einem Gefängnis der Staatssicherheit? Jeder von uns weiß es. Dieses Datum hat sich in unser Gedächtnis, in das Gedächtnis unserer Nation eingebrannt; denn an diesem Tag fiel die Mauer. Fiel sie? Nein. Bürger in der DDR brachten sie zum Einsturz, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit, nach Demokratie größer war als ihre Angst. Ich kann nur sagen: Was für ein Mut! Das Datum markiert Ende und Anfang zugleich. Damit endete jahrzehntelanger Widerstand gegen Unrecht, Unfreiheit und Planwirtschaft. Manchmal wurde dieser im Westen sichtbar – wie beim Arbeiteraufstand, bei den Friedensgebeten oder dem Sturm auf die Prager Botschaft. Mir und uns ist besonders wichtig, heute auch an die frühen Wegbereiter der Friedlichen Revolution zu erinnern, an die Bürger, die sich in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren gegen das System auflehnten und in Gefängnissen einen hohen Preis für ihren Mut zahlten. Vor ihnen und ihren Familien verneige ich mich, verneigen wir uns heute. ({0}) Aber der 9. November 1989 war auch der Beginn eines Deutschlands, an das viele nicht mehr glauben konnten, manche auch nicht mehr glauben wollten. Meine Damen und Herren von den Linken, Ihr Fraktionsvorsitzender Oskar Lafontaine bescheinigte der DDR, unter Erich Honecker – Zitat – „ein wirtschaftlich leistungsfähiger, innenpolitisch stabiler und außenpolitisch selbstbewusster Staat geworden“ zu sein. Er bezeichnete die Wiedervereinigung im Jahr des Mauerfalls als – Zitat – „historischen Schwachsinn“. Ein Schlag ins Gesicht der SED-Opfer! ({1}) Wie gut, dass es Politiker gab, die sich an die Präambel unseres Grundgesetzes erinnerten, die größer dachten – so wie Helmut Kohl. Gemeinsam mit George Bush und Michail Gorbatschow stellte er entscheidende Weichen. Für uns als Union war die Wiedervereinigung nie ein Lippenbekenntnis, sondern immer Herzensangelegenheit. ({2}) Aber am Ende wäre die Friedliche Revolution ohne den Mut der Menschen nicht möglich geworden. Dieser Mut war keine Selbstverständlichkeit. Hand aufs Herz: Wer von uns wäre bereit gewesen, den hohen Preis dafür zu zahlen? Manche glorifizieren noch heute bzw. wieder die DDR, auch Teile der Linken. Für mich ist das Geschichtsklitterung. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Regimekritiker spüren das bis heute: Ihre Kinder wurden ihnen weggenommen, zur Adoption freigegeben. Die Lebensentwürfe von politisch Verfolgten wurden zerschlagen, ihre Familien in Sippenhaft genommen. Oppositionelle wie unser Kollege Arnold Vaatz wurden ins Gefängnis geworfen –weil er anderer Meinung war. Manche bezahlten mit ihrem Leben. Nur 200 Meter von hier erinnern uns jeden Tag die Holzkreuze daran. Diese Mahnmale sind wichtig – gegen das Vergessen. Deshalb ist für uns in der Union auch die Arbeit in den Gedenkstätten und an Erinnerungsorten wie Hohenschönhausen, Hoheneck, Plauen oder Leipzig, um nur einige zu nennen, unverzichtbar. Wir danken den Menschen, die diese Arbeit dort tun. Danke schön! ({3}) Denn Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Wir erleben es jeden Tag hier im Deutschen Bundestag. Sie, meine Damen und Herren von der AfD, missbrauchen demokratische Rechte, um am Ende unsere Demokratie auszuhöhlen. ({4}) Deshalb ist es auch ein Hohn, dass Sie sich die Losungen und Bilder der Friedlichen Revolution aneignen. Wie gut, dass es Gerichte gibt, die Ihnen genau dies verbieten. ({5}) AfD und die Montagsdemos der Friedlichen Revolution haben nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun. ({6}) Wir, die Union, ziehen keinen Schlussstrich. Auch 30 Jahre später müssen die Opfer Gerechtigkeit erfahren. Die Erinnerung an die Friedliche Revolution darf nicht an Bedeutung verlieren. Deshalb haben wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner diesen Antrag auf den Weg gebracht, liebe Katrin Budde. Deshalb werden wir übrigens auch das Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht abschaffen, sondern weiterentwickeln. Die Akten werden nicht nur uneingeschränkt zugänglich sein, sondern auch für die Zukunft gesichert. Denn auch nachfolgende Generationen sollen erforschen und erfahren können, welches Unrecht in der DDR geschehen ist. Unrecht hat kein Verfallsdatum. ({7}) Deshalb setzen wir uns auch für einen Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur ein. Diese Opfer verdienen Anerkennung und Respekt. Sie sind für uns die Helden der Freiheit. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Tino Chrupalla, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 30 Jahre Friedliche Revolution und zwei Anträge, die darauf abzielen, die Menschen hinter dieser Friedlichen Revolution zu würdigen: Das ist schön. Ich freue mich, dass Ihnen das nach 30 Jahren einfällt; besser spät als nie. ({0}) Die Art und Weise, wie Sie das Engagement gegen die kommunistische Fremdherrschaft im historischen Bewusstsein verankern wollen, erscheint mir allerdings etwas fragwürdig. Das gilt insbesondere für den Antrag der FDP; dazu wird der Kollege Jongen gleich etwas sagen. Ich jedenfalls werde den Eindruck nicht los, dass das hier ein verzweifelter Versuch ist, Schadensbegrenzung zu betreiben. Sie haben das Vertrauen der Wähler in Ostdeutschland verspielt. Das wissen Sie auch. Das erscheint mir die eigentliche Motivation hinter diesen beiden Anträgen. Jetzt versuchen Sie, es sich zurückzuholen. Ich selbst bin ein Kind der DDR und war erst 15, als die Mauer fiel. Aber auch ich weiß noch sehr gut, was man damals unter Familienzusammenführung verstand. Es ging um deutsche Familien, die die Nachkriegsordnung zerrissen hatte. Es war unser innigster Wunsch, die offene Wunde, die unser Land entzweite, zu heilen. Unsere Vision waren die Freiheit und die Einigkeit des deutschen Volkes. ({1}) Frau Connemann, es war ein durch und durch patriotisches Ziel. Die Einzigen, die das nicht wollten, waren die Vasallen der Besatzungskräfte. Auch gegen sie richtete sich unser Widerstand. Wir haben nie aufgehört, für die Freiheit, die Wahrheit und für die Einigkeit unseres Volkes zu streiten und auf die Straße zu gehen. Die Widerständler von damals sind nämlich auch die Widerständler von heute. ({2}) Genau das ist die unbequeme Wahrheit, die Sie nicht hören wollen und die in diesen Anträgen nicht zur Sprache kommt. Die patriotischen Widerständler von damals wollen Sie jetzt feiern und entschädigen. Das ist auch löblich. Aber wenn Sie im selben Atemzug die patriotischen Widerständler von heute entmündigen und entmenschlichen, dann ist das ein großer Widerspruch. Das müssen Sie doch einsehen. ({3}) Man hat bisweilen das Gefühl, dass Sie uns am liebsten in ein Umerziehungslager stecken würden. Wenn Ihnen der innere Frieden und unsere Einheit so wichtig sind, weshalb verhindern Sie dann nicht, dass die Presse Schlagwörter wie „Dunkeldeutschland“ und „brauner Schandfleck“ in die Welt setzt und damit unser Land aufs Neue spaltet? ({4}) Die Wertschätzung, die Sie den friedlichen Revolutionären von damals entgegenbringen wollen, sollten Sie den friedlichen Revolutionären von heute auch entgegenbringen, und zwar jetzt und nicht erst in 30 Jahren. ({5}) Es handelt sich nämlich tatsächlich um dieselben Personen. Damit meine ich nicht Bärbel Bohley und Wolf Biermann, die hier im Antrag von CDU/CSU und SPD genannt werden. Auch ein Siegmar Faust oder ein Michael Beleites waren Widerstandskämpfer. Sie werden heute für ihre nicht konforme Meinung geächtet. Diese Leute verstehen die Welt nicht mehr. Es gibt Millionen von Bürgern, die diese Erfahrung teilen. ({6}) Ich hätte ein paar Vorschläge, wie Sie die Sympathie der Bürger im Osten vielleicht zurückgewinnen können. Anstelle von Gedenkstätten, Denkmälern und Aufarbeitungszentren empfehle ich Ihnen die vollständige Offenlegung der kriminellen Aktivitäten der Treuhand. Eine gründliche Untersuchung, inwiefern bewährte Stasimethoden heute wieder von der deutschen Regierung eingesetzt werden, käme sicherlich auch gut an. ({7}) Wir fordern die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit, die man uns damals versprochen hat. Es wäre schön, wenn Sachsen endlich ein Informationsfreiheitsgesetz bekäme; denn das steht noch aus. Hören Sie endlich auf, die Ostdeutschen wie unmündige Kinder zu behandeln. Hören Sie ihnen einfach zu. Das wäre ein großer und toller Anfang. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katrin Budde, SPD. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage ist nicht: „Wo waren Sie oder wir am 9. November 1989?“, sondern die Frage ist: Wo waren Sie oder wir vor dem 9. November 1989? ({0}) Mich hat im Sommer 1989 mein Vater auf der Arbeitsstelle angerufen – ein Privattelefon hatten wir nicht –, und er hat gesagt: Kind, ich glaube, du könntest die deutsche Wiedervereinigung noch erleben; ich sicherlich nicht mehr, da es ein langer Prozess wird, aber bei dir geht das noch. – Mein Vater war damals 53 Jahre alt, ein Jahr jünger als ich heute. Inzwischen leben sowohl er als auch meine Mutter seit etwa 30 Jahren in einem wiedervereinten Deutschland. Nein, sie waren keine Gewinner der Einheit. Sie haben mit 55 Jahren ihre Arbeitsstellen verloren. Vitamin B für einen neuen Arbeitsplatz hatten sie nicht, weil sie nicht aus den Strukturen kamen. Aber sie haben nie gesagt: Wir wollen zurück. Am 9. Oktober 1989 entschied sich mein Vater, nach Leipzig zu fahren. Mein Mann und ich gingen in den Dom in Magdeburg. Das war der Tag, an dem überall in Ostdeutschland Menschen den Mut fanden, sich den Gebeten und den Demonstrationen anzuschließen. Es war aber auch der Tag, an dem bei uns auf der Arbeit mit Zetteln und über den Werksfunk gewarnt wurde: Geht nicht, heute wird geschossen. – Wir gingen trotzdem. Ja, die Angst ging mit, als wir in Magdeburg in der Leiterstraße durch die Kampfgruppen zum Dom gingen. Das war schon eine besondere Situation. Aber ja, alles blieb ruhig. Der Mut der vielen wurde belohnt, die Besonnenheit, die Ruhe und der Aufruf, sich nicht provozieren zu lassen. Später sagte einmal ein Regierungstreuer: Mit allem hatten wir gerechnet, aber nicht mit Kerzen und Gebeten. So wie ich, die ich damals dabei war, wird niemand von denen, die damals in dieser Oktoberzeit dabei und auf der Straße waren, diese Tage und auch diesen bestimmten Tag vergessen. Wenn wir uns aber in den Herbst 1989 versetzen, dann wissen wir auch, dass damals im Oktober noch niemand wirklich über eine schnelle Wiedervereinigung nachdenken konnte. Trotz der polnischen Gewerkschaftsbewegung, trotz des ersten öffentlichen Unmutes über manipulierte Kommunalwahlen, trotz der Peres­troika, trotz der Vorgängerdemonstrationen in der ersten Oktoberwoche in Potsdam, in Plauen, in Magdeburg und anderswo konnten wir es nicht; denn es gab noch die großen politischen Blöcke. Es gab Ost und West, es gab den Kalten Krieg, es gab die Erinnerung an die Aufstände und deren Niederschlagung in Prag und in Ungarn, an den 17. Juni 1953, und es gab ganz frisch die Erinnerung an die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Nein, dass dieses gesamte System so schnell und so friedlich zusammenbrechen würde, war damals noch außerhalb unserer Vorstellung. Meine Damen und Herren, es wird immer so viel über Dankbarkeit geredet. Wir müssen nur für eines dankbar sein, nämlich dafür, dass dies angesichts der internationalen Situation friedlich möglich war. ({1}) Wir sahen aber eine Chance, wir sahen ein Zeitfenster für die Demokratisierung des Landes, in dem wir lebten. Ich kann heute in acht Minuten nicht alle Zusammenhänge darlegen – viel davon finden Sie im Antrag –, aber ich möchte es Ihnen ein wenig näherbringen. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir es dem Mut der Bürgerinnen und Bürger der DDR zu verdanken haben, dass wir heute in einem Deutschland leben, hier in einem Bundestag – demokratisch gewählt – gemeinsam Entscheidungen für ein gemeinsames Land treffen. Die Mauer ist übrigens nicht aus Altersschwäche eingefallen. ({2}) Die Mangelwirtschaft hat weder den Beton noch den Todesstreifen erreicht. Vielmehr haben wir die Mauer von innen eingedrückt. Da ist nichts gefallen. Wir haben sie mit dem, was wir vorher getan hatten, eingedrückt: mit dem Mut, den es gab, und mit den ersten Plakaten, die für Freiheit standen. ({3}) Aber diese Freiheit ist auch ein ständiger Kampf um sie selbst. Freiheit bedeutet eben nicht die Erfüllung aller persönlichen Träume. Freiheit bedeutet Selbstverantwortung und auch Enttäuschung; auch das kann Freiheit bedeuten. Dass in den Jahren danach zu viele Menschen enttäuscht wurden und verbittert geworden sind und zu viele Menschen heute den verklärten Blick zurück haben und die Demokratie, die wir so mühsam errungen haben, infrage stellen, ihren Wert nicht mehr so deutlich sehen, das ist gefährlich. ({4}) Ich frage mich wirklich mit Schaudern: Wann haben so viele Menschen die Angst vor der Diktatur verloren? Deshalb ist dieser Antrag heute hier im Bundestag wichtig: wichtig, um uns den Mut wiederzugeben, wichtig, um den Ostdeutschen ihre Geschichte wiederzugeben und ihnen zu sagen: „Ihr wart es; ohne euch gäbe es den heutigen Bundestag, dieses heutige Deutschland so nicht“, wichtig für uns, die diese Demokratie bewahren und fortentwickeln wollen, die sie erkämpft haben mit dem Ruf im Herbst 1989: „Wir sind das Volk“ und später dann zum Jahresende mit dem Ruf: Wir sind ein Volk. Diesen Ruf, meine Damen und Herren, müssen die Demokratinnen und Demokraten sich zurückholen. Uns gehört er! ({5}) Es ist auch Zeit, Danke zu sagen und denen Anerkennung zu geben, die in der DDR verfolgt wurden und deren Leben zerstört wurde, denen, die die Stasiakten gesichert haben, denen, die an den runden Tischen gesessen und verhandelt haben, denen, die in einer ersten frei gewählten Volkskammer gearbeitet, gestritten und Entscheidungen getroffen haben – und auch treffen mussten. Denn erst mit diesem ersten frei gewählten demokratischen Parlament in der DDR war es möglich, überhaupt in Verhandlungen zur Wiedervereinigung einzutreten. Das war der Punkt, an dem wir über eine Wiedervereinigung verhandeln konnten. ({6}) Wir müssen auch jenen danken und Anerkennung geben, die danach im wirtschaftlichen Strukturbruch ihre Existenz verloren haben, die ihre Betriebe abreißen mussten. Die Betriebe und die Arbeit waren das, worauf die DDR die Menschen konzentriert hatte. Da gab es die Wohnung. Da gab es den Ferienplatz. Da gab es die Patenbrigade. Da gab es die Brigadefeiern. Die meisten Menschen waren auf diese Betriebe konzentriert. Alles, das ganze Leben spielte sich darüber ab. Diese haben sie dann abgerissen. Da haben diese Menschen 10, 20 oder 30 Jahre gearbeitet. Auch das muss man anerkennen. Wir müssen also auch jenen danken, die in dem neuen Deutschland nicht so angekommen sind, wie sie es sich erträumt und erwünscht haben. Der Prozess von 1990 bis heute ist für diese Menschen eine immense Lebensleistung, und die gehört anerkannt. ({7}) Das Leben vor 1989 war für die meisten Menschen etwas Normales. Sie hatten sich eingerichtet in dieser, ihrer Normalität. Das war ein Leben mit harter Arbeit, mit Organisation in einer Mangelwirtschaft, aber auch mit Geburten, mit Hochzeiten, mit Feiern, mit Alltag, mit Liebe, mit Freunden, in Freude und Leid. Dem alltäglichen Leben in der DDR das Lebenswerte abzusprechen, entwertet das Leben und die Biografien von Millionen Menschen. Das dürfen wir nicht tun. ({8}) Trotz alledem bitte ich diejenigen von uns, die mit ein wenig verklärter Wehmut und rückwärtsgewandtem Blick sagen, dass doch nicht alles schlecht war, sich einmal die die Gegenfrage zu stellen: Was bitte ist an einer Diktatur gut? Nichts. ({9}) 30 Jahre Friedliche Revolution in diesem Jahr, 30 Jahre deutsche Einheit im nächsten Jahr sind Grund, Anlass und Notwendigkeit, sich mit klarem Blick zurück und nach vorn zu fragen: Welche Fehler haben wir im Prozess der Wiedervereinigung gemacht? Was können wir noch korrigieren? Aber auch: Was haben wir erreicht, allgemein und auch ganz persönlich? Jeder muss sich fragen: Worauf können wir stolz sein, ganz allgemein und auch persönlich? Die Welt von heute ist eine andere. Sie ist wesentlich komplizierter als die Welt des Kalten Krieges, die Welt der zwei klaren Blöcke. Die Unterschiede zwischen Einkommen und Vermögen sind in Deutschland groß geworden. Aber die Disparitäten auf der ganzen Welt sind das viel Schlimmere; auch sie sind zu groß geworden. Die Umwelt hat einen Grad an Zerstörung erreicht, der weit über das Maß der Zerstörung in der DDR hinausgeht. Meine Damen und Herren, zur Wahrheit gehört auch, dass wir im Oktober 1989 nicht nur für den Frieden, sondern auch gegen die Zerstörung der Umwelt in der DDR auf die Straße gegangen sind. Auch das war eine Triebkraft; dafür haben sich die Menschen 1989 engagiert. ({10}) Diese Welt macht zu vielen Menschen Angst. Angst lässt sich – das habe ich gelernt – nicht mit Fakten bekämpfen; das macht es so schwer. Trotz alledem: Wir Demokratinnen und Demokraten müssen diese Menschen erreichen; sonst werden sie von anderen erreicht, und die zerstören nicht nur unsere Demokratie, sondern auch die Welt, in der wir leben. Deshalb: Lassen Sie uns im Jahr des 30. Jahrestages der Friedlichen Revolution dafür streiten und mit Mut, mit Freude, aber auch mit Spaß und mit positiver Kraft ein wenig den Herbst 1989 zurückholen. Das wäre schön. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Linda Teuteberg, FDP. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir heute 30 Jahre Friedlicher Revolution gedenken, ist gut und zugleich gar nicht so selbstverständlich. Denn allzu oft ist in diesem Zusammenhang noch von dem Wort „Wende“ die Rede. Dieser Begriff kommt aus einer Zeit, als von politischem Framing noch nicht die Rede war und es trotzdem einige angewandt haben. So versuchte die SED, den Eindruck zu erwecken, nicht etwa mutige Bürger hätten sich ihre Freiheit erkämpft, sondern sie selbst hätte plötzlich eingesehen, Reformen auf den Weg bringen zu müssen. Egon Krenz hat im Herbst 1989 die Debatte so geprägt. Umso wichtiger ist, dass wir heute daran erinnern, dass es anders war: Es war eine friedliche Revolution, und es waren Bürger, die sich ihre Freiheit erstritten haben, liebe Kollegen. ({0}) Wer sich die Situation vor 30 Jahren noch einmal genau anschaut, der bekommt ein Gefühl dafür oder zumindest eine Ahnung davon, unter welcher Gefahr und mit welchem Risiko die Bürger sich entschieden, auf die Straße zu gehen. Vor fast genau 30 Jahren fand das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking statt. Die Bilder gingen um die Welt. Auch die Bürger der DDR sahen sie. Die SED-Führung war schnell und eindeutig darin, diese sogenannte chinesische Lösung zu begrüßen. Es wurde gesagt, dass da wieder Ordnung hergestellt worden sei, dass man mit den Freunden in China auf der Barrikade der sozialistischen Revolution stehe. In dem Bewusstsein, dass es sie ihre Freiheit oder sogar ihr Leben kosten könnte, begannen die Bürger der DDR, und zwar besonders merklich nach den gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 und im Bewusstsein um diese Bilder aus Peking, auf die Straße zu gehen. Dass es friedlich bleiben würde, konnten sie nicht wissen, als sie sich dazu entschieden. Das zeigt noch einmal, wie besonders diese Situation war und wie viel Respekt diese Menschen von uns verdienen. ({1}) Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, motivierte die Menschen, so viel zu riskieren? Es war zum einen der Mangel an fundamentalen Bürgerrechten, an freien und geheimen Wahlen, an Meinungs- und Pressefreiheit, an Reisefreiheit, um nur einige zu nennen. Es war aber übrigens auch die Verzweiflung über den Zustand zum Beispiel ostdeutscher Innenstädte oder der Umwelt. Es war das Erleben. Dafür gibt es konkrete Beispiele: In Potsdam standen Teile der Innenstadt kurz vor dem Abriss; dieser war bereits geplant. Einige Bürger wollten das nicht hinnehmen und haben dagegen protestiert. Die Krämerbrücke in Erfurt wäre heute nicht mehr da und saniert, wenn die DDR noch länger bestanden hätte. In Leipzig wurden vor der Messe regelmäßig Potemkinsche Dörfer aufgebaut. Da wurden in Häusern, die schon baupolizeilich gesperrt waren, Gardinen aufgehängt, Blumentöpfe ins Fenster gestellt und die Fassaden gestrichen. Darüber waren die Bürger frustriert und waren resigniert. Das zeigt Folgendes: Weder für Wohnungsmangel noch für Umweltschutz bot der Sozialismus Lösungen. Das sollte uns auch heute eine Lehre sein. ({2}) Es zeigt übrigens auch, dass politische und wirtschaftliche Freiheit auf Dauer zusammengehören und nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Ich finde es daher wichtig, daran zu erinnern, dass auch die Berufsfreiheit ein wichtiges Grundrecht ist, das in der DDR fundamental verletzt wurde. Deshalb ist mir wichtig, dass wir in unseren Antrag die Gruppe der verfolgten Schüler als eine verfolgte Gruppe in der DDR aufgenommen haben, die noch nicht hinreichend gewürdigt ist. Der Eingriff in Bildungs- und Berufsbiografien ist auch ein fundamentaler Eingriff in Freiheitsrechte. Schließlich zeigt sich, dass es immer auf den Mut, die Verantwortungsbereitschaft und auf das Gewissen jedes und jeder Einzelnen ankommt. Der Bürgerinnen und Bürger, die den aufrechten Gang üben und zeigen, was sie nicht mehr wollen, und auf die Straße gehen. Auch der Politiker, die die richtigen Signale setzen und den Menschen zeigen, dass sie nicht allein sind. Hans-­Dietrich Genscher hat etwa im Juni 1988 in Potsdam gegenüber Außenpolitikern aus den USA und der Sowjetunion gesagt: Sie werden sehen, die Menschen hier sehen aus wie Deutsche, und sie verhalten sich, wie Deutsche sich verhalten. – Damit wollte er zeigen, dass es trotz zweier Staaten immer noch eine Nation und ein Volk gibt. Schließlich kommt es im Einzelfall auch auf die Verantwortungsbereitschaft derjenigen an, die die Waffen doch schweigen ließen, und zwar trotz und nicht wegen der Verkündungen der SED-Führung, meine Damen und Herren. Auch sie haben Gewissen und Verantwortungsbereitschaft gezeigt. Reiner Kunze hat einmal gut zusammengefasst, was die sogenannte Ethik des SED-Regimes ausmachte. Er sagte: Im Mittelpunkt steht der Mensch. Nicht der Einzelne. – Unser Grundgesetz definiert das anders. Lassen Sie uns darauf gemeinsam stolz sein und mit Respekt darüber reden, wie wir das noch besser in Gesamtdeutschland mit Leben erfüllen können. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Matthias Höhn, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über die historische Dimension des Widerstandes und der Demonstrationen im Herbst 1989 sprechen, dann muss man daran erinnern, dass dies wirklich Mut und auch echte Entschlossenheit verlangte. Jeder von uns Ostdeutschen wusste, dass sein individuelles Verhalten nicht unbemerkt blieb. Niemand konnte sicher sein, wie die DDR-Staatsführung reagieren würde und welche Konsequenzen Widerstand haben würde. Bevor sich Tausende Demonstranten zum Beispiel auf dem Leipziger Ring gegenseitig über ihre bloße Zahl, durch ihre Geschlossenheit schützen konnten, standen viele einzelne, ganz private Entscheidungen an, dieses hohe Risiko einzugehen. 30 Jahre danach sind wir weiterhin dankbar für diesen Mut. 30 Jahre danach sind wir dankbar für jede Entscheidung, die diese Revolution als eine friedliche in die Geschichtsbücher eingehen ließ. ({0}) Gedenktage sind allerdings auch Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Herbst 1989 wird mittlerweile von vielen Menschen in Ostdeutschland ins Verhältnis gesetzt zu dem, was danach kam. Während die Bundesregierung seit 30 Jahren Festreden hält, ziehen die Menschen Bilanz, und sie ziehen eine gemischte Bilanz. 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wählen viele Menschen gar nicht mehr, oder sie wählen autoritäre und nationalistische Parteien. Demokratische Parteien, das Parlament und die liberale Demokratie sind für viele kein Wert mehr an sich. Aber neben der nationalistischen Debatte gibt es längst eine progressive Gegenpolitisierung, die ebenfalls nicht gehaltene Versprechen der Demokratie hinterfragt. Diese Gegenpolitisierung hinterfragt die EU-Politik, die Bankenmacht und die Antiklimalobby. Sie fragt nach Chancengleichheit und nach Arbeitnehmerrechten in digitalen Zeiten, und diese müssen wir stärken, wenn wir uns die letzten Wahlergebnisse anschauen. ({1}) 1989 mit diesen neuen Kämpfen zu verbinden, heißt doch, die Demokratie als Wechselspiel von Freiheit und sozialen Sicherheiten weiterzuentwickeln. Davon atmet der Antrag der Koalition allerdings absolut nichts. Sie verkoppeln auch heute wieder – liebe Katrin Budde, ich wäre dankbar, wenn deine Rede Inhalt des Antrags gewesen wäre – ({2}) 1989 ausschließlich mit der DDR als Diktaturgeschichte. Aber die zentrale Debatte darüber, wie Menschen solidarisch zusammenleben wollen und können, läuft heute ab und nicht in einer eingefrorenen Vergangenheit. ({3}) Nach einem kurzen Jahr der demokratischen Selbstermächtigung zwischen 1989 und 1990 folgte mit der Treuhand das Gegenteil von Mitbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe in Ostdeutschland. Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus konnte der Markt radikal schalten und walten. ({4}) Wer die Dominanz des Westens im Osten ansprach, musste lange viel einstecken. Die immer weiter bestehenden Unterschiede bei Löhnen, bei Renten und bei Vermögen sind als Übergangsprobleme kleingeredet worden. Heute müssen wir feststellen, dass der sozioökonomische Kahlschlag zusammen mit dem Elitenthema und der enormen Abwanderung verheerend auf die politische Stimmung wirkt. Sie können nicht weiter den Heldenmut von 1989 in Ihren Reden feiern, ohne zur Kenntnis zu nehmen, wie tief viele dieser Helden in den Monaten danach gefallen sind. ({5}) Wie also würdigen wir in diesem Jahr den Herbst 1989? Wir würdigen ihn, indem wir und vor allem die Bundesregierung endlich Politik für ostdeutsche Interessen machen. Die Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien haben in diesem Jahr, auch heute wieder, ein neues Wort für sich entdeckt. Ich höre immer wieder, man müsse die „Lebensleistung“ der Ostdeutschen anerkennen – in Ihren Anträgen, die heute vorliegen, fehlt dieses Wort dagegen wieder –; aber vor der Leistung kommt das Leben, und das war eben auch ein Leben in der DDR. Sie begreifen das – ungeachtet aller gesellschaftlichen Debatten, die derzeit stattfinden – leider immer noch nicht. Die DDR-Gesellschaft wird von der Koalition und auch von der FDP in ihren Anträgen weiterhin auf einzelne Punkte reduziert: ({6}) Diktatur, Widerstand und Zwang. Alles andere aus der DDR bleibt für Sie ein Niemandsort. ({7}) Es gibt keine Lebenserfahrung aus dem Osten in der kollektiven Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Ohne Lebenserfahrung gibt es auch nichts Legitimes, nichts, was wert war an aktivem Versuch oder auch passiver Duldung, um nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs eine andere Gesellschaft aufzubauen. Ohne Legitimation kann man auch nichts leisten, nicht vor 1989 und auch nicht danach. So muss man leider die Deklassierung der Ostdeutschen verstehen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({8}) Dem Dank an die mutigen Frauen und Männer von 1989 schließe ich mich an. Aber Sie müssen endlich verstehen, dass Sie diesen Dank entwerten, wenn Sie Ostdeutschland zur bloßen Geschichtsstunde machen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einmal im Leben die eigenen Träume Wirklichkeit werden lassen, die Fesseln abwerfen, Mauern einreißen – wer möchte das nicht? Die Bürgerinnern und Bürger der DDR haben das erlebt. Ein Traum wurde Wirklichkeit, ein Traum wurde wahr. Ganz am Anfang waren es nur wenige, die Leib und Leben der Gefahr ausgesetzt haben. Die lähmende Angst war allgegenwärtig. Menschen gingen auf die Straße gegen Wahlfälschung und für Ausreise. Wir bedanken uns heute bei all denjenigen, die so viel riskiert haben. Wir bedanken uns heute bei all denjenigen, die sich an der Friedlichen Revolution beteiligt haben in einer Zeit, in der nicht klar war, dass sie friedlich bleiben würde. Es ist schade, dass Sie das in Ihrem Antrag nicht so würdigen, wie es eigentlich gewürdigt werden müsste. ({0}) Wir wissen ja spätestens seit der Niederschlagung der Aufstände vom 17. Juni, dass die DDR-Diktatur ihre Macht mit Gewalt verteidigen würde. Wir wissen, dass die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens bei den Bürgerrechtlern und vielen anderen Menschen in der DDR Angst ausgelöst haben; aber sie sind unbeugsam geblieben, übrigens über viele Jahrzehnte. Ich erinnere an Pfarrer Brüsewitz, der sich in den 70er-Jahren verbrannt hat. Ich erinnere an die Gruppen in den kirchlichen Kreisen, an den konziliaren Prozess der DDR, im Zuge dessen man sich um Frieden, Gerechtigkeit und übrigens auch um die Bewahrung der Schöpfung gekümmert hat. Ich erinnere an all diejenigen, die Tag für Tag riskierten, im Gefängnis zu landen, und wussten, dass sie ihres Lebens nicht mehr froh werden würden, wenn das tatsächlich passiert. Ich erinnere an diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass diese Revolution stattfinden konnte und friedlich blieb, und die unbeugsam waren bis in den Herbst 1989 hinein. ({1}) Meine Damen und Herren, später wurden es mehr. Bei mir war es zuerst die Junge Gemeinde. Im Herbst 1989 bin ich mit meinem Sohn, der nur ein paar Wochen alt war, zu Friedensgebeten und auf Demonstrationen gegangen. In den Nebenstraßen standen die Wasserwerfer. Später wussten wir auch, wer auf den Listen für die Internierungslager gestanden hat. Ich werde nicht vergessen, dass ich immer ein paar Minuten eher gegangen bin in der Sorge, dass Gewalt ausbrechen würde. Ich werde auch nicht vergessen, dass wir uns zu Hause immer abgesprochen haben: Was machen wir, wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht zu Hause ankommen? Was muss dann geschehen? Wen rufen wir an? Wie sorgen wir dafür, dass dieses Kind aufwachsen kann? – Ich habe es trotzdem gemacht, weil ich damals der Überzeugung war, dass das Aufwachsen in Freiheit, die Möglichkeit, in einem demokratischen Land zu leben, so unendlich viel wichtiger ist als alles andere, sodass es richtig ist, ein Risiko einzugehen. Ich bin sehr froh darüber, dass mein Sohn und auch der zweite heute sagen: Die Demokratie zu verteidigen, ist ganz zentral. – Und das tun wir heute in unserem Land, übrigens auch gegenüber allen, die versuchen, unser Land zu spalten, die unsere Demokratie mit neuem Autoritarismus und mit neuen Anwandlungen von diktatorischem Handeln grundsätzlich infrage stellen. Wir lassen nicht zu, dass die Demokratie gefährdet wird, meine Damen und Herren. ({2}) Am Anfang waren es wenige, und daneben standen Menschen mit ihren Einkaufsbeuteln. Später haben sie sich eingereiht. Dann waren es sehr viele, die auf die Straße gegangen sind. Jemand hat gesagt – Frau Budde hat es angesprochen –: Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. – Die Friedliche Revolution, die friedlich geblieben ist, hat übrigens nicht Helmut Kohl gemacht, die haben die Menschen in der DDR gemacht, Frau Connemann. Das zu würdigen, ohne so zu tun, als ob es doch irgendjemand anderes gewesen ist, könnte diese Debatte heute in aller Ehrlichkeit vertragen. ({3}) Wenn ich mir Ihren Antrag und übrigens auch die Redner auf der Redeliste der Union anschaue, dann muss ich sagen: Es fehlt noch was anderes. Es fehlt der Blick auf das gemeinsame Europa. Wo ist eigentlich die Würdigung der Revolutionen in den anderen osteuropäischen Ländern? ({4}) Warum kommt bei Ihnen Polen nicht vor, Polen und die Solidarnosc, das Land, wo es begonnen hat, übrigens auch mit Wojtyla, Papst Johannes Paul II.? Warum kommen eigentlich die Charta 77 und Vaclav Havel nicht vor? Warum kommen diejenigen nicht vor, die die Wegbereiter waren? Ich erinnere an die Grenzöffnung in Ungarn. Das wäre übrigens ein wichtiges Signal an Herrn Orban gewesen, der die Freiheit und die Demokratie infrage stellt. ({5}) Dort hat damals das gemeinsame Europa begonnen. Das war die Grundlage, das war der Grundstein für das, was wir heute haben. Was Sie zu dem Umgang mit den Opfern von damals gesagt haben, ist ja richtig. Ich will Ihnen aber dezidiert sagen: Das, was Sie sagen, hätten Sie schon lange machen können. Ich denke an die Heimkinder, die Zwangs­adoptierten, die Opfer des SED-Unrechts, die heute immer noch in einer schwierigen sozialen Lage sind. Sie müssen sich wirklich fragen lassen: Warum haben Sie da nicht längst etwas gemacht? Wir hören Bekenntnisse, Sie reden von Helden und Beauftragten. Das alles ist richtig und schön, aber am Ende des Tages braucht es eben richtiges, echtes Handeln. ({6}) Ich will zum Schluss sagen, dass ich glaube, dass wir das, was damals im Übergang passiert ist – die freien Volkskammerwahlen, aber eben auch die runden Tische und der Versuch, gemeinsam Bündnisse zu schmieden und in Bündnissen zu handeln –, heute würdigen müssen, wenn es um die Frage geht, was wir unter Demokratie verstehen. Es geht nämlich nicht darum, dass man irgendetwas macht und es dann gut oder schlecht verkauft. Es geht auch nicht darum, zu sagen: Jetzt bearbeiten wir dieses oder jenes Thema, weil die Leute das zu mögen scheinen. – Nein, es geht darum, gemeinsam etwas zu erarbeiten. Demokratie und Freiheit sind eine Aufgabe. Es geht darum, über die Opfer zu reden, aber auch über diejenigen, die die Freiheit genutzt haben, die Unternehmerinnen und Unternehmer, die Ärztinnen und Ärzte, die Künstlerinnen und Künstler und die Hebammen, die sich selbstständig gemacht haben, also all diejenigen, die gezeigt haben, dass sie etwas mit der Freiheit anfangen können. Es geht um beides: um die Würdigung dessen, was war, und um die Würdigung dessen, was ist. Es geht darum, dass wir die Demokratie verteidigen, jeden Tag und im Zweifelsfall immer von Anfang an, in Ost wie in West. Es geht um diejenigen, die heute ihren Rücken geradehalten, auch wenn sie Hass und Hetze erleben, Bedrohungen ausgesetzt sind – in Ost und West – und sogar ermordet werden, wie Herr Lübcke in diesen Tagen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Elisabeth Motschmann, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern, danken, bewahren – das ist das Motto meiner Rede. Die Friedliche Revolution 1989 gehört zu den glücklichsten Momenten der jüngeren deutschen Geschichte. ({0}) Die Erinnerung an dieses Jahr ist Grund zur Freude. Frauen und Männer der damaligen DDR haben für ihre Freiheit gekämpft. Das war mutig, und dafür können wir jedem Einzelnen danken. ({1}) Fast auf den Tag genau vor 30 Jahren, am 7. Juni 1989, versammelte sich eine kleine Gruppe von Demonstranten in unserer Nähe hier, nämlich vor der Sophienkirche. Sie protestierten gegen den nachgewiesenen Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen am 7. Mai in der DDR. Wer den SED-Staat kritisierte, musste mit harten Konsequenzen rechnen. Selbstverständliche Menschenrechte wie Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, freie Wahlen und freie Medien wurden den DDR-Bürgern vorenthalten. Die Toten an der Mauer, die Inhaftierten in den menschenunwürdigen Gefängnissen der Stasi, die Zwangsadoptionen, die Heimkinder, die Opfer der Stasispitzel und die vielen, die unter der permanenten Alltagsrepression der SED-Diktatur zu leiden hatten, dürfen wir niemals vergessen. ({2}) Das sei allen gesagt, die die DDR-Zeit im Rückblick verklären. Eine Diktatur kann man niemals verklären. ({3}) Aus dem Protest einiger weniger entwickelte sich ein Massenprotest. Eine Bewegung wurde ausgelöst, die schließlich zu den großen Montagsdemonstrationen in vielen Städten der DDR mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ führten. Auf diese Demonstranten können wir sehr stolz sein. Im Westen – auch daran will ich erinnern – ergriff Helmut Kohl die einmalige Chance zur Wiedervereinigung. Bereits am 28. November 1989 formulierte er in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag ein Zehnpunkteprogramm zur Neuregelung der deutsch-deutschen Beziehungen und zur Lösung der deutschen Frage. Er überraschte damit das Ausland, die Alliierten, die DDR-Führung, aber auch die Bundestagsopposition. Helmut Kohl ergriff damit sehr früh und sehr schnell die Chance zur Wiedervereinigung. Ohne die tapferen Polen und ihre Freiheitsbewegung Solidarnosc, ohne Lech ­Walesa, ohne die Ungarn und ohne viele europäische Mitspieler – so nenne ich sie mal – wäre es vielleicht nicht so schnell gegangen. Dennoch hat es Helmut Kohl zu Recht verdient, als Kanzler der Einheit bezeichnet zu werden. ({4}) Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass die Stimmung in Westdeutschland mit Blick auf eine Wiedervereinigung zunächst eher kritisch war. Ich erinnere mich an Demonstrationen in Bremen. Auf den Plakaten und Transparenten war zu lesen – man höre und staune –: „Für die Souveränität der DDR“, „Kein 4. Reich“, „... nie wieder Deutsches Reich“, „Gegen nationale Besoffenheit“. Insbesondere Vertreter der EKD, Frau Göring-­Eckardt, der Evangelischen Kirche in Deutschland, und auch einige Politiker der SPD standen der Wiedervereinigung skeptisch bis ablehnend gegenüber. ({5}) Walter Momper erklärte, dass es nicht um Wiedervereinigung, sondern um Wiedersehen gehe. Manfred Stolpe erklärte die Wiedervereinigung als ausgesprochen friedensgefährdend. ({6}) Auch daran darf man heute erinnern. Ich könnte dazu noch sehr viel mehr sagen. ({7}) Was gehört nun – das gehört ja zu meinem Motto – zum Bewahren? Dazu brauchen wir die Stasi-Unterlagen-Behörde, ein Mahnmal für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft, Forschungseinrichtungen, Zeitzeugen, die Unterstützung der Opfer und ihrer Verbände sowie Gedenkveranstaltungen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich ganz besonders jenen danken, die hier Arbeit leisten. Stellvertretend nenne ich – er sitzt hier auf der Tribüne – Roland Jahn von der Stasi-Unterlagen-Behörde, Anna Kaminsky von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und stellvertretend für die Opferverbände Frank Ebert. Ihnen allen sei ganz herzlich Dank für ihre notwendige Arbeit gesagt. ({8}) Ich glaube, keine Worte können den damaligen Wunsch der Menschen in Ostdeutschland besser auf den Punkt bringen als unsere gemeinsame Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit  für das deutsche Vaterland!  Danach lasst uns alle streben  brüderlich mit Herz und Hand! In diesem Sinne müssen wir an diese Geschichte zurückdenken. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Die Revolutionstage des Jahres 1989 in der damaligen DDR konnte ich als Student in Wien damals nur über die Medien mitverfolgen. Aber selbst über das Fernsehen haben sich die dramatische Spannung, die Hoffnung und schließlich die euphorische Freude vermittelt, die mit der friedlichen Revolution und dem Mauerfall einhergingen. Der Ruf „Wir sind das Volk“ in den Straßen Leipzigs und andernorts war ursprünglich eine Art Bannzauber, der die sogenannte Volkspolizei davon abhalten sollte, auf die friedlichen Demonstranten zu schießen: Wir sind nicht die Rowdys, als die die Staatsführung uns hinstellen will – nicht das „Pack“, wie es in der heutigen Terminologie heißt –; wir sind das Volk, und ihr, die Polizei, seid da, um uns zu schützen. – Daraus wurde: Wir sind ein Volk. Die deutsche Teilung muss enden. Dieses Mutes, dieses Freiheitswillens und auch dieses Patriotismus in vielfacher Art zu gedenken, ist wichtig und überfällig. Das periodische Wiederaufleben der Euphorie jener Tage kann das Wirgefühl stärken, das alle Deutschen – bis auf ein paar verbiesterte Sozialisten in Ost und West – damals erfasst und vereint hat und das so wichtig ist für den Zusammenhalt einer Nation. ({0}) Die Anträge der Regierung und der FDP enthalten insofern durchaus viel Zustimmenswertes. An entschei denden Stellen lassen beide Anträge aber befürchten: Das Gedenken an die friedliche Revolution wie vor allem auch an das Unrecht der SED-Diktatur soll hier wieder einmal für gegenwärtige politische Zwecke instrumentalisiert und damit verdorben werden, ganz ähnlich wie wir es schon von bestimmten Formen der NS-bezogenen Erinnerungskultur kennen. ({1}) Ich sage Ihnen auch, warum. Im Regierungsantrag steht: Der Deutsche Bundestag verwahrt sich gegen die Vereinnahmung der Losungen und Errungenschaften des Herbstes 1989 unter anderem durch nationalistische, antidemokratische Parteien und Bewegungen. ({2}) Wenn Sie von der Regierung und der Pseudoopposition sich immer so gern als die „demokratischen Fraktionen“ bezeichnen, dann wissen wir natürlich auch, wer mit „antidemokratisch“ gemeint sein soll, ({3}) nämlich die einzige echte Opposition in diesem Land, die bösen Populisten von der AfD. ({4}) Frau Connemann, Sie sollten sich schämen, diese Infamie hier explizit zu verbreiten. ({5}) Der FDP-Antrag wird noch deutlicher. „Antiliberale Kräfte des Rückschritts“ wollen angeblich „die Dialogfähigkeit sowie Toleranz unserer freiheitlichen Gesellschaft negieren“. ({6}) Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur bietet die Chance, – so schreiben Sie in schönster Offenheit – diese Gefahren in der Gegenwart zu erkennen. In volkspädagogischer Überheblichkeit wollen Sie das verstockte Volk, vor allem im Osten, darüber aufklären, wofür es damals in Wahrheit auf die Straße gegangen ist, ({7}) nämlich für Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit. – Das ist doch nicht Ihr Ernst, meine Damen und Herren. ({8}) Die Menschen sind damals für Freiheit, Recht und Einigkeit auf die Straße gegangen. ({9}) Das Erkämpfte wollen und werden sie sich nicht nehmen lassen. Wundern Sie sich bitte nicht, warum die AfD in den neuen Bundesländern immer stärker wird. Die Menschen dort sind nicht so dumm, wie Ihre Anträge das dreist suggerieren. ({10}) Die Ostdeutschen haben ein sehr feines Gespür dafür, wenn sie von oben wieder gegängelt und belehrt werden, wenn Medien nicht mehr kritisch berichten, sondern propagandistisch eine Einheitsmeinung vertreten. Das kennen sie nämlich, das erinnert sie verdächtig an die DDR. Wenn daher heute in Dresden und anderswo in Mitteldeutschland wieder „Wir sind das Volk“ gerufen wird, dann ist das kein Missbrauch dieser Parole, Frau Connemann, dann lebt der damalige Widerstand authentisch wieder auf. ({11}) Es ist ein Hohn, wenn Ihre Anträge diesen Mut und diese Liebe zum eigenen Land ausgerechnet im Namen der Revolution von 1989 als antidemokratisch verketzern wollen. ({12}) Ich komme zum Schluss. Natürlich ist die Bundesrepublik nicht die DDR. Aber 30 Jahre nach deren Ende tauchen einige ihrer Merkmale gespenstisch wieder auf. Schuld daran sind gewiss nicht die Populisten, sondern die Kryptosozialisten in den Altparteien, bald wohl wieder Blockparteien. ({13}) Lassen Sie ab von Ihrer Arroganz! Nehmen Sie die heutigen Dissidentenstimmen ernst! Treten Sie mit den Dissidenten in den Dialog! ({14}) Die DDR sei Ihnen Mahnung. Vielen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dietmar Woidke. ({0})

Not found (Unbekannt)

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich war im Herbst 1989 28 Jahre alt und habe unweit von hier in der Invalidenstraße an der Humboldt-Uni gearbeitet. Ich war am 7. Oktober 1989 nicht im, sondern vor dem Palast der Republik. Sie haben wahrscheinlich auf Bildern gesehen, dass dort damals demonstriert worden ist. Ich war an diesem 7. Oktober danach in der Schönhauser Allee und habe gesehen, wie Menschen zusammengeschlagen wurden. ({0}) – Darüber können Sie ruhig lachen; das passt zu Ihnen. ({1}) Ich habe gesehen, wie Menschen weggeschleppt wurden, wie Menschen in den Knast gebracht und misshandelt wurden. Ich habe gesehen – das ist das Bild, das sich mir aus dieser Nacht eingebrannt hat; ich habe damals am Rosenthaler Platz gewohnt und bin von der Schönhauser Allee über die Kastanienallee nach Hause gelaufen –, dass eine Straßenbahn hinter der anderen stand; das war damals die Linie 49. In der Nacht des 7. Oktober habe ich mir gedacht: Wie geht es weiter? Was kann passieren? Dann kam der 9. Oktober in Leipzig. An diesem 9. Oktober – man konnte es fast hören – gab es ein riesengroßes Aufatmen, ein Aufatmen darüber, dass die Proteste in Leipzig – damals sind Hunderttausende auf die Straße gegangen – friedlich geblieben sind, dass das Regime nicht durchgegriffen hat, wie es vorher angedroht wurde, sondern sich Vernunft durchgesetzt hat. Dann gab es am 4. November die große Demonstration auf dem Alexanderplatz; das war schon ein Zeichen in die richtige Richtung. Es gab den Wechsel an der Spitze der SED und vieles andere mehr. Es gab einen Satz von Egon Krenz, der vielleicht erklärt, warum ich den Begriff „Wende“ heute noch nicht leiden kann. ({2}) Er hat nämlich gesagt: „Die Wende ist eingeleitet“, und meinte damit die Wende der SED. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hatte auch das Glück, in der Nacht des 9. November auf der Bornholmer Brücke dabei zu sein, als die Mauer gefallen ist. Als wir aus dem aufgrund des Grenzregimes hell erleuchteten Osten in den Westen gegangen sind, standen wir ungläubig da und haben gesagt: Hier ist es ja dunkler als im Osten. ({4}) Ich glaube, das ist heute noch so. Sie können den Weg vielleicht noch einmal gehen. Aber das Wort dieser Nacht und in den Wochen danach war „Wahnsinn“; es stand teilweise groß in den Zeitungen. Es war ein Gefühl der Freiheit, ein Gefühl der Grenzenlosigkeit, das ich mir vorher in dieser Art nicht hätte vorstellen können, ein riesengroßes, gutes Gefühl, entstanden auch durch die vielen Dinge, die dann in schneller Folge passiert sind. Ich muss auch sagen: Es gehört zur Geschichte, dass damals Bundeskanzler Helmut Kohl diese Chance ergriffen hat und gemeinsam mit den Verbündeten, aber auch gemeinsam mit der damaligen Sowjetunion dafür gesorgt hat, dass die Rahmenbedingungen für die Herstellung der deutschen Einheit gesetzt werden konnten und die deutsche Einheit dann vollzogen werden konnte. ({5}) Allerdings war diese Zeit der Hoffnung, diese Zeit des Aufbruchs für viele Menschen in Ostdeutschland auch eine Zeit des großen Umbruchs: Arbeitsplätze sind innerhalb weniger Jahre verschwunden. Es gab damals, muss man heute sagen, Massenarbeitslosigkeit. Es gab Hoffnungslosigkeit. Es gab Perspektivlosigkeit. Viele junge Menschen haben das Land deshalb verlassen. Ich glaube, wenn wir heute zurückblicken, muss man für das, was wir erreicht haben, dankbar sein. Die schweren 90er-Jahre sind überstanden, auch dank der Hilfe und der Solidarität in Deutschland insgesamt, für die ich hier Danke sagen möchte. ({6}) Ich sage Danke, aber gleichzeitig: Es gibt noch viel zu tun. Wir haben unterschiedliche Rentenrechte; das verstehen die Menschen nicht. Dabei geht es nicht um 1,20 Euro mehr oder weniger im Monat. Es geht einfach darum, dass wir eine gleiche Rechtsetzung in Deutschland brauchen und wollen. Es geht um Unterschiede in der tariflichen Bezahlung: 80 Prozent dessen, was in Westdeutschland im Durchschnitt verdient wird, wird in Ostdeutschland verdient. Da muss dringend etwas getan werden. Die Bezahlung muss steigen, damit wir auch in diesem Bereich weiter vorankommen. ({7}) Auch wenn wir weiter vor großen Herausforderungen stehen, wir stolz sein können auf das, was wir geschafft haben, und wir die Probleme angehen, sollten wir eines aus der friedlichen Revolution 1989 gelernt haben: Schaffen können wir das alles nur im Miteinander und nicht in Spaltung, in Hetze oder in Intoleranz. Die Leistungen, die vollbracht worden sind, sind eine gemeinsame Leistung. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass Deutschland in allen seinen Teilen weiter erblüht. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hacker, FDP. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es waren die Menschen – Menschen wie du und ich –, die vor 30 Jahren genau das getan haben, was wir doch alle für richtig halten: Aufstehen gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit, Aufstehen gegen Willkürherrschaft und Unterdrückung, Aufstehen gegen Verachtung und Verfolgung Andersdenkender. Ja, wenn es denn so einfach wäre, dieses Aufstehen. Zum Aufstehen gehört Mut; schließlich, wenn man weiß, dass dadurch die Familie gefährdet sein kann. Dazu gehört unbeschreiblich großer Mut, wenn man befürchten muss, dass die Polizei oder die Armee die Waffen gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger richtet. Diese Gefahr für das eigene Leben war im Jahr 1989 eine ganz reale Gefahr. Schon mehrfach rollten im Kommunismus die Panzer gegen die Bevölkerung. In Peking wurde die demonstrierende Jugend Chinas auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergemetzelt. Wer von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte diesen Mut aufgebracht, das eigene Leben zu riskieren, um für die Freiheit zu kämpfen? Wohl die allerwenigsten. Es waren die Menschen in der DDR, die genug hatten von einem Staat, der unterdrückt, die ihr Leben riskierten und die Mauer niederdrückten. ({0}) Menschen fanden sich zusammen in den Kirchen und außerhalb – immer mehr Menschen im Einsatz für Menschenrechte, Umweltschutz, Frieden, Demokratie und Freiheit, und sie gingen auf die Straße. Bürger der DDR flohen in die Botschaften der Bundesrepublik und erhöhten so den internationalen Druck auf das eigene Regime. Die Welt geriet in Bewegung. Die Proteste nahmen zu. Der Zaun zwischen Ungarn und Österreich wurde zerschnitten. Hans-Dietrich Genscher konnte den Prager Botschaftsflüchtlingen ihre Ausreise verkünden. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig schwollen an. Der Funke der Freiheit sprang auf andere Städte über. Hunderttausende gingen auf die Straße – immer wieder –, und die Mauer fiel. ({1}) Jetzt ging es los. Runde Tische ersetzten staatliche Repression. Die Stasiunterlagen wurden erobert und gesichert. Die ersten demokratischen Volkskammerwahlen fanden statt. Meine Damen und Herren, wir erinnern uns heute dankbar an die mutigen Bürgerinnen und Bürger der DDR und spüren doch die Verantwortung, die uns bleibt im Zusammenwachsen unseres geeinten Landes, im Einsatz für die Opfer des DDR-Regimes, im Kampf für Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Mitmenschlichkeit, Demokratie und Freiheit, aber auch im Kampf gegen illiberale Kräfte im In- und Ausland. Unser Wissen und die Aufarbeitung der Vergangenheit sind der Schutzschild unserer freien Gesellschaft gegen die Demagogen und Verführer von heute. Herr Dr. Jongen, Sie haben es genau erkannt. ({2}) Nie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir vergessen, was die Menschen vor 30 Jahren auf die Straße trieb, was die Kraft entfacht, die Mauern einreißen und Brücken bauen kann: Es ist die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Für die Bundesregierung erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian Hirte. ({0})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Jahr würdigen wir 30 Jahre Mut der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Was so banal klingt, das muss man natürlich auch einordnen, vor allem historisch. Es ist schon einige Male angeklungen: Ziemlich exakt heute vor 30 Jahren gingen Bilder aus China um die Welt, die durchaus andere Möglichkeiten auch für die DDR vorstellbar machten. Überall auf der Welt war vor 30 Jahren aber der Kommunismus in seiner damaligen Form angegriffen. Die Fassade des Sozialismus hatte Risse bekommen, auch in der DDR. Die Sowjetunion etwa experimentierte mit Glasnost und Perestroika – heute weiß man: nicht allzu erfolgreich. ({0}) Wir hatten auch – das ist schon richtigerweise angesprochen worden – die Bewegungen in Ungarn und vor allem in Polen. Dort war der real existierende und regierende Kommunismus bereits am stärksten am Bröckeln. Dort hatten sich die Regierung und Solidarnosc bereits am runden Tisch auf den schrittweisen Abschied vom Monopol der Kommunistischen Partei verständigt. Auch in der DDR stellte eine wachsende Zahl von Menschen schon in den Jahren 1988, aber eben auch 1989 Ausreiseanträge. Friedens- und Umweltgruppen hatten Konjunktur, während die Versorgungslage angespannt blieb. Während die meisten Bürger in der DDR passiv blieben, wurden erst wenige und später immer mehr Menschen aktiv. Spätestens im Mai 1989 führten mutige Oppositionelle der staunenden Weltöffentlichkeit vor, nämlich bei den Kommunalwahlen in der DDR – es gab Wahlfälschungen –, dass die Lage dort kriselte. Das machte die Krise, die die DDR hatte, weltweit öffentlich. Ich rufe diese Ereignisse deswegen in Erinnerung, meine sehr geehrten Damen und Herren, weil eine wachsende Zahl von Menschen keine eigenen oder eben nur sehr wenige Erinnerungen an diese Umbruchszeit haben. Bei aller Ostalgie und vielleicht auch aktuellen Schwärmereien für den Sozialismus: 1989 hatte, was nur eine Frage der Zeit war, der Sozialismus abgewirtschaftet. Ein Weiter-so konnte es nicht geben. Ich bin einigen Vorrednern ausdrücklich dankbar – etwa der Kollegin Budde oder Herrn Woidke –, dass sie deutlich gemacht haben: Es war nicht eine Wende, sondern eine friedliche Revolution. Die Mauer ist nicht einfach umgefallen, sondern sie wurde aktiv zum Einstürzen gebracht. Es ist mir ganz wichtig, zu betonen, dass wir heute, 30 Jahre später, auch zurückschauen sollten und sehen sollten, dass die Bürger in der DDR sich selbst Freiheit und Demokratie erkämpft haben. Dieses Jahrhundertereignis bedarf quasi nicht nur unserer Würdigung, sondern, ich glaube, auch in besonderer Weise unserer Wertschätzung. ({1}) Bei allen Veränderungen im Sommer 1989 war längst noch nicht klar, wohin der Weg der DDR führt. Demokratie und Einheit kamen gerade nicht von selbst. Sie herbeizuführen, erforderte hohes persönliches Risiko, auch für die Familien. Dafür schuldet unser Land den Mutigen in der DDR Respekt und Dank. Erinnern sollten wir deswegen auch an diejenigen, die in der DDR Unrecht erlitten haben. Wir sprechen von einigen Hunderttausend Menschen, denen die SED-Diktatur Entwicklungsmöglichkeiten und sogar die Freiheit genommen hat. – Ich sehe Arnold Vaatz in unseren Reihen. Mich empört besonders, dass schon Kinder zu Opfern des Regimes wurden, wenn ihre Eltern politisch verfolgt wurden. Wie hart das Schicksal dieser Kinder sein konnte, hat die Untersuchung von Kinderheimen und Werkhöfen in der DDR gezeigt. In meinem Verantwortungsbereich wird darüber hinaus eine Studie zu mutmaßlichen Zwangsadoptionen in der DDR vorbereitet. Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, genau dieses Leid aufzuarbeiten und die Opfer materiell zu entschädigen. Eine entsprechende Änderung der Rehabilitationsgesetze ist Mitte Mai im Bundeskabinett beschlossen worden. Sie wird im Herbst im Parlament zur Beratung anstehen. Beschlossen wurde im Übrigen in genau dieser Kabinettssitzung auch eine Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Auch da wollen wir mit Transparenz sicherstellen, dass bis 2030 die Möglichkeit besteht, Untersuchungen für exponierte Positionen zu ermöglichen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute beraten wir den Antrag der Regierungsfraktionen – und auch den der FDP –, der die Friedliche Revolution und ihre Protagonisten würdigen soll. Er spricht den Opfern der Diktatur Respekt aus, und er mahnt, diese Opfer und die Orte ihres Leidens nicht zu vergessen. Das sollten wir gemeinsam unterstützen. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Respekt gilt den Menschen, die vor 30 Jahren friedlich auf die Straße gegangen sind. Wir müssen die Ereignisse aus der Sicht von damals beurteilen. Im Juni 1989 hat die Führung der DDR die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens noch mit einer Solidaritätsadresse verteidigt. Niemand konnte also wissen, ob es gut geht, und doch war der Drang nach Würde und nach Freiheit stärker als die Angst. Der Mut der Menschen war groß. Dieser Mut macht uns noch heute stolz in Ost und West, und dafür sagen wir auch in diesem Bundestag ein herzliches Dankeschön. ({0}) Die Würdigung der Friedlichen Revolution kann nicht geschehen, ohne den Staat zu betrachten, gegen den sie gerichtet war. In der DDR gab es weder Freiheit noch Rechtsstaatlichkeit. Es war ein Staat der Unterdrückung, der Willkür und des Unrechts. Das dürfen wir niemals vergessen, und das sollte uns daran erinnern, Geschichte nicht zu beschönigen. Die Ereignisse des Jahres 1989 wären auch nicht ohne eine europäische Dimension möglich gewesen. Es beginnt am 17. Juni 1953, setzt sich fort mit dem ungarischen Volksaufstand von 1956, mit dem Prager Frühling, mit der Solidarnosc-Bewegung, mit der Charta 77 und endet in einem gemeinsamen Aufstand von Bürgerechtlern und Kirchen gegen Unterdrückung im gesamten mittel- und osteuropäischen Bereich. Ohne diese europäische Dimension wäre es 1989 vielleicht auch bei uns anders gekommen. Besonders würdigen möchte ich auch die Rolle der Kirchen, vor allem deswegen, weil Christian Führer, der mittlerweile verstorbene Pastor der Leipziger Nikolaikirche, Friedenspreisträger meiner Heimatstadt Augsburg ist. In seinem Buch „Und wir sind dabei gewesen“ gibt es eine schöne Episode. Im Umfeld des Herbst 1989 haben Menschen vor der Nikolaikirche Kerzen aufgestellt. Wohl auf Anregung von oben, auf Anweisung der SED-Führung, sind diese Kerzen durch Arbeiter abgebaut worden. Und dann geschah etwas Wundersames, wie er in seinem Buch beschrieben hat: Die Arbeiter haben die Kerzen, die noch zu gebrauchen waren, aus dem großen Stapel herausgefischt, sie wieder aufgestellt und angezündet. Das ist im Kleinen eine große Botschaft der Friedlichen Revolution. Sie lehrt uns: Ist das Licht der Freiheit einmal entzündet, kann keine Kraft sie aufhalten. Das ist die wichtige Botschaft von damals, die auch heute in die Welt hinausstrahlt. ({1}) Wir müssen uns heute auch vor historischer Missdeutung in Acht nehmen. Die Parole „Wir sind das Volk!“ war eine Forderung nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wer Menschen herabsetzt, ausgrenzt oder sie wegen ihrer Religion oder Herkunft entwürdigt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, für das Volk zu sprechen. Das ist die Botschaft, die wir heute auch aussenden. ({2}) Wir brauchen, 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution, eine authentische und würdige Erinnerungskultur. Wir brauchen weiterhin eine ehrliche und offene Aufarbeitung. Wir müssen voranschreiten bei der Frage der Aufarbeitung und Aufklärung von Zwangsadoptionen. Aber es geht um mehr: Freie Wahlen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dürfen niemals als Selbstverständlichkeit erachtet werden. Wir müssen sie leben und bewahren, weil wir wissen: Ist Freiheit erst einmal verloren, ist es umso schwieriger, sie wiederzuerlangen. Die Friedliche Revolution des Jahres 1989 und der Fall der Mauer waren eine glückliche Stunde der deutschen Geschichte. Sie ist heute Verpflichtung, für Demokratie, Menschlichkeit und Freiheit einzustehen, damit das auch für viele Menschen in der Welt, die heute unfrei sind, als Vorbild dienen kann. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10613 und 19/10614 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir feiern dieser Tage ein weiteres Jubiläum: zehn Jahre Schuldenbremse im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – eine Entscheidung vermeintlich nur finanzpolitischer Natur, aber zentral für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, meine Damen und Herren. ({0}) Erinnern wir uns zurück: Vorausgegangen waren Jahrzehnte der Verschuldung in diesem Land, kurzfristige Politik zulasten der zukünftigen Generationen und – der Gipfel – im Jahr 2000 der bewusste Verstoß einer rot-grünen Bundesregierung gegen die Verschuldungskriterien von Maastricht. Jede Bundesregierung hat ihren Anteil gehabt, aber das war der Gipfel. Rot-Grün hat damals gezeigt: Man braucht sich nicht an Recht und Gesetz zu halten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt eine Schuldenbremse im Grundgesetz haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Politische Absichtserklärungen, Herr Kollege Schneider, bringen nichts, wenn nicht einmal eine europäische Vereinbarung Politiker vom Machen immer neuer Schulden abhält. Deswegen war es damals ein riesiger Fortschritt, als im Jahr 2009 die Forderung der Freien Demokraten aus den 1990er-Jahren, eine Schuldenbremse einzuführen, Verfassungsrang erhalten hat. Wir erleben aber heute, dass genau diese Schuldenbremse wieder infrage gestellt wird. Die Kollegen der Linkspartei waren schon damals dagegen und halten sie auch heute für überflüssig. ({2}) – Ja, das ist interessant; ich komme darauf gleich noch zu sprechen. – Aus der SPD hören wir vermehrt Stimmen, die schwarze Null sei ein riesiger Fehler; man müsse eigentlich mit der Schuldenbremse Schluss machen. ({3}) Und jetzt kommen die Kollegen der Grünen. Der politische Geschäftsführer, Michael Kellner, fordert tatsächlich eine Aufweichung der Schuldenbremse. Meine Damen und Herren, das sind genau die drei Parteien, die sich jetzt anschicken, im zwar kleinsten, aber überschuldetsten Bundesland, nämlich Bremen, auch noch Regierungsverantwortung zu übernehmen und den Wahlverlierer Carsten Sieling wieder zum Bürgermeister zu wählen. Sie sind die Verschulder in diesem Land, um das in aller Klarheit zu sagen. ({4}) Immer wieder wird behauptet, die Schuldenbremse verhindere Investitionen. ({5}) Das ist totaler Quatsch, meine Damen und Herren. ({6}) Die Schuldenbremse macht keinerlei Vorgaben, dass die hohen Steuereinnahmen gerade der letzten Jahre mehr für Konsum und weniger für Investitionen ausgegeben werden sollen. Das, was die Bundesregierung – ich sage das auch in Richtung der Staatssekretärin – hier seit Jahren vorlegt, nämlich Haushalte mit immer niedrigerer Investitionsquote, ist nicht das Ergebnis der Schuldenbremse, das ist das Ergebnis schlechter Politik der Großen Koalition, um das auch klar zu sagen. ({7}) Das schreibt Ihnen ja schon der Präsident des Bundesrechnungshofes ins Stammbuch. Er sagt: Nicht die Schuldenbremse macht die Investitionsquote dieser Bundesregierung so schlecht, sondern die Politik in Deutschland. – Meine Damen und Herren, wir sollten an dieser Stelle mehr auf den Präsidenten des Bundesrechnungshofes hören; das sollte man unterstreichen. ({8}) Gerade nach den Erschütterungen bei einem der Koalitionspartner, nämlich bei der SPD, vom vergangenen Wochenende durch den Rücktritt der Partei- und Fraktionsvorsitzenden droht jetzt Folgendes: Die Handlungsunfähigkeit der Großen Koalition soll auch noch mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zugeschüttet werden. – Das war schon in den letzten Jahren der Fall. Ich will nur drei Beispiele nennen. Erstes Beispiel: das Baukindergeld – nachweislich wirkungslos. Da ging es nur um „Linke Tasche, rechte Tasche“, anstatt beim Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer etwas zu machen und den Familien wirklich zu helfen. ({9}) Zweites Beispiel: die Forderung der SPD nach einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Das verhindert nachweislich keine Altersarmut in Deutschland, meine Damen und Herren, aber es schadet den zukünftigen Generationen, weil es erneut zulasten der Steuerzahler geht. ({10}) Drittes Beispiel: der nationale Kohleausstieg, der nachweisbar nichts für den Klimaschutz in Europa und in Deutschland bringt, weil die Emissionen europäisch gesteuert werden, aber ganze Regionen vom Steuerzahlertopf abhängig gemacht werden. Nein, meine Damen und Herren, es darf nicht der Steuerzahler sein, der diese Große Koalition noch zusammenhält. Das darf nicht passieren. ({11}) Zum Schluss, Herr Präsident, will ich in Richtung der Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU sagen: Nehmen Sie die mahnenden Worte der Europäischen Kommission dieser Tage ernst. Die schreibt Ihnen zwei Dinge ins Stammbuch: Erstens. Deutschland hat zu hohe Steuern, was Investitionen in Deutschland bisweilen verhindert. ({12}) Zweitens. Deutschland hat zu niedrige Investitionen auch der öffentlichen Hand, meine Damen und Herren. Das sind die Fehler der Großen Koalition; es ist nicht die Schuldenbremse. Deswegen: Wir dürfen die Schuldenbremse nicht aufweichen, im Gegenteil, Sie braucht ein Update, sie muss härter gemacht werden. Wir brauchen gleiche Maßstäbe, auch mit den Bundesländern. Am Ende des Tages müssen Verstöße gegen die Schuldenbremse gemäß Grundgesetz sanktioniert werden können. ({13}) Das ist zukunftsfähig, das ist für zukünftige Generationen. Die dürfen nicht dafür in Haftung genommen werden, dass Sie weiter auf den Regierungssesseln Platz nehmen wollen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Eckhardt Rehberg, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann der FDP nur dankbar sein für diesen Antrag; ({0}) denn die Schuldenbremse verbindet sich mit Namen wie Angela Merkel und Peer Steinbrück, Peter Struck und Volker Kauder. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, zur geschichtlichen Wahrheit gehört dazu, dass Sie sich – außer Florian Toncar – vor zehn Jahren hier im Deutschen Bundestag kraftvoll enthalten haben. ({2}) Das gehört zur historischen Wahrheit dazu. ({3}) Sie haben sich kraftvoll enthalten. Sie haben damals keinen Beitrag zur Schuldenbremse geleistet. So viel zur Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit Ihres Antrages. ({4}) – Ja, gelegentlich muss man in die Protokolle schauen. Dann sieht man, wer wie abgestimmt hat, und dann merkt man auch, ob das hier politische Show ist oder politische Ernsthaftigkeit. Ich verbuche das unter politischer Show. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Rehberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dürr?

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vom Kollegen Dürr immer gerne.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Verehrter Kollege Rehberg, es wäre gut gewesen, wenn Sie nicht nur in die damaligen Abstimmungsergebnisse geschaut hätten, die deutlich machen, dass Linkspartei und Grüne dagegengestimmt haben, sondern wenn Sie sich auch die Reden nachträglich angeschaut hätten, aus denen eines eindeutig hervorgeht: Wir wollen eine Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz. Wir hätten uns nur eine härtere Schuldenbremse vorgestellt, als von der Große Koalition vorgeschlagen wurde. ({0}) Mit Verlaub: Die Angriffe von der linken Seite des Hauses gegen diese Schuldenbremse zeigen, dass die FDP damals recht hatte; wir hätten sie noch härter machen sollen. Wir sollten jetzt die historische Chance ergreifen, der Schuldenbremse ein Update zu verpassen und sie noch härter zu machen, auch im Hinblick auf zukünftige Generationen von Politikerinnen und Politikern. Vielen Dank. ({1})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dürr, damals hatten wir Rot-Grün hinter uns, vier Jahre Koalition, waren gerade auf dem aufsteigenden Ast – Stichworte „Abbau der Arbeitslosigkeit“, „Rückgang der Schulden“ –, und dann kam die Finanzkrise. Wer sich in so einer historischen Situation in die Büsche macht so wie Sie, sich mit fadenscheinigen Argumenten enthält und heute, zehn Jahre danach, hier einen Riesenklamauk veranstaltet, ({0}) sollte, glaube ich, erst mal in sich gehen und darüber nachdenken, ({1}) ob es in so einer historischen Situation – einem Paradigmenwechsel der deutschen Haushalts- und Finanzpolitik – nicht besser gewesen wäre, dabei zu sein, statt die Arme zu verschränken und sich zu enthalten, Herr Kollege Dürr. ({2}) Es ist sehr unglaubwürdig, was Sie hier machen. Dazu, Kollege Dürr, gehört auch ein Stückchen Verantwortung für das ganze Land und nicht nur, hier ein Kasperletheater zu veranstalten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die Situation Mitte des letzten Jahrzehnts war schwierig. Allein von 1998 bis 2004 waren über 200 Milliarden Euro Schulden aufgelaufen; wir hatten 5 Millionen Arbeitslose. 2005 kam dann die unionsgeführte Regierung in Deutschland. Wir waren auf einem Pfad, dass wir bei 11 Milliarden Euro Neuverschuldung gelandet wären, wenn nicht die Finanzkrise gekommen wäre. Im Haushalt 2010 hatten wir dann eine Neuverschuldung von 86 Milliarden Euro Die FDP lobt uns. Ich habe, muss ich sagen, selten so viel Lob für aktive Regierungspolitik des letzten Jahrzehnts gelesen. ({4}) Deswegen bedanke ich mich noch mal ausdrücklich an dieser Stelle. Also können wir, Union und SPD – übrigens 2009 bis 2013 auch mit Ihnen –, an dieser Stelle nicht so viel falsch gemacht haben. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum ist die Schuldenbremse wichtig? Erstens. Sie trägt dazu bei, Generationengerechtigkeit herzustellen. Zweitens: Vorsorge zu treffen. Und drittens: die demografische Entwicklung mit im Blick zu behalten. – Ich habe, wie Sie, Kollege Dürr, kein Verständnis dafür, wenn aktuell jemand an den Modalitäten der Schuldenbremse drehen will. Sie hat sich bewährt, sie verhindert keine Investitionen – zu Ihrem Vorwurf, wir verringern Investitionen, komme ich noch. Ich habe auch kein Verständnis für Medienberichte, dass Beamte im Bundesfinanzministerium angeblich darüber nachdenken, wie die Modalitäten der Schuldenbremse aufgeweicht werden können. ({6}) Ich sage ganz klar: Mit CDU und CSU wird so etwas nicht zu machen sein. Zum Thema Investitionen. Unser Problem ist aktuell doch nicht, dass wir zu wenig Geld für Investitionen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit – Herr Kollege Dürr, Sie sollten sich gelegentlich etwas mehr mit den Zahlen des Finanzplans befassen – gehört auch: Im Jahr 2008 haben wir 24 Milliarden Euro für Investitionen ausgegeben. Wir werden im kommenden Jahr 40 Milliarden Euro ausgeben. Sie müssen im Hinterkopf 3 Milliarden Euro Entflechtungsmittel, die im Haushalt 2019 noch als Investitionen ausgewiesen sind, mit dazurechnen, die zukünftig Umsatzsteuerpunkte bei den Ländern sind. Das gehört zur Wahrheit dazu. Das heißt, wenn ich mir die Haushaltssystematik ansehe, stelle ich fest, dass wir in einem Jahrzehnt die Investitionen von 24 auf 43 Milliarden Euro fast verdoppelt haben. Und wir haben Rekordinvestitionen. Schauen Sie sich den Bereich Forschung und Bildung an. Der Etat hat sich in einem Jahrzehnt fast verdoppelt. Die Ausgaben für innere und äußere Sicherheit haben wir massiv erhöht. Wir haben doch eher das Problem der Umsetzung von Investitionen. Als Alexander Dobrindt den Investitionshochlauf im Verkehrsbereich initiiert hat, hat er 2015 noch Baufreigaben für 3,6 Milliarden Euro im Straßenneubau vornehmen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im letzten Jahr waren es noch 535 Millionen Euro. Es hakt hier nicht am Geld. Zum Glück haben wir im Einzelplan 12 die Möglichkeit der Überjährigkeit geschaffen, sodass das Geld nicht in den Gesamthaushalt zurückgeht. Das Problem sind stattdessen viel zu große Hürden bei Planung und Genehmigung und viel zu geringe Planungskapazitäten. ({7}) Das sind doch die Hürden, die wir haben. ({8}) Zur Wahrheit gehören außerdem die Sondervermögen, die investiv ausgelegt sind. Von 7 Milliarden Euro im Kommunalinvestitionsprogramm ist bis heute nur ein Bruchteil abgeflossen. Den Kitaausbau verlängern wir Jahr für Jahr, damit das Geld nicht verfällt. Oder schauen Sie sich den Breitbandausbau an: 4,5 Milliarden Euro hat das Digitalministerium dort zur Verfügung gestellt. Bisher ist nur ein geringer Bruchteil abgeflossen. Das heißt, wir scheitern eher an der Verfasstheit unserer Bürokratie, unserer Gesellschaft in allen Bereichen, als dass zu wenig Geld zur Verfügung steht. Einen weiteren Aspekt will ich noch nennen. Gerade gestern ist wieder der Bericht der Bundesregierung zum sozialen Wohnungsbau gekommen. Ich halte es schon für skandalös, was einige Länder da machen. ({9}) Wenn Sie sich das ansehen, stellen Sie fest, dass fast die Hälfte der Länder nicht ansatzweise die Bundesmittel ausreicht, sie zweckentfremdet. Der Blick in den Bericht des Bundesrechnungshofes zum Hochschulpakt zeigt – ich sage das sehr deutlich –: Das, was einige Länder dort gemacht haben, grenzt an kriminelle Energie. ({10}) – Ja, aber auch die FDP. Sehen Sie sich mal Rheinland-Pfalz an. ({11}) Ich sage Ihnen eins: Hier auf andere mit dem Finger zu zeigen, hilft nicht. ({12}) Wir sind alle in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das Geld, das der Bund Ländern und Kommunen zur Verfügung stellt, auch dort ankommt, wo es hingehört. ({13}) Wer anfängt, Parteipolitik zu machen, der verfehlt das Thema an dieser Stelle völlig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({14}) – Sie sind in Rheinland-Pfalz mit an der Regierung. Sehen Sie sich den sozialen Wohnungsbau in Rheinland-Pfalz an, Herr Kollege. Letzte Bemerkung zur Schuldenbremse. Die Schuldenbremse hat sich bewährt. Im Hinblick auf die Maastricht-Kriterien liegt die Gesamtstaatsverschuldung bei unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deswegen kann es nur heißen: Festhalten an der Schuldenbremse! Die Schuldenbremse hat Deutschland gutgetan. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Peter Boehringer, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP erinnert in ihrem Antrag an finanzielle Solidität. Das ist gut, das machen wir auch ständig. Leider ist der Antrag aber ungenau und unvollständig. Darin steht zum Beispiel: „Die Schuldenbremse hat … den öffentlichen Haushalten … gutgetan“. Nein, Kern der Schuldenbremse ist eine Formel zur maximal zulässigen Kreditaufnahme. Dieses Maximum beträgt beim Bund zurzeit genau 4,035 Milliarden Euro. Die Bundeshaushalte der letzten Jahre waren aber formell ausgeglichen. Ohne die illegitime Asylrücklage wären sie sogar im Plus gewesen. Die Schuldenaufnahme des Staates war also durch die Schuldenbremse nie tangiert. Bislang war die Schuldenbremse noch niemals materiell relevant; psychologisch vielleicht, materiell nicht. Viel wichtiger aber: Leider will die FDP in ihrem Vorschlag die Schuldenbremse nur auf Kredite der privatrechtlichen Beteiligungsgesellschaften ausdehnen. Sie vergisst dabei jedoch wieder einmal die viel bedeutsameren Schattenhaushalte der Euro-Rettungsgesellschaften. Deren Kredite unterlägen auch im FDP-Modell keiner Schuldenbremse, soweit sie überhaupt offiziell erklärt sind. Euro-Rettungsfonds wie der Bankenabwicklungsfonds oder der ESM refinanzieren sich alle über Schulden. Ausgereichte Kredite etwa des ESM an Griechenland mit kompletter Zins- und Tilgungsstundung über Jahrzehnte sind aber faktisch wertlos – eben erst wieder, auch mit den Stimmen der FDP, bestätigt. Abschreibungen darauf werden die Verschuldung der Fonds und damit Deutschlands erhöhen. Und auch die Euro-Rettungsgarantien, die Bürgschaften oder die Target-Salden werden absehbar zu kommenden Staatsschulden. Das sind die Schulden von morgen, die heute schon billionenschwer veranlasst werden. Dies per wirklich umfassender Schuldenbremse zu verhindern, Herr Dürr, wäre sinnvolle, vorausschauende Politik. ({0}) 2011 hat das die FDP ja sogar mal versucht, sogar in Regierungsverantwortung. Leider hat sie am Ende die Einführung des ESM nicht verhindert. Auch Staatsanleihen der Euro-Südländer, die die EZB seit 2015 billionenschwer auf ihrem Buch hat, stellen faktisch deutsche Kreditübernahme dar; denn die Abschreibungen auch darauf werden eine massiv erhöhte Schuldenaufnahme Deutschlands erzwingen. Die Summen, um die es hier geht, sprengen das 4‑Milliarden-Maximum der heutigen Schuldenbremse um mehr als das 100‑Fache. Doch von diesem rosaroten Elefanten im Raum schweigt der FDP-Antrag. ({1}) Weiterhin schreiben Sie, die Zinsersparnisse der Nullzinspolitik sollten für Investitionen genutzt werden. Gut, da gehen wir mit. Dazu noch die Zahlen: Wir sprechen von etwa 50 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr. Und ja: Diese Ersparnis hätte in Investitionen oder auch gerne in Steuersenkungen fließen können. Das geht aber alles schon im Rahmen der heutigen Rechtslage – die Regierung müsste es nur wollen. Hier liegt kein Regelungsdefizit vor, sondern politische Verweigerung. ({2}) Zuletzt. Die FDP fordert, Verstöße gegen die Schuldenbremse automatisch zu sanktionieren. Das klingt gut, hat aber noch nie geklappt, weder beim inzwischen hundertfachen Bruch der Maastricht-Kriterien seit mindestens 2005, die weiterhin geltendes Verfassungsrecht darstellen, noch beim x‑fachen Bruch des Stabilitäts- und Wachstumspakts seit 2007. Angesichts dieser von der FDP seit über 15 Jahren stillschweigend geduldeten Realität klingt Ihr zentraler Antragssatz eigentlich fast wie Satire: Ein Verstoß gegen die Schuldenbremse darf nicht folgenlos bleiben! Da fehlt nur noch das Amen. Die Botschaft hören wir wohl, allein, uns fehlt der Glaube! ({3}) 2011 schrieb ich in einem Artikel: Die Garantien für hochverschuldete Euro-Staaten von heute sind die Schulden von morgen und die Ausgaben von übermorgen und bedeuten am Ende den deutschen Staatsbankrott. – Wenn wir die absurden Euro-Rettungen nicht stoppen, dann hilft ganz sicher auch keinerlei technische Verbesserung der Schuldenbremse mehr. Ihr Antrag ist nicht falsch, aber unzureichend. Herr Dürr – Sie dürfen gerne auch mal zuhören, wenn man Sie direkt anspricht –, eben sagten Sie: Wir machen die Schuldenbremse härter. – Gut, dann machen wir das gerne im Ausschuss, bei der Beratung, die jetzt ansteht. Wir stimmen der Überweisung natürlich zu. Dann können wir sie härter machen um die eben erwähnten Aspekte. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Schwarz, SPD. ({0})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein ehemaliger britischer Premierminister hat mal gesagt: Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im Allgemeinen und Freigiebigkeit im Besonderen. In diesem Spannungsfeld der Haushaltspolitik entwickelt sich die FDP gerade von der selbsternannten Serviceopposition zur Motivationsopposition. Schön, dass Sie die Arbeit der Koalition gut finden, dass Sie sie anerkennen und dass Sie uns auf unserem Weg recht geben ({0}) und dann gute Regierungsarbeit hier anerkennen! Dank der hervorragenden Haushaltspolitik von Olaf Scholz ({1}) und seinem Vorgänger, natürlich im Zusammenspiel mit den Koalitionsfraktionen, kommt der Bund nun schon seit Jahren ohne neue Schulden aus. ({2}) Gleichzeitig können wir mit Fug und Recht von Rekord­investitionen in diesem Land reden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dass Sie uns mit Ihrem Antrag die Möglichkeit geben, das hier noch mal herauszustellen, dafür darf ich mich im Namen der Koalitionsfraktionen ganz herzlich bei Ihnen bedanken. ({4}) Als Haushälter darf ich an dieser Stelle gerne aus dem Nähkästchen plaudern ({5}) und auf die Erfolge unserer Haushaltspolitik verweisen. Die Schuldenbremse ist ein Erfolgsmodell, auch wenn es natürlich in jeder Partei Vertreter gibt, die das eventuell anders beurteilen. ({6}) Ein Blick auf die bisherigen Zahlen seit Einführung zeigt: Die Schuldenbremse funktioniert. Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen der Schuldenbremse steigen die Investitionen im Zeitraum von 2020 bis 2023 auf 158 Milliarden Euro. ({7}) Mehr als 36 Milliarden Euro mehr als in der vergangenen Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, welche Botschaft kann Deutschland an Europa senden? Wir schaffen erstmals seit vielen Jahren, dass die Bundesrepublik Deutschland 2019 auch wieder die Maastricht-Stabilitätskriterien erfüllen wird, das heißt, die gesamtstaatliche Schuldenquote wird unter 60 Prozent gedrückt. Das ist der Erfolg einer soliden und ausgewogenen Haushaltspolitik, vor allem aber auch ein Erfolg vieler fleißiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und vieler ehrlicher Unternehmen in unserem Land. ({8}) Jetzt wird es spannend, meine Kolleginnen und Kollegen der FDP; denn manches aus Ihrem Antrag stimmt ja. Man muss sagen – ich habe es bereits erwähnt –: Da ist auch viel Lob für die Regierungsarbeit der Großen Koalition dabei. Ich zitiere mal ein paar Stellen aus Ihrem Antrag: „Haushaltsdefizit und öffentlicher Schuldenstand … gesunken“; ({9}) „Die Schuldenuhr des Bundes läuft … rückwärts“. Alles Aussagen, die man über die schwarz-gelbe Bundesregierung damals nicht treffen konnte. ({10}) Im Gegenteil: Ungern erinnere ich mich an Ereignisse Ihrer Lehrzeit in Regierungsverantwortung: Dazu gehören Rückzahlungen in Milliardenhöhe an Energiekonzerne wegen einer verfehlten Atompolitik. ({11}) Ich erinnere an die Mövenpick-Steuer, die ein großzügiges Lobbygeschenk war und letztendlich auch dazu führt, dass die AfD von ihren Vergünstigungen profitiert. Jetzt behauptet die FDP in ihrem Antrag, dass sie Gerüchte aus dem Bundesfinanzministerium gehört hätte, wonach im BMF ganz ungeniert über die Auslagerung öffentlicher Investitionen nachgedacht werden würde. ({12}) Wie war die Antwort des Bundesfinanzministers? ({13}) Wer Olaf Scholz kennt, weiß: Da gab es eine klare Ansage. Olaf Scholz – und das schreiben Sie in Ihrem eigenen Antrag – hat diese Gerüchte umgehend dementiert. ({14}) Jetzt wollen Sie aber trotzdem bereits für eventuelle und künftige Finanzminister vorbauen. ({15}) Darauf will ich Ihnen ganz einfach antworten: Hätten Sie Ihren Vorsitzenden damals keinen Alleingang bei den Jamaika-Verhandlungen machen lassen, ({16}) dann stünden Sie heute selber in Verantwortung und könnten all Ihre guten Ideen umsetzen. ({17}) Ich bin mir aber nicht sicher, ob Sie alle diese guten Ideen jetzt noch hätten. Die Schuldenbremse ist in ihrer jetzigen Form ein Erfolgsmodell; das wollen wir behalten. ({18}) Ich sehe in der jetzigen Situation weder Bedarf noch die reelle politische Möglichkeit, in Bundesrat und Bundestag eine entsprechende Veränderung herbeizuführen. Wenn Sie eine Änderung wollen, dann würde ich Ihre Aufforderung zu einem Gesetzentwurf an Sie zurückgegeben. Überzeugen Sie Ihre Landesregierungen, wo Sie beteiligt sind, sich dementsprechend einzusetzen und zu verpflichten. Ich bin gespannt auf die entsprechenden Initiativen, beispielsweise aus Nordrhein-Westfalen. ({19}) Ein ganz kleiner Hinweis noch zum Schluss: Im Jahr 2018 ist in einem einzigen Flächenstaat Deutschlands die Pro-Kopf-Verschuldung nicht gesunken, sondern sie ist gestiegen, in einem einzigen, nämlich in Schleswig-Holstein. Nach meinem letzten Kenntnisstand regieren Sie da noch fleißig mit. ({20}) – In Schleswig-Holstein? ({21}) Welche Botschaft können wir also abschließend an das Land senden? Meine Damen und Herren, in Berlin wird solide und gut gewirtschaftet. ({22}) Die Finanzen in diesem Land sind geordnet. Der Bund braucht keine Kredite. Der Bund hat die Schuldenbremse, er beachtet sie zum Wohle der Entwicklung in diesem Land. Weiterhin unserer Gesellschaft ein Glückauf! Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jetzt kommt das Kontrastprogramm. ({0}) Die Schuldenbremse ist nämlich neoliberaler Unsinn und eine gefährliche Zukunftsbremse. Die Bundesregierung verhält sich wie ein Fahrschüler, der den ersten Tag auf der Straße ist und unentwegt Gaspedal und Bremse verwechselt. ({1}) Wenn die Regierung bremsen müsste, gibt sie Gas, ({2}) und wenn sie Gas geben müsste, bremst sie. ({3}) Ein Totalschaden ist bei solch einem Fahrstil nicht ausgeschlossen. ({4}) Und, meine Damen und Herren, der Schaden ist bereits eingetreten. Die Schuldenbremse ist zur Zukunftsbremse geworden; denn wenn es um mehr Investitionen geht, dann fährt die Bundesregierung mit angezogener Handbremse. Es gibt einfach zu viele kaputte Straßen und Brücken, es fallen einfach zu viele Züge, Busse und Straßenbahnen aus, und es fehlen überall bezahlbare Wohnungen, Geburtskliniken, Kindergärten und Schulen. ({5}) Die Schuldenbremse hat also nicht nur notwendige Investitionen verhindert, sondern auch zu einem massiven Personalabbau in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Bauämtern geführt. Das ist der falsche Weg, meine Damen und Herren. ({6}) Ich habe – darauf ist ja schon angespielt worden – den Finanzminister in der Sitzung des Haushaltsausschusses am 15. Mai gefragt, ob er eine Gesellschaft plane oder existierende staatliche Gesellschaften nutzen wolle, um die Schuldenbremse zu umgehen. Ich fand die Antwort, ehrlich gesagt, nicht eindeutig. Er verneinte wortreich, aber nicht besonders glaubhaft. Wir als Linke sagen: Man muss nicht drum herumreden. Es gibt nur eine vernünftige Lösung, nämlich die Schuldenbremse abzuschaffen, meine Damen und Herren. ({7}) Die Steuereinnahmen sprudeln nicht mehr so heftig. Die aktuelle Steuerschätzung fiel katastrophal aus. Der Finanzminister stellte fest, dass der Staat bis 2023 insgesamt 124 Milliarden Euro weniger zur Verfügung haben wird, als noch im November geschätzt. Mit sinkendem Wirtschaftswachstum sinken auch die Steuereinnahmen; das ist ja irgendwie logisch. Die Bundesregierung hat – das ist auch Ausdruck kurzsichtiger Politik – die Wirkung der aufziehenden Handelskriege völlig unterschätzt. Den Exportweltmeister Deutschland treffen die Einschränkungen des Handels besonders hart. ({8}) Aber die Bundesregierung hat nicht für eine ausgeglichene Handelsbilanz gesorgt, und das ist ein folgenreicher Fehler, meine Damen und Herren. ({9}) Es ist höchste Zeit, die Binnennachfrage zu stärken und eben nicht nur auf das Pferd „Export“ zu setzen. Und, meine Damen und Herren, Sie müssen bei der Energiewende endlich Tempo machen. Das fordern jeden Freitag zu Recht Tausende Schülerinnen und Schüler weltweit. Sie sollten sie unterstützen und nicht – wie immer – auf der Bremse stehen. ({10}) Auf die Bremse treten müssten Sie bei der Miete. Doch da haben Sie kein Problem, wenn Heuschrecken wie Deutsche Wohnen bei Mieterhöhungen das Gaspedal durchtreten. Die Schuldenbremse, meine Damen und Herren, ist eine Fehlkonstruktion. Das bestätigen inzwischen auch führende Ökonomen. ({11}) Ich zitiere den wissenschaftlichen Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Sebastian Dullien. Er sagt: „Die Schuldenbremse ist ein gewaltiger Reinfall.“ Recht hat der Mann. ({12}) Stattdessen fordert er eine verlässliche Investitionsstrategie des Staates für die nächsten Jahrzehnte. ({13}) Der Vizepräsident des Leibniz-Institutes für Wirtschaftsforschung Halle, Oliver Holtemöller, hält die schwarze Null für kein ökonomisch sinnvolles Konzept. Ich zitiere: Sie führt dazu, dass man ausgerechnet in einer Zeit, in der sich die Konjunktur abschwächt, die Steuern erhöhen oder die Ausgaben kürzen muss. Sogar Michael Hüther, der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft – das sage ich vor allen Dingen an die mehr rechte bzw. mittlere Seite des Hauses, je nachdem, wie Sie sich selber definieren mögen; da bin ich ja großzügig –, ({14}) bezeichnet die Schuldenbremse als – ich zitiere – „wachstumspolitisch blind“, weil durch das Kreditverbot – ich zitiere weiter -„wichtige Zukunftsinvestitionen“ nicht getätigt werden könnten. Wenn das aus so vielen Richtungen kommt, dann müssten Sie doch mal anfangen, darüber nachzudenken, und dürften sich nicht fortwährend selber loben, meine Damen und Herren. ({15}) Was fordert Die Linke? Wir fordern ein Investitionsprogramm, das nicht nur das Wachstum stabilisiert, sondern auch neue Arbeitsplätze in unserem Land schafft. ({16}) Denken wir nur an die Tausenden Arbeitsplätze, die in der Automobilindustrie, in der Finanzindustrie und durch die Digitalisierung bedroht sind. Diese Bedrohungen lösen wir nicht mit einer schwarzen Null auf, sondern nur mit Investitionen in neue Technologien. Doch Sie, meine Damen und Herren, wollen lieber wieder Milliarden in Todestechnologien wie die Entwicklung eines neuen Kampfflugzeugs stecken. Das wurde gestern Hals über Kopf im Haushaltsausschuss beschlossen. Eine schwerwiegende Fehlentscheidung, meine Damen und Herren! ({17}) Ich musste an 1987 zurückdenken. Da wurden die ersten Zahlen für das Konzept des Eurofighters genannt. Die Zahlen haben sich Jahr für Jahr vervielfacht, und Sie haben aus dem Eurofighter-Desaster nichts gelernt. Nun soll wieder ein neues Milliardenabenteuer begonnen werden. Da, meine Damen und Herren, müssten wir auf der Bremse stehen, und zwar alle gemeinsam. ({18}) Zur Finanzierung unserer Vorschläge müssen Schulden nicht erhöht werden, dafür reicht schon eine Steuerreform, die dafür sorgt, dass Vermögen und Einkommen in unserem Land gerecht besteuert werden. Doch so eine Steuerreform verhindert die Große Koalition. Und deshalb brauchen wir eine neue, eine linke Mehrheit in diesem Land, meine Damen und Herren. ({19}) Wir fordern alle Fraktionen auf, die Schuldenbremse aus dem Grundgesetz zu streichen; sonst bremsen wir uns zu Tode, und das wäre verantwortungslos. Wir stehen für die Zukunft, meine Damen und Herren. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich bin der FDP-Fraktion in der Tat dankbar, dass wir diesen Antrag heute diskutieren können; denn über die Schuldenbremse zu sprechen, zehn Jahre nachdem sie eingeführt wurde, ist sinnvoll. Es wird ja auch schon heftig darüber diskutiert, seien es Wissenschaftler, sei es in der Wirtschaft oder so, wie es Die Linke gerade vorgetragen hat. Da geht das Meinungsspektrum weit auseinander. Herr Dürr, ich plädiere aber dafür: Lassen Sie uns wirklich sachlich darüber reden! Sie haben daraus eine sehr ideologische Debatte gemacht – so wie früher: Links und rechts, die einen sind für eine harte Schuldenbremse, und die anderen sind fürs Schuldenmachen. ({0}) Ich halte das nicht mehr für angemessen, gerade weil wir eine Schuldenbremse haben, und gerade auch aus der Perspektive einer Partei, die zur Schuldenbremse steht. Aber wenn wir Grüne zu dieser Sache stehen, gucken wir trotzdem auch darauf: Erreichen wir mit der Schuldenbremse eigentlich alle Ziele, die wir auch finanzpolitisch erreichen müssen? Sind wir auf einem nachhaltigen Pfad, was die Haushaltssituation angeht? – Da ist ein bisschen mehr Sachlichkeit bei der Schuldenbremse mehr als notwendig und Schwarz-Weiß-Denken nicht angemessen. ({1}) Ich will das begründen: Die Schuldenbremse hat Vertrauen geschaffen. Wir haben die Schulden von 80 Prozent des BIP zu Zeiten der Finanzkrise enorm zurückgeführt auf jetzt schon unter 60 Prozent. Wir kommen vielleicht auf 50 Prozent gesamtstaatliche Verschuldung in den nächsten Jahren. Insofern haben die ausgeglichenen Haushalte finanzpolitisch und wahrscheinlich auch mit Blick auf das Vertrauen der Gesellschaft gut gewirkt. Die Schuldenbremse war auch eine Bremse für überbordende Steuersenkungsfantasien. Darunter hat die FDP, glaube ich, vor ein paar Jahren manchmal ganz schön gelitten. ({2}) Ich sage das, um zu betonen: Es gibt einen positiven Effekt bei der Schuldenbremse. Aber eine Sache treibt mich schon sehr um. Die Regierung hat sich so stark auf ausgeglichene Haushalte fokussiert, dass ihr die Investitionen und das öffentliche Vermögen offenkundig ein bisschen aus dem Blick geraten sind. ({3}) Die schwarze Null ist zu einem Symbol aufgeladen worden, und dabei ist die Bedeutung von Investitionen und öffentlichem Vermögen zu gering gewichtet worden. Das will ich begründen; denn mein werter Kollege Eckhardt Rehberg ({4}) hat dazu einiges gesagt. Ich glaube, es geht nicht nur darum, ob wir ein bisschen mehr Entflechtungsmittel jetzt noch als Investitionen rechnen. ({5}) Ich rede jetzt mal von der Volkswirtschaft Deutschland, und ich rede von der Herausforderung, vor der wir stehen. Deutschland hat im OECD-Vergleich – und das ist überhaupt nicht zum Lachen – beim digitalen Netz und beim mobilen Internet eher Entwicklungslandcharakter. Das ist für ein Land mit so einem industriellen Sektor, mit so einer Wirtschaftskraft nicht nur ein Warnsignal, sondern auch ein unverantwortliches Risiko. ({6}) Es hat auch mit der Unfähigkeit der Politik zu tun, wenn wir bei den notwendigen Investitionen deutlich zurückbleiben, weil die öffentlichen Investitionen auch private Investitionen nach sich ziehen können. Wir reden von einer ganz anderen Herausforderung: Die USA und China liegen in diesen Sektoren weit vor uns. Die Menschen in diesem Land spüren das und haben Angst, zurückzufallen. ({7}) Da können Sie nicht sagen: Wir haben gerade Rekordniveau bei den Investitionen. – Das nehmen Ihnen die Leute zu Recht nicht ab. Das ist lächerlich. ({8}) Wenn Sie diesen Blickwinkel mal zulassen, dann drängt sich die Frage auf: Wie schaffen wir es, Investitionen wirklich zu stärken? Wir Grünen kommen überhaupt nicht zu dem Schluss, die Schuldenbremse abzuschaffen. Ich glaube, Die Linke sollte mal darüber nachdenken, ob das so sinnvoll ist; es sei denn, Sie sagen: Wir finden, dass Schulden per se kein Problem sind. ({9}) Wir wollen die Schuldenbremse ergänzen, und zwar um eine Investitionsregel, die mehr Investitionen ermöglicht. Es ist richtig, Herr Dürr: Man kann auch im Rahmen der Schuldenbremse Investitionen prioritär setzen. Das fordern wir auch; das verlangen wir auch. Aber die Schuldenbremse schützt eben nicht vor falschen Prioritäten, wenn sie zum Beispiel in Richtung mehr Konsum und Transfer gehen. ({10}) Vor dem Hintergrund der Herausforderung, die ich gerade beschrieben habe, nämlich der Transformation unserer Gesellschaft für eine erfolgreiche Bekämpfung der Klimakrise, brauchen wir, glaube ich, ganz andere, auch institutionelle Rahmenfaktoren, um zum Beispiel Investitionen in Energienetze und gleichzeitig auch in die digitale Infrastruktur öffentlich zu ermöglichen. ({11}) Insofern wollen wir Grünen – wir sind noch nicht am Schluss der Debatte – wirklich ernsthaft über Lösungsideen reden, zum Beispiel darüber, ob man es im Rahmen der Schuldenbremse schaffen kann, öffentliche Investitionen besser zu ermöglichen. Ich finde, es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob privatrechtliche öffentliche Gesellschaften in viel größerem Ausmaß diese Zukunftsinvestitionen tätigen sollen. ({12}) Ich finde es falsch, wenn eine solche Diskussion im BMF abgebrochen wird. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn Sie als FDP sagen: „Wir machen die Schuldenbremse härter, indem wir sogar privatrechtlichen öffentlichen Institutionen Kredite versagen“, dann ist das ökonomischer Unsinn. Das können Sie nicht wollen. ({13}) Ich meine, wo wollen Sie denn landen in Ihrem Kompetenzfeld Wirtschaft als FDP? Die Wirtschaftswissenschaft versteht Sie gar nicht mehr. Wenn die Ihren Antrag lesen, dann sind die ratlos. ({14}) Deswegen sage ich Ihnen: Reden Sie ideologiefreier über Investitionsförderung im Rahmen der Schuldenbremse! Das gibt Zukunftsvertrauen. Das ist das, was die Gesellschaft angesichts dieser Herausforderung von uns erwartet. In diesem Sinne werden wir Grünen weiterarbeiten. Ich bin gewiss: Wir werden viele Unterstützer finden. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Alois Rainer, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schön, heute die verschiedensten Aussagen zur Schuldenbremse zu hören. Ich war damals noch nicht im Deutschen Bundestag, möchte aber denjenigen einen großen Dank aussprechen, die sich im Jahr 2009 für die Schuldenbremse, die jetzt noch immer wirkt, ausgesprochen haben. ({0}) Es war – ich komme gleich noch zu Ihnen – der richtige Fingerzeig in der richtigen Zeit. Noch kurz zur Historie: Wir hatten schon ein Jahr vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, nämlich 2008, einen gesamtstaatlichen Schuldenstand von 65,9 Prozent des BIP. Mit der Wirtschaftskrise 2009 stieg diese Schuldenstandsquote auf über 81 Prozent an. Damit eine langfristig tragfähige Entwicklung der öffentlichen Finanzen gesichert werden konnte, musste die Kreditaufnahme auf ein Maß begrenzt werden, das eine kontinuierliche und dauerhafte Rückführung der Schuldenstandsquote gewährleistet. Daher war es damals auch nur folgerichtig, dass Regelungen getroffen wurden, um dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Mit der gesetzgeberischen Umsetzung der Föderalismusreform II wurde eine Verschuldungsregel gesetzlich verankert, die vorschreibt, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Die nun dauerhafte Einhaltung der durch die Schuldenbremse vorgegebenen Neuverschuldungsgrenzen durch Bund und Länder trägt zu einer deutlichen und nachhaltigen Rückführung der staatlichen Schuldenstandsquote bei. Für die kommenden Jahre wird von einer weiter sinkenden Schuldenstandsquote ausgegangen. Die Verschuldung von Bund und Ländern liegt Gott sei Dank jetzt unter 2 Billionen Euro und sinkt weiter. Natürlich – so ehrlich muss man sein – spielt dabei auch die günstige Zinsentwicklung eine große Rolle, und Gott sei Dank machen wir seit fünf Jahren im Bundeshaushalt keine neuen Schulden mehr. Gleichzeitig geht die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote weiter zurück. Im laufenden Jahr 2019 werden wir erstmals seit 17 Jahren die EU-Vorgaben bei der Verschuldung einhalten und auf eine Schuldenstandsquote von unter 60 Prozent kommen. Meine Damen und Herren, dies ist maßgeblich auf die solide Finanz- und Haushaltspolitik der unionsgeführten Regierung zurückzuführen. Aber gleichzeitig investieren wir auch in Rekordhöhe. Wir investieren so viel wie noch nie zuvor. Keine andere Bundesregierung hat jemals so viel investiert. Da heute schon viel über Investitionen in den verschiedensten Bereichen gesprochen worden ist, auch China als Vorbild genannt wurde, möchte ich sagen: Meine sehr verehrten Damen und Herren, China bei Investitionen als Vorbild zu nennen, ist schon recht. Aber wer sich mal anschaut, wie in China investiert wird, stellt fest: Da wird der Mensch nicht gefragt. Da wird kein Bürger gefragt, wenn eine neue Straße, eine neue Trasse für eine Eisenbahn oder sonst was gebaut wird. Der Mensch wird einfach umgesiedelt. Das ist kein Vorbild für Deutschland. So wollen wir und so werden wir das auch in Zukunft nicht machen. ({1}) Das Gleiche gilt auch bei der Digitalisierung. Ja, natürlich wollen wir alle mehr Investitionen zur Digitalisierung; keine Frage. Wir wollen auch eine bessere Abdeckung beim Mobilfunk. ({2}) Aber hatten Sie schon mal in Ihrer Gemeinde die Diskussion, wenn ein neuer Mobilfunkmast aufgestellt werden soll? Ich habe die Diskussion gehabt. Es hat später auch Krankheitsfälle gegeben. Mir wurde das nicht zum Verhängnis – ich war danach noch einige Jahre Bürgermeister –, ({3}) aber mir wurde das vorgeworfen. Stehen Sie diese Diskussion um neue Mobilfunkmasten vor Ort erst einmal durch! Wenn wir ein 5G-Netz wollen, dann brauchen wir ein Vielfaches an Masten. Auch hieran, denke ich, müssen wir arbeiten. Aber warum fließen bei uns die Investitionsmittel nicht ab? Ich höre es gern, wenn aus Richtung der Kommission gesagt wird: Deutschland muss mehr investieren. – Ich sage aber in Richtung der Kommission: Liebe Freunde aus Brüssel und Straßburg, überhäuft uns nicht ständig mit neuen bürokratischen Auflagen. Die blockieren uns. Die blockieren die Nationalstaaten. – Ich freue mich, wenn es so weit ist, dass Manfred Weber Kommissionspräsident ist. Dann werden wir das entflechten. ({4}) Meine Damen und Herren, wenn Sie heute aus für Sie nachvollziehbaren Gründen, die ich nicht verstehen muss, die Schuldenbremse kritisieren, dann reden wir auch über Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit, das ist ein breiter Bogen: Nachhaltigkeit in der Umweltpolitik, Nachhaltigkeit beim Naturschutz, Nachhaltigkeit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Aber lassen Sie uns über Nachhaltigkeit in der Wirtschafts-, in der Finanz- und Haushaltspolitik reden! Ich will den zukünftigen Generationen Chancen übergeben, in unserem Land weiterhin investieren zu können. Das geht nicht mit überbordenden Krediten, ({5}) die man diesen jungen Menschen auf die Schultern legt, sodass sie am Ende des Tages nicht mehr vernünftig investieren können. Das ist nicht unser Ansatz. Den wollen wir so auch nicht weiter verfolgen. ({6}) Gerne, liebe Kollegin Hajduk, diskutieren wir gesamtheitlich miteinander über mehr Investitionen. Da müssen wir mehr Themen ansprechen, vielleicht auch für Sie unangenehme Themen, und auch darüber reden, wie man das eine oder andere bei der Verkehrsinfrastruktur freigeben kann bzw. ob die Haselmaus ein so schützenswertes Tier ist, dass dadurch gerechtfertigt werden kann, dass Projekte wie zum Beispiel Ortsumgehungen, bei denen es um ein wesentlich besseres Lebensgefühl für die Menschen geht, um Jahre verzögert werden. Lassen Sie uns auch das gesamtheitlich diskutieren. Ich bin bereit dazu und freue mich auf die Diskussionen. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser, AfD. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über die Schuldenbremse im Grundgesetz zu reden, ist immer verdienstvoll. Die Notwendigkeit zu nachhaltiger Politik gibt es eben nicht nur für Umweltschutz, Bildung, Verteidigung und öffentliche Infrastruktur – der Kollege Bürgermeister hat das gerade wunderbar gesagt –, sondern in besonderem Maße für die gesamte Staatsfinanzierung. Die in 2009 im Grundgesetz eingeführte Schuldenbremse war eine der besten Verfassungsänderungen, die es je gab. ({0}) Dem Schuldenpopulismus früherer Zeiten wurde der Zahn gezogen. Die Forderungen, welche der FDP-Antrag enthält, um die Schuldenbremse zu verbessern, gehen allesamt in die richtige Richtung. Ein entscheidender Punkt, vielleicht der wichtigste, fehlt jedoch: Der Bund braucht, wie mehrfach bei Ländern und Kommunen bereits geschehen, einen kaufmännischen Haushalt, meine Damen und Herren. Eine Schuldenbremse ohne Darstellung des jährlichen Werteverzehrs des gesamten Bundesvermögens vom Bundesstraßennetz bis zum Kampfflugzeug löst ein altes Problem und schafft ein neues. ({1}) Die Reduktion des Haushaltsgeschehens auf Geldflüsse verleitet zur Illusion von ausgeglichenen Haushalten, sofern die Einnahmen und die Ausgaben ohne Kreditaufnahme ausgeglichen sind. Das Märchen von der schwarzen Null ist eine solche Illusion. ({2}) Einmal abgesehen davon, dass eine Null mit gleichem Recht schwarz wie rot genannt werden könnte oder vielleicht korrekterweise schwarz-rot, haben wir seit 2014 positive Finanzierungssalden, also optische Haushaltsüberschüsse. Was sagt uns das? Den gleichzeitig jährlichen Wertverlust aller Wirtschaftsgüter des Bundes, von Computern bis zu Straßenbrücken, sehen wir nicht. Wenn er kraft kaufmännischer Anlagenbuchhaltung gezeigt würde, hätten wir auch seit 2014 keine ausgeglichenen Haushalte. Wir haben also in den letzten Jahren nicht etwa eine schwarze Null, meine sehr verehrten Damen und Herren, sondern ein schwarzes Loch. ({3}) Das neue Problem der geschilderten unvollständigen Schuldenbremse besteht also darin, dass sie geradezu dazu animiert, den optischen Effekt eines ausgeglichenen Haushaltes vorzuspiegeln, indem man die Zerrüttung der Infrastruktur als Spielmasse verwendet, um diesen Effekt zu erzielen. Eher schwarze Magie als schwarze Null. ({4}) In unserem Fall, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommt ein externer Effekt hinzu, der mit nachhaltiger Haushaltspolitik ebenfalls nichts zu tun hat. Also das Selbstlob für die gute Haushaltspolitik ist völlig deplatziert. In den letzten zehn Jahren, also 2009 bis 2018, sind zwar die Bundesschulden nahezu gleich hoch geblieben – gut 1,2 Billionen Euro –, jedoch die Zinsen hierfür sind von 38 Milliarden auf 16 Milliarden Euro pro Jahr, also um 22 Milliarden Euro, gefallen. Dies beruht alleine auf der absurden Nullzinspolitik der EZB. Das wird aber und muss nicht so bleiben. Und dann müssen Sie alles neu rechnen. Wenn dann noch der Finanzminister in der jüngsten Steuerschätzung von 2018 bis 2023 seine Absicht erkennbar macht, die Abführungen an die EU von 28 auf 46 Milliarden Euro pro Jahr, also um 61 Prozent, in diesem kurzen Zeitraum zu erhöhen, während die verbleibenden Steuereinnahmen nur um 12 Prozent wachsen, dann paart sich Illusion mit Verantwortungslosigkeit, meine Damen und Herren. Dieses Wachstum von 12 Prozent in fünf Jahren auf die Inflation projiziert bedeutet: null Zuwachs an Spielraum im Bundeshaushalt für fünf Jahre – null! Stillstand, totaler Stillstand. Statt schwarzer Null also, meine Damen und Herren, eine finstere Zukunft. Nachhaltige Finanzpolitik sieht anders aus. Wie der Finanzminister in diesem Szenario seine Vorstellungen von Rente, Digitalpakt, erhöhter Grundsicherung usw. unterbringen will, bleibt sein Geheimnis. Wir werden das miterleben. Sie werden die Schuldenbremse knacken wollen, Sie werden sie knacken müssen. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Sonja Amalie Steffen. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Schon der Titel des Antrages, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ist verwirrend. Ich zitiere ihn einmal: „Schuldenbremse stärken und keine Lobby-Politik zulasten kommender Generationen“. ({0}) Da fragt man sich: Seit wann hat ausgerechnet die FDP etwas gegen Lobbypolitik? ({1}) Richtig schlau wird man aus Ihrem Antrag aber auch nicht, wenn man weiterliest. Dabei fangen Sie ganz gut an. ({2}) Genau, es stimmt, Sie haben richtig festgestellt – vielen Dank dafür –: Die Schuldenbremse hat nicht nur den öffentlichen Haushalten, sondern auch der politischen Kultur unseres Landes gutgetan. Da hat die FDP richtig dazugelernt; denn – Sie haben es schon gehört – damals, im Mai 2009, als die Schuldenbremse hier im Parlament beschlossen wurde mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit, ({3}) weil wir dazu das Grundgesetz ändern mussten, hat sich die FDP kraftvoll enthalten. Heute sagen Sie, Herr Dürr: weil Sie es noch härter haben wollten. – Was für ein Quatsch! Sie haben sich damals schlicht vom Acker gemacht. ({4}) Zutreffend in Ihrem Antrag ist auch die Schlussfolgerung: „Die Schuldenuhr des Bundes läuft inzwischen rückwärts“. Und nicht nur die des Bundes, sondern auch die vieler Länder und vieler Kommunen. Das ist sehr erfreulich.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Steffen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, lieber nicht. Ich möchte die Rede erst zu Ende halten. Aber Sie können hinterher eine Kurzintervention machen. ({0}) Nach Ihren klugen Einsichten am Anfang des Antrags wird es allerdings zunehmend nebulöser. Sie reden davon – ich zitiere jetzt noch einmal –, „dass sich … eine parteiübergreifende politische Bewegung für eine Einschränkung oder Abschaffung der Schuldenbremse zu bilden scheint.“ Ab jetzt befinden wir uns tatsächlich mitten im Land der Verschwörungstheorien. ({1}) Da ist von Gerüchten aus dem BMF die Rede, ({2}) von unbemerkten Versuchen, die Schuldenbremse aufzuweichen, ({3}) von dubiosen Runden und Vereinbarungen von Landesfinanzministern mit unserem Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Nein, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr Antrag ist weiß Gott kein Highlight Ihrer bisherigen Fraktionsarbeit. ({4}) Und was bitte schön meinen Sie mit „Wohlfühl-Programmen“ der Bundesregierung? Etwa das Gute-KiTa-­Gesetz, mit dem wir 5,5 Milliarden Euro in den Ausbau von Kitas und in die Beitragsfreiheit investieren? ({5}) Oder die Wiederherstellung der Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung? Oder die Erhöhung des Kindergeldzuschlages? Mit diesen Maßnahmen entlasten wir Beschäftigte und Familien erheblich. ({6}) Mit diesen Gesetzen wird das Leben der Menschen besser. Übrigens tragen diese Gesetze – ich darf es an dieser Stelle einmal sagen – eindeutig die Handschrift der SPD. ({7}) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ({8}) wir von der SPD wollen auch die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Dafür werden wir kämpfen. Ich sage Ihnen auch gerne, warum. Es ist einfach ungerecht, wenn eine Friseurin 35 Jahre hart arbeitet und mit 500 Euro Rente nach Hause geht. Da ist es uns völlig egal, ob sie mit einem Chefarzt verheiratet ist oder nicht. ({9}) Aber zurück zu Ihren Forderungen. Ihre erste Forderung lautet, die Schuldenbremse auf alle privatrechtlichen Beteiligungsgesellschaften der öffentlichen Hand auszudehnen. Ja, die Kollegin Hajduk hat es schon gesagt, da wundert man sich doch sehr, dass das ausgerechnet von der FDP kommt. Ich weise Sie aber auch gerne darauf hin – mein Kollege Schwarz hat es schon getan; ich fand es übrigens ziemlich eindeutig, aber ich möchte es noch einmal betonen –: Unser Finanzminister hat die Gründung einer privaten Gesellschaft zur Finanzierung öffentlicher Investitionen längst öffentlich ausgeschlossen. ({10}) Sie fordern als Zweites – und jetzt wird es richtig spannend – einheitliche und öffentlich kontrollierbare Maßstäbe und Berechnungsmethoden für den Bund und alle Länder. Jetzt folgt ein kurzer Grundkurs im Staatsrecht; ich hoffe, es wird nicht zu langweilig: Für den Bund gibt es diese Regelung bereits, nachzulesen – übrigens sehr ausführlich formuliert – in Artikel 115 des Grundgesetzes. Für die Länder kann der Bund selbstverständlich diese einheitlichen Maßstäbe nicht festlegen. Deshalb gibt es in Artikel 109 Absatz 3 nur die Festlegung, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich „ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ sind. Übrigens haben fünf Bundesländer bislang noch keine Schuldenbremse in das Verfassungsrecht aufgenommen. ({11}) – Ja, Herr Kollege Dürr, das ist bedauerlich. ({12}) Aber ob uns das an der ein oder anderen Stelle passt oder nicht: Der Föderalismus verbietet es uns schlicht, ({13}) verbindliche Maßstäbe der Schuldenbremse für die Länder festzulegen. ({14}) Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich weiß ja, dass Sie viele Juristinnen und Juristen in Ihrer Fraktion haben. ({15}) Und dabei ist wirklich auch der ein oder andere richtig gute Jurist dabei. Es hätte Ihnen doch auffallen müssen, dass Sie an diesem Punkt staatsrechtlich wirklich völlig neben der Spur liegen. ({16}) Wie Sie dann die weitere Forderung in Ihrem Antrag umsetzen wollen, nämlich Verstöße gegen die Schuldenbremse automatisch – so heißt es wirklich im Antrag: „automatisch“ – zu sanktionieren, verraten Sie uns erst gar nicht. Herr Dürr, ich dachte, Sie machen das vielleicht in Ihrer Rede; aber das ist dann leider auch nicht passiert. Fazit: Der Antrag ist überflüssig. ({17}) Die Schuldenbremse wird im Bund und in den Ländern eingehalten, und zwar so gut, dass sie in den letzten Jahren so gewirkt hat, dass der Bund und die meisten Bundesländer Schulden abbauen konnten. Einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Schuldenbremse braucht es nicht, und zwar deshalb nicht, weil sie funktioniert. Und noch etwas: Die Koalition unter einem sozialdemokratischen Finanzminister Olaf Scholz geht verantwortungsvoll mit dem Geld unserer Bürger um, und zwar zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger, und das immer mit Blick auf künftige Generationen. Dazu braucht es Ihren Antrag nicht. ({18})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die Fraktion der FDP. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, das war jetzt wieder – wie auch vom Kollegen Rehberg – der verzweifelte Versuch, bei der Frage, wie das mit der Schuldenbremse lief, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist: Ja, wir wollten eine Schuldenbremse, bei der nicht ausgewichen werden kann, eine Schuldenbremse, bei der zum Beispiel nicht Verschuldung dadurch gemacht wird, dass die Bahn AG 25 Milliarden Euro Schulden macht, ({0}) für die am Ende der Bund und die Steuerzahler haften müssen, weil da eine weitere Möglichkeit zur Verschuldung am Haushaltsgesetzgeber vorbei geschaffen worden ist. ({1}) Und dann wollen wir bei der Wahrheit bleiben, Frau Kollegin. Als es dann im Bundesrat darum ging, die Mehrheiten zu besorgen, weil die SPD wackelte, haben die Grünen – das will ich ausdrücklich sagen – und die FDP in ihren Landesregierungen dafür gesorgt, dass wir die Schuldenbremse bekamen. ({2}) Denn welche drei Länder haben die Schuldenbremse abgelehnt? Berlin unter Führung von Herrn Wowereit – der ist in der SPD –, ({3}) Schleswig-Holstein mit einer SPD-Regierungsbeteiligung und – sehr zur Schande des Kollegen Rehberg, der jedoch vorher schon ganz schnell in den Bund gegangen war – Mecklenburg-Vorpommern, Ihr Bundesland, Herr Rehberg, ({4}) unter der Führung von SPD und CDU. So war das, und das ist, was wir bei der Frage der Schuldenbremse festhalten wollen. ({5}) Wenn es darauf ankommt – das sage ich jetzt auch mal vermittelnd, weil ich diese ewige Keilerei zwischen Grünen und FDP manchmal langweilig finde –, ({6}) dann kann man sich auf Liberale und Grüne verlassen, dann, wenn es um die Frage geht, wie wir in die Zukunft gehen wollen, meine Damen und Herren. ({7}) Zweiter Punkt. Warum brauchen wir eigentlich eine Schuldenbremse? Ein nachhaltig denkender, ein wirtschaftlich denkender Mensch wird immer in der Lage sein, zu fragen: Wann investiere ich wie viel, damit sich das auf Dauer rechnet? – Die Politik hat aber bewiesen, dass es von Lobbygruppen Beeinflusste gibt, die sagen: Mir ist doch völlig egal, ob sich das nachher rechnet; ich gebe das einfach aus. ({8}) Dann haben wir uns, obwohl es für vernünftige Menschen ökonomisch nicht notwendig ist, politisch beschränkt. Und Sie – und erst recht Ihre Nachbarn – wollen diese Beschränkung am Ende entweder umgehen oder sogar aufheben. Das macht die FDP nicht mit, und deswegen werden wir das auch weiterhin stärken. ({9}) Ich will mal ein Zitat geben: Die Schuldenbremse ist nach wie vor grundsätzlich ein richtiges und wichtiges Instrument. Angesichts der Überschüsse in den vergangenen Jahren kann sie auch nicht für ausgebliebene Investitionen verantwortlich gemacht werden. Vielmehr musste die Schuldenbremse angesichts der guten Haushaltslage noch keinen Härtetest bestehen. Dieser wird kommen. Und wenn wir auf die Zahlen sehen – wir haben es ja gestern auch von der Bundesagentur für Arbeit gehört –, stellen wir fest: Dieser Test wird kommen. Ich finde, das ist eine sehr zutreffende Aussage. ({10}) Die Kollegin Hajduk nickt; die anderen Grünen nicken noch nicht so ganz. Als Hinweis: Das stammt aus den Händen der Kollegin Hajduk und des Kollegen Bayaz, die das so veröffentlicht haben. Die FDP hält diese Sätze für richtig. Deswegen müssen wir an diesen Punkt auch ran. ({11}) Aber die Realität ist doch eine andere. Nur mal kurz die Zahlen: Wir als Bund hatten seit 2013  240 Milliarden Euro zusätzlich an Einnahmen. Wenn man sich anguckt, wie seit diesem Jahr die Investitionen gelaufen sind, dann stellt man fest: Sie sind erst runtergegangen, dann wieder ein bisschen hochgegangen, dann kommen die Trickzurechnungen von Geldern, die weg sind, die man sich selber aber als Investition zurechnet. Und faktisch, Herr Kollege Rehberg, ist es so: Von diesen zusätzlichen 240 Milliarden Euro stehen piefige 3,8 Milliarden Euro zusätzlich für Investitionen zur Verfügung. Das ist die Bilanz dieser Koalition. ({12}) Zum Schluss, Herr Vizepräsident, möchte ich auf eines hinweisen: Es ist über das Thema Investitionen geredet worden. Hier widerspreche ich allerdings den Grünen: Wenn wir eine Konstruktion über Privatunternehmen finden, denen wir zusätzlich noch Verschuldensmöglichkeiten geben, bei denen am Ende aber der Bund haftet, dann ist das im Endeffekt genau das Gleiche. ({13}) Wir werden nur eine Verschuldung haben, die wir weiter verstecken. Darüber müssen wir dann reden. Ich glaube, dass Sie an der Stelle einen guten Willen haben. Die FDP sagt nur eines: Eine stabile Schuldenbremse zu entwickeln, die zum einen Investitionen berücksichtigt und die zum Zweiten auch dafür sorgt, dass Investitionen berücksichtigt werden, wie wir sie im 21 Jahrhundert brauchen, und nicht mit einem Investitionsbegriff aus dem 19. Jahrhundert arbeitet, ist unsere Aufgabe. Nur so können wir auf Dauer auch nachhaltig und finanziell richtig handeln. Herzlichen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rüdiger Kruse für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Rüdiger Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004083, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Otto Fricke hatte ja den Ehrgeiz, in drei Minuten Wahrheiten zu offenbaren, und ich muss ihm gratulieren: Er hat es geschafft; er hat nämlich die Wahrheit offenbart, warum denn – was kaum jemand verstanden hat – 2017 die FDP nicht koalitionsfähig war. Denn die Bedingung für eine Zustimmung der FDP zu egal was ist: 100 Prozent FDP, sonst heben wir nicht den Finger, auch wenn es um das Wohl des Landes geht. ({0}) – Gut, vielleicht haben Sie 2021 wieder mal eine Chance, oder Sie erreichen die absolute Mehrheit. Sie stellen in Ihrem Antrag auf einen Begriff ab, den ich sehr sympathisch finde. Sie sagen, es geht um Generationengerechtigkeit. Das war genau das, was uns angetrieben hat. Wir haben gesagt, wir können zukünftigen Generationen nicht immer mehr Schulden überantworten. Das haben wir erreicht. ({1}) – Ich schaue mir die Schulden an. ({2}) – Ich habe „Schulen“ verstanden, guter Mann, und ich werde auch darauf zurückkommen. Meckern Sie nach sechs Minuten. Nehmen wir erst mal die Schuldenbremse hinsichtlich der Fragen „Kredite“ und „Neuverschuldung“: Da können wir einen Haken dran machen. Das haben wir erledigt. – Das ist generationengerechte Politik. Reicht das, um insgesamt das Label „Wir sind in unserer Politik generationsgerecht“ zu tragen? Nein! Sie haben in der Debatte auch angesprochen, dass es noch das eigentliche Vermögen gibt: Schulen, Infrastruktur. Da gab es interessanterweise den Effekt, dass in den Jahren der hohen Verschuldung gleichzeitig die Infrastruktur verfallen ist. Auch da haben wir eine Kehrtwende geschafft. Bei der Verkehrsinfrastruktur haben wir jetzt den Verzehr der Infrastruktur gestoppt und kommen wieder zu einem Aufbau. Wir gehen in die richtige Richtung. Also: Auch dies ist generationengerechte Politik. Und wieder die Frage: Reicht das denn, um der jungen Generation zu sagen: „Wir tun schon genau das, was ihr braucht“? Nein! Das reicht nicht. Wir erleben ja auch, dass Finger in die Wunde gelegt werden, weil die Frage gestellt wird: Was ist mit einer intakten Umwelt? Wir wollen eine mindestens so gute Umwelt haben, wie ihr sie vorgefunden habt. – Das ist ein schwieriger Bereich. Bei Umwelt- und Klimaschutz haben wir viele Maßnahmen ergriffen, aber noch nicht genug. Das heißt, wir müssen auch noch sehr viel tun. Jetzt müssen wir nämlich aufpassen, dass das, was wir an der Stelle generationengerecht tun müssen, nicht dazu führt, dass wir an anderer Stelle das, was wir generationsgerecht aufgebaut haben, wieder einreißen. ({3}) Es ist nämlich wichtig, zu sagen, dass weder die FDP noch andere Gruppen richtig liegen, wenn sie sich ausschließlich auf eine Perspektive verengen. Wenn ich nur das Klima rette und den Rest verliere, dann ist für die Menschheit nichts gewonnen. ({4}) Wenn ich nur darauf hinarbeite, solche Bilanzen zu bekommen, von denen jeder DAX-Konzern träumt, und dabei das Klima in die Knie geht, haben die Menschen auch nichts gewonnen. Das heißt, diese Perspektiven müssen wir verbinden. ({5}) Generationengerechtigkeit ist da ein gutes Stichwort. Das andere gute Stichwort hat Alois Rainer bereits genannt, das ist die Klammer der Nachhaltigkeit. Unsere Politik ist nicht in dem Sinne aufregend, dass wir bei einem Thema Extremforderungen stellen: Wenn es im Trend liegt, dann sind wir prima, und ansonsten liegen wir halt neben der Spur. Wir machen vielmehr das Angebot, dass wir all diese wichtigen Punkte, die über das Wohl der Menschen und die Qualität des Lebens bei uns im Land und anderswo auf der Welt entscheiden, gleichzeitig betrachten. ({6}) Wir haben den Ehrgeiz, eine Politik zu machen, die gute Staatsfinanzen zum Ziel hat, die Zukunftsvorsorge im klassischen monetären Sinne, aber gleichzeitig auch im Sinne von Umweltschutz betreibt. Das denken wir aus der Perspektive einer Umwelt, in der es sich lohnt, zu leben. Das alles tun wir, weil wir dieses Land und diese eine Erde lieben. Danke schön. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10616 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diesen Monat sind es 20 Jahre, die der KFOR-Einsatz im Kosovo nunmehr dauert. Er ist der längste Auslandseinsatz der Bundeswehr. Vermutlich war das gemeint, als vor Kurzem jemand sagte, KFOR sei ein vergessener Einsatz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten es nicht zulassen, dass ein deutscher Soldat, eine deutsche Soldatin im Auslandseinsatz vergessen ist. Im Fall von KFOR kann man das vermeintliche Vergessen zudem vielleicht sogar auch als ein gutes Zeichen werten, als Zeichen, dass es dort längst nicht mehr täglich knallt, dass die Sicherheitslage mittlerweile stabil ist. Dementsprechend hat sich der Charakter des Einsatzes in den letzten zwei Jahrzehnten sehr stark verändert. Ende vergangenen Jahres konnte sich die Bundeswehr aus ihrem Feldlager im Süden Kosovos zurückziehen und ist heute nur noch in Pristina präsent. Auf dem Gelände des früheren Feldlagers entsteht heute übrigens ein kosovarisch-deutscher Innovations- und Trainingspark. Hier sollen IT-Unternehmen, Kreativ- und Kulturwirtschaft angesiedelt werden, vielleicht sogar ein Lehrkrankenhaus zur Ausbildung von Pflegern und Ärzten. Ich finde, das zeigt ganz gut, wo wir nach 20 Jahren stehen. Dies wird vor allem deutlich, wenn wir uns noch einmal die Situation im Jahr 1999 vergegenwärtigen: 850 000 Zivilisten waren aus ihrer Heimat geflohen, weitere 600 000 Menschen waren innerhalb Kosovos vertrieben, und das in einem Land mit 2 Millionen Einwohnern. Polizei und Gerichte funktionierten nicht. Ihre ersten Streifgänge führten die Bundeswehr vorbei an zerstörten und abgebrannten Häuserketten. Seitdem haben die Soldatinnen und Soldaten von KFOR ein sicheres Umfeld in diesem Land geschaffen. Sie haben die dringend benötigte Arbeit von Hilfsorganisationen unterstützt und die Rückkehr der Vertriebenen ermöglicht, unter anderem auch durch umfangreiche Minenräumung. Dass die kosovarische Bevölkerung heute überwiegend Vertrauen gefasst hat in die neu aufgebauten multiethnischen Polizeikräfte in diesem multiethnischen Land, ist keine Selbstverständlichkeit; vor allen Dingen ist das ein Verdienst der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in den letzten 20 Jahren zur Stabilisierung Kosovos beigetragen haben. Sie haben dort nicht nur für Sicherheit gesorgt, sondern auch Vertrauen geschaffen. Ihnen gilt unser aller Dank für diesen Einsatz, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Und trotz aller Fortschritte: Gerade in den letzten Monaten haben wir manche Verschlechterung in den Beziehungen vor allen Dingen zwischen Serbien und Kosovo erleben müssen. ({1}) Diese Entwicklungen bergen – das muss man anerkennen – auch heute noch ein erhebliches Eskalationspotenzial, vor allem im überwiegend serbisch besiedelten Norden Kosovos. Erst letzte Woche hat sich das erneut gezeigt. Die serbische Regierung hat ihre Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt, als die kosovarische Polizei einen Einsatz an mehreren Zugriffsorten im Kosovo gegen die organisierte Kriminalität durchgeführt hat – auch im überwiegend serbisch besiedelten Norden. Der Kommandeur der KFOR stand während des gesamten Polizeieinsatzes im ständigen Kontakt mit der serbischen Seite, der kosovarischen Polizei, EULEX und allen anderen Beteiligten. Die Mission hat damit – und zwar wieder einmal – einen Beitrag zur Beruhigung der Lage in einer schwierigen Situation geleistet. Das zeigt: KFOR ist und bleibt eine stabilisierende Kraft. Und vielleicht noch wichtiger: KFOR genießt die Unterstützung beider Seiten – der kosovarischen, aber eben auch der serbischen. Das ist Gold wert, gerade jetzt in dieser Situation, wenn es um Deeskalation und um Vermittlung geht. ({2}) Und darauf wird es auch in den kommenden Monaten ankommen. Solange das schwierige Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien nicht abschließend geklärt ist, wird es weiter zu Spannungen kommen. Deshalb setzen wir alles daran, dass der Dialog zwischen Kosovo und Serbien Kurs nimmt auf ein umfassendes Abkommen, das dann endlich zur regionalen Stabilität beitragen wird. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, war auch der Hintergrund des deutsch-französischen Westbalkan-Treffens am 29. April hier in Berlin. Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten weiter zusammen mit Frankreich mit aller Kraft daran arbeiten, dass wir dieses Ziel endlich erreichen. Meine Damen und Herren, die Bundeswehr war einmal mit 6 000 Soldatinnen und Soldaten am KFOR-Einsatz beteiligt. Dank der Fortschritte der vergangenen Jahre ist es gelungen, die deutsche Präsenz in dieser Zeit immer weiter zu reduzieren. Und auch mit diesem Mandat halbieren wir die Obergrenze erneut, von bisher 800 auf 400.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von einer Kollegin aus der Fraktion der Linken?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Bitte.

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Außenminister, für Ihre Darstellung. – Ich habe aber noch einige Fragen: Wann machen Sie sich Gedanken über die mehr als 220 000 vertriebenen Menschen aus dem Kosovo, die bis heute nicht nach Hause zurückkehren können? Wieso erwähnen Sie eigentlich nicht, dass auch UN-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter bei diesem Einsatz im Kosovo letzte Woche verhaftet und ihrer Rechte beraubt worden sind? Wieso ignorieren Sie das? Und nicht zuletzt vielleicht die Frage: Kann man wirklich davon sprechen, dass es unter den vielen Ethnien wirklich Frieden gebracht hat, wenn viele Menschen auch nach vielen Jahren und Jahrzehnten hier in Duldung leben müssen, weil sie als Minderheit dort um ihr Leben fürchten müssen? ({0})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Das alles sind Themen, mit denen wir uns natürlich außerordentlich intensiv beschäftigen. Das ist übrigens einer der Gründe, warum wir zusammen mit Frankreich eine Vermittlungsinitiative auf den Weg gebracht haben; denn wir sehen natürlich, dass es vor Ort nach wie vor große Probleme gibt. Wir wissen aber auch, dass wir, um diese Probleme zu lösen, eben ein Mindestmaß an Sicherheit und Stabilität brauchen. Dazu trägt der KFOR-Einsatz ganz wesentlich bei. Dass wir bei diesem Einsatz auf beiden Seiten, im Kosovo als auch in Serbien, Unterstützung haben, ist doch, glaube ich, ein Beweis dafür, dass dieser die Grundlage dafür sein kann, ein sicherheitspolitisches Umfeld zu schaffen. Dazu üben wir natürlich auch Druck aus, sowohl auf die kosovarische Seite, wenn es darum geht, die verhängten Strafzölle zurückzunehmen, wie auch genauso auf die serbische Seite, wenn es darum geht, die Kampagne auf Nichtanerkennung Kosovos international endlich zu beenden. Das alles sind Bausteine des Vermittlungsversuches, den Deutschland und Frankreich übernommen haben bei absoluter Anerkennung aller Probleme, die es nach wie vor gibt. Aber wir brauchen die direkten Gespräche; diese sind mittlerweile längst ins Stocken geraten. Wir sind nicht der Auffassung, dass beide das alleine können. Beide alleine wollen das auch nicht. Sie haben darum gebeten, dass wir uns stärker engagieren. Das tun wir. Wir hoffen natürlich, dabei die Probleme, die Sie benannt haben, nicht nur auf den Tisch zu legen, sondern dafür auch eine Lösung zu finden. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die Reduzierung des Mandats hinsichtlich seiner Personalstärke angesprochen. Ich finde, dahinter steht auch eine Botschaft: Wir reduzieren die Bundeswehrpräsenz, weil es vor Ort funktioniert. Gleichzeitig stellen wir mit dem vorliegenden Antrag sicher, dass die Bundeswehr auf eine unerwartete Verschlechterung der Sicherheitslage – diese kann angesichts der Spannungen, die es nach wie vor gibt, jederzeit eintreten – schnell und flexibel reagieren kann. Deshalb: Wenn man aus den 20 Jahren des KFOR-Einsatzes eine Lehre ziehen kann, ist es, wie ich finde, diese: Langer Atem und ein nachhaltiges ziviles, politisches und dort, wo notwendig, auch militärisches Engagement zahlen sich aus. Sie schaffen Stabilität. Das sehen wir bei diesem Einsatz. Diese Stabilität und den Erfolg, den dieser Einsatz hat, dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Daher bitte ich Sie um Ihre Unterstützung zur Mandatsverlängerung. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Jens Kestner. ({0})

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kollegen! Besucher auf den Tribünen! Zuschauer und Kameraden vor den Bildschirmen! Heute steht erneut die Fortsetzung der Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, kurz KFOR, auf der Tagesordnung. Wir wissen aber alle, dass der damalige Kosovo-Krieg mit einer Lüge begann. Ein souveräner Staat Serbien bekämpfte Terroristen auf seinem Staatsgebiet. Es kam erstmals zu bewaffneten Angriffen auf serbische Polizisten im Kosovo. Die Kosovo-Befreiungsarmee, die sich selbst UCK nannte und deren Mitglieder serbische Polizisten töteten und anschließend in die Wälder flüchteten, war geboren. Es waren klassische terroristische Hit-and-Run-Aktionen. Die USA setzten die UCK zunächst auf die Liste der internationalen terroristischen Organisationen, was nachvollziehbar war und auch heute noch nachvollziehbar ist. Dann kam der plötzliche Sinneswandel. Durch die USA wurden in Albanien Trainingslager für Kämpfer der UCK gegründet und ausgerüstet, und sie wurden unterstützt. Ende März 1999 begannen die Luftangriffe der NATO mit deutscher Beteiligung auf die Bundesrepublik Jugoslawien, also auf Serbien und Montenegro, die bis Anfang Juni 1999 andauerten. Die NATO koordinierte und plante ihre Aktionen im Kriegsgebiet mit der UCK. Man zwang die eben schon angesprochenen serbischen Streitkräfte zum Rückzug. 200 000 Serben flüchteten aus der Provinz. Kurze Zeit später rückten die Alliiertenverbände mit deutscher Beteiligung in das Kosovo ein. Der deutsche KFOR-Einsatz hatte begonnen. Alles Weitere ist Geschichte. In der Gewissheit, dass eine weitere Unterstützung gewährleistet wird, agieren die Verantwortlichen in Pristina immer frecher und immer hemmungsloser.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kestner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lambsdorff?

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, bitte.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben jetzt einen historischen Abriss der Ereignisse zwischen Serbien und dem Kosovo aus den entscheidenden Jahren gegeben und die USA und ihre Politik angeführt, die die UCK zunächst in der Tat sehr kritisch gesehen haben. Aber Sie haben völlig unterschlagen, dass auch die USA mit Blick auf die Entwicklung selbstverständlich gesehen haben, dass dort ein versuchter Genozid unterwegs war. Madeleine Albright sprach von „acts of genocide“, also Handlungen, die genozidalen Charakter trugen. Das haben Sie völlig ausgelassen. Sie haben so getan, als ob sich die westliche Politik dem Land gegenüber völlig unvermittelt geändert hat. Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in Ihrer Schilderung eine Auslassung gibt? ({0})

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Lambsdorff, nein, das wäre ich nicht. Als Allererstes: Ich erinnere an den sogenannten Hufeisenplan und das Einpferchen von Menschen in einem Stadion. Glauben Sie mir, ich war 1999 dort; ich weiß, was passiert ist. Dafür brauche ich keine Madeleine Albright oder irgendein Stück Papier. Ich weiß, was passiert ist. Ich weiß, wer wem was angetan hat, und ich weiß, was sich die Ethnien untereinander angetan haben. Ich weiß auch, was in diesem Land immer noch vorherrscht; denn ich war dort, Herr Lambsdorff. – Danke schön. ({0}) Im Jahr 2008 erklärte das Kosovo einseitig seine Unabhängigkeit. Belgrad erkannte diese nicht an. Die USA unterstützten dieses Vorgehen, und die NATO erklärte lediglich, dass man den Zeitpunkt für unglücklich hält. Die Kosovo-Sicherheitskräfte wurden einseitig in ein leicht bewaffnetes Heer umgewandelt. Die Abstimmung dazu im kosovarischen Parlament wurde von Abgeordneten der serbischen Minderheit boykottiert. Was machte Berlin? Was machte unsere Regierung? Sie sah diesem Treiben damals tatenlos zu und tut es auch heute noch. Die netten Worte, die der Herr Außenminister hier eben gesagt hat, bestätigen das wieder. Dass sich Serbien durch diese Entwicklung bedroht fühlt, muss ich, glaube ich, nicht weiter ausführen. Das würde jedes andere Land auch, wenn auf einmal in einer Provinz, die faktisch immer noch zum Mutterland gehört, eine Armee aufgestellt wird. Aktuell – auch Sie haben es eben angesprochen – überschlagen sich die Ereignisse im Kosovo erneut. Kosovarische Polizeieinheiten dringen in den serbisch bewohnten Norden ein, angeblich um Straftäter und Verbrecher dingfest zu machen. All das, was wir erleben, sind keine vertrauensbildenden Maßnahmen, um die alten Wunden zu heilen, die der Krieg im Kosovo geschlagen hat. Wenn die Polizei Kriminelle und Verbrecher dingfest machen will, dann sollte sie bitte in ihren Reihen im Kosovo selbst beginnen. Die sogenannte Staatsführung im Kosovo besteht in weiten Teilen aus Kriegsverbrechern und gewöhnlichen Kriminellen. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn wir dort mit Leuten verhandeln, dann verhandeln wir mit Kriegsverbrechern und einfachen gedungenen Kriminellen. ({1}) Deutsche Soldaten waren maßgeblich daran beteiligt, Stabilität in diesen Abschnitt des Balkans zu bringen. Daher sollte man erwarten können, dass sich die deutsche Regierung mit ihren Interessen durchsetzt, sodass diese Personen einer gerechten Strafe zugeführt werden. Der einzige wirkliche Exportschlager, der uns auch hier in Deutschland erreicht, ist eine brutale organisierte Kriminalität, kurz Mafia, wie wir sie alle kennen. ({2}) Es sollte doch das Ziel sein, geordnete politische Strukturen im Kosovo zu erreichen. Die deutschen Soldaten waren doch nicht im Kosovo, um solche Strukturen, wie es sie aktuell gibt, zu unterstützen. Räumlich hat man die Ethnien mit militärischer Stärke getrennt, immer in der Hoffnung, dass die Politik Lösungen findet. Wir haben das Kosovo befriedet und eine Ausgangssituation geschaffen, von der man dachte, sie sei zielführend und führe zu Ergebnissen. Wir haben uns getäuscht. Jetzt ist es an der Zeit, von den Verantwortlichen vor Ort endlich Verantwortung einzufordern. Wir sind aktuell mit 70 Soldaten in Pristina vor Ort, um Kräfte zu unterstützen, denen es nicht um Ausgleich und Verständigung geht. Wir als AfD-Fraktion haben klargemacht, dass es mit uns keinen unendlichen KFOR-Einsatz geben wird. Wir sind am Ende angelangt und sollten diesen Einsatz nicht weiter verlängern. Wir als Deutsche haben unseren Auftrag erfüllt. Nun sollten die Verantwortlichen vor Ort zeigen, wie wichtig es ihnen ist und war, dass wir Deutsche uns dort eingebracht haben. Wir lehnen eine Verlängerung dieses Einsatzes ab. Ich bedanke mich. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin im letzten Jahr mehrfach im Kosovo gewesen. Ich bin letzte Woche in Belgrad gewesen. Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich auf dem Balkan mehr Dialog und mehr Besonnenheit erlebt habe, als im Beitrag des Vorredners zum Ausdruck gekommen ist. Das sind ein gutes Signal und eine gute Botschaft für die Staaten des westlichen Balkans. ({0}) Vor 20 Jahren – fast auf den Tag genau – hat der Deutsche Bundestag zum ersten Mal beschlossen, dass sich Deutschland an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, dem KFOR-Einsatz, beteiligt. Das geschah in einer Situation, in der das Ausmaß von Vertreibung und Deportationen durch die Kräfte der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien im Kosovo neue Dimensionen angenommen hatte. Mehr als 1,4 Millionen Menschen waren vertrieben und auf der Flucht. Der größte Teil der 1,8 Millionen Kosovo-Albaner war obdachlos. Ganze Landstriche waren verwüstet. Es fanden systematische Vergewaltigungen statt, und über 13 000 zivile Opfer waren zu beklagen. Das war die Situation 1999, ({1}) in der sich die NATO entschlossen hat, einzugreifen. Über den Kosovo hinaus galt damals die gesamte Region des Westbalkans als höchst instabil. Deswegen galt es, diesem Flächenbrand, dieser humanitären Katastrophe direkt vor unserer Haustür eine wirksame Antwort entgegenzusetzen. ({2}) Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich gelungen, diese Antwort zu geben und dem Kosovo eine neue Perspektive zu schaffen; auch für die gesamte Region des westlichen Balkans. Gewalt und Unterdrückung im Kosovo konnten beendet werden. Alle militärischen, polizeilichen und paramilitärischen Kräfte der Bundesrepublik Jugoslawien haben sich damals innerhalb kürzester Zeit zurückgezogen. Es wurde ein sicheres Umfeld für alle Bürger im Kosovo geschaffen ({3}) und den Vertriebenen und Flüchtlingen eine sichere und freie Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht. KFOR hat die internationalen Organisationen unterstützt bei der Entwicklung von selbsttragenden demokratischen Übergangsstrukturen und bei der Schaffung von friedlichen und normalen Lebensbedingungen für die Bewohner des Kosovo. KFOR hat die Demilitarisierung im gesamten Kosovo einschließlich der sogenannten kosovarischen Befreiungsarmee UCK überwacht und durchgesetzt, und KFOR hat den ungehinderten Zugang humanitärer Hilfsorganisationen im Kosovo gewährleistet. Das ist der Erfolg dieses Einsatzes, den wir nun seit 20 Jahren haben. ({4}) Seit dieser Zeit, seit 1999, hat sich viel getan. Dieser Einsatz hat sich von einer friedensschaffenden Mission mit über 50 000 Soldatinnen und Soldaten zu einer friedensbewahrenden Mission mit derzeit etwa 3 500 Soldatinnen und Soldaten entwickelt. Heute, 20 Jahre später, ernten wir die Früchte dieses Engagements der internationalen Gemeinschaft. Es ist gelungen, ein sicheres, in weiten Teilen kontrollierbares Umfeld für die Menschen im Kosovo zu schaffen, aufrechtzuerhalten und auch lokale Sicherheitsstrukturen nachhaltig aufzubauen. Damit haben wir wichtige Grundlagen dafür gelegt, dass im Kosovo und im gesamten Westbalkan eine stabile Zukunft gestaltet werden kann.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron von der AfD?

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Ich würde gerne fortfahren, weil ich darauf hinweisen will, dass ich erst im Oktober letzten Jahres in Prizren gewesen bin, als im Beisein des kosovarischen Regierungschefs Haradinaj das Feldlager, das die Bundeswehr 20 Jahre betrieben hat, geräumt wurde. Wir errichten nun dort zusammen mit der kosovarischen Regierung und mit Unterstützung des Bundesentwicklungsministeriums einen Technologiepark, der Chancen für die nächste Generation schafft. Schöner könnte man nicht darstellen, dass auf der Basis der Stabilität, die mit dem Einsatz der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr geschaffen worden ist, jetzt eine neue Perspektive für die junge Generation im Kosovo entsteht. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie auch mich ein herzliches Dankeschön sagen für den Einsatz all der Soldatinnen und Soldaten, die in 20 Jahren mit dazu beigetragen haben, dass diese Perspektiven für den Kosovo entstehen. Ihnen gilt unser tiefer Respekt, und auch das konnte man in Prizren sehen: Beim Verabschiedungsappell haben sich die Menschen, die in den Cafés um diesen Platz herum saßen – die Familien, die Mütter und Väter mit Kindern, die jungen Leute – beim Ausmarsch der Soldaten der Bundeswehr erhoben und stehend Applaus gegeben für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo. Meine Damen und Herren, die NATO konnte ihre Kräfte in den zurückliegenden Jahren schrittweise erheblich reduzieren und ihre Fähigkeiten anpassen. Deswegen senken wir auch die Personalobergrenze für die Verlängerung des Mandats auf 400 Soldaten und Soldatinnen ab, um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen. Aber die Lage bleibt durchaus fragil. Es gibt weiter latentes Konflikt- und Eskalationspotenzial, und deswegen ist es notwendig, dass wir diesen Einsatz fortsetzen. Das liegt nicht nur im Interesse des Kosovo. Insbesondere auch die serbische Seite legt Wert darauf, dass die internationale Gemeinschaft mit diesem KFOR-Einsatz mit für Sicherheit und Ordnung im Kosovo sorgt. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für eine weitere Verlängerung dieses Mandats. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Der Kollege Bystron erhält die Möglichkeit für eine Kurzintervention. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich bin verwundert, dass Sie über Erfolg und Befriedung, über Erfolg der Aktion und Befriedung der Region, sprechen. Ich war auch in Belgrad. Schön, dass Sie das ausgeführt haben. Wir haben da auch mit Regierungsvertretern gesprochen, und die sagen: Kosovo ist das einzige Land auf der Welt, in dem die organisierte Kriminalität einen eigenen Staat hat. Herr Kollege Lambsdorff hat den Kriegseinsatz der Amerikaner und Madeleine Albright so lobend erwähnt. Madeleine Albright wird genau wegen der Aktivitäten, die die Amerikaner da entfaltet haben, die „Schlächterin vom Balkan“ genannt. Sie sagen, die Region wurde befriedet. Bis heute kommen aber Terroristen aus dem Kosovo auf mazedonisches Gebiet. Die NLA überfällt immer wieder Dörfer in Mazedonien. Wie können Sie da von Erfolg und von Befriedung der Region sprechen?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wollen Sie antworten?

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Ja. – Herr Kollege, wir ignorieren nicht, was vor Ort passiert. Ich habe ausdrücklich davon gesprochen, dass die Situation weiter fragil ist und es latentes Konflikt- und Eskalationspotenzial selbstverständlich gibt. Deswegen ist eine weitere Präsenz der internationalen Gemeinschaft im Kosovo auch erforderlich. Ich weise nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die serbische Regierung uns ausdrücklich darum gebeten hat, diese Präsenz fortzuführen. Ich kenne sehr wohl die Unterschiede in der Bewertung von serbischer und kosovarischer Seite. Aber dass beide in einem Dialog sind, dass auf beiden Seiten auch ein erstaunliches Maß an Besonnenheit, insbesondere in Situationen, in denen Eskalation droht, zu erkennen ist, gibt Hoffnung, und darauf müssen wir aufbauen. Es ist auch notwendig, zu sehen, dass wir über die Stabilisierung des Kosovo hinaus über die Stabilität auf dem Westbalkan insgesamt sprechen müssen. Da müssen alle Akteure einbezogen werden. Wir spielen hier eine konstruktive Rolle, und das wird von allen Seiten respektiert und anerkannt. Deswegen sollten wir im Kontext der internationalen Gemeinschaft diesen Einsatz auch fortführen. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Dann fahren wir fort in der Debatte. Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai für die FDP, dem ich zu seinem heutigen Geburtstag gratulieren möchte. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Heute Abend sind wir ja beim Sommerfest. Die Getränke gehen selbstverständlich auf mich. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frieden und Stabilität in Europa sind keine Selbstverständlichkeit. Die jährliche Verlängerung der deutschen Beteiligung am multilateralen Einsatz im Kosovo ist ein wichtiger Teil des Strebens nach Frieden und Stabilität. Auch wenn der Kosovo nur noch selten eine Rolle in den deutschen Medien spielt, auch wenn man von einer überwiegend ruhigen und stabilen Sicherheitslage im Mandatstext spricht, verdeutlicht ein regelmäßiger Blick in die Region: Die Situation im Kosovo ist nach wie vor fragil. ({1}) Gleichzeitig sind aber auch Fortschritte zu erkennen. Durch die militärische Präsenz der internationalen Gemeinschaft konnte über die vergangenen zwei Jahrzehnte ein hohes Maß an Stabilität hergestellt werden. Aber, meine Damen und Herren: Bis hin zu einer politischen und gesellschaftlichen Aussöhnung, ganz zu schweigen von einem echten Frieden, ist noch viel zu tun. Das attestieren nicht zuletzt die immer wieder aufkeimenden Zwischenfälle und der aggressive Ton zwischen Serbien und Kosovo. Trotzdem kann das KFOR-Mandat keine Dauerlösung sein. Deswegen ist es zu begrüßen, dass Einsatzstärke und Umfang stetig reduziert werden. Worauf es in den letzten Jahren umso mehr ankam und auch weiterhin ankommt, ist a) der innenpolitische Prozess und b) die Fortsetzung des Dialogs mit Serbien. Der innenpolitische Prozess muss natürlich gewollt sein. Reformen müssen weiter umgesetzt werden. Die massive Korruption muss endlich eingedämmt, Rechtsstaatlichkeit hergestellt werden. Die Bundesregierung und die internationalen Partner müssen dem Kosovo dabei weiter stark zur Seite stehen. Nicht gut läuft es beim Dialog mit Serbien. Die Entwicklungen sind in letzter Zeit bedauerlich. Gegenseitige Provokationen brechen nicht ab und bergen stets ein gewisses Eskalationspotenzial. Sowohl innen- als auch außenpolitisch besteht also großer Handlungsbedarf. ({2}) Deswegen ist es umso wichtiger, den erfolgreichen und sogenannten vernetzten Ansatz weiter zu verfolgen. Verschiedene Missionen und Organisationen arbeiten vor Ort komplementär zusammen, um das Land zu stabilisieren und zu transformieren. Es ist aber auch gut, dass das Mandat gleichzeitig verkleinert und trotzdem durch das flexible Anpassungskonzept sehr beweglich gehalten wird. Meine Damen und Herren, auch im Kosovo spricht Europa nicht mit einer Stimme. Mehrere EU-Mitglieder haben den Kosovo bis heute nicht einmal als Staat anerkannt. ({3}) Von einer gemeinsamen Strategie kann also trotz der für Deutschland und Europa sicherheitspolitischen Bedeutung keine Rede sein. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die deutschen und europäischen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen auch innerhalb Europas, in der innereuropäischen Nachbarschaft bestritten werden müssen. Wenn wir von der direkten Nachbarschaft, den Problemen vor der eigenen Haustür sprechen, dann ist allzu oft der Nahe Osten gemeint. Die Konflikte im eigenen Haus, in Europa, finden jedoch viel zu wenig Beachtung. ({4}) Meine Damen und Herren, wir brauchen ein starkes Europa, ein Europa, das zusammenhält, mit einer Stimme spricht und auf der Weltbühne ernst genommen wird. Dass Staaten wie China und Russland darauf warten, dass in Europa Lücken entstehen und das sogar befeuern, ist heute offensichtlich. Das wollen wir nicht zulassen. Echte Perspektiven, Stabilität und Frieden sind unsere Maßstäbe für den Kosovo und für ein sicheres und freies Europa. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 20 Jahren ist die Bundeswehr im Kosovo, und wieder einmal beantragt die Bundesregierung eine Verlängerung des Einsatzes. ({0}) – Auf die Begründung komme ich gleich, Herr Kollege. – Erneut beantragen Sie die Bereitstellung von Steuergeldern in Millionenhöhe. Dieses Mal sind es 23 Millionen Euro, damit dieser höchst problematische Einsatz deutscher Militärs auf dem Balkan fortgesetzt werden kann und deutsche Bundeswehrsoldaten die kosovo-albanischen Sicherheitskräfte aufbauen, beraten und ausbilden können. Wenn man sich aber die Begründung der Bundesregierung für diesen Einsatz anschaut, kann man den Eindruck gewinnen, dass Sie die neuesten Entwicklungen in der Region nicht mitbekommen haben. Sie haben offenbar einfach alte Anträge auf den Kopierer gelegt, um sie dem Bundestag und der Öffentlichkeit zu präsentieren. So wird die Öffentlichkeit hinsichtlich des Sicherheitsumfeldes, in dem sich die deutschen Soldaten in der Region bewegen, getäuscht. Sie schreiben in Ihrem Antrag – Zitat –: „Die Sicherheitslage im Kosovo ist weiterhin überwiegend ruhig und stabil“, allenfalls gebe es „ein Konflikt- und Eskalationspotenzial“. Herr Bundesaußenminister Maas stellt sich hierhin und sagt, der KFOR-Einsatz sorge für Sicherheit und Stabilität vor Ort. Ich frage mich, Herr Maas: Lesen Sie eigentlich noch Zeitungen? Und damit meine ich nicht Boulevardblätter. ({1}) Haben Sie gar nicht mitbekommen, dass die Ihnen treu ergebenen kosovo-albanischen Sicherheitskräfte erst letzte Woche im Norden des Kosovo an einem Überfall auf einen russischen UN-Angestellten beteiligt waren? Haben Sie denn nicht mitbekommen, dass infolge des brutalen Vorgehens gegen Angehörige der serbischen Minderheit durch Paramilitärs unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung mittlerweile die serbische Armee mobilisiert wurde, um die Serben als Minderheit im Kosovo zu schützen? Ich frage mich: Ist Ihnen entgangen, dass der sogenannte Präsident des Kosovo, Hashim Thaci, ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, über den der Bundesnachrichtendienst behauptet, er hätte zahlreiche Morde in Auftrag gegeben, sich jetzt öffentlich für die Schaffung Großalbaniens einsetzt und so weitere Grenzen auf dem Balkan infrage stellt und damit die Kriegsgefahr in der Region massiv schürt? ({2}) Warum erwähnen Sie nicht einmal, dass sich durch die Einführung der 100-Prozent-Zölle auf serbische Waren durch den Kosovo, der weiterhin kein Mitglied der Vereinten Nationen ist, die Spannungen zwischen Pristina und Belgrad massiv erhöht haben? Ich finde es unerträglich, dass die Bundesregierung auch noch das Militär eines solchen völkisch-nationalistischen Regimes aufbaut im Wissen, ({3}) dass Thaci und Co mit weiteren Grenzveränderungen auf dem Balkan drohen und Minderheiten wie Serben und Roma im Kosovo politisch verfolgt werden. Die von Ihnen in Deutschland immer wieder groß geforderte Haltung würde ich mir auch gegenüber dem völkisch-nationalistischen Regime im Kosovo wünschen. ({4}) Durch die Rückendeckung für den völkischen Nationalismus im Kosovo, durch die massive Unterstützung der militanten Nationalisten und auch durch den Bundeswehreinsatz legt die Bundesregierung erneut die Brandfackel an den Balkan. Ich finde, es ist höchste Zeit, die Unterstützung der Nationalisten in Pristina zu beenden und sich für diplomatische Lösungen einzusetzen. Die Politik der doppelten Standards und der Völkerrechtsbrüche durch die Bundesregierung droht jedes Vertrauen in die internationale Rechtsordnung zu untergraben. Deshalb sagen wir als Linke: 20 Jahre Bundeswehr im Kosovo sind 20 Jahre zu viel. ({5}) Wir sollten die Bundeswehr so schnell wie möglich abziehen. Die Geschichte hat gezeigt: Die Präsenz von deutschen Soldaten auf dem Balkan hat niemals etwas Gutes bewirkt. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katja Keul. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die guten Nachrichten zuerst: Die Sicherheitslage im Kosovo hat sich weiter verbessert, das deutsche Feldlager in Prizren ist geräumt, die deutsche Beteiligung an den operativen Reservekräften konnte beendet werden, und faktisch sind nur noch 70 Bundeswehrsoldaten vor Ort. ({0}) Da stellt sich die Frage, warum wir immer noch ein Kontingent von 400 Soldaten mandatieren sollten – ein Mandat für 100 Soldaten ohne Reservebataillon würde doch völlig ausreichen –, ({1}) aber dafür haben wir von Ihnen noch keine ausreichende Begründung gehört. Der Umfang des Mandats ist aber nur das kleinere Problem. Schwerwiegender ist die faktische Veränderung des Auftrages. Trotz aller Warnungen seitens der UN und der NATO hat die kosovarische Regierung gegen den Protest und Widerstand der serbischen Minderheitsabgeordneten den Aufbau militärischer Streitkräfte im Parlament durchgesetzt. Dabei wurde die in der Verfassung vorgesehene doppelte Zweidrittelmehrheit, für die auch die Abgeordneten der serbischen Minderheit hätten zustimmen müssen, bewusst umgangen, indem man das Wort „Armee“ nicht wörtlich ins Gesetz geschrieben hat. Dennoch werden die Sicherheitskräfte, Kosovo Security Forces, im Gesetz nunmehr als „professional armed and authorized military forces“ bezeichnet und erhalten ein ausdrückliches Mandat zur Landesverteidigung. Es werden militärische Rangbezeichnungen, Uniformen sowie eine militärische Kommandostruktur eingeführt. Es überzeugt also nicht, wenn die Bundesregierung in der Begründung des Mandates schreibt: Das Recht der Republik Kosovo auf Schaffung regulärer Streitkräfte im Einklang mit den Bestimmungen der kosovarischen Verfassung wird von der Bundesregierung grundsätzlich anerkannt. Hier hat die kosovarische Regierung eben gerade nicht im Einklang mit der Verfassung gehandelt. Der Aufbau einer kosovarischen Armee ist ohnehin völkerrechtlich und auch sicherheitspolitisch hochbrisant, weil sich dadurch die bestehenden Spannungen weiter verschärfen und eine politische Einigung erschwert wird. Noch im Dezember hat NATO-Generalsekretär Stoltenberg deshalb gewarnt, der geplante Schritt komme zur Unzeit, laufe dem Rat vieler NATO-Partner zuwider und könne sich negativ auf die Aussichten auf die euro-atlantische Integration Kosovos auswirken. Sollte das Mandat der Kosovo Security Forces erweitert werden, so Stoltenberg, sehe sich die NATO gezwungen, ihr Engagement in dem Land auf den Prüfstand zu stellen. Es war dann letztlich Trump, der sich kurz darauf von der NATO-Position distanzierte und stattdessen die Ausrüstung mit US-Waffen und -Fahrzeugen zusicherte. Das kann aber für uns nicht automatisch bedeuten, dass das – trotz der berechtigten Bedenken, die sowohl die NATO als auch die UNO zuvor geäußert hatten – eine Prüfung des Auftrages obsolet macht. ({2}) Im Mandat steht als Auftrag der Bundeswehr die Unterstützung des Aufbaus der Kosovo Armed Forces. Wie genau soll diese Unterstützung aussehen? Was macht die Bundeswehr überhaupt noch anderes, als den Aufbau dieser Armee zu unterstützen? Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine Fraktion hat das KFOR-Mandat seit 20 Jahren mit ganz großer Mehrheit mitgetragen. Es ging darum, einen Beitrag für ein sicheres Umfeld zu leisten. KFOR ist ein gutes Beispiel dafür, wie aufwendig es ist, selbst in einem noch so kleinen Land mit weniger Einwohnern als Berlin und trotz eines riesigen internationalen militärischen und zivilen Kontingents für eine Stabilisierung der Sicherheitslage zu sorgen. Wenn dieser Auftrag jetzt wenigstens teilweise erfüllt werden konnte, dann freut uns das alle. ({3}) Was im Kosovo aber immer noch fehlt, ist die Klärung der Statusfrage. Dazu braucht es eine politische Einigung zwischen den beiden Nachbarstaaten. Solange es diese Einigung nicht gibt, ist die Entwicklung des Kosovos in vielerlei Hinsicht blockiert. Die Einigung über die Anerkennung darf jetzt nicht erschwert werden, indem man den zweiten Schritt vor dem ersten macht und gegen den Widerstand der eigenen Minderheiten und unter Umgehung der Verfassung militärische Streitkräfte aufbaut. ({4}) Hier gibt es noch viele Fragen, die beantwortet werden müssen. Leider hat die Bundesregierung den Antrag, wie immer, zu spät in den Bundestag eingebracht, sodass wir nächste Woche wieder nur Sondersitzungen haben werden. Antworten müssen Sie auf diese Fragen aber trotzdem liefern. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte für die Fraktion CDU/CSU ist die Kollegin Gisela Manderla. ({0})

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Der Zwischenfall im Zuge einer Polizeirazzia im Norden des Kosovos vor gut einer Woche hat wieder einmal vor Augen geführt, dass bedauerlicherweise immer noch nicht von einer Normalisierung des bilateralen Verhältnisses zwischen der Republik Kosovo und der Republik Serbien gesprochen werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Republik Kosovo nach wie vor auf internationale Unterstützung angewiesen. Es ist daher richtig und wichtig, dass die Bundesrepublik seit nunmehr 20 Jahren Teil dieser Unterstützung ist. ({0}) Ohne die sich gegenseitig ergänzenden Beiträge der am Einsatz beteiligten Nationen würde nicht nur die Entwicklung einer befriedeten Republik Kosovo, sondern auch die Stabilität der gesamten Region gefährdet. Zwar ist die Sicherheitssituation vor Ort grundsätzlich ruhig, jedoch besteht durchaus ein Eskalationspotenzial, wie der Vorfall in der letzten Woche gezeigt hat. Eine Befriedung der angespannten Lage zwischen dem serbisch bevölkerten Norden und der kosovarischen Bevölkerung im Rest des Landes wäre ein wichtiger Schritt, um die Beziehungen zwischen der Republik Kosovo und Serbien insgesamt zu verbessern. Liebe Kollegen und Kolleginnen, aus diesem Grunde wollen wir als Bundesrepublik uns auch weiterhin im Namen dieses Prozesses engagieren und für eine nachhaltige Entwicklung der gesamten Region Sorge tragen – nicht zuletzt in Form des EU-geführten Normalisierungsdialogs zwischen beiden Staaten. Hierbei steht Deutschland zu seinen Verpflichtungen gegenüber den NATO-Partnern und gegenüber der internationalen Gemeinschaft. So wurden seit 1999 Finanzmittel in Höhe von über 630 Millionen Euro zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus bereitgestellt. Die Hauptschwerpunkte des deutschen Engagements sind hierbei die Verbesserung der Infrastruktur sowie die Durchführung umfassender Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung. Beispielsweise – das ist auch heute schon mehrmals genannt worden – ist geplant, einen Innovationspark zu errichten, um die wirtschaftliche Entwicklung sowie die Entstehung von Innovationen und Arbeitsplätzen zu begünstigen. Dank des KFOR-Einsatzes kann eine kontinuierliche Verbesserung der Situation vor Ort konstatiert werden. Infolge des Engagements konnten lokale Sicherheitsstrukturen installiert und dementsprechend ein weitestgehend befriedetes Umfeld für die kosovarische Bevölkerung geschaffen werden. Und darum geht es doch! Ohne diese Leistungen wäre für die wirtschaftliche wie die gesellschaftliche Entwicklung des Landes kein Raum. Auch lässt sich feststellen, dass sich der Charakter der Mission aufgrund der bereits erzielten Fortschritte in den letzten 20 Jahren durchaus gewandelt hat. Stand zu Beginn des Einsatzes noch die Friedensschaffung im Vordergrund, geht es inzwischen in erster Linie um die Friedenserhaltung. Auch aus diesem Grunde kann die Personalstärke sukzessive reduziert werden. Ein zentraler Baustein des KFOR-Mandats zur Förderung des Stabilisierungsprozesses ist daher sein komplementärer Ansatz, nicht nur mit den kosovarischen Institutionen, sondern auch mit der OSZE, der EU sowie den Vereinten Nationen eng zusammenzuarbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen im Kosovo haben unseren Einsatz und den Einsatz unserer Soldaten und Soldatinnen verdient. Deshalb sollten wir auch heute wieder die Verlängerung des Einsatzes beschließen. Danke schön. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Nikolas Löbel für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie jedes Jahr beraten wir heute intensiv über die Verlängerung des KFOR-Mandats in der Republik Kosovo, und das ist auch gut so. Die Entwicklung im Westbalkan ist stets im Fluss; das Mandat ist kein Selbstzweck. Es geht seit über 20 Jahren darum, Verantwortung im Westbalkan zu übernehmen. Seit einigen Jahren hat sich das Mandat gewandelt. Es geht nun, wie unsere Bundesverteidigungsministerin einmal sagte, um ein „langsames Ausgleiten“ des Einsatzes. Das heißt, es geht um eine flexible, schrittweise Anpassung der Truppenstärke in Abhängigkeit von der Bewertung der Sicherheitslage vor Ort. Der KFOR-Einsatz dient nunmehr der Überwachung der Entwicklung von demokratisch kontrollierten und multiethnischen Sicherheitsstrukturen. Insoweit stellt der Kosovo-Einsatz exemplarisch den Wandel der Herausforderungen dar, vor denen die Bundeswehr immer wieder steht: von der humanitären Intervention bis hin zur militärischen Sicherung eines politischen Prozesses. Einst waren dort über 6 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, heute sind es gerade einmal 76 deutsche Soldatinnen und Soldaten. Die Obergrenze liegt mittlerweile nur noch bei 400 und wurde damit seit dem vergangenen Jahr nochmals um die Hälfte reduziert. Damit bleibt gewährleistet, dass die Bundeswehr bei einer unerwarteten Verschlechterung der Sicherheitslage im Kosovo schnell reagieren kann. ({0}) Diese Möglichkeit müssen wir uns auch in Zukunft erhalten; denn es bleiben ein Konflikt- und ein Eskalationspotenzial in der Region, vor allen Dingen im Norden des Landes, entlang der ethnischen Konfliktlinien. Wir sehen dort anhaltende wirtschaftliche Missstände, die kontinuierlich zu hoher Arbeitslosigkeit und einem ungeminderten Abwanderungsdruck führen. Das hat Konsequenzen für die gesamte Region und damit in der Folge auch für Europa. Korruption, organisierte Kriminalität und unzureichende Rechtsstaatlichkeit müssen noch entschlossener und entschiedener als bisher bekämpft werden. Als wäre das alles nicht genug: Erst kürzlich zeigte eine Verschärfung der Situation zwischen Serbien und Kosovo wieder, wie wahr diese Worte sind. Der Kosovo fordert seit nunmehr über zehn Jahren die Anerkennung seiner Unabhängigkeit durch Serbien. Serbien verweigert das beharrlich. Der jüngste Beschluss des Kosovos, eine eigene Armee aufzubauen, sowie die Auferlegung von Importzöllen auf serbische Waren in Höhe von 100 Prozent, was beiden Ländern schadet, schüren das Feuer des Konflikts. Ebenso lassen uns die Anspielungen des kosovarischen Präsidenten Thaci in den letzten Tagen zu der Idee eines Großalbaniens aufhorchen. Die relative Ruhe in der Region ist also keineswegs gesichert. Zwar wurden kürzlich wieder Verhandlungen aufgenommen, doch der Vorstoß des serbischen Präsidenten Vucic hinsichtlich eines Gebietstausches birgt eher Konflikt- als Konfliktlösungspotenzial – und das von noch größerem Ausmaß. ({1}) Es gibt absolut keine Garantie, dass sich eine Grenzänderung oder ein Gebietstausch auf Serbien oder den Kosovo beschränken würde. Die Umsetzung eines solchen Vorschlages könnte unmittelbar auch eine Kettenreaktion auf die ganze Region – auf Albanien, Mazedonien oder Montenegro – zur Folge haben. ({2}) Natürlich spielt auch externer Einfluss eine Rolle. Russland, China, Saudi-Arabien: all diese Kräfte üben Einfluss in der Region aus. Deswegen geht es auch darum, den deutschen Einfluss dort zu bewahren. Angesichts dieser Entwicklungen ist es, glaube ich, richtig, dass wir das KFOR-Mandat verlängern und parallel dazu mit der EULEX-Mission die Rechtsstaatlichkeit und den Aufbau von Polizei, Justiz und Verwaltung auf einer zivilen Ebene verstärken und unterstützen, damit wir als Deutschland in Europa weiterhin unserer Verantwortung für den westlichen Balkan auch im Kosovo gerecht werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir bitte, heute in meiner Funktion als Obmann der SPD-Bundestagsfraktion im Unterausschuss Zivile Krisenprävention folgendes Szenario darzustellen: Was passiert, wenn wir kein grünes Licht für den NATO-Beitritt Nordmazedoniens geben? Nehmen wir an, wir würden zum wiederholten Mal Nordmazedonien aus strategischen Gründen opfern, die kein Bürger nachvollziehen kann, weder in Europa noch in der Region des Westbalkans. Zunächst würde das den Gegnern des Prespa-Abkommens, nämlich den nationalkonservativen Kräften in Griechenland, bei den anstehenden Wahlen Anfang Juli zum Sieg verhelfen. Dann wäre das mühsam zustande gekommene Namensabkommen, in dem sich die Griechen dank Tsipras und Mazedonien dank Zaev auf den Namen Nordmazedonien einigen konnten, bald Geschichte. Es wäre wieder einmal das Signal, dass sich die EU nicht an ihr Versprechen hält und immer wieder neue Kriterien für die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen aufstellt. Dies führt zur völligen Verunsicherung in der ganzen Region und vor allem zur Entmutigung der Bevölkerung, irgendwann als Teil der Europäischen Union dazuzugehören. Was wäre das Ergebnis? Dass wieder einmal die Gegner Europas Aufwind bekommen. In einem Dominoeffekt würden sich die Gesellschaften radikalisieren und die Politik ihre Zukunft in nationalradikalen Lösungen suchen. Eine der nationalradikalen Lösungen ist bereits im Aufmarsch: der großalbanische Gedanke in Albanien, Kosovo und Nordmazedonien. In Nordmazedonien sind über 20 Prozent der Bürger albanischstämmig. Wenn sich die Albaner in Nordmazedonien radikalisieren und auf der anderen Seite die slawischstämmigen Nordmazedonier, könnte das Ohrid-Friedensabkommen infrage gestellt werden. Dies könnte zu einem erneuten Bürgerkrieg in Nordmazedonien führen, was wiederum die Kosovo-Albaner in den Konflikt ziehen könnte, worauf dann Serbien reagieren könnte und möglicherweise auch die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Die USA würden den Schutzpatron der Albaner spielen, die Russen den Schutzpatron der Serben und die Türkei den der Bosniaken in Bosnien-Herzegowina und im Sandschak in Südserbien. Es entstünde also ein Flächenbrand, der Europa ins Chaos stürzen könnte, zumindest den Westbalkan. Wir hätten ein Déjà-vu des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens. Warum erzähle ich das heute? Weil wir heute nicht nur über den NATO-Beitritt Nordmazedoniens entscheiden. Es geht hier um mehr. Es geht um das wichtige Signal, dass sich Europa und insbesondere wir uns in Deutschland bewusst sind, dass wir mit dieser Entscheidung präventiv handeln können. ({0}) Mit der Einbindung Nordmazedoniens tragen wir dazu bei, die politisch schwelende Glut auszulöschen und gar nicht erst zum Brand werden zu lassen; denn der Westbalkan ist kein Osten Europas, und somit sprechen wir nicht von einer Osterweiterung. Der Westbalkan ist der Innenhof der Europäischen Union. ({1}) Es gibt auf dem Westbalkan sehr viele Menschen, die seit Jahrzehnten mühsam Stück für Stück für eine demokratische Grundordnung kämpfen. Diese Menschen müssen wir unterstützen, indem wir ihre Länder glaubwürdig in transatlantische und europäische Strukturen integrieren. Der EU-Beitrittsprozess ist noch lange kein EU-Beitritt, und Kapiteleröffnung bedeutet den Beginn und kein Ende des Beitrittsprozesses. Es ist vielmehr ein Prozess, in dem die Demokratie und ihre Grundwerte eine Chance bekommen. Kolleginnen und Kollegen, die weitere Entwicklung auf dem Westbalkan ist nicht nur ein Sicherheitsfaktor für die EU. Sie ist Sinnbild für ihre Glaubwürdigkeit und für die Glaubwürdigkeit von uns Demokraten. Dabei will ich besonders meinen CDU- und CSU-Kolleginnen und ‑Kollegen ans Herz legen, dass es auch beim EU-Beitritt des Westbalkans nicht um parteistrategische Fragen geht, sondern es geht um die Zukunft der Demokratie und deren Grundwerte auf dem Westbalkan. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um die Solidarität mit der Demokratie und den Demokraten auf dem Westbalkan und um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Danke schön. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Petr Bystron für die Fraktion der AfD. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute sprechen wir über die NATO-Erweiterung von Nordmazedonien. Mazedonien: Das ist das Land, das 2016 in Idomeni die Balkanroute geschlossen hat. Damals schon hat Herr Dr. Gauland gesagt: Mazedonien hat mit ein paar Dorfpolizisten das geschafft, wovon uns Angela Merkel erzählt hat, dass wir das nicht schaffen, dass die Griechen das nicht schaffen, dass man das auch nicht mit großen Armeen schaffen kann. – Das verdient unseren Respekt und unsere Sympathie für Mazedonien. Vielen Dank. ({0}) Mein Kollege Professor Weyel hat gestern bei der Vorbesprechung zu dieser Sitzung scherzhaft gesagt: Mazedonien hat mit 8 000 Soldaten das geschafft, was die Griechen mit 100 000 Soldaten nicht geschafft haben. Eigentlich müssten wir die Griechen aus der NATO rausschmeißen und die Mazedonier aufnehmen. Lassen Sie uns schauen, ob das so einfach ist. Wie ist die Entwicklung in Mazedonien? Kollege Juratovic hat es schon gesagt: Ja, Mazedonien hat zwar jetzt ein Abkommen mit Griechenland abgeschlossen. Aber der Streit um den Namen ist seit Gründung der Republik da. Das Land hat immense Probleme mit seinen Nachbarn. Das Land ist darüber hinaus seit 2001 an der Grenze zu Kosovo in bewaffnete Kämpfe verwickelt. Terroristen, ehemalige UCK-Kämpfer, gehen immer wieder über die Grenze nach Mazedonien – jetzt nennen sie sich National Liberation Army, NLA – und greifen Dörfer in Mazedonien an. Schon damals, 2001, gab es diese Kämpfe. Sie haben das Land an den Rand eines Bürgerkrieges geführt. Jetzt hören Sie gut zu, was diese damals gefordert haben – das betrifft Sie nämlich alle –: Sie haben der Regierung damals vorgeworfen, sie würde prorussische Politik betreiben, und forderten diese auf, der NATO und der EU beizutreten. – Also, da befinden Sie sich in ganz toller Gesellschaft. Das Land befindet sich seit 2015 in einer tiefen innenpolitischen Krise. Die Krise wurde durch Veröffentlichung von illegal erstellten Mitschnitten von Gesprächen des amtierenden Ministerpräsidenten ausgelöst. Es wurde durch gewaltsame Aufstände und immer wieder auch durch Schießereien und Überfälle der albanischen Terroristen begleitet. Ich erwähne nur ein einziges Beispiel: Im Dorf Kumanovo wurde noch 2015 geschossen. Dort sind acht mazedonische Polizisten erschossen worden, zehn Angreifer sind getötet worden, 37 Polizisten verletzt und 28 Angreifer verhaftet. Das sage ich nur, damit Sie ein Gefühl für die Dimension dieser Konflikte haben. Das Land hat auch ein massives Korruptionsproblem. Es laufen Verfahren gegen ehemalige Minister, Abgeordnete und Funktionäre wegen Erpressung, Korruption, Geldwäsche. Das wird durch den CIA-Report bestätigt. Die CIA sagt: Mazedonien ist Europas Umschlagplatz für asiatisches Heroin und Haschisch und eine Transitdrehscheibe für südamerikanisches Kokain. Das Land hat, obwohl es kein Finanzplatz ist, massive Probleme mit Geldwäsche. ({1}) – Auch da befinden Sie sich in toller Gesellschaft, Herr Sarrazin, wenn Sie so etwas unterstützen. ({2}) Ich komme zum Schluss. Artikel 10 des Nordatlantikvertrages besagt: Die NATO kann jeden europäischen Staat einladen, der NATO beizutreten, „der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen“. Ich bin sehr gespannt, wie Sie hier nachher argumentieren werden. Wollen Sie die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets mit einem Land erhöhen, das seit seiner Gründung ständig Konflikte mit seinen Nachbarn hat, das seit seiner Gründung immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen an der Grenze zu Kosovo hat, mit einem Land, das massive Probleme mit Geldwäsche hat und ein Umschlagplatz für Drogen ist, einem Land, das innenpolitisch instabil ist und von Korruption erschüttert wird? Also, wir von der AfD sehen das nicht, und deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({3}) Herr Juratovic, ich weiß nicht, wo Sie Geografie gelernt haben: Sie haben Mazedonien ({4}) – Nordmazedonien – als „Innenhof von Europa“ bezeichnet. Das würde bedeuten: Die Türkei ist ein Teil von Europa. Das ist sie nicht. ({5}) Wir sehen den Balkan, wenn überhaupt, als einen Vorhof von Europa. Danke schön. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich hat doch gerade verwundert, wie konsequent der Kollege Bystron den neuen Namen des Landes vermieden hat, wo doch sogar der Kreml „Nordmazedonien“ als neuen völkerrechtlichen Namen von Nordmazedonien anerkannt hat. Normalerweise liest man bei der AfD ja die Kreml-Bulletins sorgfältig; deswegen wundert mich das schon ein bisschen. ({0}) Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Beitritt Nordmazedoniens zur NATO zu. ({1}) Es ist ein großartiger Erfolg einer klugen und langfristigen NATO-Politik. Es zeigt, dass das Angebot der NATO an die Staaten des westlichen Balkans, sich dem Verteidigungsbündnis anzuschließen, auf fruchtbaren Boden fällt, dass die NATO nach wie vor offenbar ein sehr attraktiver Sicherheitspartner ist, ein wichtiger, sicherer Hafen für alle diejenigen, die ihren Platz in der Welt und Sicherheit für ihre Menschen suchen. Insofern ist das eben auch eine Bestätigung der NATO insgesamt, und es ist auch ein Beleg dafür, dass die Politik einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur in der Lage ist, Konflikte dort, wo sie lange geschwelt haben, zu überwinden. Es war mit Sicherheit sehr hilfreich für die Beilegung des Konflikts zwischen Griechenland und Nordmazedonien, wenngleich ich auch an die Adresse aller politischen Akteure sagen muss: Es war, von außen betrachtet, ziemlich unverständlich, dass diese Namensfrage so lange und so hartnäckig dem Beitritt von Nordmazedonien zur NATO entgegengestanden hat. Ich hoffe, dass auch der Prozess der letzten Monate in den Köpfen derer, die das jahrelang in diese Richtung betrieben haben, ein Stück weit gezeigt hat, dass das Vergangenheit ist und dass es eine gemeinsame Zukunft gibt, in die man aufbrechen sollte. Nordmazedonien hat rund 8 000 Soldaten. Das erscheint auf den ersten Blick wenig, ist aber, gerechnet auf die Zahl der Einwohner des Landes, durchaus mehr, als wir Soldaten der Bundeswehr haben. Nordmazedonien wirkt bereits heute in NATO-Missionen mit, die ja für andere Staaten geöffnet sind. Dies gilt etwa für den Afghanistan-Einsatz. Auch der Kosovo-Einsatz, über den wir gerade gesprochen haben, wird von Nordmazedonien unterstützt. Nordmazedonien wirkt auch an UN-mandatierten Einsätzen, etwa am UNIFIL-Einsatz, mit, ist somit also bereits ein Stück weit integriert, sodass ich davon ausgehe, dass die Vollintegration Nordmazedoniens in die NATO dann auch reibungslos und zügig erfolgen kann. Ein Verteidigungsbündnis wie die NATO, das voraussichtlich bald 30 Mitglieder haben wird, ist in besonderer Weise Profiteur von einer Vergrößerung der Zahl der Mitglieder und auch der Zahl der Soldaten, weil in der Verteidigungspolitik, insbesondere dann, wenn man sich defensiv aufstellt, 1 plus 1 eben mehr als 2 ist, genauer gesagt: 29 plus 1 mehr als 30 ist. Die gemeinsame Abschreckungswirkung, die gemeinsame Glaubwürdigkeit des wechselseitigen Eintretens wächst mit jedem weiteren Mitglied an. Für uns Deutsche sollte der Beitritt Nordmazedoniens zur NATO eine starke Erinnerung, ein sanfter Hinweis darauf sein, dass auch wir uns immer wieder vergewissern müssen, welchen Schatz wir durch die deutsche NATO-Mitgliedschaft haben, dass diese Mitgliedschaft große Vorteile für Deutschland in den letzten Jahrzehnten gebracht hat und dass sie bis zum heutigen Tage wie kaum ein anderes Bündnis, in das wir integriert sind, Vorteile hat. Daraus erwachsen Verpflichtungen und auch Erwartungen, gerade kleinerer NATO-Partner, die wir erfüllen müssen. An dieser Stelle sei noch mal deutlich unterstrichen, dass in den letzten Jahren, zumindest solange Ursula von der Leyen Verteidigungsministerin ist, die deutschen Verteidigungsanstrengungen entsprechend unserer NATO-Zusagen stetig gestiegen sind. Auch für den Haushalt 2020 sieht die Bundesregierung ein deutliches Wachstum der Verteidigungsausgaben entsprechend der Notwendigkeiten für die Modernisierung unserer Streitkräfte vor, sodass wir mit gutem Gewissen unseren NATO-­Partnern entgegentreten können, die das deutsche Licht für zu schwach leuchtend ansehen. Deutschland ist nicht nur der zweitgrößte Truppensteller bei Auslandseinsätzen der NATO, sondern auch der zweitgrößte Beitragszahler hinsichtlich der NATO-Strukturen. Daran wird die Tatsache, dass jetzt mit Nordmazedonien ein weiterer Partner hinzugekommen ist, nichts ändern. Im Gegenteil: Deutschland wird seinen Verpflichtungen innerhalb der NATO auch in Zukunft in vollem Umfang gerecht werden müssen. Dafür steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dafür, glaube ich, sollten alle an der Sicherheit Deutschlands interessierten Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag stehen. Verteidigungsausgaben in angemessenem Maße sollten nicht Gegenstand von parteipolitischer Auseinandersetzung sein. Herzlichen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist die Kollegin Renata Alt. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! 27 Jahre haben Griechenland und Nordmazedonien um einen Namen gerungen. 2018 wurde endlich das historische Prespa-Abkommen verabschiedet. Die Premierminister Alexis Tsipras und Zoran Zaev erhielten dafür völlig zu Recht den Ewald-von-Kleist-Friedenspreis auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie haben bewiesen, was derzeit weltweit schwer möglich scheint: Konflikte können dank diplomatischer Bemühungen gelöst werden. ({0}) Diese Einigung ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit und Stabilität in der Region. Aber noch mehr: Der Weg ist jetzt frei für einen NATO-Beitritt Nordmazedoniens. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, die NATO sichert seit über 70 Jahren Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa. ({2}) Das Bündnis hat sich verpflichtet, seine Tür auch für den Westbalkan offenzuhalten, für die Länder, die unsere Werte teilen und bereit sind, sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Nordmazedonien erfüllt diese Kriterien. Mehr noch: Das Land ist schon lange – Herr Hardt, Sie haben es gerade in Ihrer Rede erwähnt – ein verlässlicher Partner der NATO auf dem Westbalkan. Vor 24 Jahren beteiligte es sich erstmals an der operativen Arbeit. Im Kosovo leistet das nordmazedonische Militär wertvolle logistische Unterstützung, auch für unsere deutschen KFOR-Truppen. Seit 17 Jahren beteiligt sich das Land in Afghanistan, derzeit in der Mission Resolute Support, um die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden und zu beraten. Meine Damen und Herren, wenn wir Nordmazedonien in die NATO aufnehmen, verfolgen wir unsere ureigenen europäischen Interessen. Wir Freie Demokraten wollen ein Europa, das auf globaler Ebene geschlossen handelt. Dabei können wir uns keinen Krisenherd mitten in Europa leisten. Der Westbalkan ist innenpolitisch fragil. Er ist Spielball globaler und regionaler Mächte, und das dürfen wir nicht zulassen. Von einer Mitgliedschaft in der EU ist Nordmazedonien weit entfernt. Die EU-Kommission hat es gerade letzte Woche bestätigt. In den Bereichen Korruptionsbekämpfung, Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sind Reformen dringend notwendig. Mit einer NATO-Mitgliedschaft zeigt Nordmazedoniens politischer Kompass aber ganz klar nach Westen. ({3}) Sie bietet uns die Chance, das Land an die europäischen Standards heranzuführen. Unterstützen wir es dabei! Meine Damen und Herren, Nordmazedonien ist vergleichsweise klein, mit nur 2 Millionen Einwohnern eigentlich kleiner als Berlin. Aber für die Bindung des Westbalkans an die Europäische Union ist sein NATO-­Beitritt ein großes politisches Signal. ({4}) Dem Gesetzentwurf stimmen wir deshalb zu. Den Entschließungsantrag lehnen wir ab. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Dr. Alexander Neu. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Heute reden wir mal wieder über eine NATO-­Osterweiterung. Diesmal geht es um die Republik Makedonia. Es geht um die räumliche Ausdehnung der NATO, es geht um die Sicherung von Einflusssphären der NATO, es geht um harte Machtpolitik. Das sind geopolitische Machtspielchen, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon einmal stattgefunden haben und bekanntermaßen zu zwei Katastrophen, den Weltkriegen, führten. Dass Deutschland als treibende Kraft dabei ist, macht uns schon fassungslos. Statt, wie versprochen, die NATO nicht auszudehnen, statt das gemeinsame Haus Europa für gemeinsame Sicherheit und Frieden für alle Staaten Europas zu bauen, sehen wir eine Fortsetzung der Politik der geteilten Sicherheit, deren Ergebnis Aufrüstung und Säbelrasseln sind. Das ist verantwortungslose Außen- und Sicherheitspolitik, sehr geehrte Damen und Herren. ({0}) Es ist beobachtbar: Seitdem Russland die Weltbühne wieder betreten hat und eigene Interessen formuliert, prescht die NATO mit der Osterweiterung massiv voran. Militärisch ist die Aufnahme von Makedonien – wie die von Montenegro in der Vergangenheit – überhaupt kein Gewinn. Aber geostrategisch ist sie ein großer Zugewinn. Der südosteuropäische Raum wird nämlich unter die Kontrolle der NATO genommen. Offensichtlich akzeptiert die US-geführte NATO keine neutralen souveränen Staaten in Südosteuropa, sondern übt massiven Druck auf Staaten aus, die sich den euroatlantischen Strukturen nicht freiwillig unterordnen und sich nicht in diese einordnen wollen. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Neu, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Aggelidis?

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn es dem Erkenntnisgewinn dienlich ist, dann gerne. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Genau, es hängt von Ihrer Antwort ab, ob das dem Erkenntnisgewinn dienlich ist oder nicht. ({0}) Trotzdem vielen Dank, Herr Dr. Neu, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe mich, gerade als jemand, dessen Wurzeln im griechischen Teil Mazedoniens bzw. in Nordgriechenland liegen, schon gefragt, wie jemand von einer Partei, die angeblich so sehr für Frieden ist, auf die Idee kommt, nachdem die beiden Staaten sich auf einen Namen geeinigt haben, der Frieden, Aussöhnung und Stabilität in diese Region bringen soll, hier im Deutschen Bundestag ganz bewusst eben nicht von der Republik Nordmazedonien zu sprechen, sondern den anderen Namen zu verwenden. ({1}) Es würde mich schon interessieren, wieso Sie dieses Bemühen der beiden Länder um eine friedliche Koexistenz missachten und ein Stück weit ad absurdum führen und wie Sie die Anmaßung begründen, mit der Sie quasi die Entscheidungshoheit der beiden Länder oder des Landes Nordmazedonien darüber, wie das Land zu heißen hat, infrage stellen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Kollege, Ihnen dürfte bekannt sein, dass es ein Referendum zur Verfassungsänderung gab. Zwei Drittel der Bevölkerung des Landes haben das Referendum politisch aktiv boykottiert. Dennoch sind die Regierung Makedoniens und die Regierung Griechenlands zu diesem Abkommen gelangt, das heißt gegen den demokratischen Willen der Mehrheit der Bevölkerung. ({0}) Sehr geehrte Damen und Herren, zum Thema Makedonien. Griechenland hat den größten geografischen Teil Makedoniens in seinem Staatsgebiet. Es gibt einen Teil Makedoniens in Bulgarien, und es gibt einen Teil Makedoniens, der den Staat Makedonien heutzutage umfasst. Also, welches Problem haben Sie damit? ({1}) Welches Problem haben Sie damit? ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wir haben hier jetzt aber keine Dialogveranstaltung, sondern fahren in der Debatte fort. Die Frage ist beantwortet.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. Dann wollen wir fortsetzen. – Die Befürworter einer NATO-Erweiterung beten ja ständig das Mantra herunter, dass jeder souveräne Staat in Europa selbst über seine Bündnisfrage entscheiden müsse. ({0}) Das suggeriert, dass die NATO Staaten aufnehmen müsse. Diese Aussage ist bewusst irreführend und unterliegt auch einer Faktenreduktion; denn der Aufnahmewunsch eines Staates ist nicht gleichzusetzen mit der Aufnahmeverpflichtung der NATO. Erstens. Zweitens. Kleine Staaten in Europa, vor allem in Osteuropa, entscheiden nur sehr begrenzt mit darüber, ob sie Mitglied der NATO werden wollen. Diese Entscheidung des Wollens obliegt Washington und Brüssel. Die entscheiden über die Schicksale der Staaten Osteuropas. ({1}) Nun gibt es einige Fakten, die man benennen kann. Es gibt einige NATO-Propagandabüros in Moldawien, Makedonien und Montenegro, die die Bevölkerung in der Vergangenheit auf NATO-Zustimmung trimmen sollten. Es gab erheblichen Druck auf die politische Klasse bzw. auf Teile der politischen Klasse, wenn die NATO-Begeisterung nicht so groß war, wie es erwartet wurde, wie zum Beispiel in Makedonien, in der Ukraine – dort endete es mit einem Regime Change – oder in Moldawien. ({2}) Das Referendum in Makedonien habe ich gerade angesprochen. Es wurde sehr großzügig uminterpretiert durch die prowestliche makedonische Regierung und unseren NATO-Generalsekretär. Im weiteren Verfahren – das war ganz interessant – im makedonischen Parlament kam eben keine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung zustande. Daraufhin wurden die entsprechenden acht Abgeordneten vom US-Botschafter in Skopje eingeladen – nein, vorgeladen – und gemaßregelt, wie makedonische Zeitschriften berichteten, und es wurde entsprechend Druck ausgeübt, wonach sie zugestimmt haben. ({3}) Das Fazit, sehr geehrte Damen und Herren, ist doch, dass im geopolitischen Kampf ({4}) – wunderbar –, in der sich herausbildenden multipolaren Weltordnung die NATO offensichtlich skrupellos vorangeht, wenn es um ihre Erweiterung geht. Der Anspruch auf Souveränität oder die Respektierung demokratischer Entscheidungen von unwilligen Staaten oder der unwilligen Bevölkerung stören da nur und werden missachtet. Die nächsten Staaten im Visier der NATO sind Bosnien, die Republik Serbien und Moldawien. In der Gedankenwelt des Westens gibt es offensichtlich keine Alternativen zur NATO, wie auch im Gesetzentwurf auf Seite 2 festgehalten ist. Wir, Die Linke, sehen Alternativen. Wir sagen: Stabilität und Frieden durch gemeinsame Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok statt NATO-Expansion. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Jürgen Trittin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Früher galt die internationale Solidarität unter den Linken noch was. Aber das, was der Kollege Neu hier vorgeführt hat, war nun wirklich ein einziges Abwatschen eines Genossen, nämlich von Alexis Tsipras. Der hat das Friedensabkommen von Prespa gegen den wütenden Widerstand der Bruderpartei der CDU, der Nea Dimokratia, und der offenen Nationalisten in Griechenland durchgesetzt und muss sich hier von einem Vertreter der Linkspartei vorwerfen lassen, das sei alles eine Verschwörung der CIA. Also, wo leben wir denn? Morgen kommst du mit Chemtrails, oder was? ({0}) Und es ist falsch: 7 000 Soldaten gefährden nicht das Kräftegleichgewicht mit Russland. ({1}) Man kann 7 000 Soldaten in die NATO aufnehmen und trotzdem ein gutes Verhältnis mit Russland weiterentwickeln. Das ist nötig, und es ist richtig. Es ist eine Einzelfallentscheidung, es ist kein Präjudiz an dieser Stelle. ({2}) Das Wichtigste aber: Es ist die Basis der europäischen Sicherheitsarchitektur, dass jedes Land seine Bündnisse frei wählen kann. Dieses Recht kann man niemandem absprechen. ({3}) Die Frage, um die sich hier alles kreist, ist die der Stabilität. Alle beziehen sich auf Stabilität. Da würde ich gerade den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU raten, noch mal nachzugucken: Was war eigentlich im Mittelpunkt der Abstimmung im Parlament, bei der fakultativen Volksbefragung? Der Wunsch der Bevölkerung Nordmazedoniens war nicht nur, in die NATO zu kommen. Der Wunsch war, Teil eines gemeinsamen Europas zu werden. Deswegen stand im Mittelpunkt auch die Frage der Perspektive für einen Beitritt zur Europäischen Union. ({4}) Es gibt einen Länderbericht der Kommission, es gibt eine entsprechende Empfehlung, und im Juni soll es eine allgemeine Ratssitzung geben, auf der darüber entschieden werden kann. Und wer wird dem bei dieser Ratssitzung nicht zustimmen? Die Bundesregierung. Und wissen Sie, warum nicht? ({5}) Das Auswärtige Amt wollte das; aber das Kanzleramt hat die Versendung der entsprechenden Vorlage untersagt, weil die Große Koalition auch in dieser Frage komplett uneins ist und sich darauf nicht verständigen kann. ({6}) Deswegen sage ich Ihnen: Sie treten nicht nur das EUZBBG mit Füßen; das haben wir gemeinsam verabschiedet. Sie hätten dem Bundestag ja die Frage vorlegen können: Sind die Fortschritte so weit, dass man Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann, ja oder nein? Nein, Sie hindern den Bundestag daran, über diese Frage zu entscheiden. Die Bundesregierung blockiert an dieser Stelle. Ich habe dabei einen ganz schlimmen Verdacht: Sie gehen mit Alexis Tsipras genauso um wie der Kollege Alexander Neu. Tsipras hat sein politisches Schicksal mit diesem Friedensabkommen verbunden; er wird wahrscheinlich dafür abgewählt. ({7}) Mein Verdacht ist – ich weiß, dass viele Außenpolitiker und Europapolitiker bei Ihnen das anders sehen; das gilt auch für manche Innenpolitiker, was wir schon bei anderen Dingen gesehen haben –: ({8}) Das Kanzleramt und die CDU/CSU setzen in ihrer Mehrheit darauf, das so lange auszusitzen, bis jene Nea Dimokratia in Griechenland wieder an der Macht ist, damit Sie auf Dauer Nordmazedonien den Weg in die Europäische Union versperren können. ({9}) Da sage ich Ihnen: Das ist etwas, was nicht geht. ({10}) Das hieße nämlich, dass die NATO kein Wertebündnis – neben dem militärischen Aspekt – ist, sondern dass die NATO so etwas wie ein Surrogat für die Europäer zweiter Klasse ist: Beim Militär dürft ihr dabei sein, aber bei einem gemeinsamen ökonomischen und politischen Europa bleibt ihr Bürger zweiter Klasse. – Das ist das Gegenteil von Stabilisierung, das wäre Destabilisierung. Gerade wenn man den NATO-Beitritt befürwortet, darf man sich nicht so verhalten, wie Sie es getan haben. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Oh, là, là, kann ich nur zur Verschwörungstheorie von Herrn Neu im Hinblick auf die NATO sagen; das ist das eine. ({0}) In der Negierung dessen konnte ich bei dem Kollegen Trittin noch mitklatschen. Aber, lieber Kollege Trittin, der zweite Teil Ihres Beitrags geht doch scharf an der Realität vorbei, und zwar sehr scharf. Erstens. Diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen – ich nehme freundlicherweise mal die Kollegen von der SPD mit ins Boot – ({1}) sind an einer NATO-Mitgliedschaft Nordmazedoniens nicht nur interessiert, sondern wir tagen gerade hier, um den Ratifizierungsprozess zu beenden. Des Weiteren ist es unsere klare Position, dass die Erwartung auf allen Ebenen, die uns zur Verfügung stehen, an all diejenigen herangetragen wird, die in diesen Ländern Verantwortung tragen oder tragen werden – wenn es vielleicht zukünftig in Griechenland nicht mehr Herr Tsipras sein will –, dass die Fakten, die mit der Beitrittsvereinbarung Nordmazedoniens zur NATO geschaffen worden sind, in keiner Weise mehr angerührt werden. Das ist politisches und juristisches Faktum. ({2}) Zweitens müssen wir in aller Klugheit über die in der Tat bestehende weitere Fragestellung Nordmazedoniens, das nun wirklich viel zu lange auf der Wartebank – gemessen an der politischen Geschichte der Nachbarschaft – gesessen hat, diskutieren. Übrigens – weil vom Kosovo die Rede war; ich habe den Eindruck, dass nicht alle, die heute geredet haben, wirklich wissen, wie die Zusammenhänge sind – ist Mazedonien in ganz schwierigen Zeiten einer der Strongholds für die friedliche Entwicklung gewesen. Ich lade den Kollegen Kolbow mal zum Vortrag ein und schicke ihn zu verschiedenen Fraktionen, damit die erfahren können, was die Mazedonier unter schwierigsten Bedingungen damals für uns und für diese Region getan haben. Zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Ja, Kollege Trittin, da sind wir uns wieder einig; denn Sicherheit definiert sich nicht nur durch die NATO, sondern durch ein europäisches Konzept. Ein europäisches Verständnis, die Staaten des Westbalkans miteinzubeziehen, ist gerade in unserem eigenen Interesse. Da kann man nicht anfangen, zu sagen: Der eine gefällt mir, der andere gefällt mir nicht. – Ich muss versuchen, zu sagen: Ihr müsst da und dort besser werden. Ja, zwei Länder – Nordmazedonien und Albanien – haben gerade erst in der letzten Woche von der Europäischen Kommission einen Zustandsbericht erhalten, ebenso wie die anderen Länder. Es gibt gute Ansätze und Anzeichen, dass wir über die Beitrittsverhandlungen mit diesen Ländern in überschaubarer Zeit sprechen und entscheiden. Das Auswärtige Amt ist bereits apostrophiert worden – der Kollege Roth sitzt ja dort; er tut nur so, als ob er arbeiten würde, weil das ein Thema ist, das ihn sehr interessiert. ({3}) – Er arbeitet sonst sehr viel. Aber ich weiß, dass das Thema der Mitgliedschaft Nordmazedoniens und Albaniens gerade für den Europastaatsminister sehr wichtig ist.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie stellen aber nicht die Zwischenfrage, die eigentlich Kollege Roth stellen wollte? ({0}) Bitte.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Schmidt, da Sie die Arbeit von Herrn Roth so loben: Kollege Roth hat – das ist keine Verschwörungstheorie, sondern entnehme ich einem Vermerk des Bundestages – uns allen am 8. Mai geschrieben, dass bei Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zunächst der Deutsche Bundestag über diese Frage entscheiden muss. Wenn es so ist, dass in der Junisitzung des Allgemeinen Rates dieses Thema auf Betreiben der rumänischen Präsidentschaft – das ist schon lange bekannt – auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist die einzige Frage, die ich habe: Welchen Grund hat die Bundesregierung und die sie tragende Koalition, diese Frage nicht vorher dem Bundestag vorzulegen? Das wäre doch ein Punkt, zu dem wir uns in unserer Einigkeit über die Frage „Soll das Land beitreten, oder soll es das nicht?“ hätten austauschen können. Dann hätten wir einen Beschluss gefasst, und die Bundesregierung hätte mit dem Backing des Bundestages auf die Sitzung des Rates gehen können und dort eine Position vertreten müssen. So muss Herr Roth, wenn er dort hinfährt, wieder nur simulieren, als wenn er eine Meinung hätte. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Trittin, zum Ersten weise ich natürlich das „wieder nur simulieren“ zurück. Herr Roth simuliert nie. ({0}) Er bringt vielmehr die Position der Bundesregierung zum Ausdruck, ({1}) die da lautet, dass wir zwei Dinge in aller Klugheit und in aller Ruhe in den Blick nehmen müssen. „In aller Klugheit“ heißt, dass wir beide Länder, die für die Aufnahme von Verhandlungen zur Diskussion stehen, nach meiner Meinung jedenfalls, möglichst gemeinsam in diese Verhandlungen hineinführen sollen. ({2}) – Nach dem Juni kommt ein September. Zum anderen sollten wir auch den Blick darauf richten, dass wir eines von gegenwärtig noch 28 Mitgliedern in der Europäischen Union sind. Die Diskussionen werden so, wie sie bei uns geführt werden – sehr sachbezogen, sehr themenbezogen, auch die Schwierigkeit mancher Fragen insbesondere zu Albanien berücksichtigend –, nicht in allen Ländern mit gleichen Ergebnissen geführt werden. Deswegen lassen wir uns Zeit, den Bericht der Kommission, der gerade mal eine Woche vorliegt, zu lesen, zu studieren. Dann werden wir allerdings in der Tat zügig und unter Respektierung des Gesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben, nämlich dass der Deutsche Bundestag hierüber zu beschließen hat, die Frage entscheiden. ({3}) Das ist eine kluge Orientierung an den zeitlichen und sachlichen Notwendigkeiten, um so etwas erfolgversprechend und zielführend zu machen. Ich freue mich, dass Nordmazedonien jetzt in die NATO hineinkommt. Ich freue mich, dass wir bald gute Gespräche mit Nordmazedonien und Albanien über die Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union führen werden. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Ja, da hat der Kollege Trittin für eine schöne Verlängerung der Redezeit gesorgt, die war nämlich schon abgelaufen, als die Frage gestellt wurde. ({0}) Als Nächstes hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die Fraktion der SPD. ({1})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Die heutige Diskussion zum Beitritt Nordmazedoniens in die NATO hat glücklicherweise nach den Anfängen und dem, was von rechts und links auf uns eingestürmt ist, einen guten inhaltlichen Verlauf genommen. Ich will noch einmal in den Mittelpunkt stellen, was eigentlich auf dem Westbalkan passiert ist. Wir sind hier im Hohen Haus in dem Haus, in dem in der Bundesrepublik Deutschland Demokratie lebt, in dem Demokratie gezeigt wird und gezeigt wird, dass Menschen miteinander ihre Zukunft gestalten können und gestalten wollen, ohne sich die Köpfe einzuschlagen, ohne kriegerische Auseinandersetzungen. Und wir in diesem Haus sollten vorrangig die Aufgabe in den Mittelpunkt stellen, den Menschen im Land und in Europa zu zeigen, dass europäische Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Lage sind, Konflikte diplomatisch zu lösen. Kollegin Alt hat es sehr treffend gesagt: In Nordmazedonien und Griechenland ist der gesamten europäischen Familie gezeigt worden, dass die Ministerpräsidenten Zoran Zaev und Alexis Tsipras ohne das Abzielen auf irgendeinen schnellen politischen Erfolg, quasi ohne auf Stimmen- oder Wahlergebnisse zu schielen, das Große und Ganze in den Mittelpunkt gestellt haben und zu einer Lösung des Namenskonflikts und zu einer Lösung des langen kulturellen Streits in dieser Region beigetragen haben. Dies sollten wir als leuchtendes Zeichen vom Westbalkan nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern lobend immer wieder erwähnen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Politiker die europäische Einigung, die Beilegung eines Streits, einer Auseinandersetzung auf anderen Ebenen vorziehen. Deshalb sage ich hier herzlichen Dank. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der heute vorliegende Ratifizierungsvertrag zum Beitritt zur NATO ist aber auch der äußere Ausdruck des nordmazedonischen Volkes, frei und unabhängig zu entscheiden, welchem Bündnis es angehören will. Schauen Sie doch mal auf die Landkarte, wo Nordmazedonien liegt. Das Land ist im Wesentlichen umschlossen von Staaten, die bereits Mitglied der NATO sind: im Osten Griechenland, im Süden Albanien, im Norden Bulgarien, Kosovo und ein kleines Stück von Serbien. Es ist die logische Konsequenz, dass Nordmazedonien Mitglied in der NATO nicht nur werden will, sondern werden muss; denn Menschen, die in gleichen Bündnissen sind, werden sich nicht mehr, wie noch vor 30 Jahren auf dem Balkan üblich, die Köpfe einschlagen. Ich bitte uns alle in diesem Haus, dies auch im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess zu betrachten. Denn die heutige Entscheidung – das haben einige Rednerinnen und Redner angesprochen –, Nordmazedonien in die NATO aufzunehmen, darf keine Einbahnstraße sein, dergestalt, dass wir Nordmazedonien – ich nehme das Bild vom Esel und der Karotte – weiterhin die Karotte vorhalten, damit es alle Voraussetzungen erfüllt, und anschließend, wenn es sie erreicht hat, die Karotte wieder wegziehen. Nordmazedonien muss, wenn es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, wie jeder freie Staat Europas den Zugang zur Europäischen Union und zu dieser Familie bekommen. ({1}) Denn dieses Land liegt im Herzen Europas, in der Mitte Europas, und die Menschen sind Europäerinnen und Europäer. Vielleicht ein Hinweis für diejenigen aus dem christlichen Lager, die Angst haben, dass Mazedonien nicht so gut zu Europa passt: Wer kommt aus Mazedonien, außer Alexander dem Großen? Wer ist die Nationalheilige? Mutter Teresa haben Sie ja wohl alle anerkannt. Sie ist die Mazedonierin, die wir sicherlich hier haben wollen. Wir wollen ein gutes mitteleuropäisches Land, und dafür zu arbeiten, ist unser aller Aufgabe. Herzlichen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Peter Beyer für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen in diesem Jahr 70 Jahre NATO, und damit feiern wir auch 70 Jahre Sicherung des Friedens und 70 Jahre des Einstehens füreinander im System des kollektiven Beistands. Nun laden wir ein bzw. schaffen mit dem Vertragsgesetz die formellen Voraussetzungen dafür, dass Nordmazedonien als 30. Mitgliedsland aufgenommen wird. An dieser Stelle will ich auch der bisher noch nicht in der Debatte erwähnten Parlamentarischen Versammlung der NATO danken. Der Leiter der deutschen Delegation, Professor Dr. Karl Lamers, ist hier. Auch hier wurde sehr viel dafür getan, dass dieser Weg bereitet wurde. Meine Damen und Herren, wenn ein Land Mitglied werden will, muss es sich auch mit dem Selbstverständnis des Bündnisses identifizieren. Und das ist die Gewährung von Freiheit und Sicherheit durch den Einsatz politischer und nötigenfalls auch militärischer Mittel, und das alles auf der Grundlage gemeinsamer Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Die Republik Nordmazedonien, wie sie heute heißt, hat in dem Heranführungsprozess an dieses jetzige Stadium des Aufnahmeverfahrens gezeigt, dass sie so weit ist. Meine Damen und Herren, bei allen Errungenschaften gibt es weitere erhebliche Anstrengungen zu leisten. Dazu gehören der Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die Bekämpfung der Korruption und auch weitere erhebliche Verbesserungen im Justizwesen, in der öffentlichen Verwaltung und auch bei der Reform des Sicherheitsapparats. Gerade beim letzten Punkt war lange Zeit wenig Fortschritt zu verzeichnen. Allerdings ist erfreulicherweise Anfang Mai ein Gesetz verabschiedet worden, in dem es um eine klarere Regulierung der Dienste geht. Das alles sind doch Errungenschaften in der jüngeren Zeit, die wir respektieren, akzeptieren und zur Kenntnis nehmen, allen voran die Lösung des Namensstreits, das Prespa-Abkommen mit dem Nachbarn Griechenland. Erst das hat es letztlich ermöglicht und den Weg frei gemacht für die Aufnahme in die NATO, die wir heute formell mit dem Vertragsgesetz bekräftigen dürfen. Meine Damen und Herren, das Nachbarschaftsabkommen mit Bulgarien – das wurde bisher noch nicht erwähnt – ist ebenfalls ein wichtiger Baustein in einem friedlichen Miteinander der Nachbarländer. Mit diesen beiden Vereinbarungen hat es Nordmazedonien geschafft, keine Nachbarschaftsstreitigkeiten mehr offen zu haben, und all das – das sage ich auch mit Blick auf alles, was dort an Landtauschvorschlägen zwischen Serbien und dem Kosovo immer noch herumwabert –, ohne Grenzverläufe zu verändern. Meine Damen und Herren, auch im Inneren gibt es breite Unterstützung für den NATO-Beitritt Nordmazedoniens. Hervorzuheben ist in jüngerer Zeit erfreulicherweise auch das Bekunden der Oppositionsparteien, eine konstruktive Rolle einzunehmen und sich für eine klare Befürwortung zur euroatlantischen Integration des Landes auszusprechen. Das NATO-Beitrittsbegehren ist ein freies, selbstbestimmtes, souveränes Begehren Nordmazedoniens. Meine Damen und Herren, eine Wahrheit ist auch: Wer beitritt, muss beitragen. Nordmazedonien macht dies bereits, einige Beispiele haben wir vorhin schon genannt, ich ergänze die Beteiligung – schon seit einiger Zeit – an der Resolute Support Mission in Afghanistan. In Zeiten, in denen es massive Versuche dritter Akteure gibt – ich nenne nur Russland und China –, Einfluss auf die Entwicklung der Länder des westlichen Balkans zu nehmen, ist es sehr, sehr wichtig, die transatlantische Einheit, die westliche Werte- und Einstandsgemeinschaft zu bekräftigen und zu stärken. Ein wichtiges Signal war, dass der Nordatlantikrat in Skopje, in Nordmazedonien, vor wenigen Tagen seine Sitzung abgehalten hat. Das würdigt auch noch einmal die Reformschritte des Landes. Herr Präsident, ich schließe. Die Erweiterung der NATO in letzter Zeit bildet die Veränderungen der globalen Sicherheitsarchitektur ab, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. So wird sich auch – nach der Aufnahme Nordmazedoniens – dieses Land konstruktiv einbringen müssen, Position beziehen müssen, beispielsweise bei auch nicht ganz trivialen Themen wie dem INF-Vertrag und seinem Fortbestehen oder seiner Nachfolge. Meine Damen und Herren, ich werbe für die Zustimmung zum Vertragsgesetz und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Wir kommen damit zum Ende der Debatte und zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 6. Februar 2019 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Nordmazedonien. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10661, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/9744 und 19/10418 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Es gibt nur zwei Lesungen, weil dies ein Vertragsgesetz ist. – Das sind die Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen von AfD und Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/10687. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das ist der Rest des Hauses. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Wir feiern in diesem Jahr ein großartiges Jubiläum. Vor 30 Jahren haben sich die Vereinten Nationen auf einen Katalog von 54 Artikeln verständigt, der die Rechte von Kindern weltweit festschreibt, der jedem Kind, unabhängig davon, wo es herkommt, wo es lebt, unabhängig von seinem familiären, kulturellen oder ethnischen Hintergrund gleiche Rechte garantieren soll. ({0}) Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die UN-Kinderrechtskonvention ein zivilisatorischer Meilenstein ist, auf den wir stolz sein können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die UN-Kinderrechtskonvention konkretisiert die allgemeinen Menschenrechte für die besondere Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Die Weltgemeinschaft hat also schon vor 30 Jahren anerkannt, dass Kinder eben keine kleinen Erwachsenen sind, dass sie andere Anforderungen an den Staat stellen und dem Staat gegenüber auch spezielle Rechte haben müssen. Weil Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, wurden ihre Rechte in der UN-Kinderrechtskonvention konkret festgeschrieben. Ganz zentral sind dabei das Recht eines jeden Kindes auf Schutz, das Recht auf die Förderung seiner Entwicklung, das Recht auf Beteiligung und die Verpflichtung, die Interessen und das Wohl des Kindes bei allen sie betreffenden Angelegenheiten besonders in den Vordergrund zu rücken, sie vorrangig zu berücksichtigen. Diese zentralen Rechte der UN-Kinderrechtskonvention haben wir in unserem Gesetzentwurf aufgegriffen. Die Aufnahme dieser Rechte in unser Grundgesetz wäre ein Meilenstein für ein kindergerechtes Deutschland. ({2}) Zum 30. Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention sollten wir diesen Schritt gehen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nun sagen ja einige: Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz würde den Kindern gar nichts bringen. – Ich halte das für falsch. Wir alle wissen auch, dass eine Grundgesetzänderung, die Aufnahme der Rechte der Kinder ins Grundgesetz, keinen Automatismus auslöst im Sinne von: wenn A, dann B. Aber die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz ermöglicht ganz konkrete Fortschritte und ganz konkrete Änderungen. Ich will sagen: Mit starken Rechten im Grundgesetz würden wir den Staat beispielsweise endlich dazu verpflichten, auf allen Ebenen konsequent gegen Kinderarmut vorzugehen. ({3}) Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, und trotzdem ist jedes fünfte Kind arm oder von Armut bedroht. Dieses Problem wäre lösbar, wenn wir die Weichen in der Politik anders stellen würden, wenn die Bundesregierung das Wohl von Kindern bei ihren Entscheidungen tatsächlich in den Mittelpunkt stellen müsste, wenn Kinder wenigstens konsequent mit ihren eigenen Bedürfnissen wahrgenommen werden müssten. Kinder einfach als abgeleitete 80‑Prozent-Erwachsene zu behandeln, wie das früher im ALG II der Fall war, wäre dann, wenn wir die Kinderrechte in das Grundgesetz aufnehmen würden, nicht mehr möglich, und das wäre ein großer Fortschritt. ({4}) Mit starken Kinderrechten im Grundgesetz würden wir die Rolle von Kindern in familiengerichtlichen Verfahren stärken. Besonders bewegt hat mich der Fall des Jungen aus Staufen, der Opfer furchtbaren Missbrauchs geworden ist, ein Junge, der in mehreren familiengerichtlichen Verfahren kein einziges Mal angehört wurde, geschweige denn, dass sein Wohl im Vordergrund gestanden hätte. Dieser Fall ist ein besonders schlimmes Beispiel von leider viel zu vielen. Ich bin mir sicher: Um den Staat darauf zu verpflichten, Kinder besser zu schützen, ist die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ein ganz wichtiger Schritt. ({5}) Nun sagen einige: Mit der Stärkung der Kinderrechte würden die Elternrechte beschnitten. – Das Gegenteil ist der Fall. Starke Kinderrechte stärken Eltern; sie stärken Familien darin, Schutz, Förderung und Beteiligung einfordern zu können. ({6}) Hier einen Widerspruch aufzumachen, ist falsch und regelrecht widersinnig. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist sinnvoll, die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung und die Orientierung am Kindeswohl in dieser Kombination in unser Grundgesetz aufzunehmen; denn sie hängen eng miteinander zusammen. Das Kindeswohl setzt Beteiligung voraus. Schutz ist dann möglich, wenn Kinder konsequent beteiligt werden, ihr Wille auch etwas zählt und wenn die Voraussetzungen geschaffen sind, dass sie sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln, die ihre Rechte kennen und auch wahrnehmen können. Unser Grünengesetzentwurf will Kinder stark machen. Deshalb habe ich immer von einer starken Formulierung im Grundgesetz gesprochen; denn auf die Formulierung kommt es hierbei an. Kinderrechte im Grundgesetz dürfen eben gerade keine Symbolpolitik sein. Sie müssen einen echten Mehrwert für die Kinder haben. Und so schön es ist, dass die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz vereinbart hat – ich sage ganz klar: Für eine schwache Formulierung, die den Kindern in diesem Land gar nichts bringt, stehen wir Grüne nicht zur Verfügung. ({7}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir eröffnen heute die Debatte zumindest an dieser Stelle. Und ich freue mich über den großen Zuspruch, den wir für unser Anliegen aus der Breite der Bevölkerung haben, ({8}) von dem großen und immer größer werdenden Bündnis für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz, von vielen Kolleginnen und Kollegen aus den Bundesländern und auch aus den Fraktionen hier im Hause, die noch keinen eigenen Antrag eingebracht haben. ({9}) Ich hoffe, dass im Herbst zum 30. Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention eine Zweidrittelmehrheit hier im Bundestag und auch im Bundesrat zustande kommt ({10}) für eine Formulierung im Grundgesetz, ({11}) die einen echten Mehrwert für die Kinder in unserem Land bringt. ({12}) – Ich glaube – Sie können hier so viel reinrufen, wie Sie wollen –, die AfD wird da keine größere und relevante Rolle spielen, und das ist auch gut so. ({13}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU, CSU und SPD haben ja bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, dass sie auch im Verfassungsrecht, in unserem Grundgesetz, die Situation für Kinder in unserer Gesellschaft verbessern möchten. Das ist völlig unbestritten. Deshalb verfolgen wir dieses Ziel und haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe damit beauftragt, bis zum Ende des Jahres Vorschläge vorzulegen, wie und in welcher Form man das am allerbesten machen kann; denn wir sind uns im Ziel vollkommen einig: Wir möchten die bestmöglichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Kinder sich zu eigenständigen Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft entwickeln können. ({0}) Aber jenseits dieser Frage kommt es eben auch ganz entscheidend darauf an, dass wir die Verfassungswirklichkeit, das Verfassungsrecht und auch die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die Diskussion über Kinderrechte im Grundgesetz ja nichts Neues ist. Vielmehr haben sich bereits die Verfassungsväter und -mütter in den Jahren 1948 und 1949 mit der Frage beschäftigt, wie man die Rechte von Kindern am besten verankern und ermöglichen kann. Deshalb müssen wir sehen, dass sich in den vergangenen 70 Jahren der Verfassungsrealität in unserem Land da natürlich keine Leerstelle aufgetan hat, sondern – ganz im Gegenteil – Kinderrechte durch unser Grundgesetz gewahrt und geschützt sind; denn die Grundrechte in diesem Grundgesetz gelten für alle Menschen in unserem Land, ({1}) unabhängig von der Frage, ob sie alt oder jung, arm oder reich, krank oder gesund sind. Das ist zumindest unser Vorsatz, und das ist auch durch den Artikel 6, nach dem die Kinder im Rahmen ihrer Familie einem besonderen Schutz unterliegen, tatsächlich geschützt. ({2}) Insofern müssen wir genau überlegen, wie man dieses oberste Ziel, nämlich Kinder in unserer Verfassung zu schützen, so formuliert, dass man das austarierte Verhältnis von Staat, von Familie, von Eltern und Kindern nicht durcheinanderbringt, sondern gewährleistet, dass auch die kluge und besonnene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, mit der das in den letzten 70 Jahren ausbuchstabiert wurde, entsprechend berücksichtigt wird. Ich will an dieser Stelle Folgendes sagen. Das Erste ist – das soll keine Relativierung sein; das ist mir wichtig –: Wir haben vor wenigen Wochen hier in diesem Hause das Jubiläum „70 Jahre Grundgesetz“ feierlich begangen. Eine Bemerkung, die mir aus mehreren Reden, die aus diesem Anlass gehalten wurden, ganz besonders in Erinnerung geblieben ist, ist, dass unsere Verfassung nicht nur die Grundlage dafür ist, dass wir in unserem Land seit sieben Jahrzehnten in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können, sondern dass sie letztlich mit ihren knappen Sätzen und Artikeln auch die Grundlage dafür war, Herausforderungen, die sich in den letzten sieben Jahrzehnten in unserem Land gestellt haben, vernünftig und sehr gut zu lösen. Deshalb sollten wir, glaube ich, vorsichtig sein, wenn es darum geht, an diese Verfassung Hand anzulegen, und sehr genau schauen, welche Wirkung das hätte. Es könnte durchaus sein, Frau Dörner, dass Sie zwar das Richtige meinen und das richtige Ziel verfolgen, aber unter Umständen mit dem, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf formulieren, das Gegenteil davon erreichen. ({3}) Deswegen muss man sich so intensiv mit dieser Frage auseinandersetzen und beschäftigen. Der zweite Punkt, den ich an der Stelle ansprechen möchte, ist: Wir haben ein austariertes Verhältnis von Staat, Eltern und Kindern. Dieses Verhältnis darf durch eine Änderung des Grundgesetzes nicht zugunsten des Staates und zulasten der Eltern verschoben werden. ({4}) Das ist ein ganz entscheidendes Anliegen für uns, und dafür werden wir uns auch einsetzen. Denn trotz allem, was Sie, Frau Dörner, in Ihrem Beitrag dargestellt haben, wie Kinder geschützt werden können, muss doch vollkommen klar sein, dass Sie Kinder nicht von ihrer Familie und den Eltern lösen können. ({5}) Wer in unserem Land etwas für Kinder und Kinderrechte tun will, muss Familien stärken und unterstützen, weil das den Rahmen bildet, in dem Kinderrechte dann tatsächlich abgebildet werden können. ({6}) Da geht es dann schlicht auch um die Frage, wie wir Eltern befähigen, ihren Aufgaben, die in Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes dargestellt sind, tatsächlich nachzukommen. Da haben wir eine ganz klare Marschroute, die unser Verfassungsrecht vorgibt: Darüber zu entscheiden, was dem Wohl der Kinder entspricht, ist zuallererst die Aufgabe der Eltern. Es ist Elternpflicht, Elternaufgabe und Elternrecht. Der Staat, so steht es in Artikel 6, hat eine Wächterfunktion, um zu gewährleisten, dass die Eltern diesen Rechten und Pflichten auch tatsächlich verfassungsgemäß nachkommen. An dieser Grundausrichtung wollen und werden wir nichts verändern. ({7}) Es kann lediglich darum gehen, dass wir klarstellen – das ist dann in der Tat mehr als Symbolpolitik –, dass es uns darauf ankommt, den richtigen rechtlichen Rahmen dafür zu schaffen, dass Kinderrechte gestärkt werden. Sie haben es angesprochen: Dabei muss uns vollkommen klar sein, dass wir nicht bei Symbolpolitik stehen bleiben dürfen, sondern dass wir am Ende auch gefragt werden, ob wir das, was wir vorgeben zu tun, tatsächlich erreicht haben. Dafür möchte ich nur ein Beispiel anführen: Zurzeit treffen sich gerade die Justizminister zur Justizministerkonferenz. Sie beschäftigen sich unter anderem mit dem Thema Kindesmissbrauch, weil wir jedes Jahr Zehntausende Fälle von Kindesmissbrauch haben und in vielen Bereichen gesetzliche Regelungen, sowohl im materiellen Recht als auch im Prozessrecht, letztlich noch nicht geeignet sind, um diesen Herausforderungen wirklich zu begegnen. Es ist nicht akzeptabel, dass wir im Bereich der Kinderpornografie einen niedrigeren Strafrahmen haben als beispielsweise beim einfachen Diebstahl. Und es ist auch nicht akzeptabel, dass wir unseren Ermittlungsbehörden viele Möglichkeiten nicht an die Hand geben, um Straftaten gegen Kinder in diesem Bereich tatsächlich aufzudecken. Und es ist auch nicht in Ordnung, dass wir nicht alles Menschenmögliche tun, um diesen Tätern, die Kinder massenhaft missbrauchen, auf die Schliche zu kommen und ihr Handeln zu bestrafen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen letzten Punkt ansprechen: Allein im Jahr 2017 gab es 8 400 Fälle von Kindesmissbrauch in Deutschland, denen nicht nachgegangen werden konnte, weil Daten gelöscht werden mussten und nicht zur Aufdeckung von Verbrechen zur Verfügung standen. Ich will das deshalb erwähnen, weil es ein ganz praktisches Beispiel dafür ist, dass wir etwas wirklich Wichtiges tun müssen, um Kinder zu schützen, damit sie in unserem Land frei und unbeschadet von solchen Beeinträchtigungen aufwachsen können. Dafür müssen wir uns einsetzen. Daran wird sich entscheiden, ob wir kinderfreundlich sind. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Mariana Harder-Kühnel für die AfD-Fraktion. ({0})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Forderung „Kinderrechte ins Grundgesetz“ hört sich erst einmal richtig gut an. Aus diesem Grund reagieren viele Bürger bei der Frage, ob sie sich Kinderrechte im Grundgesetz wünschen, verständlicherweise und reflexartig mit Zustimmung. Aber sind Kinder nicht bereits vollumfänglich Träger von Grundrechten? Ist das Grundgesetz lückenhaft? Müssen Kinderrechte eingeführt werden? Oder geht es in Wahrheit um etwas ganz anderes? Ich sage Ihnen, dass keine Grundgesetzänderung erforderlich ist; denn das Grundgesetz kennt keine Altersbeschränkung. Kinder sind wie Erwachsene Grundrechtsträger und genießen die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Meinungs-, Religionsfreiheit etc. Dies ist auch die Meinung des Bundesverfassungsgerichts. Jedes Kind ist grundrechtsberechtigt und wird durch die Grundrechte umfassend geschützt. ({0}) Montesquieu sagte: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. Was ist also der wahre Hintergrund für diese populistische Forderung? Meine Damen und Herren, was sich hinter den Gesetzentwürfen verbirgt, ist ein Angriff auf das Erziehungsrecht der Eltern. ({1}) Dem Ausdruck des linken Traums von der staatlichen Lufthoheit über den Kinderbetten, diesem Vorhaben erteilt die AfD eine klare Absage, meine Damen und Herren. ({2}) Denn nach Artikel 6 Absatz 2 GG sind „Pflege und Erziehung der Kinder“ das „natürliche Recht der Eltern“ und die ihnen „zuvörderst obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Der Staat hat also eine reine Wächterfunktion. Er muss eingreifen, wenn Eltern versagen, aber er darf das Primat der elterlichen Fürsorge nicht an sich ziehen. ({3}) Kinder haben das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern, und es gibt niemanden, der das besser kann als sie – kein Staat und keine Kita. Die Eltern, nicht der Staat, sollen entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen und welche Werte sie ihnen mitgeben; denn es sind gerade die schrecklichen Erfahrungen aus der Nazizeit, in der ein übergriffiger, totalitärer Staat in die Familien hineinregierte, ({4}) die die Väter und Mütter des Grundgesetzes zu dieser starken Betonung des Elternrechts bewogen haben. Führt man nun die Kinderrechte ein, wäre es damit an vielen Stellen vorbei; denn dann werden Kinderrechte künftig so definiert, wie der Staat es will. Er kann diese Rechte dann als Anwalt der Kinder notfalls auch gegen deren Eltern durchsetzen. Das kann mit einer Kindergartenpflicht beginnen ({5}) und mit der Entziehung von Kindern aus politisch missliebigen Familien enden. All das hatten wir im Sozialismus und im Faschismus. Das wollen wir nie mehr haben, und dafür wird die AfD sich einsetzen. ({6}) Sie sollten wissen, dass auch die CDU/CSU bis vor Kurzem genauso dachte. Noch 2017 befürchtete deren familienpolitischer Sprecher eine Schwächung der Elternrechte – ich zitiere Marcus Weinberg –: Ich habe die Sorge, dass die explizite Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz die Kinder in eine rechtliche Distanz zu den Eltern bringt … Denn letztlich betätigt sich der Staat dann als Anwalt des Kindes gegen seine Eltern. Aber auch hier hat die CDU/CSU nur wenig später eine Kehrtwende in Richtung linker Ideologie vollzogen und diese Bedenken schon im Koalitionsvertrag über Bord geworfen. ({7}) Festzuhalten ist damit: Was wir alle wollen, ist Liebe, Schutz und Fürsorge für Kinder. Genau aus diesem Grund fordert die AfD, eine kinderfreundliche Gesellschaft als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. ({8}) Was aber mit den hier vorliegenden Gesetzentwürfen der Linken und der Grünen bezweckt wird, das ist kein Mehr an Rechten für, sondern letztlich der staatliche Zugriff auf Kinder. Es geht gerade nicht darum, die Rechte von Kindern zu stärken. Noch mal: Kinder haben bereits alle Rechte. Es geht darum, die Rechte der Eltern zu schwächen. Es geht darum, dem Staat die Möglichkeit zu geben, in das Erziehungsrecht der Eltern einzugreifen. Wir von der AfD werden uns dem entschieden entgegenstellen; ({9}) denn die Lufthoheit über den Kinderbetten gehört nicht dem Staat. Die Lufthoheit über den Kinderbetten gehört den Eltern. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Abgeordnete Esther Dilcher das Wort. ({0})

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mein Manuskript ist schon wieder völlig durcheinandergekommen. ({0}) – Das sortiere ich jetzt. Ich sage Ihnen auch, wie, Herr Brandner. Warten Sie es einmal ab, vielleicht lernen Sie dann etwas. ({1}) Kinderrechte sind Menschenrechte, sind Grundrechte. Das ist unser sozialdemokratisches Verständnis. Das ist unsere Herleitung. So finden wir sie unserer Auffassung nach noch nicht in der Verfassung. Kinderrechte sind uns aber besonders wichtig. Daher haben wir die 1989 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention auch in der Bundesrepublik verabschiedet. Ja, es ist zutreffend: Dieses Übereinkommen ist bis heute noch nicht vollständig umgesetzt. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet – auch wenn sich das beim Kollegen Frei nicht so anhörte –, die Kinderrechte im Grundgesetz weiter zu verankern. ({2}) Sie werden jetzt sagen: Dann stimmen Sie doch unserem Gesetzentwurf zu. – Ja, welchem Gesetzentwurf? Dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen oder dem der Linken? ({3}) – Sie haben auch keinen gemeinsamen gemacht. – Die Antwort wissen Sie bereits. Deswegen denke ich genau wie Sie, es ist eine rein rhetorische Frage, um uns den Eindruck zu vermitteln, wir würden unsere Hausaufgaben nicht machen. Das ist aber mitnichten so. Der Kollege Frei hat es bereits erwähnt: Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitet seit letztem Jahr. Der Vorschlag ist in der Abstimmung. Daher werden wir den Gesetzentwurf der Linken und den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen heute ablehnen und das von der Koalition in Gang gesetzte Verfahren abschließen. ({4}) Wir freuen uns aber schon auf Ihr Signal, dass Sie dann diesem Gesetzentwurf hoffentlich zustimmen und wir die Grundgesetzänderung mit der erforderlichen Mehrheit durchsetzen werden. Es geht in der UN-Kinderrechtskonvention darum, Kinder zu schützen, zu beteiligen und ihnen eine ungestörte Entwicklung, Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Frage ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie erreichen wir dieses Ziel? Bis jetzt werden Kinder im Artikel 6 unseres Grundgesetzes erwähnt. Sie sind dort jedoch nur sogenannte Objekte; es heißt nämlich: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. In diesem Zusammenhang sind sie also nicht Subjekt mit der Möglichkeit, selbst zu handeln. ({5}) – In diesem Zusammenhang ist das durchaus richtig. Sie dürfen das nicht aus dem Zusammenhang reißen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 16. Januar 2002 festgestellt, dass die Gewährleistung des Elternrechts in erster Linie dem Schutz des Kindes diene. In diesem Zusammenhang haben die Eltern das Recht über die Kinder. Grammatikalisch gesehen sind das nun einmal Subjekt und Objekt. Also wäre das Ziel, Kinder zu schützen, damit zumindest erreicht. Oder nicht? Teilweise ja. Kinder selbst sind als solche keine Grundrechtsträger im Sinne von Artikel 6 des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus, das Kind sei ein Wesen mit eigener Menschenwürde – die Kollegin Mariana Harder-Kühnel hat es gesagt – und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Rahmen von Artikel 1 und Artikel 2. Aber die Kinder können ihre Rechte als Kinder selbst nicht einfordern oder durch eine Interessenvertretung ihre Rechte wahrnehmen lassen. Das müssen wir unbedingt ändern. Durch diese Rechtsprechung kommt noch lange nicht zum Ausdruck, dass im UN-Übereinkommen ein Vorrang des Kindeswohls verankert ist. Das setzt nämlich voraus, dass Kinder gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft sind. In Politik, Verwaltung und Rechtsprechung wird das Kindeswohl aber leider immer noch nicht umfassend berücksichtigt. Einen Teil dieser Diskussion hierzu hat die Friedrich-Ebert-Stiftung im Rahmen des „Zukunft 2020“-Projekts unter dem Titel zusammengefasst: „Machen wir’s den Kindern Recht?!“ Gerne erklären wir alle: Kinder sind doch unsere Zukunft. – Das tut gut, und das kommt an. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Wie steht es mit den Kinderrechten im Alltag? Was ist mit Kindern, die vernachlässigt und misshandelt werden? In Deutschland leben circa 82 Millionen Einwohner, davon rund 15 Millionen Kinder und davon wiederum 4,6 Millionen Kinder unter sechs Jahren. Nach Schätzungen von UNICEF werden etwa 5 bis 10 Prozent aller Kinder unter sechs Jahren in Deutschland von ihren Eltern vernachlässigt. Das sind also zwischen 230 000 und 460 000 Kinder im Jahr. Und wie viele Kinder kommen noch dazu, die sich darüber hinaus durch unsere Gesellschaft vernachlässigt fühlen müssen, weil ihnen kein gleichberechtigter Zugang zu Bildung, Ausbildung und gesicherter Lebensperspektive gewährt wird? Fragen wir uns also: Nimmt die Zahl dieser – in Anführungszeichen – „Opfer“ ab, wenn wir Kinderrechte im Grundgesetz verankern? Unsere Verfassung ist hauptsächlich der Werterahmen für unser Zusammenleben in der Bundesrepublik. Danach müssen sich alles staatliche Handeln und auch das Handeln jeder und jedes Einzelnen richten. Wir dürfen bei dieser Debatte keinesfalls aus den Augen lassen und müssen unsere Rechts- und Sozialpolitik darauf ausrichten, dass gerade in den sogenannten einfachgesetzlichen Regelungen, die zur Anwendung und Umsetzung dienen, diese Werte mit erhöhter Aufmerksamkeit bedacht werden, damit die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz nicht nur eine leere Worthülse bleibt, sondern praktische Handlungsleitfäden für Politik, Verwaltung und Rechtsprechung geschaffen werden, die die Lebenssituation von Kindern konkret und praktisch endlich mit der Wertschätzung ausstattet, die sich hinter der allgemeinen Floskel „Kinder sind unsere Zukunft“ verbirgt. 2015 hat das Bundesfamilienministerium eine unabhängige Monitoringstelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet. Diese Stelle beobachtet unabhängig, wie Kinderrechte umgesetzt werden, und setzt sich für Kinderrechte ein. Ich finde es trotzdem wichtig und mit mir natürlich auch die SPD-Fraktion, dass wir als Ausdruck dieser besonderen Wertschätzung die Kinderrechte im Grundgesetz verankern werden. Unsere sozialdemokratische Familienministerin Franziska Giffey ({6}) stellt seit 2018 jährlich 51 Millionen Euro für die neu errichtete Bundesstiftung Frühe Hilfen zur Verfügung. Dieses Netzwerk leistet einen wichtigen Beitrag zur vorbeugenden Unterstützung von Familien. Durch die Verfassungsänderung wird sich auch unser Bewusstsein ändern. Wir werden daher das eine tun, nämlich das Grundgesetz ändern, ohne das andere zu lassen, nämlich weiterhin unser Handeln in Gesetzgebung, Politik, Verwaltung und Rechtsprechung auf die Verbesserung von Kinderrechten ausrichten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Dilcher, Sie können weitersprechen, dann aber auf Kosten der Kollegen.

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Machen wir es also unseren Kinder recht. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind unsere Zukunft. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, Kinder sind heranreifende Persönlichkeiten. Es ist gut, dass wir miteinander darüber sprechen, was wir tun können, um ihren Weg auch als Politik und Staat zu begleiten. Eines ist in der Debatte klargeworden: Der erste Zugang dazu ist das einfache Recht, ist eine gute Familienpolitik, ist eine gute Bildungspolitik, ist eine gute Sozialpolitik. Das ist es auch, was die UN-Kinderrechtskonvention will. Ihr ist es herzlich egal, auf welcher Normstufe ihre Anliegen umgesetzt werden. Die UN-Kinderrechtskonvention will, dass die Dinge umgesetzt werden, und das geschieht über Recht und Gesetz. ({0}) Trotzdem darf man natürlich auch um die Verfassung keine Tabuzonen aufbauen. Es ist völlig in Ordnung, dass wir auch über Artikel 6 sprechen. Ich muss offen gestanden sagen, dass mir einige Forderungen ein bisschen zu mutlos sind. Die Kollegen der Grünen gehen Artikel 6 Absatz 5 an und sagen: Es darf künftig nicht mehr „uneheliche Kinder“ heißen, sondern es müsse „nichteheliche Kinder“ heißen. Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, das Recht sollte überhaupt keine Unterscheidung mehr machen, ob ein Kind ehelich oder nichtehelich gezeugt ist. ({1}) Das ist eine Entscheidung der Eltern, und es geht den Staat nichts an, ob das Kind in einer Ehe erzogen wird oder nicht. Das ist eine private Entscheidung der Eltern. Das Weitere, das wir hier ansprechen müssen, ist: Wenn wir Artikel 6 anfassen, was soll sich konkret ändern? – Unsere Fraktion hat dazu eine Anhörung gemacht mit wirklich glühenden Befürwortern des Projekts, harten Gegnern und auch vielen Sachverständigen. Dort haben wir die Frage gestellt: Was wollt ihr, das sich in der Rechtswirklichkeit konkret ändert? – Da gab es Beispiele: Traumatherapie für ausländische Kinder – ich finde, darüber kann man reden; das muss man aber nicht in die Verfassung schreiben –, Beteiligungsrechte in rechtlichen Prozessen oder Verwaltungsverfahren – das kann man in die Verfassung schreiben; entscheidender ist aber, dass wir das ins einfache Gesetz schreiben, weil es ohnehin dort hingehört. Wenn man mal fragt, was die Verfassungsänderung bedeuten soll, ist das Hauptziel ein, ich sage mal, gesellschaftlicher Bewusstseinswandel. ({2}) Darüber, finde ich, kann man reden. Aber dann muss doch der Obersatz klar sein: Wenn man Artikel 6 der Verfassung anfasst, dann darf kein Schaden entstehen. Ich finde, da muss man jetzt einmal differenzieren. Bislang sind die beiden Gesetzentwürfe in einen Topf geworfen worden. Zu beantragen, wie es Die Linke hier tut, nämlich Artikel 6 Absatz 2, auf dem über 70 Jahre verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Stärkung und zum Schutz des Kindes, zur Stärkung und zum Schutz der Familien basieren, auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern, und zu glauben, das stärke die Rechte von Kindern, wäre eindeutig ein verfassungsrechtlicher Schaden. ({3}) In dem Dreieck von staatlichem Wächteramt, Familie und Kindern ist dies kein Gesetz zur Stärkung von Kindern. Sie wollen ein Gesetz zur Schwächung von Familien und zur Stärkung des Staates, und das wird mit uns nicht zu machen sein. ({4}) Da gehen die Grünen schon vorsichtiger und klüger vor. Sie wollen nicht die Obliegenheiten der Eltern zur Erziehung der Kinder mal eben auf den Müllhaufen der Verfassungsgeschichte befördern, so wie Sie das tun, sondern stellen neben das Erziehungsrecht der Eltern das Wohl des Kindes. Das kann man natürlich machen; aber in Wahrheit ist das nicht neu. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sagt doch ganz eindeutig: Wir haben das Konzept der Elternverantwortung. Und die Elternverantwortung ist immer zuerst dem Wohl des Kindes verpflichtet. Jetzt müssen Sie die Frage beantworten – ich bin gespannt, was die Anhörungen dazu ergeben werden –: Wollen Sie nur etwas reinschreiben, was schon längst Praxis ist – dann hat es Appellwirkung; das kann man machen –, oder ist es so, wie es ein zunehmend großer Teil der Staatsrechtswissenschaft sagt, dass, wenn Sie eine Formulierung hineinnehmen, die nichts verändert oder das bewährte Dreieck aus staatlichem Wächteramt, Familie/Eltern und Kindern möglicherweise zulasten von Kindern und Familien und zugunsten des Staates verändert, dies dann keine Stärkung von Kinderrechten, sondern nur eine Stärkung des Staates ist? Darüber wird im weiteren Verfahren zu reden sein. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Im 30. Jahr der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention führen wir im Deutschen Bundestag erneut eine Debatte über die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, und das ist gut. Die erste Initiative dazu gab es übrigens in der 14. Wahlperiode von der PDS-Bundestagsfraktion, die bereits 2000 einen Gesetzentwurf eingebracht hat, um die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. ({0}) Ebenso lange mahnt uns, Herr Dr. Buschmann, der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in seinen abschließenden Empfehlungen zu den Staatenberichten, die die Bundesregierung alle fünf Jahre zur Umsetzung der Kinderrechte abgibt, in Deutschland doch bitte endlich die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. ({1}) Das ist keine fantastische Diskussion, sondern Realität. Die UN-Kinderrechtskonvention ist bereits geltendes einfaches Bundesrecht. Sie hat nicht Verfassungsrang, aber ist dank der FDP mit der vollständigen Ratifizierung im Jahre 2011 – Konservative, aber auch Sozialdemokraten und Grüne haben das fast 20 Jahre nicht hinbekommen – in Deutschland geltendes einfaches Bundesrecht. ({2}) Das genügt aber nicht, und ich will Ihnen auch sagen, warum. Warum sollen Kinderrechte ins Grundgesetz? Die Gegner sagen, Elternrechte würden eingeschränkt. Ja, um Himmels willen! Kinder sind doch nicht das Eigentum ihrer Eltern. ({3}) Was ist denn das für eine verquere Vorstellung von Familie, die Sie haben? Bei der AfD interessiert mich das nicht; die haben sowieso ein verqueres Familienbild. ({4}) Aber was ist denn das für ein Bild von Familie, das Sie hier entwickeln, bei dem Kinder und Eltern ständig im Konflikt miteinander sind und der Staat jetzt intervenieren soll? ({5}) Das ist doch nicht die Realität. Die Realität ist, dass Sie Elternrechte stärken, wenn Sie die Rechte der Kinder stärken. Dazu müssten Sie mal wissen, was Kinderrechte sind. ({6}) Sie haben offenbar gar keine Ahnung, was Grundrechte sind. Grundrechte sind Abwehrrechte gegenüber dem Staat und nicht Abwehrrechte gegenüber den Eltern. Das heißt, wenn die Kinderrechte im Grundgesetz gestärkt werden, werden die Abwehrrechte gegenüber dem Staat gestärkt und nicht gegenüber den Eltern. Gucken Sie noch mal rein, dann sehen Sie das. ({7}) Das nächste Argument ist, Menschenrechte würden ja auch für Kinder gelten. Ja, das stimmt. Aber Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen. Sie haben besonderen Anspruch auf Schutz, sie haben besonderen Anspruch auf Förderung und besonderen Anspruch auf Beteiligung, übrigens einen anderen als Erwachsene. Ich will Ihnen ein einfaches Beispiel geben: Wir hatten gerade Europa- und Kommunalwahlen. Vor den Europawahlen gab es verschiedene Vorstöße, das Wahlalter zu senken. Kinder und Jugendliche haben kein Wahlrecht, sollen aber nach der UN-Kinderrechtskonvention in allen Dingen, die sie betreffen, beteiligt werden. Weil das in Deutschland nun mal nicht so ist, weil hier bei Bundestagswahlen nur Deutsche, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, ein Wahlrecht haben, heißt das: Wir müssen Kinder besonders beteiligen, und zwar anders als Erwachsene, die ein Wahlrecht haben. Deswegen brauchen wir Kinderrechte im Grundgesetz. ({8}) Ein anderes Beispiel: die Proteste von Fridays for Future. Hier wird die Schulpflicht gegen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ausgespielt. Im Zweifel werden Kinder eben nicht beteiligt. Entscheidend ist aber die Versammlungsfreiheit. Das zeigt: Wir müssen auch hier die Rechte von Kindern stärken, weil sie an dieser Stelle eben überhaupt nicht klar sind. ({9}) – Meine Redezeit ist so gut wie zu Ende. Ich glaube, Sie müssen eine Kurzintervention machen. – Das zeigt die komplette Verlogenheit der Debatte. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. ({10}) Der letzte Punkt, der mir besonders wichtig ist – meine Kollegin Sabine Zimmermann wird gleich die zweite Rede vonseiten unserer Fraktion halten –: In kaum einem Land Europas entscheidet die soziale Stellung so sehr über den Bildungserfolg von Kindern. Wir sagen: Das Recht auf Förderung muss besonders verankert werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie können gerne weitersprechen. Das kostet aber die Kollegin Zimmermann Redezeit.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Neben den großen Themen – Kinderarmut und andere; Katja Dörner hat das schon angesprochen – brauchen wir ein spezielles, in der Verfassung verankertes Recht auf Förderung. Ich bitte Sie, nach Überweisung in den Ausschuss unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unter den vielen Beschreibungen unserer Welt ist auch eine möglich, die die Kinder in den Mittelpunkt stellt und die deutlich macht, dass unsere Welt jung ist. Über 2 Milliarden Menschen sind derzeit unter 15 Jahre alt. Für diese Menschen weltweit ist die UN-Kinderrechtskonvention Hoffnung und Zuversicht zugleich. Wir wissen, dass wir nur eine Zukunft haben, wenn wir auf die Kinder setzen ({0}) und ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen gewährleisten, überall auf der Welt. Ich weiß, dass dies in vielen Teilen der Welt noch nicht in dem Umfang möglich ist, wie wir es uns erwünschen. Trotzdem bedeuten 30 Jahre Kinderrechtskonvention auch 30 Jahre Hoffnung. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Moment. Die großen Punkte der Kinderrechtskonvention kann man zusammenfassen mit dem Streben nach einem besseren Kindeswohl, nach einem Verbot von Diskriminierung, nach Beteiligung und nach einem Recht auf Leben und Entwicklung. Das alles findet sich in dieser Konvention, die übrigens bereits im Range eines einfachen Bundesgesetzes in Deutschland vollumfänglich gilt. Deswegen ist in der Tat die Frage erlaubt, ob es eine Begründungsnotwendigkeit gibt, neben der UN-Kinderrechtskonvention auch eine Verfassungsänderung herbeizuführen. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass auch unter der Geltung des bereits seit 70 Jahren bestehenden Artikels 6 unseres Grundgesetzes hervorragende Veränderungen für Kinder in Deutschland möglich waren. ({1}) Als im Jahre 1948/49 das Grundgesetz verabschiedet worden ist, sind in den Schulen in Deutschland Kinder noch gezüchtigt worden. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist erst im Jahr 2000 in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden. Das zeigt, dass wir bereits einen langen Weg hinter uns haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heißt es ganz klar: Das Wohl der Kinder liegt den Eltern besonders am Herzen. Eine kindgerechte Entwicklung steht auch im Mittelpunkt des Erziehungsauftrages. – Das hat dazu geführt, dass sich in unserem Land zu Recht unendlich viel getan hat. Trotzdem stehen wir vor dem juristischen Problem, dass wir einerseits die Kinder mit ihren besonderen Lebenssituationen in den Blick nehmen müssen, andererseits aber bei der Beurteilung ihrer Stellung die UN-Kinderrechtskonvention als einfaches Bundesgesetz heranziehen müssen. Deswegen haben wir uns als Große Koalition auf den Weg gemacht, ausgehend von dieser Situation etwas Besseres zu schaffen. Dabei trete ich jedem entgegen, der das juristisch – bewusst oder unbewusst, weil er es nicht anders weiß – falsch bewertet. Nach wie vor steht im Mittelpunkt unserer Überlegungen das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, weil die Eltern die Verantwortung bei der Erziehungsarbeit tragen. Damit ist die Familie die Organisation, die für die Erziehung der Kinder zuständig ist. Gleichwohl wollen wir, dass die Eltern im Rahmen ihrer Erziehungsleistung durch ein Staatliches Wächteramt begleitet werden. Wir wollen die Rechte der Kinder stärken und damit deutlich machen, dass uns eine kindgerechte Gesellschaft besonders am Herzen liegt. Um deutlich zu machen, dass die Stärkung von Familien im Mittelpunkt unserer Politik steht, wollen wir dies durch eine Änderung im Grundgesetz zum Ausdruck bringen. Die Kinder und ihre Rechte liegen uns besonders am Herzen. Wir wollen und werden eine Änderung des Grundgesetzes aber sehr sorgsam angehen. Da stellt sich zunächst die Frage, wo diese Änderung angesiedelt sein wird, ob in Artikel 2, wie einige Staatsrechtslehrer vorschlagen, oder in Artikel 6. Ich glaube, sie gehört in das Umfeld der elterlichen Sorge, der Sorge der Eltern für ihre Kinder, weil wir daran nichts ändern wollen. Ich mache auch darauf aufmerksam, dass die Verfassung gerade in den ersten 20 Artikeln eine schöne, ästhetische Sprache hat. Kinder haben es verdient, dass wir in einer schönen, ästhetischen Sprache auch ihre Rechte besonders hervorheben. Ja, man kann darüber sprechen, ob das, wie manche behaupten, Symbolpolitik ist oder nicht. Aber ich glaube, wenn wir für die Rechte von Kindern eintreten, wenn wir uns weiterhin auf den Weg machen, eine kindgerechte und familienfreundliche Gesellschaft zu entwickeln, dann kann das niemals Symbolpolitik sein. Vielmehr ist es ein wichtiger staatlicher Auftrag, den wir umsetzen. ({2}) Wir haben das Grundgesetz in den letzten Jahren in vielen Punkten geändert, insbesondere in einer Sprache, die eher an Verwaltungsrecht erinnert. Ich erinnere an die Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Dann können wir uns doch im gleichen Atemzug überlegen, wie, mit welchem Satz wir die Rechte von Kindern im Grundgesetz verankern. Aber das wird nicht ausreichen. Es wird auch darum gehen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Wir müssen uns nach wie vor für die Verbesserung von Bildungschancen für Kinder sehr stark einsetzen, auch für eine inklusive Bildung. Wir sind gerade dabei, die Kinder- und Jugendhilfe auf noch bessere, praxistauglichere Füße zu stellen. Wir müssen auch über die Entlastung von Familien im Steuerrecht sprechen und darüber, warum der Kinderfreibetrag noch immer nicht auf der Höhe des Freibetrages für Erwachsene ist. Das alles sind Themen, über die wir sprechen können. Am Ende des Tages kommt es darauf an, wie wir die Rechte von Familien, aber auch die Rechte von Kindern ganz konkret stärken. Unser Ziel muss sein, eine der kinderfreundlichsten Gesellschaften auf der Welt zu sein. Der Satz, dass Kinder unsere Zukunft sind, ist keine unverbindliche Programmempfehlung, sondern der Kern unserer Politik. Deswegen werden wir eine Grundgesetzänderung sehr sorgsam angehen. Die Kinder, um die es geht, haben es verdient, dass wir uns mit dieser Grundgesetzänderung sehr sorgsam und intensiv beschäftigen. Machen wir uns auf den Weg! Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für die AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Liebe Besucher auf der Tribüne! In diesem Jahr wird unser Grundgesetz 70 Jahre alt. Es hat bislang ziemlich viele Änderungen er- und überlebt. Der Staats- und Verfassungsrechtler Grimm beklagte unlängst die Aufblähung des Grundgesetzes – aus gutem Grund; denn alles, was in der Verfassung geregelt ist, wird der Politik entzogen. Jede Grundgesetzänderung schränkt den Souverän, also das Volk und die zurzeit 709 Mitglieder des Bundestages, die fast alle hier sitzen, massiv ein. Jede Grundgesetzänderung stärkt und politisiert das Bundesverfassungsgericht mit seinen nur 16 Mitgliedern. Es gibt also eine Schieflage durch jede Grundgesetzänderung, wodurch wir uns binden. – Meine Damen und Herren, das vorweg. Der hier diskutierte Gesetzentwurf der Grünen kommt unter dem sympathischen Titel „Stärkung der Kinderrechte“ daher. Er verfolgt aber das gleiche Ziel wie der Gesetzentwurf der Linken. Das passt übrigens zu der Beobachtung, wonach diese beiden linken hetzerischen und spalterischen Extreme des politischen Spektrums sehr häufig und vor allem hier im Bundestag komplizenhaft zulasten Deutschlands und der Deutschen agitieren und agieren. ({0}) Der Bürger muss wissen: Da, wo „links“, „grün“ oder „bunt“ draufsteht, ist stets sehr viel international sozialistisches Rotes drin. Genauso ist es auch hier: Sie wollen – typisch! – Freiheiten einschränken und die Familie entwerten. Sie von Grün bis ganz links wollen den Eltern in die Erziehung der Kinder pfuschen. Im Ergebnis wollen Sie unsere Kinder verstaatlichen. ({1}) Das ist die unterste Schublade politischen Handelns und sollte jedem, der für unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung steht, und jedem, der gegen noch mehr Staat ist, zu denken geben und von jedem, der so tickt, abgelehnt werden. Deshalb werden wir von der AfD den Gesetzentwurf ablehnen. ({2}) Etwas Entwarnung gibt es: Die grünen und die linken Antragsteller verfolgen ihre verwerflichen Ideen nicht so richtig mit Verve. Sie wollen – noch offenbar – nur ein wenig provozieren; ansonsten hätten sie ihre lieblos zusammengeschusterten Gesetzentwürfe nicht erst vor wenigen Stunden in schlechter Schriftform präsentiert: ({3}) Der Gesetzentwurf der Linken erinnert an einen lieblos zusammengestückelten Entwurf einer Verwaltungsvorschrift und erfüllt nicht annähernd die Ansprüche an einen ernstzunehmenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung unseres Grundgesetzes. ({4}) Sie zitieren nicht einmal die richtige Version des Grundgesetzes. Da haben Sie offensichtlich falsch gegoogelt. Formell etwas besser, liebe Grüne, ist Ihr Gesetzentwurf, inhaltlich aber nicht. Sie kennen Artikel 6 Absatz 1 unseres Grundgesetzes – er wurde heute oft zitiert –: Ehe und Familie stehen unter staatlichem Schutz. – Zur Familie gehören, sofern vorhanden, natürlich auch die Kinder. Deshalb gehören sie begrifflich genau an diese Stelle und dürfen von den Familien nicht getrennt werden. Das, was in Artikel 6 Absatz 2 geregelt ist, reicht völlig aus. Die Kinder sind volle Grundrechtsträger; Kollegin ­Harder-Kühnel hatte darauf hingewiesen. Von Anfang an war Ihnen das aber ein Dorn im Auge. Die linken Gruppierungen haben die Äxte an die Keimzelle unserer Gesellschaft und die wichtigste Gemeinschaft unseres Zusammenlebens gelegt, ({5}) in den letzten Jahren noch zunehmend mit Hilfe der Schwarzen, der Hellroten und der Gelben, wenn ich an die Homo-Ehe denke, die verfassungswidrig ist. Meine Damen und Herren, als nächster Schritt sollen nun die Kinder verstaatlicht werden. Da machen Sie offenbar alle mit. Das, was Kollege Ullrich und die Kollegin Dilcher gerade geschildert haben, lässt tief blicken und uns mit großer Sorge aus dieser Debatte herausgehen. Meine Damen und Herren, diese unheilige Allianz aus Rot und Grün, meist unterstützt durch Schwarz und Gelb in der Familienpolitik, zeigt auch heute wieder, wes Geistes Kind Sie sind. Sie wollen Familien zerstören. Sie wollen Eltern entrechten und Kinder mithilfe des Staates in Position gegen ihre Eltern bringen. Da machen wir nicht mit. ({6}) Sie wollen nicht mehr Kinderrechte, Sie wollen weniger Familie und mehr Staat. Das geht mit der AfD nicht. Dafür werden wir kämpfen. Ihre Zweidrittelmehrheit, die Sie hier in den Raum gestellt haben, können Sie sich abschminken. ({7}) Wir lehnen diese familien- und gesellschaftsfeindlichen Gesetzentwürfe ab. Dabei sei nur am Rande der bekannte berüchtigte Umgang der Grünen mit Kindern erwähnt. Ich sage nur Frühsexualisierung, Pädophilie und nenne exemplarisch Herrn Cohn-Bendit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Diese Bemerkungen können Sie jetzt leider nicht mehr machen. Sie müssen bitte einen Punkt setzen.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

„Braucht’s des?“, fragte einer von Ihnen beim letzten Mal; ich glaube, das war der Herr Grundl.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Brandner, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bin gehalten, Ihnen das Wort zu entziehen, wenn Sie nach der zweiten Ermahnung nicht den Punkt setzen.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich gebe diese Frage gerne zurück. Das braucht es nicht, genauso wenig wie Sie. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Susann Rüthrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kommen wir aus dem Kabarett wieder in den Bundestag zurück. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind unsere Zukunft – ja, aber nicht nur; sie sind ja schon da. ({1}) Genau genommen geht es nicht einmal um uns, sondern um sie, um die Kinder, und zwar um ihrer selbst willen. ({2}) Es geht um das heutige Leben von allen Kindern in unserem Land, wenn wir fordern: Kinderrechte müssen endlich den Stellenwert bekommen, den die Kinder verdienen. Sie müssen auf Augenhöhe mit den anderen Grundrechten kommen. Wir haben gerade den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes gefeiert, und am 1. Juni hatten wir den Kindertag. Mit Kinderrechten im Grundgesetz wäre jeder Tag Kindertag; denn um das Wohlergehen der Kinder und ihre Entwicklung hat es uns allen an jedem Tag im Jahr zu gehen. Da wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit Ihnen, liebe Grüne und Linke, einig sind, freue ich mich, dass wir heute diese Debatte führen. Noch mehr freue ich mich aber, dass wir uns auch in der Regierung einig sind. Deswegen hat die SPD mit der CDU/CSU im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir die Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen. In der Kinderkommission des Bundestages haben wir uns schon in der letzten Legislaturperiode unter meinem Vorsitz angeschaut, wie es um die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland bestellt ist. Da gibt es noch eine ganze Menge zu tun; denn es kommen nicht alle Kinder zu ihrem Recht, wie es eigentlich möglich und nötig wäre. Kinder, deren Eltern wenig Geld haben, sind oft ausgeschlossen, haben schlechtere Chancen in der Schule, sind weniger gesund. Ja, Kinderarmut hat Folgen. ({3}) Ich persönlich setze mich daher schon lange für eine Kindergrundsicherung ein und will, dass kein Kind in Deutschland mehr arm ist. Wir schauen aber beispielsweise auch auf die Kinder mit Behinderungen. Welche Kämpfe müssen sie und ihre Eltern ausstehen, um endlich zu ihrem Recht zu kommen? Sie haben aber das Recht, gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft zu sein. Davon sind wir noch viel zu weit entfernt, trotz all der großen Schritte, die wir unzweifelhaft getan haben. Kinder mit Migrationsbiografien – entweder bei sich selbst oder in ihren Familien – erleben weiterhin Diskriminierung. Das geht nicht. Flüchtlingskinder sind sogar an vielen Stellen viel zu lange abgeschottet und ausgeschlossen. Sie spielen im Asylverfahren de facto kaum eine Rolle. Auch das geht nicht. Solange Kinder, deren Geschlecht nicht eindeutig Junge oder Mädchen ist, wie es die Mehrheitsgesellschaft oft erwartet, sogenannte Interkinder, immer noch unnötigerweise geschlechtsangleichenden Operationen ausgesetzt sind, ({4}) müssen wir uns um die Kinderrechte und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Entwicklung der Identität der Kinder weiterhin sorgen; denn diese Kinder können sich nicht wehren. Nur einmal nebenbei: Das Recht auf Spiel und frei gestaltete Zeit für Kinder ignorieren wir Erwachsenen umso lieber und sehr gern. Nachdem wir die Kinder mit unseren ökonomisch geprägten Leistungsanforderungen so richtig schön vollgestopft haben, behaupten wir hinterher immer noch, dass die Jugend von heute quasi kaum noch lesen und schreiben könne. Was für ein fürchterliches Bild zeichnen wir häufig von unseren Kindern und Jugendlichen? ({5}) – Hören Sie doch einmal auf, immer dazwischenzuquatschen. Sie wollten hierher, also müssen Sie mir jetzt auch zuhören. ({6}) Als Mutter von drei kleinen Kindern und als jemand, die Bildungsarbeit in Schulen mit jungen Ehrenamtlichen gemacht hat, als ehemalige Vorsitzende eines Kinder- und Jugendverbandes kann ich nur sagen: Unsere Kinder sind großartig. Jeder junge Mensch ist wunderbar und in unserer Gesellschaft herzlichst willkommen. ({7}) Da wir dies hier deutlich machen können, freue ich mich über die heutige Debatte. Nachdem Kinder- und Jugendverbände, Kinderärzteverbände und andere, auch zusammen mit vielen in den Parteien, lange Zeit für die Kinderrechte im Grundgesetz gekämpft haben, wird es in diesem Jahr hoffentlich endlich so weit sein, ({8}) wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich hier einen Ruck geben und mit uns zusammen Ja sagen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitet und wird uns hoffentlich in diesem Jahr einen Formulierungsvorschlag vorstellen. Über die Bundesländer werden auch Sie, liebe Grüne und Linke, die Möglichkeit haben, Ihre Formulierungsvorschläge einzubringen. Ich gehe davon aus, dass Sie das tun werden. Ich erwarte, dass wir dann hier im Parlament über einen umfassenden Vorschlag diskutieren und nicht über den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Mitglieder der Arbeitsgruppe irgendwie einigen konnten. Was wir nicht brauchen, ist, jetzt Formulierungen zu beschließen, wodurch wir mehrere parallele Verfahren hätten. Den Formulierungsvorschlag der Arbeitsgruppe können wir, wenn wir ihn endlich bekommen und kennen, mit unseren umfassenden Formulierungsvorschlägen und Vorstellungen abgleichen. Es geht um Schutz, Förderung, Entwicklung und Beteiligung. Ohne Beteiligung ist das Wohl des Kindes überhaupt nicht zu ermitteln. ({9}) Ohne Beteiligung funktioniert auch Kinderschutz nicht. Ein Kind muss erfahren und erlebt haben, dass seine Meinung, seine Rede eine Wirkung hat, damit es sich im Ernstfall auch an Erwachsene wendet, wenn ihm etwas zugestoßen ist oder ihm etwas angetan wurde. ({10}) Es geht auch nicht um irgendeine Förderung, um irgendeinen Schutz, sondern um den bestmöglichen. Das ist der Geist, den die Kinderrechtskonvention atmet. Es muss unser Anspruch und unser Versprechen sein, dass wir jedem Kind und jeder Familie die bestmöglichen Bedingungen schaffen. ({11}) Wir stärken mit den Kinderrechten die Eltern; denn sie sind die Sachwalter der Rechte ihres Kindes. Sie sollten nicht kämpfen müssen, um mit ihrem Kind zu ihrem Recht zu kommen. Geben Sie sich also einen Ruck. Lassen Sie uns die Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen, unserem Grundgesetz die Kinderrechte schenken; denn die Kinderrechte stünden unserem Grundgesetz unheimlich gut. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Matthias Seestern-Pauly für die FDP-Fraktion. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit über 20 Jahren wird nunmehr die Debatte über die Aufnahme von Kindergrundrechten ins Grundgesetz geführt, und zwar – das merken wir zum Teil auch heute – sehr kontrovers. Dies haben wir als Freie Demokraten Ende letzten Jahres zum Anlass genommen, einen Fachkongress durchzuführen, um uns abermals intensiv mit allen Facetten dieses Themas auseinanderzusetzen. Ich persönlich als kinder- und jugendpolitischer Sprecher meiner Fraktion, auch als Lehrer, vor allem aber als Vater bin immer dafür, die Rechte und Chancen von Kindern zu stärken. ({0}) Die Aufnahme eines Kindergrundrechts ins Grundgesetz kann hierbei ein Instrument sein; dies fordern im Übrigen viele Verbände wie das Deutsche Kinderhilfswerk oder UNICEF Deutschland seit Langem. In diesem Zusammenhang sage ich aber auch ganz klar: Wir Freie Demokraten wollen keinen miterziehenden Staat. ({1}) Wir Freie Demokraten wollen explizit nicht, dass die Rechte von Kindern und Eltern durch eine Grundgesetzänderung gegeneinander ausgespielt werden. ({2}) Bei vielen, bei renommierten Staatsrechtlern, aber auch bei einigen Verbänden, besteht die große Sorge, dass genau dies passieren könnte. Diese Sorge sollten wir ernst nehmen, vor allem da alle betonen, dass dies gerade nicht passieren soll. Wir sollten dies außerdem ernst nehmen, weil wir hier über eine Änderung unseres Grundgesetzes diskutieren. Eine solche Änderung hat fundamentale Folgen, nicht nur bis zur nächsten Wahl, sondern auch für die kommenden Jahrzehnte und Generationen. Es wird also darauf ankommen, eine adäquate Formulierung zu finden, die beide Aspekte, die ich gerade benannt habe, sicherstellt, nämlich erstens die Stärkung unserer Kinder und zweitens den Schutz des Elternrechts vor staatlichen Eingriffen. Es wird auch darauf ankommen, wo genau diese Grundgesetzänderung angesiedelt werden soll. Die hierfür eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe – das haben wir gerade schon gehört – ist mehr oder minder auf den letzten Metern. Ich halte es für dringend notwendig, das Abschlusspapier dieser Arbeitsgruppe abzuwarten, und zwar aus zwei Gründen: erstens aus Respekt gegenüber der Arbeit dieser Arbeitsgruppe und zweitens, um auf diesem Ergebnis gemeinsam und konstruktiv aufbauen zu können, um zu einer guten Lösung im Sinne unserer Kinder als auch der Eltern zu kommen. ({3}) Lassen Sie mich abschließend auf einen wichtigen Aspekt eingehen, der hier schon mehrfach angesprochen wurde. Unabhängig von einer möglichen Grundgesetzänderung müssen wir uns darauf konzentrieren, durch einfachgesetzliche Regelungen die Rahmenbedingungen für unsere Kinder so zu verbessern, dass die Belange von Kindern insgesamt mehr berücksichtigt werden; denn eine Grundgesetzänderung allein wird dieses Ziel nicht erreichen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen sagt zur Lage der Kinderrechte in Deutschland: Kinderarmut ist verbreitet. Sie betrifft Kinder Alleinerziehender, kinderreicher Familien, Familien mit Migrationshintergrund und Familien, in denen Eltern erwerbslos oder prekär beschäftigt sind. – Der Ausschuss fordert den Kampf gegen Kinderarmut, einen angemessenen Lebensstandard für Kinder und bessere Unterstützung für arme Familien. Genau das fordert Die Linke seit Jahren; aber hier in der Regierung bewegt sich leider nichts, meine Damen und Herren. ({0}) Seit Jahren stagnieren die Zahlen von Kindern in Hartz‑IV-Bedarfsgemeinschaften bei rund 2 Millionen. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, endlich ein wirksames Konzept gegen Kinderarmut vorzulegen. Stattdessen gibt es 10 Euro mehr Kindergeld ab Juli, wovon Kinder in Hartz‑IV-Bedarfsgemeinschaften nichts, aber auch gar nichts haben; denn es wird ihnen beim Regelsatz wieder weggenommen. So organisiert der Staat auf dem Rücken der Kinder jedes Jahr zusätzliche Haushaltseinsparungen von 5 Milliarden Euro. Das ist eine Schande, meine Damen und Herren. ({1}) Die Linke fordert eine Kindergrundsicherung, die jedem Kind in diesem Land gleiche Chancen aufzeigt und vor allen Dingen sichert. Kinderarmut ist keine Lappalie. Sie gehört zu den schwersten Verletzungen des Kindeswohls. Das Kindeswohl ist das Leitmotiv der UN-Kinderrechtskonvention und sollte es auch im deutschen Recht sein. Das betrifft alle Rechtsbereiche. Es muss sich etwas tun in der Gesetzgebung, in der Verwaltung, aber auch in der Rechtsprechung. Ein eigenständiges Grundrecht für Kinder und Jugendliche ist daher keine Symbolpolitik. Es bindet den Gesetzgeber. Es verpflichtet die Gerichte, Gesetze verfassungskonform anzuwenden, dass vor allen Dingen das Kindeswohl gewährleistet ist. Es bewirkt, dass sich Kinder gegen die Verletzung ihrer Rechte mit der Verfassungsbeschwerde wehren können. Das, meine Damen und Herren, ist bitter nötig. Weil Gegenwehr nicht ausreicht, braucht es auch echte Beteiligungsrechte für Kinder und für Jugendliche. Das fordert Die Linke. So geht nämlich lebendige Demokratie. So geht politische Bildung, meine Damen und Herren. ({2}) Artikel 6 im Grundgesetz zu ergänzen, ist ein erster Schritt, ein Minimum, worauf sich die demokratischen Parteien hier eigentlich einigen müssten. ({3}) Und, meine Damen und Herren der SPD und der CDU, es steht im Koalitionsvertrag. Machen Sie also ernst und schreiben Sie die Kinderrechte ins Grundgesetz. Sie haben Die Linke an der Seite, also tun Sie was. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzte Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion. Während er auf dem Weg nach vorne ist, bitte ich die zu den folgenden 18 Abstimmungen herbeigeeilten Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen und auch für diesen Beitrag die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen. Herr Jung, Sie haben das Wort. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. Auch wenn Sie glauben, dass die Kolleginnen und Kollegen tatsächlich nur wegen der Abstimmungen da sind, freue ich mich trotzdem, dass Sie für Aufmerksamkeit sorgen möchten. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach einer Stunde Debatte ist es schwierig, hier noch etwas wirklich Neues beizutragen. Ich will gleichwohl versuchen, auf etwas einzugehen, was wir bereits gehört haben. Anknüpfend an den letzten Wortbeitrag möchte ich einmal in aller Deutlichkeit sagen: Der Eindruck, der hier in manchen Wortbeiträgen vermittelt wurde, Kinder seien nicht grundrechtsfähig und Kinder hätten keine Grundrechte, ist vollkommen falsch, und den sollte man auch so nicht stehen lassen, meine Damen und Herren. ({1}) Kinder sind grundrechtsfähig. Kinder sind auch beschwerdefähig – das wurde eben kurz angesprochen –, und natürlich sind sie im Rahmen unserer verfassungsmäßigen Ordnung, wie wir sie seit 70 Jahren leben, absolut geschützt und genießen besondere Rechte. Daran sollten wir auch gar keinen Zweifel lassen, meine Damen und Herren. ({2}) Gleichwohl haben wir uns in der Koalition vorgenommen – die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist mehrmals erwähnt worden –, zu prüfen, auf welchem Weg wir eine besondere Formulierung von Kinderrechten im Grundgesetz schaffen können. Ich mahne uns alle an, Sorgfalt zu wahren, wenn wir die Verfassung ändern. Denn manchmal ist etwas gut gemeint, aber am Ende dann nicht gut gemacht. Die Linke glaubt, die Verfassung ändern zu können, indem wir das, was sich bewährt hat und was Kinder übrigens seit 70 Jahren schützt, nämlich das Modell von Elternrechten, Kinderrechten und Familienschutz in unserer Verfassung, über den Haufen werfen. Eines kann ich Ihnen heute schon sagen – Herr Buschmann hat ebenfalls zu Recht darauf hingewiesen –: Das wird mit der CDU/CSU-Fraktion auf gar keinen Fall zu machen sein, meine Damen und Herren. ({3}) Auch bei dem zugegebenermaßen wesentlich abgewogeneren Vorschlag der Grünen muss man doch schon genau hinschauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem neuen Artikel 6 Absatz 4a formulieren Sie ein Spezialgrundrecht. Das klingt im ersten Moment gut. Aber was passiert am Ende im Hinblick auf Auslegung und Rechtsprechung, wenn Sie ein Spezialgrundrecht herausgreifen, dieses gewähren und andere nicht? Mit einer solchen Spezialregelung schränken Sie möglicherweise an anderer Stelle sogar Kinderrechte ein. Das müssen wir uns genau anschauen. Deswegen sind wir gut beraten, den Vorschlag der Expertenkommission abzuwarten und dann gemeinsam mit aller Sorgfalt zu diskutieren und hier nicht vorschnell Formulierungsvorschläge für die Änderung unserer Verfassung zu machen. Eines muss aber auch klar sein – das ist für uns selbstverständlich –: Kinderrechte sind immer dann besonders gewährt, wenn wir starke Familien haben und wenn wir nicht anfangen, wie es einige hier getan haben, Elternrechte und Kinderrechte gegeneinander auszuspielen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille, meine Damen und Herren. Kinder sind immer dann stark, wenn die Eltern und die Familien stark sind. Darauf werden wir bei der Grundgesetzänderung am Ende auch achten. Das kann ich Ihnen heute schon versprechen, meine Damen und Herren. Lassen Sie mich doch noch eines sagen, da 30 Jahre Kinderrechtskonvention mehrmals angesprochen wurden: Die Kinderrechte sind in Deutschland gesetzlich umgesetzt. Praktisch für Kinder tun wir doch etwas durch Gesetze, durch tatsächliche und durch praktische Politik und nicht durch Grundgesetzänderungen. Ja, als ein gewisses Symbol ist es richtig; das haben wir jetzt mehrmals gehört. Aber schauen Sie sich doch an, was wir tun: Wir haben über das Kindergeld gesprochen. Da haben wir etwas verändert. Wir haben das Elterngeld verändert. Wir haben in den letzten Jahren den Kitaausbau vorangebracht. Wir haben jetzt einen Digitalpakt. All das sind bildungs- und familienpolitische Punkte, die Kindern doch unmittelbar nutzen. Wir reden jetzt darüber, dass wir die Strafbarkeit für das Cybergrooming ausweiten und dass wir tatsächliche Angriffspunkte haben. Das sind doch Dinge, die Kinder jeden Tag schützen, meine Damen und Herren. Dafür brauchen wir keine Grundgesetzänderung. Sie mag am Ende für ein klares Signal sorgen. Aber den Schutz von Kindern schaffen wir durch tatsächliche, pragmatische Politik, jeden Tag, und nicht durch Symboldebatten, meine Damen und Herren. ({4}) – Wir haben den Koalitionsvertrag selbstverständlich unterschrieben. Sie haben offenbar, Herr Müller, meiner Rede bisher nicht zugehört. Das ist das Problem: dass diese Debatte von den Seiten rechts und links dieses Parlaments missbraucht wird, um hier Gerüchte zu streuen. ({5}) – Ja, Sie haben uns eben vorgeworfen, wir würden die Kinder als Eigentum der Eltern betrachten. ({6}) Das ist Ihr Verständnis von Familie. Das ist nicht unser Verständnis, meine Damen und Herren, und deswegen machen wir auch eine andere Politik als Sie. ({7}) Ich rufe uns alle auf, dieses Thema mit etwas mehr Ruhe und etwas mehr Sorgfalt anzugehen. Gerade wenn es um unsere Verfassung geht, sind Schnellschüsse immer falsch. Deshalb lassen Sie uns abwarten, was die Expertenkommission und was die Bund-Länder-Arbeitsgruppe uns vorschlagen. Lassen Sie uns dann in einem abgewogenen Prozess gemeinsam entscheiden, welcher Weg der richtige ist. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 19/10552 und 19/10622 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 31 a bis 31 f, den Zusatzpunkten 5 a bis 5 h sowie den Tagesordnungspunkten 21 a und 21 b. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren. Es handelt sich zum Teil um unstrittige Überweisungen, zum Teil um strittige Überweisungen. Aus diesem Grunde bitte ich zuallererst die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen und die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen, damit wir von hier vorn die entsprechenden Abstimmungsergebnisse für das Protokoll feststellen können. – Sie haben noch einen Moment Zeit. Für die unstrittigen Überweisungen bis zu den strittigen Überweisungen bitte ich die entsprechende Ordnung herzustellen, damit ich das Abstimmungsverhalten feststellen kann. Das gilt für die Damen und Herren, die an der rechten Seite bereits stehen – vielleicht können Sie aus den hinteren Reihen die Botschaft übermitteln, falls ich dort nicht zu verstehen bin –, das gilt aber genauso für die linke Seite des Hauses von hier aus gesehen.

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Energieversorgung berührt den Souveränitätskern eines jeden Landes. Die Geopolitik seit der Industrialisierung wird wesentlich von den Energiebedürfnissen der Staaten bestimmt. Eine sichere Energieversorgung ist nicht alles, aber ohne eine sichere Energieversorgung ist alles nichts. ({0}) Der Bau von Nord Stream 2 stellt die Bundesregierung zumindest scheinbar vor eine Alternativentscheidung zwischen russischen und amerikanischen Interessen. ({1}) Diese Entscheidung war in den vergangenen 70 Jahren immer einfach: Die USA waren unser Verbündeter, unsere Schutzmacht und unser Vormund. Inzwischen ist das nicht mehr so eindeutig. Es gibt zwei Argumente gegen Nord Stream 2. Das eine lautet: Diese Pipeline sichere auch das Überleben des Systems Putin, möge der auch beteuern, es handele sich um ein rein wirtschaftliches Projekt. Nord Stream 2 sei eben Geopolitik pur. – Das stimmt allenfalls zur Hälfte. Nord Stream 2 ist Wirtschaft und Geopolitik. Aber warum hört man dieses Argument mit dem Überleben eigentlich nie, wenn es um saudisches Öl geht? ({2}) Donald Trumps Widerstand gegen das Projekt folgt weit mehr wirtschaftlichen als geostrategischen Interessen. Ihm geht es in erster Linie darum, Russland als Erdgaslieferanten vom Markt zu drängen und stattdessen teures amerikanisches Flüssiggas zu verkaufen. Bei aller Sympathie: Wir verwahren uns dagegen, aus reinen Geschäftsgründen politisch unter Druck gesetzt zu werden, und wir finden dieses Verhalten der amerikanischen Regierung und ihres Botschafters in diesem Lande indiskutabel. ({3}) Deutschland ist kein amerikanisches Prokonsulat! Das wirkliche geopolitische Problem entsteht gegenüber Polen, der Ukraine und dem Baltikum. Diese Länder betrachten die Pipeline mit Misstrauen. Das Verhältnis zu Polen ist ohnehin dank der Migrationspolitik schlecht und wird sich durch Nord Stream 2 nicht verbessern. Wir können unsere Energieversorgung aber nicht politischen Stimmungen unterordnen, die Folgen der Auflösung der Sowjetunion sind. ({4}) Das gilt ganz besonders gegenüber der Ukraine. ({5}) Das zweite Argument gegen die Pipeline lautet: Wir brauchen das Gas gar nicht. Die Pipeline sei nicht nur überflüssig, sie behindere die Energiewende. – Hier kann man eigentlich nur bitter lächeln. Ein Land, das aus der Atomenergie und der Kohleverstromung komplett aussteigt, steht vor dem Problem, dass sich mit Windkraft und Solarenergie eben keine stabile Grundlast herstellen lässt. ({6}) Wer sagt: „Wir brauchen das Gas nicht“, sollte wenigstens so redlich sein und fordern, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern oder den Atomausstieg ganz aufzuheben; ({7}) denn das deutsche Versorgungssystem benötigt Kraftwerke, die schnell und verlässlich den fehlenden Strom einspeisen. Nord Stream 2, meine Damen und Herren, ist ein typisches Beispiel für die Politik der Bundeskanzlerin. Es ist geradezu ein Kennzeichen ihrer Amtszeit, sich in Situationen zu bringen, wo am Ende nur die Wahl zwischen zwei Übeln bleibt. Die Kanzlerin ist ja nicht einmal mit der Schwesterpartei d’accord. Manfred Weber plädiert offen gegen Nord Stream 2, und zwar ganz bescheiden im Namen der EU, sozusagen als Europäer gegen deutsche Interessen. ({8}) Die Bundeskanzlerin bekommt jetzt die Quittung für die illusorische Energiewende samt dem überstürzten Atomausstieg, für das eingetrübte Verhältnis zu den USA und das ungeklärte zu Russland, für die Verärgerung der Ost- und Südosteuropäer durch deutsche Schulmeisterei und Ignoranz, also für viele Jahre diplomatische Stümperei. ({9}) Trotzdem, meine Damen und Herren – und das ist wahrscheinlich eine Premiere –, stellen wir uns in dieser Frage hinter die Kanzlerin und hinter die Bundesregierung. Wir brauchen Nord Stream 2. Die AfD-Fraktion wird das unterstützen. Ich bedanke mich. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Gauland. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Joachim Pfeiffer. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorausschicken, dass es für uns als CDU/CSU globale Herausforderungen gibt wie die militärische Sicherheit, wie Handel, wie Klimaschutz. Dazu gehört auch die Sicherung der Energieversorgung; auch diese braucht globale Antworten, braucht multilaterale Ansätze. Deshalb sind wir als CDU/CSU, wir als Deutschland, wir als EU gefordert, diese multilateralen Ansätze zu stärken und nicht zu schwächen. Ich komme gleich dazu, warum wir der Meinung sind, dass Nord Stream 2 – es ist ja auch von Souveränität die Rede – die Souveränität Deutschlands und Europas stärkt und nicht schwächt, die Multilateralität stärkt und nicht schwächt und deshalb im deutschen und im europäischen Interesse ist. Souveränität sichert man sich, in dem man mehrere Möglichkeiten vorhält. Bei der aktuellen Diskussion um den Aufbau von 5G merken wir, dass wir in Europa und in Deutschland im Moment nicht mehr über alle technologischen Fähigkeiten und Instrumente verfügen, um eine solche Technologie unabhängig von amerikanischen, unabhängig von chinesischen Technologien aufzubauen. Deshalb sind wir, glaube ich, gut beraten, uns zu überlegen, wie wir dort europäische Kompetenzen stärken. Heute geht es um die Energieversorgungssicherheit und um die Energieversorgung. Dort sind wir noch nicht so weit, und dort darf es auch nicht so weit kommen, dass wir die Souveränität über die Energieversorgung verlieren. Deshalb ist es richtig, dass wir im europäischen Verbund die Versorgungssicherheit und die Energieversorgung stärken. Warum stärkt Nord Stream 2 Deutschland und Europa? Das will ich Ihnen noch mal darlegen; ich hatte das – wir hatten ja schon mehrere Diskussionen dazu – auch schon mal erläutert. Der Gasverbrauch nimmt zu. Die erneuerbaren Energien und das Gas werden zukünftig das Rückgrat der Energieversorgung bilden. Der Gasverbrauch wird in Europa auf 500 bis 600 billion cubic meters pro Jahr zunehmen. Wenn der Gasverbrauch zunimmt, dann müssen wir uns überlegen, woher das Gas kommt und welche Optionen wir haben. Im Moment ist die Situation die, dass wir rund 400 bcm über Pipelines aus Nordafrika, aus der Türkei und aus Russland nach Deutschland bringen. Wenn Nord Stream 2 dazukommt, kommen zusätzlich rund 10 Prozent des zukünftigen Bedarfs dazu. Das heißt, wir haben mehr und nicht weniger Möglichkeiten, um Liquidität im europäischen Markt zu sichern. Wir haben zusätzlich das erwähnte LNG – Liquefied Natural Gas –, was zum Beispiel aus den USA, aber auch aus dem Nahen Osten nach Europa kommen kann, mit perspektivischen Kapazitäten von bis zu 50 Prozent. Wir haben dann noch Speicherkapazitäten von 20 Prozent, und wir haben perspektivisch eine Eigenproduktion in Europa von vielleicht ebenfalls 20 Prozent. Das heißt, aufsummiert haben wir im Bereich der Gasversorgung die Situation, ungefähr 200 Prozent unseres zukünftigen Bedarfs selber zu sichern bzw. über diese Infrastruktur darzustellen. Genau deshalb stärkt Nord Stream 2 die Souveränität, stärkt die Versorgungssicherheit und ist im europäischen Interesse. Es stärkt auch die Wettbewerbsfähigkeit, weil wir im Binnenmarkt mehr Liquidität haben und damit letztlich einen größeren, besseren Wettbewerb haben. Mehr Liquidität, mehr Wettbewerb bringen im Ergebnis durch niedrige Preise auch dem Verbraucher etwas. Es stärkt außerdem die Nachhaltigkeit, weil Gas im Vergleich zu Kohle oder zu Öl beispielsweise einen besseren, geringeren CO 2 -Footprint hat und eine Gasinfrastruktur nicht nur auf das fossile Zeitalter begrenzt ist; denn über eine Gasinfrastruktur kann man zukünftig beispielsweise auch Wasserstoff, Biogas oder Biomethan transportieren. ({0}) Das heißt, im Ergebnis stärkt Nord Stream 2 nicht nur Deutschland, sondern auch Europa in der Versorgungssicherheit, in der Wettbewerbsfähigkeit und in der Nachhaltigkeit. Deshalb ist es richtig, dass wir Nord Stream 2 in Deutschland und in Europa weiter verfolgen und unseren Partnern in der Welt klarmachen, dass wir uns für unsere Souveränität einsetzen ({1}) und es da keine Abstriche gibt. Wir werden politisch mit den USA, mit China, mit Russland weiterhin die Multilateralität suchen; das ist, wie ich eingangs gesagt habe, unser Ziel. Wir wollen uns nicht abschotten, wir müssen aber auch deutlich machen, dass wir, wenn es darauf ankommt, souverän und unabhängig sind. Und mit Nord Stream 2 stärken wir diese Unabhängigkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Pfeiffer. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Martin Neumann. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme es vorweg: Deutschland und Europa brauchen einen starken und unabhängigen Energiemarkt. Dieser starke und unabhängige Energiemarkt muss bezahlbare Preise, Versorgungssicherheit und Akzeptanz zur Grundlage haben und sich natürlich der Einhaltung der Klimaziele von Paris unterordnen. Hierfür, meine Damen und Herren, spielen russische Gaslieferungen auch in Zukunft eine wichtige Rolle. Hier äußern wir aber nicht nur markige Sprüche, um etwas zu erreichen, sondern wir haben eine ganze Reihe von inhaltlichen Gründen, anhand derer sich Nord Stream 2 als ein wichtiger Teil des europäischen Energiemarkts darstellen lässt. Das Projekt Nord Stream 2 trägt sehr entscheidend zur Diversifizierung des Energiemarkts in Europa bei. Es trägt vor allem zu einem größeren Anbieterspektrum bei. Und wenn wir aus Kernenergie, wenn wir aus Kohle aussteigen, wird die Rolle von Gas in der Bundesrepublik Deutschland bedeutsamer. ({0}) Ich möchte es hier nicht als umweltschädliches fossiles Energiesystem verteufeln, vielmehr müssen wir in Zukunft – und dazu muss es dann auch eine entsprechende Infrastruktur geben – die Chance nutzen, beispielsweise auch grünes Gas durch die entsprechenden Leitungen zu leiten. ({1}) Auch LNG wird in Zukunft eine große Rolle spielen. Wichtig ist aber, glaube ich, dass wir einen Markt bekommen, der uns im Wettbewerb die Möglichkeit gibt, bezahlbare Preise für den deutschen Energiemarkt zu sichern. Ohne Kohle, ohne Kernenergie und ohne Gas – wenn man auch das nicht haben möchte – wird es ganz, ganz schwierig mit der Versorgung. Ich denke, wir müssen viel, viel stärker darauf setzen, dass die europäische Gasinfrastruktur weiter ausgebaut und modernisiert wird. ({2}) Denn wir müssen Gas an dieser Stelle ganz klar in einen Zukunftsmarkt einbetten. Jetzt kommt auch Kritik an der Bundesregierung; denn, wenn wir sagen, wir wollen keinen nationalen Alleingang, dann kann es nicht sein, dass man die europäischen Partner ein Stück weit außen vor lässt. ({3}) Es ist also versäumt worden, sich mit den europäischen Partnerländern entsprechend abzustimmen bzw. abzusprechen. Jetzt hat die Bundesregierung eine Chance. Die Wahlen in Dänemark haben stattgefunden. Man muss sich also mit der neuen Regierung in Dänemark abstimmen; denn gerade auf dem dänischen Sektor hakt es ja. Jetzt brauchen wir Einvernehmen mit den Kolleginnen und Kollegen in Dänemark, um dieses Thema nach vorn zu treiben. Die Einbindung des russischen Gases in den europäischen Energiemarkt ist also, wie gesagt, eine ganz, ganz wichtige Geschichte; denn Energiepolitik, meine Damen und Herren, ist auch ein großes Stück weit Geopolitik. Jetzt muss ich noch mal ganz kurz zurückspringen: Was bedeutet das für die Verbraucher, was bedeutet das für die Wirtschaft? Wir haben ein größeres Angebot; das sorgt dafür, dass es Wettbewerb gibt und Preise positiv beeinflusst werden. Wir wollen letztendlich Versorgungssicherheit – darüber ist ja mehrfach gesprochen worden –, und diese muss auch in Zukunft stabil sein. Mehr Versorgungssicherheit, meine Damen und Herren, sorgt aber gleichzeitig auch für mehr Stabilität und Akzeptanz, und das ist, glaube ich, ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Nicht nur die Wirtschaft profitiert also davon, sondern der Standort Deutschland insgesamt. Ich will noch mal mit einer Mär aufräumen: Nord Stream 2 ist kein politisches Druckmittel; ich glaube, diese Vorstellung muss man ein wenig von der Bildfläche verschwinden lassen. Denn wir brauchen diesen breiten Markt, und da – ich hatte es ja betont – spielt das russische Erdgas eine entsprechende Rolle. Bisherige Erfahrungen, meine Damen und Herren, belegen diese Zuverlässigkeit, von der ich gerade sprach, und natürlich auch eine gewisse Kontinuität. Selbst im Kalten Krieg – das kann man nachvollziehen – gab es diese Zuverlässigkeit, und es wurden immer auch zuverlässig Verträge bedient. Es besteht also ein großes Interesse daran, eine stabile Energieversorgung in Deutschland und in Europa hinzukriegen und in den europäischen Energiemarkt zu integrieren. Ich glaube, dann wird das eine oder andere Problem in Deutschland, das man hier und da vielleicht vermutet, verschwinden. Ich denke, wenn wir uns der politischen Bedeutung dieser Aufgabe bewusst sind, dann kann das, was auf dem europäischen und auf dem deutschen Energiemarkt notwendig ist, auch in Zukunft gelingen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Neumann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, wir brauchen Nord Stream 2. Aber was wir ganz sicher nicht brauchen, ist die AfD mit ihrer Nullkompetenz in Energiefragen. ({0}) Sie brauchen wir ganz gewiss nicht. Wer den menschengemachten Klimawandel leugnet, wer meint, dass wir weiterhin auf Kohlekraft und Atomkraft setzen müssen, der hat jegliche energiepolitische Glaubwürdigkeit verspielt und der sollte hier kleinere Brötchen backen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Ja, wir brauchen Erdgasimporte, weil in Deutschland die Förderung von Erdgas abnimmt, auch in Europa; zum Beispiel steigen auch die Niederlande aus der Erdgasförderung aus. Auch wir in Deutschland brauchen Erdgas, weil wir zu Recht bis spätestens 2038 aus der Kohle und bis 2022 aus der Atomenergie aussteigen wollen und an deren Stelle Gaskraft brauchen; denn die Gaskraftwerke sind der flexible Partner für die erneuerbaren Energien, sie sind die Brücke ins Erneuerbare-Energien-Zeitalter. Und deswegen brauchen wir auch Gas, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Gas ist auch ein Rohstoff, so für unsere chemische Industrie. Viele chemische Produkte, die in Deutschland hergestellt werden, werden aus Gas hergestellt. Gas ist somit ein wichtiger Grundstoff, und deswegen müssen wir darauf achten, dass wir hier eine ordentliche Gasversorgung haben. Aber – das sage ich auch ganz klar und deutlich –: Gas muss grüner werden. Die Infrastruktur, in die wir jetzt investieren, wird dazu führen, dass wir künftig zum Beispiel auch Wasserstoff via Nord Stream 2 liefern können. ({3}) Insofern ist diese Investition sinnvoll, meine sehr verehrten Damen und Herren. Nord Stream 2 ist ein europäisch-russisches Projekt. Ich erinnere daran, dass sich Unternehmen aus Russland, Frankreich, Deutschland, Holland an der Finanzierung beteiligen. Und auch das Gas, das über Nord Stream 2 kommt, wird in ganz Europa gebraucht, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Ja, selbst Osteuropa und die Ukraine können davon profitieren, indem wir über die sogenannte Schubumkehr das Gas wieder nach Osteuropa schicken. Auch vor diesem Hintergrund ist das eine sinnvolle Investition. Ich sage an dieser Stelle auch deutlich: Es gibt einen europäischen Konsens in dieser Frage. Ich erinnere, dass die Ausweitung der EU-Gasbinnenmarktrichtlinie von 27 der 28 Mitgliedstaaten am Ende des Tages unterzeichnet worden ist; alleine Manfred Weber will dagegen kämpfen. Ich sage Ihnen: Allein das ist ein Grund, warum er nicht EU-Kommissionspräsident werden soll. ({4}) Wir als Sozialdemokraten werden dafür verhandeln und dafür kämpfen, dass das Frans Timmermans wird. Das ist also ganz klar. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man sich Donald Trump anhört, meint man, er habe so große Sorge um die europäische Energiesicherheit, ({6}) er habe richtig Angst, dass hier das Licht ausgeht. Wer das glaubt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann, meine sehr verehrten Damen und Herren! Donald Trump geht es alleine darum, sein Fracking-Gas in den europäischen Markt zu drücken. ({7}) Das ist sein großes Anliegen, das er vorantreibt. Dabei bedient er sich aller Mittel, auch, indem er Sanktionsandrohungen äußert. Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Ich zitiere jetzt mal einen Wirtschaftsminister: Sanktionspolitik ist weder ein geeignetes noch ein angemessenes Instrument zur Beförderung nationaler Exportinteressen und der heimischen Energiebranche. Recht hatte dieser Wirtschaftsminister. Aber das war nicht der amtierende Wirtschaftsminister! Der ist in dieser Debatte abgetaucht. Das war Sigmar Gabriel, ein Sozialdemokrat, der hier Position bezogen hat. Ich würde mir wünschen, dass Herr Altmaier an dieser Stelle auch mal klare Worte Richtung USA schickt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({8}) – Ich muss ja einen wunden Punkt getroffen haben, ({9}) wenn Sie, liebe Kollegen von der Union, sich so ereifern. Klären Sie das mal mit Ihrem amtierenden Wirtschaftsminister, solange er noch Wirtschaftsminister ist. Aber ich sage auch: Ja, wir müssen zu Nord Stream 2 klare Bedingungen stellen – was wir auch getan haben. Es darf nicht sein, dass durch die Ukraine künftig sozusagen kein Gas mehr geleitet wird. Wir haben auch in der deutsch-europäischen Initiative herausgestellt, dass wir bereit sind, die Ukraine bei der Modernisierung ihres Gasnetzes zu unterstützen. Es liegt auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, die Ukraine dort als Partner zu sehen. Ich möchte aber an dieser Stelle noch etwas deutlich machen: Es ist, glaube ich, keine drei Wochen her, dass hier in Berlin ein großes russisches Gassymposium stattfand. Da gab es von Gazprom die Äußerung, wir sollten doch mal über Nord Stream 3 nachdenken. Ich sage Ihnen für die SPD-Bundestagsfraktion ganz klar und deutlich: Das brauchen wir nicht. Wir sind, glaube ich, dann mit Gas gut versorgt. Insofern können wir hier eine glasklare Absage in Richtung Russland und in Richtung Gazprom senden: Nord Stream 3 brauchen wir nicht, aber hinter Nord Stream 2 stehen wir. In diesem Sinne: Glück auf! Alles Gute! Ich danke Ihnen. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Timon Gremmels. – Nächster Redner: Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist eine sehr interessante Aktuelle Stunde, die ja den Titel „Souveränität in der Energieversorgung sichern – Sanktionspolitik bei Nord Stream 2 entgegentreten“ trägt. Herr Gauland, wenn Sie als AfD diesen Titel für die von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde wählen, dann müssen Sie auch etwas zur Sanktionspolitik Ihres Freundes Donald Trump sagen. ({0}) Er ist doch Ihr Vorbild des Rechtspopulismus. Es sind doch Ihre Leute, die gerade Sanktionspolitik androhen. Sagen Sie doch mal, was Donald Trump macht. ({1}) – Nein, Sie haben gar nichts gesagt. ({2}) Sie haben im Prinzip irgendwas dahergeredet, aber Sie haben nicht gesagt, dass die Sanktionspolitik von Donald Trump ausgeht. ({3}) Dem muss entgegengetreten werden. Da hat die AfD aber in dieser Aktuellen Stunde vollkommen versagt. ({4}) Herr Gremmels, es ist richtig, dass sich da einige wegducken; auch der Wirtschaftsminister duckt sich weg. Das Problem ist: Die Bundesregierung duckt sich komplett weg. ({5}) Auch Außenminister Heiko Maas aus Ihrer Partei wird jede Woche vom US-Botschafter vorgeführt. Wo ist denn der Außenminister, wenn es darum geht, dass wir eine souveräne Energiepolitik machen, dass wir eine souveräne Außenpolitik machen, bei der es um die Interessen von Deutschland und Europa und nicht um die Interessen von Amerika und um deren Fracking-Gas geht? ({6}) Auch der Außenminister Heiko Maas taucht völlig ab. ({7}) Und um die Sache auf den Gipfel zu treiben: Vor anderthalb Stunden hatten wir eine Sitzung des Europaausschusses mit der Kanzlerin. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Fernsehzuschauer und liebe Interessierte aus der Industrie, ich habe die Kanzlerin zweimal gefragt: Was ist die Antwort der deutschen Bundesregierung auf die Sanktionsandrohungen der USA? – Zweimalige Antwort war: Das ist das Problem der Wirtschaft. Sie muss sich entscheiden, ob sie in Zukunft Geschäfte mit Amerika oder mit Russland oder mit wem auch immer machen will. – Eine deutsche Politik, die sich von den USA bedrohen lässt und keinerlei Antworten darauf findet, versagt auf ganzer Linie. Man kann da nicht mehr von einer souveränen und eigenständigen Politik reden. ({8}) Herr Pfeiffer, auch Sie haben sich hier jetzt für Nord Stream 2 ausgesprochen. Sagen Sie doch mal etwas zu dem, was in Amerika passiert! Wenn Trump erfolgreich ist, brauchen wir uns nicht mehr über Eigenständigkeit unterhalten. ({9}) Dann sind wir nur noch der Hinterhof amerikanischer Interessen. Wir als Linke lehnen dieses Duckmäusertum der deutschen Bundesregierung entschieden ab. ({10}) Ja, ich gebe einigen Vorrednern recht: Manfred Weber ist leider wegen dieses Themas völlig ungeeignet, EU-Kommissionspräsident zu werden. ({11}) Im Februar gab es eine Einigung auf europäischer Ebene über die Änderung der Gasrichtlinie. Frankreich hatte einen Vorstoß gemacht, und zum Glück ist in der letzten Minute eine Einigung gelungen. Dass man dann im Wahlkampf, um irgendwelche polnischen Stimmen zu bekommen, ({12}) diesen Kompromiss infrage stellt und damit der deutschen Bundesregierung in den Rücken fällt und der übergroßen Mehrheit in diesem Haus entgegentritt, ist doch allein schon Beweis dafür, dass Manfred Weber schon mit seiner heutigen Funktion völlig überfordert ist. ({13}) Wenn man sich die geopolitischen Strategien einmal anschaut, stellt man fest: Donald Trump geht es nicht um Geopolitik. In erster Linie geht es ihm um Fracking-Gas. Liebe Grüne, Sie lehnen Nord Stream 2 ja ab, aber Sie müssen schon wissen, dass wir Gas wahrscheinlich schon als Brückentechnologie brauchen. Das Fracking-Gas aus den USA ist viel umweltschädlicher und viel teurer als das Gas, das aus Russland kommt. Deshalb müssen Sie da Ihre Rolle finden. Sie dürfen nicht indirekt Befürworter von Fracking-Gas sein. Deshalb müssen Sie da Ihre Position überdenken. ({14}) Eines ist auch klar: Nehmen wir an, es wäre eine geopolitische Strategie von Trump. Der Grundgedanke der Europäischen Union ist doch eigentlich, dass, wenn Länder miteinander wirtschaften, die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese kriegerisch gegenüberstehen, verringert wird. Allein aus diesem Grund sollten wir ein Interesse daran haben, gute wirtschaftliche Beziehungen zu Russland zu haben. Gerade deshalb müssten wir sagen: Wir stehen hinter Nord Stream 2. Wir wollen auch die anderen Sanktionen abbauen. Wir wollen mit Russland partnerschaftlich zusammenarbeiten und nicht der verlängerte Arm des kalten Kriegers Donald Trump sein. ({15}) Abschließend möchte ich sagen: Ich glaube, wir sind an einem neuen Tiefpunkt der deutsch-amerikanischen Beziehungen angekommen; denn das, was da wöchentlich passiert, hat nichts mehr ({16}) mit einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu tun. ({17}) Ein US-Botschafter führt uns wöchentlich vor, und die Bundesregierung findet keine Antwort. In den letzten Wochen hat der US-Kongress wieder mal Beschlüsse gefasst, und es gibt keine Antwort der Bundesregierung. Man schickt unsere deutsche Botschafterin in Washington vor. Sie schreibt mal einen Brief und wird dann dafür kritisiert. Es kommt aber keine Antwort der deutschen Bundesregierung. All das zeigt, dass die Partnerschaft mit Amerika keine Partnerschaft auf Augenhöhe mehr ist. Ein amerikanischer Präsident, der unsere Souveränität nicht achtet, der entscheiden will, wie die deutsche Politik funktioniert, dem sollten wir entgegentreten und zum Beispiel sagen, er solle die US-amerikanischen Soldaten aus Deutschland abziehen, er solle die Atomwaffen aus Deutschland abziehen. Wir wollen nicht von Amerika bestimmt werden. Der Deutsche Bundestag hält das Heft des Handelns in den Händen, aber nicht der amerikanische Präsident. Vielen Dank. ({18})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Jürgen Trittin. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unilateralismus, Nationalismus – all dies ist Gift für die internationalen Beziehungen, für die Weltwirtschaft und letztendlich für den Weltfrieden. Dazu zählen auch unilaterale Sanktionen, die Bedrohung deutscher Unternehmen mit Sekundärsanktionen, Erpresserbriefe aus Botschaften und Ähnliches. In der Tat muss man von der Bundesregierung erwarten, dass sie endlich etwas tut und nicht nur davon redet, um unsere europäischen und deutschen Unternehmen vor so etwas zu beschützen. Herr Altmaier muss aus seinem Phlegma raus, und Frau Merkel muss aufhören, sich dem Handeln zu verweigern. ({0}) Aber über Sie, Herr Gauland, muss ich mich dann doch wundern. Als Richard Grenell seinen Job hier antrat, konnten alle sehen, wie die AfD-Abgeordneten auf dem Tempelhofer Feld Schlange gestanden haben, um ein Selfie mit diesem Steve Bannon der US-Diplomatie zu bekommen. ({1}) – Bevor Sie sagen: „Das stimmt alles nicht“, will ich noch aus dem Glückwunschtelegramm des Kollegen Gauland zur Amtseinführung von Herrn Trump zitieren. Darin sprach er davon, dass es sich bei ihm und Herrn Trump um „natürliche Verbündete“ handele. ({2}) Jetzt stellen Sie sich hierhin und beklagen US-amerikanische Einmischung, allen voran von Donald Trump. ({3}) Ja, es stimmt: Richard Grenell betreibt Brachialmarketing für Fracking-Gas. Übrigens, lieber Kollege Pfeiffer: Fracking-Gas hat keine bessere CO 2 -Bilanz als Steinkohle. Es hat genau die gleiche, und es ist keine Übergangstechnologie. ({4}) Darauf zu setzen, hieße, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Aber wenn wir hier mit America First in der Energiepolitik konfrontiert sind, dann dürften Sie doch zuletzt überrascht sein. Das ist doch genau das, was Sie wollen: ({5}) das Recht des Stärkeren anstelle der Stärke des Rechts. ({6}) Das ist doch das, was Bannon und Bolton, die Sie sonst beklatschen, jeden Tag predigen. Jetzt wird es angewandt, und jetzt fangen Sie an, zu jaulen. Sie sollten mal selber sehen, was passiert, wenn Nationalisten das umsetzen, was Sie ankündigen. ({7}) Wenn Sie sich jetzt hierhinstellen und sagen, Sie verteidigen deutsche Interessen, um die Souveränität in der Energieversorgung zu sichern, dann muss ich sagen: Die hängt nicht an Nord Stream 2. Nord Stream 2 ist wie viele andere fossile Projekte keine Übergangstechnologie, sondern nichts anderes als eine Wette gegen die europäischen Klimaschutzziele, eine Wette gegen das Pariser Abkommen – nichts anderes. ({8}) Liebe Freundinnen und Freunde von der SPD, nur wenn wir bis 2030 den Verbrauch von Öl, Gas und Kohle, von fossiler Energie, um 30 Prozent reduzieren – reduzieren, absolute Reduktion –, werden wir die Pariser Ziele erreichen. Das müssten Sie wissen, Herr Gremmels. Wir werden bis 2050 sicherzustellen haben, dass vier Fünftel, 80 Prozent, der heute bekannten Vorräte an Kohle, Öl und Gas unter der Erde bleiben, sonst werden wir dieses Ziel nicht erreichen. ({9}) Sie können sich jeden Freitag bei den Profis darüber kundig machen, wenn Sie wollen. ({10}) Zum Mitschreiben, liebe Kollegen von der AfD: ({11}) Energieversorgungssicherheit gibt es nicht national. Wissen Sie eigentlich, dass 70 Prozent unserer Primärenergieträger importiert werden? 90 Prozent der Steinkohle kommen aus dem Ausland, 90 Prozent des Öls, 90  Prozent des Gases. Und jetzt für alle, die gerne von Laufzeitverlängerung träumen: 100 Prozent des Urans müssen importiert werden. Darauf kann man keine Energieversorgungssicherheit aufbauen. ({12}) Wie also verstärkt man seine Energiesouveränität? Wie sorgt man für Energieversorgungssicherheit? ({13}) Indem man die heimischen Energien stärkt. Und was sind die heimischen Energien, die wir haben? Was wuchs, bis die Große Koalition einen Deckel draufgemacht hat? Erneuerbare Energien. ({14}) Ich sage Ihnen eines, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Wer demonstriert denn zusammen mit Gegenwind gegen jedes neue Windrad? Das heißt doch nichts anderes als: Sie leugnen nicht nur den Klimawandel, Sie sind nicht nur gegen das EEG, sondern Sie untergraben auch täglich unsere Energiesouveränität, indem Sie unsere Importabhängigkeit in die Höhe treiben. ({15}) Deswegen nehme ich das Ihnen nicht ab mit den deutschen Interessen. ({16}) Ich will Ihnen auch sagen, warum ich Ihnen das nicht wirklich abnehme: ({17}) Eine Partei, deren Abgeordnete meinen, sie müssten Wahlkreisbüros in Russland aufmachen, ({18}) eine Partei, die entgegen völkerrechtlichen Vereinbarungen mit Diplomatenpässen auf die Krim reist und das anschließend als Privatreisen ausgibt, eine Partei, die einen Abgeordneten wie Herrn Frohnmaier in ihren Reihen hat, der in Russland offen als Einflussagent geführt wird, ({19}) eine solche Partei handelt nicht im deutschen Interesse. Das sind keine Patrioten, das sind vaterlandslose Gesellen. ({20})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Hilse, ich will Ihnen etwas sagen: Der Vergleich des Deutschen Bundestages mit dem Sportpalast ist historisch und politisch und moralisch verwerflich. ({0}) Nächster Redner: Mark Helfrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eins können wir heute festhalten: Ich glaube, dass Nord Stream 2 zumindest als Lebenselixier für Jürgen Trittin gut ist. Ich will es jetzt gerne wieder ein bisschen ruhiger und sachlicher werden lassen. ({0}): Ach nein!) Bei Hamlet heißt es: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.“ Bei Nord Stream 2 schwingt immer die Frage mit: Gutes Erdgas oder schlechtes Erdgas? Lassen Sie mich darauf eine Antwort geben: In Deutschland ist der Atomausstieg beschlossene Sache. Auch der Ausstieg aus der Kohleverstromung ist mit dem Kohlekompromiss vorgezeichnet, und die dadurch entstehenden Versorgungslücken werden wir nicht so schnell durch erneuerbare Energien ausfüllen können. Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ empfiehlt daher im Hinblick auf den Kohleausstieg einen beschleunigten Ausbau von Gaskraftwerken. Deshalb brauchen wir mittelfristig Erdgas als alternative Energiequelle. Langfristig müssen wir dieses durch synthetisches Gas aus erneuerbaren Quellen ersetzen. Derzeit erleben wir, dass die Gasproduktion in Deutschland stark rückläufig ist. Deutschland ist der weltgrößte Erdgasimporteur und auch einer der größten Gasverbraucher der Welt. Mit dem Abschalten der Kohlekraftwerke wird unser Gasbedarf weiter ansteigen. Aber nicht nur nach Deutschland, sondern auch in die Europäische Union werden in Zukunft mehr Gasimporte stattfinden; denn auch die niederländische und die britische Gasförderung sind stark rückläufig. Zudem ist der Kohleausstieg keine deutsche Erfindung, sondern wird auch in anderen europäischen Ländern stattfinden. Das bedeutet: Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir unsere Energieversorgung zukünftig sichern wollen. ({1}) Mithilfe von Nord Stream 2 sollen jedes Jahr 55 Milliarden Kubikmeter russisches Gas nach Deutschland geliefert werden. Das wären etwa 40 Prozent des europäischen Mehrbedarfes an Gas. Von Deutschland aus würde dieses Gas dann an viele europäische Nachbarländer weitergeleitet. Insofern ist Nord Stream 2 ein wichtiger Baustein für die Lösung des europäischen Energieproblems. Aber – es ist wichtig, das an dieser Stelle zu sagen – um die Energiesouveränität zu sichern, setzen Deutschland und Europa richtigerweise auf Diversifizierung; denn nur diese führt zu einer kostengünstigen und zuverlässigen Erdgasversorgung und ist elementar für Energiesicherheit in Europa. Deshalb brauchen wir Pipelinegas aus Aserbaidschan genauso wie die Versorgung mit LNG, das per Schiff zu uns kommt. Das sollten wir in unser Versorgungsportfolio aufnehmen. Knapp 10 Prozent der europäischen Gasimporte entfallen derzeit auf Flüssigerdgas, Tendenz steigend. Daher müssen wir in die europäische Terminalinfrastruktur investieren, auch und vor allem in Deutschland. Als Schleswig-Holsteiner darf ich sagen: Ich wünsche mir sehr, dass ein LNG-Terminal in Brunsbüttel realisiert wird. Mit eigenen LNG-Terminals hat Deutschland noch mehr Flexibilität beim Gasbezug und ein Plus an Versorgungssicherheit. Auch wenn es nicht das Hauptthema dieser Debatte sein soll, lassen Sie mich noch ein paar Aspekte zum Thema LNG sagen. Im Transportbereich führt der Einsatz von LNG als Kraftstoff für Lkws und Schiffe zu einer starken Reduktion der Luftverschmutzung; denn es entstehen keine Schwefeldioxidemissionen, 80 Prozent weniger Stickoxide, so gut wie kein Feinstaub und 20 Prozent weniger CO 2 -Emissionen. Zu guter Letzt: Aus LNG wird mittelfristig LRG, Liquefied Renewable Gas. Wir reden hier also nicht über eine fossile Brückentechnologie, die am Ende sozusagen ins Nichts führen würde. Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema der Aktuellen Stunde. Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Hinblick auf die amerikanischen Sanktionsandrohungen muss eines ganz deutlich gesagt werden: Fragen der europäischen Energiepolitik werden in Europa und nicht in den USA entschieden. ({2}) Das Damoklesschwert von Sanktionen wird von den Amerikanern immer mal wieder hingehängt, um geopolitische Interessen durchzusetzen, nicht nur bei Nord Stream 2, sondern aktuell auch bei den Themen Iran oder Huawei. Das macht deutlich: Europa und die EU dürfen sich in Anbetracht solcher Drohgebärden nicht auseinanderdividieren lassen. Der EU-Kompromiss vom Februar dieses Jahres kann deshalb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das zeigt im Übrigen auch, wie sehr wir ein Interesse an verbesserten partnerschaftlichen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten haben müssen; denn die jetzige Situation können wir keinesfalls gutheißen. Am Ende möchte ich eines sagen: Es kann dazu kommen, dass die angedrohten Strafmaßnahmen der USA notgedrungen zum Ausstieg beteiligter Unternehmen führen. Aber diese Maßnahmen werden nicht dazu führen, dass das Projekt scheitert. Russland würde mit Sicherheit alle Anstrengungen unternehmen, Nord Stream 2 allein fertigzustellen. Da es Ihnen, liebe Kollegen von der AfD, wirklich nicht um die beteiligten Unternehmen geht und auch nicht um die deutsche oder europäische Energiesouveränität, sondern ausschließlich um Russland, sage ich Ihnen: Machen Sie sich keine Sorgen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mark Helfrich. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Steffen Kotré. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Vorredner, Herr Helfrich, hat da etwas falsch verstanden. Die AfD macht Politik für Deutschland. ({0}) Es liegt im deutschen Interesse, wenn es sinnvolle Projekte mit Russland gibt. Das hat überhaupt nichts mit der russischen Politik zu tun. ({1}) Das will ich an dieser Stelle noch einmal klarstellen. Die Aktuelle Stunde, die wir beantragt haben, erfreut mich insoweit, als wir von der AfD die Erkenntnis mitnehmen, dass fast alle im Haus am gleichen Strang ziehen, nämlich Nord Stream 2 zu ermöglichen. ({2}) Herr Trittin, korrigieren Sie mich bitte, wenn ich Sie falsch verstanden habe. Ich habe Sie so verstanden, dass die Grünen Nord Stream 2 am liebsten beerdigen würden. Trotzdem freut es uns, dass wir die Aktuelle Stunde haben, damit noch einmal klargestellt wird, dass es hier im Hohen Hause nahezu Konsens ist, dass wir Nord Stream 2 unterstützen, allerdings – jetzt kommen wir zum Einwand von Herrn Ulrich – bitte nicht so ungeduldig sein. Mein Redepart zielt darauf ab, dass wir den rosaroten Elefanten benennen, der hier im Raum steht. Wenn dem so ist, wie wir heute festgestellt haben, dass Nord Stream 2 sehr, sehr wichtig ist für unsere Energieversorgung und es einige Vertreter der USA gibt, die versuchen, das zu torpedieren, dann muss doch die Bundesregierung sofort aufschreien und sagen: Nein, so geht es nicht. – Die Bundesregierung muss doch Herrn Grenell klarmachen: Nein, so geht es nicht. – Dann muss man dem Herrn sagen, dass man ihm, wenn er so weiter artikuliert, die Koffer vor die Tür setzt. Ganz klare Kante. Die Bundesregierung ist hier in der Pflicht, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden ({3}) und natürlich auch Schaden von Europa. Wenn europäische oder deutsche Unternehmen bedroht werden, dann muss sich die Bundesregierung doch sofort davorstellen; denn die USA machen sogar exterritoriale Gesetze. Das erinnert ganz stark an Kanonenbootpolitik, das heißt, sie wollen Handel mit gezogener Waffe führen, indem sie uns hier etwas mit juristischen Mitteln aufzwingen wollen – exterritorial, wie gesagt. Das funktioniert nicht. Noch etwas zur Argumentation. Es werden immer zwei Argumente in den Raum gestellt. Das eine Argument ist: Gastransit durch die Ukraine muss erhalten bleiben. – Der bleibt ja erhalten. Merkel und Putin haben sich so verständigt. Dann gibt es das andere Argument: Wir würden abhängig werden vom russischen Erdgas. – Na ja, das ist doch lächerlich. Wir bekommen einige Kubikmeter mehr Erdgas, aber umgekehrt wird doch ein Schuh daraus: Die Russen sind doch abhängiger mit Blick auf die Finanzierung ihres Haushalts. Schauen Sie bitte einmal in den Staatshaushalt von Russland. Ich glaube, 40 Prozent – das ist die Marke – nimmt Russland mit Rohstoffverkäufen ein. Da macht sich doch eher Russland von uns abhängig und nicht wir von Russland. Also zieht dieses Argument nicht. ({4}) Dieses Argument ist einfach nur ein Scheinargument. Wir wissen alle, was dahintersteckt. Die USA wollen einfach nur ihren Handel durchdrücken. Die USA wollen einfach ihre Wirtschaft ankurbeln mithilfe ihres dreckigen und noch dazu überteuerten Fracking-Gases. Nichts anderes steckt dahinter. Das ist eigentlich relativ durchsichtig. Da sagen wir: Nein, das wollen wir so nicht. – Wir fordern die Bundesregierung auf, dem entgegenzutreten. Man könnte hier durchaus ein sprachliches Bild anwenden, dass sich die US-Amerikaner wie marktwirtschaftliche Neandertaler verhalten, die lieber die Keule schwingen, als sich in den Wettbewerb zu begeben. Auch das lehnen wir ab. ({5}) Nun hat sich die Bundesregierung gesagt: Na gut, dann kommen wir den US-Amerikanern ein bisschen entgegen. – Jawohl, in Europa darf jetzt mehr Flüssiggas aus den USA importiert werden. Das soll so sein. Die Kontingente werden vervielfacht. Die Bundesregierung hat zugestimmt. Wir unterstützen den Bau von Flüssiggasterminals. Letztendlich hat sich die Bundesregierung sogar in erbärmlicher Art und Weise von ihrer eigenen Rechtsauffassung wegbegeben, dass dieses Projekt ein multinationales Projekt von europäischen Staaten ist, aber die EU nichts angeht. So stand im Gutachten des EU-Rates, dem sich die Bundesregierung vollumfänglich angeschlossen hat: Die EU verfügt in diesem Zusammenhang über keine Kompetenzen in den Ausschließlichen Wirtschaftszonen der Mitgliedstaaten. – Das war noch Stand vor einem halben Jahr. Plötzlich knickt die Bundesregierung ein. Das ist erbärmlich. ({6}) Hier sieht man, dass die Bundesregierung die deutschen Interessen und auch die europäischen Interessen nicht mehr grundsätzlich wahrnimmt. Ich fordere die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung auf, hier ein klares Bekenntnis zu abzugeben und eine klare Kante gegenüber den Amerikanern zu fahren. Stehen Sie zu diesem Projekt. Stehen Sie zu Ihrem Amtseid: zum Wohle des deutschen Volkes handeln. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Steffen Kotré. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Johann Saathoff. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es in dieser Aktuellen Stunde um die Souveränität der Energieversorgung. Ich finde, das ist ein gutes Stichwort: Souveränität der Energieversorgung. Denn: Watt du sülmst kloar fiedelst, musst du neet annern tomoden. – Also, man muss anderen nicht zumuten, was man selbst machen kann. Souveränität ist wichtig. Wir wollen uns grundsätzlich nichts aufoktroyieren lassen, sondern unsere Geschicke selbst entscheiden. Aber Herr Kotré, bevor Sie glauben, dass jetzt zu viel Einigung in Ihre Richtung unterwegs ist: Wir kommen nur zufällig zum gleichen Ergebnis. Wir haben völlig unterschiedliche Beweggründe, zu diesem Ergebnis zu kommen. ({0}) Sie glauben nämlich, man könne so tun, als seien wir in der Energieversorgung schon unabhängig. Das ist definitiv nicht der Fall. Sie von der rechten Seite des Parlaments versuchen es mit Stein- und Braunkohle. Steinkohle aus Deutschland ist schon seit Jahrzehnten gegenüber ausländischen Quellen nicht wettbewerbsfähig und wird zu 100 Prozent aus dem Ausland importiert. Braunkohle hat Auswirkungen auf ganze Landschaften, und der CO 2 -Ausstoss ist enorm. Sie versuchen, mit der Atomenergie deutsche Unabhängigkeit zu simulieren, aber Sie beachten dabei nicht, dass Uran zu 100 Prozent aus dem Ausland bezogen werden muss. Wir könnten in Deutschland tatsächlich mehr Erdgas fördern. Wird aber wohl nicht reichen, denke ich. Die einzigen Energieträger, die in Deutschland kostenlos und unendlich zur Verfügung stehen – das ist die bittere Wahrheit für Sie, meine Damen und Herren von der AfD –, sind Sonne und Wind. ({1}) Darauf setzen wir als SPD-Fraktion. Übrigens setzt die SPD-Fraktion nicht erst seit letzter Zeit darauf, sondern schon seit Jahrzehnten. Ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es Hermann Scheer war, der sich dafür eingesetzt hat und das Stromeinspeisungsgesetz eingebracht hat, mit dem alles begann. Erfunden und umgesetzt von der SPD. ({2}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die letzten Wahlen haben uns gezeigt, dass der Anteil der Menschen, für die Klimaschutz wichtig ist, in ganz Deutschland definitiv größer ist als aktuell hier im Deutschen Bundestag. Wir werden Erdgas sicher brauchen auf dem Weg zu den Erneuerbaren, die die Menschen in Deutschland wollen. Selbstverständlich soll dieses Erdgas auch zunehmend grün werden, aber das dauert noch etwas. Wir sind eben nicht unabhängig; denn nur mit Erdgas aus der Krummhörn zum Beispiel werden wir die Republik nicht versorgen können. Weil das so ist, sind Kooperationen dringend notwendig. Wir brauchen verlässliche Partner, und wir müssen uns breit aufstellen und unsere Versorgung mit Erdgas diversifizieren, ({3}) gerade auch, weil klar ist, dass zum Beispiel die Erdgasquellen aus den Niederlanden schnell versiegen werden. Genau dafür ist auch Nord Stream 2 notwendig, und zwar für ganz Europa und nicht lediglich für Deutschland, wie Sie sich das wünschen würden. ({4}) Russland, liebe Kolleginnen und Kollegen, war bei der Gasversorgung immer ein verlässlicher Partner. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass das auch in Zukunft so ist. Durch die Kooperation mit Russland hat Deutschland auch immer eine Kommunikation gehabt, einen Kommunikationsfaden, der außenpolitisch so wichtig ist in dieser unsicheren Welt. ({5}) Das mag dem einen oder anderen unpopulär erscheinen. Das mag auch unpopulär sein, aber auch und gerade in diesen schwierigen Zeiten sollte man den Dialog suchen und nicht die Konfrontation. Das gilt für Russland genauso wie für andere Länder, mit denen wir im Moment in schwierigen Verhandlungen stehen. Nur mit Dialog, der gesucht wird – auch aktiv von uns –, können wir ökologische Standards bei der Frage der russischen Gasförderung ansprechen; denn wir haben durchaus auch ökologische Themen, beispielsweise was den Methanschlupf angeht. Zur Diversifizierung gehört genauso ein LNG-Terminal. Wenn wir also über Souveränität in der Energieversorgung reden, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann kann man sagen: Ein LNG-Terminal in Wilhelmshaven ist eine souveräne Entscheidung Deutschlands für die Versorgungssicherheit. Auch beim Import von LNG gibt es natürlich ökologische Herausforderungen in Bezug auf die Herkunftsquellen zu besprechen; das haben wir gerade gehört. Ich höre immer wieder, dass Kolleginnen und Kollegen sagen, LNG sei automatisch gefracktes Gas aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist definitiv nicht der Fall. ({6}) LNG kann von überall aus der Welt kommen, und LNG wird sicher in der weiteren Zukunft gebraucht werden, um den Weg hin zu 90 bis – von mir aus am allerliebsten – 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2050 zu bereiten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johann Saathoff. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Karl Holmeier. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Souveränität der deutschen Energieversorgung ist gesichert, und sie wird auch in Zukunft gesichert sein. Sie war nie in Gefahr. Dafür hat die CDU/CSU mit ihrer Energiepolitik gesorgt. ({0}) Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, um genau das sicherzustellen. ({1}) Wir stehen zu unseren Zielen in der Klima- und Energiepolitik. Wir setzen die Energiewende um. ({2}) Des Weiteren werden wir es schaffen, den Kohleausstieg bis 2038 auf den Weg zu bringen. Die Bundesregierung wird die Empfehlungen der Kohlekommission umsetzen. ({3}) Wir wollen die CO 2 -Emissionen senken. Das heißt aber auch: Wenn wir Kohle- und Atomkraftwerke vom Netz nehmen, müssen wir die entstehenden Lücken in der Energieversorgung schließen. ({4}) Wir müssen und werden die Versorgungssicherheit gewährleisten. Dafür müssen wir in Zukunft neben dem verstärkten Ausbau der erneuerbaren Energien mehr auf den Energieträger Gas setzen. Der Ausstieg aus der Kohle- und Atomkraft lässt uns gar keine andere Wahl, als die Kapazitäten für den Gasimport zu erhöhen. Derzeit beziehen wir rund 40 Prozent unseres Erdgases aus Russland, rund 31 Prozent aus Norwegen und rund 25 Prozent aus den Niederlanden. Aber: Sowohl unsere einheimische als auch die niederländische Erdgasförderung werden zurückgehen. Gleichzeitig aber steigt der Gasbedarf Europas kontinuierlich an. Es zeichnen sich Versorgungslücken ab. Diese Lücken müssen wir kompensieren, um die Versorgungssicherheit weiterhin gewährleisten zu können. Deshalb ist der Bau von Nord Stream 2 richtig; denn er eröffnet uns eine neue Versorgungsroute für den so dringend benötigten Rohstoff Erdgas. Ohne Nord Stream 2 wird aufgrund des fehlenden Wettbewerbs der Preis für Gas sicherlich auch steigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Nord Stream 2 ist eine Maßnahme, um die Energiesicherheit Deutschlands in Zukunft gewährleisten zu können. Aber Nord Stream 2 ist nur eine Maßnahme von vielen. Wir wollen keine einseitige Abhängigkeit, weder von einem Energielieferanten noch von einer Energiequelle. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag unter anderem – es wurde gerade schon angesprochen – den Ausbau der LNG-Infrastruktur in Deutschland festgeschrieben. Wir wollen damit mehr Transportwege für Erdgas nach Deutschland öffnen. Wir fördern hierzu die Nutzung alternativer Kraftstoffe und den Aufbau einer entsprechenden Tank- und Ladeinfrastruktur ab 2021 zusätzlich mit 16 Millionen Euro. Gerade im Lkw-Bereich haben wir bei den LNG-Fahrzeugen zum Beispiel durch eine Mautbefreiung für zwei Jahre zusätzlich einen Anschub gegeben. Die Vielfältigkeit der Erdgasversorgung, sei es durch die LNG-Infrastruktur oder durch Nord Stream 2 und andere bestehende Erdgasleitungen, sichert für die nähere Zukunft die zuverlässige Energieversorgung in Europa und Deutschland. Erdgas ist aber auch für das Erreichen unserer Klimaziele von entscheidender Bedeutung. Strom aus Gas bedeutet in der Praxis 50 Prozent weniger CO 2 als bei der Nutzung von Kohle. Erdgas ist für uns daher ein wichtiger Energieträger der näheren Zukunft. Langfristig sichern wir durch den Ausbau der erneuerbaren Energien unsere Energieversorgung. Der Anteil von Gas an der Stromversorgung und vor allem der Anteil von erneuerbaren Energien werden kontinuierlich steigen. ({5}) – Manfred Weber ist ein guter Mann. ({6}) Auf diesem Wege erreichen wir unsere Klimaziele – ohne Versorgungslücken und ohne Abhängigkeiten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die USA wollen den Ausbau von Nord Stream 2 stoppen. Präsident Trump hat das in den letzten Monaten immer wieder bekräftigt und Nord Stream 2 stark kritisiert. Die USA befürchten eine Abhängigkeit Deutschlands und Europas von russischem Gas. Richtig ist aber: Russland ist ein wichtiger Energielieferant für Deutschland und Europa. Russland ist aber auch nur ein Lieferant von vielen. Drohungen, wie sie derzeit aus den USA zu vernehmen sind, verschlechtern leider nur das Klima in der deutsch-amerikanischen Freundschaft und Zusammenarbeit. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, um die Klimaziele zu erreichen wird Erdgas in den nächsten Jahren eine höhere Bedeutung gewinnen. Deshalb ist es richtig, dass die Leitung Nord Stream 2 gebaut wird. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl Holmeier. – Nächste Rednerin: Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! In Sachen Energiepolitik ist Deutschland ein überaus mutiges Land. Nicht nur, dass wir den Ausstieg aus der Kern- bzw. Atomenergie vollziehen; wir trennen uns auch sukzessive von der Kohleenergie. Sie sehen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Gäste: Die Bundesregierung nimmt das Thema Klimaschutz seit Langem sehr ernst. ({0}) Als Hochverbraucherland müssen wir aber sicherstellen, dass unser Energiebedarf gedeckt bleibt. Bis dahin nutzen wir Brückentechnologien wie die Versorgung mit Erdgas, ja, und erneuerbare Energien, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Können wir die Versorgung allerdings nicht sicherstellen, wird Deutschland einen erheblichen Schaden erleiden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das Projekt Nord Stream 2 ist daher wesentlicher Bestandteil dieser Versorgung. Und es ist doch überaus wünschenswert, dass es auf diesem Anbietermarkt Wettbewerb gibt. Lassen Sie mich eine Information geben: Die USA haben unseren Energiebedarf tatsächlich erkannt und würden uns gerne mehr von ihrem Flüssiggas anbieten. Allerdings: Bei der Verarbeitung und Umwandlung von Flüssiggas in den gasförmigen Zustand – ich weiß nicht, wo die Chemikerinnen und Chemiker unter Ihnen sitzen – entsteht zusätzliches CO 2 . Wollen wir das? Wir kennen die Bedenken der Ukraine, der baltischen Staaten und auch Polens, ja, und auch der Vereinigten Staaten. Es bleibt dabei: Weder in Moskau noch in Washington, lieber Herr Gauland, werden unsere energiepolitischen Perspektiven diskutiert. Hier werden die Entscheidungen gefällt; seien Sie sicher. ({1}) Das hat auch unser Außenminister, lieber Herr Ulrich, schon längst klargemacht; Sie sollten ihm vielleicht besser mal zuhören. Es mag berechtigte Kritik an Nord Stream 2 geben; aber lassen Sie uns doch mal das ganze Bild aufmachen. Hier gibt es eine Konkurrenzlandschaft, die es zu beschreiben gilt. Wenn der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo dazu aufruft, eine von Russland unabhängige Energiebasis zu entwickeln, verfolgt er doch nicht wirklich eine europäische Kohäsionspolitik. Seien wir doch mal ehrlich: Es geht um Eigeninteressen. Nichts anderes hat er doch auch im Sinn, wenn er die Antwort offen lässt, wie jüngst in einem RTL-Interview, ob niederländische Unternehmen wegen ihrer Beteiligung an Nord Stream 2 sanktioniert werden oder eben nicht. Im Übrigen: Vor rund sechs Wochen hat der US-amerikanische Energieminister Rick Perry in Brüssel für den Kauf von Flüssiggas geworben. Als Partner für die Energieversorgung, so sagte er, seien die USA ein verlässlicherer Partner als Russland. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. ({2}) Polen hat ein vitales Interesse, eigenen Projekten den Vorzug zu geben. Denn mit der beschlossenen Baltic Pipe, die norwegisches Gas bis nach Südosteuropa transportieren soll, würde Polen tatsächlich zum Verteilerland werden. Mit Nord Stream 2 – auch das gehört zur Wahrheit dazu – bliebe dies allerdings ein frommer Wunsch. Und in der Ukraine – um das Bild zu komplettieren – bezeichnet Naftogaz die Pipeline Nord Stream 2 als „räuberische Investition“. Sie sehen, die Tonalität ist in der Tat sehr rau. Die Ukraine moniert, durch Nord Stream 2 umgangen zu werden. Doch dies ist nur ein ganz kleiner Teil der großen Wahrheit. Die Ukraine wird auch im Süden, durch weitere Pipelines durch das Schwarze Meer, umgangen. Auch das türkische Pipelineprojekt Turk Stream wird die Ukraine weiterhin unter Druck setzen. Nord Stream 2 allein ist nicht die wegbrechende Transiteinnahme für die Ukraine. Was Kiew allerdings tatsächlich im Moment braucht, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist eine ernsthafte Fortsetzung der Minsker Verhandlungen. Lassen Sie mich nun einmal auf die Kritik hier im Hause zurückkommen. Machen wir uns von russischem Gas abhängig? Mitnichten; denn nur 50 Prozent unserer Gasversorgung stammen tatsächlich aus Russland. ({3}) Wir sollten, lieber Jürgen Trittin, den Dialog mit Russland fortsetzen. Insofern haben wir da hoffentlich eine Schnittmenge. Mehrere Vorschläge wurden bereits unterbreitet, wie man das Dilemma der Gaslieferungen nach Europa auflösen kann, und zwar so, dass alle Beteiligten gewinnen. Vor rund anderthalb Jahren schlug die Bundesregierung vor, lieber Herr Ulrich, dass westliche Firmen die alten und teilweise maroden Trassenabschnitte modernisieren sollten. Dafür werden dann Know-how und Kredite zur Verfügung gestellt. Die Russische Föderation verpflichtet sich, eine Mindestmenge durch die Leitungen zu transportieren. Die Ukraine wiederum wird ihre Gasnetze nicht als politisches Druckmittel einsetzen. – Das wäre doch mal was! Das diente dem Dialog und der Lösung. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela De Ridder. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde: Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass die Fraktionen mit Daniela De Ridder und mir auch Außenpolitikern die Gelegenheit geben, zu diesem Thema das Wort zu ergreifen. ({0}) – Entschuldigung! Wie konnte mir das passieren! Es tut mir wirklich leid. Diese Bewerbungsrede als Außenminister einer schwarz-grünen Bundesregierung ist überall so angekommen. ({1}) Ich möchte auf die außenpolitischen Aspekte eingehen. Wir haben es uns als Deutschland mit dem Thema Nord Stream 2 bei unseren Partnern leider selbst sehr schwer gemacht. Wir hätten von Anfang an wesentlich offener, wesentlich transparenter mit Polen, mit den Balten, mit anderen – auch mit Brüssel – über dieses Projekt reden müssen. Dass von Anfang an der nicht von der Hand zu weisende Eindruck entstanden war, mit diesem Investitionsprojekt Nord Stream 2 verbinde ein früherer Bundeskanzler persönliche wirtschaftliche Interessen, hat uns diese Chance ein Stück weit verhagelt. Auch die Aussage der Bundesregierung, Nord Stream 2 sei ein rein privatwirtschaftliches Projekt, war natürlich nicht hilfreich, weil in dem Augenblick, wo wichtige europäische Partner wie Polen, wie die baltischen Staaten – auch die Brüsseler Kommission – sagen, das Projekt hat eine politische, eine europapolitische Dimension, Deutschland einfach anerkennen muss, dass das so ist, und das Thema in diesem Sinne bearbeiten muss. Das heißt nicht, dass man die eigene Überzeugungskraft nicht einsetzt, das Projekt nicht trotzdem hinkriegt; aber man muss sich eben diese Mühe machen und darf nicht wegtauchen vor dieser europapolitischen Debatte. Diese Debatte ist insbesondere auch eine Debatte über unser Verhältnis zu Russland. Da ist natürlich die Frage des Gases schon seit langer Zeit ein wichtiges Thema. Ich erinnere mich an die Diskussion der 70er-Jahre: Ist es sinnvoll, dass ein deutsches Unternehmen Röhren liefert nach Russland – damals Sowjetunion –, damit sowjetisches Gas nach Deutschland und Europa kommt? Wir haben das gemacht. Wir sind davon überzeugt, dass das ein Beitrag zur Entspannung der Politik in den 80er-Jahren geworden ist, weil die Sowjets die Einnahmen aus den Gaslieferungen sehr lohnenswert fanden. Es hat damals auch aus Amerika nicht die Proteste gegeben wie heute – weil Amerika damals Energie importierte. Nun ist es zum Exporteur von Energie geworden; ein Schuft, wer Böses dabei denkt. ({2}) Das Thema hat also eine ganze Reihe von außenpolitischen, globalen Aspekten. Damit bin ich beim Thema USA und der hier angesprochenen Problematik der extra­territorialen Wirkung von Sanktionen oder gar von direkten Sanktionen gegen Unternehmen, die jetzt entweder im Iran oder auch bei diesem Projekt Nord Stream 2 beteiligt sind. Ich glaube, Nord Stream 2 hat allein deshalb eine europäische Dimension, weil die Antwort darauf, wie wir auf solche unfaire Wirtschaftspolitik von Amerika – wie wir sie befürchten müssen – reagieren, nur eine gemeinsame europäische sein kann. Ich erinnere daran, dass die gegenwärtige Handelsauseinandersetzung mit den USA über Stahl- und Aluminiumzölle, aber eben auch über drohende Automobilzölle nur durch eine gemeinsame, geschlossene Antwort der Europäischen Union beantwortet werden kann. Das gelingt ja im Augenblick auch in der Form, dass wir zum Beispiel durch die Geschlossenheit der EU, amerikanische Soja- und andere Agrarprodukte auf den europäischen Markt zu lassen, eine Position aufbauen, in der es dem amerikanischen Präsidenten schwerfallen würde, jetzt Handelsauseinandersetzungen mit Europa anzufangen, weil man dann genau an dieser Stelle wieder kappen kann. Ich finde, allein das belegt die Notwendigkeit, dass wir Fragen, die die Energieversorgung in Europa insgesamt angehen, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern abstimmen – weil wir deren Solidarität brauchen, wenn es hinterher darum geht, zum Beispiel Firmen wie Wintershall oder andere, die an dem Projekt beteiligt sind, vor ungerechtfertigten, unangemessenen Maßnahmen, wie sie in Amerika gegenwärtig diskutiert werden, zu schützen. ({3}) Es gibt in Europa eine große Einigkeit, dass es notwendig ist, die Gasversorgung zu diversifizieren – was im Übrigen heißt, dass man die Sicherheit haben muss, dass man auf bestimmtes Gas nicht angewiesen sein wird. Litauen hat ein Flüssiggasterminal. Die frühere Präsidentin von Litauen, Frau Grybauskaite, hat mir gesagt, Litauen bezieht weiter fleißig russisches Gas, aber zu wesentlich besseren Konditionen, als das vorher der Fall war, weil nämlich der Lieferant, Gazprom, genau weiß: Wenn wir unsere Gaslieferungen wirtschaftlich oder politisch als Druckmittel einsetzen, dann verlieren wir unser Geschäft. – Genau so müssen wir unsere Gasversorgung diversifizieren. Dabei sind die Amerikaner Partner. Die Europäer aber sind umso mehr zu geschlossenem Handeln aufgefordert. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis des 3. Wahlgangs der Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten bekannt geben: abgegebene Stimmzettel 667, ungültige Stimmzettel gab es keine. Mit Ja haben 211 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben 426 Abgeordnete gestimmt, ({0}) es gab 30 Enthaltungen. Der Abgeordnete Gerold Otten hat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht; er ist damit nicht zum Stellvertreter des Präsidenten gewählt. ({1})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf bzw. das Gesetz zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit erweitert die Kompetenzen der sogenannten Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls. Hier geht es darum, dass wir als Reaktion auf neue und besonders heftige Erscheinungsformen von Schwarzarbeit, illegaler Beschäftigung und ähnlichen Dingen, zum Beispiel auch Menschenhandel, reagieren und diese Dinge dadurch verstärkt bekämpfen. Zukünftig kann die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zum Beispiel Tagelöhnerbörsen, den sogenannten Arbeiterstrich, auflösen und schon die Anbahnung stören und dadurch auch verhindern. Dadurch, dass wir mehr Personal einstellen werden, haben wir in Zukunft die Möglichkeit, den Datenaustausch mit anderen Behörden verstärkt zu betreiben. Wir werden in bestimmten Regionen auch die Dinge verhindern können, die wir bisher nicht bekämpfen konnten. Dazu gehört auch so etwas wie Menschenhandel, der in einigen Regionen verstärkt stattfindet. Als Stichwort nenne ich die Prostitution und die damit verbundene illegale Einwanderung. Bisher konnte die Finanzkontrolle Schwarzarbeit in diesem Bereich nicht tätig sein. Das wird in Zukunft möglich sein. Bei Kollegen der Grünen gab es Bedenken, dass wir den Prostituiertenschutz nicht ernst nähmen. Ich denke, wir gehen mit Augenmaß vor: Wir schützen Prostituierte, aber wir schützen keinen Menschenhandel. ({0}) Es wird ein verstärktes Auskunftsrecht gegenüber Onlineplattformen geben. Auf diesen Plattformen werden neuerdings auch Dienstleistungen angeboten – früher war das gar nicht möglich –, und auch hier gibt es Schwarzarbeit. Auch hier können wir etwas tun. Wir schaffen die Möglichkeit, dass die FKS als kleine Staatsanwaltschaft tätig wird und deswegen auch in Gewerben, in denen Kettenbetrügereien stattfinden, Bußgeldtatbestände aufnehmen kann und damit zum Beispiel im Baugewerbe verstärkt gegen solche Betrügereien vorgehen kann. Wir werden die Telekommunikationsüberwachungsmöglichkeiten ausweiten. Auch das ist eine Form moderner Verbrechensbekämpfung, die früher in dieser Form nicht nötig war, die jetzt aber auf alle Fälle nötig ist. Wir werden auch den Kindergeldmissbrauch bekämpfen; mein Kollege Michael Schrodi sagt nachher noch etwas dazu. Vor allen Dingen die Kollegen der Linken äußerten, dass das nicht sinnvoll sei. Ich denke, das ist sinnvoll. Mein Kollege wird dazu noch etwas sagen. Auch die Bedenken des Bundesrates konnten, denke ich, ausgeräumt werden. Wir werden mehr Personal einstellen. Im Gegensatz zur AfD, die meint, man müsse die Personalreserven nur ausschöpfen, sind wir der Meinung, wir brauchen mehr Personal beim Zoll für die neuen Aufgaben. Wir werden deswegen mehr Planstellen schaffen. Wir werden es mit diesen Planstellen ermöglichen, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Bereich illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit effektiv arbeitet. Ich bin froh, dass wir das überprüfen werden. Wir werden eine Revisionsklausel einführen: im Prostitutionsbereich in zwei Jahren, beim Gesetz in fünf Jahren. Ich glaube, das Ergebnis wird sein: Wir gehen erfolgreich gegen Missbrauch in diesen Bereichen vor. Und wir werden dadurch natürlich auch erhebliche Mehreinnahmen in der Staatskasse haben. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ingrid Arndt-Brauer. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Kay Gottschalk. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Zuschauer! Liebe Zuhörer! Heute haben wir die zweite und dritte Beratung zum Entwurf eines Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch. Gleich vorweg kann ich sagen: Wir als AfD-Fraktion werden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Nach unserem Dafürhalten geht das Gesetz in die richtige Richtung und greift einige sehr wichtige Punkte auf. Ich hatte das in meiner Rede zur ersten Beratung dieses Gesetzentwurfs schon gesagt. Ich hatte, wie auch andere, gesagt, dass der Missbrauch des Kindergeldes einzudämmen ist. Wir sind froh, dass Sie dem Druck der AfD nachgeben. Sie stellen in Ihrem Gesetzentwurf ja selbst fest: Im Bereich des Kindergeldes hat seit mehreren Jahren die missbräuchliche Beantragung in organisierter Form zugenommen. Meine Damen und Herren, hier wird aus angeblichem Populismus endlich Realpolitik. Und ich prophezeie Ihnen, meine Damen und Herren: Das ist nicht das letzte Mal in diesem Hohen Hause. ({0}) Darüber hinaus verfolgt die Bundesregierung mit dem Gesetz Ziele wie illegale Beschäftigung bekämpfen, Sozialleistungsmissbrauch bekämpfen und Schwarzarbeit noch stärker bekämpfen. Es sollen gravierende Beitrags­ausfälle in der Sozialversicherung und Ausfälle bei den Steuereinnahmen verringert werden und neue legale Arbeitsplätze geschaffen werden. Das halten wir als AfD generell für unterstützungswürdig. Neu wird sein, dass die FKS nun voll in Fällen kontrollieren kann – Frau Arndt-Brauer hat es erwähnt –, wo sich Dienst- und Werkleistungen anbahnen bzw. nur vorgetäuscht werden. Meine Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie mit Ihrer Politik endlich in der Realität ankommen. Viele da draußen werden Ihnen das danken. Als Opposition machen wir uns aber natürlich auch Gedanken, wir haben Beweggründe und Motive, Gesetze besser zu machen. Mit unserem Entschließungsantrag bringen wir einige Punkte ein – Frau Arndt-Brauer, Sie haben das dankenswerterweise erwähnt –, die ich kurz erläutern möchte, die ich vor allen Dingen Ihnen da draußen darbringen möchte; denn es geht um Ihr Geld. Als Erstes mussten wir feststellen, dass aufgrund des Gesetzes insgesamt 4 360 neue Arbeitskräfte in der Zollverwaltung sowie 178 Arbeitskräfte bei den weiteren Einrichtungen des Bundes eingestellt werden sollen. Das ist ein Aufwuchs um etwas über 10 Prozent, zusätzlich zu den bereits vorhandenen 40 000 Planstellen nach Bundeshaushaltsgesetz 2019. Die Kosten hierfür steigen stufenweise jährlich bis auf 464 Millionen Euro im Jahr 2030, die dann fortlaufend gezahlt werden müssen. Dass für mehr Kontrolle mehr Personal eingestellt werden muss, das ist uns klar; aber wir fragen auch nach, wieso im Jahr 2018 von den rund 36 000 Planstellen 4 500 nicht besetzt waren. Das heißt, der Saldo wächst sogar auf. Nach Bundeshaushaltsordnung, § 7, hat die Bundesverwaltung zu prüfen – das haben wir im Entschließungsantrag beantragt –, wie viel Personal sie beschäftigt, und sie hat dazu, wie wir es im Entschließungsantrag geschrieben haben und ich es mehrmals in der Anhörung gefordert habe, eine Personalbedarfsermittlung vorzulegen. Davon ist nichts geschehen. Es kamen stumpfe Antworten: Das sei ein schwarzer und ein grauer Bereich; das könne man noch nicht abschätzen. – Meine Damen und Herren, es ist unsere Aufgabe, hier Optimierungspotenziale aufzuzeigen, und das tun wir. ({1}) Professor Bosch von der Universität Duisburg-Essen sprach in der Anhörung von unterschiedlichen Zuständigkeiten. Die FKS, die Zollfahndung und die FIU haben unterschiedliche Zentraldirektionen. Sie haben vergleichbare Aufgaben, benötigen vergleichbare Ausrüstung und wenden ähnliche Kontrollmethoden an, und trotzdem haben wir eine Patchworkorganisation. Das heißt, Synergieeffekte, die sich aus einer Zusammenarbeit ergeben könnten, werden nicht gehoben. ({2}) Hier entstehen Ihnen, meine Damen und Herren, Kosten, die man eindämmen könnte. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle muss man mit der Regierung vielleicht einmal in einen kurzen wissenschaftlichen Exkurs eintreten und den Unterschied zwischen Effektivität und Effizienz darstellen: Ich hoffe und setze voraus – deswegen stimmen wir zu –, dass dieses Gesetzesvorhaben zumindest effektiv ist, das heißt, dass Sie die Ziele erreichen werden. Ob man diese Ziele aber mit dem geringstmöglichen wirtschaftlichen Aufwand erreicht, sei dahingestellt. Um es verständlicher auszudrücken: Wenn es unser Ziel wäre, gemeinsam einen Baum zu fällen – die Grünen werden sich jetzt hier wahrscheinlich wieder auf den Boden legen; ich korrigiere: wenn es um Windräder ginge, würden sie das wahrscheinlich nicht tun –, dann nähme die Bundesregierung den Steinkeil des Urmenschen. Damit lässt sich selbstverständlich ein Baum fällen. Insoweit ist das effektiv. Die AfD würde eine Kettensäge nehmen. Das geht schneller und ist zudem auch tatsächlich effizient. – Ich sehe ein paar verdutzte Gesichter bei den Grünen und bei der SPD; das ist gut. ({3}) Zuweilen sind Sie ja zumindest dann effizient und effektiv, wenn es um die Fünfprozenthürde geht. Lassen Sie mich zum Schluss noch anmerken – das muss man, wenn wir an die Anhörung denken, mahnend hier ansprechen –: Wir alle sollten die Bürokratiekosten im Auge behalten. – Das geht Sie da draußen an. Das geht den Mittelstand an, die mittelständischen Unternehmen; denn für den Mittelstand gibt es bereits jetzt – das wurde auch gesagt – über 10 000 – ich wiederhole es, meine Damen und Herren: über 10 000 – Informationspflichten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Gottschalk.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Ende. – Vielleicht sollten wir mit dem Frühjahrsputz anfangen und auch an dieser Stelle ausmisten, damit Sie endlich wieder Politik auch für den deutschen Mittelstand machen. Trotz aller Bauchschmerzen werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil hier viele AfD-Gene drin sind, und das unterstützen wir. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Kay Gottschalk. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Johannes Steiniger. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Gottschalk, Sie haben ja ganz gut angefangen; aber am Schluss wurde es wieder etwas wirr. Ich möchte mich gleich zu Beginn meiner Rede gegen eines verwehren, nämlich dagegen, dass in diesem Gesetzentwurf „AfD-Gene“ drin seien. Das ist überhaupt nicht der Fall, sondern das ist die Politik der Großen Koalition. Es ist gut, dass wir heute diesen Gesetzentwurf verabschieden; ({0}) denn wir setzen damit heute ein Stoppschild gegen Schwarzarbeit, ein Stoppschild gegen Ausbeutung und auch ein Stoppschild gegen Kindergeldbetrug. Dass wir das noch vor der Sommerpause hinbekommen, ist eine gute Sache. Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen dafür bedanken, dass wir dem Zoll und den anderen jetzt entsprechende Ermittlungsmöglichkeiten an die Hand geben. Wir haben drei Bausteine – diese wurden eben schon anskizziert –: Wir wollen erstens mehr Kompetenzen für den Zoll, dann aber auch mehr Personal, sodass diese Kompetenzen auch ausgefüllt werden können. Wir wollen zweitens einen besseren Datenaustausch, und wir wollen drittens die Anreize dafür reduzieren, nur aufgrund des Kindergeldes nach Deutschland zu kommen. Wir haben in den letzten Wochen viel diskutiert, auch über die Europawahl. Als Große Koalition, als SPD, aber auch als CDU/CSU müssen wir uns, glaube ich, an die eigene Nase fassen und sagen: Wir haben da auch Vertrauen verloren. – Aber: Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, und der Prozess, wie wir zum heutigen Beschluss gekommen sind, sind, glaube ich, eine Blaupause dafür, wie wir Politik machen müssen, um Vertrauen zurückzugewinnen. Denn am Anfang stand das Zuhören, dann kam das Erkennen des Problems, dann das Handeln, das Vorschlagen von Lösungen, das Einbinden der Betroffenen und dann der parlamentarische Prozess, einen guten Entwurf noch besser zu machen, Frau Staatssekretärin. Wenn wir so weitermachen, dann können wir vielleicht auch die Große Koalition positiv weiter gestalten. ({1}) Wie haben wir zugehört? Es gab im letzten Sommer einen Hilferuf von Bürgermeistern aus den Kommunen, die gesagt haben: Achtung, wir haben hier das Problem, dass der Kindergeldmissbrauch ansteigt, dass es zu Ausbeutung im Bereich der Schwarzarbeit kommt, dass Menschen nach Deutschland gelockt werden, die dann unter schlimmen Umständen hier wohnen, dass daran organisierte Kriminalität hängt und dass über gefälschte Arbeitsverträge und auch gefälschte Geburtsurkunden es immer wieder zu Kindergeldbetrug kommt. – Wir haben gesagt: Ja, klar, da gibt es ein Problem, und da muss die Politik handeln. Das Finanzministerium hat dann ein großes Paket mit, ich glaube, insgesamt 15 Gesetzen geschnürt, die hier angepasst und verändert werden. Um das einmal im Einzelnen darzustellen: Der Zoll darf mehr. Zuständigkeiten werden geordnet. Der Datenaustausch wird verbessert. Man darf jetzt – das wurde bereits gesagt – schon im Verdachtsfall gegen illegale Beschäftigung einschreiten. Es sind Lücken geschlossen worden. Wir haben uns auch vorgenommen, das personell zu unterlegen, und zwar mit 4 360 zusätzlichen Stellen bis ins Jahr 2030. Das zeigt: Wir stehen hinter dem Zoll, und wir sagen: Der Zoll macht eine gute Arbeit; aber er muss dann auch personell gut aufgestellt sein. ({2}) Ein zweiter Punkt war die Frage: Wie gehen wir mit dem Thema Kindergeldbetrug um? Auch dort haben wir ein ganzes Maßnahmenbündel geschnürt, das wir jetzt hier beschließen und das – das ist unsere Auffassung – dazu führen wird, dass wir den Kindergeldbetrug eindämmen können. Wir sagen erstens, dass neu zugezogene EU-Ausländer in den ersten drei Monaten kein Kindergeld in Deutschland bekommen können. Das ist aus meiner Sicht fair, konsequent und auch europarechtskonform. ({3}) – Der Herr Kollege möchte, glaube ich, eine Zwischenfrage stellen; die habe ich wohl provoziert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie das zulassen.

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wusste ja, dass der Herr Strengmann-Kuhn die Frage stellt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja oder nein?

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, gut. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, aber wir diskutieren darüber schon seit ein paar Monaten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. Jetzt ist Herr Strengmann-Kuhn dran.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenbemerkung zulassen. – In der Tat: In den Ausschüssen diskutieren wir das schon intensiv. Deswegen ist es auch gut, hier noch einmal die unterschiedlichen Argumente vorzutragen. Sie haben von Kindergeldbetrug geredet. Es ist richtig, dass man dagegen vorgeht. Geburtsurkunden zu fälschen, Arbeitsverträge zu fälschen, ist etwas, wo der Staat eingreifen muss. Das ist Betrug. Das ist Missbrauch. Da müssen wir etwas tun. Aber das, was Sie zuletzt genannt haben, ist kein Betrug. Da geht es um Kinder, die rechtmäßig hier in Deutschland leben, und denen wollen Sie das Kindergeld verweigern. Das ist an sich sozialpolitisch problematisch; das ist in der Sachverständigenanhörung auch so gesagt worden. Denn es trägt nicht dazu bei, tatsächlich den Betrug zu beseitigen, und es widerspricht dem Europarecht. Einmal zur Erklärung für die, die sich im Europarecht nicht so gut auskennen: Normalerweise gibt es ein Diskriminierungsverbot. Das heißt: EU-Bürger und -Bürgerinnen aus anderen Ländern müssen genauso behandelt werden wie deutsche EU-Bürger und -Bürgerinnen. Ausnahme bei den Sozialleistungen ist die Sozialhilfeleistung, also Arbeitslosengeld II oder die Grundsicherung im Alter. Da darf man Einschränkungen machen. Das Kindergeld ist aber keine Sozialhilfeleistung, und das hat in der Sachverständigenanhörung auch niemand so behauptet und belegen können. ({0}) Können Sie erklären, warum das Kindergeld, das ja einerseits eine Steuerleistung und andererseits für die, die nicht erwerbstätig sind, eine Familienleistung darstellt, eine Sozialleistung, aber eben keine Sozialhilfeleistung ist? Da gibt es Urteile, und zwar auch vom Bundesverfassungsgericht aus diesem Jahr und vom EuGH.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. Ich glaube, die Frage ist angekommen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Also: Erklären Sie einmal, warum das Kindergeld eine Sozialhilfeleistung ist. Denn nur dann könnte es eingeschränkt werden. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Steiniger, bitte.

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank für diese Frage und herzlichen Dank, dass Sie meine Redezeit damit ein Stück weit verlängern. Ich dachte mir schon, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Ich begründe zuerst, warum wir das hier so machen. Erstens. Der Hauptgrund ist, dass wir Anreize reduzieren wollen, dass man nur aufgrund von Kindergeldzahlungen nach Deutschland kommt. Das wollen wir nämlich nicht, und daher wollen wir den Anreiz reduzieren. Zweitens, zur europarechtlichen Frage. Schauen Sie in Artikel 24 Absatz 2 der Freizügigkeitsrichtlinie. Darin steht genau – so haben Sie das auch skizziert –, dass man Sozialhilfe für arbeitslose Ausländer entsprechend einschränken kann, um nationale Haushalte zu schützen. Jetzt ist es aber so: Das Kindergeld bei uns in Deutschland wirkt bei arbeitslosen, nicht erwerbstätigen EU-Ausländern eben wie eine Sozialhilfeleistung, und deswegen kann man das sehr gut begründen. Wenn Sie sich die entsprechende einschlägige EU-Rechtsprechung dazu anschauen, dann sehen Sie, dass das da ähnlich ist. Ich habe in den letzten vier Monaten einen juristischen Begriff gelernt, den ich jetzt hier im Plenum auch nennen will. Das ist ein Argumentum a maiore ad minus. Das heißt: Wenn ich die Möglichkeit habe, bestimmte Sozialleistungen einzuschränken, dann habe ich erst recht die Möglichkeit, das Kindergeld einzuschränken. Wir haben hier also gar keine europarechtlichen Zweifel, und deswegen beschließen wir das heute auch. ({0}) – Nein. Da müssen Sie sich einmal die einschlägige Rechtsprechung dazu anschauen. Also: Das ist der Punkt, den wir am meisten diskutiert haben. Wir führen ein, dass Familienkassen nun auch bei Verdacht die Zahlung einstellen können. Dadurch gibt es dann entsprechend einen Puffer in der Ermittlung; darauf hat die Familienkasse hingewiesen. Sie hat im Übrigen auch bei der Anhörung darauf hingewiesen, dass sie mit einer Wartezeit von drei Monaten sehr zufrieden ist. Wir sorgen für besseren Datenaustausch, und wir geben damit ganz klar das Signal: Wir akzeptieren in Zukunft Betrug nicht mehr. Wir haben dann die Betroffenen eingebunden. Das haben wir in einer internen Anhörung mit Zoll, Familienkasse und den Bürgermeistern, aber auch in der Anhörung des Finanzausschusses gemacht. Daraus sind sieben Änderungsanträge entstanden. Wir haben den Datenaustausch noch einmal verbessert. Jetzt aber auch der Appell an die Kommunen vor Ort und an die Länder: Die Werkzeuge liegen nun auf dem Tisch. Jetzt müssen sie auch angegangen werden. Vieles hängt dabei auch von der Kooperation vor Ort ab. ({1}) Insgesamt haben wir hier einen sehr guten Gesetzentwurf. Ich möchte mich herzlich beim Bundesfinanzministerium und bei den Kolleginnen und Kollegen Berichterstattern für die gute Beratung bedanken. Ich denke, wenn wir vor der Sommerpause dieses gute Gesetz verabschieden, dann geben wir dem Zoll und anderen die notwendigen Werkzeuge an die Hand, um diesen Missbrauch entsprechend zu bekämpfen. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Steiniger. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Markus Herbrand. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut die FDP, dass die brachliegende Bekämpfung von Sozialleistungsbetrug, Schwarzarbeit und Lohnausbeutung endlich aufgegriffen wird. ({0}) Dabei denke ich nicht nur an den strikten Umgang mit der Kindergeldabzocke, bei der mühsam erarbeitetes Steuergeld der Steuerzahler für Kinder, die es nicht gibt, ausgegeben wird. Auch der Kampf gegen den sogenannten Arbeiterstrich, bei dem die Arbeitskraft der Schwächeren in unserer Gesellschaft auf niederträchtige Weise ausgebeutet wird, wird angegangen. Das ist gut so. Es ist eigentlich schon bizarr, dass das SPD-geführte Finanzministerium dazu erst jetzt aktiv wird. ({1}) Aber das Gesetz bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es geht nämlich nicht nur darum, mehr Leute beim Zoll einzustellen. Es geht vielmehr darum, auch strukturell dafür zu sorgen, dass der Zoll seiner Arbeit sachgerecht nachgehen kann. In den vergangenen Jahren sind immer mehr Aufgaben – manchmal aus nachvollziehbaren Gründen, manchmal aus weniger nachvollziehbaren Gründen – den Zöllnerinnen und Zöllnern übertragen worden. Deshalb stimmt: Der Zoll braucht mehr Mitarbeiter. Es ist aber – das möchte ich hier auch in aller Deutlichkeit betonen – grundfalsch, andere Möglichkeiten brachliegen zu lassen, die dem Zoll seine Arbeit erleichtern würden. Sehr geehrte Damen und Herren, damit sind wir beim Thema Digitalisierung und somit auch bei dem grundsätzlichen Problem, weshalb dieser Gesetzentwurf hinter seinen Möglichkeiten bleibt. Die IT-Programme, mit denen die Zöllner arbeiten, sind zum Teil steinalt. Bei Kontrollen laufen sie mit Klemmordnern herum und müssen handschriftlich Daten aufnehmen, um die gleichen Daten dann später mühsam in Programme einzuspeisen, die mit anderen Programmen der Verwaltung nicht kompatibel sind. Das ist einfach kein Zustand. ({2}) Auch nach den geplanten technischen Fortschritten im Rahmen des Gesetzes jagt der Zoll Verbrecher zum Teil noch wie in der Steinzeit. Das sieht man zum Beispiel an der Schweizer Grenze, wo im vergangenen Jahr 17 Millionen Umsatzsteuerrückerstattungen vom Zoll per Hand erstellt werden mussten, weil keine IT bereitgestellt wird. ({3}) Das Finanzministerium hat vom Normenkontrollrat in unüblich deutlichen Worten einen Rüffel dafür erhalten, dass die durch das Gesetz entstehenden Kosten nicht transparent dargestellt wurden. Das ist eine große Blamage. Genau aus diesem Grund ist es auch eine herbe Enttäuschung, dass Sie mit dem Gesetz neue Doppelstrukturen aufbauen. Wir wollten dies ändern. Unseren Entschließungsantrag hierzu hat die Große Koalition aber ohne jedwede Begründung abgelehnt. Ich möchte noch einmal an alle appellieren, sich endlich mehr mit bürokratischen Folgekosten, die Gesetze immer mit sich bringen, zu beschäftigen. ({4}) Es gehört zu unserer Verantwortung, Gesetze effizient auszugestalten. Geschätzte Kollegen, wir haben Sympathien für die Forderungen im vorliegenden Gesetzentwurf, und wir tragen die grundlegende Stoßrichtung mit. Wegen der genannten Schwachpunkte und auch, weil nicht sämtliche Bedenken hinsichtlich möglicher unverhältnismäßiger Eingriffe in die Grundrechte ausgeräumt wurden, werden wir uns aber enthalten. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Markus Herbrand. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir teilen das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs, illegale Beschäftigung besser zu kontrollieren und zu unterbinden und Missbrauch von Sozialleistungen zu verhindern. Aber der Gesetzentwurf leistet das nicht. ({0}) Er beseitigt nicht die Ursachen von illegaler Beschäftigung. Er bestraft sogar noch die Opfer ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse, und er verstößt gegen europäisches Recht und diskriminiert EU-Bürgerinnen und EU-Bürger. Die Gewerkschaft der Polizei, die Zoll- und Finanzgewerkschaft und andere haben verschiedentlich darauf hingewiesen, wie groß der Personalmangel beim Zoll ist – das ist auch in den Vorreden deutlich geworden –, und deshalb ist es gut und richtig, dass wir die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stärken. So weit haben Sie unsere Zustimmung zu dem, was Sie versuchen. Der zentrale Mangel aber ist – um ein Bild zu benutzen –: Sie kaufen der Feuerwehr ein neues Einsatzfahrzeug, aber Sie drehen den Gashahn nicht ab, aus dem das Feuer immer wieder befördert wird. ({1}) Mehr Kontrolle beim Mindestlohn, bei der Schwarzarbeit und bei den Tagelöhnerbörsen ist gut. Besser wäre es, Unternehmen, die Teile von Aufträgen an Subunternehmer auslagern, mit einer Nachunternehmerhaftung zu verpflichten, die Einhaltung von Tarifverträgen, sozialen Standards und Mindestlohn zu kontrollieren. ({2}) Das Gleiche gilt für Minijobs, die häufig ein Einfallstor für Betrug beim Mindestlohn sind, und das gilt auch für die ausufernde Verbreitung von Werkverträgen, die häufig mit Scheinselbstständigkeit und Sozialbetrug einhergehen. Aber hier unternehmen Sie nichts. Ich habe schon darauf hingewiesen: Dass die Opfer von Ausbeutung, also die Menschen, die ihre Arbeitskraft in Tagelöhnerbörsen zu Markte tragen, genauso bestraft werden sollen – immerhin nicht in gleicher Höhe – wie diejenigen, die die Tagelöhnerbörsen nutzen, um sich billige Arbeitskräfte zu besorgen, das ist ein Bruch in der gesamten Systematik. Das lehnen wir ab. ({3}) Der wesentliche Bruch im vorliegenden Gesetzentwurf – und das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen – ist: Während Sie bei der Kontrolle von Schwarzarbeit und Mindestlöhnen fast vollständig auf präventive Maßnahmen verzichten, machen Sie genau das Gegenteil beim Versuch der Eindämmung des Missbrauchs von Kindergeld. Sie scheuen nicht einmal vor dem Bruch von EU-Recht zurück. Sie stellen neu zuziehende EU-Bürgerinnen und -Bürger unter den Generalverdacht, betrügerische Absichten zu haben, und streichen den Anspruch für Kindergeld für die ersten drei Monate. Dabei handelt es sich dabei nicht um eine Sozialleistung – es ist vielmehr eine Familienleistung im Rahmen der Einkommensbesteuerung –, und Sie tun dies, obwohl Sie nicht sagen können, wie hoch der Missbrauch beim Kindergeldbezug überhaupt ist. Die katholischen Bischöfe haben uns in der vorletzten Woche darauf hingewiesen, dass der Versuch, bestimmte Gruppen von EU-Bürgern von einem Anspruch auf Kindergeld auszuschließen, europapolitisch verfehlt sei und dass der Vorschlag keinen Kindergeldmissbrauch verhindern werde, sondern dass er einer Tendenz Vorschub leiste, nach der Grenzen und Trennlinien zwischen den Bürgern Europas durch die Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit durch die Legislative vertieft werden. Der EuGH hat im Februar ein weiteres Mal seine Rechtsprechung bestätigt, dass der Anspruch auf Familienleistung nicht von der Stellung als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer, also dem Vorliegen eines Arbeitsvertrags, abhängig gemacht werden darf. Sie liegen mit Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf völlig daneben. Deshalb werden wir ihn ablehnen. Ich danke Ihnen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Illegale Beschäftigung und Arbeitsausbeutung müssen konsequent bekämpft werden; denn es geht um Menschen, die ausgebeutet, getäuscht, betrogen und menschenunwürdig behandelt werden. Opfer von Arbeitsausbeutung werden aber zu wenig geschützt und die Täter zu wenig verfolgt. Deshalb wollen auch wir die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stärken. ({0}) Der vorliegende Gesetzentwurf bringt einige gute Maßnahmen auf den Weg, beispielsweise die tariflichen Mindeststandards für Unterkünfte im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und Sanktionen bei vorgetäuschten Arbeitsverhältnissen. Die FKS wird zur „kleinen Staatsanwaltschaft“, was die Verfahren beschleunigen kann. Wichtig ist auch, dass die FKS bei Verdacht auf ausbeuterische Arbeitsbedingungen endlich ermitteln darf. Wir unterstützen, dass die FKS mehr Personal bekommen soll; das fordern wir schon lange. Die Stellen müssen dann aber auch wirklich besetzt werden. Immer nur anzukündigen, das ist einfach zu wenig. ({1}) Damit bin ich auch schon bei den kritischen Punkten, die wir ablehnen; sie werden in unserem Entschließungsantrag ausführlich benannt. Es ist zwar gut, dass die FKS besser gegen die sogenannten Arbeiterbörsen vorgehen kann, dabei müssen aber die Sanktionen konsequent auf diejenigen konzentriert werden, die Menschen illegal beschäftigen und ausbeuten, und nicht auf die Menschen, die davon betroffen sind. Sie brauchen keine Bußgelder, sondern Beratung und Unterstützung. ({2}) Außerdem sind die Opfer von Ausbeutung immer auch potenzielle Zeugen, die helfen können, die Verantwortlichen, also diejenigen, die von Arbeitsausbeutung profitieren, dingfest zu machen. Deswegen lehnen wir Bußgelder gegen die Opfer von Arbeitsausbeutung strikt ab. ({3}) Der Opferschutz muss gestärkt werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf gibt es hier aber eine Leerstelle. Zentral wichtig sind flächendeckende Beratungsstellen; denn die Menschen müssen ihre Rechte kennen. Wichtig ist auch, dass sie ihre Rechte besser durchsetzen können. Deshalb fordern wir einen kollektiven Rechtsschutz, ein Verbandsklagerecht; denn wir dürfen die Menschen nicht alleine lassen. ({4}) Notwendig ist auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen der FKS und anderen Behörden. Wir kritisieren aber, dass beim Datenaustausch der Prüfauftrag der FKS keine Rolle mehr spielen soll. Alles kann erfasst und an alle möglichen, auch polizeiferne Behörden übermittelt werden. Nicht einmal die Anmeldestellen für die Prostituierten wurden rausgenommen. Auch die Telekommunikationsüberwachung wird ausgeweitet, und das ohne nachvollziehbare Begründung und ohne klare gesetzliche Grundlage, die Zweck und Grenzen regelt. Das alles ist unverhältnismäßig und völlig grenzenlos. Das ist für uns nicht akzeptabel. ({5}) Dann gibt es noch den sachfremden Punkt – er wurde schon angesprochen –: Neu zugezogenen Unionsbürgerinnen und -bürgern wird generell Leistungsmissbrauch unterstellt, und deswegen sollen sie zukünftig drei Monate lang pauschal kein Kindergeld erhalten. Das ist unsäglich, und – ich sage es noch mal – das ist auch europarechtswidrig. ({6}) Deswegen lehnen wir das natürlich ab. Unser Fazit ist also: Wir wollen die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stärken. Das ist uns wirklich ein Anliegen. Das darf aber nicht zulasten von Grundrechten und Rechtsstaatsprinzipien gehen. Das ist hier aber der Fall, und deshalb können wir uns nur enthalten. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächster Redner: Michael Schrodi für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Europawahl hat deutlich gezeigt, dass eine übergroße Mehrheit für ein starkes Europa ist. Dafür gibt es auch gute Gründe. Zum Beispiel gingen 68 Prozent unserer Exporte in europäische Länder. Es ist fast schon problematisch, dass wir so viel exportieren. Europa darf aber nicht nur ein Europa der Wirtschaft und des Kapitalverkehrs sein. Wir wollen auch ein Europa der persönlichen Freiheiten und Chancen eines jeden Einzelnen. Deshalb ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein hohes Gut. An dieser Stelle sei auch noch mal grundsätzlich gesagt: Wir in Europa und auch in Deutschland profitieren von dieser Arbeitnehmerfreizügigkeit. 2017 waren rund 2,4 Millionen Erwerbstätige aus dem EU-Ausland bei uns in Deutschland. Das waren 6 Prozent aller Erwerbstätigen. In anderen Ländern ist der Anteil sogar noch höher. Man muss es deutlich sagen: Diese Menschen kommen zu uns, sie leben hier, sie arbeiten hier, sie zahlen hier Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Sie sind eine Stütze unserer Gesellschaft, und das ist auch gut so. ({0}) Im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt es aber auch zu Missbrauch auf dem Arbeitsmarkt und zu einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Wir haben in den letzten Jahren übrigens schon einiges dagegen getan und entsprechende Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel die Begrenzung der rückwirkenden Auszahlung des Kindergeldes auf sechs Monate, und wir reagieren jetzt auch auf aktuelle Dinge, die wir angehen müssen. Mit diesem Gesetz schaffen wir beispielsweise mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Wir stärken den Zoll, und wir gehen gegen Schwarzarbeit und Ausbeutung vor, sodass die Menschen, die zu uns kommen, hier nicht ausgebeutet werden. Es ist gut, dass wir das an dieser Stelle angehen, und ich bin dem Finanzminister dankbar, dass er hier den Zoll stärkt. ({1}) Mit diesem Gesetz werden wir auch Schleppern das Handwerk legen, die Familien mit falschen Versprechen nach Deutschland locken, in Schrottimmobilien unterbringen und gefälschte Arbeitsverträge und Geburtsurkunden besorgen. Diese Familien beantragen dann Kindergeld, von dem ihnen ein großer Teil als Miete wieder abgepresst wird. Wir wollen diese Menschen schützen, wir wollen den Städten helfen, und wir wollen in enger Abstimmung mit den Kommunen den Schleppern das Wasser abgraben. Daher machen wir uns hier auf den Weg. ({2}) Ich möchte hier nur zwei Maßnahmen kurz erwähnen: zum einen den verbesserten Datenabgleich, um Betrugsfälle schnell zu erkennen, und zum anderen das Prüfungsrecht der Familienkassen, die bei begründeten Verdachtsfällen eingreifen und die Kindergeldleistungen auch vorläufig einstellen können. Das sind gezielte Maßnahmen, um Missbrauch zu bekämpfen. ({3}) Es sei an dieser Stelle auch noch mal erwähnt, dass wir mit diesem Gesetz Fehler in einem anderen Gesetz ein Stück weit heilen, bei dem wir gesehen haben: Auch da ist etwas nicht in die richtige Richtung gelaufen. Zur Verhinderung unberechtigter Inanspruchnahme von Kindergeld haben wir, wie gerade erwähnt, die rückwirkende Auszahlung auf sechs Monate begrenzt. Wir haben aber gemerkt, dass es da Ungerechtigkeiten bei der steuerlichen Günstigerprüfung gibt. Wir ändern das nun, sodass nicht der bestehende Kindergeldanspruch, sondern nur das tatsächlich ausgezahlte Kindergeld bei der Günstigerprüfung eingerechnet wird. Damit stärken wir auch die Familien und beseitigen wir eine Ungerechtigkeit. Das ist für das Plenum hier vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber für die Familien ist das eine wichtige Sache. ({4}) In diesem Sinne: Das ist ein Gesetzentwurf, dem man zustimmen kann und sollte. Denn wir gehen damit die relevanten Probleme an und stellen Familien besser, und ich hoffe, das wird hier in großer Übereinstimmung auch passieren. Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Schrodi. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Thomas de Maizière. ({0})

Dr. Thomas Maizière (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004105, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Fast am Ende der Debatte kann man wohl sagen, dass eigentlich alle Redner dem Anliegen dieses Gesetzentwurfs zugestimmt haben. Einige begründen ihre Enthaltung mit mehr oder weniger starken Argumenten und sagen: ({0}) Wir stimmen nicht dafür, weil ihr unserem Entschließungsantrag nicht zustimmt. – Sei es drum! Die Einzigen, die richtig hart dagegen sind, sind die Linken. Deshalb haben wir, glaube ich, irgendwas richtig gemacht. ({1}) Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf nicht – das hat der Kollege Schrodi genau richtig gesagt – die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aus bestimmten EU-Staaten zu uns kommen – sagen wir mal, aus Bulgarien und Rumänien –, hier arbeiten und Steuern zahlen, in ein schlechtes Licht rücken, ({2}) sondern im Gegenteil: Mit der Regelung, die hier getroffen wird, wollen wir ihren Ruf und auch den Ruf ihrer Länder schützen. Wir wollen die Betroffenen vor Ausbeutung bewahren und denen, die sie unter falschen Voraussetzungen herlocken, das Handwerk legen. Darin sind wir völlig einer Meinung. ({3}) Das Gesetz ist also gut für die Arbeitnehmer, weil es sie schützt, es ist gut für die Arbeitgeber, weil sie gleiche Wettbewerbsbedingungen vorfinden, und es ist gut für die Zollbeamten, weil sie neue Befugnisse kriegen und die Dinge in Ordnung bringen können. ({4}) Ich muss jetzt – auch in Richtung der Grünen – ein paar Sätze zu den Europarechtsfragen sagen, damit das einmal gesagt wird – Herr Kollege Steininger hat dazu auch schon etwas angemerkt –: Die Behauptung, etwas sei europarechtswidrig, macht es noch nicht europarechtswidrig. ({5}) Natürlich gibt es – das kann ich Ihnen als Jurist sagen – immer wieder mal unterschiedliche Auffassungen; das ist so. In der Tat hat ein Sachverständiger – in Worten: einer – vom Deutschen Anwaltverein gesagt, die Sache sei europarechtswidrig, und es gibt auch andere, die das vortragen. ({6}) – Hören Sie doch zu. – Das stimmt. Alle betroffenen Ressorts der Bundesregierung – das BMF, das Arbeits- und Sozialministerium, das Innenministerium, das Justizministerium – sind dagegen der Meinung, das sei europarechtskonform. Auch der Europäische Gerichtshof ist der Auffassung, dass das europarechtskonform ist – den finde ich in dieser Frage noch einen Hauch wichtiger als den Deutschen Anwaltverein –, und wir sind übrigens auch der Auffassung. Nur damit das mal feststeht! ({7}) Ich will nur noch mal für das Protokoll sagen, damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Es ist nicht so, dass wir das trotzdem machen, obwohl Sie sagen, das sei europarechtswidrig, sondern wir halten es für richtig, dass den Schleppern, die andere unter der Vortäuschung hierherlocken, sie würden Kindergeld bekommen, während es im Endeffekt ihre Schlepper bekommen, das Handwerk gelegt wird. Wir machen es also nicht, obwohl es angeblich europarechtswidrig ist, sondern wir machen es, weil wir es für sinnvoll und für europarechtskonform halten. Das ist unsere Position. ({8}) Meine Damen und Herren, Herr Herbrand hat es schon gesagt: Es gibt hier IT-Probleme. Wir haben die Regeln für den Datenaustausch zwischen den verschiedenen Behörden gemeinschaftlich noch mal sehr stark erweitert und verbessert. Allerdings muss das auch umgesetzt werden. Das hat mit der IT-Infrastruktur und mit Schnittstellen zu tun. Ich kann die Länder und Kommunen sowie die Bundesbehörden, die davon betroffen sind – den Zoll, die Bundesagentur, die Kindergeldkassen usw. –, nur auffordern, es jetzt wirklich nicht nur bei dieser gesetzlichen Möglichkeit eines Datenaustausches zu belassen, sondern das auch tatsächlich umzusetzen. Bei der Anhörung haben wir gehört, dass eine Vertreterin des Landes Nordrhein-Westfalen, die lange daran gearbeitet hat, gesagt hat: Sie können schöne Gesetze machen – das ist alles gut und schön –, aber vor Ort muss es einer in die Hand nehmen. Einer muss den Austausch aller Behörden koordinieren und Entsprechendes tun. – Das bedeutet: Wir können hier nur die Grundlage für den Austausch von Informationen schaffen. Dass dann auf der Basis dieser gemeinsamen Informationen auch gemeinsam gehandelt wird, kann nur vor Ort sichergestellt werden. Ich wünsche mir, dass das Gesetz zum Anlass genommen wird, dies entschlossen anzupacken, und werbe noch mal um Zustimmung. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. de Maizière. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie jetzt, auch dem letzten Redner noch Ihr Ohr zu schenken. Der letzte Redner in dieser Debatte ist Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele Vorredner haben ja schon erklärt, warum dieses Gesetz notwendig ist, und der Kollege de Maizière hat dargelegt, dass der eine oder andere aus bestimmten Gründen doch nicht zustimmen wird. Diese Woche ist natürlich eine gute Woche, weil die Große Koalition morgen ein Gesetz zum Thema „Durchsetzung der Ausreisepflicht“ und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschieden sowie die Ausbildungsförderung auf den Weg bringen wird und wir heute das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch beraten. Was diese Woche zeigt, ist eindeutig: Die Große Koalition und die sie tragenden Fraktionen sind handlungsfähig. Wir handeln zum Wohle Deutschlands. ({0}) Dass der Sozialmissbrauch und die illegale Beschäftigung heute angegangen werden, ist ein gutes Zeichen, weil beides letztendlich unsozial ist. Es richtet sich gegen die Menschen. Es verärgert unsere Bürger. Und es entsteht ein volkswirtschaftlicher Schaden in Milliarden­höhe. Dem wollen wir mit diesem Gesetz entgegentreten. Gerade Themen wie Zwangsarbeit, Menschenhandel, aber auch der Kindergeldmissbrauch sind Probleme, die jetzt gelöst werden müssen. Ein Mittel dazu ist der Aufbau von Stellen beim Zoll, meine Damen und Herren; die Zahlen wurden bereits genannt. Der Kollege hat bereits erklärt: Wir stehen hinter dem Zoll. – Ich muss auch sagen: Den einen oder anderen Auftritt damals im Rahmen der Mindestlohnkontrolle haben wir uns genau angeschaut. Aber letztendlich ist der Zoll hier beim Vollzug des Rechts dringend notwendig. Meine Damen und Herren, es ist auch notwendig, das Recht entsprechend anzuwenden. Zukünftig wird die Arbeit erleichtert werden, weil die Anbahnung der Schwarzarbeit zum Beispiel nicht mehr erst auf der Baustelle selber verfolgt wird, sondern bereits auf dem Arbeiterstrich angegangen werden kann. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Radwan, eine Sekunde. – Wir sind, nur zu Ihrer Information, mitten in einer Debatte. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, Ihre Gespräche entweder draußen zu führen oder sich hinzusetzen und dem Kollegen Radwan zuzuhören. ({0}) Wenn Sie das nicht tun, lasse ich den Redner einfach nicht wieder anfangen. Dann warten wir einfach. Es ist auch bemerkenswert, wie viele aus seiner eigenen Fraktion glauben, sie müssten sich über andere Dinge unterhalten. Also, ich sage das noch einmal: Bitte hinsetzen und Platz nehmen, sonst wird die Debatte nicht fortgesetzt. – So, gut. Herr Radwan, bitte.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Besten Dank, Frau Präsidentin. – Ich komme aus Bayern. Wir sind Reden in Bierzelten gewohnt. Von daher ist die entsprechende Untermalung meiner Rede für mich jetzt nicht störend. ({0}) Ich will jetzt natürlich nicht das Plenum mit einem Bierzelt gleichsetzen. Sehen Sie mir diese Bemerkung nach.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das hätte ich gleich gesagt.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir kennen uns. Von daher ist das alles in Ordnung. Meine Damen und Herren, noch zwei Punkte. Der erste Punkt ist der Kindergeldmissbrauch und die Rede von Herrn Cezanne. Ich habe schon ein wenig Probleme damit, dass Sie gerade den präventiven Teil kritisieren. Es geht hier darum, das Geschäftsmodell der Schlepper kaputtzumachen, sie also daran zu hindern, Geld damit zu verdienen, indem sie Kinder nach Deutschland bringen. Ich glaube, das, was wir machen, ist eine zutiefst soziale Angelegenheit, ein zutiefst soziales Ziel. Dass Sie das negieren, kann ich nicht ganz nachvollziehen. ({0}) Es geht auch um die Prüfung bei einem Verdacht. Dass hier bei einem Verdacht schneller gehandelt werden kann, ist ein scharfes Schwert. Die Nutzung dieses Instruments wird zukünftig möglich sein. Der zweite Punkt, der verbesserte Datenaustausch zwischen den Behörden, wurde angesprochen. Wir haben eine Vielzahl von Behörden: die Familienkassen, Ausländerbehörden. Ich nenne hier auch die Länder und Kommunen sowie den Zoll. Hier werden wir auch entsprechende Maßnahmen zu Effizienzsteigerungen, die angemahnt wurden, herbeiführen. Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition ist handlungsfähig. Die Regierungskoalition reagiert auf entsprechende Entwicklungen auf der europäischen Ebene, ohne dabei eben Europa abschaffen zu wollen. Die einen wollen europäische Probleme dadurch lösen, dass sie aus der Europäischen Union austreten wollen. Wir wollen auf Entwicklungen mit Regelungen auf nationaler Ebene reagieren und damit Europa ein besseres Ansehen bei den Bürgern in Deutschland verschaffen. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Radwan. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10683, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/8691 und 19/9768 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU und AfD. Dagegengestimmt hat die Fraktion Die Linke, und enthalten haben sich die Fraktionen der FDP und der Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Nach Artikel 87 Absatz 3 des Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit – das sind 355 Stimmen – erforderlich. Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Gut. Dann eröffne ich die namentliche Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung später bekannt. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/10710. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die AfD. Gegenprobe! – Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 10/10711. Wer stimmt dafür? – Die Grünen. Gegenprobe! – AfD, CDU/CSU, SPD. Enthaltungen? – Linke und FDP. Damit ist der Entschließungsantrag ebenfalls abgelehnt.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Die AfD bringt heute den Antrag ein, die islamistische Terrororganisation Hamas ({0}) – Hisbollah – in Deutschland zu verbieten. Die Hamas gehört auch verboten; aber die Hisbollah agiert hier. Die Frage, ob die Hisbollah verboten werden muss, stellt sich eigentlich nicht, sondern es stellt sich die Frage, warum das nicht längst geschehen ist. Die Hisbollah führt einen Terrorkrieg gegen die israelische Zivilbevölkerung. Dieser Krieg hat ein Ziel: die Auslöschung des jüdischen Staates. Der Hisbollah-Generalsekretär Nasrallah hat am Al-Quds-Tag 2013 erklärt: Israel ist wie Krebs, der ausgerottet werden muss. – Mit den Hisbollah-Anhängern ist dieser Geist bei uns eingewandert, und in diesem Geist skandieren sie heute auf unseren Straßen an den Al-Quds-Tagen Parolen wie „Juden ins Gas“. Die einzig angemessene Reaktion darauf lautet: Die Hisbollah und ihre Anhänger gehören nicht nach Deutschland; die müssen hier raus. ({1}) Hinter dem Wegschauen steckt ein feiger Gedanke: Wenn wir vor denen zu Kreuze kriechen, dann lassen sie uns vielleicht in Ruhe und morden woanders. – Die Hisbollah hat genau das schon reichlich unter Beweis gestellt: Sie schlägt auch in Europa zu. Wir erinnern uns an ihre Beteiligung beim „Mykonos“-Attentat 1992 in Berlin oder an den Anschlag in Bulgarien 2012. Die Bedrohung ist aber kein Grund zum Einknicken; sie ist vielmehr ein Grund zum Aufstehen: Wir lassen uns von Terroristen nicht erpressen! ({2}) Die Hisbollah ist aber nicht nur eine international agierende Terrororganisation, sie ist auch ein global operierendes kriminelles Netzwerk. Die US-Behörde für den Kampf gegen den Drogenhandel, DEA, hat schon 2016 festgestellt, dass die Hisbollah mit lateinamerikanischen Drogenkartellen kooperiert und große Mengen Kokain in die USA und nach Europa bringt. Die diabolische Logik dahinter ist klar: Sie will die Ungläubigen in die Drogenabhängigkeit treiben und mit Gewinnen aus dem Drogenhandel ihren Terror gegen die Ungläubigen finanzieren. Und was tut die Bundesregierung? Sie versteckt sich hinter der abstrusen, akademischen Unterscheidung zwischen dem militärischen Arm der Hisbollah und dem politischen Arm, der bei uns legal ist. Nicht einmal die Hisbollah selbst macht diesen Unterschied. Um im Bild zu bleiben: Die zwei Arme sind Teil desselben Körpers. In der Terrororganisation schießt der eine die Raketen, der andere rekrutiert die Terroristen, und der Dritte beschafft dafür das Geld. In Deutschland passiert genau das: die Mittelbeschaffung im Schutze der Legalität. Über 1 000 Hisbollah-Aktivisten sammeln in Deutschland Spenden für den Ausbau der Macht der Terrororganisation im Libanon. Dort ist die Hisbollah Staat im Staate und beschießt Israel mit Raketen. Die Bundesrepublik ist damit zum sicheren Hafen für islamischen Terror gegen den jüdischen Staat geworden – was für eine Schande! ({3}) Der Staatsminister im Auswärtigen Amt Niels Annen erklärt das so: Die Hisbollah ist im Libanon ein politisch relevanter Faktor, und darauf sollen wir Rücksicht nehmen. – Das heißt, wenn eine Terrororganisation in irgendeinem Winkel der Welt so weit gekommen ist, dass sie sogar politisch relevant geworden ist, wie eben im Libanon, darf sie auch hier bei uns in Deutschland als legale politische Organisation agieren. Gilt das eigentlich auch für den IS, die Taliban oder die Mafia? Die Hisbollah ist eine Terrororganisation, die mit ihren beiden Armen handelt. Appeasement und Unterwerfung sind falsch. ({4}) Die Antisemitismus-Resolution oder das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels bleiben Lippenbekenntnisse, wenn ihnen keine Taten folgen. Freiheit ist nicht mit Lippenbekenntnissen zu verteidigen, sondern nur mit Entschlossenheit. Die USA, Kanada, Großbritannien, die Niederlande und natürlich Israel haben die Hisbollah verboten. Sogar der Innensenator aus Berlin – Andreas Geisel, SPD – will die Hisbollah verbieten, und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, fordert das Verbot der Hisbollah. ({5}) Wir wollen heute von Ihnen wissen – eine Woche nach dem unsäglichen Al-Quds-Tag –, ob Sie dafür oder dagegen sind. Wer nicht für das Verbot der Hisbollah ist, der betreibt die Sache der Hisbollah, und nun sagen Sie uns, auf welcher Seite Sie stehen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Marian Wendt. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Gott besiegt euch! Er gibt uns die Kräfte, dass euer letzter Tag ist“ oder „Kindermörder Israel“ wurde in der letzten Woche auf dem Al-Quds-Marsch hier in Berlin gerufen. Das gewaltsame und aggressive Auftreten, der offen zur Schau getragene Hass gegen Israelis und die Anfeindungen gegen unsere demokratischen Grundsätze tolerieren wir nicht, und wir werden weiter dagegen vorgehen. ({0}) Meinungs- und Versammlungsfreiheit gelten auch für diejenigen, die unsere Gesellschaft ablehnen. Wer aber unsere Werte und Freiheiten missbraucht, wie im vorliegenden Fall, der wird den Atem der Strafverfolgung im Nacken spüren. Wer, wie in den vergangenen Jahren geschehen, Flaggen verbrennt, Pflastersteine auf Andersdenkende wirft oder menschenverachtende Reden hält, der muss und der wird mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden. ({1}) Die Hisbollah unterliegt bei uns in Deutschland seit Langem der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz verzeichnet gut 1 000 deutsche Hisbollah-Aktivisten, die meisten in Berlin und Hamburg. In den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder wird regelmäßig über die Aktivitäten der Organisation berichtet, und das ist gut so. Denn wenn der Generalsekretär der Hisbollah mit „offenem Krieg“ gegen Israel droht, die Entführung von Israelis als „Recht“ und „Pflicht“ der Hisbollah propagiert oder „Tod nach Israel“ bringen will, dann müssen, dann werden wir handeln – wir haben es bereits getan –, und wir werden die Rolle der Hisbollah in Deutschland und Europa deutlich hinterfragen. Dass diese Propaganda des Hassan Nasrallah auf nährbaren Boden fällt, sieht man nicht nur an den jährlichen Al-Quds-Märschen in Berlin, sondern auch an den regelmäßigen Angriffen der Miliz auf Israel und im Nahen Osten. Meine Damen und Herren, unsere CDU-geführte Regierung war bereits sehr aktiv. Wir haben bereits einiges gegen die Hisbollah und deren Netzwerk in Deutschland getan. Innenminister Wolfgang Schäuble hat 2008 den Sender al-Manar verboten, weil er eine Hass- und Hetzpropaganda gegen die Juden und das Existenzrecht des Staates Israel betreibe. 2014 löste Dr. de Maizière als Innenminister den Verein Waisenkinderprojekt Libanon e. V. auf. Der Verein richtete sich durch seine fortdauernden finanziellen Zuwendungen an die Hizb-Allah-eigene Shahid-Stiftung gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Der militärische Teil der Hisbollah ist bei uns verboten, und wir müssen und werden alles dafür tun, dass die Gesamtorganisation keinen Fuß mehr auf deutschen Boden bekommt. ({2}) Leider habe ich den Eindruck, dass wir nicht mit ganzer Kraft vorgehen, so zum Beispiel der rot-rot-grün geführte Senat in Berlin. Er arbeitet leider nicht mit ganzer Kraft daran, dass die Al-Quds-Märsche verboten werden. Innensenator Geisel ist mit seiner Verbotsforderung alleine. Aber das ist auch kein Wunder; denn die Linkspartei unterstützt seit Jahrzehnten antiisraelische Bewegungen. ({3}) Kommen wir nun zum Verbotsantrag der AfD. ({4}) Ich nehme Ihnen die Ernsthaftigkeit Ihres Antrags beim besten Willen nicht ab.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) – Ich erlaube in der Debatte grundsätzlich keine Zwischenfragen, und damit ist das gut. Wenn Sie es mit dem Verbot der Hisbollah wirklich ernst meinen und Israel als Partner unterstützen wollen, warum verurteilen Sie nicht zunächst Ihre Freunde aus Russland? Denn neben der Finanzierung aus dem Iran liefern fast ausschließlich Russland und China Waffen und Material an die Hisbollah und unterstützen damit den Kampf gegen Israel. Wenn Sie es ehrlich meinen, würden Sie doch als Erstes dort ansetzen und dazu etwas in Ihrem Antrag schreiben. ({1}) Aber nein, Sie tun es nicht. Wie sagt der Volksmund: Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht. Meine Damen und Herren der AfD, das Letzte, was unsere Freunde aus Israel und die jüdische Community brauchen, ist die Unterstützung durch Ihre Partei und Ihre Fraktion. ({2}) Das hat nicht zuletzt auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, eindeutig klargemacht. Er bezeichnete die Organisation „Juden in der AfD“ als ein Feigenblatt, ({3}) und er beschrieb Ihre Partei zutreffend wie folgt: ({4}) In der Partei werden Menschen geduldet, die rassistisch sind, die fremdenfeindlich argumentieren und die einen Vorsitzenden haben, Herr Gauland, ({5}) der den Nationalsozialismus mit einem Vogelschiss in der Geschichte vergleicht. ({6}) Das sind Sie! Deswegen: Setzen Sie sich, und seien Sie in dieser Debatte am besten ruhig! ({7}) Deutschland und die Europäische Union haben ein Interesse an einem stabilen Libanon und an einem stabilen Nahen Osten. Wir werden alles tun, damit Menschenrechtsverletzungen und terroristische Aktivitäten bekämpft werden, und wir werden uns gemeinsam als CDU/CSU-geführte Koalitionsregierung dafür einsetzen, alles gegen die Hisbollah auf europäischer Ebene zu tun. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile zu einer Kurzintervention das Wort dem Kollegen Stefan Liebich, Fraktion Die Linke.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Wendt, leider haben Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen. Sie haben in Ihrer Rede, gerade im letzten Teil, sehr viel Richtiges gesagt. Aber zum Thema „Al-Quds-Marsch und Berlin“ haben Sie ganz schönen Quatsch erzählt; denn es ist tatsächlich so, dass alle drei Regierungsparteien in Berlin zu Protesten gegen den Al-Quds-Marsch aufgerufen haben und die Frage des Verbots ganz genauso beantwortet wurde wie von der Vorgängerregierung unter Innensenator und CDU-Landesvorsitzendem Frank Henkel. Es ist nämlich – aus gutem Grund – nicht so einfach, Demonstrationen zu verbieten. Das geht nur dann, wenn das Verbot gerichtsfest bestimmt wird. Das war leider aus Sicht von Herrn Henkel nicht möglich, ebenso wie es aus Sicht von Herrn Geisel von der SPD nicht möglich war. Deswegen finde ich es wirklich daneben, hier parteipolitische Polemik daraus zu machen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Möchten Sie antworten? – Bitte schön.

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Kollege, das sind alles gute Lippenbekenntnisse. ({0}) Aber wenn wir uns allein die Geschichte Ihrer Partei anschauen und die antizionistischen Bewegungen in der Deutschen Kommunistischen Partei, in der Kommunistischen Plattform Ihrer Partei und auch in der Gruppe marx21, dann kommen mir da sehr, sehr große Zweifel. Ich sehe bisher weder bei Ihrer Partei noch bei der rot-rot-grünen Regierung in Berlin, der Sie angehören, dass Sie es wirklich ernst meinen mit der Durchsetzung solcher Verbote. Wir sehen an einem ganz einfachen Beispiel, dass Sie unsere Sicherheitsbehörden überhaupt nicht unterstützen, nämlich indem Sie eigene Polizisten anzeigen, weil sie eine rechtmäßige Abschiebung nicht verhindern. Das ist doch das Problem. Seien wir da doch ehrlich. Deswegen sind Sie hier auch nicht glaubwürdig. Wir kennen die Traditionslinie Ihrer Partei, ({1}) die Unterstützung Palästinas, die antisemitischen Äußerungen. Von daher bleibe ich bei meiner Aussage: Das ist nicht glaubwürdig. ({2})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass am vergangenen Samstag in Berlin mehrere Hundert radikale Demonstranten auf dem sogenannten Al-Quds-Marsch ihren Hass auf Israel herausbrüllten, lässt keinen Demokraten in diesem Hause kalt. Hinter dieser Demonstration stecken auch maßgeblich die Strukturen der rund 1 000 aktiven Mitglieder der Hisbollah in Deutschland. Der Hass auf Israel ist Kern des Programms der Hisbollah; ihr Generalsekretär im Libanon macht das ja in seinen öffentlichen Äußerungen immer wieder erschreckend deutlich. Auch die Bundesregierung selbst bezeichnet Deutschland als Rückzugsraum der Hisbollah. Umso erschreckender finde ich es, dass Sie viel zu wenig tun, um diesen Rückzugsraum mit seinen Strukturen effektiv aufzuklären. ({0}) Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Hisbollah Deutschland als Waschanlage für schmutziges Geld aus illegalen Geschäften nutzen könnte und in der großen libanesischen Exilgemeinde Geldsammlungen für die Organisation im Libanon durchführt. Deutschland darf aber nicht zur Finanzierungsbasis einer Organisation werden, die sich selbst das Ziel gesetzt hat, den Staat Israel auszulöschen. Das Existenzrecht Israels ist deutsche Staatsräson und muss es immer bleiben. ({1}) Es ist deshalb legitim, darüber zu diskutieren, ob wir ein Vereinsverbot der Hisbollah brauchen oder ob wir sie als Terrororganisation einstufen sollen. Ja, es ist auch legitim, die Trennung der Hisbollah in zwei Flügel zu hinterfragen. Genau diesen Fragen stellen wir uns als Fraktion der Freien Demokraten und diskutieren sie schon seit einiger Zeit in aller Ernsthaftigkeit. ({2}) – Jetzt kommt’s, Frau Storch. – Nicht legitim – ich nenne es sogar verlogen – ist es, dass ausgerechnet die AfD sich als Vorkämpferin für das Existenzrecht Israels geriert. ({3}) Bis heute haben Sie nicht begriffen, dass Glaubwürdigkeit nicht darin besteht, schwarze Buchstaben auf weißes Papier zu drucken. Ihre Glaubwürdigkeit wird an Ihrem Handeln gemessen, wie bei allen anderen Fraktionen auch. ({4}) Machen wir also mal den Antisemitismustest in der AfD. Nehmen wir den Flügel-Unterstützer Alexander Gauland, der vom „Vogelschiss“ redet, wenn es um die Shoah und den Nationalsozialismus geht, der sich aber auch schon einmal zum Staat Israel geäußert hat, nämlich am 20. September 2001 in einem Gastbeitrag in der „Welt“. Dort schreiben Sie unter der Überschrift „Mehr Respekt vor der arabischen Welt“ ({5}) – ich zitiere Sie –: Erst waren es die europäischen Kolonialmächte, die Juden und Arabern gleichzeitig Gegenteiliges versprachen, dann trat der Fremdkörper des Staates Israel in diese Welt … ({6}) Wenn ich Ihre Maßstäbe anlege, dann würde ich sagen, dass Sie diesen Mann aus der Partei werfen müssten und ihn nicht zum Partei- und Fraktionsvorsitzenden wählen dürften. Wie heuchlerisch ist das denn bitte! ({7}) Oder nehmen wir Björn Höcke, der beim Holocaust-Mahnmal von einem „Mahnmal der Schande“ spricht, das man sich in das Herz der Hauptstadt gepflanzt habe, und bezüglich der NS-Zeit von einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad sprechen möchte. Parteiausschluss? Gescheitert! Oder nehmen wir – nicht abschließend – Wolfgang Gedeon: Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, bis heute Mitglied der AfD und Antisemit. Das sage nicht ich; das sagt ein Gutachter, den Sie beauftragt haben, über Ihr Mitglied Wolfgang Gedeon. Deswegen ist es heuchlerisch, wenn Sie keinen neuen Anlauf nehmen, nachdem das Parteiausschlussverfahren gescheitert ist. ({8}) Sie benutzen den muslimischen Antisemitismus, den es auch gibt, dazu, um den eigenen Antisemitismus zu verdecken. ({9}) Wir Freie Demokraten kämpfen gegen jegliche Form des Antisemitismus mit rechtsstaatlichen Mitteln. Aber dieses Parlament ist nicht das Instrument, Persilscheine für Antisemiten in der AfD auszustellen, ({10}) und genau deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Am Israel chai! ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Uli Grötsch. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des AfD-Antrages lautet „Verbot der Hisbollah“. Ich nehme an, dass Sie das fordern, weil Sie sich als Verfechterin jüdischer Interessen inszenieren wollen. ({0}) Von der Hisbollah gehe eine unmittelbare Gefahr für Juden in Deutschland und in Europa aus. – Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin weit davon entfernt, hier die Hisbollah zu verteidigen, ich sage Ihnen aber und werde es im Folgenden etwas genauer darlegen: Die wahre Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland geht von Ihnen aus. ({1}) Sie haben es gerade gehört, und ich will es Ihnen gerne noch einmal sagen: Sie sind es, die regelmäßig unsere Erinnerungskultur angreifen. Sie, Herr Gauland, relativieren unsere historische Verantwortung, indem Sie von der Nazizeit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte reden. ({2}) Ihr Parteifreund Björn Höcke fordert eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad und bezeichnet das Holocaustmahnmal als „Denkmal der Schande“. ({3}) Sie fordern in Ihrem Parteiprogramm ein Verbot der Beschneidung und des rituellen Schächtens, was zwei Grundpfeiler der jüdischen Religion sind. ({4}) Und – um auch das noch einmal zu sagen – Ihr Parteikollege Wolfgang Gedeon ist selbst Ihnen zu antisemitisch; aber einen Parteiausschluss kriegen Sie letztendlich doch nicht hin. ({5}) Ihre Warnung vor Antisemitismus ist an Heuchelei nicht zu überbieten. ({6}) Sie wollen doch nicht den Judenhass bekämpfen, sondern Islamhass säen. Das ist doch die Wahrheit und der Kern Ihres Antrags. ({7}) Die Juden, die Sie vertreten wollen, wollen gar nicht von Ihnen vertreten werden; im Gegenteil. Sie kennen vielleicht die „Gemeinsame Erklärung gegen die AfD“ vom Zentralrat der Juden und von weiteren jüdischen Verbänden. Ich zitiere mal: … die AfD ist eine Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland! Die AfD agitiert unumwunden gegen Muslime und andere Minderheiten in Deutschland. Dabei versucht die AfD, „die“ Muslime als Feinde der westlichen Welt oder „der“ Juden darzustellen. Muslime sind nicht die Feinde der Juden! Die Feinde aller Demokraten in diesem Land sind Extremisten … ({8}) Wir – so schreibt der Zentralrat – lassen uns von der AfD nicht instrumentalisieren. ({9}) Weiter heißt es: Die Partei ist ein Fall für den Verfassungsschutz, – das wissen Sie ja – keinesfalls aber für Juden in Deutschland. Sie sind also ganz bestimmt keine Alternative für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern vielmehr eine echte Gefahr. Sie haben in Wort und Schrift in den letzten Jahren Grenzen eines gesellschaftlichen Konsenses in Deutschland überschritten, der hier seit Jahrzehnten gegolten hat. Sie haben das Unsagbare sagbar und damit den Rechtsextremismus in Deutschland salonfähig gemacht. ({10}) Natürlich ist der Zeitpunkt des Antrages nicht zufällig. Die Verbotsdiskussionen über Hisbollah flammen jährlich im Zusammenhang mit den Al-Quds-Demonstrationen auf, auf denen die Israel-Feinde für eine Befreiung Jerusalems demonstrieren. ({11}) Die Bilder der Vergangenheit von brennenden Israel-Fahnen oder von israelfeindlichen Parolen gibt es seit drei Jahren so nicht mehr. Trotzdem gefällt mir das nicht, und es ist schwer zu ertragen. ({12}) Ich bin unserer Polizei und den Sicherheitsbehörden in Berlin – Sie haben es gerade angesprochen, Frau von Storch – sehr dankbar, dass sie die Situation so gut unter Kontrolle hatten. ({13}) Aber das Versammlungsrecht schützt eben auch denjenigen, dessen Ansichten uns zuwider sind. Womit Sie hier aber nicht durchkommen, ist, dass Sie dieses zweifelsohne wichtige Thema derart für Ihre Zwecke instrumentalisieren; dafür ist das Thema nämlich zu wichtig. Die aktuelle Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2018 zeigt, dass es einen Anstieg um fast 20 Prozent bei antisemitischen Straftaten im Vergleich zu 2017 gibt. Fast 90 Prozent dieser antisemitischen Straftaten sind – wen wundert’s – der rechten Szene zuzuordnen. ({14}) Wenn Sie wirklich Antisemitismus bekämpfen wollten, hätten Sie zuletzt in Chemnitz die Nazis, mit denen Sie Seite an Seite marschiert sind, davon überzeugen sollen, keine Straftaten gegen Juden und jüdische Einrichtungen zu begehen. ({15}) Wenn Sie mit uns am Minderheitenschutz in Deutschland arbeiten wollen, dann wirken Sie auf Ihre Klientel ein. Halten Sie sie davon ab, Synagogen zu beschmieren, ({16}) mit Knüppeln auf Menschen und jüdische Restaurants einzuschlagen und Hass zu verbreiten; denn die wahre Gefahr kommt von rechts. ({17}) Weil die Lage so ernst ist, haben wir im April Felix Klein als Antisemitismusbeauftragten ernannt, der sowohl den Antisemitismus von rechts als auch von Muslimen im Blick und das Thema im Fokus der Öffentlichkeit behalten wird, natürlich genauso wie unsere Sicherheitsbehörden. ({18}) Was die Hisbollah angeht – wenn Sie mir noch einen Satz dazu erlauben –, ({19}) ist selbstverständlich ein Verbot erforderlichenfalls ein Thema; keine Frage. Aber dazu brauchen wir keine Aufforderung von Ihnen. Seien Sie dankbar, dass in unserem Rechtsstaat die Hürden für Verbote sehr hoch sind. Das ist auch richtig so. ({20}) Vereinsverbote sind nun mal keine Lappalie. ({21}) Ein wichtiger Punkt fällt mir noch ein, den Sie in Ihrem Antrag vergessen oder übersehen haben. Ich frage mich, warum Sie in Ihrem Antrag nur ein Verbot in Deutschland und nicht ein Verbot in der ganzen Europäischen Union fordern. ({22}) Organisationen wie die Hisbollah agieren doch nicht nur national. Meine Vermutung ist, dass Sie es nicht auf die EU erstreckt haben, weil Ihnen die Europäische Union egal oder gar zuwider ist. Auch das ist hier bekannt. Am Ende zählen in einem Rechtsstaat die Fakten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({23}) Da muss man feststellen, dass die Hisbollah zurzeit bei uns in Deutschland zurückhaltend und gewaltfrei ist, also auch keine Straftaten begeht. ({24}) Abgesehen von den Al-Quds-Demonstrationen fällt die Hisbollah nicht auf. Deshalb ist das Verbot des salafistischen Vereins „Die wahre Religion“ im Jahr 2016 auch einfacher gewesen; er hatte über 100 Muslime für den IS rekrutiert, was in Deutschland bekanntlich unter Strafe steht. Ein letztes Wort zum Nahostkonflikt. Auch hier gibt es kein Schwarz und Weiß. Selbst wenn es irgendwann mal zu einem Verbot der Hisbollah in Deutschland kommen sollte, müssen wir gleichzeitig den ganzen Libanon im Blick haben. Wir brauchen einen stabilen Libanon. Das ist wichtig für den ganzen Nahen Osten. Und dort ist die Hisbollah ein relevanter gesellschaftlicher Faktor, ist im Parlament und in der Regierung vertreten. ({25}) Auch wenn Sie die Welt gerne in Schwarz und Weiß sehen wollen, die Realität ist eine andere – und vor allem ist sie viel komplexer. Aus dem Gesagten folgt – es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen –, dass wir Ihrem Wunsch nicht entsprechen können und den Antrag daher ablehnen. Vielen Dank. ({26})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute stiehlt uns die AfD wieder 38 Minuten wertvoller Debattenzeit für einen Antrag, ({0}) der fachlich schwach und politisch durchsichtig ist. Zum Inhalt wurde ja schon einiges Richtige gesagt. ({1}) Man muss mal fragen: Worum geht es hier wirklich? Es geht der AfD wieder einmal um Hass und Hetze gegen Muslime. ({2}) Deutlich wird dies in einer Pressemitteilung von Beatrix von Storch zum sogenannten Al-Quds-Tag letzte Woche. Da schreibt sie doch allen Ernstes: „Der grassierende Antisemitismus in Deutschland trägt vor allem ein muslimisches Antlitz“. ({3}) Da sind sie wieder, die Fake News, die wir inzwischen von Ihnen gewohnt sind. Richtig ist: Der Antisemitismus in Deutschland trägt vor allem eine rechtsextreme Fratze, ({4}) die Fratze von Hass und Judenverachtung, die auch 74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz in Deutschland nicht verschwunden ist. ({5}) Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, wies erst jüngst darauf hin, dass 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten einen rechtsextremen Hintergrund haben. 90 Prozent! ({6}) Die AfD benutzt den auch bei Muslimen vorhandenen Antisemitismus – ja, in der ganzen Gesellschaft gibt es den –, um von der eigenen Schuld an der Zunahme von Judenhass abzulenken und gleichzeitig den Hass gegen alle Muslime zu schüren. Das ist schäbig, und das ist ekel­haft. Das müssen alle Demokratinnen und Demokraten hier zurückweisen. ({7}) In dieser eben angesprochenen Pressemitteilung versuchen Sie, Frau von Storch, sich an die Deutsch-Israelische Gesellschaft ranzuwanzen. Ich möchte gerne in Erinnerung rufen und zitieren, was diese Gesellschaft im Jahr 2017 zum Umgang mit Ihrer Partei beschlossen hat. ({8}) – Da können Sie ruhig einmal zuhören. – Ich zitiere: Gegenwärtig versuchen politische Kräfte in Deutschland, jüdische Gemeindemitglieder und Freunde Israels unter der Flagge der „Unterstützung Israels“ für ihre Kampagne gegen Einwanderung, gegen „Überfremdung durch den Islam“, gegen die „islamische Gefahr“ einzuspannen, Bündnisse einzugehen und dafür auch in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft tätig zu werden. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft ist sich mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland einig: Wir lehnen jede Form von Islamfeindschaft ab! Denn Rassismus, grundsätzliche pauschale Ablehnung und Bekämpfung von Islam und Muslimen haben die gleichen trüben Quellen wie der Antisemitismus, sie vergiften und gefährden unsere Gesellschaft insgesamt. ({9}) Dass eine Politikerin dieser Partei die Chuzpe besitzt, sich als Antisemitismusbeauftragte zu bezeichnen, ist ja wohl nicht zu glauben. Fangen Sie doch einmal an, mit einem eisernen Besen Ihren eigenen Saustall auszukehren! ({10}) Ich erinnere hier nur an die Aussagen von Wolfgang ­Gedeon aus Baden-Württemberg. Er beleidigte die Erinnerung an den Holocaust als „Zivilreligion des Westens“.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. – Holocaustleugner sind für ihn „Dissidenten“, und das Judentum ist der „innere“ und der Islam der „äußere“ Feind des „christlichen Abendlandes“. Gedeon darf qua Urteil des Landgerichts Berlin als Holocaustleugner bezeichnet werden. Konsequenzen? Keine! ({0}) Oder Bernd Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag und Alter Ego des Neonazis Landolf Ladig: Er nannte das Holocaustdenkmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ und bezeichnet Christentum und Judentum als „einen Antagonismus“. Konsequenzen? Keine! Gar nicht zu reden von Ihrem Fraktionsvorsitzenden, Alexander Gauland, für den der Hitlerfaschismus mit seinen Millionen Opfern nur ein Fliegenschiss in unserer Geschichte ist. ({1}) Meine Damen und Herren, das geht gar nicht. Wir Linken stehen an der Seite aller Menschen, die von Antisemitismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit betroffen sind. Wir werden Ihnen von der AfD und Ihrer widerlichen Propaganda keinen Schritt nachgeben. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hisbollah ist zweifelsohne eine gefährliche Organisation. Sie destabilisiert die gesamte Region und nimmt die gesamte libanesische Gesellschaft mehr oder minder als Geisel. ({0}) Die Hisbollah hat geschätzt 130 000 Raketen: Artillerie, Ballistik, Luft, Panzer, Schiffsabwehr. Im Dezember 2018 sind Tunnelsysteme nach Israel entdeckt worden, die Israel infiltrieren sollen, und nach Einschätzungen hat die Hisbollah bis zu 7 000 Kämpfer in Syrien. Die Hisbollah ist auch in Deutschland aktiv. Deshalb ist es notwendig, sich zu überlegen, wie man Kontrollen der Hisbollah-nahen Vereine tätigen kann, bis hin zu Verboten. Eine verschärfte Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist zweifelsohne notwendig. Die Finanzströme, egal welche sogenannten Flügel der Hisbollah davon profitieren, müssen ausgetrocknet werden. Der Antrag der AfD leistet dazu keinen Beitrag, und zwar auf zwei Ebenen: Erstens. Die Hisbollah ist eine gesellschaftliche Realität im Libanon, Stichwort „Geiselnahme“. Deshalb ist es ein wenig rücksichtslos – aber das kennen wir ja nicht anders von Ihnen –, dass Sie jetzt mehr oder minder fordern, dass man auf diese Geisel schießen soll. Das macht nicht einmal die amerikanische Administration. ({1}) Schauen Sie sich beispielsweise an, was Pompeo dieser Tage gemacht hat. Pompeo hat im April persönliche Sanktionen gegen den Parlamentspräsidenten Berri, Vorsitzender der Amal, gefordert. Die sind auch verhängt worden, ({2}) weil Amal mit der Hisbollah zusammenarbeitet. Und dann hat man festgestellt, dass das überhaupt nicht umsetzbar ist, weil sowohl Amal als auch die andere schiitische Partei, FPM, in einem solchen Umfeld überhaupt nicht mehr atmen können. Was hier gefordert wird, erstickt die innerschiitische Opposition gegen die Hisbollah, und das können wir nicht zulassen. ({3}) Die zweite Ebene, woran man merkt, dass Ihr Antrag nun wirklich keinen Beitrag zur Wahrheitsfindung leistet, ist die unglaubliche Verlogenheit. Die Position der AfD ist mehrfach zitiert worden; ich will das nicht noch einmal tun. Aber es ist schon bemerkenswert, welches Wort Sie nicht verwendet haben, nämlich Syrien. Sie haben einfach komplett vergessen, was die Hisbollah gerade in Syrien macht; denn Sie finden Assad ja toll. Es gibt so viele Tweets, so viele Äußerungen Ihrerseits. Aber es gibt ein so ohrenbetäubendes Schweigen der AfD zu dem, was gerade in Idlib passiert, dass da Fassbomben fallen; denn Assad ist Ihr Freund, er soll ja die Flüchtlinge zurücknehmen. Und dass die Hisbollah Assad im Amt gehalten hat, dass sie die wichtigste Stütze am Boden für die Sicherheit der Regierung, des repressiven Regimes von Assad ist, haben Sie einfach vergessen. ({4}) Das ist so dermaßen verlogen, dass wir Ihnen das hier nicht durchgehen lassen können. Aber das Gute ist, dass Sie, wie immer, die Öffentlichkeit in Deutschland unterschätzen. Die Leute sind nicht blöd, sie lassen sich nicht so viel Sand in die Augen streuen. Deshalb habe ich überhaupt keine Bedenken, dass wir ohne Probleme Ihren Antrag ablehnen können. Wir werden hier Sachpolitik machen und uns nicht von dieser Verlogenheit treiben lassen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Christoph de Vries. ({0})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will vorab klarstellen: Egal, wie man die Hisbollah einschätzt, als terroristische Organisation teilweise oder insgesamt, es ist eine furchtbare Organisation, die bei uns Christdemokraten keinerlei Sympathie genießt. ({0}) Wer über die Hisbollah redet, der kommt nicht vorbei an dem Grundsatz, den Angela Merkel 2008 in der Knesset formuliert hat, als sie sagte: Die Sicherheit Israels ist für Deutschland nicht verhandelbar, und die historische Verantwortung für diese Sicherheit ist Teil der Staatsräson Deutschlands. ({1}) Dieser Grundsatz gilt weiterhin uneingeschränkt, und er muss auch bei der politischen Bewertung der Hisbollah eine gewichtige Rolle spielen. Wer das Existenzrecht Israels bestreitet, wie es die Hisbollah macht, wer mit terroristischen Mitteln gegen Israel operiert, wer regelmäßig Mörserraketen abfeuert, wer Geiseln nimmt, der kann kein Freund Deutschlands sein. Das ist völlig klar für uns. Deswegen ist auch die Einstufung des militärischen Arms der Hisbollah als Terrororganisation für uns völlig unbestritten. Ich sage auch ganz offen: Für ein vollständiges Verbot der Hisbollah als Organisation insgesamt habe ich große Sympathie. ({2}) Ich kann auch die Bemühungen der amerikanischen Freunde verstehen, eine härtere Gangart im Hinblick auf die Hisbollah einzulegen. Was mich aber verwundert, ist – in der Analyse gibt es durchaus Übereinstimmung; aber bei den Konsequenzen sind wir anderer Meinung –, dass Sie insgesamt ein vereinsrechtliches Verbot in Deutschland präferieren. Viel naheliegender ist doch eine europäische Lösung. ({3}) Deswegen halten wir das nur für die zweitbeste Lösung. ({4}) – Na ja, die Einstufung ist doch keine Frage, die nur Deutschland betrifft. Wenn die gesamte Hisbollah nach dem EU-Sanktionsregime als terroristische Organisation eingestuft würde, wäre das aus unserer Sicht der bessere Schritt. ({5}) Und dass die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, darauf deutet das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts durchaus hin, das von einer einheitlichen Struktur der Hisbollah in Deutschland und anderswo ausgeht. Sie legen in Ihrem Antrag dar – das muss ich Ihnen vorhalten –, dass die Hisbollah die Legalität nutze, um hier gewerbsmäßig Drogenhandel und Geldwäsche zu betreiben. ({6}) Dabei unterstellen Sie quasi, dass beides in Deutschland legal und erlaubt wäre und deutsche Sicherheitsbehörden Straftaten nicht verfolgen würden. Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Dieser Vorwurf gegenüber unseren Sicherheitsbehörden ist infam, und wir weisen ihn mit aller Entschiedenheit zurück. ({7}) Selbstverständlich werden alle Straftaten verfolgt, völlig unabhängig von Verbotsverfahren. Es gibt Hinweise auf Geldwäsche und Drogenhandel im Umfeld der Hisbollah; es gibt aber keine Beweise. Sie kennen die Anfrage: Von Januar 2018 bis Januar 2019 gab es 37 Ermittlungsverfahren gegen Personen im Umfeld der Hisbollah. In keinem einzigen Fall ist wegen Geldwäsche oder wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz ermittelt worden. ({8}) Und in einem Rechtsstaat – das müssten Sie am besten wissen – geht es nicht nur um Hinweise, sondern um Beweise. Ihr Antrag hat weitere große Schwächen. Am Anfang Ihres Antrags wollen Sie „eine Bedrohung für die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“ feststellen lassen. Wir sprechen hier aber über vereinsrechtliche Verbote, und vereinsrechtliche Verbote sind in Deutschland Angelegenheit der Exekutive, Angelegenheit des Bundesinnenministeriums. Herr de Maizière hat es gesagt: Das wird gemacht und vorher nicht in aller Öffentlichkeit breitgetreten. ({9}) Dass wir etwas unternehmen, haben die Kollegen, Marian Wendt und andere, deutlich gemacht. Es hat in der Vergangenheit Verbote gegeben. Zum Beispiel sind der Verein „Farben für Waisenkinder“, der Spenden für die Hisbollah gesammelt hat, und auch der Fernsehsender al-Manar verboten worden. Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, die Gesamtvereinigung Hisbollah zu verbieten, ({10}) dann muss man Ihnen einmal klar sagen: Es gibt keine Gesamtvereinigung Hisbollah in Deutschland. Wir haben eine kleinteilige Struktur aus einigen Dutzend Vereinen mit Sympathisanten. Auch an der Stelle ist Ihr Antrag falsch, und auch deshalb ist er für uns nicht zustimmungsfähig. Die Frage eines vollständigen oder teilweisen Verbots hat natürlich auch außenpolitische Implikationen; das ist angeklungen. Über diese müssen wir reden. Ich persönlich kann mir aber gut vorstellen, dass es auch diplomatisch notwendige und wünschenswerte Beziehungen mit dem Libanon gibt, wenn wir ein Gesamtverbot und eine Gesamteinstufung der Hisbollah als Terrororganisation haben. Ich bin froh, dass das Innenministerium und das Außenministerium hier in einem regelmäßigen Austausch stehen –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. ({0})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– ich komme zum Ende –, und hoffe, dass dieser Austausch auch gute Ergebnisse bringt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Letzter Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dadurch wird es nicht falscher, sondern nur besser. ({0}) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die heutige Debatte hat gezeigt, dass die Frage „Hisbollah gleich Terrororganisation“ auch eine starke außenpolitische Komponente hat. Es gibt nicht nur rund 1 000 Hisbollah-Anhänger in Deutschland. Die Hisbollah sitzt auch in der libanesischen Regierung, ({1}) führt einen unsäglichen Krieg an der Seite Assads gegen das syrische Volk und richtet über 130 000 Raketen gegen Israel. Und hier bringt eine Fraktion einen Antrag für das Verbot der Hisbollah ein, die sich im letzten Jahr mit dem Auftraggeber der Hisbollah, nämlich mit Assad, getroffen hat, um deutlich zu machen, wen sie wirklich unterstützt. Was für ein Widerspruch! ({2}) Ich glaube, die innenpolitische Komponente – Stichwort „Vereinsverbot“ – ist hier klar geworden. Die Kollegen Marian Wendt und Christoph de Vries haben sehr klar herausgearbeitet, dass es hier nicht um die gesamte Hisbollah geht, sondern um etwa 30 Vereine. Mir geht es um die außenpolitische Frage. Hierbei spielt schon sehr stark eine Rolle, ob es uns gelingt, neben dem innenpolitischen Vereinsverbot die Hisbollah außenpolitisch, auf europäischer Ebene in das EU-Sanktionsregime zu bekommen. Wir haben die Hisbollah in einen militärischen und einen politischen Arm getrennt und uns auf europäischer Ebene leider nur darüber verständigen können, dass wir den militärischen Arm als Terrororganisation listen. Das war aber wichtig, damit wir eine gemeinsame europäische Position erarbeiten konnten. Ohne diese aus meiner Sicht künstliche Trennung wäre es uns nicht gelungen, diese Position in der EU zu erarbeiten. Deswegen sollten wir in einem weiteren Schritt darauf hinwirken, dass wir in Europa die Gesamtorganisation als Terrororganisation benennen. ({3}) Selbst das Bundesverwaltungsgericht hat am 16. November 2015 festgestellt, dass die Hisbollah in jeglichem Handeln gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist. Wenn eine Organisation gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist, verstehe ich nicht, dass die Antragsteller sich mit dem größten Kriegsverbrecher, der zurzeit in der Welt agiert, gemeinmachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten noch einen anderen Aspekt betrachten: Das Hisbollah-Verbot ist ähnlich wie einige andere Maßnahmen Teil einer US-amerikanischen Strategie für den Nahen und Mittleren Osten, nämlich der Strategie des maximalen Drucks auf den Iran. Die Bundesrepublik hat hierbei eine ausgewogenere Maklerposition, weil wir in Bezug auf den Libanon auch ein hohes Interesse daran haben, dass dieses Land, das über 1 Million Flüchtlinge aufgenommen hat, stabil bleibt. Da die Hisbollah Teil der Regierung ist und unter anderem das Gesundheitsministerium führt, müssen wir Gesprächskanäle haben. Wenn wir mit unserem engsten Partner, mit Israel, sprechen, so hören wir da sehr Unterschiedliches, aber keine gemeinsame israelische Position mit Blick auf das Hisbollah-Verbot. Deswegen, glaube ich, steht es unserem Hause gut an, wenn wir alles tun, um sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch eine gemeinsame Position zu erreichen. Am Ende der Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann innenpolitisch ein Hisbollah-Verbot in Deutschland stehen. Am Ende kann auch der Antrag Deutschlands in der Europäischen Union auf eine Gesamtbetrachtung der Hisbollah als Terrororganisation stehen – aber bitte am Ende der Debatte und nicht zu Beginn. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10624 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir verabschieden heute ein wichtiges Gesetz, nämlich das Gesetz zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Wir zollen Anerkennung für den geleisteten Dienst, wir setzen Anreize, aber wir machen vor allem eines deutlich: Wir reagieren auch auf die sicherheitspolitischen Veränderungen. Wir müssen mehr für die Sicherheit unseres Landes tun, und wir müssen mehr für diejenigen tun, die diese Sicherheit gewährleisten. Deswegen setzen wir auf eine starke und einsatzbereite Bundeswehr. Das Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, soll dem nachkommen und dafür sorgen, dass wir mehr Anerkennung zollen und Anreize setzen und sich dies auch finanziell auszahlt. Deswegen ist das ein gutes Gesetz, und deswegen verabschieden wir es auch. ({0}) Für uns ist die Devise „Der Mensch steht im Mittelpunkt“ immer wichtig. Für uns stehen der Soldat und die Soldatin, die diesen hervorragenden Dienst für unser Land leisten, im Mittelpunkt des Geschehens. Einsatzbereitschaft und Attraktivität sind zwei Seiten derselben Medaille. Es geht darum, dass wir die Ausrüstung weiter stärken und modernisieren, dass wir aber auch deutlich machen: Wir setzen darauf, dass eine hohe Zahl von Angehörigen unserer Streitkräfte motiviert ist, ihren Dienst mit Stolz leistet und sich für diesen Einsatz auch einbringt. Deswegen wollen wir Verbesserungen im Bereich der sozialen Absicherung, der Bezahlung und auch der Flexibilisierung der Dienstgestaltung. Insgesamt sind es über 30 Gesetze und Verordnungen, die wir verbessern. Ich nenne hier beispielhaft die Neuordnung des Wehrsoldes für freiwillig Wehrdienstleistende. Ihr Sold wird auf bis zu 80 Prozent der Bezüge der Zeit- und Berufssoldaten angehoben. Wir weiten die Einsatzversorgung und die Einsatznachsorge im Bereich der posttraumatischen Belastungsstörungen aus. Das gilt auch – und das ist neu – für die Angehörigen der Soldatinnen und Soldaten; denn es sind oftmals die Partnerinnen und Partner und vor allem die Kinder, die unter dem Einsatzgeschehen mitleiden. Hier setzen wir einen guten Anspruch der Fürsorge um. Deswegen ist das ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren. ({1}) Wir schaffen für Soldaten auf Zeit Veränderungen bei der Krankenversicherung für Rentner, und zwar in Bezug auf die 9/10-Regelung. Wir schaffen flexible Modelle für Wehrdienstleistende und Reservisten. Wir haben in der öffentlichen Anhörung, die wir durchgeführt haben – ein herzlicher Dank an die Verbände, die dort vorstellig geworden sind –, noch mal sehr deutlich feststellen können, dass diese Gesetze notwendig sind, dass sie gut sind und dass sie auch den erwünschten Effekt erzielen werden. Wir werden einsatzgleiche Verwendungen jetzt so regeln, dass Versorgungsansprüche auch in der sogenannten AVZ-Stufe 2 gewährleistet sind, dass wir festgelegte Arbeitszeiten kompensieren können und dass Reservisten besser besoldet werden. Die AfD – das muss ich ansprechen – hatte darauf gedrungen, § 30c Soldatengesetz gar nicht erst zur Geltung kommen zu lassen. Das wäre aus unserer Sicht fatal gewesen; ({2}) denn es hätte die Fürsorge nicht zum Ausdruck bringen können. Deswegen sagen wir sehr deutlich: Den Erfordernissen aus § 30c kommen wir mit einem Zeitausgleich nach. Das ist auch ein Stück Anerkennung. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir dieses Gesetz verabschieden. Die Fraktion Die Linke ist ja ohnehin nicht bereit, irgendeinen Schritt zur Verbesserung der Situation der Soldatinnen und Soldaten zu gehen, weil Sie gegen die Bundeswehr sind. 380 Millionen Euro in vier Jahren, das ist gut investiertes Geld. Ich danke unserem Koalitionspartner, der SPD, dass wir jetzt zusammen dieses Gesetz verabschieden. Wir sind als Union der Auffassung, dass wir mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren müssen. Deswegen halten wir an unseren Zielen fest. Neben dem Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz ist das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz eine weitere wichtige Säule. Die dritte Säule, die noch kommen muss, um Personalgewinnung und Personalbindung zu gewährleisten, ist das Besoldungsstrukturmodernisierungsgesetz. Am Ende geht es darum, dass wir sehr deutlich machen: Unsere Soldatinnen und Soldaten und auch die zivilen Angehörigen stehen ein für die Sicherheit unseres Landes. Sie haben politische Rückendeckung verdient. Sie haben Anerkennung verdient. Sie haben aber auch verdient, dass sie eine ordentliche Ausrüstung bekommen und auch finanzielle Anreize für den schweren Dienst, den sie tun. Der Beruf des Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere, und dies muss sich gerade hier zeigen. Dazu dient das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz. Ich bitte um Zustimmung zu diesem zentralen Vorhaben. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Rüdiger Lucassen. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierung ist der Meinung, dass die Bundeswehr ein Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz braucht. Warum eigentlich? Die CDU stellt seit 14 Jahren den Verteidigungsminister. ({0}) Das Ergebnis ist eine nicht einsatzbereite Bundeswehr. ({1}) Jetzt glaubt die Regierung, dass ein Gesetz mit sperrigem Namen diesen Schaden beheben kann. Nein, so nicht. Ich unterstelle niemandem in den Regierungsparteien, die Bundeswehr absichtlich zu demontieren. Sie können es einfach nicht. ({2}) CDU und SPD haben die Bundeswehr verfallen lassen. Und jetzt sollen die gleichen Leute die Karre aus dem Dreck ziehen? ({3}) Sie verstehen die Seele von Streitkräften nicht. ({4}) Sie fürchten sich vor dem Kernauftrag von Streitkräften, dem Kampf, so sehr, dass Sie ihn verleugnen. ({5}) Sie haben Angst vor den kreischenden Pazifisten in den eigenen Reihen. ({6}) Stattdessen wollen Sie einem gefühlten Mainstream gefallen und biedern sich mit immer neuen Lächerlichkeiten an. ({7}) Die Einsatzbereitschaft des Großgerätes ist in Kernbereichen auf 40  Prozent gesunken. ({8}) Dafür gibt es im BMVg jetzt das Stabselement „Chancengerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion“ mit 16 hochdotierten Dienstposten. ({9}) Die organisieren dort Workshops mit Titeln wie „Diversity – Vielfalt gestalten“ ({10}) und „Sexuelle Orientierung und Identität in der Bundeswehr“. ({11}) Warum, zum Teufel, mischen Sie sich eigentlich in die intimsten Privatangelegenheiten von Soldaten ein? ({12}) Das geht Sie überhaupt nichts an. ({13}) Die Verteidigungspolitiker der CDU nennen das dann eine bunte Truppe. Für Sie ist fundiertes Wissen über sexuelle Launen der Natur wichtiger als fundierte Kenntnisse über die Kriegsführung. ({14}) Ich nenne das „nicht einsatzbereit“. ({15}) Am Montag fand eine öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Regierung statt. Über zwei Stunden lang ging es nur um Attraktivität, flexible Arbeitszeitmodelle, Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit usw. usw. ({16}) In der gesamten Anhörung fielen nicht einmal relevante Worte wie Einsatzbereitschaft oder Pflicht oder Kampf. Sie sprechen über die Bundeswehr wie über eine x-beliebige Bundesbehörde. ({17}) Was Sie nicht begreifen, ist: Sie haben mit dieser Zivilisierung, teilweise Feminisierung ({18}) der Bundeswehr nicht nur die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte vernichtet, ({19}) sondern Sie machen die Bundeswehr dadurch seit Jahren auch unattraktiver. ({20}) Junge Leute, die Soldat werden wollen, erwarten eine Welt, in der Begriffe wie Pflicht, Treue und Kameradschaft noch Bedeutung haben. ({21}) Sie wollen Teil von etwas Besonderem sein. Sie wollen geben, leisten und sich beweisen. ({22}) Sie wollen auch, dass die Panzer und Schiffe funktionieren, auf denen sie eingesetzt sind. Homeoffice, Gleitzeit und Diversity Management sind kein akzeptabler Ersatz. Deswegen kriegen Sie die Leute auch nicht. ({23}) Die Bundesregierung befindet sich auf der falschen Route und fährt in die falsche Richtung, und da sie beides nicht ändern will, wird sie das Ziel „einsatzbereite Streitkräfte“ nicht erreichen. Meine Damen und Herren, wer den Zustand dieser Regierung sieht, weiß, dass sich an dieser falschen Politik nichts ändern wird. Das ist die Tragik. Die falschen Leute an den Hebeln der Macht erkennen nie, dass sie selbst das Problem sind. Deswegen ist die AfD gegründet worden ({24}) und hat in der deutschen Geschichte einen einmaligen Aufstieg in alle deutschen Parlamente hingelegt. ({25}) Und deswegen wird die AfD den Kampf um Deutschland weiterführen und gewinnen. ({26}) Wir wollen nicht, dass Sie unser Land und seine Institutionen ruinieren. Wir wollen das Richtige wieder selbstverständlich machen. ({27}) Und dazu gehört auch eine einsatzbereite und stolze Bundeswehr. ({28})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion ist der nächste Redner der Kollege Thomas Hitschler. ({0})

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mark Twain hat lange deutsche Worte mit Gebirgsketten verglichen, die sich über gedruckte Seiten erstrecken. Sie werten die literarische Landschaft auf, können dem unerfahrenen Leser aber auch im Weg stehen. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass Mark Twain am Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz seine Freude gehabt hätte. Kolleginnen und Kollegen, heute geht es mal nicht um Gewehre, nicht um Flugzeuge und auch nicht um Flugzeugträger. Es geht heute um etwas viel Wichtigeres, nämlich um das Herzstück der Bundeswehr. Und das bestellen wir nicht bei der Industrie. Das Herz der Bundeswehr sind die Männer und Frauen, die dort ihren Dienst tun. ({0}) Ihnen gelten unsere Anerkennung, unser Respekt und auch unser Dank. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, sich dafür zu entscheiden, im Ernstfall Leben und Gesundheit für andere zu riskieren. Es ist nicht selbstverständlich, diese Bereitschaft ein ganzes Leben lang aufrechtzuerhalten. Mit dem Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz wollen wir unserer Anerkennung konkreten Ausdruck verleihen. Unsere Bundeswehr basiert auf der Idee des Staatsbürgers in Uniform. Wir wollen bewusst keine Rambos, keine Kampfmaschinen, keine einsamen Wölfe in der Truppe. Auch deswegen ist dieses Gesetz wichtig, Kolleginnen und Kollegen; denn wir zeigen damit, dass wir uns nicht nur um Material, sondern auch um Menschen kümmern und dass wir den Menschen in Uniform eben auch als Menschen wahrnehmen, als jemanden, der eine Familie hat und ein Leben neben der Bundeswehr, das durch jede Entscheidung, die wir hier treffen, beeinflusst wird. Gerade deswegen war die Einbeziehung von Angehörigen bei Therapiemaßnahmen von Einsatzgeschädigten besonders wichtig. Es ist notwendig, dass wir hier unserer Fürsorgepflicht nachkommen und Soldaten zusammen mit ihrem familiären Umfeld verstehen und das auch so vertreten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Das ist genauso wichtig wie die Verbesserung der sozialen Absicherung der länger dienenden Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten oder wie die erreichte Verbesserung der Berufsförderung zur Eingliederung in das zivile Erwerbsleben. Denn Zeitsoldaten, die sich als junge Erwachsene für zwölf Jahre verpflichten, dürfen sich nicht mit 30 alleingelassen auf dem zivilen Arbeitsmarkt wiederfinden, und sie sollen sich im Alter auch nicht in Armut wiederfinden. Deswegen haben wir Verbesserungen bei der Alterssicherung durchgesetzt, Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Für uns muss klar sein, dass Soldatinnen und Soldaten vor, während und nach der Dienstzeit in die Mitte unserer Gesellschaft gehören, dass sie und ihre Fähigkeiten willkommen sind und wir für sie und ihre Familien sorgen. Alles andere würde nicht nur unserem Bild vom Menschen in Uniform widersprechen, sondern auch dem Bild vom Staatsbürger in Uniform. Wenn wir unsere Soldaten und Soldatinnen als Menschen und nicht als Kampfmaschinen verstehen, gehört auch dazu, die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit zu akzeptieren. Es ist nämlich kein Zeichen der Schwäche, nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 52 Wochen pro Jahr pausenlos im Einsatz sein zu können. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir die regelmäßige Wochenarbeitszeit nicht über 41 Stunden steigen lassen. Die ursprünglich geplante Erhöhung auf 44 Stunden haben wir gemeinsam im parlamentarischen Prozess gekippt, und das ist gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Personalmangel lässt sich nicht dauerhaft durch Mehrarbeit ausgleichen. Deshalb muss mehr Personal für die Bundeswehr rekrutiert werden. Es bleiben also noch Hausaufgaben, sehr geehrte Frau Ministerin. Meine Damen und Herren, die Maßnahmen, die in diesem Gesetz beschlossen werden, sind vielleicht für Außenstehende nicht leicht zu verstehen. Ich will auch nicht auf jede Einzelmaßnahme im Detail eingehen. Lassen Sie es mich einfach so zusammenfassen: Mit dem Gesetz erfinden wir das Rad nicht neu. Wir drehen vielmehr an wichtigen Stellschrauben. Wir haben mit den Vertretungen der Angehörigen der Bundeswehr gesprochen. Wir haben gemeinsam Probleme identifiziert, und wir haben gemeinsam Lösungen gefunden. Solche Verbesserungen sind nicht glamourös, ihre Wirkung ist es schon. Wir verbessern durch dieses Gesetz das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten. Wir erleichtern ihren Dienst und kommen unserer Fürsorgepflicht nach. Und wir zeigen, dass uns unsere Soldatinnen und Soldaten wichtig sind. Lassen Sie also die Mark Twains dieser Welt ruhig über lange deutsche Worte spotten. Schlussendlich zeichnet sich die deutsche Sprache nämlich dadurch aus, dass sie präzise das ausdrückt, worum es geht. Es geht darum, die Einsatzbereitschaft der Truppe zu stärken, indem wir den Menschen in der Truppe den Rücken stärken, indem wir Fürsorge walten lassen. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute in der Tat ein Gesetz, in dem es um Verbesserungen für die Soldatinnen und Soldaten geht; denn es geht dabei immer auch um Fürsorge für unsere Truppe. Ich muss sagen: Das ist gelungen. Es war auch richtig, dass wir auf eine öffentliche Anhörung gedrängt haben. Ich wünschte mir, dass man darauf nicht drängen muss, sondern dass es schlichtweg eine Selbstverständlichkeit ist. ({0}) Der Verbesserungsbedarf, den wir eingefordert haben, wurde dort noch einmal dezidiert aufgeführt. Ich muss an dieser Stelle sagen – das sage ich positiv –: Ich bin froh, dass die Koalition das eingebaut hat; denn unter diesen Gesichtspunkten werden auch wir diesem Gesetz heute zustimmen. ({1}) Es muss begrenzte Möglichkeiten für Ausnahmen bei der Arbeitszeit geben. Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Das Behördenfeeling „Freitag ab eins macht jeder seins“ ist eher die Abteilung Satire und gehört bei der Landesverteidigung wirklich nicht in eine Kaserne. ({2}) Aber wir brauchen eine bessere Einsatzversorgung, dass das gelingt. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für Zeitsoldaten, Berufssoldaten zu werden. Es war auch wichtig, den Punkt zu streichen, dass in der Kaserne sozusagen die Weltanschauung geprüft wird. Meine Damen und Herren, das gehört definitiv nicht dorthin. Dem Anspruch, die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nachhaltig zu stärken, so heißt es im Titel, wird das Gesetz allein nicht gerecht, so nach dem Motto: das Gute-Bundeswehr-Gesetz. Es braucht da natürlich noch mehr. Wir sprechen immerhin von 13 000 zusätzlichen Berufs- und Zeitsoldaten in den nächsten sechs Jahren. Das ist wirklich eine Herausforderung angesichts der demografischen Situation. Wir haben jetzt schon sehr viele unbesetzte Dienstposten, die von den aktiven Soldatinnen und Soldaten bereits kompensiert werden müssen. Um die Personalziele zu erreichen, meine Damen und Herren, muss die Bundeswehr auf der einen Seite viele junge Menschen ansprechen, auf der anderen Seite die gut ausgebildeten Soldatinnen und Soldaten behalten. Natürlich ist das Geld das eine – da soll, Frau Ministerin, demnächst noch einmal nachgesteuert werden –, aber mindestens so wichtig ist die Sinnstiftung, ist bei dem, was man tut, die Wertschätzung. Als Soldat, als Soldatin muss man bereit sein – ich betone das immer wieder: das ist kein normaler Beruf –, größte körperliche und psychische Belastungen auf sich zu nehmen und gegebenenfalls auch sein Leben zu riskieren. Wenn man das Gefühl hat, dafür nicht wertgeschätzt zu werden, dann leidet auch die Motivation darunter. Meine Damen und Herren, das bedeutet auch, dass das Ministerium den Soldaten wieder mehr zutrauen muss und mehr vertrauen muss, damit sie auch Verantwortung übernehmen. Dazu gehört auch diese gruselige Bürokratie – man glaubt es ja nicht –, die am Ende dazu führt, dass alles unvorstellbar lange dauert. Wir reden hier ja nicht von Jahren, sondern von Dekaden. Man glaubt es ja nicht. Im Endeffekt sind immer weniger bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wir sitzen gerade im Untersuchungsausschuss. Da wird uns klar, wie immer weggeduckt wird und gesagt wird: Nein, es war die Abteilung sowieso, die da Schuld hat. Die Vorlage habe ich direkt weitergereicht. – Wenn ich nicht schon graue Haare hätte, spätestens jetzt hätte ich sie. Meine Damen und Herren, es ist auch ein Zeichen von Wertschätzung, wenn Soldatinnen und Soldaten – auch das sage ich jedes Mal, wenn ich hier stehe – besser ausgestattet sind. Einsatzbereitschaft ist Attraktivität. Es wäre ein Zeichen von Wertschätzung, wenn man im Ministerium der Truppe auch einmal zuhört, bevor man entscheidet. ({3}) Das ist alles nichts, was man in Gesetzen regelt, sondern das ist eine Frage der Führung. Meine Damen und Herren, abschließend: Es steht das Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz an – Gott sei Dank habe ich es gut aussprechen können. ({4}) Dann werden wir nämlich sehen, wie viel dem Ministerium die Spezialisten in der Truppe wert sind. Dann werden wir schwarz auf weiß sehen, ob wir die Menschen auch finanziell bei uns halten können und die Leute behalten, die Know-how haben, und sie nicht an die freie Wirtschaft verlieren. Das sei gesagt: Wenn uns das nicht gelingt, dann ist im wahrsten Sinne des Wortes Ende im Gelände. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Linke hat das Wort der Kollege Matthias Höhn. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuss hatte am Montag – das ist schon erwähnt worden – zu diesem Gesetzentwurf die Vertreterinnen und Vertreter der Verbände eingeladen. Alle, vom Bundeswehrverband über Verdi bis hin zum Verband der Beamten der Bundeswehr, haben dort deutlich gemacht, dass sie den neuen § 30d des Soldatengesetzes einhellig ablehnen; denn mit ihm versuchen die Koalition und die Bundesregierung, die Arbeitszeitbeschränkung für einzelne Bereiche für mehrere Jahre komplett auszuhebeln. Eine solche arbeitnehmerfeindliche Politik wird keinesfalls die Zustimmung der Linken finden. ({0}) Herr Kollege Otte, so viel zu der Frage, wer sich hier um die Belange der Soldatinnen und Soldaten kümmert, wir oder Sie. ({1}) Daneben haben uns die Verbände etwas bestätigt, meine Damen und Herren. Die Aufträge, die Frau von der Leyen und die Koalition dem Militär auf dem Papier erteilen, kann die Bundeswehr mit ihrem jetzigen Personal schlicht und einfach nicht erfüllen. Die Bundesregierung pumpt immer mehr Geld in die Bundeswehr – Sie kennen unsere Kritik daran –, aber sie schafft es auch nicht, Tausende von leerstehenden Dienstposten zu besetzen. Und dann wollen Sie noch zusätzliche Dienstposten schaffen. Bis 2025 soll die Bundeswehr 203 000 Dienstposten haben. Noch mehr Posten werden unbesetzt bleiben. Frau von der Leyen, sehen Sie nicht, dass diese Papierträume schlicht an der Faktenlage vorbeisegeln? ({2}) Sie wollen immer mehr Aufträge trotz Personalmangels. Wer muss für diese verfehlte Politik der Regierung herhalten? Die Soldatinnen und Soldaten, die schon jetzt oft überbelastet werden. Sie sind es, die schon jetzt für die Pläne der Bundesregierung immer mehr Überstunden leisten müssen. ({3}) Es geht natürlich auch um mehr, auch in diesem Gesetz. Die Fälle von traumatischen Belastungsstörungen steigen. Die Bundesregierung schickt die Soldatinnen und Soldaten in immer mehr Einsätze mit und ohne Mandat. Nicht selten kehren diese Männer und Frauen nach Deutschland zurück und bringen furchtbare und traumatische Erfahrungen mit. Als wäre das nicht genug der Misere, fordert die AfD auch noch, dass man den Schutz der geregelten Arbeitszeiten für die Angehörigen der Bundeswehr komplett aus dem Soldatengesetz streicht. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren der AfD, Sie tun gerne so, als seien Sie die Anwälte der Soldatinnen und Soldaten. Mit Ihrem Antrag heute beweisen Sie das komplette Gegenteil. ({5}) – Herr Lucassen, ich war schon in einer Kaserne. Den Hinweis brauche ich nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Gesetzentwurf – auch das gehört zur Wahrheit dazu – instrumentalisiert teilweise Verbesserungen in der sozialen Absicherung der Bundeswehrangehörigen, um mehr Bewerber in die Bundeswehr zu bekommen. Sie wollen eine noch deutlich größere Bundeswehr. Sie wissen das – das sage ich heute noch einmal –: Die Linke lehnt diese Strategie der Bundesregierung für die Bundeswehr und darum auch diesen Gesetzentwurf ab. ({6}) Wir reden heute nicht nur über Sozialpolitik, sondern wir reden darüber, die Bundeswehr zu vergrößern. Deswegen muss auch gesagt werden, dass deutsche Außenpolitik sich immer weiter entfernt – leider – von einer Orientierung auf Abrüstung und Entspannung. Deswegen fordern wir eine Konzeption für die Bundeswehr, die sich einordnet in einen solchen Maßstab, in Abrüstung und Entspannung. ({7}) Das heißt eben weniger Militär und nicht mehr Militär, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({8}) Das heißt eben auch, dass wir eine nachhaltige Personalpolitik fordern, die die Beschäftigten der Bundeswehr vor Überforderung schützt und die Fürsorge für Soldatinnen und Soldaten in den Mittelpunkt stellt. Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beginnen wir doch mal, in dieser Debatte darüber zu sprechen, was zumindest die meisten Fraktionen hier in diesem Hause – beileibe nicht alle von uns – eint. Erstens: der Dienst in der Bundeswehr. Die Bundeswehr ist kein Arbeitgeber wie jeder andere. In unseren Streitkräften zu dienen, ist etwas Besonderes, manchmal Gefährliches und in vielen Fällen oft Mühsames. Die Bundeswehr ist kein normaler Arbeitgeber; aber sie steht nun mal in Konkurrenz mit normalen Arbeitgebern. Deswegen gilt es in diesen Tagen, nicht nur irgendwie durch provokative Werbung aufzufallen und dadurch Rekrutierung zu betreiben, sondern es muss darum gehen, in Konkurrenz mit zivilen Arbeitgebern auch auf gewisse Faktoren – manche sagen: weiche Faktoren; ich sage: elementare Faktoren – wie Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Fürsorge und andere Dinge zu achten. Dieses Gesetz setzt da an vielen Stellen durchaus die richtigen Akzente, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Zweitens. Soldatinnen und Soldaten, das sind Menschen wie wir. Soldatinnen und Soldaten, ja, die sollen, die müssen kämpfen können. Aber die Soldatinnen und Soldaten sind auch Frauen und Männer, das sind Familienväter, das sind Mütter, das sind auch Schwule und Lesben, das sind Menschen, die hier geboren sind, und das sind Menschen, die zu uns gekommen sind. Die Bundeswehr ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Herr Lucassen, bei allem Respekt: Wenn man Ihre Rede hier gehört hat und zum Teil auch Ihren – so habe ich es empfunden – Chauvinismus gegenüber Soldatinnen, ({1}) die Sie jetzt auch noch spitze finden, kann man allen weiblichen Angehörigen der Bundeswehr nur laut sagen: Wenn Sie irgendeinen Fürsprecher in diesem Haus suchen, die AfD ist es mit Sicherheit nicht. ({2}) Man hat das Gefühl, die AfD will die Angehörigen der Bundeswehr nur auf die Rolle als Kämpfer reduzieren. Anders kann man sich Ihren Antrag, die Arbeitszeitregelung für Soldatinnen und Soldaten im Friedensgrundbetrieb vollständig abschaffen zu wollen, aus meiner Sicht auch gar nicht erklären, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Dieses Gesetz leistet an einigen Stellen wichtige und notwendige Verbesserungen. Das Thema Therapiemaßnahmen ist angesprochen worden. Es ist gut, dass die Angehörigen von an der Seele erkrankten Angehörigen der Bundeswehr in die Therapiemaßnahmen einbezogen werden. Wir hätten uns gewünscht, dass es an dieser Stelle keine Deckelung braucht; aber wir erkennen an, dass es ein Fortschritt ist und dass auch der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen dies verbessert. Wir erkennen auch an, dass jetzt einsatzgleiche Verpflichtungen Einsätzen bei der Fürsorge gleichgestellt werden. Wir finden es wichtig, dass Soldatinnen und Soldaten, wenn sie von uns in einen Einsatz oder in eine einsatzgleiche Verpflichtung geschickt werden, im Vorhinein wissen: Was erwartet mich, und welche Art von Fürsorge habe ich durch meinen Dienstherrn? – Das sind gute Verbesserungen in diesem Gesetz. Ich will aber zum Abschluss auch sagen: Den neuen § 30d des Soldatengesetzes, in dem Ausnahmen von der Wochenarbeitszeit in einer aus unserer Sicht überbordenden Art und Weise bis zu 54 Wochenstunden hin – ich weiß, zeitlich begrenzt – geschaffen werden und bei dem man auch erst noch schauen muss, wie man es EU-Recht-konform hinbekommt, hätten wir nicht gebraucht; das sehen wir genauso wie die Fraktion Die Linke. Wir glauben, dass, wenn man die Bundeswehr attraktiver machen will, man nicht diesen Schritt gehen darf, bei dem man Ausnahmen von der Arbeitszeit in einer überbordenden Art und Weise macht, sondern man muss dafür sorgen, dass man flexible Lösungen findet. Herr Kollege Veith, Sie waren am Montag ja auch in der Anhörung und haben sich die Ausführungen des Bundeswehrverbandes angehört, die einige wichtige Hinweise gegeben haben. Ich glaube nämlich, mit der notwendigen Flexibilität bekäme man das auch bei der bisherigen Gesetzeslage hin. ({4}) Ein letzter Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten auch immer die Belastungen der Soldatinnen und Soldaten im Blick haben, wenn wir hier an diesem Pult über den Auftrag der Bundeswehr, sprich: auch über Auslandsmandate, bestimmen. Wir müssen nicht nur diskutieren, ob es sinnvoll ist, notwendig ist oder hilft; wir müssen immer auch diskutieren: Was macht das mit dem Alltag derjenigen, die wir in diese Einsätze schicken, und welche Belastung ist das? – Das sollte vielleicht in Zukunft an der einen oder anderen Stelle auch für uns ein größerer Maßstab sein. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Kerstin Vieregge. ({0})

Kerstin Vieregge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004924, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einsätze und einsatzgleiche Verpflichtungen der Bundeswehr setzen Bereitschaft voraus: Bereitschaft der Truppe zur Erfüllung ihres Auftrages, materielle Bereitschaft und auch personelle Bereitschaft. Die Bereitschaft wiederum erreicht man, indem man sie stärkt, und das tun wir heute mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs, ergänzt durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen. Wir stärken die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Wie bereits auf mannigfaltige Weise beschrieben, ist das Gesetz zur Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ein gutes Gesetz. Es trägt ohne Zweifel dazu bei, den Dienst bei der Bundeswehr attraktiver zu machen und die Berufszufriedenheit in der Truppe zu steigern. Es wird die Wahrnehmung der vielen positiven Veränderungen in der Bundeswehr unmittelbar beim Soldaten verstärken. Mit dem nun vorliegenden Änderungsantrag sorgen wir für eine größere Ausweitung der Einsatzversorgung bei einsatzgleichen Verpflichtungen. Damit werden zum Beispiel unsere Soldatinnen und Soldaten, die ihren Dienst in Litauen absolvieren, in gleichem Maße abgesichert wie die in Afghanistan stationierten. Das ist ein großer Fortschritt, der weit über den ursprünglichen Gesetzentwurf hinausgeht. Ein ebensolcher Fortschritt ist die flexiblere Handhabung bei der Einbeziehung Angehöriger in die Therapiemaßnahmen für Einsatzgeschädigte. Anders als ursprünglich vorgesehen, wird es hierbei keine Einschränkung hinsichtlich des Kalenderjahres geben. Auch dies ist mehr, als es der Gesetzentwurf einst vorsah. ({0}) Gefördert wird außerdem das wert- und verdienstvolle Engagement der Reserve. Wir sorgen für eine bessere Vergütung des Reservedienstes und unterstützen damit die Bereitschaft zum aktiven Dienst in der Reserve. Darüber hinaus sorgen wir für Klarheit hinsichtlich der Arbeitszeit unserer Soldatinnen und Soldaten. CDU und CSU bekennen sich zur Soldatenarbeitszeitverordnung. Die wöchentliche Arbeitszeit orientiert sich weiterhin an 41 Stunden. Wir tragen mit einer neuen Regelung jedoch bei ganz bestimmten Tätigkeiten zur Beibehaltung der Einsatzbereitschaft bei. Das gilt für einen enggefassten Kreis von Spezialisten, aber eben nur unter bestimmten Voraussetzungen und bei einem passenden Ausgleich. Ein wesentlicher Fortschritt dabei ist, dass die Gutschrift von Mehrarbeit auf ein Langzeitarbeitskonto ermöglicht wird. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die immer wieder geäußerte Kritik an der Soldatenarbeitszeitverordnung eingehen. Ja, die SAZV ist nicht perfekt. Sie sorgt an vielen Stellen für Bürokratie und ist oft leider erklärungsbedürftig. Aber gerade die am Montag durchgeführte Anhörung hat bestätigt, welchen Wert die Arbeitszeitregeln für die Menschen der Bundeswehr haben. Daher danke ich ausdrücklich den Verbänden und Gewerkschaften für ihr Engagement und ihre Beratung, allen voran dem Deutschen BundeswehrVerband. Es ist jedenfalls unstrittig, dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Kämpfer sein sollen. Die Bundeswehr übt für den Kampf. Unsere Soldaten müssen darauf eingestellt sein, im Einsatz, im Spannungs- oder Verteidigungsfall für Deutschland Leben zu nehmen und Leben zu lassen. Insofern gilt natürlich auch hier der Leitsatz „train as you fight“. Dies bedeutet aber nicht, dass Soldatinnen und Soldaten im normalen Betrieb ihr Privatleben opfern sollen. Wir sprechen von Familienvätern oder -müttern, von Menschen, die sich zum Beispiel neben dem Dienst im Sportverein, in der Kommunalpolitik oder bei der freiwilligen Feuerwehr engagieren. Wir sprechen von Staatsbürgern in Uniform. ({1}) Die heutige Bundeswehr ist in einer anderen personellen Lage als in Zeiten der Wehrpflichtarmee. Die Soldaten von heute brauchen einen planbaren Dienst. Wenn sie ihn bei der Bundeswehr nicht finden, werden sie das bei einem anderen Arbeitgeber tun, und das ist nicht in unserem Interesse. Ich sage daher: Wir Parlamentarier haben eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber der Parlamentsarmee Bundeswehr. Fürsorge sorgt für Motivation; Motivation sorgt für Einsatzbereitschaft. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Gabi Weber. ({0})

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Wochen habe ich an dieser Stelle gesagt, dass wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere Hausaufgaben zum Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz – für mich einfacher: Gute-Truppe-Gesetz – machen müssen. ({0}) Im Entwurf waren an einigen Stellen Nachbesserungen nötig, insbesondere in den Bereichen Arbeitszeit, psychologische Eignung und Einsatzversorgung; viele Redner haben darauf im Einzelnen hingewiesen. Ein Blick auf den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zeigt: Wir haben unsere Aufgaben nicht nur irgendwie gemacht, sondern in konstruktiver und kollegialer Zusammenarbeit einen sehr guten und handfesten Antrag ausgearbeitet. Damit verbessern wir die Situation von Soldatinnen und Soldaten ganz konkret. Wir schaffen Recht, das ganz im Sinne der Menschen in der Bundeswehr ist, wie die öffentliche Anhörung der Verbände am Montag deutlich gezeigt hat. An dieser Stelle bedanke ich mich ganz herzlich bei den Verbänden und den Gewerkschaften für ihren kritischen Blick und die wertvollen Anregungen, die sie uns mitgegeben haben. ({1}) Auch das hat die Anhörung zum Missfallen der AfD klar herausgestellt: Diejenigen, die am lautesten schreien und sich gern als parlamentarische Stimme der Bundeswehr präsentieren, sind es in der politischen Praxis nicht. ({2}) Der Antrag der AfD ist – das haben einige Verbände in der öffentlichen Anhörung deutlich gesagt – gegen die Interessen der Soldatinnen und Soldaten gerichtet und deshalb abzulehnen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, falls Sie es übertrieben finden, wie wir auf dem Stichwort „Attraktivität“ bestehen: Das ist es keineswegs. – Mit mehr Geschrei machen Sie es nicht besser. ({4}) Für eine Berufsarmee ohne Wehrpflicht ist Attraktivität nach innen wie nach außen das A und O für die personelle Einsatzbereitschaft. Nur als moderner und ansprechender Arbeitgeber kann die Bundeswehr den heutigen Ansprüchen insbesondere an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Dienst gerecht werden. Nur so wird es uns langfristig gelingen, Menschen für eine Tätigkeit in der Bundeswehr – ob mit oder ohne Uniform – zu begeistern. ({5}) Es gilt, die Begeisterung auch während der Tätigkeit aufrechtzuerhalten und die Menschen in der Bundeswehr durch attraktive Bedingungen zu motivieren. Dazu gehört auch ein guter interner Arbeitsmarkt; hier besteht noch Nachholbedarf. Sicherlich ist Soldatin oder Soldat zu sein kein Beruf wie jeder andere. Wer ihn wählt, versteht ihn als Berufung und nicht nur als Beruf. Wenn aber die Rahmenbedingungen nicht stimmen und ein Job bei der Bundeswehr Unsicherheit und große Abstriche im persönlichen Bereich bedeutet, zum Beispiel durch ständige Umzüge, Beförderungsstau und auch wegen Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Materials, dann geht uns viel Potenzial verloren, das wir in diesen weltpolitisch bewegten Zeiten mehr denn je brauchen. ({6}) Mit dem „Gute-Truppe-Gesetz“ zeigen wir, dass wir es ernst meinen mit der Attraktivität der Bundeswehr.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolte?

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das werde ich nicht. ({0}) Zurücklehnen können wir uns jedoch noch nicht. Der Arbeitsmarkt verändert sich rapide, und gerade junge Menschen sind nicht mehr bereit, alles ihrem Beruf unterzuordnen. Die Stichworte lauten – trotz der Berufung – „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ sowie „regionale Verwurzelung“; auch das ist ein wichtiger Punkt für die Bundeswehr. Wir brauchen kreative und innovative Lösungen. Nach dem erfolgreichen Gestaltungsprozess des als Entwurf vorliegenden Gesetzes bin ich optimistisch, dass uns das auch in Zukunft gelingen wird, etwa mit dem – jetzt kommt wieder ein Mark-Twain-Wort – „Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz“ im Herbst. Aber auch dafür fällt mir sicherlich noch ein besserer Name ein. Wir haben uns die Attraktivität zur zentralen Aufgabe gemacht. Sie sehen: Wir packen das an. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Jan Nolte von der AfD-Fraktion.

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Kollegin Weber, auch ich habe an der öffentlichen Anhörung teilgenommen, von der Sie eben gesprochen haben. Sie haben gesagt, dass sich dort mehrere Verbände gegen unseren Vorschlag klar geäußert hätten. In der Realität ist es aber so gewesen, dass Ihr Kollege Herr Felgentreu sogar mehrmals nachgehakt und versucht hat, aus den Verbänden etwas herauszukitzeln. Er hat mehrmals versucht, die Verbände dazu zu bewegen, ihm zu sagen, was denn an dem, was die AfD will, nicht gut sei. Aber es kam nichts Klares. ({0}) Wir haben unseren Spaß daran gehabt und haben Ihnen gesagt: Da müssen Sie sich die Argumente für Ihre Rede dieses Mal selber ausdenken. – Meine Frage lautet nun: Welche Verbände, Frau Weber, waren das denn – bei einer öffentlichen Anhörung ist alles nachprüfbar –, und was genau haben diese gesagt bzw. kritisiert? Danke. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wollen Sie antworten, Frau Weber? – Bitte schön.

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Kollege, es gibt ein Protokoll dieser Anhörung. Dort steht genau drin, welche Verbände wie geantwortet haben. ({0}) Ich kann sie Ihnen noch einmal aufzählen. Es waren der Bundeswehrverband, die Gewerkschaft Verdi, der Verband der Soldaten der Bundeswehr und der Reservistenverband. Sie haben offensichtlich nicht zuhören wollen. ({1}) Ich empfehle Ihnen das Protokoll. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie alle gleich nach meiner Rede hoffentlich die Hand heben, dann haben Sie die seltene Chance, 30 Gesetze und Verordnungen auf einmal zu ändern. Ich würde Ihnen gerne alle Änderungen im Detail vorstellen, aber dann müsste der Präsident etwas großzügiger mit meiner Redezeit umgehen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das ist unwahrscheinlich. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit halte ich mich kurz. – Mit dem Gesetz verbessern wir die Attraktivität der Bundeswehr. Wir machen das nicht nur, um neue Soldaten zu gewinnen. Für einen jungen Berufseinsteiger, der vor der Entscheidung steht, zur Bundeswehr zu gehen, ist die Formulierung des § 63c des Soldatenversorgungsgesetzes vermutlich nicht das Entscheidende. Aber für den Soldaten, der in Großmanövern in Litauen oder in Norwegen im Dienst ist, ist wichtig, dass er die Sicherheit hat, dass er, wenn ihm dort etwas zustößt, die gleiche Versorgung erfährt wie der Kamerad in Afghanistan oder Mali. Da gab es bisher Unterschiede. Warum? Weil wir solche großen Manöver und Einsätze über Jahrzehnte hinweg nicht hatten. Das ziehen wir jetzt glatt. Keiner wird zurückgelassen, egal wo auf der Welt. Das ist aber nicht die einzige Verbesserung, die wir vornehmen. Das ist nur ein Beispiel im Bereich der Einsatzversorgung. Mit dem Gesetz verbessern wir die Möglichkeit, Berufssoldat zu werden. Wir erhöhen den Wehrsold für freiwillig Wehrdienstleistende. Wir unterstützen Zeitsoldaten besser beim Übergang in das zivile Berufsleben. Wir verbessern die rentenrechtliche Absicherung der Zeitsoldaten. Da ich den Kollegen Veith sehe: Wir tun viel für die Reservistinnen und Reservisten der Bundeswehr. Da steckt häufig der Teufel im Detail; das musste ich lernen. Der ursprüngliche Gesetzentwurf hätte dazu geführt, dass ein Reservist in bestimmten Konstellationen von Dienstgraden, bei Dienst am Wochenende und bei der Kombination aus Prämie, Dienstgeld und Unterhaltssicherung schlechter gestellt worden wäre als bisher. Das wollen wir natürlich nicht. Deshalb ändern wir das mit unserem Änderungsantrag. Aber darauf musste man erst kommen. Ich bedanke mich dafür explizit beim Reservistenverband, beim Kollegen Veith und bei seinen Fachexperten, die uns genau auf diese Punkte hingewiesen haben. Wir brauchen den Input von außen, damit wir das Ziel, die Bundeswehr attraktiver zu machen, auch tatsächlich erreichen. ({0}) Ich bedanke mich beim Bundeswehrverband und beim Verband der Beamten der Bundeswehr. Mich hat auch viel Post aus dem außen- und sicherheitspolitischen Arbeitskreis der CSU erreicht. Sie alle haben Vorschläge gemacht, sich eingebracht und sich die Frage gestellt, wie wir den Dienst in der Bundeswehr attraktiver machen können. Wir ändern viel. Wir ändern eigentlich alles, was wir nach unserem Wissen – Stand heute – für sinnvoll und möglich halten. Aber wahrscheinlich wird es nicht die letzte Änderung und nicht das letzte Attraktivitätsgesetz sein. Die Bundeswehr ist eine lebendige Organisation. Sie verändert sich dynamisch mit ihrer Auftragslage, und, meine Damen und Herren, wir wollen, dass sie sich zum Positiven verändert. Dafür sollten Sie jetzt gleich die Hand heben. In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Dr. Brandl. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10682, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/9491 in der Ausschussfassung anzunehmen. Es gibt dazu einen Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/10708, über den wir zuerst abstimmen. Wer ist für diesen Änderungsantrag? – Das sind die Fraktion Die Linke sowie die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalition sowie die FDP und die AfD. – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalition und die FDP. Wer stimmt dagegen? – AfD und Linke. Enthaltungen? – Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind wieder CDU/CSU, SPD und FDP. Wer stimmt dagegen? – AfD und Linke. Enthaltungen? – Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. ({0}) Wir kommen dann zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/10709. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Alle übrigen Fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 19/10682. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/9962 mit dem Titel „§ 30c des Soldatengesetzes ersatzlos streichen – Wöchentliche Rahmendienstzeit in der Bundeswehr flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Das sind die Koalition, die FDP, Grüne und Linke. Wer stimmt dagegen? – Die AfD. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Polizistinnen und Polizisten, die auf der Besuchertribüne dieser Debatte beiwohnen und zum großen Teil auch selbst aus Auslandseinsätzen kommen! ({0}) – Ja genau, da darf man auch mal für die Anwesenden klatschen, finde ich. Schön, dass Sie da sind! Wir debattieren jetzt, nachdem wir gerade über die Bundeswehr debattiert haben, über die Polizei, und zwar zu einem Aspekt der Arbeit, der enge Bezüge auch zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr aufweist. Heute ist der Tag des Peacekeepers. Peacekeeper gehen als polizeiliche, militärische oder zivile Expertinnen und Experten in Krisenregionen. Ziel ist Krisenprävention, Krisenbewältigung und Friedensförderung. Sie nehmen dafür oft schwierige Lebensbedingungen in Kauf und riskieren sogar ihre persönliche Sicherheit. Dem gebührt meine, ja unsere tiefe Anerkennung, und bei einer Festveranstaltung haben wir heute Mittag stellvertretend für alle die im Ausland eingesetzten polizeilichen, militärischen und zivilen Experten einige Frauen und Männer für ihr Engagement als Peacekeeper geehrt, und das können wir auch in dieser Debatte noch einmal tun, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Daher ist es sehr passend, dass wir gerade heute auch den Bericht über das deutsche Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in internationalen Polizeimissionen im Jahr 2017 debattieren. Der Bericht der Bundesregierung unterrichtet über die einzelnen Friedensmissionen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der OSZE, ferner auch über bilaterale Polizeiprojekte, etwa in Afghanistan, und über die deutsche Beteiligung im Rahmen von Frontex. Lassen Sie mich kurz einige Punkte und wesentliche Ergebnisse hieraus vorstellen. 2017 waren 176 Polizisten des Bundes und der Länder sowie der Zollverwaltung in internationalen Polizeimissionen oder dem Polizeiprojekt in Afghanistan eingesetzt. Sie hatten hier Aufgaben der Beratung, der Ausbildung – auch Ausbildung von Trainern – usw. Der Bericht zeigt aber auch einen Rückgang der Gesamtzahl der in Friedenseinsätzen eingesetzten Polizistinnen und Polizisten international, aber auch bei dem deutschen Anteil. 2017 waren im Jahresschnitt 27 Beamtinnen und Beamte weniger als im Jahr 2016 im Einsatz. Das hat zwei Aspekte, einerseits einen sehr erfreulichen; ein Grund ist nämlich: Viele Missionen konnten erfolgreich zurückgefahren oder beendet werden, weil sie eben geglückt sind, weil Erfolge zu verzeichnen waren. Ich nenne Liberia: Der langjährige VN-Einsatz konnte nach freien und friedlich verlaufenen Wahlen beendet werden. Ich nenne die VN-Mission in Haiti, den Rückgang des Personals der EU-Mission im Kosovo oder in der Mission Darfur. Wer seine Arbeit im Bereich des Peacekeeping gut gemacht hat, der kann irgendwann gehen, und es ist auch ein Verdienst gerade von deutschen Polizistinnen und Polizisten, weil sie häufig in Schlüsselfunktionen von Missionen eingesetzt werden, wenn Missionen ihren Auftrag erfolgreich beenden. Ziel dieser Missionen – auch unserer Missionen – ist also, dass sie sich selbst überflüssig machen. Auch dafür herzlichen Dank! ({2}) Man kann – und in die Richtung geht wohl der Vorstoß der Grünen – natürlich auch sagen: Andererseits ist und muss der Rückgang ein Ansporn sein, über weitere Entsendungen da, wo es nötig ist, nachzudenken. Die Krisenherde in der Welt werden ja leider nicht weniger. Sahelregion, Norden Afrikas, Horn von Afrika und Naher Osten: Das sind alles weiterhin sehr kritische Regionen. Polizeiliche Sicherheitsstrukturen brauchen wir hier und müssen wir auch weiter stärken. Krisenprävention und Friedensförderung im Ausland sind damit auch für die Bevölkerung in Deutschland unmittelbar von spürbarer Bedeutung. Das haben wir nicht zuletzt bei den großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre erleben müssen. Ein Schwerpunkt der internationalen Missionen ist es, Fluchtursachen dort zu bekämpfen, wo sie entstehen, und das müssen wir auch dadurch tun, dass wir Krisenregionen gerade in ihrer inneren Sicherheit stabilisieren. Wenn wir das nicht tun, sehen wir weiteren Fluchtbewegungen entgegen. Insofern ist die Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten auch ein ganz zentraler Arbeitspunkt des Themas „Fluchtursachen bekämpfen“. ({3}) Deswegen wollen wir unseren Beitrag in internationalen Friedensmissionen künftig erhöhen. Darauf haben wir uns auch im Koalitionsvertrag geeinigt. Das gilt übrigens auch für das Engagement in Frontex, wo es zum 1. Januar 2021 einen Aufwuchs auf zunächst 5 000 Einsatzkräfte und dann 2027 auf 10 000 Einsatzkräfte geben soll; der deutsche Anteil ist zunächst eine Abordnung von 600 Einsatzkräften. All das stellt Polizeien des Bundes und der Länder vor große personalpolitische Herausforderungen. Denn jeder Polizist, der ins Ausland geht, fehlt natürlich erst mal vor Ort. Insofern kann man das verantwortungsvoll nicht in großen Sprüngen tun, sondern man muss es vernünftig und maßvoll, aber mit einem klaren Ziel vor Augen tun. Wir brauchen also einen langen Atem für ein dauerhaftes starkes gemeinsames Engagement. Dabei gehen Bund und Länder Hand in Hand und sehr vertrauensvoll diesen erfolgreichen Weg. Abschließend, meine Damen und Herren: Heute ist – ich sage es noch mal – vor allem Gelegenheit, nochmals Danke an alle Polizisten und Polizistinnen in Auslandseinsätzen zu sagen, und zugleich ist es die Gelegenheit, allen, die überlegen, in diese Einsätze zu gehen, zu sagen: Sie tun damit etwas Wichtiges für die Einsatzländer, wo sie Dienst tun, und sie tun etwas Wichtiges für unser Land. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Hess. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen will das deutsche Polizeiengagement in internationalen Friedensmissionen ausbauen. Statt derzeit 176 Beamten wollen die Grünen zukünftig 900 Beamte in Auslandseinsätze schicken, um, wie sie schreiben, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Eines vorweg: Auch die AfD befürwortet den Einsatz einer angemessenen Zahl von Polizeibeamten im Rahmen internationaler Polizeimissionen. Aber dazu müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Erstens. Sie müssen so angelegt sein, dass sie die Sicherheitslage im Zielland effektiv verbessern. Zweitens. Sie müssen Deutschland nützen, indem sie grenzüberschreitende Kriminalität und Terrorismus eindämmen. Drittens – und das ist der absolut zentrale Punkt –: Polizeimissionen dürfen niemals auf Kosten der inneren Sicherheit in Deutschland gehen. Aber genau das würde Ihr Antrag bedeuten. ({0}) Durch Ihre verfehlte Politik – und damit meine ich alle Fraktionen in diesem Hause, natürlich meine ausgenommen – ({1}) haben wir bei der Polizei im gesamten Bundesgebiet eine desolate Personalsituation, und das finde ich nicht zum Lachen. Jeder Versuch, das schönzureden oder sich darüber lustig zu machen, scheitert knallhart an der Realität. Nehmen wir mein Bundesland Baden-Württemberg. Dort sollten bis 2021 über 900 Polizeivollzugsdienststellen zusätzlich geschaffen werden. Tatsächlich liegt die Zahl aber nur bei 38. Noch mal: 38 statt 900. Und in anderen Ländern dürfte es nicht viel besser aussehen. Angesichts dieser desolaten Personalsituation einen Personalaufwuchs von 800 Stellen für polizeiliche Auslandseinsätze zu fordern, zeigt jedem Bürger in aller Deutlichkeit: Die Grünen wollen die Welt retten, aber sie vergessen dabei Deutschland. ({2}) Ihnen ist die Sicherheit Fremder wichtiger als die der eigenen Bevölkerung, und das können, dürfen und werden wir nicht hinnehmen. Ihr Antrag erfüllt aber auch nicht die anderen Bedingungen, unter denen unsere Fraktion internationale Polizeimissionen für sinnvoll hält. Ihr Antrag ist nämlich auch nicht dazu geeignet, im Zielland die Sicherheitslage zu verbessern. Wenn man Ihren Antrag genau anschaut, stellt man fest: Sie wollen keine kriegs- oder krisengeschüttelten Regionen befrieden. Was Sie wirklich wollen, ist, anderen Staaten Ihre linksideologische Agenda aufzuzwingen, und genau das gilt es zu verhindern. ({3}) Im Zentrum Ihres Antrags steht das Leitkonzept der menschlichen Sicherheit. Das mag gut klingen, ist aber ein fataler Irrweg. Dieses globalistische Konzept geht nicht mehr von Staaten mit unterschiedlichen Kulturen aus, sondern von Individuen und Zivilgesellschaften, ganz so, als hätten wir bereits einen Weltstaat oder eine Weltgesellschaft. Dazu passt die wichtige Rolle, die die Grünen den NGOs bei der Umsetzung dieses Konzepts beimessen. Und von denen wissen wir ja, dass sie mehrheitlich grün ticken. Solche Polizeimissionen, wie Sie sie sich vorstellen, nützen weder den Zielländern noch Deutschland. Krisenstaaten brauchen Sicherheitskräfte mit realistischem Blick und einem praktischen Erfahrungsschatz, die im Gegensatz zu den von Ihnen favorisierten NGOs eine wirksame und nachhaltige Sicherheitsstruktur etablieren können. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir brauchen keinen pseudohumanitären grünen Interventionismus, sondern effektive Sicherheitskooperationen. ({4}) Sie wollen sexuelle Gewalt bekämpfen und fordern ernsthaft eine feministische Neuausrichtung von internationalen Polizeimissionen. ({5}) Ich sage Ihnen: Ihr exzessiver Feminismus schafft keine Sicherheit. Sie können Frauen in diesen Ländern, die zum Teil ein verheerendes Frauenbild haben, nicht mit Feminismus vor sexueller Gewalt schützen, und auch nicht, indem Sie den Frauenanteil bei der Polizei erhöhen. Sie können Frauen dort nur durch den Aufbau einer robusten und rechtsstaatlichen Polizei vor Vergewaltigungen und sexuellen Belästigungen schützen. Aber eine robuste und durchsetzungsfähige Polizei, die die Bürger schützt, bekämpfen Sie ja bereits in Deutschland, wo Sie können. Jeder Polizeibeamte und jeder aufmerksame Bürger sieht doch tagtäglich, was Ihre grüne Sicherheitspolitik für Deutschland bedeutet. Überall, wo die Grünen mitregieren, hinterlassen sie im Bereich der inneren Sicherheit ein Trümmerfeld. ({6}) In Nordrhein-Westfalen lautete Ihre Bilanz nach über zehn Jahren an der Regierung: Abbau von Stellen bei der Polizei, dafür Aufwuchs an Mitgliedern bei Clans und islamistischen Parallelgesellschaften. Nicht nur, dass die Grünen ernsthaft verlangen, wie jetzt erst wieder in Berlin geschehen, den Polizeibeamten müsse die Dienstwaffe, also die Schusswaffe, weggenommen werden, was angesichts der massiven Terrorgefahr – und man muss das in dieser Deutlichkeit sagen – absoluter Wahnsinn wäre; nein, Sie unterstellen der deutschen Polizei permanent rassistische Gewalt und skandalisieren und kriminalisieren den legalen Gebrauch von Zwangsmitteln. Das lässt nur ein Fazit zu: Grün steht in Deutschland für sicherheits- und polizeipolitische Verantwortungslosigkeit, und genau diese dürfen wir auf gar keinen Fall in andere Länder exportieren, wenn wir diesen wirklich helfen wollen. ({7}) Wir müssen das Interesse und die Souveränität Deutschlands wieder zur Bezugsgröße deutscher Politik machen. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Polizeibeamten für eine Welt- und Umerziehungspolizei im Sinne Ihres Antrags in Auslandseinsätzen verheizt werden. Wem unsere Polizei und die Sicherheit unseres Landes wirklich am Herzen liegen, der darf sie nicht den Grünen überlassen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Susanne Mittag. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jetzt kommen wir mal ganz gepflegt wieder zum Thema zurück. ({0}) In Bezug auf internationale Polizeimissionen ist mir ein Begriff besonders wichtig und auch ganz zentral: Das ist das Wort „Wertschätzung“: Wertschätzung für den Einsatz, den die deutschen Polizistinnen und Polizisten weltweit, ob in Afghanistan, Mali oder dem Kosovo, leisten, Wertschätzung dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen monatelang getrennt von ihren Familien und Freunden sich für Sicherheit und Entwicklung in der Welt einsetzen, Wertschätzung des Einsatzes in rund 20 Missionen – und das schon seit 30 Jahren –, die auch zur Sicherheit in Deutschland und Europa beitragen. Stellvertretend für die vielen Polizistinnen und Polizisten aus Bund und Ländern möchte ich die Beamten und Beamtinnen, die heute dieser Debatte auf der Tribüne folgen, ganz herzlich begrüßen. Es freut mich, dass Sie alle hier sind. ({1}) Die heutige Debatte fußt auf einem Antrag aus 2016 mit ebenfalls langer Vorgeschichte. Dort haben wir zehn Forderungen an die Bundesregierung formuliert und verabschiedet. Ziel war es, den außereuropäischen Einsatz von Polizistinnen und Polizisten zu stärken, auszubauen und damit auch wertzuschätzen. Einiges aus diesem Arbeitsauftrag wurde schon umgesetzt, so zum Beispiel die Einrichtung eines Fachbereiches an der Deutschen Hochschule der Polizei in Hiltrup für die Ausbildungsmodule für den höheren Dienst, damit Verständnis und Wertschätzung von Vorgesetzten bei Bewerbung und Einsatz von Polizisten gefördert werden und sich das nicht nachteilig auf zum Beispiel Beurteilungen auswirkt, damit sich der Anteil der Führungskräfte, die sich für den Auslandseinsatz selbst bewerben, auch erhöht und das Bewusstsein gestärkt wird, dass alle Polizisten, aus dem Auslandseinsatz auf die heimischen Dienststellen zurückkehrend, ein Wissen um Kultur, Verhalten und Umgang mitbringen, das im täglichen Dienst oft sehr hilfreich ist. Von diesen Erfahrungen profitieren auch Kollegen, die gar nicht im Auslandseinsatz sind. Verbessert wurden auch die Möglichkeiten der Verlängerung von Einsatzzeiten auf bis zu 24 Monate. Auch können erfahrene Beamte durch Dienstzeitverlängerung länger im Einsatz verbleiben, wenn sie das denn wollen. Und über das ZIF, das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, war es auch möglich, schon pensionierte Beamte in Polizeimissionen zu entsenden, weil die es nämlich gerne wollten. Und das hat sehr gut geklappt. Damit möchte ich auch gleich auf eine weitere Besonderheit des heutigen Tages hinweisen – das hatte Herr Krings schon angedeutet –: Warum debattieren wir denn genau am heutigen Tag über Polizeimissionen? Heute Mittag haben wir in einer Feierstunde im Auswärtigen Amt mit unserem Außenminister Heiko Maas den Tag des Peacekeepers begangen. Zusammen mit dem Bundesministerium des Innern und dem Verteidigungsministerium wurde deutsches Personal internationaler Friedenseinsätze stellvertretend für die 3 000 zivilen und uniformierten Deutschen, die derzeit in Friedenseinsätzen dienen, geehrt. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass einige Mitglieder mehr aus dem Deutschen Bundestag dabei gewesen wären. Das wäre sehr schön gewesen. ({2}) – Ganz entspannt! Ich war ja auch da. – Auch das ist ein Zeichen der Wertschätzung für alle eingesetzten Kräfte ({3}) – nur die Ruhe! – und ihren gemeinsamen, nicht ungefährlichen Einsatz in Afghanistan, in Mali, in Niger, im Kosovo, in Moldau, in der Ukraine, in Libyen, in Ramallah und Rafah, Liberia, Georgien, Irak, Somalia, Darfur, Haiti – und das waren noch gar nicht einmal alle. Das ist auch ein Zeichen der Wertschätzung für die Kolleginnen und Kollegen, die bei Frontex ihren Dienst leisten. Auch bei der Vor- und Nachbereitung des Einsatzes und in der psychologischen Nachbetreuung gab es Verbesserungen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Ein ganz entscheidender Punkt für uns als Bundestagsfraktion und auch für mich persönlich ist der sogenannte virtuelle Stellenpool – ein ganz wichtiger Punkt, nämlich auch mit haushälterischen Auswirkungen. Mit ihm wollen wir in den Bundesländern die Möglichkeit geben, eine Personalreserve zu schaffen, damit die Kollegen, die in den Auslandseinsatz gehen, in der Dienststelle ersetzt werden können. In Zusammenarbeit mit den Ländern wurden im Rahmen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten erarbeitet. Ich würde mich freuen, wenn wir in der nächsten Debatte zu den Polizeimissionen hier im Bundestag unter Beifall den Vollzug dieses Stellenpools feststellen könnten. Das wäre für die weitere Arbeit sehr hilfreich. Das wäre nämlich dann eine gesicherte Finanzierung der Polizisten, die von den Ländern für Auslandseinsätze vereinbarungsgemäß gestellt werden – aufgrund eines vom Bund geschlossenen europäischen Vertrages aus dem Jahr 2000 und mit Aussicht auf dauerhafte und noch umfangreichere Einsätze im Ausland – sei es im Rahmen von Mandaten der UN, der EU oder der OSZE. Bei immer weitreichenderen und langanhaltenderen Konfliktsituationen ist das nicht nur notwendig im Rahmen gemeinsamen Handelns von Bund und Land, sondern es ist auch eine Wertschätzung der Zusammenarbeit auf polizeilicher Ebene. Zu dieser Wertschätzung gehört auch, dass wir die Debatte zum Bericht über das deutsche Engagement in internationalen Polizeimissionen zu einer prominenten Zeit, also nicht gerade nachts um 23 Uhr, führen; das hat heute einigermaßen gut geklappt. Das ist uns mit der Debatte im Jahr 2017 über den Bericht mit der Datenlage 2016 gelungen. Leider lag uns der Bericht für das Jahr 2017 erst im Dezember 2018 vor, sodass wir erst heute darüber debattieren können. Der Bericht ist eher eine Aufzählung von Missionen und Einsatzzahlen. Da wünschte ich mir doch etwas mehr inhaltliche Tiefe, ({0}) sowohl hinsichtlich dessen, was bei den Missionen gut läuft, als auch hinsichtlich dessen, welche Herausforderungen es im Einzelnen gibt, damit der Bundestag, aber auch alle übrigen Interessierten sich ein realistisches und greifbares Bild von den Einsätzen machen können. Die heutige Debatte, aber auch die künftigen Debatten sollen also deutlich machen, welch wichtige Arbeit unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in außereuropäischen Krisengebieten leisten – und das unter schwierigsten Bedingungen. Sie werden oft konfrontiert mit mangelnder Ausrüstung und mangelnden Kenntnissen dortiger Sicherheitskräfte, mit großer Hitze oder Kälte, zwischen fremden und unterschiedlichen Kulturkreisen. Sie machen den Menschen vor Ort Mut und zeigen, ja sie leben die Rechtsstaatlichkeit. Unsere deutschen Polizisten leisten zusammen mit den Akteuren der Bundeswehr, aber auch – wie vorab erwähnt – mit den zivilen Experten des ZIF und ehrenamtlichen Helfern wichtige Arbeit. ({1}) Beispielhaft erwähnen möchte ich das THW, das eine enorme Aufbauleistung zum Beispiel in Tunesien vollbringt. Interessanterweise sind die Hälfte der örtlichen THWler Tunesierinnen. Unterhalten Sie sich mal mit Polizisten, die in Afghanistan unter widrigsten Bedingungen, hoch anerkannt in der Bevölkerung, einheimische Sicherheitskräfte, Männer und Frauen, im rechtsstaatlichen Handeln trainieren, oder mit Polizisten, die in Mali unter klimatischen Bedingungen und Sicherheitsbedingungen, die wirklich kein Geschenk sind, untergebracht teilweise in Zelten, Malier voller Enthusiasmus in Tatortarbeit und Vernehmung unterrichten. Das ist auch Wertschätzung gegenüber dem Land und den Menschen, die sich unter den dortigen Verhältnissen in die Polizeiausbildung wagen, ({2}) die ihr Land sicherer und lebenswerter machen wollen. Auch sie wertschätzen die Ausbildungsunterstützung, die sie bekommen, die Deutschland, die wir alle möglich machen. Ich finde, die Leistung der Polizistinnen und Polizisten gilt es wertzuschätzen. Daher möchte ich von dieser Stelle aus Danke sagen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Konstantin Kuhle. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland beteiligt sich in einem gewissen Umfang an internationalen Polizeimissionen. Die Arbeit, die dort geleistet wird, auch durch Sie, meine Damen und Herren, die Sie heute als Vertreterinnen und Vertreter dieser Menschen hier sind, ist ein wichtiger Bestandteil politischer Friedenssicherung. Es ist gut und richtig, dass wir heute den Beamtinnen und Beamten dafür danken. ({0}) Diese Arbeit liegt natürlich im Interesse der Zielländer; denn es liegt im Interesse der Staaten, in denen die Einsätze stattfinden, dass eine fragile Rechtsordnung unterstützt wird. Wir sollten uns aber auch immer vergegenwärtigen, dass die Arbeit, die in internationalen Polizeimissionen erfolgt, auch in unserem eigenen Interesse, im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und im Interesse der Europäischen Union erfolgt; denn oft genug geht es um schwache Institutionen oder um eine Polizei, der man nicht vertrauen kann. Das sind Faktoren, die dazu führen, dass sich Menschen auf den Weg nach Europa machen. Das sind Faktoren, die dazu führen, dass es Konflikte und Gewalt gibt. Und weil das so ist, gibt es hier im Haus große Einigkeit darüber, dass der Einsatz in internationalen Polizeimissionen gut und richtig ist. ({1}) Deswegen, meine Damen und Herren, steht ja auch im Koalitionsvertrag, dass es eine Stärkung des Einsatzes in internationalen Polizeimissionen geben soll. Deswegen hat sich die Bundesrepublik Deutschland in internationalen Vereinbarungen verpflichtet, mehr Personal für internationale Polizeimissionen bereitzustellen. Nun liegt uns ein Bericht über internationale Polizeimissionen vor, der für das Jahr 2017 leider einen neuen Tiefstand konstatiert. Der Herr Staatssekretär hat es gerade schon ausgeführt: Es gab 176 erfolgreiche Bewerbungen von deutschen Beamtinnen und Beamten auf 501 offene Stellen. Das ist zu wenig. Wir erreichen – Stand heute – unsere eigenen Anforderungen im Bereich der internationalen Polizeimissionen nicht. Die Bundesregierung führt im vorliegenden Bericht einige Gründe auf, warum das so sein kann. Manche dieser Gründe sind interessant, aber bei manchen stellt man sich schon die Frage, ob das nicht ein bisschen zu kurz gesprungen ist. Ich habe mich gewundert, dass es in dem Bericht unter anderem heißt, dass die Zahl der Bewerber zurückgegangen sei, weil die Anzahl der Einsätze in frankofonen Ländern gestiegen sei. Das ist zu kurz gesprungen; denn die Einsätze in internationalen Polizeimissionen bemessen sich nicht nur an der Zahl der Einsatzländer, sondern sie bemessen sich auch nach Schwerpunkten. Hier spielt Afghanistan eine ganz wichtige Rolle. Der Löwenanteil geht nach Afghanistan, und dort wird nun wirklich alles gesprochen, aber kein Französisch. Deswegen ist das zu kurz gesprungen. Es liegen vielmehr andere Gründe vor. Polizeibeamtinnen und -beamte berichten oftmals, dass es vom Zufall abhängt, ob das Engagement im Ausland wertgeschätzt wird, und dass es vom Zufall abhängt, ob der eigene Vorgesetzte Verständnis dafür entwickelt, dass die Erfahrung, die man im Ausland gemacht hat, wertvoll für die Arbeit vor Ort ist. Deswegen ist es wichtig, dass internationale Polizeiarbeit im Stellenplan fest verankert wird. ({2}) Deswegen ist es wichtig, dass internationale Polizeiarbeit in der Absprache zwischen Bund und Ländern fest verankert wird, damit keine Polizeibeamtin und kein Polizeibeamter, die oder der diese wichtige Aufgabe für uns übernimmt, nach dem Auslandseinsatz auch noch einen Nachteil davon hat. Das hat nichts mit Respekt und Wertschätzung zu tun. Deswegen muss sich daran etwas ändern. ({3}) Meine Damen und Herren von den Grünen, es finden sich einige spannende Ansätze in Ihrem Antrag. Sie beschreiben, wie das in Absprache zwischen Bund und Ländern funktionieren könnte. Wir können dem Antrag der Grünen aber leider trotzdem nicht zustimmen, und das hat etwas mit dem Thema Frontex zu tun. Schon in ihrem Bericht benutzt die Bundesregierung Frontex als Entschuldigung dafür, dass die Zahlen im Bereich internationaler Polizeimissionen nicht steigen. Das kann nicht sein. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, sowohl genügend Polizeipersonal für internationale Friedenssicherungsmaßnahmen als auch für Frontex bereitzustellen. Beides ist wichtig. Am Grünenantrag ist zu kritisieren, dass Frontex und andere Polizeieinsätze im Ausland gegeneinander ausgespielt werden. Meine Damen und Herren, unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten haben Respekt, Wertschätzung und Anerkennung verdient – für Einsätze bei Frontex und bei der Polizei. ({4}) Es gibt nicht schlechte und gute Polizeieinsätze Es gibt die Einsätze, die nötig sind, die im Rahmen der UNO, im Rahmen der EU und im Rahmen anderer Polizeimissionen stattfinden. Wir nehmen den Bericht zur Kenntnis. Wir würden uns ein bisschen mehr Kreativität wünschen. Dem Grünenantrag können wir nicht zustimmen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle zwei Jahre legt uns die Bundesregierung einen Bericht über die internationalen Polizeimissionen vor. Das ist an sich begrüßenswert, damit wir über diese Missionen öffentlich diskutieren können. Doch leider enthält der Bericht keinerlei konkrete Angaben, was da eigentlich gemacht wird. Wir erfahren zwar, in welchen Ländern wie viele deutsche Polizisten eingesetzt werden, aber was dort genau passiert, erfahren wir nicht. Fehlanzeige! In Mali zum Beispiel unterstützt ein deutsches Polizeiteam den Kampf gegen Terrorismus. Erklären Sie doch mal: Wie genau? Nennen Sie Details! Welche Ziele hatte diese Mission? Inwiefern wurden sie erreicht oder verfehlt? Die wichtigste Frage für uns lautet: Welchen Nutzen hat die örtliche Bevölkerung davon? Darüber müssen Sie mehr Rechenschaft ablegen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir sind nicht grundsätzlich gegen Polizeimissionen im Ausland. Aber aus unserer Sicht gibt es drei besonders kritische Punkte, die in der Praxis berücksichtigt werden müssen. Erstens. Es geht bei solchen Einsätzen, wie die Bundesregierung im Bericht selbst eingesteht, darum – ich zitiere – „strategische Interessen Deutschlands“ zu wahren. Das heißt, in den Ländern der sogenannten Dritten Welt sollen loyale Polizeikräfte geschaffen werden, die helfen, die Vorherrschaft des reichen Nordens über den armen Süden zu stabilisieren. ({1}) Hinter der Floskel „Demokratieaufbau“ steht oft nackter Neokolonialismus. ({2}) Zweitens. Die Bundesregierung scheut nicht davor zurück, auch mit brutalen Diktaturen zusammenzuarbeiten: Die ägyptische Polizei erhält zum Beispiel jedes Jahr Polizeigerät im Wert von einer halben Million Euro. Ich sage hier ganz klar: Jeder Cent davon ist eine Beihilfe zu Menschenrechtsverletzungen. ({3}) Bundespolizisten helfen Saudi-Arabien bei der Ausbildung des Grenzschutzes und sichern nebenbei ein Milliardenprojekt von EADS ab. ({4}) Die Innenausschussmitglieder aus den vergangenen Legislaturperioden haben sich das dort angesehen. Das finde ich ein Ding der Unmöglichkeit. ({5}) In Afghanistan ist die Polizei heute noch genauso korrupt und kriminell wie zu Beginn des deutschen Einsatzes für die Polizeiausbildung vor 16 Jahren. Noch immer besteht ihr Hauptauftrag darin, gegen die Taliban zu kämpfen. Man kann dort den Polizeieinsatz nicht vom militärischen Einsatz trennen. Solche Polizeimissionen müssen einfach aufhören. ({6}) Drittens. Der Schwerpunkt deutscher Polizeihilfe liegt in den Ländern der sogenannten Migrationsrouten, also in Afrika wie auch auf dem Balkan. Mit einer Fülle von Schulungen und Ausstattungshilfen sollen dort die Grenzen gegen Flüchtlinge dichtgemacht werden. Das Ziel lautet, die dortige Polizei zu Kollaborateuren des europäischen Abschottungsregimes zu machen; und auch das finden wir nicht richtig. ({7}) Im Rahmen von Frontex helfen Hunderte deutsche Polizisten dabei, die Festung Europa abzuschotten. Sie helfen bei der Umsetzung des schäbigen EU-Türkei-Deals. Sie helfen bei der Internierung von Flüchtlingen in den sogenannten Hotspots – so werden die Elendslager auf griechischen Inseln bezeichnet –, wo die Flüchtlinge quasi eingesperrt sind. Das ist nicht das, was wir uns in Bezug auf die Tätigkeit vorstellen können, die Polizistinnen und Polizisten dort ausüben sollten. ({8}) Für Die Linke gibt es klare Bedingungen, denen die Polizeieinsätze unterliegen müssen: Sie dürfen nicht in einem neokolonialen Kontext stehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme gerade zum letzten Satz. – Sie dürfen nicht mit Militäreinsätzen verwoben werden, und sie dürfen nicht mit diktatorischen und repressiven Regimen verknüpft sein. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Ottmar von Holtz das Wort. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Dem Dank an die Polizistinnen und Polizisten, die im Ausland ihren Dienst getan haben und heute auch der Debatte lauschen, möchte ich mich natürlich sehr herzlich anschließen. Vielen Dank für Ihren Einsatz! ({0}) Der Kollege von der sogenannten AfD hat dagegen offensichtlich überhaupt nicht verstanden, um was es bei den Einsätzen ging. Herr Hess, das, was Sie hier vorgetragen haben, hat vor allen Dingen eines gezeigt, nämlich dass Sie überhaupt keine Ahnung davon haben, worum es bei internationalen Friedensmissionen überhaupt geht. ({1}) Das gilt in diesem Zusammenhang auch für das Thema Frauen. Es ist Fakt – das ist auch wissenschaftlich untersucht –: Wenn Frauen bei der Lösung von Konflikten mehr einbezogen werden, dann sind diese Lösungen nachhaltiger. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir vor allen Dingen Polizistinnen in Friedensmissionen schicken, damit wir dort nachhaltigere Friedenslösungen bekommen. Ohne deren Engagement würde Deutschland seine Selbstverpflichtung und auch den Verfassungsauftrag, dem Frieden der Welt zu dienen, gar nicht erfüllen können. Ich möchte aber auch noch ein paar Worte zu Frau Mittag sagen, weil Sie kritisiert haben, dass so viele Kolleginnen und Kollegen bei der Feierstunde heute Mittag nicht anwesend waren: Ich selber war dort anwesend, musste mich aber entscheiden, ob ich außenpolitische Themen hier im Plenum verfolge, was auch meine Aufgabe ist, oder ob ich zum Tag des Peacekeepers gehe. Ich glaube, dass wir da künftig eine bessere Koordination brauchen. Wir werden das auch im Ältestenrat ansprechen. ({2}) Herr Dr. Krings, was Ihren Bericht angeht, möchte ich noch ein bisschen Wasser in den Wein gießen. Wir wissen, dass die engagierten jungen Leute den Einsatz im Ausland oft unter erschwerten Bedingungen leisten. Damit meine ich gar nicht die Bedingungen, die sie vor Ort vorfinden, sondern ich meine die Bedingungen, die wir, die Politik, ihnen bieten. 2016 haben wir hier noch gemeinsam eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen, von denen die Bundesregierung aber leider kaum welche umgesetzt hat. Wo ist denn der Stellenpool, der hier auch schon häufig angesprochen wurde? Wann kommt er? Wie ist der Diskussionsstand mit den Ländern? ({3}) Mit welchem Plan wollen Sie denn dafür sorgen, dass den zurückgekehrten Polizistinnen und Polizisten endlich keine Nachteile mehr aus ihrem Auslandsaufenthalt erwachsen? Die Bundesländer reißen sich nicht darum, Polizistinnen und Polizisten aus ihren Landespolizeien zu entsenden. Dadurch obliegt es den Bewerberinnen und Bewerbern allein, sich mühsam einen Weg zur Mission zu bahnen. Sie müssen Vorgesetzte überzeugen. Es hängt im Prinzip vom Zufall ab, ob sie in den Auslandseinsatz gehen können oder nicht; auch das wurde hier schon gesagt. Sie müssen lange Wartezeiten bis zur Klärung erdulden. Sie haben nach ihrer Rückkehr eine ungewisse Karriere in Kauf zu nehmen und auch noch den Druck der Kollegen auszuhalten. Am Ende sind es aber sie, die das Risiko des Einsatzes auf sich nehmen. Solange der Weg bis zu einem Einsatz lang und beschwerlich ist, wird es keine Zunahme der Einsatzbereitschaft geben. Wo bleiben denn die Anreize? Wo bleibt die Motivationshilfe? ({4}) In Ihrem Bericht erwähnen Sie an mehreren Stellen die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“. Auf verschiedenen Seiten – Seite 58, Seite 84, Seite 121 – wird hierin der internationale Polizeieinsatz als Selbstverpflichtung erwähnt. Lieber Herr Dr. Krings, lieber Herr Roth, sorgen Sie dafür, dass diese Leitlinien mehr sind als ein Schmuckstück im Bücherregal Ihrer Referate! ({5}) Wir dürfen die internationalen Polizeimissionen nicht unterschätzen. Sie sind ein wichtiges Element für zivile, nachhaltige Lösungen. Zum Schluss noch mal ein Wort zu der sogenannten AfD. Die Grünen haben in ihrer Regierungszeit in Niedersachsen – 2013 bis 2017 – für jährlich 250 zusätzliche Polizeistellen gesorgt. Wir haben die Attraktivität des Polizeiberufs verbessert. Wir haben für eine bessere Bezahlung, eine bessere Gesundheitsversorgung usw. gesorgt. Die Glaubwürdigkeit unseres Antrags ist damit also bewiesen. ({6}) Ich finde, im Sinne des Beschlusses von 2016 sollten auch die Koalitionsfraktionen unserem Antrag zustimmen, damit wir das auf den Weg bringen, was wir damals schon beschlossen haben. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal begrüße ich es sehr, dass wir heute über internationale Polizeimissionen sprechen, weil es auch in der vergangenen Legislaturperiode schon ein wichtiges Anliegen war, dass wir, wenn wir hier im Hause über außenpolitische Themen sprechen, nicht nur über die Mandatierungen der Bundeswehr sprechen, sondern eben auch über zivile Einsätze von zivilen Experten und insbesondere auch von Polizistinnen und Polizisten. Nur dieses Abbilden der tatsächlichen militärischen und zivilen Komponenten der Außenpolitik macht nämlich letztlich deutlich, dass wir einen umfassenden Ansatz in der Außenpolitik vertreten, und da spielen Polizistinnen und Polizisten eine zentrale Rolle. Dass wir das gerade am Tag des Peacekeepers machen, ist, glaube ich, auch ein besonderes Zeichen der Wertschätzung, dem ich mich gerne anschließen möchte. Am heutigen Tage denken wir nämlich natürlich auch daran, dass in den letzten 30 Jahren – seit die ersten Polizisten 1989 in den Auslandseinsatz gegangen sind – fast 10 000 Polizisten im Ausland Dienst geleistet und dabei ihre Kompetenz und ihre Leidenschaft eingebracht haben, aber natürlich auch wichtige Botschafter unseres Landes und unserer Art von Polizei waren, womit sie, glaube ich, einen unschätzbar wichtigen Beitrag geleistet haben. ({0}) Es ist in der Debatte bereits darauf eingegangen worden, dass wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viel bewegt haben und trotzdem noch viel Luft nach oben ist. Sowohl für die Länder als auch für den Bund ist es eben eine besondere Herausforderung im Bereich der Polizei, diese Stellen zur Verfügung zu stellen. Es ist vielfach deutlich gemacht worden: In der Vergangenheit waren es eben vor allen Dingen die Enthusiasten, die diesen wichtigen Dienst geleistet haben. Aber die richtigen Anreizsysteme und Rahmenbedingungen haben wir häufig nicht zur Verfügung stellen können. Wenn man sich fragt: „Was brauchen wir da?“, beispielsweise den Stellenpool, dann ist die Wahrheit immer auch, dass das Ganze Geld kostet und dass wir dafür Stellen bei der Polizei brauchen. Deshalb haben wir uns für diese Legislaturperiode vorgenommen, bei Bund und Ländern insgesamt 15 000 zusätzliche Stellen bei der Polizei zu schaffen. Gleichzeitig hat der Bundesinnenminister Seehofer angekündigt, dass er bis zum Jahr 2025 weitere 11 000 Stellen bei der Bundespolizei schaffen möchte. Ich glaube, dass das der richtige Ansatz ist, damit eben die innen- und außenpolitischen Herausforderungen in einer solchen Debatte nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Vielmehr können wir so gleichzeitig für die innere Sicherheit in Deutschland sorgen und unsere Verantwortung in der Welt wahrnehmen. ({1}) Es ist bereits deutlich gemacht worden, dass wir dabei unsere ureigensten Interessen vertreten. Das ist so. Schauen wir uns an, wo die Einsätze der Polizeien sind: Sie finden im Wesentlichen um Europa herum statt: in der Ukraine, in Afghanistan, in der Sahelzone. Natürlich haben wir ein Interesse daran, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern und Transitländern an der Wurzel anzupacken. Und da kann Polizei einen Dienst leisten, wie ihn eben das Militär nicht leisten kann, aber wie ihn auch andere zivile Experten nicht leisten können, weil es am Ende darum geht, Stabilität in den Ländern zu erreichen, Sicherheit im Ordnungssystem, idealerweise auch darum, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Das kann Polizei, und das kann insbesondere die deutsche Polizei. Deswegen ist mir an dieser Stelle eben auch wichtig, zu sagen: Deutschland tut sowohl auf der Ebene der UN wie auch auf der der Europäischen Union unglaublich viel. Aber es geht nicht darum, Geld zur Verfügung zu stellen, sondern das, was gebraucht wird, ist die Kompetenz der deutschen Polizistinnen und Polizisten. Deshalb müssen wir an dieser Stelle weiterarbeiten. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält das Wort der Kollege Josef Oster, CDU/CSU.

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir verfügen in Deutschland über eine Polizei, die in unserer Bevölkerung höchstes Ansehen genießt. Wir verfügen über eine Polizei, die hervorragend ausgebildet ist. Und wir verfügen über eine Polizei, die uneingeschränkt auf einem rechtsstaatlichen Fundament arbeitet. Das sind Werte, meine sehr geehrten Damen und Herren, die wir selbst häufig nicht hoch genug würdigen. Auch dafür ist die heutige Debatte ein willkommener Anlass. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Polizei genießt auch international höchste Anerkennung. Die Beamtinnen und Beamten sind aufgrund ihrer Kompetenz und Erfahrung beste Botschafter für das positive Ansehen unseres Landes. Wir wollen, dass Deutschland international eine noch stärkere Verantwortung für Frieden, Sicherheit und Entwicklung übernimmt. Das schließt eben auch den Einsatz von Polizistinnen und Polizisten im Ausland ein. Dabei übersehe ich nicht, dass wir hier noch ein gutes Stück besser werden können. Im Jahr 2017 waren durchschnittlich weniger als 200 deutsche Polizisten international im Einsatz. Im Verhältnis zur Größe unseres Landes und zu den internationalen Anforderungen ist das zweifelsohne deutlich zu wenig. Die polizeilichen Einsatzzahlen und Herausforderungen sind aber eben auch in Deutschland in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Und die Einsatzbereitschaft in Deutschland hat selbstverständlich immer Vorrang. Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das hat aber unsere Bundesregierung erkannt. Wir brauchen eben mehr Personal, national und auch international. Wir haben einen beispiellosen Personalaufwuchs bei der Bundespolizei beschlossen; das ist schon angesprochen worden. Wenn man das Jahr 2016 miteinbezieht, sind es insgesamt 8 500 Stellen, um die die Bundespolizei wachsen wird. Genau das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen. Für Landespolizeien haben wir hier in Berlin nicht die politische Zuständigkeit; das wissen wir. Aber auch hier macht sich die Union für internationales Engagement stark. Der CDU-Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, hat beispielsweise erst vor Kurzem erklärt, dass er die Zahl der nordrhein-westfälischen Beamtinnen und Beamten im Auslandseinsatz verdoppeln wird – auch das ein Signal der Union. ({1}) Meine Damen, meine Herren, natürlich ist es wichtig, dass wir dabei unsere eigenen Hausaufgaben nicht vernachlässigen; auch das ist hier schon angesprochen worden. Themen wie Migration, zunehmende Gewaltbereitschaft, Kleinkriminalität: all das stellt unsere Polizei im Inland vor wachsende Herausforderungen. Mit „eigenen Hausaufgaben“ meine ich auch die Einsätze in Europa. Für eine verlässliche Sicherung unserer Außengrenzen ist der Ausbau von Frontex unerlässlich. Auch das wird weitere Personalressourcen binden. Genau deshalb muss der Personalaufwuchs, wie wir bereits beschlossen haben, auch in Zukunft kontinuierlich weitergehen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss noch ein Wort zum Antrag der Grünen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass Sie sich mit der Arbeit unserer Polizei auseinandergesetzt haben und diese Arbeit auch wertschätzen. Auch sonst enthält Ihr Antrag – das will ich sagen – eine Reihe von durchaus guten und sinnvollen Anregungen. Er erweckte bei mir allerdings, als ich ihn gelesen habe, zumindest ein wenig den Eindruck, dass Sie deutsche Polizisten lieber im Auslandseinsatz sehen als in unserem Land selber. Das war mein persönlicher Eindruck, vielleicht habe ich mich getäuscht. ({2}) Aber ich würde mich jedenfalls freuen, wenn auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, den Personalaufwuchs unserer Polizei in Zukunft positiv begleiten würden. ({3}) Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Oster. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ausbau des deutschen Polizeiengagements in internationalen Friedensmissionen voranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10678, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/9273 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP mit den übrigen Stimmen der Fraktionen des Hauses angenommen. Bevor ich die neuen Tagesordnungspunkte aufrufe, möchte ich eine geschäftsleitende Bemerkung abgeben, die man mir nachsehen muss. Sollte es bei der einen Kollegin und dem anderen Kollegen die Neigung geben, angesichts späterer Tagesordnungspunkte nach 0 Uhr die eine oder andere Rede zu Protokoll zu geben, empfehle ich, dieser Neigung nachzugeben; ({0}) vor allen Dingen angesichts der Tatsache, dass die Parlamentarische Gesellschaft heute ihr Sommerfest feiert und wir selbstverständlich als Mitglied der Parlamentarischen Gesellschaft dort gelegentlich vorbeischauen sollten. Ich setze da auch auf die segensreiche Wirkung der Parlamentarischen Geschäftsführer. Es ist nur eine Anregung bzw. eine Anmerkung, die von Ihnen ernst genommen werden sollte, aber nicht muss.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einiger Zeit beschweren sich bei mir immer mehr Menschen über die Besteuerung der Renten. Sie sagen: Renten dürften doch überhaupt nicht besteuert werden. Und sie fragen: Warum muss ich mit 80 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben eine Steuererklärung machen? – Steuern zahlen auf die Rente: Das verstehen sie nicht, das überfordert sie, das regt sie auf. Meine Damen und Herren, diese Sorgen und Ängste der Menschen sollten wir alle hier im Haus sehr ernst nehmen. ({0}) Und deshalb fordert Die Linke die Bundesregierung auf, die Missstände rund um die Rentenbesteuerung endlich anzugehen. Die Fakten: Über alle Rentenarten hinweg liegt eine durchschnittliche Bruttorente heute aktuell bei rund 1 125 Euro. Wer ab 1. Juli neu in Rente geht, muss bereits ab einer Rente von 1 169 Euro brutto Steuern auf die Rente zahlen. Allein in diesem Jahr werden nur aufgrund der Rentenerhöhung ab 1. Juli 48 000 Ältere erstmals eine Steuererklärung machen müssen. Die Folge: Von den insgesamt 21 Millionen Rentnerinnen und Rentnern müssen 5 Millionen Steuern zahlen, also fast ein Viertel aller Rentner. Klar und deutlich: Die Durchschnittsrenten in Deutschland sind zu niedrig. Sie müssen deutlich steigen. ({1}) Durchschnittsrenten von 1 100 bis 1 200 Euro brutto dürfen auf gar keinen Fall auch noch besteuert werden. Meine Damen und Herren, wir leben in einem reichen Land. Deshalb darf niemand im Alter in Armut leben müssen, und darum fordern wir Linken eine einkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente von derzeit 1 050 Euro netto. ({2}) Darum fordert Die Linke, den Grundfreibetrag von heute 764 Euro sofort auf 1 050 Euro anzuheben. ({3}) Der Grund für die immer höhere Steuerbelastung der Rentnerinnen und Rentner ist die im Jahr 2004 von Rot-Grün beschlossene Umstellung auf die sogenannte nachgelagerte Besteuerung der Renten. ({4}) Was heißt das? Seit 2005 steigt der Anteil der Rente, der besteuert wird, Jahr für Jahr. Aktuell werden 78 Prozent der Alterseinkünfte besteuert. Wer 2040 in Rente gehen wird, muss dann auf seine gesamten Renteneinkünfte Steuern zahlen. ({5}) Meine Damen und Herren, die nachgelagerte Besteuerung ist eigentlich eine gute Idee. ({6}) Denn mit der zunehmenden Besteuerung der Renten werden bis 2025 die Steuern auf die Rentenbeiträge, die während des Arbeitslebens zu zahlen sind, komplett abgeschafft. Da man regelmäßig im Erwerbsleben höhere Einkünfte als in der Rentenphase hat und in unserem Steuersystem höhere Einkommen auch höher besteuert werden, zahlen Menschen – auf ihr ganzes Leben gesehen – weniger Steuern als nach dem alten Prinzip. Heute können nur 88 Prozent der Altersvorsorgebeiträge von der Steuer abgesetzt werden. Ab 2025 wird dann auf alle Renten- und Altersvorsorgebeiträge kein Cent Steuern mehr fällig werden. Nun ein Wort an die Jüngeren. Wer um 2070 in Rente gehen wird, kann sich freuen. Er oder sie konnte während des kompletten Arbeitslebens von 2025 bis 2070 mehr Rentenbeiträge von der Steuer absetzen, als dann im Alter Steuern auf die Rente zu zahlen sein werden. Deshalb unterstützen wir das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung. Aber: Es darf nicht passieren, dass Menschen bis 2070 die Doppelbesteuerung droht. Deshalb fordert Die Linke: Erstens. Die Abschmelzung des Rentenfreibetrags muss bis 2070 gestreckt werden. ({7}) Das ist unser Vorschlag, den die AfD in ihrem Antrag von uns Linken abgeschrieben hat. ({8}) Deshalb sage ich: Der AfD-Antrag ist völlig überflüssig. Zweitens. Wir fordern, dass die Finanzämter auf Antrag eine mögliche Doppelbesteuerung berechnen. Niemand darf gezwungen sein, das mühsam vor Gericht einklagen zu müssen. Drittens. Das Rentenniveau muss auf 53 Prozent erhöht und der Rentenfreibetrag entsprechend neu berechnet werden. Liebe Koalition, im Interesse von Millionen Rentnerinnen und Rentnern: Keine Steuern auf niedrige Renten – Doppelbesteuerung abschaffen! Danke schön. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörer! Wir dürfen uns heute mit diesen zwei Anträgen der Linken und der AfD zum Thema Rentenbesteuerung befassen – ein wichtiges Thema, ein generationenübergreifendes Thema. Wir wissen: Das Bundesverfassungsgericht hat uns 2002 aufgegeben, die damalige Praxis der Rentenbesteuerung zu ändern und eine Neuregelung zu schaffen, die sogenannte nachgelagerte Besteuerung. Dem ist der Gesetzgeber dann nachgekommen. Seit 2005 gibt es dieses neue Recht. Die Überleitung in die sogenannte nachgelagerte Besteuerung war ein richtiger Schritt. Sie fügt sich in unser Steuersystem ein; denn sie geht danach, dass wir besteuern zum Zeitpunkt des Zuflusses. Für den Bürger ist die nachgelagerte Besteuerung in der Regel von Vorteil. Das Einkommen im Rentenalter ist regelmäßig geringer als während des Erwerbslebens, sodass die Rentenzahlungen aufgrund der Steuerprogression, die wir ja haben, mit einem niedrigeren Steuersatz belastet werden. Die vorliegenden Anträge von AfD und Linken erwecken aber teilweise den Eindruck – das haben wir eben auch bei der Rede des Kollegen Birkwald gehört –, dass bereits die Tatsache, dass immer mehr Rentner ihre Rente der Steuer zu unterwerfen haben, an sich verwerflich ist. ({0}) Sie schreiben ja in Ihrem Antrag: Seit der schrittweisen Einführung der sogenannten nachgelagerten Besteuerung im Jahr 2005 hat sich die Zahl der steuerbelasteten Rentnerinnen und Rentner beinahe verdoppelt. Da fehlt dann nur noch das Wort: Das ist skandalös. ({1}) – Aber so hat es sich angehört. ({2}) Dazu ist Folgendes festzustellen: Die Steuerbelastung von Renten ist grundsätzlich erst mal nicht zu kritisieren. Vielmehr ist sie eine Folge der höheren Rentenauszahlungen. Die Rentenerhöhungen der letzten Jahre machen sich hier bemerkbar und eben die Überleitung in das System der nachgelagerten Besteuerung. Es darf und sollte hier keinesfalls der Eindruck entstehen, dass die Besteuerung von Rentenbezügen insgesamt unzulässig und fragwürdig sei. ({3}) Um es noch mal klarzustellen: Die Besteuerung von Rentenbezügen ist das Spiegelbild der Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen, und sie ist deswegen auch systematisch richtig. ({4}) Wenn hier nun versucht wird, fast jede Besteuerung von Renten als eine Doppelbesteuerung darzustellen, dann ist das eigentlich unseriös; denn es gibt aufgrund der unterschiedlichen Erwerbsbiografien, aufgrund unterschiedlicher Eintritte ins Rentenalter, aufgrund unterschiedlicher Rentenbezugszeiten, ({5}) aufgrund der Pauschalierungen in den Übergangsregelungen, insgesamt durch die Komplexität unseres Rentensystems tatsächlich bei wenigen Rentnern den Fall, dass es dazu kommt, dass sie auf Teile ihrer Rente Steuern bezahlen, obwohl bereits die Beitragszahlung teilweise der Steuer unterworfen wurde. Schon damals, bei der Diskussion um den Entwurf des Alterseinkünftegesetzes, haben wir Einzelfälle identifiziert, bei denen es tatsächlich zu einer nicht gewollten Doppelbesteuerung kommen kann. Durch die Initiative der CDU/CSU-Fraktion haben wir damals in dieses Gesetz eine Öffnungsklausel eingebaut, und die hat sich in der Praxis bewährt. Damit wird jedenfalls eine Zweifachbesteuerung definitiv ausgeschlossen. Der Steuereffekt in der Gesamtbetrachtung bleibt neutral.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung, nach Ihren Ausführungen hinsichtlich der notwendigen Geschwindigkeit heute Abend würde ich darauf verzichten wollen. ({0}) Damit wir uns richtig verstehen, meine Damen und Herren, liebe Kollegen: Eine Doppelbesteuerung ist in jeder Form abzulehnen. Das gilt im Übrigen nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Unternehmen. Bei diesen wird nämlich leider Doppelbesteuerung viel zu oft hingenommen, zum Beispiel infolge von fehlenden internationalen Abstimmungen oder gewerbesteuerlichen Verwerfungen. Aber das soll jetzt hier nicht das Thema sein. Es kann vielmehr, wie schon angedeutet, durchaus sein, dass nicht alle Steuerpflichtigen von der steuerlichen Entlastung durch den Abzug von Rentenbeiträgen gleichermaßen profitieren konnten. Diese Fälle wird es auch nach dem kompletten Systemwechsel im Jahr 2040 geben. Aber das Steuerrecht kann nicht immer die Einzelfallgerechtigkeit im Detail garantieren. ({1}) Das kann man beklagen. Aber diese Fälle, meine Damen und Herren, sind keine Doppelbesteuerungsfälle. ({2}) Die Linksfraktion will nun den steuerlichen Grundfreibetrag auf mindestens 12 600 Euro pro Jahr anheben. Auch dazu nur kurz: Wir haben vor einem knappen halben Jahr das steuerliche Existenzminimum um 169 Euro angehoben. Das hat knapp 3,5 Milliarden Euro gekostet. Und Sie wollen jetzt tatsächlich den Grundfreibetrag um das 15‑Fache dieser Erhöhung steigern. Ich weiß, bei den Linken wächst das Geld auf den Bäumen. ({3}) Aber das ist jedenfalls nicht seriös. Es mag für viele Rentner lästig sein – dafür habe ich großes Verständnis –, dass sie nach einigen Jahren ohne Steuererklärung, insbesondere jetzt, bedingt durch die erheblichen Rentensteigerungen in den letzten Jahren, auf einmal wieder Steuererklärungen abgeben müssen. Ja, das ist lästig. Aber dieser Mehraufwand wird durch den Übergang zu vorausgefüllten Steuererklärungen in Zukunft deutlich erleichtert, und er ist jedenfalls kein Grund, die Steuersystematik insgesamt zu ändern. ({4}) Was mich allerdings mit Sorge umtreibt – das will ich zugeben –, sind die Fälle, die wir immer wieder erleben, bei denen es zu Nachforderungen vom Finanzamt kommt. Rentner, die oftmals mangels eines direkten Abzugs über Jahre hinweg gar nicht wissen, dass sie eine Steuererklärung abgeben müssen, werden dann ja erst im Rahmen der Veranlagung besteuert, und das führt dann, obwohl es über das Jahr hinweg nur eine kleine Summe ist, plötzlich zu einer großen Nachzahlung. Da stehen dann viele Rentnerinnen und Rentner vor einem Berg; und das ist wirklich misslich. Dafür, dass da Ärger aufkommt, habe ich großes Verständnis. Deswegen muss es unser Ziel sein, dass wir die steuerlichen Pflichten für die Bezieher von Alterseinkünften vereinfachen und eine zeitnahe Besteuerung gewährleisten. Ich glaube, das ist die zentrale Aufgabe, der wir uns als Gesetzgeber stellen müssen, der sich aber auch die Finanzverwaltung stellen muss. Das müssen wir angehen. Jedenfalls helfen uns Schaufensteranträge wie die heute vorgelegten da nicht weiter. Herr Birkwald, da muss ich Ihnen zustimmen bzw. widersprechen: Nicht nur der Antrag der AfD ist unnötig, Ihrer auch. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gutting. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-­Ziesing, AfD-Fraktion. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Bürger! Mit dem Alterseinkünftegesetz wurde 2004 die sogenannte nachgelagerte Rentenbesteuerung stufenweise eingeführt. Dieses Gesetz war die Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2002. Dort wurde verfügt, dass auch Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nachgelagert zu versteuern sind. Es wurde in diesem Urteil aber auch festgehalten, dass eine Doppelbesteuerung unbedingt und in jedem Falle zu vermeiden sei. ({0}) Mit dem Alterseinkünftegesetz wurde eine Übergangslösung mit einem Stufenmodell zur Freistellung der Beiträge und zur Besteuerung der Renten eingeführt. Diese Übergangslösung entspricht aber nicht der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes, ({1}) da sie von einer zu kurzen Übergangsphase ausgeht. ({2}) Wenn man einen Eckrentner mit einer Beitragszeit von 45 Jahren zugrunde legt, dann dürfte, ausgehend von einer vollen steuerlichen Abzugsfähigkeit der Beiträge ab 2025, eine volle Rentenbesteuerung erst mit einem Rentenbeginn ab 2070 vorgenommen werden. Der Gesetzgeber hat diese Übergangsphase aber um 30 Jahre verkürzt. Die Folge ist, dass Rentner eine Rente erhalten, bei der die Beiträge teilweise versteuert wurden, ({3}) und nun auf diese Renten wieder Steuern gezahlt werden müssen. Was ist das denn anderes als eine Doppelbesteuerung? ({4}) Genau hier hat das Bundesverfassungsgericht verfügt, dass eine Doppelbesteuerung unbedingt zu vermeiden sei. Mit dem Alterseinkünftegesetz sollte sichergestellt werden, dass Pensionäre gegenüber Rentnern nicht benachteiligt werden. Im Ergebnis stehen nun die Rentner mit Rentenbeginn ab 2016 schlechter da als die Pensionäre. Im Jahre 2040 müssen beide ihre Alterseinkünfte voll versteuern; aber die normalen Rentner mussten in den Jahren vor 2025 Beiträge zahlen. Dieses Problem ist den jeweiligen Finanzministern schon von Anfang an bekannt. Bereits im Jahr 2004 gab der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger eine Stellungnahme zur drohenden Doppelbesteuerung ab. Aber was hat die Bundesregierung bisher gegen die Doppelbesteuerung unternommen? Nichts! Sie schwadronieren vor dem Wahlkampf von einer Respektrente, lassen jedoch unsere Rentner im Stich, wenn es wirklich darauf ankommt. ({5}) Unsere Rentner sind auf sich allein gestellt und müssen in aufwendigen Gerichtsverfahren gegen die Doppelbesteuerung vorgehen, ({6}) obwohl es die Aufgabe des Gesetzgebers wäre, die Doppelbesteuerung zu verhindern, wie das Bundesverfassungsgericht klar vorgegeben hatte. Diverse Bundesregierungen schafften es bis heute nicht, eine Abhilfe für die Rentner zu erarbeiten. Diese Untätigkeit ist nicht nur beschämend; das zeigt auch, welchen Stellenwert die Rentner bei Ihnen haben. ({7}) Bei der Ost-West-Angleichung oder im Falle der in der DDR geschiedenen Frauen wartet die Bundesregierung ja auch erst einmal ab. Abwarten und Nichtstun hat sich anscheinend in der ganzen Regierung etabliert. ({8}) Angesichts der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes ist jedoch ein Abwarten etwaiger finanzgerichtlicher Entscheidungen zur Besteuerung der Renten nicht sachgerecht. Es gibt Rentner, die sich gegen die Doppelbesteuerung wehren können und dies auch tun. Es ist ein mühsamer Prozess, bei dem sämtliche Einkommensteuerbescheide aus dem Erwerbsleben nachgewiesen werden müssen. Die Klageverfahren ziehen sich über Jahre hin. Diese Tortur können und dürfen wir unseren Rentnern nicht zumuten. ({9}) Daher fordern wir als AfD-Fraktion die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Fehlentwicklung bei der Rentenbesteuerung korrigiert wird. In unserem Antrag – den wir uns selbst ausgedacht haben – ({10}) schlagen wir vor, die Übergangsphase in der Rentenbesteuerung um 30 Jahre zu strecken. Eine solche Verlängerung der Übergangsphase ist geboten, weil erst mit unserem Modell sichergestellt ist, dass bei einem angenommenen Eckrentner sämtliche zugrundeliegenden Rentenbeiträge steuerlich voll abzugsfähig waren. Für eine Regierung ist es natürlich schwer, auf schon verplante Steuereinnahmen zu verzichten. Sie sollten es hier aber tun; denn diese Steuern ziehen Sie nicht zu Recht ein. Und Sie würden damit endlich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Meine Damen und Herren aus der Regierung und im Besonderen die Genossen unter Ihnen, beseitigen Sie erst einmal die von Ihnen in der Vergangenheit eingeführten Ungerechtigkeiten wie die Doppelbesteuerung oder die Doppelverbeitragung bei den Betriebsrenten, bevor Sie im Wahlkampfwahn weitere Ungerechtigkeiten – Stichwort: Grundrente – einführen. ({11}) Doppelt hält nicht immer besser. Für Sie ist es nur eine Gesetzeskorrektur, aber für unsere Rentner ist es eine Ungerechtigkeit, die beseitigt werden muss. Vielen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rente ist ein wichtiges Thema, nicht nur für ältere Menschen in unserem Land. Deswegen ist es umso wichtiger, dass es bei diesem Thema auch gerecht zugeht, und deswegen müssen wir die Sorgen von Rentnerinnen und Rentnern ernst nehmen. ({0}) Genau das tun wir. Respekt vor Lebensleistung – das ist unser Anspruch als SPD. ({1}) Das gilt auch für die mögliche Doppelbesteuerung, über die wir heute hier debattieren. Im Jahr 2005 – es wurde schon öfters gesagt – gab es einen Systemwechsel in der Besteuerung der Renten: Die Rentenbeiträge werden nicht besteuert, die Auszahlung hingegen wird in Zukunft besteuert. Damit sind wir damals der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gefolgt, das gesagt hatte: Die unterschiedliche Besteuerung von Pensionen und Renten ist verfassungswidrig. ({2}) Weil dies ein komplizierter Systemwechsel war, wurde damals eine Regierungskommission beauftragt, diese Übergangsregelung auszuarbeiten. Die Kommission hat eine Lösung gesucht, die erstens einen gerechten Übergang ermöglicht, zweitens machbar ist und drittens die Doppelbesteuerung ausschließt. ({3}) Das Ergebnis ist der Systemwechsel, den wir im Moment durchlaufen. Eine Doppelbesteuerung gibt es nach diesem System nicht und soll es nicht geben, zumindest wenn man die gängige Berechnungsmethode zugrunde legt. Es gibt aber eine Studie – auf diese beziehen sich sowohl die Linken als auch die AfD –, die andere Annahmen zugrunde legt. Daraus ergibt sich eine andere Berechnungsmethode. Als Ökonomin kann ich Ihnen sagen: Annahmen sind entscheidend für das Ergebnis. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Wer denkt, dass Windräder hinter den vermehrten Stürmen stehen, kommt auch zu dem Schluss, dass die Windenergie schuld am Klimawandel ist. ({4}) Okay, das ist ein Extrembeispiel, liebe Kolleginnen und Kollegen; aber einige in der AfD glauben das. Bevor wir aber bewerten, ob das Ergebnis für bare Münze genommen werden kann, müssen wir schauen, welche Annahmen zugrunde liegen. Bei der Frage der Doppelbesteuerung geht es im Kern um eine Annahme, nämlich um die Frage: Welche Freibeträge werden im Alter berücksichtigt? Wenn sie berücksichtigt werden – wie in der herkömmlichen Berechnungsmethode –, dann ist eine Doppelbesteuerung nahezu ausgeschlossen. Der Regelfall ist sogar eine Minderbesteuerung. Deren Höhe schätzen Wissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin im Schnitt auf 11,9 Prozent. ({5}) Mit anderen Worten: Der Systemwechsel entlastet die meisten sogar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins möchte ich noch einmal klarstellen: Wir nehmen die Sorgen der Rentnerinnen und Rentner in diesem Land ernst. Bei dem Systemwechsel war klar: Doppelbesteuerung soll und darf es nicht geben. Deswegen wurde die Reform in enger Kooperation mit der Wissenschaft entwickelt. Eine Debatte über das Berechnungsverfahren wollen wir nicht ausschließen; im parlamentarischen Verfahren werden wir das selbstverständlich noch einmal prüfen. Aber eins sollen Sie wissen: Wir werden uns für eine bessere, höhere und sichere Rente einsetzen. Dafür müssen wir das Rentenniveau nicht nur stabilisieren, sondern erhöhen. Die Rente muss Lebensleistung honorieren, auch mit der Grundrente. Und dafür stehen wir als SPD. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Markus Herbrand. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Rentenbesteuerung vereinfachen und Doppelbesteuerung vermeiden bzw. abschaffen – so lauten die Titel der eingebrachten Anträge. Diese Anliegen unterstützen auch wir im Grundsatz. Denn das eine, die Vereinfachung, haben wir eigentlich schon selber gefordert und Vorlagen dazu eingebracht. Da haben Sie also abgeschrieben. Das andere, die Doppelbesteuerung zu vermeiden bzw. abzuschaffen, entspricht dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil zur Ungleichbehandlung von gesetzlichen Renten und Pensionen. Das Gericht hat darin ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzgeber bei seiner Neuausgestaltung der Besteuerungsregeln sicherzustellen hat, dass eine Doppelbesteuerung vermieden wird. Darüber, ob es überhaupt zu einer Doppelbesteuerung kommt und welche gesetzgeberischen Folgen das haben muss, muss eine Debatte geführt werden. ({0}) Bislang jedenfalls sind die Finanzgerichte in allen Urteilen und auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages immer zu dem Ergebnis gelangt, dass eine verfassungswidrige Doppelbesteuerung nicht vorliegt. ({1}) Im Kern – das wurde schon gesagt – geht es darum, dass im Rahmen einer Übergangsregelung über mehrere Jahrzehnte die Besteuerung der Renten auf der einen Seite schneller greift als die Freistellung der Vorsorgeaufwendungen von der Steuer auf der anderen Seite. Dies zu ermitteln, bedarf der Kenntnis ganz vieler Faktoren wie beispielsweise der Erwerbsbiografie, des Familienstandes, der abzugsfähigen Vorsorgeaufwendungen, der unterschiedlichsten Höchstbetragsberechnungen in all den Jahren. Außerdem benötigen wir genaues und komplexes Wissen darüber, wie sich diese Faktoren im Laufe des gesamten Besteuerungszeitraums bei immer wieder veränderten Gesetzen in der Vergangenheit auf die Besteuerung auswirken. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist in der Tat steuerpolitisches Hochreck – und wer hoch turnt, der kann auch mal tief fallen. Die Kolleginnen und Kollegen der Linken schlagen vor, den Grundfreibetrag und das Rentenniveau anzuheben. Darüber kann man streiten, ist aber hier aus meiner Sicht völlig sachfremd. Beides hat überhaupt nichts mit der zur Debatte stehenden Frage der Versteuerung zu tun. ({2}) Das ist Sozialpolitik mit der Gießkanne, wie von der Linken gewohnt. ({3}) Im Übrigen vermittelt der Antrag – ich unterstelle sogar: bewusst – falsche Eindrücke. ({4}) Sie wollen glauben machen, dass die Erhöhung der Anzahl steuererklärungspflichtiger Rentner in den letzten Jahren ausschließlich mit der Änderung der Versteuerung zu tun hat. Dabei ist die Ursache eher der automatische Informationsaustausch, den es erst seit einigen Jahren zwischen den Rentenversicherungsträgern und der Finanzbehörde gibt. Außerdem suggerieren Sie, dass alle Rentner Einkommensteuer zahlen. Richtig ist aber, dass Rentner in den meisten Fällen erst dann Einkommensteuer zahlen, wenn neben der Rente noch weitere Einkünfte bezogen werden. ({5}) Auch Sie müssten eigentlich wissen, dass in Deutschland nicht nach Alter oder Status besteuert wird, sondern ausschließlich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. ({6}) Davon darf man auch Rentner nicht ausnehmen. ({7}) Der Ansatz der AfD, der, wie in der Begründung des Antrags beschrieben, eine pauschale zeitliche Streckung der Übergangsphase auf der Auszahlungsseite vorsieht, ist in der Tat eine von mehreren in der Fachwelt debattierten Optionen. Es gibt aber auch noch andere Vorschläge. Wir werden allen Lösungsansätzen mit der gebotenen Ernsthaftigkeit nachgehen. Um der Komplexität des Themas angemessen nachzukommen, benötigen wir intensive Beratungen im Finanzausschuss, sonst laufen wir wie bei der Erbschaftsteuer, bei der Grundsteuer und jetzt offenbar auch beim Solidaritätszuschlag sehenden Auges in die Verfassungswidrigkeit hinein. Das wird die FDP zu verhindern wissen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herbrand. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, und die blitzt an einer Stelle sogar in dem Antrag der Linken auf. Im Feststellungsteil heißt es nämlich: „... die nachgelagerte Besteuerung“ wird „über das gesamte Leben betrachtet zu einer Entlastung führen“. Damit könnte man diesen Antrag eigentlich auch gleich beiseitelegen. ({0}) Dass es zu einer Entlastung führt, hat schon im März dieses Jahres der ansonsten von Ihnen gern als Sachverständiger eingeladene Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, noch einmal bestätigt. Im Gesetzentwurf seinerzeit ist der Bund von Mindereinnahmen in Höhe von 15 Milliarden Euro ausgegangen. In einer Stellungnahme dazu hat das RWI, ein Wirtschaftsinstitut, sogar 22 Milliarden Euro Steuermindereinnahmen durch den Umstieg in die nachgelagerte Besteuerung festgestellt. Das heißt also: Durch den Umstieg in die nachgelagerte Besteuerung sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler unter dem Strich entlastet worden. ({1}) Daran muss man an dieser Stelle unbedingt noch einmal erinnern. Da dieses Gesetz in meiner ersten Legislaturperiode als Mitglied des Deutschen Bundestags verabschiedet wurde, weiß ich noch genau, dass wir als Gesetzgeber damals einen Sicherheitspuffer eingebaut haben. ({2}) Wir haben nämlich das Entlastungsvolumen bei den Beitragszahlungen größer gestaltet als den Aufwuchs der Steuerpflicht bei der Rente. ({3}) Das Bundesverfassungsgericht, das von Ihnen jetzt inflationär bemüht wird, ({4}) hat 2015 in einem Beschluss noch einmal festgehalten, dass der Besteuerungsanteil für die Rente, der erstmalig 2005 bei 50 Prozent festgesetzt wurde, sogar hätte höher angesetzt werden können. Es ist also ein Puffer eingebaut worden. Wie der Kollege Gutting richtigerweise schon ausführte, kann ein Gesetzgeber bei dieser Frage natürlich nur typisiert vorgehen. Es kann nicht jeder Einzelfall bis auf den letzten Cent durchgerechnet werden. Und auch Sie von den Linken gestehen das im Begründungsteil Ihres Antrags in gewisser Weise ein. Sie schreiben: Wie hoch die tatsächliche steuerliche Belastung ausfallen wird, hängt im Einzelfall allerdings davon ab, ob weitere Einkünfte vorhanden sind, ob zusammenveranlagt wird, ob mit dem Splittingtarif besteuert wird, welche Ausgaben für Versicherung, Vereins- und Gewerkschaftsmitgliedschaften da sind, welche Krankheitskosten abgesetzt werden können usw. usf. – Das alleine macht schon deutlich, was Sie selbst über die Komplexität der Besteuerung in Ihrem Antrag sagen: dass der Gesetzgeber gezwungen ist, eine typisierte Verfahrensweise vorzunehmen. Darum kann man sagen: Generell und im Allgemeinen liegt Doppelbesteuerung überhaupt nicht vor. Sie reden hier beide über ein nicht existentes Problem, um Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern. ({5}) Das ist ein von beiden Enden des Hauses komplett unseriöser politischer Ansatz. ({6}) Ich würde mich hier zu dieser Zeit viel lieber über die Zukunftsfestigkeit der Rente unterhalten als über diese Art von suggestiv gebastelten Anträgen. Der einzige sogenannte Sachverständige, auf den Sie sich berufen, ist der den Fachleuten bekannte Herr Siepe. ({7}) Das ist der Einzige weit und breit, der jedes Jahr dieselben Argumente wiederholt und der behauptet, dass der Grundfreibetrag bei der Steuer nicht eingerechnet werden dürfte, und der mit teilweise sehr absurden – jedenfalls methodisch fragwürdigen – Argumenten die These der Doppelbesteuerung untermauert. ({8}) Ich glaube, das kann keine ernsthafte Beratungsgrundlage sein. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kurth. – Lieber Kollege Birkwald, ich will Sie darauf hinweisen: Wenn Sie sich bei jedem Redner melden, ({0}) würden Sie die Ihnen zugewiesene Redezeit vervierfachen können. Das ist nicht der Sinn der Veranstaltung. ({1}) – Herr Kurth sagt genau wie Herr Gutting, er hätte die Frage auch nicht zugelassen. Ich habe sie ja auch nicht zugelassen. Insofern sind wir einer Meinung. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 wurde die Besteuerung der gesetzlichen Rentenversicherung für verfassungswidrig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht forderte den Gesetzgeber auf, zum 1. Januar 2005 eine Neuregelung der Besteuerung der Renten vorzunehmen. Dies wurde mit dem Alterseinkünftegesetz zum 1. Januar 2005 umgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt war der zu versteuernde Ertragsanteil, abhängig vom Alter des Bezugsberechtigten, zum Zeitpunkt des Renteneintritts auf 27 bis 35 Prozent festgelegt. Ein Rentner mit 1 000 Euro Rente musste also 270 bis 350 Euro der Besteuerung unterwerfen. Aufgrund des damaligen Grundfreibetrags von 7 664 Euro im Jahr 2005 wurden Renten bis zu einer Gesamthöhe von monatlich 1 825 Euro steuerlich nicht veranlagt. Zusätzlich blieben die Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung beim Arbeitnehmer gänzlich steuerfrei. Diese steuerfreien Arbeitgeberbeiträge waren übrigens auch der Grund dafür, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr 2002 Verfassungswidrigkeit festgestellt hat. Es erfolgte nämlich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eine unterschiedliche Behandlung der Besteuerung der Beamtenpensionen und der Besteuerung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Nach dem Gleichheitsgrundsatz war das verfassungswidrig. Mit dem Alterseinkünftegesetz wurde von der damaligen Regierung die schrittweise Einführung der nachgelagerten Besteuerung von Renten eingeführt und korrespondierend dazu eine jährliche Erhöhung der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Beiträge zur Altersvorsorge als Sonderausgabe. Über die steuerlichen Vorteile wurde gerade ja auch schon viel gesprochen. Ab dem Jahr 2025 sind Beiträge zur Altersvorsorge zu 100 Prozent abziehbar, während die Einkünfte aus Renten erst ab dem Jahr 2040 zu 100 Prozent zu versteuern sind. Und diese zeitliche Diskrepanz – der Kollege hat gerade darauf hingewiesen – wurde bewusst gewählt, um Doppelversteuerungen zu vermeiden. Und zur weiteren Abfederung wurde noch ein Altersentlastungsbetrag eingeführt, der zukünftig auch abgeschmolzen wird: Damals waren es 1 900 Euro, heute sind es 912 Euro. Ein Rentner, der im Jahr 2018  1 000 Euro Rente bezieht – um in unserem Beispiel zu bleiben –, muss zwar einen monatlichen Beitrag von 760 Euro der Versteuerung unterwerfen, berücksichtigt man aber den heutigen Freibetrag von 9 000 Euro und nimmt man den Alters­entlastungsbetrag hinzu, fällt auch in dem Beispielsfall keine Einkommensteuer auf die Rente an. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der sukzessiven Erhöhung des Grundfreibetrags wollen wir – und das wollen wir auch weiterhin – die kleinen und mittleren Einkommen entlasten, somit auch die Rentnerinnen und Rentner. Sie als Linke fordern heute die Erhöhung des Grundfreibetrags, stimmt’s? ({1}) Aber als wir letztes Jahr mit dem Familienentlastungsgesetz den Grundfreibetrag erhöht haben, haben Sie nicht zugestimmt. Das ist doch widersinnig in Ihrer Politik. Also, das kann ich nicht verstehen, tut mir leid. ({2}) Aber zurück zum eigentlichen Kern. Das Ziel im Jahr 2005 war – und das bleibt es auch bis heute –, dass Renten, die aus vollbesteuerten Rentenbeiträgen gezahlt werden, auch heute steuerfrei bleiben. Dieser Grundsatz gilt bis heute. Jetzt stellt sich die Frage: Gibt es Grenzfälle, die aufgrund der Umstellung zur nachgelagerten Besteuerung doch zu einer Doppelbesteuerung führen? Das ist übrigens noch überhaupt nicht geklärt. Die von Ihnen zitierten Quellen haben noch keinen Beweis erbracht. In keinem einzigen Gerichtsurteil wurde dies bestätigt. In jedem Urteil wurde festgestellt, dass es gar keine Doppelbesteuerung bei den Rentnerinnen und Rentnern gibt. Und das müssen Sie einfach auch mal anerkennen. Das gilt übrigens auch für das immer wieder zitierte Urteil des Finanzgerichts Hessen. Für den Fall, dass es in Einzelfällen doch eine Doppelbesteuerung gibt – der Kollege Gutting hat darauf hingewiesen –, haben wir als CDU/CSU in 2005 eine Öffnungsklausel eingebracht, die genau diese Doppelbesteuerungsfälle ausschließt und auf Antrag des Steuerpflichtigen vermeidet. Das, was Sie fordern, ist von uns 2005 komplett umgesetzt worden. ({3}) Diese Öffnungsklausel hat sich in der Praxis absolut bewährt. Und um ganz sicherzugehen, dass es auch in Zukunft nicht zu Einzelfällen kommt, die zu einer Steuerdoppelbelastung von Rentnerinnen und Rentnern führen, beteiligt sich die Finanzverwaltung zurzeit sogar an Musterklagen – beratend und sachlich fundiert – mit dem Ziel, auch zukünftig diese Doppelbesteuerung zu vermeiden und abzuwehren. Was mich an Ihren beiden Anträgen wirklich ärgert, ist: Sie stellen Behauptungen in den Raum, die definitiv nicht stimmen. Steuerpolitik zu machen, die auf Hörensagen, auf „Vielleicht“ oder „Es könnte …“ beruht, ist falsch. Steuerpolitik macht man anhand von Fakten, auf fundierten Grundlagen. Und wenn die fundierten Grundlagen das Gegenteil von dem sagen, was Sie behaupten, dann stütze ich mich lieber auf die sachliche und fachliche Beurteilung der Finanzgerichte und derjenigen, die damit zu tun haben. ({4}) Also, wir brauchen Ihre Anträge nicht. Wir werden auch zukünftig dafür sorgen, Doppelbesteuerungen zu vermeiden, und werden natürlich auf die einzelnen Musterverfahren reagieren, wenn es überhaupt einer Reaktion bedarf, allerdings mit steuerpolitisch fundierten Argumenten und Instrumenten. Dann können wir bestimmt darüber reden. Aber bisher – ich will es noch mal sagen – gibt es kein einziges Urteil eines Finanzgerichts und keinen einzigen Einzelfall, die eine Doppelbesteuerung, wie Sie es behaupten, bestätigen. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält das Wort der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Brehm hat das System sehr schön erklärt und auch deutlich gemacht, warum diese beiden Anträge überflüssig sind. Dem schließen wir uns an. Matthias Birkwald hat auch wichtige Sachen gesagt, die das eigentlich belegen. Du hast gesagt: Die Menschen zahlen im Verlauf ihres Lebens weniger Steuern. – Das wurde eben noch mal mit Zahlen unterlegt. Das heißt also, der gesamte Gesetzeskomplex ist richtig gut angelegt, weil die Menschen weniger Steuern zahlen; denn sie sparen in der Einzahlungsphase mehr, als sie später in der Auszahlungsphase zahlen müssen. Deshalb ist das doch richtig klug, und daher gibt es daran auch nicht so viel zu kritisieren. ({0}) Dann kam noch die Kritik, dass Rentner auf niedrige Renten Steuern zahlen. Na ja, da muss man ein bisschen genauer hinschauen: Dreiviertel aller Rentner zahlen gar keine Steuern. Wenn nur ein Viertel der Rentner Steuern zahlt, kann man nicht sagen, dass auch die Ärmsten Steuern zahlen müssten. So kann man das also nicht sehen. Einen wichtigen Punkt, der, glaube ich, dieser ganzen Diskussion zugrunde liegt, hat der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 2004 schon benannt. Es wurde gesagt: Ab 2015 könnte es eine Doppelbesteuerung, eine Zweifachbesteuerung geben. Das hängt davon ab, ob der Grundfreibetrag als steuerfreier Rentenzufluss gewertet wird oder nicht. – Der VDR hat sich aus diesen beiden Alternativen diejenige ausgesucht, die seine These „Es gibt Doppelbesteuerung“ stützt. Aber leider hat er sich das falsche Modell ausgesucht; deshalb ist die These falsch. ({1}) Insofern ist klar: Man kann mit selbst gewählten Grundlagen seine Thesen bestätigen und damit den gesamten Systemwechsel infrage stellen. Und der Systemwechsel war keine Sache von Rot-Grün, sondern kam infolge der schon oft zitierten Verfassungsgerichtsurteile, weil die Beamten nicht nachgelagert besteuert wurden, die anderen aber schon. Die Überschrift des einen Antrags „Abschaffung der Renten-Doppelbesteuerung“ bedeutet ja – das ist eine interessante Sache –, dass es eine Doppelbesteuerung gibt. In dem Antrag selber steht aber dann: Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass … – Das heißt, nur aufgrund von Anhaltspunkten vertritt man schon die These, als ob es so wäre. Also, das halte ich für eine sehr gewagte Grundlage für einen Antrag. Deshalb kann man dem unmöglich folgen. ({2}) Wir haben ja auch gelernt, dass Maiterth und ­Chirvi von der Humboldt-Universität entlang der aktuellen Zahlen in diesem Jahr nachgewiesen haben, dass es keine Doppelbesteuerung in diesem System gibt. – Sie schütteln jetzt den Kopf; aber man müsste es ja immerhin nachweisen. Das charakterisiert beide Anträge. Ich kenne keine Rechnung, die das belegt. ({3}) Ich kenne nur einen Prämissenwechsel: Man nimmt sich neue Voraussetzungen als Grundlage, um neue Ergebnisse zu erzielen. Das ist eine Methode, die mathematisch unsauber ist. Deshalb rate ich auch davon ab, sich auf das Siepe-Gutachten zu beziehen. Es ist in dieser Hinsicht nicht seriös. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 19/10282 und 19/10629 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführungen sind jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen jeweils Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktionen Die Linke und AfD wünschen Federführung jeweils beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zuerst abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen Die Linke und AfD, Federführung jeweils beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann sind diese Überweisungsvorschläge gegen die Stimmen von AfD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung jeweils beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann sind diese Überweisungsvorschläge mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von AfD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe junge Leute auf der Tribüne! Wir stimmen heute über das Gesetz zur Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe – kurz: BAB – und des Ausbildungsgeldes ab. Ich möchte mich in meiner Rede auf Erstere konzentrieren. Zum Ausbildungsgeld und der damit verbundenen Verdienstsituation in den Werkstätten für behinderte Menschen wird meine Kollegin Angelika Glöckner sprechen. Auszubildende in betrieblicher und außerbetrieblicher Berufsbildung haben unter bestimmten Bedingungen Anspruch auf Sicherung ihres Lebensunterhalts durch die Berufsausbildungsbeihilfe bzw. das Ausbildungsgeld. Am Grundsatz dieser gesetzlichen Regelung rütteln wir nicht. Die Hilfen machen Sinn. ({0}) Wir wollen die finanzielle Unterstützung zum Lebensunterhalt, zu den Wohnkosten und die Freibeträge für das anzurechnende Einkommen der Eltern oder Partner und auch den Kinderbetreuungszuschlag erhöhen, analog zu den jüngsten Änderungen des BAföG, dem Berufsausbildungsförderungsgesetz. Ich meine, das ist fair und folgerichtig. Wir machen keinen Unterschied zwischen Studierenden und Azubis. Studium und Ausbildung sind gleichwertig. ({1}) Unterm Strich gibt es mehr Geld für diejenigen, die die Hilfe des Staates brauchen. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre, insbesondere bei den Mieten, machen die Anhebung der Bedarfssätze notwendig. Mit der Erhöhung der Freibeträge wird hoffentlich auch der Kreis der Anspruchsberechtigten etwas größer. Für die SPD gilt: Die fachlich fundierte Ausbildung junger Menschen ist uns das Geld wert. ({2}) Jedem jungen Menschen muss die Möglichkeit eingeräumt werden, eine Berufsausbildung zu durchlaufen. Gute Ausbildung darf eben nicht am Geldbeutel der Eltern scheitern, vor allem dann nicht, wenn Azubis zu Hause ausziehen müssen, weil der Ausbildungsbetrieb zu weit vom Elternhaus entfernt und die Bleibe am Ausbildungsort von der Ausbildungsvergütung nicht zu bezahlen ist. Geld, meine Damen und Herren, spielt häufig eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, was nach der Schule kommt. Ich kenne Fälle, in denen Jugendliche insbesondere aus einkommensschwachen Elternhäusern schnell etwas verdienen wollen. Eine Ausbildung oder ein Studium kommen mancherorts gar nicht erst in Betracht. Ich finde, das ist ein Trugschluss; denn eine abgeschlossene Berufsausbildung ist der beste Start ins Erwerbsleben. Ausbildung heißt Teilhabe in verschiedener Hinsicht. An erster Stelle dient die Ausbildung dazu, berufliche Fertigkeiten und Fähigkeiten zu vermitteln. Unsere bundesweiten Ausbildungsvorschriften und Ausbildungsprüfungen sorgen dafür, dass alle das gleiche Niveau haben, und machen beruflich mobil, was wiederum viele Chancen am Arbeitsmarkt eröffnet. Eine Ausbildung lohnt sich also auch finanziell. ({3}) Fachkräfte verdienen deutlich mehr als Ungelernte. Für eine Ausbildung spricht auch, dass rund zwei Drittel der Azubis von ihrem Betrieb übernommen werden. Nicht von ungefähr haben wir europaweit eine der niedrigsten Quoten bei der Jugendarbeitslosigkeit. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erhöhung der BAB ist nicht nur für den Einzelnen gut. Wir erhoffen uns auch positive Auswirkungen auf den Ausbildungsmarkt insgesamt. Deutschland braucht Fachkräfte. Der Schlüssel dazu liegt in guter Ausbildung. Eine Ausbildung muss allerdings auch finanzierbar sein. Deswegen ist die BAB ein Baustein, um unter anderem die Mobilität von Azubis zu erhöhen. ({5}) Auch die in dieser Legislaturperiode eingesetzte Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ hat sich dem Ziel verschrieben, die Qualität des Berufsausbildungssystems zu erhalten. Wir schauen gezielt auf die Herausforderungen, die sich in der digitalisierten Arbeitswelt stellen, welche Kompetenzen zukünftig gefragt sind und wie wir unsere Azubis optimal auf die sich wandelnden Berufsbilder vorbereiten können. ({6}) In diesem Sinne muss eine verlässliche Ausbildungs- und Studienfinanzierung fester Bestandteil unserer Bildungslandschaft bleiben. Herzlichen Dank und Glück auf! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Sichert. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Wertes Präsidium! Im Bereich der Werkstätten behinderter Menschen entlastet der vorliegende Gesetzentwurf den Staat, und er belastet die Bürger. Er schafft soziale Ungerechtigkeit, und er bestraft vor allem die Leistungsfähigen. Man kann also sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein typisches Beispiel für die Politik dieser Bundesregierung. ({0}) Das Ziel der Werkstätten für behinderte Menschen ist, die Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt fit zu machen. Der Großteil des dort erwirtschafteten Geldes geht an die Beschäftigten. Das Geld, das sie bekommen, gliedert sich in einen Grundbetrag und einen Steigerungsbetrag. Der Grundbetrag ist für alle gleich; die Höhe des Steigerungsbetrags hängt davon ab, wie viel die einzelnen Beschäftigten leisten. Nun will die Bundesregierung den Grundbetrag erhöhen. Das bedeutet zugleich eine Reduktion des Steigerungsbetrags. Auf gut Deutsch: Wer mehr leistet, bekommt künftig weniger. Wer weniger leistet, bekommt künftig mehr. Das ist grundsätzlich fatal; aber besonders fatal ist es in einer Werkstatt, deren Ziel es ist, Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt fit zu machen; denn zum Arbeitsmarkt gehört auch das Leistungsprinzip. Wer mehr leistet, wer besser ist, der bekommt leichter eine Stelle, der bekommt leichter eine Beförderung als derjenige, der weniger leistet. Will man die Menschen in den Werkstätten also für den Arbeitsmarkt fit machen, dann muss man ihnen auch beibringen, dass sich Leistung lohnt. Der vorliegende Gesetzentwurf bewirkt jedoch genau das Gegenteil; denn Lohn und Leistung stehen da umgekehrt proportional zueinander. Dieser Gesetzentwurf ist ein sozialistischer Entwurf, der zugunsten von mehr Umverteilung Leistung bestraft. Sie nehmen den Menschen damit nicht nur das Sinnstiftende der Arbeit, das Erfolgserlebnis, sondern auch das Glücksgefühl der Erfahrung, dass es sich lohnt, sich anzustrengen. ({1}) Sie sorgen auch dafür, dass jene, die bereits jetzt über ihr geringes Gehalt klagen, die die anderen mitfinanzieren müssen, künftig noch weniger bekommen. Das ist besonders schlimm, weil dann die erhöhte Gefahr besteht, dass die Leute, die am leistungsfähigsten sind und die beste Aussicht haben, in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert zu werden, künftig gar nicht mehr zu den Werkstätten gehen. Schon jetzt ist die Zahl derer, die den Sprung von den Werkstätten in den Arbeitsmarkt schaffen, sehr gering. Künftig wird diese Zahl dank Ihrer fatalen Politik wohl noch geringer sein. Wer aber profitiert von dieser Politik? Das ist der Staatshaushalt. Die Aufstockungsleistungen fallen geringer aus, wenn der Grundbetrag erhöht ist. Das heißt, die Sozialkassen werden entlastet, und diese Entlastung wird dadurch bezahlt, dass die Leistungsfähigen in den Werkstätten für behinderte Menschen weniger Geld bekommen. Dass Sie sich nicht schämen, diesen Schwächsten der Gesellschaft in die Tasche zu greifen, obwohl im Ausschuss immer wieder und in der öffentlichen Anhörung auf dieses Problem und auf die falsche Lenkungswirkung hingewiesen wurde! Das sagt sehr viel über Ihr Selbstverständnis aus, und das ist moralisch unterste Schublade. ({2}) Was an diesem Gesetzentwurf aber auch deutlich wird, ist, dass die Sozialgesetzgebung inzwischen so komplex ist, dass, wenn man an einer kleinen Stellschraube dreht, sich massive Wechselwirkungen an anderer Stelle ergeben. Es ist folglich Zeit, dass wir aufhören, immer nur an kleinen Stellschrauben zu drehen, immer nur den Minimalkonsens zu suchen. Unsere Aufgabe als Bundestag wäre es, eine echte Reform der Sozialgesetzgebung mit deutlicher Vereinfachung und vor allem mit deutlicher tatsächlicher Verbesserung des Lebens der betroffenen Mitbürger anzugehen. ({3}) 15 Gesetzentwürfe der Bundesregierung werden diese Woche hier im Bundestag beraten. Ihnen allen ist bekannt – gerade die Abgeordneten von der Union betonen es ja immer wieder öffentlich –, dass wir vor einem Wirtschaftsabschwung stehen. Unter den 15 Gesetzen, die Sie vorlegen, ist kein einziges Gesetz, das durch Entlastung der Wirtschaft, durch Senkung der Abgaben oder durch Reduktion der Bürokratie dieser Rezession entgegensteuert. Sie schlittern sehenden Auges in die wirtschaftliche, finanzielle und letztlich auch in die sozialpolitische Katastrophe; ({4}) denn die vielen Sozialleistungen, die durch Deutsche, EU-Bürger und Asylbewerber inzwischen bezogen werden, müssen von der deutschen Wirtschaft zuerst erarbeitet werden. ({5}) Die Politik, die Sie hier betreiben, geht an den wahren Problemen in Deutschland vorbei. All die Bürger, die dieser Regierung ein schlechtes Zeugnis ausstellen, haben leider vollkommen recht. Ihnen fehlt der Mut, die wahren Probleme im Land anzugehen. Stattdessen verschlimmbessern Sie wie im vorliegenden Gesetzentwurf immer nur bestehende Regelungen, indem Sie an kleinen Stellschrauben drehen. Das ist schade; denn Deutschland ist ein wundervolles Land mit großartigen Menschen und hätte eine deutlich bessere Politik verdient. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat der Kollege Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren aus Eichsfeld! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute das Gesetz zur Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes. Ich muss nach der Rede von eben mal sagen: Ich glaube, Panikmache ist jetzt hier wirklich nicht angebracht. Wir haben es mit einem Gesetz zu tun – mein Kollege Michael Gerdes hat es gerade schon für den Bereich des ersten Arbeitsmarktes ausführlich angesprochen –, das viele Verbesserungen mit sich bringt, gerade im Bereich von Rechts- und Verwaltungsvereinfachungen, und insbesondere auch die Anhebung der Betragssätze. Das sind positive Entwicklungen. Ich möchte mich allerdings als Behindertenbeauftragter zunächst auf den Bereich der Werkstätten beschränken, weil der Kollege Gerdes auf den anderen Bereich schon sehr ausführlich eingegangen ist. Diese Gesetzesänderung hat natürlich auch Auswirkungen auf den Bereich der Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstatt arbeiten. Diejenigen, die dort im Ausbildungsbereich sind, profitieren natürlich auch von der Erhöhung der Ausbildungsbeihilfe. Die Erhöhung von 80 auf 119 Euro monatlich entspricht ja im Ergebnis vom Volumen her einer Erhöhung um fast 50 Prozent des bisherigen Satzes. Das ist genau das Problem, mit dem wir im Gesetzgebungsverfahren zu tun hatten. Warum? Es ist so, dass bei den Werkstätten die Entgeltsituation recht komplex ist; das muss man zugestehen. Wenn man im Ausbildungsbereich die Sätze erhöht, erhöhen sich die Sätze im Werkstattentgelt ebenfalls aufgrund der Kopplungsnorm des § 221 Absatz 2 SGB IX. Das ist grundsätzlich auch richtig, damit sich die Entlohnungsstufen sowohl im Ausbildungsbereich als auch im Werkstattbereich gleich entwickeln können. Aber es ist natürlich so, dass die Werkstätten jetzt vor die Situation gestellt wären, im laufenden Geschäftsjahr ab dem 1. August 2019 dieses Jahres entsprechend die Entsoldung bei den Werkstattbeschäftigten zu erhöhen. Das ist ein Punkt, der bei den Werkstätten natürlich auf Kritik gestoßen ist. Hintergrund ist: Der Bereich der Ausbildung wird von der Bundesagentur für Arbeit finanziert. Bei den Werkstattbeschäftigten müssen die Werkstätten dies selber finanzieren und vor allen Dingen erwirtschaften. Es ist so, dass gerade für uns, die CDU/CSU-Fraktion, die Werkstätten ein besonders wichtiges Element im Rahmen der Behindertenpolitik sind, ({0}) weil sie einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisten, Menschen für den ersten Arbeitsmarkt fit zu machen, aber auch Menschen eine Beschäftigung zu geben, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung gerade nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Hier darf gesetzgeberisches Handeln natürlich nicht dazu führen, dass die Existenz der Werkstätten in Gefahr gerät. Das Gegenteil muss der Fall sein: Sie müssen unterstützt werden. ({1}) Dieses berechtigte Interesse führte dazu, dass wir im Rahmen der Erhöhung der Sätze vorübergehend ein Stufensystem eingeführt haben, damit die Werkstätten sich wirtschaftlich besser darauf einstellen können. Die erste Stufe wird deshalb nicht am 1. August dieses Jahres starten, sondern erst mit dem nächsten Wirtschaftsjahr ab 1. Januar 2020. Bis 2023 erfolgt dann eine Erhöhung in vier Stufen. In der Tat ist es so, dass in der Übergangszeit natürlich ein Ungleichgewicht zwischen dem Ausbildungsentgelt und dem Entgelt der Werkstattbeschäftigten entstehen kann. Das ist aber auch mit den Vertretern der Werkstätten, insbesondere mit den Werkstatträten, besprochen worden, die im Ergebnis mit dieser Lösung einverstanden sind. Damit bin ich dann auch schon bei unserem Entschließungsantrag, den wir heute einbringen und über den wir abstimmen werden. Da wir hier jetzt ein Ungleichgewicht in der Entsoldungsstufe haben, werden wir das Entgeltsystem komplett überprüfen. Wir haben einen Prüfauftrag an das BMAS formuliert, dass in den nächsten vier Jahren Vorschläge erarbeitet werden sollen, um das Entgeltsystem zu überarbeiten. Natürlich sind vier Jahre ein langer Zeitraum, aber die Thematik ist sehr komplex. Deswegen ist dieser Zeitraum auch geboten. Es sind alle Beteiligten von den Werkstätten bis zu den Werkstatträten und alle Vertreter herzlich eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten und sich an diesem Prozess zu beteiligen, damit dieses Projekt ein Erfolg wird. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Oellers. – Als nächster Redner für die FDP-Fraktion der Kollege Jens Beeck. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen Gerdes und Oellers haben darauf hingewiesen: Mit diesem Gesetz werden einige wesentliche Ziele, insbesondere im Bereich des SGB III, erreicht. Wir machen einen großen Schritt hin zur Gleichstellung der beruflichen Ausbildung mit der akademischen Ausbildung. Wir kommen zu Vereinfachungen, zu Pauschalierungen und zu einem leichteren Zugang zum Recht, indem wir Verfahrensvorschriften deutlich vereinfachen, und wir kommen zu einer Harmonisierung mit den Vorschriften im Bundesausbildungsförderungsgesetz. Das begrüßen die Freien Demokraten ausdrücklich, und deswegen werden wir dem Gesetzentwurf auch zustimmen. ({0}) Herr Kollege Sichert von der AfD, Sie haben sich gerade hierhingestellt und kritisiert, dass aus Ihrer Sicht Dinge überkomplex sind. Wir erinnern uns: Noch am Mittwoch haben wir im Ausschuss darüber gesprochen, dass wir gemeinschaftlich den Zugang zu Integrations- und Sprachkursen verbessern wollen, dass wir den Zugang zu Ausbildung für viele Menschen, die durchaus die Chance auf eine Bleibeperspektive in Deutschland haben, erreichen wollen. Sie haben das alles abgelehnt. ({1}) Sie haben sich gegen berufliche Ausbildung ausgesprochen und gegen Integrationsmaßnahmen. ({2}) Wir tun hier heute das genaue Gegenteil: Wir sprechen uns für berufliche Ausbildung aus und dafür, dass Menschen in dieser Gesellschaft eine Chance kriegen, tun also nicht das, was Sie gefordert haben. ({3}) Trotzdem ist es richtig – der Kollege Oellers hat schon darauf hingewiesen –: Fast am Ende des Gesetzgebungsverfahrens – peinlicherweise, muss man auch sagen, nicht durch uns Fachpolitiker oder das Haus, sondern durch die Anmerkungen der Berufsverbände – ist uns aufgefallen, dass der § 221 Absatz 2 SGB IX auf das Ausbildungsgeld verweist und die gerade schon geschilderten Effekte im Bereich der Arbeitsentgelte in den Werkstätten hat. Das führt in der Tat zu zwei Fehlanreizen, nämlich einmal dazu, dass der leistungsangemessene Teil des Arbeitsentgeltes zulasten des Grundentgeltes sinkt. Das steht im diametralen Gegensatz dazu, dass die Werkstätten einen Rehabilitationsauftrag haben und dass wir über die Werkstätten den Übergang für die Beschäftigten in den ersten Arbeitsmarkt erreichen wollen. Der zweite Fehlanreiz ist, dass in einer Zeit, wo das Bundesteilhabegesetz ohnehin zum 1. Januar 2020 große Herausforderungen für die Werkstätten für Menschen mit Behinderung bringt, weitere Unsicherheit mitten im Geschäftsjahr hereinkommt. Bei einer durchschnittlich großen Werkstatt mit etwa 500 Beschäftigten reden wir von 200 000 bis 250 000 Euro an Mehrbelastung, die selbst erwirtschaftet werden müssen; das hat die öffentliche Anhörung ergeben. Wir waren uns einig, dass wir diesen Effekt nicht wollen, dass wir ihn abmildern müssen. Am Ende ist der Änderungsantrag, den die Regierungskoalition eingebracht hat, mit einer fünfstufigen Abmilderung zwar nicht geeignet, diesen Effekt zu eliminieren, aber er verschafft die notwendige Zeit, das zu tun, was am Rande der Anhörung auch deutlich geworden ist: Wir müssen insgesamt zu einem gerechteren, verlässlicheren und auch von den Beschäftigten in den Werkstätten als gerechter und angemessener empfundenen Arbeitsentgeltsystem kommen. Das ist Gegenstand des Entschließungsantrages; auch das ist richtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU, wir nehmen Sie an dieser Stelle beim Wort. Versuchen wir, das in den nächsten Jahren hinzubekommen. Die öffentliche Anhörung hat ergeben, dass es jedenfalls keine übereinstimmende Auffassung dazu gibt, wie man dieses Ziel erreichen kann. Ich hoffe, dass Sie dabei so konstruktiv sind wie wir Freien Demokraten, wenn wir heute Ihren Zielen zustimmen und Sie unterstützen. ({4}) Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir dieses Ziel erreichen können. ({5}) Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken aufgreifen, der auch Teil der öffentlichen Anhörung war: Der Sozialstaat mit seinen 12, bald 13 Säulen, in dem wir leben, ist in den letzten Wahlperioden tatsächlich zunehmend überkomplex geworden. Anders formuliert: Wir erreichen überhaupt nicht mehr die Hilfebedürftigen, sondern wir sprechen in den Bescheiden mittlerweile eine Sprache, die kein Mensch mehr versteht, außer vielleicht wenigen Sozialpolitikern und spezialisierten Anwälten. Auch an dieser Stelle geht das Gesetz einen ersten Schritt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist Grund für uns, heute Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Gehen Sie mit uns diesen Weg gemeinsam weiter, ({0}) dann können wir gemeinsam viel für unseren Sozialstaat erreichen. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann, Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Erkenntnis des Ausbildungsreports 2018 des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist: Die Zufriedenheit der Auszubildenden mit der Ausbildung sinkt. Weiter ist zu lesen: Auch Azubis sind bereits von Flexibilisierungsdruck, Überstunden, ständiger Erreichbarkeit und Schichtarbeit betroffen, so wie die Beschäftigten insgesamt. So wie es um die Qualität von Arbeit schlecht bestellt ist, lässt auch die Ausbildungsqualität sehr zu wünschen übrig. Auszubildende sind Auszubildende und sollen einen Beruf erlernen und keine billigen Arbeitskräfte sein. ({0}) Ein weiterer zentraler Punkt des DGB-Ausbildungsreports ist, dass Auszubildende von ihrer Ausbildungsvergütung oft nicht leben können. In den neuen Bundesländern lag zum Beispiel die Ausbildungsvergütung für Fleischerinnen und Fleischer im ersten Ausbildungsjahr im Jahr 2018 bei 310 Euro und für Friseurinnen und Friseure bei 325 Euro. Davon kann kein Mensch leben. Es ist doch kaum verwunderlich, dass in den vergangenen zehn Jahren im Rahmen der Berufsausbildungsbeihilfe fast 3 Milliarden Euro ausgegeben wurden, um niedrige Ausbildungsvergütungen aufzustocken. Die Linke fordert: Auch Auszubildende müssen von ihrer Ausbildungsvergütung leben können, unabhängig vom Elternhaus. ({1}) Das könnte die Bundesregierung mit einer ordentlichen Mindestausbildungsvergütung regeln. Aber es bewegt sich nichts. Ebenso wenig reicht die Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe zum Leben. Die vermeintlich große Reform, die heute hier angepriesen wird, ist lediglich ein Inflationsausgleich. Somit haben Auszubildende in vielen Fällen immer noch zu wenig zum Leben. Das ist Alibipolitik, meine Damen und Herren, und löst die Probleme nicht. ({2}) Im Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfes müssen wir aber auch über die Höhe des Arbeitsentgeltes der beschäftigten Menschen mit Behinderung in Werkstätten sprechen. 2017 betrug das durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelt knapp 214 Euro. Über die Jahre wurde ich schon sehr oft von Menschen mit Behinderung angesprochen, die in Werkstätten arbeiten und dieses Entgelt als ungerecht ansehen. Ich finde, Werkstattbeschäftigte haben einen ordentlichen Lohn für ihre Arbeit verdient. ({3}) Ich habe Verständnis dafür, dass sich die Werkstätten Sorgen machen, wie sie die durch das Gesetz leicht steigenden Arbeitsentgelte in Summe finanzieren sollen. Wir sollten uns aber genauso darüber Gedanken machen, dass die derzeitige Entlohnungspraxis in den Werkstätten nicht akzeptabel ist und reformiert werden muss. ({4}) Die Linke fordert: Die Beschäftigten müssen fair entlohnt werden. Dafür braucht es ein anderes Entgeltsystem. ({5}) Darüber muss gesprochen werden, gemeinsam mit den Werkstätten, den Werkstatträten und den Beschäftigten. Dass Union und SPD das nun auch möchten, ist positiv. Die Werkstattbeschäftigten mussten aber viel zu lange darauf warten. Und es ist zu befürchten, dass das bestehende System vom Grundprinzip her nur bestätigt werden soll. Das ist aber definitiv zu wenig, wie auch insgesamt beim Thema „Inklusion am Arbeitsmarkt“ von dieser Bundesregierung bisher wenig gekommen ist. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wen stellen wir uns eigentlich vor, wenn wir den typischen Arbeiter, Arbeitnehmer vor Augen haben? Den Facharbeiter? Oder haben wir auch Menschen mit Behinderung vor Augen, die in Sondereinrichtungen, in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten? Ich glaube, eher nicht, aber das soll der Fokus dieser Diskussion sein. Ich finde, da gehört er hin. Ich bin seit Jahren ganz viel unterwegs, besuche Werkstätten für behinderte Menschen und rede mit den Beschäftigten. In fast allen Gesprächen, bei fast allen Veranstaltungen, die ich mache, kommen drei Themen auf den Tisch. Die Leute merken verschiedene Dinge an. Das geht durch die Republik hindurch. Sie sagen zum Ersten: Wir haben den Eindruck, dass unsere Arbeit nicht gewürdigt wird. Das hat viel mit dem Lohn zu tun, den sie bekommen. Es ist gerade gesagt worden: 214 Euro durchschnittlich für eine Vollzeitbeschäftigung. Wir reden also von Leuten, die 35 oder 40 Stunden in der Woche arbeiten und am Ende des Monats mit 214 Euro nach Hause gehen. Da kann doch niemand sagen, dass das ein gerechter Lohn wäre. Das ist eine Unverschämtheit. ({0}) Das zweite Thema ist die Stigmatisierung. Es gibt viele Leute, die in Werkstätten arbeiten. Sie sagen: Wir gehen nicht in die Stadt, wir gehen nicht in unser Dorf und sagen: Wir arbeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Sie sagen: Wir schämen uns dafür, dass wir in solchen Einrichtungen arbeiten. Das ist ein Zustand, an dem wir dringend etwas verändern müssen, damit sich Leute für ihre Lebenssituation nicht schämen müssen. Das kann so nicht weitergehen. ({1}) Das dritte Thema – daran müssen wir arbeiten – ist die Frage: Wo ist hier eigentlich der Ausgang? Die Leute sind reingekommen in die Werkstätten, sie haben häufig Biografien, die durch verschiedene Phasen der Sonderwelten hindurchführen: durch Sonderschulen, heute Förderschulen genannt, in die Werkstätten hinein, daneben das Leben in Heimen. Die fragen sich: Wie kommen wir hier wieder raus? Darüber müssen wir auch einmal reden. Das zeigt, wie umfangreich das Thema ist, über das wir reden. Das zeigt, dass viele Menschen in diesem Land weit davon entfernt sind, tatsächlich gesellschaftlich teilhaben zu können. Das ist das große Thema, über das wir heute reden. ({2}) Jetzt hat die Regierung im Gesetzentwurf den Vorschlag unterbreitet, dass die Leute großherzige 37 Euro pro Monat mehr bekommen sollen. Das allein ist schon bitterwenig in Anbetracht der Situation, die ich gerade geschildert habe. Aber nun sollen diese 37 Euro auch noch über fünf Jahre gestaffelt werden. Da sagen wir: Da gehen wir auf keinen Fall mit. ({3}) Das würde bedeuten, dass am Ende dieser vielen Jahre die Leute überhaupt nicht spüren würden, dass sie ein paar Euro mehr in der Tasche haben. Da können wir nicht mitgehen, ({4}) gerade vor dem Hintergrund, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, dass 2015 der UN-Fachausschuss in Genf – er überprüft, was wir in der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf Menschen mit Behinderung machen – festgestellt hat, dass diese Situation, die ich gerade vorgetragen habe, untragbar ist, dass wir daran etwas verändern müssen, dass wir dafür sorgen müssen, dass der Arbeitsmarkt, den wir haben, inklusiv wird und dass solche Sondereinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen in dieser Form nicht weiter bestehen können. Keine Angst, das heißt nicht, dass wir morgen das Licht ausmachen. Das heißt aber, dass wir diese Einrichtungen transformieren müssen, damit dieser unwürdige Zustand beendet wird. ({5}) Das ist die Kernaufgabe, die wir haben. Herr Oellers, Sie haben gerade gesagt, die Aufgabe dieser Werkstätten sei es, Leute in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Das gelingt bei unter 1 Prozent aller Fälle. Das heißt, die Aufgabe ist nicht erfüllt. Alle diese Themen müssen auf den Prüfstand, nicht nur das Entgelt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist unbegreiflich für mich, dass man vier Jahre dafür braucht und all die anderen Themen unberührt bleiben. Deswegen ist das wieder einmal ein Abend, an dem ich sagen muss: Für die inklusive Gesellschaft tut diese Regierung nichts. Das tut mir leid. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Es geht auf der einen Seite um die Verbesserung der Berufsbildungsbeihilfe. Wir wollen, dass die berufliche Bildung mit der akademischen Bildung gleichgestellt ist, in der Wertschätzung als auch in der finanziellen Abbildung. Deshalb ist es gut und sinnvoll, dass die Berufsbildungsbeihilfe immer mit den Verbesserungen des BAföG Schritt hält. ({0}) Wir werden die Verbesserung so weit organisieren, dass je nach regionalem Unterschied und nach den Kostenstrukturen eines Auszubildenden zukünftig bis 716 Euro in der Berufsausbildungsbeihilfe finanziert werden, wenn der Auszubildende außerhalb des Elternhauses eine Ausbildung aufnimmt und wenn Unterstützungsbedarf vorhanden ist. ({1}) Wir haben ein Kindergeld bis zu 205 Euro, und wir haben natürlich auch ein Paket zur Mindestausbildungsvergütung, das wir miteinander diskutieren. Das wird hier vorgelegt, das werden wir miteinander abstimmen, dann wird es hier im Deutschen Bundestag entschieden werden. Das zweite Thema sind die 310 000 Beschäftigen in den betreuten Werkstätten. Wir haben in Nordrhein-Westfalen viele Werkstätten, in denen schwerst-mehrfachbehinderte Menschen untergebracht sind. Das ist wichtig, weil für uns Arbeit eine wichtige persönlichkeitsstabilisierende Funktion, auch eine therapeutische Funktion hat. Deshalb sollen sie nicht irgendwo beschäftigt werden, sondern in Werkstätten, wo sie in den Arbeitsprozess integriert sind. Nach dem Grundsatz der Behindertenverbände „Nichts für uns ohne uns“ ({2}) – das gilt auch für Sport und Ehrenamt – haben wir über dieses Modell mit den Werkstatträten gesprochen. Durch das Bundesteilhabegesetz haben die Werkstatträte auch Mitbestimmungsrechte, die eingeräumt wurden, die sie auch nutzen, für Entgelt und für Arbeitszeit. Die Werkstatträte, die Selbstvertreter, haben uns gesagt: Wenn diese schnelle Erhöhung kommt, dann bedeutet das für die Werkstätten von jetzt bis zum 1. August dieses Jahres eine Mehrbelastung von 110 Millionen Euro. – Das werden sie aus ihren Erlösen nicht schultern können, weil Zweck der Werkstätten nicht Gewinnmaximierung ist, sondern Zweck ist, die Menschen, die dort tätig sind, zu fördern; sie sind ja nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitsfähig. ({3}) Wichtig war auch, dass wir mit dem Bundesteilhabegesetz nicht nur die Mitbestimmungsrechte der Werkstatträte zur Selbstvertretung gestärkt haben, sondern dass wir auch Optionen geschaffen haben, dass wir in diesem Jahr ein Budget für Arbeit haben, dass ein Mindestlohn – tariflich oder wie auch immer – gezahlt werden muss, dass letztendlich durch die Zuschüsse zum Einkommen nicht nur einfach das Einkommen selbst bis 75 Prozent bezuschusst wird, sondern auch die in der Werkstatt erbrachte Leistung aus der Werkstatt heraus in mittelständische Betriebe und größere Betriebe auf dem ersten Arbeitsmarkt transportiert werden soll. Wir haben ein besonderes Förderprogramm für Inklusionsunternehmen – das sind in Deutschland inzwischen 8 000 –, die durch das Zusammenwirken von behinderten und nichtbehinderten Menschen anderen Unternehmen zeigen, wie man einen vernünftigen inklusiven Arbeitsmarkt entwickeln kann. Unser politischer Wille ist es, die Zeit zu nutzen, um in den nächsten drei, vier Jahren nach dem Grundsatz „Nichts für uns ohne uns“ ({4}) ein neues Entgeltsystem nicht nur mit Transparenz, sondern auch wie aus einer Hand gestaltet zu schaffen. Hier bitte ich dich, Corinna Rüffer, um deine Mitarbeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schummer. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Glöckner, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf Teilhabe an dieser Gesellschaft. So steht es in unserem Koalitionsvertrag. Heute gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt, um diese Teilhabe an der Gesellschaft zu verwirklichen. ({0}) Denn wir beschließen die Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes. Davon profitieren – es wurde mehrfach gesagt – Schüler, Studenten, Azubis, aber eben auch Menschen mit Behinderungen in Werkstätten, konkret in Maßnahmen im sogenannten Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich. Wir als SPD-Fraktion haben von Anfang an darauf bestanden, dass es diese Gleichbehandlung gibt. Denn uns war es wichtig, dass es keine Entkoppelung gibt. Das haben wir in allen Gesprächen immer wieder verdeutlicht. ({1}) Und warum? Weil 310 000 Menschen in Werkstätten davon profitieren. Sie haben mehr Geld in der Tasche. Aber es geht doch auch darum, dass sie mehr Wertschätzung und mehr Anerkennung erfahren. Und Frau Rüffer, ich widerspreche Ihnen zutiefst; denn es gibt Menschen, die uns angerufen, die mit mir gesprochen haben und die sich sehr wohl wertgeschätzt fühlen. Diese Schwarzmalerei, die Sie hier jedes Mal anbringen, ist schier unerträglich. ({2}) Die Leistung von Menschen in Werkstätten wird anerkannt. Wir gehen Stück für Stück voran, Frau Rüffer. Wir haben uns mit der Annahme der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, diesen Anspruch auf Teilhabe an der Gesellschaft Stück um Stück zu verwirklichen. Heute setzen wir einen wichtigen Schritt in diese Richtung, und das ist gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich sage aber auch: Es gibt die Kehrseite der Medaille. Viele Werkstattvertreter haben uns gesagt – die Expertenrunde hat es an den Tag gebracht –, dass die finanzielle Situation in den Werkstätten unterschiedlich ist. Wir müssen davon ausgehen, dass es Werkstätten gibt, die Schwierigkeiten haben, weil sie diese Mehrkosten selbst erwirtschaften müssen, denen das nicht leichtfallen wird. Wir haben das zur Kenntnis genommen, und wir haben auch unmittelbar reagiert. Im Ergebnis ist es so, dass wir die Erhöhung gestaffelt über vier Jahre vornehmen werden, von 2020 bis 2023. Wir erhöhen das Grundgehalt von 80 Euro auf 119 Euro. Es gibt natürlich – das wurde schon gesagt – auch andere Bestandteile. Es ist schier nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, als würden die Menschen mit im Durchschnitt 217 Euro im Monat nach Hause geschickt. Das ist nicht zutreffend, Frau Rüffer. ({4}) Wir haben auch dafür gesorgt, dass in vier Jahren das Entgeltsystem überdacht wird. Wir wollen es transparenter gestalten. Wir wollen, dass es verständlicher wird. Wir wollen, dass es wie aus einer Hand wird, und zwar mit Beteiligung der Vertreter der Werkstätten, der Werkstatträte, der Experten und des Arbeitsministeriums; das ist eine gute Sache. Ich glaube, wir haben als Koalition heute einen guten Kompromissvorschlag vorgelegt, der zustimmungswürdig ist. Liebe Oppositionsvertreterinnen und -vertreter von den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen, wir werden immer sehr beschimpft für das, was wir nicht gemacht haben. Aber wissen Sie: Sie stehen immer hier vorne und versprechen so viel. Ich frage mich schon, ob Sie in den Stunden des Kompromisses all diese Forderungen, die Sie hier stellen, auch tatsächlich einhalten würden, und ich frage mich, wann Sie den Leuten da draußen erzählen, dass Sie diese Forderungen nicht einhalten können. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Großen Koalition wird in den letzten Tagen oft abgesprochen, inhaltliche Arbeit zu leisten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gestalten wir aktiv die Zukunft unseres Landes, indem wir vor allem die duale Ausbildung stärken. Sehr geehrter Herr Kollege Sichert, Sie haben vorhin in Ihrer Rede gesagt, unsere Politik gehe an den wirklichen Problemen vorbei. Ich glaube, Ihre Rede ist an den wirklichen Themen vorbeigegangen. ({0}) Sie haben sich mit dem Gesetzentwurf in keinster Weise auseinandergesetzt. ({1}) Es ist schade, dass Sie hier mit falschen Fakten gearbeitet haben. Mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir als Große Koalition erstens aktive Wirtschaftspolitik, und zweitens werden wir dem Anspruch unserer sozialen Marktwirtschaft gerecht. Ich möchte auf diese beiden Punkte kurz eingehen. Erstens. Aktive Wirtschaftspolitik heißt: Die Erhöhungen bei der Berufsausbildungsbeihilfe und beim Ausbildungsgeld tragen dazu bei, dass wir den Fachkräftebedarf in unserem Land besser decken können und die notwendigen Voraussetzungen für die Wirtschaft schaffen, Auszubildende einzustellen. Durch dieses Gesetz machen wir aber auch deutlich, dass wir Bürokratieabbau können und dass wir es nicht nur wie die FDP fordern, sondern es auch tatsächlich tun. ({2}) Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Expertenanhörung das Gesetz als Gesamtpaket bezeichnet, als Gesamtpaket aus Rechtsvereinfachung, Rechtsharmonisierung und Erhöhung von Leistungen. Ich denke, eine bessere Einschätzung dieses Gesetzes kann man nicht treffen. Zweitens. Mit diesem Gesetz, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werden wir aber auch unserem Anspruch gerecht, soziale Marktwirtschaft in unserem Land zu verwirklichen. Auszubildende müssen sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt sorgen. Wir stärken den Durchhaltewillen von Azubis durch Verbesserungen in den Bereichen Wohnkosten, Mobilität, Verpflegung und der finanziellen Beteiligung des Staates bei der Kinderbetreuung. All diese Dinge sind wichtig, damit sich Auszubildende auf ihre Ausbildung konzentrieren können. Es gibt beispielsweise einen Zuschuss für Einstiegsqualifizierungen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat es gerade als ganz wesentlichen Impuls angeführt, dass junge Menschen in eine Einstiegsqualifizierung gehen und dann auch im Betrieb bleiben und eine Ausbildung machen. Mit diesem Gesetz machen wir für alle Ausbildung attraktiver und stärken den Durchhaltewillen bei den Auszubildenden. Mit diesem Gesetz bauen wir massiv Bürokratie ab. Mit diesem Gesetz vereinfachen wir Antragstellung und Bearbeitung. Mit diesem Gesetz wird aber auch noch eine weitere Dimension unserer sozialen Marktwirtschaft angepackt, nämlich das Thema „Entlohnung von Menschen mit Behinderung in Werkstätten“; meine Kollegen haben das vorhin angesprochen. Sehr geehrter Herr Kollege Sichert, in diesem Zusammenhang möchte ich auch noch mal darauf hinweisen, dass vor allem dann, wenn es um Menschen mit Behinderung geht, der Satz – der bei uns als Union auch wichtig ist, aber der hier in keinster Weise passt – „Leistung muss sich lohnen“ nicht in die Diskussion passt. ({3}) Das passt nicht. Es geht hier um Menschen, die in unterschiedlichster Art und Weise leistungsfähig sind. Unsere Aufgabe muss es sein, die Schwachen und die Stärkeren zu unterstützen. Also hier passt der Satz „Leistung muss sich lohnen“ in keinster Art und Weise. ({4}) Sehr geehrte Frau Kollegin Rüffer, auch Sie haben gesagt, diese Regierung tue nichts für eine inklusive Gesellschaft. Das stimmt auch nicht; das wissen Sie. ({5}) Wir haben in den letzten Jahren mit dem Bundesteilhabegesetz viel getan. Wir haben noch viel zu tun, auch bei der Vergütung für Menschen mit Behinderungen. Da gibt es auch viele Maßnahmen, die ergriffen werden müssen. ({6}) Deswegen: Stimmen Sie bitte unserem Gesetz zu, dass wir weiterhin einen starken Wirtschaftsstandort in Deutschland haben, dass wir das Thema Ausbildung verantwortungsvoll angehen. Ich bitte um Zustimmung. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Aumer. – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung – – ({0}) – Nicht in der Abstimmung.

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident, zur Geschäftsordnung, vor der Abstimmung. – Ich melde mich zur Geschäftsordnung. Wir haben einen Antrag: Die AfD-Fraktion bezweifelt die Beschlussfähigkeit des Parlaments. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, das Präsidium ist sich einig, wir bezweifeln die Beschlussfähigkeit des Parlamentes nicht, ({0}) vor allen Dingen, weil wir wissen, dass wir in kurzer Zeit die mehreren Hundert Persönlichkeiten des Deutschen Bundestages, die nebenan auf dem Sommerfest der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft sind, herbeirufen können. ({1}) Sie können – um es freundlich zu sagen – auch gerne mit den restlichen Abgeordneten der AfD den Saal verlassen. Wir bezweifeln die Beschlussfähigkeit des Parlaments nicht noch einmal, ({2}) weil ich Ihnen sicher sagen kann, dass wir in den zehn Minuten, die für einen Hammelsprung notwendig wären, genug Kolleginnen und Kollegen in den Plenarsaal zurückbringen könnten. ({3}) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10691, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/9478 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in der Ausschussfassung in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Fraktion der AfD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen. ({4}) – Ich sage dazu jetzt nichts. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – ({5}) Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf gegen die Stimmen der Fraktion der AfD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses in dritter Lesung angenommen. ({6}) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/10715. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen keine. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktionen der AfD und von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Energieeinspargesetz ist eine Zwangsabgabe, ({0}) die die Stromverbraucher bezahlen müssen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist meine letzte höfliche Mahnung an diejenigen, die ihrer Erregung jetzt freien Lauf lassen. Ich bitte darum, dem Redner zuzuhören. Die nächsten so emotional durchgehenden Zwischenrufe oder Anmutungen werden von mir mit einem Ordnungsruf belegt. ({0}) – Ich darf Sie darauf hinweisen, Frau Kollegin, dass Sie von mir jetzt gerade einen Ordnungsruf erhalten haben. ({1}) Herr Kollege, Sie können fortfahren.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das Energieeinspargesetz ist eine Zwangsabgabe, die die Stromverbraucher bezahlen müssen und die nur Erzeugern von regenerativen Energien zugutekommt. Es ist im Wesentlichen eine Umverteilung von unten nach oben. Das EEG ist Planwirtschaft, weil es willkürlich Preise beeinflusst und nur einen bestimmten Kreis Begünstigte kennt. Das EEG lenkt Kapital in unwirtschaftliche Bereiche und schadet damit der gesamtwirtschaftlichen Effizienz. Was sind die ökologischen Auswirkungen? Im Naturpark Reinhardswald sollen Riesenflächen gerodet werden, obwohl es ein Naturpark ist, obwohl dort 800 Jahre alte Bäume stehen. Warum soll das geschehen? Weil da Riesenwindkraftwerke entstehen sollen. Dazu sollen 1 Million Quadratmeter Wald gerodet werden. Zum Teil werden Einbetonierungen vorgenommen, es wird dauerhaft zerstört. Schon heute findet man unter den Windkraftanlagen jährlich 200 000 tote Fledermäuse. Die Tiere fliegen an den Rotoren vorbei, kommen auf die Seite, wo Unterdruck herrscht, und ihre Lungen platzen. Das ZDF stellte fest, dass jährlich circa 700 Rotmilane von Windrädern erschlagen werden. Gemäß dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt werden jährlich 3 600 Tonnen – Tonnen! – Insekten von Windkraftanlagen zerschreddert. ({0}) Man gibt vor, die Umwelt retten zu wollen; aber man zerstört sie. Das ist im Wesentlichen Irrsinn. ({1}) Gemäß der Formel des Weltklimarates führt die gesamte CO 2 -Emission Deutschlands zu einer Erwärmung des Weltklimas um 0,00065 Grad Celsius, also um nichts. Da man diese Emissionen nicht auf null setzen kann, kann man auch nur einen Teil dieses Fast-nichts verhindern. Was kostet dieses Fast-null-Ergebnis? Die Stromabnehmer werden jährlich mit 25 Milliarden Euro zur Kasse gebeten, das heißt, die Kaufkraft des normalen Bürgers wird entsprechend gesenkt. Die EEG-Umlage wird bis zum Jahr 2025  407,5 Milliarden Euro verzehren; ({2}) das ist weit mehr als ein Bundeshaushalt. Die Energiewende wird laut BDI-Studie bis zum Jahr 2050  2 300 Milliarden Euro kosten. Mit diesem Geld könnten wir die Rentenprobleme lösen, wir könnten Kinder- und Altersarmut abschaffen, wir könnten die Zukunft Deutschlands gestalten. ({3}) Stattdessen betreiben wir Geldverschwendung, um dem ökologischen Wahn nachzulaufen. Das ist unerträglich. ({4}) Werfen wir einen Blick auf die Weltökologie: Die Chinesen emittieren 28 Prozent der menschengemachten CO 2 -Geschichte, ({5}) Deutschland nur 2,2 Prozent. Die Chinesen dürfen noch bis zum Jahr 2035 beliebig viel CO 2 emittieren. Weltweit werden zurzeit circa 1 400 Kohlekraftwerke gebaut oder sind in Planung, und in Deutschland will man einige abschaffen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, per Saldo bewirken wir nichts. Nein, die Welt wird nicht am deutschen Wesen genesen. ({6}) Die zunehmende Abhängigkeit von regenerativen Energien wie Wind und Sonne wird das Problem des Stromausfalls nur noch schlimmer machen. ({7}) Denken wir daran, dass unsere Nachbarn sich stromtechnisch bereits von uns abschotten. Wenn es wieder – wie schon im Januar dieses Jahres – dazu kommt, dass wir kurz vor dem Abschalten sind, kann es passieren, dass wir viele Verluste wirtschaftlicher Art und sogar Menschenverluste haben. Wir werden uns dann erinnern, wer diesen Irrsinn verzapft hat. Das ist nämlich die grüne Ideologie. Schönen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hollnagel. – Als Nächster hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Jens Koeppen. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, jede Novelle des EEG macht es deutlich: Das EEG ist aus den Fugen geraten. Wir haben hier immer wieder darüber gesprochen: Es ist ein planwirtschaftliches Ungetüm. Es setzt keinen Handlungsrahmen, sondern geht absolut in die Mikrosteuerung, und jeder Reformversuch zeigt: Es ist zu komplex, es ist zu juristisch, es ist zu bürokratisch. ({0}) Es ist ein kaum beherrschbares Monstrum geworden, und es ist auch kaum reformierbar. ({1}) Deswegen ist jede, aber auch wirklich jede Initiative, Herr Dr. Hollnagel, es besser zu machen, begrüßenswert. ({2}) Aber das, was Sie gebracht haben, war ein bisschen dünn, um es ehrlich zu sagen. ({3}) Die Überschrift Ihres Antrages hat zwar erst mal Interesse geweckt, aber spätestens bei der Begründung des Antrages war ich dann doch ein bisschen enttäuscht. ({4}) Das EEG ersatzlos zu streichen, ohne eine Gegenmaßnahme, ist einfach zu billig. Und wenn Sie dann noch sagen, Treibhausgase zu reduzieren, Ressourcen zu schonen und die Energieversorgung nachhaltig umzustellen, sei keine Notwendigkeit, ({5}) sondern möglicherweise sogar eine Spinnerei, dann können wir dem Antrag natürlich in keinster Weise Bedeutung schenken. Streiten Sie um gute politische Lösungen in diesem Bereich! Dann kommen wir im Rahmen des Zieldreiecks Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit auch zum Ziel. Aber, meine Damen und Herren, die Kritik am EEG ist nicht neu. ({6}) Der Bundesrechnungshof hat es uns am Mittwoch im Ausschuss ganz klar und deutlich gesagt. Die Steuerungsmechanismen, die Koordination und die Umsetzung der Energiewende haben vom Bundesrechnungshof ein schlechtes Zeugnis bekommen. ({7}) Das sollten wir sehr wohl ernst nehmen und darauf konstruktiv reagieren und auch die Fehlentwicklung korrigieren. Es sind ja ein sehr hoher Personalaufwand und ein sehr hoher finanzieller Einsatz, und trotzdem werden die Ziele verfehlt. Wir haben 34 Referate, 5 Ministerien, 26 Gesetze und 33 Verordnungen, ({8}) einen hohen Detaillierungsgrad in den einzelnen Gesetzen und eine kleinteilige Steuerung, ({9}) und die wichtigen Aspekte werden völlig ausgeblendet, wie Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit. Von der Akzeptanz ist überhaupt keine Rede, und die Transparenz über die Ausgaben – immerhin 160 Milliarden Euro in den letzten fünf Jahren – wird völlig missachtet. Nun ist die Kritik des Bundesrechnungshofes nicht neu, und sie ist uns auch nicht fremd. Wichtig ist, dass sie auch gehört wird, ({10}) und nicht nur von den regierungstragenden Fraktionen, sondern auch von der Opposition. Stattdessen gibt es Abwehrhaltung, Aktionismus oder Ignoranz und das Leugnen von Handlungsbedarf, und das ist nun völlig fehl am Platze. ({11}) – Ich komme gleich dazu. Aber auch völlig fehl am Platze, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist das, was ich im Ausschuss gehört habe, in dem Fall von dem geschätzten Kollegen Saathoff. Er hat gesagt: Was der Bundesrechnungshof als Bericht vorgelegt hat, ist Wasser auf die Mühlen der Klimaleugner. ({12}) Wenn man so mit einer berechtigten Kritik einer bedeutenden Bundesbehörde umgeht, die sonst immer als Kronzeuge herhalten muss, dann ist das sehr fadenscheinig, und dann sollten Sie Ihre Argumentationskette mal überprüfen. ({13}) Meine Damen und Herren, zum Gelingen der Umstellung der Energieversorgung brauchen wir einen klaren und in Zukunft ordnungspolitischen Kompass und marktwirtschaftlichen Ansatz. Jetzt komme ich zu den Maßnahmen, die wir gerne machen möchten. Es reden ja wirklich alle von einer CO 2 -Steuer, die so überhaupt gar nicht infrage kommt, ({14}) und einem CO 2 -Preis. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben schon längst einen CO 2 -Preis, und zwar im europäischen Handelssystem. ({15}) Diesen Preis brauchen wir nur auf die Sektoren umzulegen, ({16}) und wenn das einen Preis hat, dann kann man ganz genau sehen, ob sich jemand einen SUV leisten kann und leisten will. Dann bekommt alles einen CO 2 -Preis, aber – und das ist ganz wichtig – nicht on top. Dann fliegt eine dieser Verordnungen und Gesetze, und möglicherweise das EEG, raus aus dem Spiel. ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die erneuerbaren Energien dürfen nicht mehr blind in die Netze eingespeist werden. Sie brauchen Innovationen, und sie brauchen Stromnachfrage und Stromangebote. Die müssen besser zusammengebracht werden. ({18}) Die Versorgungssicherheit muss im Zeitalter der erneuerbaren Energien ebenfalls im Mittelpunkt stehen. Wir brauchen eine bessere Abstimmung von Netzausbau und Anlagenzubau. Wir brauchen Akzeptanz für Windkraftanlagen an Land, und trotzdem schaffen wir die 70 GW. Wir brauchen einen spürbaren monetären Benefit für die Kommunen, und wir brauchen Kostentransparenz für die Stromkunden. Es ließe sich alles fortsetzen, meine Damen und Herren. ({19}) Was wir jedoch nicht machen dürfen und auch nicht machen können und wollen, ist das, was Sie in Ihrem Antrag suggerieren: einfach auf erneuerbare Energien im Energiemix zu verzichten. Vielen Dank. ({20})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Koeppen. – Als nächste Rednerin hat das Wort für die FDP-Fraktion die Kollegin Sandra Weeser. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich zu Beginn meiner Rede festhalten: Der Energiepolitik in Deutschland ist nicht geholfen, wenn wir uns jetzt alte Zeiten zurückwünschen oder die gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen ausblenden. Die sind nämlich gewaltig. Die AfD suggeriert in ihrem Antrag, dass sie Interesse am Umweltschutz hat. Aber das, was in Ihrem Parteiprogramm und auch in Ihren Reden dargestellt wird, entspricht überhaupt nicht dem, was Sie jetzt in Ihrem Antrag vorgeben. Das ist scheinheilig. ({0}) Die Energiewende ist eingeleitet, und jetzt geht es darum, diese effizienter und sinnvoller zu gestalten. Herr Koeppen hat recht, wenn er sagt, der Bundesrechnungshof hat zu Recht viele Dinge angemahnt, und natürlich müssen wir uns da Gedanken machen. Aber jetzt zurück zu alten Zöpfen, wie Sie das wollen, oder, was man ja ein bisschen heraushört, die Rückkehr zur Atomkraft: Das ist doch gar nicht mehr darstellbar. Das ist gesellschaftlich nicht mehr darstellbar, und ich glaube, die Messe ist gesungen. Sie haben kein Interesse an einer zukunftsorientierten Politik, und schon gar nicht an dem, was in den kommenden Jahren gesellschaftspolitisch von uns gefordert werden wird. ({1}) Ihr Antrag zeigt, dass der Horizont wirklich nur bis zur nationalen Grenze reicht, und dahinter ist nichts mehr; da ist rein gar nichts mehr. Ich kann Ihnen nur sagen: Deutschland versorgt sich heute schon mit einem Energiemix aus der ganzen Welt, und das wird es auch in Zukunft tun. Und alles andere, was Sie jetzt hier fordern, ist völlig unnötig und sinnlos. Auch wenn Ihnen das jetzt wehtut: Europa ist ein Teil unserer Lösung. ({2}) Vielleicht lesen Sie noch mal unseren Antrag zur europäischen Energiepolitik. Unser Kontinent kann bei der Erzeugung und Speicherung von Energie enorme Synergien heben, und wir können diesen Energiebinnenmarkt auch weiterentwickeln und entsprechend voranbringen. Dann werden wir alle davon profitieren. Statt jetzt zu versuchen, das Rad der Zeit zurückzudrehen, sollten wir erst mal diskutieren, was jetzt energiepolitisch und auch klimapolitisch sinnvoll ist. Denn das identifizierte Ziel, das wir haben, ist doch, schnell und wirksam den CO 2 -Ausstoß zu mindern. Derzeit liegen zwei Modelle auf dem Tisch. Das eine ist das, wofür wir Liberale werben: eine Ausweitung des EU-Emissionshandels auf Wärme und Verkehr. Das wollen wir vor allem deshalb, weil wir durch die politisch festgelegte Begrenzung und Reduzierung des CO 2 -Ausstoßes diese Menge sicher kontrollieren können. Das können wir mit einem marktwirtschaftlichen Mittel. Insofern profitieren auch davon wieder alle, weil das deutlich zielgenauer und auch viel günstiger ist als die von der SPD geforderte CO 2 -Steuer. ({3}) Es gibt aber auch noch einen zweiten Punkt, und der wird in der ganzen Debatte immer sehr gerne ausgeblendet. Wir werden die Energiewende und vor allem auch den Klimaschutz nicht bewältigt bekommen, ohne dass die Wirtschaft und auch jeder einzelne in der Gesellschaft seinen Beitrag dazu leistet und sich aktiv dafür einsetzt. Wir müssen uns auch über den tagtäglichen Verbrauch von Energie Gedanken machen und darüber, wie wir sparsamer und effizienter werden, und vor allem, wie wir Technologien weiterentwickeln können, um weiter Energie einsparen zu können. Das wurde in den letzten Jahrzehnten versäumt, meine Damen und Herren, und das müssen wir auch mal selbstkritisch anerkennen. Gleichzeitig müssen wir auch so ehrlich sein, mal die Kosten, Preise und Belastungen zu beziffern, über die wir hier sprechen. Denn was bedeutet das für jeden Einzelnen? Was bedeutet das für einen Unternehmer, einen Schüler, eine Familie oder einen Pendler? ({4}) CO 2 muss einen Preis bekommen. Deshalb bin ich dafür: Lassen Sie uns zügig zu einer wirksamen Lösung beim Klimaschutz kommen. Wir, das heißt Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, müssen effizienter und nachhaltiger werden, und damit wäre der erste Schritt, dass wir in ein ETS gehen. Wir brauchen hier ein Zusammenspiel zwischen einem bewussteren Umgang mit den Ressourcen und technologischem Fortschritt. Die Aufgabe der Unternehmen ist es, innovativ und technologieoffen Lösungen zu entwickeln, und unsere Aufgabe hier ist es, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen. ({5}) Nur so lösen wir gemeinsam das Problem. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Weeser. Schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen von mir. – Nächster Redner: Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal wünsche ich sie mir zurück: die Zeiten, als es über alle Parteien hinweg einen Konsens gab, dass wir etwas gegen die Erdüberhitzung und für den Klimaschutz tun müssen – tun müssen! – als Vorreiter in der Welt, ({0}) um zu zeigen, dass es geht, und um Mut und nicht Angst zu machen. ({1}) Es waren Zeiten, als es einen Konsens gab, dass wir etwas tun müssen als vertragstreuer Partner, der zum Beispiel zum Pariser Klimaschutzabkommen steht und vertragstreu ist, der verlässlich ist, meine Dame und meine Herren von der AfD, der verlässlich ist und nicht unberechenbar. ({2}) Es war ein Konsens, dass wir etwas tun müssen aus Verantwortung unseren Kindern und Enkelkindern gegenüber, dass wir etwas tun müssen aus Verantwortung anderen Ländern gegenüber und deren Menschen, die von der Erdüberhitzung betroffen sind, dass wir nicht zuletzt auch etwas tun müssen aus industrie- und wirtschaftspolitischen Erwägungen heraus: Die Erneuerbaren erschließen neue Exportmöglichkeiten, schaffen neue Arbeitsplätze und neue Wertschöpfung. Auch in diesen Zeiten mit dem beschriebenen Konsens gab es Debatten, und auch Streit gab es hier im Parlament – aber um das Wie und längst nicht mehr um das Ob. Wie weit sind wir zurückgeschritten in den letzten zwei Jahren? Das ist erschreckend. Und dann flattert wieder so ein Antrag von der ganz rechten Seite des Parlaments hier bei uns ein. In Zeiten, wo Hunderttausende Jugendliche Woche für Woche uns zu Recht ermahnen, mehr für den Klimaschutz zu tun, kommt so ein Antrag hier an. Wenn Sie auf diese jungen engagierten Menschen nicht hören wollen, hören Sie doch wenigstens auf Ihre eigene sogenannte Junge Alternative. Sie fordert Sie nämlich auf, von der schwer nachzuvollziehenden Aussage Abstand zu nehmen, der Mensch würde das Klima nicht beeinflussen. ({3}) Es ist doch schon beeindruckend, dass wir das lesen dürfen. Aber zum Inhalt des vorliegenden Antrags. Darin beschreiben Sie, dass mit den Erneuerbaren der Strompreis unverantwortlich gestiegen sei. Das ist eine einfache Behauptung. Der Sachverhalt ist aber extrem kompliziert. Mit dem Aufbau der erneuerbaren Erzeugungskapazitäten ging nicht zeitgleich der Abbau der fossilen Erzeugungskapazitäten einher. Deshalb hatten und haben wir derzeit ein Überangebot an Erzeugung. Mehr Angebot als Nachfrage führt dazu, dass der Börsenstrompreis sinkt. Das System der EEG-Vergütung ist also so aufgebaut, dass die Betreiber – übrigens nicht wenige Großkapitalisten, wie in dem Antrag steht, sondern Zigtausende Bürgerinnen und Bürger – eine garantierte Vergütung bekommen. ({4}) Diese Vergütung hängt von der Art der Produktion – ob Photovoltaik oder Windenergie – und vom Datum der Errichtung der Anlage ab. Je nachdem gibt es beispielsweise 6 Cent gesetzliche Vergütung. Nach dem EEG wird das EEG-Konto aber nicht mit 6 Cent belastet, meine Damen und Herren, sondern lediglich mit 6 Cent abzüglich des Börsenstrompreises. Der liegt heute bei 4,6 Cent pro Kilowattstunde. ({5}) Das heißt, das EEG-Konto wird heute mit 1,4 Cent pro Kilowattstunde belastet. Das sind weniger als 5 Prozent des Strompreises. Ihre Angstmacherei ist absolut nicht gerechtfertigt. ({6}) Übrigens, meine Damen und Herren, das System nennt man Marktpreismodell, falls das mal jemand googeln möchte. Sie tun in Ihrem Antrag so, also ob die Erneuerbaren massiv Einfluss auf den Börsenstrompreis haben, und das stimmt auch, aber einen preissenkenden und nicht preissteigernden Einfluss. ({7}) Mit dem Abbau der fossilen Erzeugungskapazitäten wird das Angebot geringer. Der Börsenstrompreis wird demzufolge steigen, und die EEG-Vergütung sinkt automatisch, weil die Anlagen mittlerweile auch sehr effizient sind, automatisch auf null, um das mal klar zu sagen. Im Offshoresektor haben wir schon 0‑Cent-Gebote gehabt. Die Lösung der von Ihnen aufgebauschten Probleme ist also bereits im EEG mit inbegriffen. Zugegeben: Es ist kompliziert, aber eigentlich doch zu verstehen. Wenn du keen Utweg süchst, heet dat neet, dat et keen Utweg gift. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kann ich die Übersetzung bekommen? ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich entschuldige mich, Frau Präsidentin. Das heißt so viel wie: Wenn du keinen Ausweg siehst, heißt das nicht, dass es keinen Ausweg gibt. – Der ist nämlich im Gesetz normiert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Johann Saathoff. Wir freuen uns immer darauf und sind gespannt. ({0}) Jetzt sind Sie wenigstens wieder zu den Sätzen übergegangen. Nächster Redner in der Debatte: Lorenz Gösta Beutin für Fraktion Die Linke. ({1})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich könnte es mir jetzt einfach machen und zum Antrag der AfD sagen: Das sind ja Fake News. – Ja, das stimmt. Das sind Fake News. Aber manchmal muss man Fake News auch gezielt dekonstruieren und sie auseinandernehmen, und das will ich in fünf Punkten machen. ({0}) Erstens. Sie behaupten in Ihrem Antrag, der Erfolg des Ausbaus der erneuerbaren Energien sei nicht messbar und es sei kein einziges Kraftwerk eingespart worden. Das stimmt nachweislich nicht. Wir haben von 1990 bis 2018 einen Rückgang der CO 2 -Emissionen in Deutschland um 30 Prozent. Zweitens. Wir haben bei den Braunkohle- und den Steinkohlekraftwerken einen Rückgang auf 18,9 bzw. 23,7 Gigawatt. Das, was hier passiert, ist viel zu wenig. Aber man kann nicht sagen, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht funktioniert. Das ist eine Lüge; so einfach ist das. ({1}) Drittens. Sie behaupten, wir hätten in Deutschland ein instabiles Stromsystem. Auch das stimmt nicht. Da muss man sich einfach nur mal die Statistiken der Bundesnetzagentur anschauen. Wir haben eines der sichersten Stromsysteme weltweit, und mit dem Zubau der erneuerbaren Energien ist die Stromnetzsicherheit sogar noch angewachsen. ({2}) Ich muss einfach nur sagen: Ich glaube, Sie sind in der Zeit stecken geblieben. Denn Anfang der 90er-Jahre hatten wir eine Kampagne von Stromkonzernen, die uns erzählen wollten, dass, wenn wir auf über 4 Prozent erneuerbare Energien im Netz kommen würden, in Deutschland die Lichter ausgehen würden. Wir haben jetzt über etwa 40 Prozent erneuerbare Energien im Netz. Und wenn ich hier hinschaue, sehe ich: Kein einziges Licht ist ausgegangen – dank der erneuerbaren Energien. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Hilse?

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. – Sie beschwören hier die Gefahr der Energiearmut. Das ist sehr richtig, weil Stromsperren ein Problem sind und weil zu hohe Strompreise ein Problem sind. Aber Ihre Antworten darauf sind antisozial. Sie wollen nämlich Hartz IV abschaffen und durch Zwangsarbeit ersetzen. ({0}) Sie wollen die Erbschaftsteuer abschaffen. Sie wollen keine Vermögensteuer einführen. – Er will mich abschaffen, hat er gerade gesagt. Genau. Das ist nämlich das, was wir hier nicht im Parlament brauchen: diesen Hass. Er will mich abschaffen. Das will Herr Hilse. So sieht es nämlich aus. ({1}) Deswegen sage ich ganz klar: Die AfD ist keine Alternative. Viertens. Die Windräder sind eine Gefahr für Leib und Leben; auch das war eine These. Auch das stimmt nicht. Ich komme aus Schleswig-Holstein. Ich sehe es doch da. Ich habe schon mal gesehen, wie ein Windrad gebrannt hat. Das höchste der Gefühle, was passiert ist, ist, dass der Acker abgesperrt werden musste. Haben Sie das mal mit den Super-GAUs verglichen, beispielsweise in Tschernobyl oder Fukushima? Wenn ein Windrad abbrennt, ist das etwas ganz anderes als ein Super-GAU eines Atomkraftwerks. ({2}) Last, but not least und fünftens: Ihre Sprache ist verräterisch. Sie ist deshalb verräterisch, weil sie biologisiert, weil Sie vom EEG als Fremdkörper sprechen. Da bildet sich die Blut-und-Boden-Ideologie nach, die wir auch bei den Nazis schon erleben mussten. ({3}) Gestern haben wir hier im Hohen Hause wieder den Slogan vonseiten der AfD gehört: Umweltschutz ist Heimatschutz. Ich habe das mal nachgeschlagen, und das sollten Sie vielleicht auch machen. Das ist eine Parole der NPD. Das ist eine Parole, die es schon in den 90er-Jahren gab. Das ist eine neonazistische Parole, die Sie hier im Hohen Haus äußern. ({4}) Wenn Sie jetzt zu mir sagen, Sie wollen mich abschaffen, dann erinnere ich Sie einfach daran: Walter Lübcke, CDU-Mitglied und Regierungspräsident in Kassel, ist erschossen worden. Walter Lübcke hat sich für Menschlichkeit eingesetzt und sich gegen Rassismus starkgemacht. Er hat Hetze erfahren. Er hat diese Hetze erfahren, nachdem er tot war. Es hat im Netz Rufe gegeben, es sei gut so, dass er tot ist. Genau das ist Ihre Ideologie. ({5}) Sie sagen, Sie wollen mich abschaffen. Dieser Ideologie stellen wir uns entgegen. Wir verteidigen hier die Demokratie. Wir verteidigen Solidarität und Zusammenhalt, und wir wollen hier keine Mordfantasien – auch von Ihnen nicht. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hilse von der AfD.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das wird eine sehr kurze Intervention. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Beutin, Sie haben vorhin vom sichersten Netz, das wir je hatten, gesprochen, aber ein sicheres Netz definiert sich doch darüber, dass man nicht eingreifen muss und dass es irgendwie läuft. Bis zum Jahr 2010 gab es einige sogenannte Redispatch-Maßnahmen. – Ich möchte auch noch erwähnen, dass ich es nicht war, der Sie abschaffen will. Sie sind demokratisch gewählt, und deswegen will ich Sie nicht abschaffen. ({0}) Aber zurück zum Thema. Bis zum Jahre 2010 gab es drei bis vier sogenannte Redispatch-Maßnahmen pro Jahr, das heißt, dass die Bundesnetzagentur eingreifen musste, weil es Schwankungen gab. ({1}) Im Jahre 2018 gab es alleine in den ersten drei Quartalen 8 000 sogenannte Redispatch-Maßnahmen. ({2}) Das heißt, man musste eingreifen, weil das Netz vor allem durch die Einspeisung neuer instabiler Energien volatil war. ({3}) Allein diese Redispatch-Maßnahmen haben im Jahr 2017 circa 1,3 Milliarden Euro gekostet. Darauf wollte ich bloß verweisen. Aber Sie werden mich wahrscheinlich gleich belehren, dass das alles nicht stimmt. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Jetzt sind nicht Sie, sondern der Kollege Beutin dran. Herr Beutin, bitte.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass ich erwartet habe, dass Sie sich an dieser Stelle für Ihre Äußerung, Sie möchten mich abschaffen, entschuldigen. ({0}) – Sie waren es aus den Reihen der AfD. Hier im Hohen Hause wurde geäußert, Sie möchten einen Menschen abschaffen. ({1}) Ich will ganz klar sagen: Das ist geäußert worden. Dafür erwarte ich eine Entschuldigung; denn so eine Äußerung hat hier nichts zu suchen. ({2}) Aber davon abgesehen: Ich habe mir den Sachverhalt durchaus angeschaut. In diesem Jahr im Januar ist eine Maßnahme beispielsweise auf eine Umschaltung zwischen Frankreich und Spanien zurückzuführen. Wir haben ein europäisches Stromsystem. Es gibt einen Austausch von Strom. Hier ist es zu einem Fehler gekommen, aber die Bundesnetzagentur – Sie sagen es ja richtig – hat eingegriffen. Das ist auch die Aufgabe der Bundesnetzagentur: einzugreifen, wenn es zu Fehlschaltungen oder zu Übertragungsfehlern kommt. Das ist die Funktionsweise des europäischen Stromsystems. Wenn Sie sich die Statistik für 2018 anschauen würden, würden Sie sehen, dass Deutschland im europäischen Vergleich bei der Netzsicherheit auf Platz vier steht. Für die Netzsicherheit ist die Bundesnetzagentur zuständig. Wenn Sie behaupten, wir hätten ein instabiles Stromsystem, dann ist das einfach eine Falschinformation. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wir konnten hier oben nicht genau hören, was gesagt oder was nicht gesagt worden ist. Wir werden das anhand des Protokolls klären und dann gegebenenfalls morgen früh den Sachverhalt noch einmal aufrufen. Nächste Rednerin: Dr. Julia Verlinden für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag von der AfD zeigt mal wieder, dass Sie klima- und energiepolitisch echt nicht ernst zu nehmen sind. ({0}) Denn Sie fordern den kompletten Stopp des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Sie blockieren Innovation und die inzwischen preisgünstigste Form, Strom zu produzieren. ({1}) So blind für das, was um uns herum passiert, muss man erst mal sein. ({2}) Dass neue Solar- und Windanlagen inzwischen günstigeren Strom produzieren als neue Erdgaskraftwerke, das verdanken wir auch den Entwicklungen durch das EEG. ({3}) Jedes neue fossile Kraftwerk heute ist schon morgen eine Investitionsruine. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Erfolgsmodell; ({4}) denn über 100 Staaten und Regionen haben seit der Erfindung des EEG ein Einspeise- und Vergütungssystem nach dessen Vorbild eingeführt. Wir haben also erst kluge Ideen aus Deutschland exportiert und dann auch die erneuerbare Technik. Das ist ein unschätzbar wertvoller Beitrag für Entwicklung, für Frieden und für Klimaschutz. ({5}) Aber das sind ja Werte, die für Sie in der AfD nicht zählen. Das ist schon klar. ({6}) In Ihrer kruden Weltsicht leugnen Sie, dass wir Menschen die Erderhitzung beeinflussen. Weil Sie also bereitwillig den Planeten in die Klimakatastrophe führen wollen, versteigen Sie sich dazu, die Erneuerbaren beiseite zu wischen. Aber Sie stehen damit im Abseits. Nicht nur für uns Grüne ist die menschengemachte Klimakrise Realität. Auch für alle anderen Fraktionen in diesem Parlament ist klar, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien unumgänglich ist. Aber die AfD will lieber weiter 60 Milliarden Euro jedes Jahr für den Import von Kohle, Öl und Gas ausgeben oder die Summe sogar noch steigern. Who knows! Ich würde diese Milliarden lieber in lokale Wertschöpfung, in dezentrale erneuerbare Zukunftstechnologien stecken, an der Stadtwerke und Bürgerenergiegesellschaften teilhaben. ({7}) Damit haben wir uns ausführlich genug mit dem fragwürdigen Antrag von der AfD auseinandergesetzt. Lassen Sie uns nun lieber darüber sprechen, was getan werden muss, um Energiewende und Klimaschutz wieder auf den Zielpfad zu bringen; denn heute hat die Bundesregierung ein vernichtendes Urteil der Experten zu ihrem „Fortschrittsbericht“ Energiewende bekommen. Es ist leider eher ein „Rückschrittsbericht“. Was für eine Blamage, dass Sie wohl nur eins der zehn selbstgesteckten Ziele im kommenden Jahr erreichen werden, von Paris-kompatiblen Zielen mal ganz zu schweigen. Wenn Sie ernst genommen werden wollen als Bundesregierung, wenn Sie glaubwürdig vom Kohleausstieg sprechen wollen, dann müssen Sie diesen endlich mal hier im Parlament beschließen. Und Sie müssen den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen. Und Sie müssen vom Thema Energieeffizienz nicht immer nur reden, sondern auch was dafür tun, und zwar nicht irgendwann vor Weihnachten, nein jetzt! ({8}) Für Ihre GroKo-Streitereien hat niemand in der Gesellschaft mehr Verständnis, am allerwenigsten die jungen Menschen, die freitags auf die Straße gehen, ({9}) deren Eltern und Großeltern, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Scientists for Future, die vielen Unternehmen, die endlich Planungssicherheit wollen. Eigentlich alle in der Gesellschaft sind genervt davon, dass Sie von der Bundesregierung einfach nicht aus dem Quark kommen. ({10}) Und deshalb fordere ich, dass die CDU endlich überhaupt wieder Energiepolitik macht. Sie stellen doch den Minister. Dann sorgen Sie für Klarheit, sorgen Sie für Innovation und für Investitionssicherheit. Sichern Sie die 330 000 Arbeitsplätze in der Erneuerbaren-Branche, sorgen Sie dafür, dass auch nächstes Jahr noch Solaranlagen gebaut werden, schaffen Sie die Solarobergrenze im Gesetz ab, erhöhen Sie die Ausbaupfade bei Wind und Sonne, ermöglichen Sie den Ausbau auch jenseits von Ausschreibungen, und vereinfachen Sie endlich die Mieterstromregelung! ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der GroKo, lassen Sie sich zum Schluss gesagt sein: Sie brauchen keine AG Akzeptanz, Sie brauchen eine AG Handeln. ({12}) Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Jetzt heißt es machen, machen, machen. Dann kommt die Unterstützung der Menschen von ganz alleine. Vielen Dank. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Julia Verlinden. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegt ein Antrag der AfD mit dem Titel „Umweltschutz ernst nehmen – Das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen“ vor. Herr Hollnagel, natürlich ist das EEG komplex, vielleicht zu komplex. Für Sie ist es auf jeden Fall zu komplex; denn EEG ist nicht die Abkürzung für Energie-Einspeise-Gesetz, sondern für Erneuerbare-Energien-Gesetz. Sie haben das EEG zweimal Energie-Einspeise-Gesetz genannt. Deshalb möchte ich Sie zu Beginn meiner Rede darauf hinweisen, dass es eigentlich anders heißt. Es ist mir außerdem neu, dass die AfD Umweltschutz tatsächlich ernst nehmen will. Das fiel mir, ehrlich gesagt, in der letzten Zeit weder im Ausschuss noch hier im Plenum noch in der öffentlichen Diskussion auf. Auch in den Redebeiträgen heute fiel mir nicht auf, dass das Thema Umweltschutz von Ihnen ernst genommen wird. Aber ich will Ihren Antrag ernst nehmen. Man kann das EEG wegen seiner Komplexität kritisieren; denn es ist inzwischen komplex. Richtig ist aber, dass das EEG sehr wohl einen Beitrag zur Dekarbonisierung der Energieversorgung geleistet hat. ({0}) Ihr Antrag ist an dieser Stelle fehlerhaft. ({1}) 1990 entstanden bei der Erzeugung einer Kilowattstunde Strom noch 760 Gramm CO 2 , 2018 waren es nur noch 470 Gramm CO 2 . Das sind 38 Prozent weniger im Vergleich zu 1990 und 17 Prozent weniger im Vergleich zu 2012. Damit hat die Energiewirtschaft, absolut betrachtet, 155 Millionen Tonnen CO 2 gegenüber 1990 eingespart, die mit Abstand größte Minderung eines Sektors. Insgesamt beträgt die Einsparung durch die Erneuerbaren 184 Millionen Tonnen CO 2 im Jahr. ({2}) Allein im letzten Jahr gingen die Treibhausgasemissionen in Deutschland um insgesamt 4,5 Prozent zurück. Wir haben das ETS auf europäischer Ebene reformiert, und das wirkt sich jetzt eben aus. Übrigens haben wir die Erneuerbaren durch die Ausschreibungen tatsächlich marktreif gemacht. Mittlerweile haben wir bei der Photovoltaik Gebote von unter 5 Cent pro Kilowattstunde. Für Onshorewindstrom haben wir Gebote von knapp über 5 Cent pro Kilowattstunde, und für Offshorewindstrom wird teilweise 0 Cent geboten. Hier zeigt sich wieder einmal: Wettbewerb ist gut. Wir haben diesen Wettbewerb herbeigeführt, und Sie von den Grünen wollten diesen Wettbewerb verhindern. ({3}) Daneben wurden durch das EEG Investitionen im ländlichen Raum gefördert. Die Erneuerbaren finden mittlerweile auch im Ausland Nachahmer. Aber natürlich gibt es keine Blaupause für die Energiewende. Deswegen muss immer wieder nachjustiert und optimiert werden. Wir versuchen gerade, Akzeptanzfragen zu beantworten, und wir müssen auch die berechtigten Interessen der Betroffenen vor Ort adressieren. Das machen wir zusammen in der AG Akzeptanz. Gleichzeitig zeigen wir einen Weg auf, wie bis 2030  65 Prozent an erneuerbarer Energie bereitgestellt werden kann. ({4}) Bitte hören Sie von der AfD auf, so zu tun, als sei die Windkraft für sämtliche Probleme im Umweltbereich verantwortlich. Das ist einfach nicht wahr und entspricht nicht der Realität. ({5}) Wir brauchen jetzt eine Energiewende 2.0 und müssen jetzt das EEG weiterentwickeln. Wir brauchen dabei eine kluge Abgaben- und Gebührenreform. Diese muss mehr auf CO 2 -Gesichtspunkten basieren und sektorübergreifend erfolgen. Daneben werden wir über eine CO 2 -Bepreisung weiterer Sektoren sprechen. ({6}) Dabei werden wir aber alle Dimensionen der Nachhaltigkeit berücksichtigen – auch die soziale und die ökonomische. Wir nehmen den Klima- und den Umweltschutz im Sinne der Bewahrung der Schöpfung also wirklich ernst; das ist unsere DNA. Wir machen das mit Vernunft und nicht mit Verblendung. In dem Sinne: Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Lenz. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu der AfD nur so viel sagen: Wenn der Redner der AfD noch nicht mal weiß, was die Abkürzung des Gesetzes bedeutet, über das er hier spricht, dann sagt das doch alles über die Kompetenz der AfD aus. Es ist schon peinlich, sich dann hierhinzustellen. ({0}) Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch mal ein Loblied auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz singen und vielleicht auch noch mal was zu seiner Historie sagen. 1998 stand in unserem SPD-Wahlprogramm das 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm. Während die Grünen noch 5 D-Mark für den Liter Benzin gefordert haben, haben wir das 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm auf den Weg gebracht. Aus dem Parlament heraus – Hermann Scheer, Hans-Josef Fell, und ich glaube, es war auch ein Kollege der CSU dabei – wurde dann gemeinsam das Erneuerbare-Energien-Gesetz geschaffen. Wir als Sozialdemokraten haben gesagt: Wir wollen zwar aus der Atomkraft aussteigen, aber wir wollen nicht nur sagen, was wir nicht wollen, sondern wir wollen auch sagen, was wir wollen, nämlich erneuerbare Energien in den Markt bringen. Dafür haben wir das EEG erkämpft. Wenn ich das aus meinem Gespräch mit Hermann Scheer von vor ein paar Jahren noch richtig in Erinnerung habe, dann war das auch kein ganz leichter Kampf mit der Bundesregierung. Obwohl es damals eine rot-grüne Regierung war, mussten wir da als Parlament also auch Überzeugungsarbeit leisten. Das ist geglückt. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Erfolgsfaktor geworden. Wir haben erneuerbare Energien in großem Maßstab in den Markt gebracht. ({1}) – Hören Sie doch auf mit diesen blöden Zwischenrufen. Das ist doch Quatsch. Hören Sie doch mal zu! Dann können Sie noch was lernen. ({2}) Die erneuerbaren Energien haben dezentrale Arbeitsplätze gebracht. Es gibt über 300 000 Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien, und zwar auch in den Dörfern. Als Beispiel nenne ich den Handwerksmeister, der die Erneuerbare-Energien-Anlagen plant, installiert und wartet. ({3}) – Das ist doch kein Zubrot. ({4}) – Dann reden Sie doch mal mit dem Handwerker vor Ort. Das ist kein Zubrot, liebe Kollegen von der AfD, sondern das ist das Ergebnis rot-grüner Energiepolitik und auch Wirtschaftspolitik für den ländlichen Raum. ({5}) Wir haben dafür gesorgt, dass Bioenergiedörfer entstehen. Wir haben dafür gesorgt, dass ein Wirtschaftszweig entsteht. Wir sind heute noch Weltmarktführer bei den Solarwechselrichtern und im Bereich der Windkraft. Wir sind im Maschinen- und Anlagenbau für diesen Bereich Weltmarktführer. Dahinter stecken gute Arbeitsplätze. Das ist die Wirtschaftspolitik, die wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz gemacht haben. Das Schöne am EEG ist vor allem: Es ist sehr transparent, weil natürlich jeder auf der Stromrechnung sieht, welchen Beitrag er leistet. – Darüber kann man sich dann ärgern, weil man meint, er sei zu hoch, aber man weiß, wie hoch er ist. ({6}) Bei den Folgekosten von Atom- und Kohlestrom ist das nicht so. Da sehen Sie gar nichts auf der Stromrechnung, weil das über Steuern finanziert wird. ({7}) Würden Sie eine Umlage für atomaren und für Kohlestrom einführen, dann wäre sie deutlich höher als die EEG-Umlage. Wenn wir das tun würden, dann könnten wir endlich mal Äpfel mit Äpfeln und müssten nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Das ist doch das, was hier im Raume steht. ({8}) – Wir räubern nicht die Arbeitnehmer aus, sondern wir sorgen dafür, dass die Menschen preiswerte erneuerbare Energien bekommen. ({9}) Wir möchten an dieser Stelle auch noch mehr, dass nämlich zum Beispiel auch die Bürgerinnen und Bürger mit einem schmalen Geldbeutel profitieren. Deswegen werden wir in dieser Koalition auch dafür sorgen, dass Mieterstromprojekte auf den Dächern einen deutlich größeren Raum einnehmen, sodass dann auch Menschen, die in Mietskasernen wohnen, von preiswertem Solarstrom profitieren können. Die Erzeugung von Solarstrom ist mittlerweile nämlich eine der preiswertesten Stromerzeugungen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Gremmels, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Kraft?

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Der Herr Kollege kann nachher gerne eine Kurzintervention machen, aber nicht meine Rede unterbrechen. – Weil mir das auch ein Anliegen ist, möchte ich an dieser Stelle zum Schluss noch sagen: Wenn Sie mal gucken, welche Lernkurve durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz in der Energiewirtschaft in Bezug auf die erneuerbaren Energien entstanden ist, dann sehen Sie, wo wir 1997 angefangen haben und wo wir heute stehen. Die Erzeugung von Solarstrom ist eine der preiswertesten Erzeugungsformen, und auch die Windkraft ist deutlich preiswerter geworden. All das verdanken wir dem EEG. Das waren gute und sinnvolle Investitionen. Daran müssen wir weiterarbeiten. Wir müssen das EEG optimieren und entschlacken, und wir müssten mal darüber reden – damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin –, ob man nicht auch die Befreiung der Großindustrie von den Kosten anders finanzieren kann, weil es in der Tat ungerecht ist, wenn das sozusagen über die Bürgerinnen und Bürger läuft. Ich sage Ihnen aber: Die größte Erhöhung der EEG-Umlage erfolgte unter Schwarz-Gelb. Herr Rösler war damals hier Minister. Auch das gehört zur Wahrheit. ({0}) In diesem Sinne: Ich hoffe, das EEG hat noch eine lange und großartige Zukunft.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Gremmels!

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte: Matern von Marschall. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Zum Schluss dieser verhältnismäßig aufgeregten Debatte zu vorangeschrittener Stunde will ich zum Antrag der AfD nur vorausschicken: Selbstverständlich ist die Errichtung von Erneuerbare-Energien-Anlagen auch eine Frage der Raumordnung. Sie berührt selbstverständlich auch den Natur- und den Landschaftsschutz. Deswegen, finde ich, sind sorgfältige raumordnerische Planungen und sorgfältige Überprüfungen des Einflusses auf den Naturschutz unbedingt voranzuschalten. In dieser Hinsicht stimme ich dem Impuls, den dieser Antrag gibt, zu. Im Hinblick auf die Auskünfte über die Auswirkungen stimme ich ihm dagegen nicht zu. Wir haben durch dieses Gesetz die CO 2 -Vermeidung in der Zeit von 2010 bis 2018 von damals 100 Millionen Tonnen auf 180 Millionen Tonnen erhöht. Wir haben die Marktfähigkeit der erneuerbaren Energien durch dieses Gesetz – und das ist ein Verdienst, den sich auch unsere Fraktion anrechnen kann – sukzessive erhöht, indem wir – das ist noch nicht angesprochen worden – unterdessen zu Ausschreibungsverfahren gelangt sind. Das heißt, diejenigen, die den günstigen Preis anbieten, bekommen auch den Zuschlag, und das ist auch richtig. Ich will aber trotzdem sagen: Um die Akzeptanz der Menschen zu verbessern – und das betrifft nicht nur den Landschafts- und Naturschutz –, sollten wir weiterhin insbesondere auch die Bürgerenergiegenossenschaften stärken. ({0}) Das ist nämlich die beste Art, um auch in der örtlichen Umgebung Akzeptanz in Bezug auf diese Anlagen zu erreichen. Ich möchte den Antrag auch noch mal mit Blick auf die Frage bewerten, ob er überhaupt irgendeine Idee enthält, und ich muss sagen: Er enthält keine Ideen. ({1}) Wir sind ein Land mit vielen klugen Köpfen, mit Innovationen, mit einer wirtschaftlichen Entwicklungsfähigkeit und mit einer Technologieentwicklungsfähigkeit. Weil ich diesen Antrag auch ein bisschen in das Umfeld der bevorstehenden Landtagswahlen sortiere, will ich zum Beispiel den Blick zum BMW-Werk nach Leipzig werfen, wo ein Großteil der Prozessenergie, die aus Windkraftanlagen und gleichzeitig bereitgestellten Batterien stammt, für die Herstellung von E3s in diesem Werk genutzt wird. Das heißt, das ist eine dezentrale, durch Speichertechnologie abgesicherte nachhaltige, mobilitätsstärkende Produktionsform. Außerdem sind das 6 000 Jobs in Leipzig. Ich möchte noch einen anderen Aspekt von Innovation erwähnen. Wir sind keineswegs festgelegt auf eine Technologie. Wir haben in Greifswald das Max-Planck-Institut, wo mit Hochdruck an der Kernfusion geforscht wird. ({2}) Ich habe sogar gehört, dass fraktionsübergreifend Interesse an dieser Technologie besteht, ({3}) und bin sehr dankbar dafür, dass auch hier Technologieoffenheit einzieht. Angeblich soll sogar Herr Habeck seinen Besuch dort positiv kommentiert haben. Mit anderen Worten: Wir haben dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes weltweit die Technologie- und auch die Exportmarktführerschaft für jetzt preiswerte Technologien erworben. Das stärkt unseren Export, das stärkt die Arbeitsplätze in unserem Land und nützt im Rahmen der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele auch unserer Verpflichtung, anderen Ländern, insbesondere in Afrika, zu helfen, nicht in falsche Energien zu investieren, sondern den Aufbau erneuerbarer, dezentraler Energien in diesen Ländern voranzubringen. Das ist unser globaler Beitrag zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich danke Ihnen, Matern von Marschall. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10626 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie liegen soll. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute das Hebammenreformgesetz. Da es schon spät am Abend ist, darf ich hier auch für meine geschätzte Kollegin der SPD, Bettina Müller, reden. Wir stehen da Seit’ an Seit’ und kämpfen als Große Koalition aus SPD, CDU und CSU gemeinsam für unsere Interessen. Es ist wichtig, dieses Thema voranzubringen. Deswegen haben wir gemeinsam entschieden, die Behandlung des Hebammenreformgesetzes vorzuziehen, und dürfen heute darüber diskutieren, was ich sehr wichtig finde. ({0}) Warum brauchen wir ein neues Gesetz? Das liegt zum einen daran, dass das Berufsrecht von 1985 veraltet ist – dieses Gesetz ist tatsächlich älter als ich – und der medizinische Fortschritt natürlich nicht stehen geblieben ist. Deswegen ist es wichtig, hier einen neuen Ansatz zu finden. Zweitens gibt es eine europäische Richtlinie. Bei europäischen Richtlinien gilt prinzipiell: Man muss nicht allem hinterherrennen, was aus Europa kommt. Aber es ist natürlich schon wichtig, zu schauen: Was machen denn die anderen europäischen Länder? Tatsache ist, dass wir innerhalb der EU das einzige Land sind, das noch keine Akademisierung der Hebammenausbildung eingeführt hat. Auch deswegen finde ich es richtig, dem Ganzen ein Update zu geben. ({1}) Mir ist wichtig, damit auf keinen Fall zu signalisieren, dass wir die derzeitige Ausbildung geringschätzen. Im Gegenteil: Die derzeitige Ausbildung ist gut, sie ist hervorragend. Es gilt jetzt, sie weiterzuentwickeln. Aber man muss sich natürlich schon fragen: Macht es Sinn, eine duale Schulausbildung neben einer dualen Hochschulausbildung bestehen zu lassen? Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Pflegern und Hebammen. Bei der Pflege haben wir im Jahr 63 000 Auszubildende. Da können wir natürlich nicht alle akademisieren; da macht es Sinn, nur einen Teil zu nehmen. Aber bei der Ausbildung von Hebammen liegt die Kapazität bei 2 300 im Jahr. Bei dieser kleinen Gruppe macht es durchaus Sinn, sie nicht auf zwei Systeme aufzuteilen, sondern einheitlich zu behandeln. ({2}) Unter den inhaltlichen Punkten und Forderungen ist die wesentliche Änderung eine zwölfjährige Schulausbildung. Aber ich möchte ganz klar sagen: Hier geht es nicht darum, dass man zukünftig nur dann, wenn man auf dem Gymnasium war, eine Ausbildung zur Hebamme machen kann. Selbstverständlich kann man auch, wenn man nach der Realschule an eine FOS geht, dort sein Fachabitur machen, und auch so besteht die Möglichkeit, einen Zugang zu bekommen. Das gilt auch, wenn man, wie es schon jetzt der Fall ist, eine Ausbildung beispielsweise im Bereich der Pflege macht. Auch da besteht die Option, sich, wenn man sich für das Feld der Geburtshilfe besonders interessiert, in diesem Bereich weiterzuentwickeln und so einen Zugang zur Ausbildung zu bekommen. Ein weiterer Punkt ist, dass wir die Praxisanleitung neu gestalten. Das war uns ein Herzensanliegen. In der Pflege ist das längst der Fall. Bei den Hebammen ist das nicht fest vorgeschrieben. Wir wollen, dass die studierende Person dann, wenn der Ausbau abgeschlossen ist, in der dualen Hochschulausbildung im Umfang von mindestens 25 Prozent der zu leistenden Stundenanzahl von einer praxisanleitenden Person in der Ausbildung angeleitet wird. Das eröffnet einfach die Chance, dass wir die Attraktivität innerhalb der Kreißsäle für die Hebammen erhöhen, weil wir natürlich neue Perspektiven ermöglichen. Aber um das Versprechen, mit der neuen Ausbildung Menschen dazu zu befähigen, gut zu arbeiten, einlösen zu können, brauchen wir eine Ausbildungsoffensive der Praxisanleiter; darüber werden wir noch diskutieren müssen. ({3}) Da überall Fachkräftemangel herrscht und wir uns insofern in einer angespannten Situation befinden, war es uns ein Anliegen, dass wir – und das ist schon eine Besonderheit in der dualen Hochschulausbildung – den zukünftigen Auszubildenden auch eine Vergütung zahlen. Das ist in anderen Studiengängen nicht selbstverständlich. Auch das wird die jungen Leute hoffentlich erkennen lassen, dass es attraktiv ist, sich zu einer Hebamme ausbilden zu lassen. ({4}) Wir möchten auf keinen Fall die bestehenden Strukturen zerschlagen, sondern wollen die bestehenden Schulen mitnehmen. Für die Länder besteht jetzt die Chance, die Struktur der Hebammenausbildung neu auszurollen. Ich kann nur sagen: Geburtshilfe ist Daseinsvorsorge. Eigentlich müsste jetzt jeder Bürgermeister zu seinem Landtagsabgeordneten gehen und dafür werben, dass zukünftig eine Außenstelle der Hochschule im ländlichen Raum eingerichtet wird. Wir haben hier wirklich die Chance, Strukturpolitik zu gestalten und die zukünftige Hebammenausbildung flächendeckend aufzustellen. Fakt ist auch: Da, wo Ausbildung stattfindet, gibt es weniger Fachkräftemangel. Deswegen ist dieses Struktur-Update eine große Chance für uns. Wir müssen sie nutzen. ({5}) Den Lehrerinnen an den Schulen sagen wir: Wenn die Strukturen umgewandelt werden – das war auch im Bereich der sozialen Arbeit so –, gibt es immer die Möglichkeit, eine Sonderregelung zu schaffen, sodass das Lehrpersonal übernommen werden kann, auch ohne akademischen Titel. Dafür werbe ich sehr. In der angespannten Situation kann man ganz sicher sein: Wir brauchen jede Lehrerin an den Hebammenschulen, und wir werden sie auch zukünftig für die Ausbildung brauchen. Deswegen ist mir überhaupt nicht bange, dass wir irgendjemanden verlieren könnten. Im Gegenteil: Diese Lehrerinnen mit ihrer Erfahrung und ihrer Expertise werden mehr denn je gebraucht. ({6}) Aber wir müssen natürlich auch an die jetzigen Hebammenschülerinnen denken. Ich bin schon sehr dafür, es so wie in der Schweiz zu machen, nämlich eine Nachtitulierung anzustreben. Das bedeutet, dass die, die eine duale Ausbildung durchlaufen haben und nicht über einen akademischen Grad verfügen, über eine Weiterbildung diesen Grad erlangen können. Wir wollen nicht, dass junge Leute über Jahre und Jahrzehnte mit einer unterschiedlichen Titulierung arbeiten müssen; denn wir wollen ja keine zwei Systeme. Für diese Regelung werbe ich sehr. Sie steht noch nicht im Gesetzentwurf. Aber in der Schweiz ist das ein gangbarer Weg. Deswegen müssen wir darüber diskutieren und uns damit auseinandersetzen. ({7}) Ein weiterer Punkt ist, dass wir auch über ein Rückkehrerprogramm reden müssen. Gemeint ist nicht, dass wir Hebammen eine Prämie zahlen, wenn sie zurück in den Kreißsaal gehen, sondern dass wir für Hebammen, die beispielsweise nach der Geburt eines Kindes eine – meinetwegen zehnjährige – berufliche Pause eingelegt haben und die die Herausforderung suchen, wieder im Kreißsaal zu arbeiten, entsprechende Strukturen an den Hochschulen schaffen, damit sie sicher in ihren Beruf zurückkehren können. Zum Schluss bleibt mir der Appell, dass es wirklich eine Chance ist, dafür zu sorgen, dass Hebammen mit Ärzten auf Augenhöhe arbeiten. Unsere Kollegin Karin Maag kommt aus Stuttgart. Dort gibt es einen hebammengeführten Kreißsaal, und die Zahlen sprechen Bände.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Zeulner, bitte kommen Sie zum Schluss.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dort liegt die Kaiserschnittrate bei 15 Prozent, während sie in der Regel bei 30 Prozent liegt. Das heißt, Hebammen können etwas. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass es zukünftig auf jeden Fall auf dem Niveau der Vergangenheit weitergeht – mit einem kleinen Update. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Emmi Zeulner. – Nächster Redner: Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden über den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Hebammenausbildung und zur Änderung des SGB V, Hebammenreformgesetz. Wir haben zwar sehr viele Hebammen; aber die meisten arbeiten in Teilzeit, wohl 70 Prozent. Deswegen ist die absolute Zahl der Hebammen eben doch nicht ausreichend für die Arbeit, die geleistet werden muss. Die AfD stimmt natürlich jeder Initiative zu, die diese Situation verbessert. Aber schon wieder kommt hier etwas aus Brüssel, von der Europäischen Union, und wir brauchen eigentlich keine Belehrungen, was die Schulbildung betrifft. Wir sind da in Deutschland ganz weit vorn; die anderen können sich von uns eine Scheibe abschneiden. Wir brauchen da keine Belehrung. ({0}) Aber wir sind ja bereit, wenn es der Sache dient, mitzumachen, wobei wir die Akademisierung grundsätzlich auch nicht so toll finden. Aber in diesem Fall, denke ich, gehen wir mit, weil es wichtig ist. Unser eigener Vorschlag, was einen akademischen Abschluss angeht, wäre folgender – das ist etwas klarer als das, was wir im Gesetz finden –: Wir könnten einen Hochschulabschluss als FH-Abschluss ermöglichen. Hier hätten wir eine ganz klare Struktur, und damit hätten wir auch die Forderungen der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft erfüllt. Das hätte zwei Vorteile: Es gäbe eine gegenüber der Universität verkürzte Hochschulzugangsberechtigung, und verkürzt wäre auch die Hochschulausbildung. Eine Ausbildung in sieben Semestern ist kürzer als eine Ausbildung an der Universität. Wenn wir Hebammen brauchen, ist es ja nicht sehr sinnvoll, eine ewig lange Ausbildung vorzuschreiben, die das Problem weiter verschärft. Das Berufsbild würde aufgewertet – das war ja eine der Forderungen –, und der höhere Vergütungsanspruch – auch diese Forderung wurde hier genannt – ließe sich damit begründen. Allerdings – ich bin immer noch bei dem Gesetzentwurf – sollte das erforderliche Sprachniveau als Voraussetzung für den Berufsabschluss und auch für die Ausübung des Berufs der Hebamme nach § 5 Absatz 2 Nummer 4 des Hebammengesetzes, absolut gesehen, C1 sein; denn die Kommunikation zwischen der Gebärenden und der Hebamme müsste schon funktionieren. Wir können keinen Integrationskurs am Gebärendenbett oder in der Klinik durchführen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Praxisausbildung sollte nicht zurückgefahren werden, wie das im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das siebte Semester könnte zum Beispiel ein Praxissemester sein. § 15 des Hebammengesetzes besagt, dass der Student in der Verantwortung ist, für die praktische Ausbildung einen Vertrag abzuschließen, und die Hochschule der Kooperationspartner sein soll. Unser Vorschlag ist, dass nach § 21 die Hochschule bei der Organisation des Vertragsabschlusses hilft oder sogar selbst den Vertrag für den Studenten abschließt, damit die Sache etwas leichter vonstattengeht. Zur finanziellen Sicherstellung. Da es sich hier um eine Hochschulausbildung handelt, sollte BAföG gezahlt werden. Warum sollten wir da irgendwelche Experimente machen? Eine Hochschulausbildung läuft über das BAföG. Die Ausbildungsvergütung sollte somit nur für den praktischen Teil erfolgen. Die Frage, wer das bezahlen soll, müsste noch geklärt werden. Ich hätte da noch ein paar Fragen, etwa zur Übergangsregelung für Ausbilder. Nach § 20 können nur die ausbilden, die den entsprechenden Abschluss haben; aber es ist ja noch gar keiner da, der diesen Abschluss hat. Das ist nicht ganz logisch. Was Übergangsregelungen für bereits tätige Hebammen angeht, fand ich im Gesetz nichts. Normalerweise ist auch eine Ausbildereignungsberechtigung vonnöten. Auch das müsste aus meiner Sicht geklärt werden. Eine etwas kritische Anmerkung zu § 3 Absatz 2 des vorliegenden Entwurfs – hier geht es um die Berufsbezeichnung „Hebamme“ –: Meine Damen und Herren, eine Amme bezeichnet eine Frau, die nach einer eigenen Schwangerschaft durch den Milcheinschuss in ihrer Brust stillfähig ist. Das kann ein Mann, glaube ich, kaum erfüllen. ({2}) Wenn ich als Mann mich als Hebamme bezeichnen müsste, würde ich ein solches Studium nicht antreten. Das vorzuschreiben, ist eine Frechheit. Die Männer, die dem zustimmen, sollten hier mal im Röckchen auftauchen, damit wir bei dieser Gelegenheit ein bisschen Spaß haben. ({3}) Wenn Ihnen die Bezeichnung „Entbindungspfleger“ nicht passt, schaffen Sie einen neuen Begriff. Aber Sie können doch Männer nicht als Amme bezeichnen. Das ist doch völliger Schwachsinn. Mit uns läuft so etwas nicht. ({4}) Jetzt gehe ich auf unseren eigenen Antrag „Geburtshilfe in Deutschland flächendeckend sicherstellen“ ein. Man spricht von einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Hier wird besonders darauf hingewiesen, dass teilweise fünf Gebärende von einer Hebamme betreut werden müssen. Das ist nach der Statistik doppelt so viel wie in anderen Ländern. Das muss abgestellt werden. Wir sprechen von der berühmten Haftpflichtversicherungsprämie für Hebammen; sie beträgt circa 8 000 Euro per annum. Entlastet werden sie zwar durch den Sicherstellungszuschlag. Aber die Hebammen beklagen, dass sie in Vorkasse gehen müssen und dass auch die Rückholung dieses Geldes sehr kompliziert und sehr bürokratisch ist. Eine statistische Zahl, die Sie zu verantworten haben: Wir hatten 1991 noch 1 186 Kliniken mit Geburtshilfe. Diese Zahl ging sukzessive weiter runter, und jetzt haben wir nur noch 672 solcher Kliniken. Das heißt, das Problem, das Sie jetzt lösen wollen, ist hausgemacht. Das ist typisch für Ihre Politik. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Spangenberg, Ihre Redezeit ist vorbei.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, letzter Gedanke. – Fazit: Die AfD steht hinter diesem Entwurf, und würde ihn unterstützen, unter den Einschränkungen, die ich eben genannt habe. Wir sind immer dabei, konstruktiv mitzuarbeiten, das vermisse ich bei Ihnen, aber vielleicht ändern Sie sich noch. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Spangenberg. – Die nächste Rednerin, Bettina Müller, gibt Ihre Rede zu Protokoll. ({0}) Dann kommt als nächste Rednerin in der Debatte Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. ({1})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Spangenberg, vorweg erst mal die Information: Es gibt in Deutschland genau drei regis­trierte männliche Hebammen. Die wurden aber noch nie gesehen. Insofern waren Ihre Ausführungen ein bisschen eigenartig. ({0}) Das nur zur Information. Zu lebenslangem Lernen gehört ja auch so etwas. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir bitte zu Beginn meiner Rede einen kurzen Hinweis: Unsere Berichterstatterin für das Thema Hebammen, meine geschätzte Kollegin Katrin Helling-Plahr, hat am 19. Mai ihren zweiten Sohn, Felix Oskar, zur Welt gebracht. ({1}) Allen geht es gut. Ich glaube, ich darf an dieser Stelle von Ihnen allen ganz herzliche Glückwünsche aussprechen und der jungen Familie alles Gute wünschen, die jetzt aus vier Köpfen besteht. ({2}) Insofern müssen Sie heute mit mir vorliebnehmen. Ja, die Geburt meiner Tochter liegt schon 30 Jahre zurück, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber sowohl meine Kollegin Katrin Helling-Plahr als auch ich vor 30 Jahren waren sehr froh, eine hervorragende Hebammenversorgung erhalten zu haben. Daran sehen Sie, dass Hebammen einen gesellschaftlich wichtigen Beitrag zur gesundheitlichen Versorgung von Frauen leisten, und zwar vor, während und nach der Schwangerschaft. ({3}) Die Hebammen in Deutschland machen einen tollen Job, und jede Frau, die schon ein Kind zur Welt gebracht hat, weiß, wie wichtig diese Betreuung ist. Die Sicherstellung einer hochwertigen Hebammenversorgung in allen Regionen unseres Landes ist daher für uns ein sehr, sehr wichtiges Anliegen. Davon ausgehend müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die das Berufsbild attraktiver machen und dem bestehenden Hebammenmangel entgegenwirken; denn Versorgungssicherheit für die Frauen setzt effektive Nachwuchsgewinnung voraus. Deswegen finden wir es gut, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Thema endlich angegangen wird, obwohl wir uns auch gefreut hätten, wenn das früher passiert wäre. ({4}) Auch die Hebammen haben schon sehr lange darauf gewartet, dass ein Gesetz in Kraft tritt, das geeignet ist, ihren Beruf zu stärken und vor allen Dingen eine Weiterentwicklung in diesem Beruf zu ermöglichen. Der Gesetzentwurf ist ein positiver Ansatz, wie wir finden. In der kommenden Anhörung werden jedoch noch einzelne Punkte zu klären sein. Zweifellos brauchen wir in Deutschland mehr Hebammen. Daher müssen wir junge Menschen, also junge Frauen, motivieren, sich für diesen spannenden und vor allen Dingen erfüllenden Berufsweg zu entscheiden. Wenn sie sich positiv entschieden haben, müssen aber auch genügend Plätze zur Verfügung stehen, meine Damen und Herren; das ist ganz wichtig. Wir werden deshalb in der Anhörung und auch im Ausschuss unter Einbeziehung der Fachexpertise darüber diskutieren müssen, wie wir künftig möglichst hohe Ausbildungskapazitäten sicherstellen können. Denn jeder Frau, die diesen verantwortungsvollen Beruf ergreifen möchte und die notwendige Qualifikation mitbringt, muss dies auch ermöglicht werden. ({5}) Außerdem sollten wir – wir haben heute alle entsprechende Post bekommen – festschreiben, dass die besonderen Belange von Menschen mit Behinderung als fester Bestandteil in die Ausbildungscurricula aufgenommen werden. ({6}) Meine Damen und Herren, wir freuen uns auf die öffentliche Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf in drei Wochen. Dort werden wir uns mit allen Beteiligten austauschen. Wir als Opposition gehen ergebnisoffen in diese Anhörung und unterstützen als konstruktive Opposition alle Maßnahmen, die zu einer tatsächlichen Stärkung des Hebammenberufes und zu einer Erhöhung seiner Attraktivität beitragen. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christine Aschenberg-Dugnus. – Dem kleinen Felix wünsche ich von ganzem Herzen das, was sein Name besagt: dass er vom Glück begünstigt sei. ({0}) Cornelia Möhring gibt für Die Linke ihre Rede zu Protokoll. ({1}) Die nächste Rednerin ist Dr. Kirsten Kappert-Gonther für Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, allen Frauen und allen Männern hier im Bundestag wäre die zentrale gesellschaftliche Bedeutung einer guten Geburtshilfe bewusst. Wie würden wir diskutieren? Was würden wir beschließen? Viele von uns sind Mütter, viele von uns sind Väter, ganz sicher aber sind wir alle geboren worden – mit der Hilfe einer Hebamme. ({0}) Wer letzte Woche im schönen Bremen war, weiß, welch zukunftsweisende Vorstellungen die Hebammen haben. 2 000 Hebammen haben sich in der vergangenen Woche zu einem großen Kongress in Bremen getroffen. Eine Botschaft war unüberhörbar: Die Hebammen wollen die Akademisierung. ({1}) Die Hebammen wollen die Aufwertung ihres Berufs. Sie wollen auf Augenhöhe mit Ärztinnen und Ärzten zusammenarbeiten. ({2}) Sie wollen die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, ja mehr noch: Sie wollen einen Kulturwechsel in der Geburtshilfe. Und recht haben sie. Es ist endlich an der Zeit, Mütter und Kinder ins Zentrum der Geburtshilfe zu rücken. ({3}) Immerhin hat Minister Spahn nun endlich eingesehen, dass EU-Verordnungen auch für ihn gelten. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie sind spät dran: Bis 2020 muss die Ausbildung reformiert sein – so besagt es die EU-Verordnung. ({4}) Es ist nun nicht so überraschend gekommen, dass 2020 nächstes Jahr ist. ({5}) Deutschland ist bei der Umsetzung der Verordnung das Schlusslicht in der EU, und das hätten Sie verhindern müssen. ({6}) Für die Bundesländer wäre es deutlich besser gewesen, sie hätten früher Klarheit gehabt. Nun wird es umso wichtiger sein, die Länder beim Aufbau der Studiengänge zu unterstützen. Die Studien- und Prüfungsverordnung muss in Abstimmung mit den Ländern und den Hebammen schnell vorgelegt werden. Hebammen müssen endlich gemäß ihrer Qualifikation eingesetzt und bezahlt werden. ({7}) Der Gesetzentwurf ist richtig, doch er greift zu kurz. Er liefert keine Antwort darauf, wie bereits ausgebildete Hebammen sich nachträglich akademisch qualifizieren können. Die Expertise von erfahrenen Hebammen muss in die neuen Studiengänge überführt werden. ({8}) Und völlig blank bleiben Sie bei den jetzt dringend notwendigen Verbesserungen in der Geburtshilfe. Die Ausbildungsreform wird mittelfristig wirken, doch die Arbeitsbedingungen der Hebammen müssen jetzt verbessert werden. ({9}) Als Mutter weiß ich, wie wichtig es ist, vor, während und nach der Geburt eine Hebamme an der Seite zu haben. Die Personalausstattung in den Kliniken muss endlich so bemessen werden, dass Hebammen nicht mehr zwischen mehreren Gebärenden hin und her flitzen müssen, sondern die Eins-zu-eins-Betreuung während der wesentlichen Phase der Geburt endlich sichergestellt wird. ({10}) Eine gute Geburtshilfe muss leicht erreichbar sein. Und: Eine Geburt braucht Zeit, und diese Zeit muss endlich angemessen bezahlt werden. ({11}) Es darf keine Vergütungsanreize mehr dafür geben, eine Geburt ohne Grund zu beschleunigen. In Deutschland werden nach wie vor zu viele medizinisch unnötige Kaiserschnitte durchgeführt – mit Risiken für Mutter und Kind. Das darf so nicht bleiben. ({12}) Gute Geburtshilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist kein „nice to have“; sie ist die Grundlage des Lebens – von uns allen. Vielen Dank. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kirsten Kappert-Gonther. – Der nächste Redner wäre Erich Irlstorfer; aber er gibt seine Rede zu Protokoll. Dann schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10612 und 19/10631 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge können im Grunde genommen große Teile dieses Hauses von der Zielsetzung her, denke ich, unterschreiben. Es gibt eine diesen Zielen abtrünnige Fraktion, die sich an diesem Abend schon in anderer Hinsicht blamiert hat, nämlich mit der falschen Zitierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Aber sei’s drum! ({0}) Jetzt geht es um andere Anträge, zum einen um einen Antrag der FDP, zum anderen um einen Antrag der Grünen. Ich möchte hier auf zwei Punkte eingehen, und zwar zum einen auf die CO 2 -Bepreisung. Diese wird in beiden Anträgen thematisiert und ist zurzeit, wie ich finde, richtigerweise Gegenstand einer breiten Diskussion. Wir müssen uns aber darauf einlassen, dass das eben nicht nur eine Diskussion bleibt und ein Platzhalter ist, um etwas zu vertagen, sondern tatsächlich ein Aufruf und eine Grundlage dafür ist, Maßnahmen in Gang zu setzen. ({1}) Ich sage das deswegen, weil die Begrifflichkeit der CO 2 -Bepreisung – ich sage auch immer gerne: Schadstoffbepreisung – noch keine paar Minuten in der Diskussion war, da fing es schon mit bestimmten Differenzierungen an. Die Differenzierung vonseiten der FDP ist, man könne ja auch gleich eine Ausweitung des Emissionshandelssystems vornehmen; so steht es auch in Ihrem Antrag. ({2}) Ich muss dazu sagen, dass dann genau der Punkt erreicht ist, den ich gerade angemahnt habe: Man sollte daraus keine Vertagung stricken. ({3}) Wenn Sie allen Ernstes behaupten, dass man aus der Idee der Bepreisung einen erweiterten Emissionshandel machen sollte, dann ist doch absehbar, dass es sich um Jahre handeln wird ({4}) und nicht um Monate oder um Wochen. Es wird sich auch nicht um wenige Jahre handeln, sondern um viele Jahre, bis es wirklich greift. Das ist Ihnen bewusst, und trotzdem wählen Sie dieses Instrument. Da muss ich sagen: Das ist typisch für die Initiativen der FDP. ({5}) Es ist nicht zukunftsgewandt, und es ist eben auch nicht verantwortungsbewusst, wie der Titel Ihres Antrages suggeriert. ({6}) Ein weiteres Ablenkungsmanöver findet sich ebenfalls in Ihrem Antrag, und zwar indem Sie ziemlich stark auf das Instrument des CCS schielen. Auch da muss man sich einfach ehrlich machen. ({7}) – Ja, im IPCC steht auch etwas über Atomenergie. ({8}) Wir müssen auch schauen, was man da herausschneidet und für zukunftsgewandt hält. Es gibt verschiedene Szenarien. Man muss sich nicht denen anschließen, die man hier mit den eigenen Erfahrungen schon verneint hat. Dazu zählt auch das CCS. Wir haben eine geltende Gesetzgebung. Wenn man daran noch mal Hand anlegt, sollte man sehr genau wissen, was sich damit verbindet. ({9}) Wenn man das wirklich herausgreift, dann muss man wissen, dass alle Forschungsgelder, die an Unternehmen fließen, leicht dazu genutzt werden können, die Klimaschädlichkeit der Energiegewinnung unter die große Überschrift „Klimafreundlichkeit“ zu subsumieren. Wenn es mit staatlichen Geldern gefördert wird, dann hat der Staat für die „Säuberung“ dieser Energiegewinnung gesorgt, während die Energiegewinnung selber die gleiche bleibt. Wenn wir die Energiewende ernst nehmen, dann können wir doch nicht allen Ernstes auf eine Technologie setzen, bei der die Energiegewinnungsform gleich bleibt, aber durch die Verpressung des CO 2 im Boden der Anschein erweckt wird, dass das etwas Sauberes ist. ({10}) Das ist der falsche Weg. Es ist bezeichnend, dass auch das in Ihrem Antrag enthalten ist. ({11}) Ich habe jetzt nicht mehr viel Zeit. Ich wollte aber noch ganz kurz darauf eingehen, dass zur Ehrlichkeit der Debatte in diesen Zeiten auch gehört, nicht immer nur über die Ziele zu reden. Wir müssen auch über die Umsetzung sprechen, und es hakt in der Umsetzung an einigen Stellen. ({12}) Wir müssen die Erfahrungen, die wir mit den Ausschreibungen in den letzten Jahren gemacht haben, sehr ernst nehmen. Es ist erkennbar, dass es nicht so gefruchtet hat, wie das proklamiert wurde. Wir müssen erkennen, dass es tatsächlich einen Abbau von Arbeitsplätzen gegeben hat, dass es in der Wirkung ein Mengenbegrenzungsinstrument ist, und dringend umsteuern. Insofern begrüße ich, dass die Koalitionsfraktionen –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Scheer.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– in einem Entschließungsantrag das EuGH-Urteil erwähnt haben und gemahnt haben, dass die Einstufung als Nichtbeihilfe durch den EuGH ernst genommen wird.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Scheer, ich muss Ihrer Fraktion sonst Redezeit abziehen. Tut mir leid.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Oh, das geht nicht. – Danke. Tschüs. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich komme zurück zu der Debatte zum Thema „Das EEG abschaffen“. Wir haben jetzt vom Sitzungsdienst das Protokoll bekommen, in dem der Abgeordnete Sebastian Münzenmaier von der AfD dem Kollegen Lorenz Gösta Beutin entgegenhält: „Ich will Sie abschaffen!“ Ich rüge das ausdrücklich. ({0}) – Herr Gauland, wir hatten vorher unter anderem eine Debatte über die Ereignisse und die Reaktionen auf die Ermordung des Regierungspräsidenten in Kassel. ({1}) – Sie waren überhaupt nicht da, als wir darüber diskutiert haben. – Ich finde es unsäglich – deswegen haben wir das richtigerweise jetzt informell gerügt –, dass dem Kollegen Beutin entgegengeschrien wird: „Ich will Sie abschaffen!“ Ein solcher Ton hat in diesem Parlament nichts zu suchen. ({2}) – Sie können es im Ältestenrat gerne thematisieren. ({3}) Jetzt hat das Wort Andreas Bleck für die AfD-Fraktion.

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! In zweiter und dritter Lesung liegen dem Deutschen Bundestag zwei Anträge zum Klimaschutz vor, einmal von der FDP, einmal von den Grünen. Beide Anträge befürworten Klimaziele, beide befürworten aus unserer Sicht Maßnahmen, die die ökonomischen und ökologischen Verwerfungen der Energiewende noch verschärfen würden. Fakt ist: Deutschlands Anteil an den weltweiten CO 2 -Emissionen beträgt 2 Prozent. ({0}) Während sich die Vereinigten Staaten aus dem Pariser Übereinkommen zurückgezogen haben, darf China bis 2030 unbegrenzt CO 2 emittieren. Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass diese beiden Staaten für 42 Prozent der weltweiten CO 2 -Emissionen verantwortlich sind, ist eindeutig, dass Deutschland mit seinen Maßnahmen auf das globale Klima kaum einen Einfluss hat. Das ist die Tatsache. ({1}) Vor diesem Hintergrund sollten sich die Grünen mal hinterfragen, ob es wirklich verhältnismäßig ist, dafür unsere Wirtschaft zu ruinieren und unsere Umwelt zu zerstören. Auch über die technische Realisierbarkeit Ihrer geforderten Maßnahmen machen Sie sich aus unserer Sicht zu wenig Gedanken. Zudem verschließen Sie sich einer möglichen Alternative. Einer der Gründe, warum Deutschland die Klimaziele 2020 verfehlt hat, ist der sukzessive Ausstieg aus der Kernenergie. ({2}) Im Unterschied zu Deutschland hat Frankreich erkannt, dass sich die Klimaschutzziele nicht gegen die Kernenergie, sondern mit der Kernenergie einfacher umsetzen lassen. Im Unterschied zu den Grünen hat das sogar Greta Thunberg erkannt. Hätte die von Ihnen hochgelobte Klimaprophetin ihren Abfall vom Glauben nicht sofort widerrufen, wäre sie bei Ihnen doch in Ungnade gefallen. ({3}) Stattdessen meint Deutschland, sowohl die Kernenergie als auch die Kohleenergie aufgeben zu müssen. ({4}) Sollte jedoch die Natur wieder einmal den Ausstieg aus der Windenergie und Sonnenergie beschließen, weil der Wind nicht bläst und die Sonne nicht scheint, gibt es keinen Strom. Die sogenannten erneuerbaren Energien sind also in Wahrheit neue instabile Energien. Und nein, werte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die Netze sind keine Speicher. Wer wie Ihre Parteivorsitzende so etwas behauptet, leistet einen energiepolitischen Offenbarungseid. ({5}) Da wir für die neuen instabilen Energien eben keinen ausreichenden Stromspeicher haben, müssen Reservekraftwerke zur Verhinderung von Stromausfällen betrieben werden. Die Kosten dafür tragen die Bürger. Dass sich viele Bürger den Umweltschutz mittlerweile nicht mehr leisten können, ist für Sie ein Kollateralschaden. In diesen Zusammenhang passt Ihre Forderung nach einer CO 2 -Steuer wie die Faust aufs Auge. Der durchschnittliche Preis von 30 Cent pro Kilowattstunde Strom und 1,40 Euro pro Liter Benzin reicht Ihnen nicht aus; da geht noch mehr, meinen Sie. Dabei werden Sie in Ihrem Antrag noch nicht einmal konkret, wie hoch die CO 2 -Steuer außerhalb des europäischen Emissionshandels eigentlich sein soll. Die mit Ihnen sympathisierende Bewegung „Fridays for Future“ ist da wenigstens mutiger. Die fordert eine CO 2 -Steuer in Höhe von 180 Euro pro Tonne CO 2 . Doch was bedeutet das? Bei einem Bürger, der im Durchschnitt 11,61 Tonnen CO 2 jährlich emittiert, wäre das eine steuerliche Mehrbelastung von 2 089 Euro jährlich. Ich bin sicher: Spätestens dann, wenn die demonstrierenden Schüler die Schule verlassen haben, um ihr eigenes Geld zu verdienen, werden sie von ihren eigenen Forderung Abstand nehmen. ({6}) Werte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ich bedaure, dass die Energiewende die heilige Kuh Ihrer Umweltpolitik ist. Sie wissen, dass gegenwärtig Kinder im Kongo unter fürchterlichsten Bedingungen in Kobaltminen arbeiten. Sie wissen, dass zukünftig in Bolivien die Umwelt im Rahmen der deutsch-bolivianischen Lithiumkooperation zerstört wird. Sie wissen, dass Windenergie und Energie aus Maismonokulturen für Biogasanlagen einen Verlust an Biodiversität zur Folge haben. Und Sie wissen, dass Sie mit Ihren geforderten Maßnahmen diese Entwicklung sogar noch befeuern. ({7}) Trotzdem opfern Sie die Menschen, die Umwelt und die Natur auf dem Altar der Energiewende. Das ist eine Tatsache. Sie sind keine Umwelt- und keine Naturschutzpartei. ({8}) Deswegen wird sich die AfD auch weiterhin entschieden für eine bezahlbare, sichere und zuverlässige Energieversorgung sowie Mobilität einsetzen. Wir sagen: „Rotmilan statt Windkraftwahn“ und „Diesel statt Stromer“. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andreas Bleck. – Nächster Redner: Dr. Klaus-Peter Schulze für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum wiederholten Mal beschäftigen wir uns in den letzten Wochen und Monaten mit Anträgen verschiedenster Parteien zu dem Thema „Klimaschutz“, „Kohleausstieg“ usw. Wir haben im Februar dieses Jahres von der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ einen Fahrplan auf den Tisch gelegt bekommen. Ich denke, dieser Fahrplan, wenn er dann in den gesetzlichen Rahmen gebracht wird, ist ein guter Weg. Die Entscheidung dafür ist mit großer Mehrheit getroffen worden, und damit müssen wir uns auseinandersetzen. Deshalb kann ich nicht verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Sie wieder einen Antrag vorlegen, die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke unverzüglich, das heißt für mich: sofort, vom Netz zu nehmen. ({0}) – Wenn Sie eine Frage stellen wollen, können Sie das gerne machen, lieber Kollege. Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Ich gehöre zu denjenigen, die eine gewisse naturwissenschaftliche Grundausbildung haben, und deshalb sind für mich Zahlen verbindlich. ({1}) Ich verfolge seit Anfang November in den Unterlagen, die die Bundesnetzagentur zur Verfügung stellt, viermal am Tag die Erzeugungskapazitäten. In den letzten 206 Tagen, zwischen dem 7. November 2018 und dem 31. Mai 2019, habe ich mir angeschaut, wie die Situation um 19 Uhr war. Ich kann Ihnen sagen: An 87 Tagen, das sind 42 Prozent, mussten wir zu diesem Zeitpunkt Elektroenergie importieren. Im Durchschnitt lag der Bedarf bei 3 800 Megawattstunden, in einzelnen Fällen ging es weit über 10 000. Wenn ich dann noch die Kohleerzeugung, die durchschnittlich 21 000 MW betrug, und die Kernenergie, die bei 8 500 MW lag, abziehe, dann frage ich mich: Wie wollen wir in der derzeitigen Situation, in der wir uns befinden, eine sichere, preiswerte und ständig vorhandene Elektroenergieversorgung in Deutschland erreichen? ({2}) Auf jeden Fall nicht dadurch, dass man plakativ sagt: Wir nehmen 20 Kohlekraftwerke gleich vom Netz. – Das wird nicht gehen. Die Kollegin, die als Erstes gesprochen hat, Frau Scheer, ist ja darauf eingegangen, dass wir eine ganze Reihe von Problemen bei der Fortsetzung der Energiewende haben. Ich stelle fest, dass das Thema Speicher ungeklärt ist. Bei mir im Wahlkreis wird das Unternehmen LEAG einen Speicher für 50 MW errichten mit einem Aufwand von 25 Millionen Euro. Dieser wird durch die Schaltwarte des Kraftwerks gesteuert; also entstehen dadurch auch keine Arbeitsplätze. Zweitens schaue ich mir den Netzausbau an und habe sehr interessiert verfolgt, was sich im Eichsfeld am Ostermontag abgespielt hat. Wir haben die Bevölkerung einfach nicht mitgenommen, wenn wir solche Vorhaben planen, nämlich fünf Trassen von Nord nach Süd über 7 500 Kilometer in Deutschland zu legen. Diese Probleme bestehen. Ich glaube nicht, dass wir bis zum Jahr 2025 den Netzausbau an dieser Stelle abgeschlossen haben. Ein großer Teil der Trassen sind noch nicht genehmigt. Dann stellt sich für mich natürlich auch die Frage: Haben wir überhaupt so viele Baukapazitäten, um 7 500 Kilometer Erdverkabelung innerhalb weniger Jahre fertigzustellen? ({3}) Diese Punkte, liebe Grüne, müssten Sie in Ihre Betrachtungen einbeziehen. Zum Thema CO 2 -Bepreisung sage ich: Das ist sicherlich ein Weg, den man gehen kann. Aber man muss dann auch betrachten, wie sich das tatsächlich auswirkt. Wir haben seit dem 1. April 1999, nämlich seit 20 Jahren, die Ökosteuer. Die Ökosteuer hatte ja einmal die Zielstellung, den Energieverbrauch in Deutschland zu senken. ({4}) Wie sieht es damit aus? Wir haben 1999  79 Milliarden Kubikmeter Erdgas verbraucht, und im Jahr 2017 waren es 90,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas, also 10 Milliarden mehr, obwohl wir keinen nachhaltigen und strengen Winter hatten. Der Verbrauch von Diesel und Benzin ist zwischen 2000 und 2017 um 450 Millionen Liter gestiegen, und der Verbrauch von Elektroenergie ist von 477 Terawattstunden im Jahr 1999 auf 520 Terawattstunden angestiegen. Deswegen kann ich nur raten, bei der Diskussion zur CO 2 -Steuer zu berücksichtigen, ob dieses Steuerungsmodell wirklich dazu führt, was wir alle wollen, nämlich weniger CO 2 in die Atmosphäre abzugeben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Schulze. – Nächster Redner: Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Scheer, lassen Sie mich einen Satz vorab sagen: Dass Sie Fakten und Wissenschaft so blank ignorieren und zum IPCC sagen: „Ja, da stehen zwar Sachen drin, die interessieren uns aber nicht weiter“, finde ich erschreckend. ({0}) Das finde ich ein bisschen traurig. Ich schätze die Diskussion mit Ihnen sehr. Deswegen weiß ich: Das war sicherlich der Hitze des Gefechts geschuldet. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine CO 2 -Obergrenze. Das ist relativ klar und eindeutig. Der IPCC und das Pariser Abkommen zeigen uns auf, in welche Richtung es gehen muss. Wenn man das Sondergutachten zum 1,5‑Grad-Ziel ernst nimmt, muss das Ziel CO 2 -Neutralität bis 2050 sein. Das müssen wir, das können wir, und das sollten wir erreichen. Das wird allerdings nicht einfach. Wir haben aber zum Glück ein Instrument, mit dem man eine Menge exakt steuern kann, und dieses eine Instrument sollten und müssen wir nutzen. ({1}) Wir müssen den Vorteil des Emissionshandels einsehen und dafür sorgen, dass wir eine Obergrenze für CO 2 festlegen, die natürlich nicht die einzige Maßnahme – das kann gar nicht so sein –, aber ein zentraler Bestandteil auf dem Weg in diese Richtung sein wird. Neben dieser garantierten Menge an CO 2 -Einsparung, die wir erzeugen können, hat der Emissionshandel noch einen zweiten Vorteil: Er führt zum kostengünstigsten Preis. Meine Damen und Herren, jeder, der Ihnen erzählen möchte, Klimaschutz würde nichts kosten, lügt Sie an. ({2}) Aber gerade weil er etwas kosten wird, müssen wir doch für den möglichst günstigsten und effizientesten Klimaschutz sorgen. Wir haben weder die Zeit noch das Geld, es anders zu machen. Der Emissionshandel und die Ausweitung des Emissionshandels werden dafür sorgen, dass wir genau das einhalten können. Eine CO 2 -Bepreisung kann man auf unterschiedliche Arten machen. Die Ökonomen sind sich einig: Eine CO 2 -Steuer würde auch irgendwie funktionieren. Sie sagen aber klipp und klar: Wenn wir ein Mengenziel haben, dann ist auch eine Mengensteuerung die beste Option, die wir nutzen können. Das können wir uns als freie Demokraten nicht anders vorstellen. Für uns gilt: Wir haben weder die Zeit noch das Geld für eine second-best Option. Wir müssen die erstbeste Option, die wir im Klimaschutz haben, nutzen, und das ist der Emissionshandel. ({3}) Ich freue mich sehr darüber, dass wir diese Ausweitung schnell und effizient für den europäischen Emissionshandel vornehmen können, wir würden vorschlagen: mit einer Koalition der Vernünftigen. Das wäre der Weg, gemeinsam mit Frankreich, mit den Beneluxländern voranzugehen und die Bereiche Verkehr und Wärme schnellstmöglich über Artikel 24 in den Emissionshandel aufzunehmen. Das wäre auch der Weg, um unsere Klimaziele schnell zu erreichen. Wir brauchen dazu sechs Monate. Ich glaube, die Bundesregierung könnte der Kommission den Auftrag erteilen, das zu prüfen. Das wäre der Weg, den wir uns vorstellen. Ich freue mich, meine Damen und Herren von der Union, dass Sie dazu so viele vernünftige Stellungnahmen in der letzten Zeit hervorgebracht haben. Ihre Mittelstandsvereinigung hat beschlossen, den Emissionshandel auszuweiten, auch aus dem Vorstand hörte man das, und selbst die Kanzlerin hat Anfang dieser Woche dafür gesorgt, dass uns das Herz aufging, als sie unseren Vorschlag übernahm, zusammen mit einer Koalition der Vernünftigen die CO 2 -Bepreisung einzuführen. Darüber freuen wir uns sehr. Meine Damen und Herren von der Union, Sie müssen davon wegkommen, den Emissionshandel nur auf europäischer Ebene ausweiten zu wollen; denn das wird zu lange dauern, und da holen Sie sich zu Recht den Vorwurf ab, dass Sie Klimaschutz auf die lange Bank schieben. Das geht nicht. Das können wir uns nicht leisten; aber wir können dafür sorgen, dass es effizient und günstig und funktionierend aufgebaut wird, meine Damen und Herren. Ganz kurz noch zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU: Gestern hat die Landesregierung in Bayern quasi unser Modell beschlossen. Es gibt ein paar Abweichungen. Aber ich hoffe, dass Sie heute diese Chance wahrnehmen, Ihren Kolleginnen und Kollegen aus Bayern nicht in den Rücken zu fallen, sondern unserem Antrag zuzustimmen; denn das, was wir erreichen können und erreichen wollen, ist eine Obergrenze für CO 2 . Damit erzeugen wir effizienten und schnellen Klimaschutz, meine Damen und Herren. Stimmen Sie heute für die Ausweitung des Emissionshandels. Damit machen wir das Beste daraus und sorgen für einen guten Klimaschutz. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Lukas Köhler. – Nächster Redner in der Debatte: Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Lieber Kollege Köhler, Sie sagen, Sie wollen das Klima retten. Und ich weiß, das stimmt; das ist Ihnen ein Anliegen. Nur, ich bezweifle stark, dass Ihre Antwort die richtige ist; denn Ihre Antwort ist immer die gleiche. Sie lautet: Markt, Markt, Markt. Ich glaube, das funktioniert nicht; ({0}) denn wir haben eine Situation, in der die Konzerne, die am Klimawandel verdienen, kein Interesse haben, tatsächlich effektiven Klimaschutz zu machen. Sie wollen das „Fest auf der Titanic“ in Ewigkeit fortsetzen; aber wir wissen: Dieses Fest ist zu Ende. Wir müssen jetzt handeln. ({1}) Wir haben eine Situation, in der – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – zwei Drittel der CO 2 -Emissionen seit Beginn der industriellen Revolution von 90 Konzernen weltweit verantwortet werden. Zwei Drittel von 90 Konzernen! Das heißt, man weiß, welches Problem man hat. Ich darf Ihnen noch etwas verraten: Wir haben eine Situation, in der Konzerne, die am Klimawandel verdienen – thyssenkrupp, BMW, Volkswagen und andere –, an fast alle Parteien hier im Hohen Hause spenden. Ich bin stolz darauf, dass Die Linke die einzige Partei ist, die diese Spenden von Konzernen, die am Klimawandel verdienen, von Konzernen generell, nicht akzeptiert. ({2}) Wie soll eine glaubwürdige Klimapolitik aussehen, wenn Parteien sich von Konzernen, die am Klimawandel verdienen, beraten und finanzieren lassen? Ich glaube, das wird schwierig. Wir haben eine Situation, in der Menschen weltweit leiden. In Indien haben wir eine beispiellose Hitzewelle. ({3}) Tausende Menschen sind dort daran schon gestorben. Wir haben zunehmend Hitzewellen. Wir haben zunehmend Dürren. Wir haben Überschwemmungen und verschmutztes Grundwasser. Wenn wir nicht mit Gesetzen ins Räderwerk dieses Kapitalismus eingreifen, werden wir – das hat der Weltklimarat uns vorgerechnet – auf eine Erderwärmung um 3 bis 4 Grad zusteuern. Das ist eine Situation, die nicht mehr kontrollierbar wäre. Bereits 2 Grad hätten verheerende Folgen. Das können wir uns nicht leisten. Das wird die Menschheit teuer zu stehen kommen. Deswegen müssen wir es verhindern. ({4}) Der blinde Glaube an den Markt ist eben kein Rezept für die Zukunft. Das sind die Rezepte von gestern. Diese Rezepte wirken nicht. Sie sind gescheitert. Wir haben weltweit eine Situation, in der wir sehen: Je dicker das Bankkonto von Menschen ist, desto größer ist ihr ökologischer Fußabdruck. 10 Prozent der Weltbevölkerung sind für 90 Prozent der CO 2 -Emissionen verantwortlich. Es ist vielleicht keine Überraschung: Diese 10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen 90 Prozent des weltweiten Vermögens. Das heißt, 10 Prozent der Weltbevölkerung schaden unserem Klima und sind gleichzeitig im Besitz des größten Vermögens dieser Welt. Das ist das Problem. Es ist weiterhin eine Frage von unten und oben. ({5}) Deswegen sagen wir: Den Emissionshandel auszuweiten, ist nicht die richtige Antwort. Wenn wir das weltweit machen würden, würden wir die Situation verschärfen. Die reichen Industriestaaten würden sich über den Emissionshandel, den Ablasshandel, tatsächlich freikaufen können, auch über die Staaten des globalen Südens. Das wollen wir nicht. Wir wollen diesen Ablasshandel nicht. Wir sagen: Wir brauchen den Kohleausstieg bis 2030. Wir brauchen ein entschiedenes Klimaschutzgesetz. Wir brauchen Energie in Bürgerinnenhand. Wir sagen ganz klar: Wir wollen auf der einen Seite keine Stromsperren, und wir wollen auf der anderen Seite keine Privilegien für die Großkonzerne. ({6}) Vor Berlin brennen Wälder. Wir sehen, dass selbst Berlin zunehmend Probleme mit der Trinkwasserversorgung hat. Deswegen sagen wir: Wir müssen jetzt den Klimanotstand anerkennen. Wir müssen jetzt handeln. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine sehr hohe Grundlautstärke hier im Saal. ({0}) – Ja, ich weiß nicht, ob es da wirklich um das Klima geht; da bin ich mir nicht so sicher. – Wir bitten Sie sehr dringend, dass Sie den zwei letzten Rednern bzw. dem Redner und der Rednerin vor der namentlichen Abstimmung noch Ihre Aufmerksamkeit schenken. Ich bitte Sie wirklich herzlich darum und gebe jetzt das Wort Dr. Julia Verlinden für Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Einen kleinen messbaren Fortschritt haben die vielen Menschen in Deutschland, die sich derzeit auf der Straße und in der Wahlkabine für mehr Klimaschutz einsetzen, ja erreicht: Sie von der FDP-Fraktion haben Ihren einzigen Antrag zum Thema Klimaschutz aus dieser Wahlperiode nun heute hier im Parlament zur Debatte gestellt. Das ist ja schon mal was. ({0}) Aber, meine Damen und Herren, die Enttäuschung folgt auf dem Fuß. Statt die Gelegenheit zu nutzen, jetzt konkrete und sofort wirksame Maßnahmen vorzulegen, wärmen Sie doch nur Ihre alte Leier vom Emissionshandel auf. Dabei wissen Sie doch so gut wie ich: In der Praxis ist ein globaler CO 2 -Preis in angemessener Höhe ungefähr so realistisch wie der Weltfrieden. Was Sie mit Ihrem Ansatz wollen, ist ein internationaler Verschiebebahnhof statt nationaler Verantwortung. ({1}) Sie von der FDP fordern die Bundesregierung in Ihrem Antrag auf, auf eine „EU-weite Einbeziehung“ der „Sektoren Verkehr und Wärme“ in den Emissionshandel – Zitat – „hinzuwirken“. ({2}) Ich übersetze das mal in einfache Sprache: Wir warten einfach weiter ab, und falls sich die EU-Staaten irgendwann auf irgendwas Neues geeinigt haben, können wir immer noch weitersehen. – Sie haben offensichtlich immer noch nicht verstanden, liebe FDP: ({3}) Die Klimakrise wartet nicht. Auch hier in Deutschland müssen wir handeln, und zwar jetzt. ({4}) Die unerträgliche Verzögerungstaktik der Bundesregierung beim Klimaschutz, der Sie von der FDP hier auch wieder das Wort reden, bedroht übrigens nicht nur die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder, ({5}) sie wird schon ab dem nächsten Jahr reale Auswirkungen auf den Bundeshaushalt haben; denn zum ersten Mal hat die Regierung Strafzahlungen für Versäumnisse beim Klimaschutz in ihre Finanzplanung aufgenommen, und dieses Geld muss Deutschland dann an andere EU-Staaten zahlen, ({6}) um dort Emissionsrechte für die viel zu hohen Treibhausgasemissionen in Deutschland zu kaufen. Diese Strafzahlungen können sich im nächsten Jahrzehnt auf bis zu 60 Milliarden Euro summieren. Da wundert es mich schon sehr, dass ausgerechnet die FDP hier keine Vorschläge vorlegt, ({7}) um solche Ausgaben zulasten aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu verhindern. ({8}) Ihre klimapolitische Nebelkerze, den Emissionshandel auf Wärme und Verkehr auszudehnen, wird uns dabei übrigens nicht helfen, und Ihren Vorschlag, über den wir hier gleich abstimmen sollen, wollen noch nicht einmal Ihre Freunde vom BDI. Noch nicht mal Herr Lösch vom Bundesverband der Deutschen Industrie hat sich am 3. April im Umweltausschuss dafür ausgesprochen. Er hat klipp und klar gesagt: Das ist nicht unser Instrument. Damit können wir nicht vorankommen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung – – Es ist hier so laut, dass ich mich nicht mal mit der Rednerin unterhalten kann. Wir können auch abbrechen. Wenn Ihnen das lieber ist, dann mache ich eine Unterbrechung. – Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung?

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, es ist im Interesse aller, wenn wir die Debatte fortsetzen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Also nein.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir Grüne setzen dem Nichtstun der FDP und der Regierungsfraktionen eine ganze Liste von über 30 ganz konkreten Klimaschutzmaßnahmen entgegen, nämlich unseren Antrag für ein wirksames Klimaschutzgesetz, den wir heute hier gegenüberstellen. ({0}) Zu diesen wirksamen Maßnahmen gehört natürlich allen voran auch ein CO 2 -Preis – auch national. Dazu gehört natürlich der sofortige Einstieg in den Kohleausstieg. Doch was machen die Regierungsfraktionen? Statt wenigstens den unzureichenden Kompromiss der von Ihnen eingesetzten Kohlekommission in ein Gesetz zu gießen, verabschieden Sie im sogenannten Klimakabinett lediglich einen Zeitplan. Meine Güte! Herzlichen Glückwunsch, Kolleginnen und Kollegen! ({1}) Beim Klimaschutz geht es natürlich um noch viel mehr als um CO 2 -Preis und Kohleausstieg. Meine Zeit reicht nur, um das exemplarisch für den Bereich Wärme und Gebäude darzustellen. Hier könnte Deutschland sofort real CO 2 einsparen, wenn wir endlich einen Energiestandard für Neubauten bekommen, der dem Stand der Technik entspricht, wenn die Regierung endlich die Subventionen für Öl- und Gasheizungen streicht ({2}) oder den Einbau von neuen Ölheizungen wie in einigen europäischen Nachbarländern gleich ganz beendet. Wenn Sie weitere Anregungen brauchen, liebe Bundesregierung, schauen Sie einfach in unseren ausführlichen Antrag. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sage ich zum Schluss ganz frei nach Ihrem Vorsitzenden: Wenn Ihnen nicht mehr zum Thema Klimaschutz einfällt als der Verweis auf den Emissionshandel, dann überlassen Sie das Thema doch besser den Profis. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Julia Verlinden. – Ich versuche es noch einmal: Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die schon einen schönen Abend hatten, ({0}) dem letzten Redner in dieser Debatte zuzuhören. Das ist Klaus Mindrup, der jetzt für die SPD der letzte Redner in der Klimadebatte sein wird. ({1})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute zwei Anträge zum Klimaschutz. Einer dieser Anträge ist von den Grünen. Ich kann den Grünen versichern, dass wir nach der Sommerpause einen Entwurf für ein Klimaschutzgesetz bekommen werden. Aber den bekommen wir nicht, weil die Grünen das beantragt haben, sondern weil die SPD in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt hat, dass wir ein Klimaschutzgesetz bekommen. ({0}) Jetzt kommen wir zur FDP. Lieber Lukas Köhler, ich frage mich wirklich: Nehmen Sie das Thema ernst genug? Ich habe gestern hier schon gesagt: Klimaschutz ist nicht alles, aber ohne Klimaschutz ist alles andere nichts. – Jetzt kommt die FDP und sagt: Wir haben den europäischen Emissionshandel, und der löst das Problem. Das ist die eierlegende Wollmilchsau des Klimaschutzes. – Die eierlegende Wollmilchsau des Klimaschutzes gibt es aber gar nicht. Ich frage: Macht das Sinn? Das kann man auch begründen. Sie sagen, Sie wollen national den Verkehrssektor einbeziehen. Dazu gibt es ein Urteil, das Sie auch kennen. Sie kennen sicherlich auch das Schreiben des Umweltministeriums zur Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2017, dass das national nicht geht. Jetzt kommt es: Auch wenn es rechtlich nicht geht, muss man fragen, ob es Sinn macht. Es macht keinen Sinn, weil die CO 2 -Vermeidungskosten im Verkehrssektor so hoch sind, dass der europäische Emissionshandel dort gar keinen Technologiewandel zur Folge hätte. Die Unternehmen könnten sich einfach freikaufen. Dann würde der Druck auf die Industrie und auf die Kraftwerke erhöht. Das würde dazu führen, dass der europäische Emissionshandel eventuell sogar ganz infrage gestellt würde, und alle Erfolge wären bedroht. Das ist also völlig unsinnig. Ihr Antrag macht keinen Sinn. ({1}) Jetzt kommt der Punkt: Warum machen Sie das? Wir haben doch auf europäischer Ebene klare Regeln. Wir haben den europäischen Emissionshandel, gut reformiert, bis 2030. Wir haben aber auch das Effort-Sharing-Regulation-System für die anderen Sektoren mit klaren Obergrenzen, die wir europäisch einhalten müssen. Wenn ein Land wie Deutschland das nicht schafft, dann wird bezahlt. Wir als Sozialdemokraten sagen: Besser investieren, als in anderen Ländern Ablasshandel zu betreiben! Dieses System funktioniert. ({2}) Sie sind als FDP doch eine Rechtsstaatspartei. Da muss man sich doch an das europäische Recht halten, anstatt es ständig infrage zu stellen. Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Es ist leider ein übliches Verfahren von Populisten, dass man für komplexe Fragen einfache Lösungen anbietet, ({3}) dass man sagt: Wir haben die eine Lösung, mit der wir alles in den Griff bekommen. – Das ist aber eben nicht so. ({4}) Warum sagen Sie nicht: „Wir setzen das, was Europa gemacht hat, in Deutschland um“? Warum stellen Sie das infrage? Stützen Sie doch Europa, und zwar nicht nur beim ETS, sondern auch beim Effort Sharing. ({5}) Ich kann Ihnen klar sagen: Ihre Antwort für den Klimaschutz passt auf eine Seite. Lesen Sie sich durch, was der BDI dazu geschrieben hat! Das hier ist eine wirklich sinnvolle Lektüre, die „Klimapfade für Deutschland“. Darüber kann man sich auch streiten. Aber da waren zumindest Profis am Werk, um Julia Verlinden an dieser Stelle zu zitieren. ({6}) Was steht also vor uns? Ihr Antrag wird ja heute hier keine Mehrheit finden; davon gehe ich aus. Dann sollten wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Auch der BDI sagt: Wir brauchen den Ausbau der erneuerbaren Energien. – Warum? Weil das Angebot steigen muss; denn wenn das Angebot steigt, haben wir auch stabile Preise. ({7}) Wenn wir einen Mangel haben und wenn wir den Ausbau weiter bremsen, steigen die Preise. Das ist unsozial, und das ist schlecht für unsere Wirtschaft. Wir brauchen die neuen Anlagen, wir brauchen die neuen Windkraftanlagen, die neuen PV-Anlagen. Sie sind kostengünstig. ({8}) – Zu dem Zwischenruf aus der AfD: Sie sind mit Ihrer Politik die größte Gefährdung für den Industriestandort Deutschland. ({9}) Denn Sie setzen nicht auf die Zukunft. Sie setzen auf die Vergangenheit. Ich kann Ihnen eins sagen: Wer die Heimat liebt, der verteidigt die Heimat. Die Heimat wird bedroht durch den Klimawandel, ({10}) und deswegen muss man für erneuerbare Energien sein. Da können Sie so laut brüllen, wie Sie wollen; denn ich habe hier das Mikrofon. Danke schön. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Klaus Mindrup. – Die Kollegin Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion gibt ihre Rede zu Protokoll. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Zusatzpunkt 10. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Klimaziele verantwortungsbewusst erreichen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10031, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/821 abzulehnen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion der FDP namentlich ab – nach dieser namentlichen Abstimmung folgt noch eine Abstimmung mittels Handzeichen –; wir werden diese Abstimmung mit vier Urnen durchführen, hinten eine, vorne eine, rechts und links je eine. In diesem Zusammenhang möchte ich mich ganz herzlich – ich hoffe, im Namen von allen – bei unseren Parlamentsassistenten und -assistentinnen bedanken, die uns bis spät in die Nacht unsere Arbeit ermöglichen. Vielen herzlichen Dank! ({1}) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir bzw. uns das Signal zu geben, ob die Urnen besetzt sind. – Die Daumen sind oben. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung. So, darf ich fragen, ob es Kolleginnen oder Kollegen im Raum gibt, die Ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? – Also, Kollege Friedrich sagt: Druck machen! – Deswegen frage ich jetzt mit Nachdruck: Gibt es noch Kolleginnen und Kollegen im Raum, die Ihre Stimme nicht abgegeben haben? – Es sieht so aus, als hätten alle Ihre Stimme abgegeben. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später mitgeteilt. Wir sind im Übrigen noch mitten in einer Debatte. Das bezieht sich auf die Linke des Hauses bzw. auf die, die dort stehen. Liebe Sozialdemokraten auf der linken Seite des Hauses, wir haben jetzt noch eine Abstimmung. ({2}) – Nein, das sind auch noch andere. ({3}) Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Wirksames Klimaschutzgesetz vorlegen – Maßnahmen und Regelungen für alle Sektoren“. Das ist der Zusatzpunkt 11, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7273, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6103 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Ich sehe keine Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und AfD bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lunapharm, Valsartan, Bottrop sind die Namen aus dem letzten Jahr, die jeweils verbunden waren mit Problemen in der Arzneimittelversorgung, mit Skandalen, die bei vielen Patienten zu viel Verunsicherung geführt haben. Beim Thema Valsartan, einem Blutdrucksenker, waren fast 1 Million Patienten in Deutschland von einem Rückruf betroffen. Worum es einmal mehr geht in der Gesundheitspolitik, ist, Vertrauen zu erhalten und Vertrauen zurückzugewinnen, indem wir über die Probleme, die sich ergeben haben, diskutieren, indem wir mögliche Lösungen besprechen, indem wir dann aber vor allem auch zu Entscheidungen kommen. Das tun wir hier heute Abend mit diesem Gesetz für mehr Arzneimittelsicherheit in Deutschland, einem Gesetz, das sicherstellt, dass Medikamente, die die Patienten im Vertrauen darauf nehmen, dass sie ihnen helfen, ihnen auch wirklich nützen und nicht schaden. Das wollen wir sicherstellen, das wollen wir garantieren. Dafür ist dieses Gesetz da. ({0}) Was tun wir? Mit diesem Gesetz erweitern wir die Kompetenzen der Bundesbehörden in der Arzneimittelaufsicht. Wir ermöglichen es, dass es zu mehr Kontrollen kommt, dass es mehr Absprachen gibt zwischen den Landes- und Bundesbehörden, etwa bei Inspektionen in Drittländern, in denen auch produziert wird, zum Beispiel in China. Wir machen es möglich, dass auch die Bundesbehörden Rückrufe starten können, wenn sie zu entsprechenden Erkenntnissen kommen, und die Patienten informieren können. Wir geben den Krankenkassen Regressansprüche gegenüber der Pharmaindustrie, wenn es zum Beispiel zu verunreinigten Arzneimitteln kommt. Damit stärken wir das Interesse der Pharmaunternehmen, selbst dafür zu sorgen, dass in der Wirkstoffkette, in der Zulieferkette aus Drittländern tatsächlich nur beste und fehlerfreie Produkte zur Anwendung kommen. Wir stellen sicher, dass im Fall der Fälle, falls es zum Rückruf kommt, die Patientinnen und Patienten nicht noch auf Kosten sitzen bleiben. Es wird sichergestellt, dass die Arzneimittel gezahlt werden, aber dass keine zusätzlichen Zuzahlungen zu leisten sind. Mit dem Gesetz regeln wir eine ganze Reihe von weiteren arzneimittelrechtlichen Vorgaben. Ein Thema, das ich noch ansprechen will, weil es auch diskutiert worden ist, insbesondere von den Betroffenen, ist die Frage der Versorgung von Hämophiliepatienten, Bluterpatienten, in Deutschland. Hier geht es darum, dass wir eine gute Versorgung, die es heute gibt, an entsprechenden Zentren aufrechterhalten, dass wir sie sicherstellen, während wir gleichzeitig den Vertriebsweg für die Arzneimittel in Zukunft über die Apotheke, wie in allen anderen Bereichen auch, organisieren. Wir haben aufgrund der Anhörungen im parlamentarischen Verfahren eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die zum Beispiel sicherstellen, dass in Notfällen die Versorgung weiterhin direkt und ohne Verzug aus den behandelnden Zentren erfolgen kann. Mit diesen Maßnahmen stellen wir zum einen sicher, dass in der Arzneimitteldistribution, in den Lieferketten, die bewährten Wege und auch Preisfindungen – auch das ist wichtig; denn es geht um höchstpreisige Medikamente, um Blutprodukte – eingehalten und für alle Bereiche umgesetzt werden. Zum anderen stellen wir sicher, dass wir gleichzeitig eine hohe Qualität in der Patientenversorgung haben. Das zeigt einmal mehr: Ein solches Verfahren mit einem Vorschlag, der dann in die parlamentarische Beratung samt Anhörung geht, ist immer wieder dazu geeignet, Gesetze besser zu machen. Dafür machen wir diese Verfahren, und das ist auch hier gemeinsam gelungen. ({1}) Einen letzten Bereich des Gesetzes, den ich ansprechen will, ist das Thema eRezept. Wir schaffen auch hier die Grundlage für einen weiteren Schritt in der Digitalisierung des Gesundheitswesens, indem wir den Weg bereiten zur Einführung des eRezeptes. Wir haben heute noch eine millionen-, wenn nicht hundertmillionenfache Zettelwirtschaft im Bereich der Arzneimittelversorgung. Heute werden alle Rezepte noch auf Papier, übrigens auch auf dem ganzen Abrechnungsweg, parallel geführt. Wir legen hier gesetzgeberisch die Grundlagen, dass die Arbeiten jetzt zügig beginnen können, das eRezept einzuführen und diese Zettelwirtschaft zu beenden. Es ist ein weiterer Baustein in unserer Strategie, gerade in allen Bereichen des Gesundheitswesens zu einer Digitalisierung zu kommen, wie sie auch in anderen Bereichen des Alltages selbstverständlich ist. ({2}) Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich – ich hätte beinahe gesagt: auch zu dieser Tageszeit; aber wir arbeiten zu jeder Tageszeit intensiv – Sie nach diesen guten Beratungen, die wir in den letzten Wochen und Monaten gehabt haben – übrigens auch mit dem Bundesrat gehabt haben, der mit den Landesbehörden beim Thema Arzneimittelsicherheit intensiv involviert ist –, bitten, dieses Gesetz für mehr Arzneimittelsicherheit bei uns in Deutschland zu unterstützen, ein Gesetz, das mithilft, Vertrauen in eine gute Versorgung der Patientinnen und Patienten zurückzugewinnen und zu erhalten. ({3})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gesetzentwurf für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung, GSAV. Anlass ist ja das Versagen hoheitlicher Pflichten im Bereich der Arzneimittelkontrolle; das muss man deutlich formulieren. Wir haben eben die Fälle gehört; ich führe sie noch mal auf, weil es so problematisch ist: der Fall Lunapharm, der Fall Valsartan, der Fall Bottrop, in dem der Apotheker Krebsmedikamente falsch hergestellt hat – klinische Prüfungen durch das Paul-Ehrlich-Institut und das BfArM haben da auch nicht viel geholfen. Die Maßnahmen, die eingeführt werden sollen, sind zu begrüßen; ganz klar. Die Kontrolle bei der Herstellung und Abgabe von Krebsarzneimitteln durch Apotheken soll verschärft werden. Die Herstellung verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch Heilpraktiker soll nur noch in Ausnahmefällen erfolgen; das kann man wirklich nur unterstreichen. Die Rückrufkompetenzen der zuständigen Bundesbehörden werden erweitert auf die in der EU zugelassenen Arzneimittel. Und: Der Bund soll mehr Befugnisse bei der Kontrolle von Produkten aus Drittstaaten bekommen. Der gesetzliche Übergang der Ansprüche bei Gewährleistung vom Apotheker direkt an die Krankenkassen ist auch besser; es ist besser, wenn man sich nicht direkt an die Unternehmen wenden muss. Und: Die Zuzahlung für die Patienten soll entfallen, wenn das Medikament zurückgerufen wird. Problematisch wird allerdings gesehen, dass bei der Hämophilie, also der Störung der Blutgerinnung, die Versorgung in den Apotheken erfolgen soll und die Zentren in dieser Form nicht mehr einbezogen werden. Negativ wird auch die Beibehaltung der Importklausel gesehen. Als AfD sagen wir: Es ist gut, aber nicht gut genug; ganz klar. – Wir hatten ja selbst drei Anträge eingebracht. Erstens. Antrag Drucksache 19/6419, „Importquote abschaffen“. Die Forderung besteht bei uns vollständig weiter; denn das Sicherheitsrisiko, die Sicherheitsprobleme kommen aus dem Ausland. Auch lange Lieferketten machen die Verschleierung der Herkunft der Arzneimittel schwierig. Schadenrückrufe sind nicht selten: Palladon Retard, Vardenaristo und auch VOL Lichtenstein, die standen auf der sogenannten Gelben Liste. Arzneimittelimporte bedürfen aufgrund des Anteils von 10 Prozent keiner staatlichen Förderung mehr. Der hohe bürokratische Aufwand wird auch kritisiert. Wir sind der Meinung: Es soll keine dezentrale Kompetenz der Kontrolle über die Länder geben. Allein der Bund oder in diesem Fall sogar die Europäische Union soll die Kontrollkompetenz für Arzneimittel erhalten. Zweitens. Drucksache 19/8277 von der AfD mit dem Titel „Flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln sichern und ausbauen, Wettbewerb stärken – Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verbieten“. Hintergrund ist hier, dass der Wettbewerbsnachteil für unsere eigenen Apotheken aufgehoben werden muss; denn sie können keine Rabatte weitergeben. Wir haben ja die Festpreisgarantie. Aus diesem Grunde sind wir für das Verbieten des Versandhandels. Weiter geht es damit, dass wir die Zustellung durch Boten nicht bloß im Einzelfall erlaubt haben möchten, sondern die Apotheken sollten das grundsätzlich dürfen; denn, wie gesagt: Wettbewerbsnachteile sollten, wenn möglich, ausgeräumt werden. Drittens. Drucksache 19/8988 von der AfD „Alle Arzneimittel auf die krebserregende Verunreinigung N‑Nitrosodimethylamin untersuchen“. Sie können sich erinnern an den Rückruf krebserregender Valsartan-haltiger Arzneimittel; das war ein großes Problem. Inzwischen ist auch eine weitere Verunreinigung durch ein anderes Nitrosamin aufgetreten. Wir fordern darüber hinaus, dass die Rückstellmuster bei den Herstellern ebenfalls auf diese Verunreinigungen zu überprüfen sind, und kritisieren dabei die zweijährige Frist, in der sie die Möglichkeit haben, diese Kontrollen, also strengere Kontrollen, durchzuführen. Wir sind der Meinung, das muss sofort gemacht werden. Fazit, meine Damen und Herren: Patienten sind Menschen, die einen besonderen Vertrauensschutz benötigen. Sie müssen darauf bauen können, dass der Staat seiner Verantwortung nachkommt und die Sicherheit der in den Verkehr gebrachten Arzneimittel garantiert. Das ist die Forderung der AfD. Recht vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Detlev Spangenberg. – Martina Stamm-Fibich gibt ihre Rede zu Protokoll . ({0}) Die nächste Rednerin ist Christine Aschenberg-­Dugnus. ({1})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister Spahn! Ich möchte zu Beginn – damit der Minister sich nicht wieder über zu viel Kritik beschwert – einige positive Regelungen im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung nennen. Wir begrüßen, dass die Selbstverwaltung einen Plan vorlegen soll, wie das elektronische Rezept in den Markt gebracht werden soll; gute Regelung. Zudem sieht das Gesetz eine Streichung in § 48 Absatz 1 des Arzneimittelgesetzes vor, da dies einer Fernbehandlung im Wege stand. Jetzt sind Verschreibungen auch in der Telemedizin möglich, und das finden wir gut. ({0}) Des Weiteren begrüßen wir – da schaue ich den Kollegen Schinnenburg an –, dass die Versorgung mit Medizinalhanf jetzt vereinfacht werden soll. Meine Damen und Herren, auffällig ist aber, dass dies alles Nebenschauplätze sind, die eigentlich nur indirekt mit der Sicherheit von Arzneimitteln zu tun haben. Ich hoffe, wir sind uns hier alle einig: Die Arzneimittelskandale der letzten Jahre dürfen sich nicht wiederholen. Unsere Aufgabe als Politik ist daher, alles dafür zu tun, die Arzneimittelversorgung in Deutschland sicherer zu machen. Skandale wie die Fälle Valsartan oder Lunapharm, das darf sich in unserem Land nicht wiederholen. Handeln ist daher dringend erforderlich – zum Schutze der Patientinnen und Patienten. Die genannten Skandale, meine Damen und Herren, sind aber auch ein Versagen der Aufsicht. Deshalb benötigen wir hier dringende Verbesserung. ({1}) Das vorliegende Gesetz wird diesen notwendigen Verbesserungen jedoch nur in Ansätzen gerecht. Derzeit obliegt die Überwachung im Arzneimittelbereich der jeweiligen Landesbehörde. Die Aufgabe dieser Behörde ist es, festgestellte Verstöße zu beseitigen und künftige zu vermeiden. Das Gesetz sieht nunmehr eine bessere Koordinierung dieser Landesbehörden vor. „Koordinierung“ klingt ja auf den ersten Blick ganz vielversprechend; uns ist das im Ergebnis aber zu wenig. ({2}) Was wir dringend benötigen, ist eine beim Bund liegende zentrale Arzneimittelaufsicht. Eine lediglich bessere Koordinierung der Landesbehörden reicht bei Weitem nicht aus, um die Sicherheit der Arzneimittelversorgung und damit die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Gerade in einem so sensiblen Bereich wie dem, den wir hier gerade diskutieren, benötigen wir eine einheitliche Aufsicht. Was wir brauchen, ist eine Kompetenzbündelung an einer Stelle. Daher fordern wir, eine solche Zuständigkeit der Aufsicht an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, also an das BfArM, zu geben. Das wäre ein richtiger Schritt. ({3}) Der mögliche Einwand: „Das ist doch Ländersache“, ist deswegen hinfällig, weil Sie es als Regierung doch in der Hand haben, die Länder von Anfang an miteinzubeziehen und von der Wichtigkeit einer Kompetenzbündelung zu überzeugen. Nächster Punkt. Dass nunmehr bei Rabattverträgen eine unterbrechungsfreie und bedarfsgerechte Lieferfähigkeit berücksichtigt werden soll, ist folgerichtig. Aber warum kümmern Sie sich nicht darum, wie wir es schaffen, das Problem von Lieferengpässen schon von vornherein auszuschließen? Denn Lieferengpässe hängen immer mit der Zahl der Anbieter und der Marktkonzentration zusammen. Es liegt doch auf der Hand: Die Arzneimittelproduktion geht dorthin, wo sie attraktive Rahmenbedingungen vorfindet. Es ist daher dringend erforderlich, dass der Produktionsstandort Deutschland und Europa wieder attraktiver wird, meine Damen und Herren. ({4}) Das wurde viel zu lang vernachlässigt. Deswegen müssen wir an dieser Stelle an den Stellschrauben drehen. Genauso müssen wir etwas an der hohen Regulierungsdichte ändern; die muss dringend abgebaut werden. Den Direktvertrieb im Bereich der Hämophilieversorgung, der jetzt beendet werden soll, sehen wir auch negativ. Insgesamt reicht uns das alles nicht aus. Deswegen werden wir im Ergebnis dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Sylvia ­Gabelmann. ({0})

Sylvia Gabelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004723, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele der Regelungen der Bundesregierung gehen zwar in die richtige Richtung. In der Summe fehlt aber einfach zu viel, um auch nur dem Titel dieses Gesetzes gerecht zu werden. Daher werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Einige Beispiele. Es ist sehr enttäuschend, dass die obsolete Importförderung nicht komplett gestrichen wird. Undurchsichtige Vertriebswege machen eine wirksame Kontrolle extrem schwierig bis unmöglich. Wer es mit der Arzneimittelsicherheit ernst meint, muss die Vertriebswege massiv vereinfachen. Leider fehlen solche Regelungen im vorliegenden Gesetzentwurf. ({0}) Es ist schon auffällig, dass die Streichung der Importförderung aus dem Referentenentwurf – da war sie noch drin – rausgeflogen ist, nachdem der Chef des größten Importunternehmens mit Wirtschaftsminister Altmaier telefoniert hat; das wissen wir aufgrund einer Kleinen Anfrage der Linken. Anscheinend haben also wirtschaftliche Interessen Vorrang vor der Patientensicherheit, und das ist nicht hinnehmbar. Wir haben dazu einen eigenen Antrag vorgelegt. ({1}) Unfassbar ist, dass der Bottroper Skandal, der nur durch mutige Hinweisgeber aufgeflogen ist, nicht zum Anlass genommen wird, den Whistleblower-Schutz zu verbessern. Die vorgeschriebenen Ausschreibungskriterien bei Rabattverträgen sehe ich als Eingeständnis, dass hierin eine der Ursachen für Versorgungsprobleme besteht. Die Forderung, bei Rabattverträgen die bedarfsgerechte Versorgung der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen, bleibt folgenlos. Sie ist nicht bindend, und Sanktionen sind nicht vorgesehen. Das ist doch Augenwischerei. ({2}) Rabattverträge sollten gänzlich abgeschafft und durch eine verschärfte Festbetragsregelung ersetzt werden. ({3}) Die Miniregelungen zur Cannabismedizin sind vollkommen ungeeignet, die massiven Versorgungsschwierigkeiten zu lösen. Das haben wir mit einem eigenen Gesetzentwurf deutlich gemacht. Gar nicht verständlich ist mir, was zu den Eigenbluttherapien der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker im Gesetzentwurf steht. Klassische Eigenblutbehandlungen, bei denen es keinerlei Gefahr des Vertauschens und kein Risiko für Verunreinigungen oder Fremdinfektionen gibt und Komplikationen nachweisbar im Promillebereich liegen, sollen zukünftig unterbunden werden. Das macht medizinisch und aus Sicht des Patientenschutzes überhaupt keinen Sinn. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass hier der Patientenschutz instrumentalisiert wird, um einen unliebsamen Berufszweig in der Berufsausübung zu behindern. ({4}) – Ja. Ich habe dazu einen Änderungsantrag formuliert. ({5}) Last, but not least: Im Entwurf des geplanten Apothekenstärkungsgesetzes ist entgegen der Aussage im Koalitionsvertrag kein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln enthalten. Damit wird tatsächlich die Patientensicherheit gefährdet. Insbesondere die fehlende persönliche Beratung stört mich als Apothekerin sehr. Fraglich ist aber auch die Sicherstellung der Transportvorschriften und der Datensicherheit. Außerdem wird mit der Regelung aus dem BMG die Gleichpreisigkeit von Arzneimitteln abgeschafft, ein wichtiger Pfeiler in der guten und sicheren Versorgung mit Arzneimitteln. Apotheken sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Gesundheitswesens. Um sie nicht nur zu stärken, sondern auch dauerhaft zu erhalten, geht am Rx-Versandverbot kein Weg vorbei. ({6}) Der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein, Thomas Preis, hat davon gesprochen, dass in einem Gesundheitssystem nicht nach Regeln der Marktwirtschaft und des Kapitalismus gespielt werden sollte. Das kann ich nur uneingeschränkt unterstützen. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz hat den Titel „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ eigentlich nicht verdient. Neben viel Klein-Klein findet sich leider viel zu wenig, was die Versorgung der Patienten tatsächlich sicherer macht. ({0}) Nach den Skandalen der letzten Zeit reicht das bei Weitem nicht aus. ({1}) Im Fall des Lunapharm-Skandals sind hochpreisige, gestohlene Arzneimittel über einen Arzneimittelgroßhändler in unser Land gekommen. Nun sollen unangekündigte Kontrollen solches verbrecherisches Handeln künftig früher unterbinden. Aber allein in Deutschland gibt es über 4 000 Unternehmen, die mit Arzneimitteln handeln dürfen. Das wäre eine Überforderung der zuständigen Landesaufsichten, für die Sie in diesem Gesetz leider keine Lösung haben. ({2}) Wie wenig dieses Gesetz für mehr Sicherheit sorgt, zeigt sich auch daran, dass praktisch keine Lehren aus dem Fall Valsartan gezogen wurden. Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass Wirkstoffe aus einer Produktion in China über Jahre hinweg möglicherweise krebserregende Nebenprodukte enthielten. Niemandem, auch nicht den Behörden, ist dies aufgefallen. Jetzt sollen bei Arzneimittelrückrufen die Aufsichtsbehörden öffentliche Warnungen aussprechen dürfen. Für Menschen, die sich regelmäßig die Internetseite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ansehen, mag das genügen. Aber die allermeisten betroffenen Patientinnen und Patienten erwarten im Fall von Medikamentenrückrufen eine direkte Kontaktaufnahme. Diese haben Sie in diesem Gesetz leider nicht vorgesehen. ({3}) Um für mehr Sicherheit bei der Produktion – wie bei Valsartan – zu sorgen, müssen die Fertigarzneimittelhersteller, die Wirkstoffe aus Übersee verwenden, mehr und besser prüfen. Doch was schlägt diese Regierung vor? Die Produktionsorte der Wirkstoffe werden aufgelistet, sodass beim nächsten Skandal wenigstens jeder weiß, ob das einzunehmende Medikament betroffen ist oder nicht. Mehr Sicherheit in der Versorgung ist das sicher nicht. ({4}) Sogar von einer Verschlechterung der Versorgung muss für die Patientinnen und Patienten mit Hämophilie gesprochen werden. Heute erfolgt die Versorgung über spezialisierte Ärztezentren, die die hochkomplexen Arzneimittel direkt von den Herstellern beziehen und ihren Patienten verabreichen. Aus welchen Gründen soll zukünftig die Versorgung über Apotheken erfolgen? Das bedeutet eine erhebliche Schwächung der Arzt-Patienten-Bindung bei einer Erkrankung, die eine hohe Therapietreue erfordert. Natürlich müssen nun die Leistungen der Apotheken zusätzlich bezahlt werden. Hier wird ein funktionierendes Versorgungssystem leichtfertig aufs Spiel gesetzt. ({5}) Im Falle des pflanzlichen Arzneimittels Iberogast dauerte es ganze zehn Jahre, bis die durch die Bundesaufsicht angeordnete Warnung vor möglichen Leberschäden in den Beipackzettel aufgenommen wurde. Hier sollten wir von Ländern wie der Schweiz lernen. Unser Gesetzentwurf tut genau das: Warnungen des BfArM vor Nebenwirkungen sind in Beipackzetteln durch die Arzneimittelhersteller sofort aufzunehmen. ({6}) Das fehlt völlig in Ihrem Gesetzentwurf. Wenn Sie die Patientensicherheit ernst nehmen, dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. ({7}) Die Verordnung von Cannabis zu medizinischen Zwecken soll zwar erleichtert werden, doch statt endlich den Genehmigungsvorbehalt zu streichen, drehen Sie nur am ganz kleinen Rad. Jeder Mensch, der Cannabis als Medizin benötigt, muss es auch bekommen, und zwar während der gesamten Behandlung. Es reicht nicht, nur nach einer Änderung der Sorte oder der Dosierung von einer erneuten Genehmigung abzusehen. ({8}) Zu begrüßen ist, dass nun endlich das elektronische Rezept kommt. Unverständlich ist aber, warum Sie keine konkreten Vorgaben zu seiner Ausgestaltung machen. Somit bleibt völlig offen, ob und wie das eRezept die Versorgung verbessert. Meine Damen und Herren, aus unserer Sicht soll hier und heute ein Gesetzentwurf für ein klitzekleines bisschen Mehr an Sicherheit in der Arzneimittelversorgung beschlossen werden. Wir hätten mehr erwartet. Die Patientinnen und Patienten hätten mehr verdient. Daher werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten. Unserem eigenen Gesetzentwurf werden wir sehr gerne zustimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der Kollege Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion, die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion, und der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden – vorbildlich – zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10681, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8753 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in der dritten Lesung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Aufhebung des Genehmigungsvorbehalts der Krankenkassen bei der Verordnung von Cannabis. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10681, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/6196 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10681, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/2666 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Erleichterte Verordnung von medizinischem Cannabis für Patientinnen und Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10681, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5862 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und AfD abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung auch hier die weitere Beratung. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 19/10681 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/6419 mit dem Titel „Bevorzugung von Importarzneimitteln beenden, Importquote abschaffen, Arzneimittelsicherheit verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/8988 mit dem Titel „Alle Arzneimittel auf die krebserregende Verunreinigung N-Nitrosodimethylamin untersuchen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion der AfD mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/8962 mit dem Titel „Streichung der Importförderklausel für Arzneimittel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion der AfD und der Linken bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP angenommen.

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schulsozialarbeit ist ein Erfolgsmodell. Das wissen wir mittlerweile sogar aus der Wissenschaft. Das ist ein Erfolgsmodell für Schülerinnen und Schüler, weil es jemanden gibt, der die Zeit hat, ihnen zuzuhören, der ihre soziale Lebenslage in den Blick nimmt, der auch einmal jenseits des Leistungsgedankens Partei ergreift und Zuversicht vermittelt. Das ist ein Erfolgsmodell für Eltern, weil sie bei den Schulsozialarbeitern nicht selten zum ersten Mal vonseiten der Schule Wertschätzung, Respekt und Verständnis erleben. Sie können sich bei den Schulsozialarbeitern Luft machen, um dann offen dafür zu sein, darüber nachzudenken, vielleicht doch das eine oder andere zu verändern. Und das ist nicht zuletzt ein Erfolgsmodell für Lehrerinnen und Lehrer, weil sie entlastet werden. Sie erleben nicht selten ein anderes Herangehen an die Arbeit mit Kindern, an das Lernen; sie sehen, wie Lernen auf andere Weise gefördert werden kann, informell und orientiert an der Lebenswelt von jungen Menschen. Schule verändert sich. Sie wird multiprofessionell, bunter und vielfältiger in den Lern- und Kooperationsformen. Letztlich ist Schulsozialarbeit ein Erfolgsmodell für alle, zumindest für alle, die ein Interesse daran haben, den Lernerfolg zu sichern – und das für alle Kinder –, und die die Erfahrung gemacht haben, dass ein Perspektivenwechsel beim Blick auf Schülerinnen und Schüler manchmal ganz neue Bewertungen bringt und Türen öffnet. ({0}) Weil das ein Erfolgsmodell ist, brauchen das alle Schülerinnen und Schüler. Es muss Normalität sein, multiprofessionelle Teams an Schulen arbeiten zu lassen. Das ist eben keine Nachsorge und auch keine Schadensbegrenzung für sogenannte Problemfälle, sondern das ist ein Gewinn für alle. Weil das so ist, sprechen wir uns dafür aus: Schulsozialarbeit muss eine Regelaufgabe der Kinder- und Jugendhilfe werden, fest verankert – verbindlich und verlässlich – im Sozialgesetzbuch VIII, ({1}) weil sie eine Brücke bauen kann zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe. Das sind zwei sehr unterschiedliche Systeme. Die Schulsozialarbeit bietet die Möglichkeit, dass beide Seiten voneinander lernen. Die Verankerung im SGB VIII ermöglicht der Schulsozialarbeit auch, gegenüber dem Schulsystem die Eigenständigkeit zu behalten. Wir finden, es ist Zeit, die fortwährend zeitlich befristeten EU-Förderprogramme abzulösen durch Stabilität und Verlässlichkeit, durch Arbeit von Dauer, was auch im Sinne der Kolleginnen und Kollegen ist. Die Europäische Union hat über viele Jahre dazu beigetragen, dass sich diese Arbeit an Schulen etablieren konnte. Das war eine gute Sache. Jetzt sind wir selbst am Zug. Ein erster Schritt wäre ebendiese rechtliche Verankerung als Regelaufgabe im SGB VIII, in einem eigenen Paragrafen. Wir sind uns sehr sicher, meine Damen und Herren: Schulsozialarbeit sichert den Schulerfolg von allen Schülerinnen und Schülern. Deshalb sollte sie uns das wert sein. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat der Kollege Maik Beermann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde jetzt etwas tun, was sehr selten vorkommt: Ich lobe einen Antrag der Linken, zumindest den ersten Teil des Antrags. Den ersten Teil würde ich – ohne zu zögern – unterschreiben. Ich schmücke ihn sogar gerne noch etwas aus. Schulsozialarbeit leistet einen großen Beitrag an vielen, vielen Schulen in unserem Land und ist ungemein wichtig. Gerade in einer Zeit, in der Eltern auch von Berufs wegen immer mehr Verantwortung an die Schulen abgeben, gewinnen die Schulsozialarbeiter gewaltig an Bedeutung; denn Schule ist heutzutage nicht einfach nur ein Lernort, sondern mittlerweile für viele Schülerinnen und Schüler auch zu einem Lebensort geworden. Für Lehrerinnen und Lehrer ist es schwer, sich auch noch um die sozialen und individuellen Probleme der Schüler zu kümmern und ein neutraler Ansprechpartner zu sein. Genau diese Lücke schließt neben den Angeboten von Ganztagsschulen die Schulsozialarbeit. Mit ihrer sozialpädagogischen Ausbildung haben die Schulsozialarbeiter eine andere Herangehensweise an die Probleme des Schulalltags. Sie können sich mehr Zeit nehmen und bei Schwierigkeiten gemeinsam nach Lösungen suchen. Mit gestärkten sozialen Kompetenzen können sich die Schülerinnen und Schüler besser auf den Unterricht konzentrieren. Damit steigen zugleich ihre Chancen auf einen guten Schulabschluss, der wiederum den Einstieg ins Berufsleben erleichtern kann. Vor allem aber arbeitet die Schulsozialarbeit präventiv. Sie stärkt die Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen, verhindert Mobbing und Gewalt und tritt Schulverweigerung entgegen. Auch die Lehrerinnen und Lehrer profitieren von den neutralen Vertrauenspersonen. Sie können sich vom Schulsozialarbeiter beraten lassen und bei Problemen im pädagogischen Alltag gemeinsam Strategien erarbeiten. Auf Wunsch können selbstverständlich auch die Eltern die Hilfe der Schulsozialarbeiter in Anspruch nehmen. Und weil sie mit anderen Anbietern von Hilfsangeboten zumeist gut vernetzt sind, können Schulsozialarbeiter bei der Suche nach passenden Ansprechpartnern für die Lösung von Problemen helfen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, mein Werbeblock für Schulsozialarbeit ist jetzt beendet; aber ich meine es wirklich sehr ernst. ({0}) Ich möchte ausdrücklich für Schulsozialarbeit werben, aber eben im Rahmen der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. ({1}) Die Zuständigkeit für das Schulwesen liegt nun einmal bei den Ländern. Ich kann nur hoffen und eben dafür werben, dass sich alle Länder dafür einsetzen, dass dieses Angebot flächendeckend und dauerhaft gemacht wird, sofern das nicht schon geschieht. Klarstellen möchte ich eine mitunter vorgebrachte Darstellung, der Bund habe sich im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets von 2011 bis 2013 an der Finanzierung von Schulsozialarbeit beteiligt. Das ist falsch. Die Schulsozialarbeit war nicht Teil des Bildungs- und Teilhabepakets. Richtig ist, dass von 2011 bis 2013 durch die Anhebung der Beteiligung des Bundes an den Leistungen in der Grundsicherung den Ländern und Kommunen pro Jahr zusätzlich 400 Millionen Euro zur Verfügung standen. Damit war – ohne gesetzlich verankerte Zweckbindung – die politische Erwartung verbunden, dass diese Mittel zur Finanzierung von Schulsozialarbeit und/oder des außerschulischen Hortmittagessens von Schülerinnen und Schülern eingesetzt werden. Die konkrete Verwendung der Mittel erfolgte in der alleinigen Zuständigkeit und Verantwortung der Länder und Kommunen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Landkreise, Städte und Gemeinden wissen am besten, an welchen Schulen der Einsatz sozialpädagogischer Fachkräfte notwendig ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Entscheidung darüber vor Ort getroffen wird. ({2}) Hier sei außerdem angemerkt: Der Bund lässt unter Führung der Union die Kommunen nicht allein, sondern setzt sich für eine Verbesserung der kommunalen Finanzlage und eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung ein. Keine andere Bundesregierung hat die Kommunen so intensiv unterstützt wie die unionsgeführten Bundesregierungen der letzten Jahre. Wir haben die Länder und Kommunen massiv entlastet und haben Spielräume geschaffen; denn wir sind der Meinung, dass die Länder und Kommunen viel besser wissen, wo welche Hilfe passgenau hingehört. Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Punkte hinweisen: Erstens. Sie stellen jetzt den Antrag, weil Sie neben dem Wunsch, dass der Bund in eine Regelfinanzierung einsteigt, das Auslaufen der Förderperiode des Europäischen Sozialfonds im Jahr 2020 im Blick haben; das wurde eben deutlich. Derzeit laufen aber noch die Verhandlungen für die nächste Förderperiode von 2021 bis 2027 auf EU-Ebene. Entscheidungen über Inhalte zukünftiger Förderprogramme sind noch gar nicht bekannt. Aber es ist eben nicht ausgeschlossen, dass die EU-Mittel diesem guten Zweck auch zukünftig zugeführt werden. Mein zweiter Punkt. Sie haben sicherlich der jüngsten Antwort der Bundesregierung auf Ihre Nachfragen entnommen, dass derzeit unter anderem über das Anliegen Ihres Antrags im Zuge der anstehenden SGB‑Vlll-Reform ergebnisoffen diskutiert wird. Vielleicht gibt es hier auch Regelungen oder Entscheidungen des Bundesfinanzministers, die im Sinne des Themas sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Worte haben, denke ich, klargemacht, dass wir dem Antrag der Linken so nicht zustimmen werden und nicht zustimmen können, obwohl das Thema ungemein wichtig ist. Wir sind uns aber sicherlich einig: Was Politik in die Schule investiert, das ist eine Investition in die Zukunft der Kinder und Jugendlichen, also auch eine Investition in die Zukunft von uns allen. Politik muss in modernste Ausstattung investieren, in Lehrerinnen und Lehrer investieren und natürlich auch in Schulsozialarbeit, aber eben jeder in seiner Zuständigkeit und Verantwortlichkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss. Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter leisten unter nicht immer leichten Bedingungen Hervorragendes und übernehmen eine besondere Verantwortung. Danke dafür! Danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Ehrhorn, AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sozialarbeiter sind in der Regel dort gefragt, wo Dinge nicht mehr funktionieren, dort, wo Menschen in prekären Verhältnissen leben, wo Menschen mit ihrem Leben nicht mehr gut fertig werden, wo Situationen herrschen, in denen Armut und Drogen eine Rolle spielen, oder wo Strafgefangene resozialisiert werden sollen. Umso bemerkenswerter ist es deshalb aus unserer Sicht, dass einige hier im Hohen Hause zu glauben scheinen, dass die Beschulung von Kindern und Jugendlichen ohne Sozialarbeiter in diesem Lande nicht mehr möglich ist. ({0}) Und ja, wenn man die Verhältnisse an deutschen Brennpunktschulen betrachtet, ist man fast geneigt, Ihnen recht zu geben: Verbalattacken und körperliche Übergriffe auf Lehrer, eine zunehmende Flut von verhaltensauffälligen Kindern, die nicht selten Anzeichen von Vernachlässigung aufweisen, Unterrichtssituationen, in denen die Vermittlung von Wissen faktisch kaum noch möglich ist, Migrantenkinder, die kaum Deutsch sprechen, ({1}) religiös motivierte Angriffe auf jüdische Schüler. Und als ob das alles nicht schon reichen würde, nun auch noch die Ideologieprojekte wie die Inklusion. ({2}) Ja, die Betrachtung dieser Situation wirft tatsächlich einige Fragen auf. Zum Beispiel die: Wer trägt eigentlich die Verantwortung für dieses gesellschaftspolitische Desaster? Oder die Frage: Wie kann es eigentlich sein, dass Schule jahrzehntelang, und zwar ganz hervorragend, ohne Sozialarbeit funktioniert hat? Warum jetzt nicht mehr? Oder eine andere Frage: Gibt es vielleicht auch noch andere Gründe für die von Ihnen gewünschte Durchdringung der Schulstrukturen, zum Beispiel, dass Sozialarbeit ein Wachstumsgewerbe, ja geradezu eine Jobmaschine für die linke Sozialindustrie ist? ({3}) Ist zum Beispiel ein Grund, dass Schulsozialarbeit den totalen Durchgriff des Staates auf die Familien ermöglicht, dass man hier ganz nebenbei perfekte Indoktrinierungsstrukturen, sozusagen eine Erziehungsinstanz neben den Eltern aufbauen kann? ({4}) Machen all das, was in einer funktionierenden Gesellschaft nicht nur das natürliche Recht, sondern auch die Pflicht der Eltern ist, jetzt also – nach Ihrem Gusto – erst die Kita und dann die Sozialarbeiter? ({5}) Hast du mit 15 Jahren Liebeskummer, dann sprich doch mal darüber mit deinem Sozialarbeiter. – Ist das die von Ihnen gewünschte Welt? Ja, früher hätte man sich in einer solchen Situation vielleicht an die eigene Mutter gewandt. Aber was tun, wenn die Mama bis 20 Uhr bei Aldi an der Kasse sitzt, weil es anders nicht mehr reichen würde für die Familie? ({6}) Kein Wunder bei einer Abgabenquote von fast 53 Prozent. ({7}) Aber das Geld braucht der Staat halt für die gewünschte Umverteilung. 50 Milliarden pro Jahr für Armutsmigration müssen ja auch erst mal in die Kassen gespült werden. ({8}) Und über die nächste Steuer wird ja auch schon laut nachgedacht. Einen Grund findet die Klimasekte ja immer. Man muss den Bürgern das nur richtig verkaufen. Dann werden die das schon irgendwie fressen. Nein, meine Damen und Herren von den linken Konsensparteien, wie immer geben Sie auf die großen gesellschaftlichen Probleme die falschen Antworten, und zwar einfach deswegen, weil Sie die falschen Fragen stellen. ({9}) Machen Sie Schulen in Zusammenarbeit mit den Bundesländern endlich wieder zu Lehr- und Lernanstalten, ({10}) in denen junge Menschen für das Leben ertüchtigt werden, und zwar durch die Vermittlung von Wissen und Können. Sorgen Sie an unseren Schulen für das notwendige Maß an Disziplin. ({11}) Beenden Sie endlich Ihre katastrophalen gesellschaftspolitischen Experimente. Hören Sie auf, unser Bildungssystem kaputtzureformieren. ({12}) Ermöglichen Sie Eltern wieder, Ihre Kinder selbst zu erziehen, zum Beispiel dadurch, dass Sie den Familien mehr Netto vom Brutto lassen. Sorgen Sie dafür, dass integrationsresistente Menschen, die unsere Sprache nicht lernen, unser Land wieder verlassen. Erkennen Sie endlich die wahren Probleme. Doktern Sie nicht mit Sozialarbeit an Problem- und Brennpunktschulen herum, sondern sorgen Sie dafür, dass es in unserem Land keine Brennpunktschulen mehr gibt. ({13}) Das wäre genau der Anspruch, den verantwortungsvolle Politik an sich selbst stellen müsste. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin, die Kollegin Ulrike Bahr, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Es spricht zu uns deshalb jetzt der Kollege Matthias ­Seestern-Pauly, FDP-Fraktion. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schulsozialarbeit ist eine wichtige, eine verantwortungsvolle Aufgabe. ({0}) Ich bin, ehrlich gesagt, bis gerade davon ausgegangen, dass wir uns hier alle im Hause darüber einig wären – bis ich dann der Rede von Herrn Ehrhorn zuhören durfte. Ich glaube, Sie haben nicht ansatzweise verstanden, Herr Ehrhorn – und die Kollegen von der AfD –, was Schulsozialarbeit eigentlich bedeutet. ({1}) Sie richtet sich nicht im Ansatz nur an Brennpunktschulen, sondern gehört einfach mittlerweile zu unserem Schulsystem, zumindest als Bereicherung, dazu. ({2}) Bitte informieren Sie sich darüber. Sie haben von dem, worüber Sie hier gerade gesprochen haben, augenscheinlich keine Ahnung. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinzu kommt – neben dem, was ich eingangs zu der besonderen Aufgabe der Schulsozialarbeit gesagt habe –, dass der Sozialraum Schule ein besonderer Raum ist. Daher haben die Linken durchaus recht, wenn sie in ihrem Antrag schreiben, dass die Schulsozialarbeit insgesamt gestärkt werden muss; denn Schulsozialarbeit leistet Wertvolles im Miteinander für Lehrkräfte, für Eltern wie auch für die Schüler. Viele Bundesländer haben sich hier auf den Weg gemacht und auch schon einiges erreicht. Als besonders positives Beispiel kann man hier die Arbeit der liberalen Kultusministerin Yvonne Gebauer aus Nordrhein-Westfalen nennen, die erst kürzlich die Finanzierung der Schulsozialarbeit bis 2022 sichergestellt hat. Für uns als Freie Demokraten ist die Schulsozialarbeit nämlich eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Bildungsteilhabe für alle Kinder. ({4}) Deswegen sage ich ganz klar: Schulsozialarbeit ist wichtig, und wir müssen hier weiter investieren. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Problem an dem vorliegenden Antrag ist jedoch, dass Sie einfach eine Beteiligung des Bundes fordern, ohne ein tragfähiges Konzept mitzuliefern. Deshalb kann man diesem Antrag – zumindest in der jetzigen Form – trotz seiner grundsätzlich richtigen Zielsetzung nicht zustimmen. Sie machen es sich nämlich deutlich zu einfach, wenn Sie schreiben, der Bund soll sich „angemessen“ an der Finanzierung beteiligen. Da stelle ich mir die Frage: Was bedeutet denn eigentlich „angemessen“? Diese Formulierung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ist mehr als schwammig und deshalb auch kein Konzept, auf das sich die Beteiligten vor Ort verlassen könnten. Genau das aber wäre wichtig: sich auf Rahmenbedingungen verlassen zu können. Sie schreiben weiter, Schulsozialarbeit dürfe nicht zulasten der Jugendhilfe gehen. Auch da kann ich Ihnen nur beipflichten. Aber Ihr Antrag könnte genau dazu führen. Gucken wir uns doch mal an, woran es in der Jugendhilfe heute schon häufig mangelt: Es mangelt an Personal, es mangelt an Ausstattung, und es mangelt an einer verlässlichen Finanzierung. Vor diesem Hintergrund kann Ihre plakative Forderung, einfach eine rechtliche Verpflichtung in das Sozialgesetzbuch zu schreiben, ohne ein konkretes Konzept vorzulegen, selbstverständlich dazu führen, dass bereits für die Jugendhilfe eingeplante Mittel hin zur Schulsozialarbeit umgeleitet werden und dann eben doch in der Jugendhilfe fehlen. Genau deshalb müssen Bund, Länder und Kommunen ein gemeinsames und nachhaltiges Konzept entwickeln, ein Konzept, das die Anstrengungen der Länder und der Kommunen unterstützt und das sicherstellt, dass die Finanzierung kein destruktiver Taschenspielertrick zulasten der Jugendhilfe wird. ({5}) Ich kann Ihrem Antrag von der Zielsetzung her einiges abgewinnen. Denn klar ist – das wiederhole ich noch mal –: Wir brauchen mehr Schulsozialarbeit, und wir brauchen vor allem verlässliche Strukturen in der Schulsozialarbeit. Um dies aber zu erreichen – auf Basis des vorliegenden Antrags –, liegt noch eine Menge Arbeit in den Ausschüssen vor uns. Wir als Freie Demokraten wollen uns da konstruktiv mit einbringen, um zu einer guten Lösung zu kommen. Denn das Thema ist insgesamt zu wichtig, als dass man es bei einem solchen Feigenblattantrag belassen dürfte. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erhält die Kollegin Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor diesem Mandat war ich Lehrerin an einer beruflichen Schule. Als wir vor 16 Jahren einen Antrag auf Schulsozialarbeit gestellt haben, stießen wir auf erbitterten Widerstand der Schulleitung. Warum? Dafür gab es im Wesentlichen zwei Gründe: Die Schulsozialarbeit musste vollständig vom Schulträger finanziert werden; das ging natürlich zulasten des Schuletats. Der zweite Grund – viel wesentlicher – war: Schulsozialarbeit galt als Malus für eine Schule; denn sie war damals tatsächlich auf sogenannte Brennpunktschulen konzentriert. Eine Schule, die Sozialarbeit nötig hatte, galt als Schule mit sozialen Problemen. Das würde, so die Befürchtung der Schulleitung, Schülerinnen und Schüler und Eltern abschrecken. Die Realität hat diese Ansicht längst überholt – auch wenn das auf der rechten Seite nicht wahrgenommen wird –: Inzwischen gilt es als Malus für eine Schule, wenn sie keine Schulsozialarbeit bieten kann. ({0}) Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte erfahren, dass Schulsozialarbeit entlastet und das Schulleben erleichtert und bereichert. Denn Schule hat einen Bildungs- und einen Erziehungsauftrag. Dem gerecht zu werden, wird unter den Umständen der Globalisierung und Digitalisierung nicht leichter – nicht für Eltern und nicht für Lehrkräfte. Deswegen sind Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, die sich um die persönlichen Rahmenbedingungen Einzelner oder auch von Gruppen kümmern können, ein Segen für alle am Schulleben Beteiligten. ({1}) Die menschenfeindliche Interpretation von Sozialarbeit durch die nationalistischen Rechten gerade eben tut dem keinen Abbruch. Umso kritischer ist zu bewerten, dass die Schulsozialarbeit im Wesentlichen immer noch von den Kommunen finanziert werden muss. Damit wird die Unwucht in den Bildungs- und Lebenschancen verschärft. Warum? Kommunen mit stabilen Finanzen können sich Schulsozialarbeit leisten. Aber Kommunen, die oft deswegen arm sind, weil die Einkommen ihrer Bürgerinnen und Bürger niedrig sind und finanzstarke Unternehmen fehlen, können sich gerade dort, wo Kinder aus prekären Verhältnissen kommen, Schulsozialarbeit eben nicht leisten. Die Auswirkungen davon sind fatal. ({2}) Die Hürde, Schulsozialarbeit zu realisieren, ist auch deswegen so hoch, weil jedes Bundesland die Finanzierung unterschiedlich regelt und diese sich ständig ändern kann. In der Vergangenheit haben sich etliche Länder oft befristet engagiert und sich dann wieder zurückgezogen. Das ging zulasten der Kommunen, die mit dieser Aufgabe dann wieder alleingelassen wurden. Es gibt wenige Ausnahmen. An meiner Schule hat sich das Finanzierungsmodell seit Schaffung der Stellen dreimal geändert. Inzwischen beteiligt sich das Land Baden-Württemberg dauerhaft und verlässlich zu einem Drittel an der Finanzierung. Nichtsdestotrotz fällt es den Kommunen schwer, den Bedarf zu finanzieren. Aber seit das Land verlässlich eingestiegen ist, gibt es Schulsozialarbeit dort nicht mehr nur an Brennpunktschulen, sondern in der Breite der Schullandschaft. Das ist gut und richtig so. ({3}) Chancengerechte Bildung für alle, das muss die Prämisse unseres Handelns sein, und das ist ohne eine engere Verzahnung von Schule und Jugendhilfe kaum mehr zu erreichen. An dieser Stelle hat der Bund eine Verantwortung, und er hat in bildungspolitischen Fragen – ganz wichtig – auch beim gegebenen Rechtsrahmen eine Handlungsoption. Kollege Beermann, auch wenn Sie eine Nebelkerze nach der anderen werfen: Das kann man so formulieren, dass die Entscheidung bei den Kommunen bleibt und der Bund trotzdem finanziell einsteigt. ({4}) Lassen Sie uns eine verpflichtende Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Schule im Sozialgesetzbuch verankern.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir unterstützen den Antrag aus diesem Grund und appellieren: Lassen Sie uns im Ausschuss zusammenarbeiten; dann kriegen wir mit Sicherheit den Rahmen hin. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Der Kollege Michael Kießling, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Petra Nicolaisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute bei diesem für Bund und Länder so wichtigen Thema leider zu so später Stunde den Entwurf des Zensusgesetzes 2021. Lassen Sie mich kurz einige Worte zum Hintergrund sagen. Deutschland ist nach der letzten Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten in unserem Land im Rahmen des Zensus 2011 unionsrechtlich erneut im Jahr 2021 zur Durchführung eines Zensus verpflichtet. Dabei wird der Zensus – wie erstmals bereits beim Verfahren zur Erhebung der Daten beim letzten Zensus – registergestützt und damit im Vergleich zu der vorherigen Methode deutlich kostengünstiger erfolgen und für die Bevölkerung eine geringere Belastung darstellen. Die im Rahmen eines Zensus ermittelte amtliche Einwohnerzahl Deutschlands ist von großer Bedeutung für Politik, Verwaltung und Wirtschaft. So ist der Zensus zentraler Bestandteil der amtlichen Statistik und damit eine notwendige Voraussetzung für die Erfüllung staatlicher Aufgaben. Neben den Einwohnerzahlen werden im Zensus weitere wichtige Daten abgefragt, wie zum Beispiel Daten zur Erwerbstätigkeit oder zur Wohnsituation. Auch diese Daten sind von großer Bedeutung und dienen dazu, dass Entscheidungen des Bundes, der Länder sowie der Kommunen auf fundierten Daten basieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Dieser knüpft an das Ende letzten Jahres verabschiedete Zensusvorbereitungsgesetz 2021 an und trägt den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Zensus 2011 Rechnung. Im Einzelnen umfasst der Gesetzentwurf vier Erhebungsteile: Vorgesehen sind eine Bevölkerungszählung im Wege von Melderegisterabfragen und ergänzenden Stichprobenbefragungen, eine Gebäude- und Wohnungszählung durch Befragung der Eigentümer und Verwalter, eine Haushaltsbefragung auf Stichprobenbasis zur Gewinnung von Daten außerhalb von Registern sowie Erhebungen an Anschriften mit Sonderbereichen wie insbesondere Gemeinschaftsunterkünfte und Wohnheime. Als zuständige Berichterstatterin der Union hatte ich am 6. sowie am 8. Mai dieses Jahres im Rahmen einer öffentlichen Anhörung sowie eines Berichterstattergespräches die Gelegenheit, neben Informationen zur praktischen Durchführung des Zensus 2021 Antworten auf offene Fragen zu erhalten. Grundsätzliche Einwände gegen den vorliegenden Gesetzentwurf sind nicht erhoben worden. Vielmehr standen im Mittelpunkt beider Termine Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit, die uns schon in den Beratungen zum Gesetzentwurf zur Änderung des Zensusvorbereitungsgesetzes 2021 über die Fraktionsgrenzen hinweg beschäftigt haben. Dem Thema Datenschutz wurde bei der Ausgestaltung des Gesetzentwurfs besondere Bedeutung geschenkt. Er sieht datenschutzrechtliche Bestimmungen vor, die den Anforderungen des Grundgesetzes sowie der europäischen Datenschutz-Grundverordnung genügen. Darüber hinaus werden die europäischen Vorgaben hinsichtlich der Erhebungsmerkmale – mit dem Ziel, die Belastung der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen möglichst gering zu halten – grundsätzlich eins zu eins umgesetzt. Eine Ergänzung ist in unserem Änderungsantrag allerdings im Rahmen der Gebäude- und Wohnungszählung konkret um die Merkmale Energieträger, Leerstandsgründe, Leerstandsdauer und Nettokaltmiete vorgesehen. Zudem soll eine Ergänzung im Rahmen der Stichprobenregelung hinsichtlich länderspezifischer Gemeindezusammenschlüsse erfolgen. Längerfristig könnte meiner Ansicht nach zudem über die Aufnahme weiterer Erhebungsmerkmale zumindest im politischen Diskurs nachgedacht werden, beispielsweise Daten zur Fertilität – das heißt konkret die Aufnahme von Fragen zur Kinderzahl – sowie gegebenenfalls zum Geburtsjahr zumindest des ersten Kindes in der Haushaltsstichprobe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich gern noch einmal die Wichtigkeit des Zensus 2021 für unser Land unterstreichen. Gerade deshalb hoffe ich sehr, dass einer termingerechten Durchführung des Zensus nicht die noch ausstehende Einigung hinsichtlich der Frage nach einer vom Bundesrat geforderten hälftigen Beteiligung des Bundes an den Kosten der Länder bei der Durchführung des Zensus 2021 entgegensteht, ({0}) sondern dieses alles zeitnah zustande kommt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit zu später Stunde. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, liebe Kollegin Petra Nicolaisen. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Der Datenschutz hat in Deutschland eine besondere Stellung, die nicht zuletzt durch die Erfahrung mit zwei Diktaturen und Überwachungsstaaten, die Generationen von Deutschen erleiden mussten, begründet ist. Das hat uns vorsichtig gemacht, vielleicht sogar etwas übervorsichtig. Aber im Zweifel sollten wir den Staat lieber weniger über uns wissen lassen als mehr. Wenn aus den Reihen einer Regierungspartei, der SPD, und mancher Oppositionspartei offene Unterstützung für sozialistische Enteignungsfantasien im Wohnraum und, auch bei der CDU, die vollständige Kontrolle über die Mobilität des freien Bürgers im Namen der Umwelt kommen, sollten wahrhaft demokratische, freiheitliche Kräfte aufhorchen. Das Volk sollte sich in dieser Hinsicht genau überlegen, welche Regierungsparteien ab 2021 mit den detaillierten Angaben der Bürger zum Beispiel zu Wohnraum, Energie etc. Politik machen. Eine ungewöhnliche Zurückhaltung zeigt die Bundesregierung beim Thema Religion – die FDP jetzt auch –: Erfasst werden soll ausschließlich die Zugehörigkeit zu öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften – was der absolute Mindeststandard ist, den die EU uns hier für den Zensus vorgibt. Die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften spiegeln in ihrer jetzigen Bandbreite die Realitäten unserer Gesellschaft nicht mehr vollständig wider. Dies hat auch der Bundesrat in seiner Ausschuss­empfehlung Ende März so gesehen. Deswegen verlangt der Bundesrat, absolut nachvollziehbar, dass im Rahmen der Haushaltsbefragungen nicht nur die Mitgliedschaft zu den öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften, sondern auch das „Bekenntnis zu einer Religion, Glaubensrichtung oder Weltanschauung“ erfasst wird, was ja ausdrücklich auch für Erkenntnisse vorgesehen ist, die sich nicht aus den Registerdaten ergeben. Hiervon versprechen sich die Länder einen, ich zitiere, „herausragenden Mehrwert für integrationspolitische Fragestellungen“, eine völlig richtige Aussage, die es leider nicht in den endgültigen Beschluss geschafft hat – wieder mal ein kleiner Sieg der politischen Korrektheit über Sinn und Verstand. ({0}) Hier hätte die Bundesregierung viel für die Integration in Deutschland leisten können. Positiv zu sehen ist im Zusammenhang mit der Integration natürlich die Erfassung eben nicht nur der Staatsangehörigkeit, sondern auch des Geburtsortes und gegebenenfalls des Datums des Zuzugs in die Bundesrepublik Deutschland. Hier ist einer Forderung, die auch die AfD beim Zensusvorbereitungsgesetz schon so gestellt hat, entsprochen worden. Es freut mich, dass Sie auch mal auf uns hören. Weiter so! ({1}) Auch in diesem Fall erlauben die erhobenen Daten zuverlässigere Voraussagen über den Fortschritt der Integration von Migranten und die Notwendigkeit besonderer Fördermaßnahmen, zum Beispiel sprachlicher Natur, in Schulen. Das Zensusgesetz könnte besser sein, so viel ist klar.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Klar ist aber auch, dass der Zensus notwendig ist und wir Politik auf der Basis von gesicherten Erkenntnissen in dieser politisch und gesellschaftlich chaotischen Zeit dringend benötigen. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Vielen Dank. Glück auf! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Als Nächster redet zu uns der Kollege Manuel Höferlin, FDP-Fraktion. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens alle zehn Jahre steht der Zensus vor der Tür. Das weiß eigentlich auch das Innenministerium. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass man mit dem zeitlichen Vorlauf da nicht ganz klarkommt. Dort wurden bereits die Vorbereitungen für das 30-jährige Jubiläum der deutschen Einheit vergessen und die Haushaltsmittel dafür nicht eingestellt. ({0}) Damit Sie die Vorbereitungen für den Zensus 2031 da nicht verschlafen, haben wir Ihnen in unserem Entschließungsantrag, den wir heute auch debattieren, eine Gedächtnisstütze mit den auf Weg gegeben; dazu komme ich gleich noch. Aber zuerst zu Ihrem Gesetzentwurf. Der Zensus ist europarechtlich verpflichtend. Seine Ergebnisse sind von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Deshalb danke ich Ihnen, Herr Staatssekretär Krings, ({1}) für das Berichterstattergespräch, das Sie auch mit der Opposition geführt haben. Leider haben unsere Vorschläge und unsere drei Änderungsanträge es nicht in den Gesetzentwurf geschafft. Aber wir nehmen das sportlich. Viel erschreckender finde ich allerdings, dass Sie auch die Anmerkungen des Bundesdatenschutzbeauftragten hinsichtlich einiger Datenschutzfragen missachtet haben. Dabei ist Datenschutz doch in Ihrem Haus verortet – wird aber dort offensichtlich nicht richtig ernst genommen. Wir haben drei Änderungsanträge gestellt. Erstens, die Streichung des Merkmals der Religionszugehörigkeit: Eine Abfrage dieses Merkmals im Rahmen des Zensus halten wir für nicht notwendig. Zweitens, die Konkretisierung des Begriffs der Verwalter; da geht es um eine Rechtsunklarheit bei der Wohnungszählung. Und drittens – das finde ich viel relevanter –, ein Bekenntnis zur gemeinsamen datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit von Bund und Ländern und auch eine Bestimmung dessen, um klar zu sagen: Wer ist datenschutzrechtlich verantwortlich für etwas und wer nicht? ({2}) Wir hätten Ihrem Vorhaben als gesamtgesellschaftlichem Projekt gerne zugestimmt; aber so reicht es erst mal nur für eine Enthaltung. Was können Sie in Zukunft besser machen? In der öffentlichen Anhörung, in der Diskussion, in den Berichterstatterrunden hatten wir eigentlich Einigkeit, dass wir spätestens 2031 einen registerbasierten Zensus haben müssen. Das erspart nicht nur 10 Millionen Bundesbürgern die Befragung – übrigens 1 Million mehr als das letzte Mal –, sondern spart der Staatskasse auch viel Geld. In der Auftragsstudie des Normenkontrollrates wurde ausgerechnet, dass man knapp 90 Prozent der Kosten sparen könnte. Bei 1,4 Milliarden Euro, die dieser Zensus kostet, wäre das schon eine enorme Summe. Österreich hat es vorgemacht. Wir können da deutlich weiter gehen. Der Präsident des Statistischen Bundesamtes hat gesagt, man braucht acht bis zehn Jahre Vorlauf, um den nächsten Zensus zu organisieren. Wir haben Ihnen in unserem Entschließungsantrag drei Punkte in die Checkliste geschrieben: Wir brauchen ein Eckpunktegesetz, damit Meilensteine definiert werden, wie das laufen soll bis 2031. Die Bundesregierung muss außerdem den Worten in ihrem Koalitionsvertrag Taten folgen lassen und endlich die Registerlandschaft modernisieren; das ist dringend notwendig. Mit den Kosteneinsparungen könnten wir den Zensus dann kosteneffizienter durchführen. Diese „digitale Dividende“ könnten wir für Investitionen zum Beispiel in Digitalprojekte gut gebrauchen. Also lassen Sie uns heute anfangen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag, damit das mit dem Zensus 2031 auch pünktlich klappt. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Höferlin. – Der Kollege Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben, was ich deshalb erwähnen möchte, weil er sich dazu erst vor einigen Minuten entschieden hat. Der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben.  – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Durchführung des Zensus im Jahr 2021. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschluss­empfehlung auf Drucksache 19/10679, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/8693 und 19/9766 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Noch einmal: Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen will, bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD- und AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann stelle ich fest, dass der Gesetzentwurf in der dritten Lesung mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD- und AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke ohne Gegenstimmen angenommen worden ist. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/10712. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen von FDP und Linken mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und AfD abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/10713. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke bei Enthaltung der Fraktionen FDP und AfD mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD abgelehnt.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor noch nicht einmal 30 Minuten ist hier im Deutschen Bundestag die feierliche Abschlussveranstaltung des Internationalen Parlaments-Stipendiums zu Ende gegangen. Warum erzähle ich das? Ich selbst hatte auch eine sogenannte IPSlerin in meinem Büro. Als sie hier ankam, musste sie am ersten Tag eine Veranstaltungsanmeldung per Fax beantworten. Kurz darauf fragte sie: Was ist denn ein Fax? Da mussten wir ihr – sie kommt aus Estland – erklären, was faxen bedeutet. Wir sind mit ihr zum Faxgerät gegangen. Sie meinte dann: Okay, danke; ich weiß gar nicht, was das ist; mein Vater hatte mal so ein Gerät, in den 90ern. – Dieser Zustand beschreibt ziemlich gut, dass es mit der Digitalisierung in unserer öffentlichen Verwaltung noch nicht so bestellt ist, wie wir uns das vielleicht alle wünschen. ({0}) – Na ja, wir sind ja auch ein Stück weit selber verantwortlich; also sollte man vielleicht nicht applaudieren. ({1}) Was tatsächlich kritikwürdig ist in dem Moment, wo wir versuchen, genau diesen Zustand zu ändern – und das machen wir mit diesem Staatsvertrag –, ist, dass wir das zu so später Stunde diskutieren. Die erste Lesung fand um 0.30 Uhr statt. Wir sind jetzt in der zweiten Lesung, und es kann jeder selbst auf die Uhr schauen. Ich finde, das ist diesem wichtigen Thema nicht angemessen. Worum geht es? Es geht um die Föderale IT-Kooperation, kurz: FITKO; sie soll den IT-Planungsrat ablösen. Es geht um nicht weniger als darum, 575 staatliche Dienstleistungen zu digitalisieren und zukünftig online verfügbar zu machen. ({2}) Wir sind als Staat bereits auf einem guten Weg. Zum Beispiel haben wir die eID in unseren Ausweisdokumenten. Die können wir auch sehr gut benutzen: Wir können das Formular online herunterladen. Dann müssen wir es aber ausdrucken, unterschreiben und per Post zurückschicken. – Das ist nicht der Weg, wie wir uns Digitalisierung in Deutschland vorstellen. ({3}) Deswegen ist es sehr gut, dass wir jetzt mit diesem Staatsvertrag endlich dort einen Schlussstrich ziehen, und das sehr bald; denn bereits am 30. September 2019 soll dieser Vertrag ratifiziert werden. Bund und Länder stellen insgesamt 180 Millionen Euro zur Verfügung, davon der Bund 35 Prozent. Die ganze Maßnahme soll bereits 2022 abgeschlossen werden, also in nicht mal drei Jahren. Wer jetzt noch behauptet – das schicke ich schon einmal für die Nachredner voraus –, dass es mit der Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland nicht vorangeht, der hat nicht recht. ({4}) – Wir setzen das auch um, Herr Höferlin; kein Problem. ({5}) Ich will vielleicht noch einen Satz sagen. Es gibt ja auch schon Sternstunden bzw. Verwaltungen, wo es sehr gut funktioniert. Erfreulicherweise gehört meine Heimatstadt Halle an der Saale dazu. Dort hatten wir kürzlich unsere Staatsministerin Dorothee Bär zu Gast. Sie hat über die Verwaltungshotline bzw. zentrale Behördenhotline 115 geredet. Viele kennen sie noch nicht, aber sie wird zunehmend genutzt. Auch das verbirgt sich hinter der FITKO; denn diese Hotline wird zukünftig auch von der Föderalen IT-Kooperation betreut werden. Zum Schluss noch zwei Sätze. Erstens. Wir reden dieser Tage sehr viel über Klimaschutz. Die Digitalisierung der Verwaltung trägt dazu bei, Klimaschutzziele zu erreichen, vor allem auch Umweltschutzziele; denn wir sparen Unmengen an Papier. Das gehört auch mit dazu. Das ist ein weiterer Beitrag der Unionsfraktion zum Klima- und zum Umweltschutz. Zum Schluss möchte ich noch sagen: Ich danke denjenigen Verwaltungsmitarbeitern und den Mitarbeitern in den Ministerien in den 16 Bundesländern und natürlich auch in der Bundesverwaltung, die dazu beigetragen haben, diesen Staatsvertrag jetzt so weit zu bringen, dass wir ihn schnell umsetzen können. Das ist eine gute Sache für Deutschland. Ich würde mir wünschen, dass das noch stärker kommuniziert wird. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich etwas vorzeitig den neuen Tag begrüßen, den 7. Juni 2019, vor allen Dingen aber unserer Kollegin Bettina Müller, SPD-Fraktion, zu ihrem 60. Geburtstag gratulieren, der in ungefähr 30 Sekunden beginnt. Im Namen des Präsidiums und des ganzen Hauses herzliche Glückwünsche, Frau Müller! ({0}) Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Schulz, AfD-Fraktion, das Wort. ({1})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie ich schon vor vier Wochen bei der ersten Lesung zu ungefähr der gleichen Uhrzeit sagte: Die AfD stimmt dem Gesetzentwurf zu. Es bleibt aber dabei: Es ist ein Graus, was dem Parlament vorgelegt wird. In kleinteiligen Ansätzen wurschtelt die Regierung vor sich hin, mit der Folge, dass die Digitalisierung in Deutschland auf der Stelle tritt. Aber das ist nicht überall so. Am vergangenen Montag hatten wir im Rahmen der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ interessanten Besuch bei uns. Eine Vertreterin der Republik Estland, Herr Bernstiel, stellte uns das dortige Vorgehen in Sachen Digitalisierung vor und wie die Esten seit mehr als 20 Jahren daran arbeiten, ihr Land zukunftsfähig zu machen. Angestoßen durch das Tiger-Leap-Programm sind Internetlösungen mittlerweile im ganzen Land fest verankert, und, Herr Bernstiel, wahrscheinlich wurden damals auch die Faxgeräte verschrottet, die Ihre Stipendiatin gar nicht mehr kannte. Natürlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Estland, von der Einwohnerzahl zwischen dem Saarland und dem Stadtstaat Hamburg liegend, nicht mit Deutschland als Ganzem verglichen werden kann. Das Beispiel Estland taugt aber allemal dazu, zu zeigen, dass es möglich ist, bei immerhin eineinhalb Millionen Bürgern Vertrauen in IT-Lösungen aufzubauen und mit innovativen Ideen alle Lebensbereiche effizienter zu gestalten. In der Republik Estland existiert eine Willkommenskultur, meine Damen und Herren, allerdings für Gründer. Unternehmen und Bürger haben rund um die Uhr Zugriff auf automatisierte Behördendienste. Nur Immobiliengeschäfte, Eheschließungen und Scheidungen sind ausschließlich analog möglich, was durchaus auch sein Gutes haben kann. Und das Beste: Das Bildungssystem ist die Klammer über allem. Es ist durchgängig auf digitale Kompetenz ausgelegt und hat für alle Bildungsbedarfe klug eingesteuerte digitale Elemente parat. Meine Damen und Herren, die Politiker in Estland hatten schon in den 90er-Jahren Mut und haben angepackt. Sie wagten den „Tiger-Sprung“ in die Zukunft mit einer durchgehenden digitalpolitischen Agenda für alle. Hier in Deutschland ist es anders. Obwohl sich die Mehrzahl der Bürger umfassende Onlinedienste wünscht, springen hier keine Tiger, sondern watscheln lahme Enten über tiefliegende Hürden. ({0}) So auch im vorliegenden Gesetzentwurf, in dem mit zwei Artikeln eine weitere der hierzulande so beliebten Anstalten des öffentlichen Rechts gegründet werden soll. Diese soll dem IT-Planungsrat nun helfen, das zu tun, was er seit 2010 nicht geschafft hat. Aber wie dem auch sei: Vielleicht kann man von den bereitzustellenden 180 Millionen Euro ein paar Tausend für eine Bildungsreise der 44 neuen Anstaltsmitarbeiter abzweigen. Wohin könnte die Reise wohl gehen, meine Damen und Herren? Nach Estland. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Kolleginnen und Kollegen Saskia Esken, SPD-Fraktion, Manuel Höferlin, FDP-Fraktion, Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke, Dr. Konstantin von Notz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Marian Wendt, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Ersten IT-Änderungsstaatsvertrag. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10702, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/9737 und 19/10422 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD- und AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD- und AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen der FDP, von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen worden ist.

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Jahr 1989 steht für das Jahr, in dem sich das Schicksal Deutschlands und das Schicksal Chinas überkreuzt haben. Das Jahr 1989 steht für die Sehnsucht der Menschen hier wie dort nach Freiheit und Demokratie. Während sich für die Menschen in der DDR der Traum der Friedlichen Revolution erfüllt hat, wurden die friedlichen Proteste von Millionen von Chinesinnen und Chinesen um den Platz des Himmlischen Friedens und an vielen anderen Orten in China blutig niedergeschlagen. Die Panzer der Volksarmee haben nicht nur Hunderte, vermutlich Tausende Frauen und Männer unter sich begraben, sondern auch die Hoffnung auf politische Teilhabe, auf Rechtsstaatlichkeit und auf Menschenrechte. Gerade wegen unserer glücklichen Erfahrung einer Friedlichen Revolution kommt uns in Deutschland die Verantwortung und Verpflichtung zu, an die Opfer des 4. Juni in China zu erinnern, ({0}) die Verpflichtung, das Tiananmen-Massaker im Gedächtnis der Weltöffentlichkeit zu halten. Denn in China werden all diejenigen verfolgt und mundtot gemacht, die an das staatlich befehligte Morden erinnern und der Opfer gedenken wollen. Peking hat das „große Vergessen“ verordnet, die Auslöschung der Erinnerung eines ganzen Volkes. Es herrscht eine totalitäre Zensur. Bis heute gibt es keine gesellschaftliche, geschweige denn eine strafrechtliche Aufarbeitung. Weder die Täter noch deren Anstifter wurden belangt. Nicht nur wegen der Würde der Opfer ist es wichtig, an die Gräueltaten zu erinnern. Die Demonstrierenden auf dem Tiananmen kämpften für Demokratie, für Freiheit und für Menschenrechte. Wenn wir das Vergessen zulassen, verraten wir damit auch unsere eigenen grundlegenden Werte. ({1}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, gegenüber der chinesischen Führung auf eine umfassende und unabhängige Aufarbeitung zu dringen und sich für die Rehabilitierung der Opfer starkzumachen. Wir erwarten, dass Sie sich zusammen mit den Überlebenden und Zeitzeugen für den Aufbau eines global zugänglichen digitalen Archivs einsetzen, in dem die Bilder und Dokumente dieser Zeit bewahrt werden. ({2}) Im Umgang mit China werden unsere eigenen Werte auf den Prüfstand gestellt. Deswegen müssen wir ganz klar und eindeutig sein. Wir dürfen nicht schweigen, wenn Peking die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte infrage stellt, wenn in Tibet oder Xinjiang Unschuldige in Internierungslagern verschwinden oder wenn Menschenrechtsverteidiger mit drakonischen Strafen überzogen werden. Deswegen darf es nicht unwidersprochen bleiben, dass der chinesische Verteidigungsminister letzte Woche das Blutbad des 4. Juni 1989 als notwendige und richtige Maßnahme verteidigt hat, um Stabilität herzustellen. Angesichts dieser menschenverachtenden Äußerung hätte ich mir eine deutliche Stellungnahme der Bundesregierung erwartet. ({3}) Deswegen darf es nicht sein, dass VW-Chef Herbert Dies allen Ernstes und wider besseres Wissen öffentlich behauptet, er wisse nichts von den Lagern in Xinjiang – genau dort, wo VW seine Autos herstellt. ({4}) Wer sich so zum Komplizen eines totalitären Regimes macht, verrät damit die mutigen Menschen, die sich in friedlichen Demonstrationen in China und auch bei uns genau dafür eingesetzt haben. ({5}) 30 Jahre nach Tiananmen darf die Geschichte nicht ausgelöscht werden. Die Würde der Opfer und die Hoffnung der Überlebenden darf nicht ein weiteres Mal zerstört werden. 30 Jahre nach Tiananmen fordert China uns nicht nur wirtschaftlich und technologisch heraus, sondern auch in unserem Selbstverständnis als freiheitliche Demokratie. Wenn wir unsere Werte nicht ernst nehmen, wird China uns nicht ernst nehmen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes hat der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 30 Jahren, am 4. Juni 1989, wurden die friedlichen Proteste rund um den Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig niedergeschlagen. Über mehrere Wochen haben Hunderttausende Menschen in vielen Städten Chinas demonstriert: für Demokratie, für Freiheit, gegen Korruption. Vor allem die Bilder am Platz des Himmlischen Friedens in Peking haben sich tief ins Gedächtnis eingebrannt. Eine echte Erinnerungskultur über die Gewalt des Militärs gegen die friedlichen Demonstranten vor 30 Jahren ist in China bis heute leider nicht möglich. Alle Informationen dazu sind gelöscht, übrigens auch im Netz. Die sogenannten Mütter vom Tiananmen, die öffentlich an ihre Söhne und Töchter erinnern wollen, die beim Massaker getötet wurden, werden bis heute daran gehindert, zensiert und unter Hausarrest gestellt. Auch die wahre Zahl der getöteten Demonstrantinnen und Demonstranten ist bis heute unbekannt. Schätzungen zufolge wurden Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Menschen getötet. Diese Opfer werden zudem vielfach als Konterrevolutionäre bezeichnet und diffamiert. Schon vor 1989 gab es in China massive Menschenrechtsverletzungen gegen die eigene Bevölkerung. Man denke nur an die Millionen von Todesopfern und der politischen Gefangenen der chinesischen Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976. Auch heute – die Kollegin Bause hat darauf hingewiesen – leidet die Bevölkerung Chinas an einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen. Man denke nur an das Leid der Tibeter oder aktuell auch der Uiguren. Wir konnten ja hier im Hause schon darüber sprechen. Aber auch die Christen werden unterdrückt und an der freien Religionsausübung, einem Kernelement der Menschenrechte, gehindert. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Chinas sind die Christen zwar eine kleine Minderheit, aber man darf sich nicht täuschen lassen: Es leben laut Schätzungen von Open Doors 97 Millionen Christen in China. Als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion und als Christen fühlen wir uns natürlich den Christen ganz besonders verbunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die Opfer nicht in Vergessenheit geraten lassen. Das ist unsere Verpflichtung, auch aus unserer christlichen Verantwortung heraus. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, fühlen uns den Opfern verbunden, denen die grundlegenden Menschenrechte verwehrt werden und die durch menschenrechtswidriges Handeln zu Tode kommen. Deshalb werden wir auch in Zukunft Menschenrechtsverletzungen beim Namen nennen, egal wo auf der Welt sie geschehen. Auch wenn versucht wird, die Erinnerung in China zu löschen: Ein kollektives Vergessen wird es nicht geben. Ich darf Michael Brand zitieren: Das System ist auf Lüge gebaut. Aber es wird der Zeitpunkt kommen, wo das Kartenhaus zusammenfällt. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Als nächster Redner erhält der Kollege Jürgen Braun, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ein Mann, unbewaffnet, steht vor einer langen Reihe von Panzern. Dieser Mann stellt sich den Panzern in den Weg. Es ist der 4. Juni 1989 – vor 30 Jahren und 3 Tagen – in Peking. Am 17. Juni 1953 gab es ganz ähnliche Bilder – Ost-Berlin, Stalinallee, Alexanderplatz und in der ganzen DDR –: sowjetische Panzer, junge Deutsche. Sie wollten genau dasselbe wie die Menschen in Peking: Sie wollten dem totalitären Denken entfliehen. Sie wollten Freiheit. 1956 in Ungarn, 1968 dann der Prager Frühling, immer gab es diese Bilder: wehrlose Menschen gegen Panzer. Wieder ging es gegen den Kommunismus, gegen die Unfreiheit. Auch vor 30 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens wurde die Freiheit mit Panzern niedergewalzt. Das kommunistische Regime zeigte sein wahres Gesicht. Ein schrecklicher Höhepunkt des Versuchs der Umerziehung zum Kommunismus, zum totalitären Denken. Deng Xiaoping war vor 30 Jahren der kommunistische Despot. Er befahl, den Protesten ein gewaltsames Ende zu bereiten. Damals sagte er: Zweihundert Tote können China zwanzig Jahre Frieden bringen. Menschenverachtender Zynismus! Das ist Totalitarismus pur. 2 600 Menschen starben. Andere Schätzungen sind teilweise höher. In der BBC war sogar von Zehntausend Toten die Rede. Es ist richtig, des Aufstandes in Peking zu gedenken. Die freiheitsliebenden Chinesen verdienen unseren höchsten Respekt. Sie erkannten das totalitäre Denken. Sie wollten die Freiheit. Im Juni vor 30 Jahren existierte die DDR noch. Als in Peking die Panzer rollten, jubelte in Ost-Berlin die SED. Heute sitzt sie als Linke – mehrfach umbenannt – im Deutschen Bundestag. Das „Neue Deutschland“ kommentierte damals: Konterrevolutionärer Aufruhr in China wurde durch Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen. Zitat Ende. Das gleiche totalitäre Denken wie in Peking. Der 4. Juni 1989 ist für China heute das, was der 17. Juni für die Herrschenden der SED war. Oktober 1989, nur vier Monate später: Die Menschen in Leipzig, Plauen und anderen Städten hatten das Fanal von Peking vor Augen, als sie gegen das kommunistische Unrechtsregime der SED demonstrierten. Sie fürchteten sich. Das Wort von der chinesischen Lösung machte die Runde, und die Gefahr war groß. In Leipzig hätten Panzer rollen können. Doch die Menschen demonstrierten trotzdem. Sie hatten das totalitäre Denken der SED gründlich satt. Auch im Westen Deutschlands gab es viele, die, wie die SED, eine klammheimliche Freude empfanden, als sie die Bilder aus Peking sahen. Sie träumten von einem maoistischen System, das hierzulande viele Freunde hatte, Freunde vor allem bei den Grünen. Jürgen Reents, Rainer Trampert, Thomas Ebermann und Jürgen Trittin kamen aus dem maoistischen KB, Reinhard Bütikofer und Winfried Kretschmann aus dem KBW. Sie alle wollten die maoistische Umerziehung auch für Deutschland. Sie pflegten das totalitäre Denken. ({0}) Von einer grünen Partei mit maoistischen Wurzeln kommt heute der Antrag zum Gedenken an die Opfer des Totalitarismus in China. Maoistischer Totalitarismus. Liebe Grüninnen und Grüne, merken Sie eigentlich nie, wie unglaubwürdig Sie sind? ({1}) Arbeiten Sie endlich mal öffentlich Ihre verlogene, totalitäre Parteigeschichte auf. ({2}) Eine sogenannte grüne Partei als Resozialisierungsbude für Kommunisten, andere Spinner und Freunde des Terrorismus. ({3}) Dabei enthält dieser Antrag durchaus gute Gedanken. Das Gedenken an sich ist wichtig. Die AfD begrüßt, dass dieses Thema heute debattiert wird. Aber mit Freiheit haben es die Grünen nun mal nicht: Kein Wort zu Tibet, kein Wort zur Christenverfolgung. ({4}) Die Menschen in China sehnten sich vor 30 Jahren nach echter Freiheit. Bis heute haben sie sie nicht bekommen. Was die Grünen dagegen damals wollten und heute immer noch wollen, ist Enteignung und Ökogängelei. Die Grünen, ja, sie müssen endlich die Mao-Bibel auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Braun. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern Morgen haben wir 30 Jahre Friedliche Revolution in Deutschland gefeiert. Das Jahr 1989 war für Deutschland und auch für mich persönlich ein besonderes Jahr. Ich durfte miterleben, wie friedlicher Protest Unrecht beendet hat, wie friedlicher Protest eine Diktatur beendete, die ihre Bürgerinnen und Bürger überwachte, Nachbarn und Mitarbeiter – wie im Betrieb meines Großonkels – zu Spitzeln und zu Denunzianten machte. Ich erlebte mit, wie auf der anderen Seite der Mauer mutige Bürgerinnen und Bürger für ihre Freiheit demonstrierten, trotz Androhung von Gewalt, Verhaftung und Einschüchterung. Das Jahr 1989 – es wurde bereits gesagt – war für Deutschland ein bedeutendes Jahr, das die Wiedervereinigung und mit ihr Freiheit und Demokratie für ganz Deutschland brachte. Auch in China demonstrierten die Menschen für Freiheit und für Demokratie, gegen Korruption und dafür, dass der wirtschaftlichen Modernisierung auch eine gesellschaftliche Öffnung folgen möge. Während am Ende in Deutschland die Waffen schwiegen, die Staatsmacht vor den demonstrierenden Massen zurückschreckte und die Grenzen friedlich öffnete, wurde den Protestierenden in Peking und an anderen Orten mit Waffengewalt entgegengetreten. Unterschiedliche Quellen sprechen von Hunderten bis Tausenden Toten. Bis heute erfahren ihre Familien und Freunde Repression und Gewalt, wenn sie an das Unrecht vom 4. Juni erinnern wollen. Mit aller Macht von Zensur und Repression wird eine Aufarbeitung, ja überhaupt die Kenntnis über die historischen Ereignisse unterdrückt. Und dieser Umgang mit der eigenen Geschichte macht an den Grenzen Chinas nicht halt, sondern reicht bis in meinen Wahlkreis. Viele haben die Berichte über den Werbefilm des Kameraunternehmens Leica mitbekommen, der in einem seiner Handlungsstränge einen Fotografen während der Proteste in Peking zeigt und der am Ende die berühmte Szene festhält, in der sich ein Chinese den vier Panzern auf der Straße entgegenstellt. Dieser Film wurde von allen chinesischen Portalen gelöscht, alle Verweise und Berichte darüber ebenfalls. Der ganze Vorgang wirft weitere Fragen auf; denn mittlerweile hat Leica sich von dem Werbefilm distanziert. Repression und Zensur wirken bis in die deutsche Unternehmenspolitik hinein, und wir müssen mit der deutschen Wirtschaft darüber reden, wie wir dieser Entwicklung gemeinsam begegnen. ({0}) Umso wichtiger ist es, dass wir das historische Ereignis der Niederschlagung der Proteste am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Erinnerung halten. An historischen Weggabeln kann man sich für die eine oder die andere Richtung entscheiden. Die Menschen in der DDR haben sich für den Weg in die Demokratie und gegen eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste entschieden. China hat den anderen Weg gewählt: Der wirtschaftlichen Öffnung ist keine gesellschaftliche Öffnung gefolgt. Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit – alle diese Rechte haben die Chinesinnen und Chinesen nicht erstreiten können. Trotz aller Unterschiede, unser Verhältnis zur China ist gut und eng. Mit keinem anderen Land außerhalb Europas haben wir so enge wirtschaftliche Beziehungen, und mit keinem anderen Land außerhalb Europas haben wir einen engeren politischen Austausch. Neuer Wohlstand, Aufstiegschancen und große wirtschaftliche Dynamik in China haben auch dazu beigetragen, die Bewegung von damals vergessen zu machen. Demokratie und die Freiheit jedes und jeder Einzelnen, die Gleichheit aller Menschen, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind auch in Europa und erst recht in Deutschland nicht vom Himmel gefallen, sondern mussten hart erkämpft und müssen ständig wieder erstritten werden. Deswegen ist und bleibt es unsere Aufgabe, für den Schutz der universellen Menschenrechte und der grundlegenden Freiheiten aller Bürgerinnen und Bürger zu streiten, und dazu gehört natürlich auch, dass wir uns gegenüber der chinesischen Regierung für die Freilassung derjenigen, die friedlich für Menschenrechte und Demokratie streiten, einsetzen. Das verlangt die internationale Solidarität. Danke für Ihre Aufmerksamkeit zu so später Stunde. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nun hat das Wort auf besonderen Wunsch die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens sind in ihrem Ausmaß bis heute eigentlich kaum zu fassen. Junge Menschen, die für Freiheit und für Demokratie, gegen eine sozialistische Diktatur auf die Straße gingen, wurden kalkuliert zum Abschuss freigegeben. Die politische Ohnmacht der gesamten internationalen Gemeinschaft angesichts der Taten vom 4. Juni 1989 gegenüber friedlich demonstrierenden Studenten ging und geht bis heute über die Grenzen der Volksrepublik China hinaus. In einer Zeit des alten, bipolaren Weltbildes – Ost und West – haben viele Menschen realisieren müssen, dass Sozialismus genau das Gegenteil von Freiheit bedeutet und buchstäblich über Leichen gehen kann. Die Anzahl der Opfer – das haben wir heute schon mehrfach gehört – variiert, ist aber eigentlich noch unbekannt. Ich bin kurz vor der Wiedervereinigung auf die Welt gekommen. Doch ich habe – anders als die gleichaltrigen Chinesen, die über Tiananmen nichts gelernt haben – etwas über den Mut der Menschen, die 1989 hier in Deutschland für Freiheit und Individualität auf die Straße gegangen sind, in der Schule und in den Medien gelernt, über einen Protest, der letztlich die deutsche Wiedervereinigung möglich gemacht hat. Weil diese Erinnerungskultur – das sollten wir niemals vergessen, nicht in dieser Debatte und nicht in diesem Hohen Haus – für andere, zum Beispiel für die Chinesinnen und Chinesen nicht möglich ist, ist es so wichtig, dass wir hier heute, auch zu so später Stunde, darüber sprechen. Meine Damen und Herren, auch 30 Jahre nach dem Blutbad am Tiananmen-Platz zeigt China kein Interesse an einer Aufarbeitung der Ereignisse und versucht, mit staatlicher Repression Zeugen mundtot zu machen. Die Verachtung freier Meinungen durch die chinesische Führung sollte auch uns hier im Deutschen Bundestag hinlänglich bekannt sein. Dennoch – Frau Bause sprach es an – besitzen die jüngsten Äußerungen des chinesischen Verteidigungsministers – er hat das Massaker mit der Angst vor politischen Turbulenzen gerechtfertigt – eine ganz neue menschenverachtende Qualität. Diese Äußerungen machen mich fassungslos. Deshalb erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie die chinesischen Rechtfertigungsversuche aus Respekt vor den Opfern öffentlich zurückweist. Und ich erwarte, dass die Bundesregierung es als internationale Pflicht anerkennt, den Umgang mit Menschenrechten gegenüber China nicht nur zu rügen, sondern eben auch die Täter von Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen. ({0}) Meine Damen und Herren, nicht nur der Umgang mit der Erinnerung an die Ereignisse vor 30 Jahren am Platz des Himmlischen Friedens ist erschreckend. Auch 70 Jahre nach der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte scheint China das universelle Konzept der Menschenrechte nicht verstanden zu haben. China liegt – und das müssen wir immer wieder betonen – schlicht falsch, wenn es Menschenrechte relativiert. ({1}) Das Social-Ranking-System, das Sie alle hinlänglich kennen, das eine schier unendliche Datenmenge produziert, auf systematische und hocheffiziente Überwachung der Bürgerinnen und Bürger zielt und so Menschen davon abschreckt, frei ihre Meinung zu äußern und auch frei zu leben, führt das ganz eindringlich vor Augen. Es ist eines Mitglieds des UN-Sicherheitsrates schlicht unwürdig, Menschenrechtsverletzungen wie diese am Platz des Himmlischen Friedens durch Zensur von Meinungen einfach unter den Teppich zu kehren. Es ist daher umso wichtiger, dass die Bundesregierung und die Mitglieder des Bundestages China im direkten Gespräch und überall, wo das möglich ist, an seine eingegangenen Verpflichtungen erinnert. Halten wir die Erinnerung an die Ereignisse vom 4. Juni 1989 wach – aus Respekt vor den Opfern –, und schaffen wir einen Raum dafür, dass ihre Stimmen weiterhin gehört werden; denn nichts ist wichtiger, als aus der Geschichte lernen zu können. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Der Kollege Michel Brandt, Fraktion Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Es spricht als Nächster zu uns der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen, dass Sie noch zuhören. Ich habe mich entschieden, meine Rede nicht zu Protokoll zu geben. Mir ging dabei durch den Kopf, dass wir heute nebenan fröhlich feiern und dass wir relativ wenig Zeit für das Gedenken an die vielen Leiden und Massaker und Unterdrückungen und Tötungen von Menschen in der Welt aufbringen, um sie einfach in unserem Bewusstsein wachzuhalten. Allein daran, dass wir zu so später Stunde zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen, wird doch deutlich, wie groß unser Interesse ist, aber auch, wie stark unser Verdrängungsmechanismus ist, wenn es um die Not in der Welt geht. Wir im Menschenrechtsausschuss haben ständig damit zu tun. Uns überfällt vielleicht öfter als die anderen Kolleginnen und Kollegen die Ohnmacht, die wir empfinden, da wir immer und immer wieder über das – gemessen an unserem guten Leben – große Unrecht in der Welt sprechen. Wir müssen es ohnmächtig zur Kenntnis nehmen, und wissen nicht, was wir dagegen tun können. Und dann sagen wir: Ja, wir müssen es wenigstens im Bewusstsein festhalten, und wir müssen solche Anlässe nutzen, damit das in unserem Denken präsent bleibt, und zwar nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch, weil das in unserem ureigenen Interesse liegt. Die Wunde, die damals am Platz des Himmlischen Friedens entstand – überlegen Sie bitte, was das für eine Ironie ist: am Platz des Himmlischen Friedens wurden Tausende Menschen von Panzern überrollt –, diese Wunde ist lange nicht zu, und sie darf auch nicht verkrusten. Sie ist infektiös. Überlegen wir einmal, was selbst in einigen Staaten Europas hinsichtlich der Einschränkung von Menschenrechten und der Einschränkung von individueller Freiheit vor sich geht. Das ist es, was diese Regime, was vor allen Dingen dieses große asiatische Regime in China mit einer kommunistischen Ideologie und einem ganz anderen Menschenbild versuchen. Sie kriminalisieren die Freiheitsbestrebungen von Menschen. Sie kriminalisieren die Freiheitsbestrebungen von jungen Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind. Diese jungen Menschen demonstrierten in einer Zeit, in der auch ich in der DDR für die Bürgerrechte auf die Straße gegangen bin. Ich weiß noch, was wir für Angst hatten, dass die Stasi zuschlägt. Dank der Einbettung in die europäische Staatengemeinschaft, nicht zuletzt dank der Existenz der westdeutschen Schwestern und Brüder, so sage ich es jetzt mal, ist es uns gelungen, diese Gewalt zu verhindern. Wir leben in einem ganz anderen kulturellen Umfeld. Das, was ich erlebt habe, als Kind in der Schule und später im erzwungenen Studium der kommunistischen Ideologien, war Ausdruck eines ganz anderen Menschenbildes. Der Kommunismus sieht den Menschen doch nicht als Individualisten. Der Kommunismus versteht den Menschen gar nicht als Inhaber individueller Freiheiten. Wir Christen hingegen glauben sogar, dass sich die Freiheit aus unserer Gottebenbildlichkeit ergibt. Wieso sollte ein System, das die Menschen führen, leiten und ihre Lebensbedingungen verbessern will, an die individuelle Freiheit glauben, wenn diese Freiheit nur Schwierigkeiten macht? Wir erleben es ja auch hier in der Debatte: Wenn unterschiedliche Meinungen vorherrschen, dann macht das das Leben sehr viel schwieriger, dann ist es viel schwieriger, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. – Wir müssen und wir wollen diesen Diskurs aber führen, weil wir an die Freiheit des Menschen glauben. Wir glauben, dass die Welt durch die Freiheit des Menschen eine andere werden kann. Das können wir den Chinesen auch beweisen. Ich habe immer die große Sorge, dass die Innovationskraft, die Fantasie und letzten Endes auch die kulturelle und die wirtschaftliche Entwicklung auf der Strecke bleiben, wenn man die Menschen wie Ameisen oder Bienen behandelt. So war es damals: Jeder, der in der DDR eine abweichende Meinung hatte, wurde kriminalisiert. – So geschieht es in China: Man erlässt Gesetze – das wurde von den Vorrednern schon angesprochen, auch von Frau Schmidt –, um ein Verhalten, mit dem Freiheit und Menschenrechte gefördert werden sollen, zu kriminalisieren. Damit hat man alle gesetzlichen Voraussetzungen, um diesem Verhalten mit allen Machtmitteln des Staates zu begegnen. Nein, wir müssen um diese Freiheit Angst haben. Wir müssen dafür sorgen, dass sich sozusagen der Freiheitsinfekt in der Welt ausbreitet. Und wenn wir Gespräche mit den chinesischen Regierenden führen, dann dürfen wir nie vergessen, auch diese Fragen anzuschneiden; das wurde auch von meinen Vorrednern schon genannt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Ich möchte noch eines sagen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte, Sie haben die Redezeit um 30 Sekunden überschritten.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unsere Regierung kümmert sich um einzelne Personen. Es gelingt manchmal, sie freizubekommen. Aber wenn zum Beispiel unsere hochspezialisierte Nachrichtentechnik in China benutzt wird, um die Menschen noch weiter zu kontrollieren und zu unterdrücken, dann ist das ein Skandal. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Die Kollegin Aydan Özoğuz, SPD-Fraktion, und der Kollege Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.  – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10222 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Das sehe ich. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Rita Hagl-Kehl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004287

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz vom 19. Februar 2016 wurden erstmals die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass Verbraucherinnen und Verbrauchern flächendeckend, das heißt bundesweit, anerkannte Streitbeilegungsstellen zur Verfügung stehen, an die sich Verbraucherinnen und Verbraucher wenden können, um ihre Rechte aus einem Vertrag mit einem Unternehmen in einem außergerichtlichen Verfahren kostenlos geltend zu machen. Dieses Angebot wird weitgehend von branchenspezifischen Verbraucherschlichtungsstellen gedeckt, die von Wirtschaftsunternehmen getragen werden. Soweit branchenspezifische Verbraucherschlichtungsstellen fehlen, sind nach dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz sogenannte Universalschlichtungsstellen einzurichten. Nach geltendem Recht trifft die Länder die Pflicht zur Einrichtung dieser Universalschlichtungsstellen. Allerdings wurden die Länder von dieser Pflicht bis Ende 2019 befreit, indem das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die bundesweit tätige Allgemeine Verbraucher­schlichtungsstelle in Kehl gefördert hat. Für die Zeit ab dem 1. Januar 2020 stellt sich die Frage: Wer soll die ergänzende Verbraucherschlichtung in Deutschland künftig sichern? Sollen die Länder wirklich die ergänzenden Verbraucherschlichtungsstellen einrichten, und soll damit die Schlichtungsarchitektur in Deutschland durch 16 verschiedene Schlichtungsstellen charakterisiert werden? Nach der bisherigen Konzeption des Verbraucherschlichtungsgesetzes ist dies der Fall. Wir meinen jedoch, dass insoweit eine Änderung angezeigt ist, um, falls keine branchenspezifischen Verbraucherschlichtungsstellen zur Verfügung stehen, die ergänzende Verbraucherschlichtung dezentral zu regeln. Nur eine zentrale Universalschlichtungsstelle auf Bundesebene kann insoweit Rechtssicherheit schaffen. Mit dem nun vorliegenden Entwurf schaffen wir die gesetzlichen Grundlagen für die dauerhafte Errichtung einer zentralen, bundeseinheitlichen Universalschlichtungsstelle. Zu diesem Zweck soll daher die derzeit den Ländern zugewiesene Aufgabe der ergänzenden Verbraucherschlichtung zum 1. Januar 2020 auf den Bund übertragen werden. Die künftige Universalschlichtungsstelle des Bundes soll im Wesentlichen dieselben Aufgaben wie die derzeit tätige Allgemeine Verbraucherschlichtungsstelle in Kehl haben. Sie soll also vor allem auf Antrag eines Verbrauchers Verfahren zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten aus einem Verbrauchervertrag durchführen, wenn eine branchenspezifische Verbraucherschlichtungsstelle nicht zur Verfügung steht. Darüber hinaus soll sie aber auch die Befugnis erhalten, Streitigkeiten von Verbraucherinnen und Verbrauchern, zu deren Gunsten ein Musterfeststellungsurteil ergangen ist, zu schlichten. Auf diese Weise wollen wir allen Verbraucherinnen und Verbrauchern eine zentrale Anlaufstelle bieten, mit deren Hilfe sie ihre im Musterfeststellungsurteil festgestellten Rechte kostenfrei durchsetzen können, ohne gleich die Gerichte anrufen zu müssen. ({0}) Wir bekräftigen einmal mehr, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nach der Musterfeststellungsklage nicht alleine im Regen stehen gelassen werden. Damit die Anrufung der Schlichtungsstelle auch dann möglich ist, wenn, wie beim Dieselskandal, höhere Summen im Raum stehen, haben wir außerdem die zulässige Obergrenze für die Anrufung der Universalschlichtungsstelle des Bundes von 5 000 Euro auf 50 000 Euro angehoben. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie Sie wissen, lässt das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz derzeit in einem Forschungsvorhaben untersuchen, wie sich die Arbeit der Allgemeinen Verbraucherschlichtungsstelle in Kehl gestaltet. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse sollen für die geplante Universalschlichtungsstelle des Bundes nutzbar gemacht werden. Darüber hinaus planen wir, ein weiteres Forschungsvorhaben in Auftrag zu geben, um zu untersuchen, ob und in welcher Weise die Regelungen zu den Informationspflichten der Unternehmer überarbeitet werden sollten. Dies alles zeigt, welchen Stellenwert wir der außergerichtlichen Streitbeilegung beimessen. Sie ist eine wichtige zusätzliche Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung. Unser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer ständigen Verbesserung und Verfestigung der Verbraucherschlichtung in Deutschland. Für Ihre Unterstützung bedanke ich mich jetzt schon. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Lothar Maier, AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um die Spannung zu dieser nachtschlafenden Zeit nicht auf die Spitze zu treiben, sage ich gleich vorneweg: Die Fraktion der AfD wird dieser Vorlage zustimmen. Es ist keine schwergewichtige Materie, über die wir hier zu reden haben. Sie ist sogar so leichtgewichtig, dass ich mich frage, ob es wirklich eines Parlamentsbeschlusses bedarf, um diese Maßnahme durchzuführen, bei der es letzten Endes um eine Personalstelle mit ein bisschen Sachmitteln geht. ({0}) Die Maßnahme ist gleichwohl sinnvoll. Es handelt sich um die Schließung einer kleinen Lücke im System der deutschen Verbraucherberatung, des deutschen Verbraucherschutzes. Es wird eine Lücke geschlossen – Frau Hagl-Kehl hat über die anderen Eigenschaften der zu planenden Stelle schon gesprochen –, die darin besteht, dass die Weiterleitung von Missständen im Versicherungsbereich, die in der Tätigkeit der Verbraucherberatungsstellen festgestellt worden sind, an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht sichergestellt wird. Das war bisher nicht der Fall. Hier muss keine neue Institution mit viel Aufwand aufgebaut werden. Vielmehr ist diese neue Institution bereits vorhanden, nämlich in Gestalt des Zentrums für Europäischen Verbraucherschutz in Kehl. Auch hier kann ich mich dem anschließen, was Frau Hagl-Kehl schon gesagt hat. Das ist eine der bewährtesten Rechtsberatungsstellen gerade im Bereich der Lösung grenzüberschreitender Verbraucherstreitigkeiten. Ich selbst hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit, im Auftrag der EU-Kommission diese Einrichtung zu evaluieren. Ich war beeindruckt von der Leistung dieser Stelle und von der Motivation ihrer Beschäftigten. Es ist letzten Endes eine Ergänzung der Landschaft der Rechtsberatungsstellen in Deutschland. Diese besteht aus den Rechtsberatungsstellen der Verbraucherzentrale, den öffentlichen Rechtsauskunftsstellen, den Ombudsleuten der Banken und der Versicherungen sowie einigen anderen Stellen. Es ist eine sinnvolle, aber sehr kleine Maßnahme. Ich frage mich noch einmal: Müssen rein theoretisch – so viele sind jetzt nicht anwesend – 709 Abgeordnete darüber beschließen? Danke schön. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Maier, vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass bei Gesetzesvorhaben das Parlament zwingend zu beteiligen ist, weil es das einzige Organ ist, das Gesetze beschließen kann. ({0}) Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob man dazu reden muss. Jedenfalls werden Gesetze im Deutschen Bundestag beschlossen. Als nächster Redner hat der Kollege Sebastian Steineke, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Auffanguniversalschlichtungsstelle und das sogenannte Gute-Schlichtung-Gesetz. ({0}) Das haben wir 2016 in Kraft gesetzt. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, das erneut mit Leben zu erfüllen, und sehen vor, dass die Allgemeine Verbraucherschlichtungsstelle vom Bund zentral und dauerhaft getragen wird. Mit den Ländern sollen Gespräche über eine Beteiligung geführt werden. Den ersten Teil erfüllen wir mit der Vorlage. Den zweiten Teil haben wir noch nicht richtig eingehalten. Wir denken, dass es an der Zeit ist, mit den Ländern noch einmal über eine Beteiligung und vor allem auch darüber zu reden, dass sie ihre eigenen Anstrengungen nicht in gleichem Umfang, wie sich der Bund engagiert, zurückfahren dürfen. ({1}) Seit dem Inkrafttreten können wir beobachten – die Staatssekretärin hat bereits darauf hingewiesen –, dass sich die Zahl der Verbraucherschlichtungsstellen ({2}) – der Kollege Luczak hat das richtig gesagt – und die Zahl der Verfahren deutlich erhöht haben. Wir erwarten eine weitere Zunahme gerade vor dem Hintergrund der eingeführten Musterfeststellungsklage. Hier ist die Verbraucherschlichtung sicherlich der kostengünstige Weg, um Verfahren vor den ordentlichen Gerichten zu vermeiden. Im Jahr 2020 wollen wir die Aufgabe der ergänzenden Verbraucherschlichtung komplett auf den Bund übertragen. Damit erfüllen wir dann auch die europarechtliche Vorgabe, im Bundesgebiet flächendeckend die Infrastruktur von Universalschlichtungsstellen vorzuhalten. Ein weiterer Punkt, den wir regeln, betrifft das Bundesamt für Justiz; das ist schon angeklungen. Es soll nunmehr auch die Kontaktstelle für Onlinestreitbeilegungen sein und auch bei innerstaatlichen Streitigkeiten Verbraucher und Unternehmer beraten, wenn es über die europäische Plattform zur Onlinestreitbeilegung eingehegt ist. Auch das ist sinnvoll. Wir werden am 26. Juni eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema durchführen. Wir sind gespannt, welche weiteren Hinweise kommen. Wir haben schon Hinweise vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft erhalten. Auch der Bundesrat hat, wie man hört, einige Anregungen zu den Finanzen und der Musterfeststellungsklage. Der Akzeptanz des Verfahrens wird es guttun, wenn wir darüber noch einmal diskutieren. In diesem Sinne schenke ich Ihnen zweieinhalb Minuten und wünsche Ihnen einen schönen Abend. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Steineke, das ist sehr lobenswert. Die Kolleginnen und Kollegen Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion, Amira Mohamed Ali, Fraktion Die Linke, Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, sodass ich nunmehr die Aussprache schließe. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10348 an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für die wirklich sehr konzentrierte und disziplinierte Beratung der einzelnen Tagesordnungspunkte. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 7. Juni 2019, 9 Uhr, ein. Bitte pünktlich! Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 0.45 Uhr)