Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Moin, Herr Präsident! Als ich heute Morgen zum Reichstag rüberging, ragte dieser noch aus dem Nebel heraus, der Fluss war nicht zu sehen – also ein romantisches Bild, wie wir es auch von der Küste kennen. Maritime Wirtschaft ist nicht romantisch. Sie ist auch nicht Elend, nicht Not, aber sie ist eine Notwendigkeit. Warum ist sie eine Notwendigkeit? Weil wir in unserer Selbstdefinition und auch in der Realität eine Handelsnation sind. Wenn 95 Prozent des Welthandels über die Meere abgewickelt werden, dann wird man wohl Schiffe brauchen. Und wenn man hier ein großer Player sein will, dann muss man auch Schiffe bauen, bereedern und finanzieren können. Darum geht es.
Es geht nicht zum ersten Mal darum, dass wir der maritimen Wirtschaft den Rücken stärken. Für uns ist sie eine Schlüsselindustrie; das machen wir auch mit diesem Antrag wieder deutlich. Sie ist auch einer der Bausteine für unser Konzept, dieses Land nachhaltiger zu machen, gerade was die Handelswege angeht. Hier müssen wir überlegen, wie wir aus einer bisher nicht nachhaltigen Welt in eine nachhaltige kommen.
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In der letzten Woche hat sich die Koalition auf 110 Punkte verständigt. Zwei davon waren überall in den Medien – das war der Koalitionsabend –; die anderen 108 Punkte finden Sie in diesem Antrag. Das ist eine ganze Menge, und es ist mehr als nur ein Arbeitsnachweis. Das Interessante ist, dass wir die Konfliktpunkte, die wir insgesamt haben und an der sich unsere Politik immer ausrichten muss, alle wiederfinden, wenn wir über die maritime Wirtschaft sprechen.
Was unsere Sicherheit und Verteidigung angeht, müssen wir zukünftig mehr Lasten übernehmen und können uns nicht mehr einfach blind darauf verlassen, dass andere das machen. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass wir weiterhin die Kompetenz haben müssen, unsere Schiffe hier selber zu konstruieren und zu bauen, damit wir unabhängig sind und auch glaubwürdig gegenüber unseren Partnern sind, unseren Beitrag leisten zu können.
Wir befinden uns im internationalen Handel in einem Wettbewerb; das ist auch völlig in Ordnung. Dass man große Banken braucht, die international arbeiten können, ist logisch, wenn man da überleben will. Aber genauso braucht man eben auch eine stabile maritime Wirtschaft. Man braucht auch Häfen, die wettbewerbsfähig sind, wo uns niemand anderes hineinregiert und wo niemand anderes entscheidet, welche Warenströme über diese Häfen abgewickelt werden.
Wir haben einen globalen Mitbewerber: die Volksrepublik China. Ich habe ja nie an 5-, 10- oder 20-Jahres-Pläne geglaubt und das auch zu Recht nicht getan; wir haben auf deutschem Boden ja bewiesen, dass das nicht funktioniert. Aber diesen neuen Staatsmonopolkapitalismus, also diese Verschmelzung der imperialen Macht mit der Wirtschaft, die wir in China erleben, nehme ich schon sehr ernst. Wenn China ankündigt, dass sie Weltmarktführer für Hightechschiffbau sein wollen, dann nehme ich das sehr ernst, und ich nehme es auch sehr ernst, wenn sie ihre Fühler ausstrecken und die Handelswege dominieren wollen. Hier müssen wir leistungsfähig sein. Hier wollen wir leistungsfähig sein, und wir haben die besten Voraussetzungen dafür.
Ein weiterer Punkt ist der Klimaschutz, der ja nicht nur freitags intensiv im Fokus der Öffentlichkeit steht. Man kann sich nicht darauf zurückziehen, dass von den Transportkilometern her Schiffe immer noch die sauberste Lösung sind; denn anders als auf dem Land kann man hier nicht zwischen Schiene und Straße wechseln. Niemand kommt auf die Idee, mit Lkws über das Meer zu fahren.
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– Alles gut. Zuhören ist mir übrigens lieber. – Auf jeden Fall ist es folgendermaßen: Wir müssen auch hier die Potenziale heben und rechtzeitig nach vorne kommen.
Wir haben in diesem Antrag auf LNG-Förderung und Power-to-X abgestellt. Da könnte man sagen: „Ja, das ist eben einer von 108 Punkten“; aber in Wirklichkeit ist es schon ein sehr zentraler Punkt. Wir müssen auch die langfristigen Klimaschutzziele bedenken. Wir streben 2050 für das Erreichen der Klimaneutralität an. Das entspricht von heute aus gerechnet einem Drittel eines Menschenlebens. Bei Schiffen sind 30 Jahre ein ganzes Schiffsleben. Das heißt, die Schiffe, die wir heute bauen, werden dann noch fahren. Das bedeutet: Wenn wir jetzt nicht durch die Tür gehen und für alternative Antriebe sorgen, dann werden wieder Schiffe fahren, die uns nicht weiterbringen.
Die Schiffsbaubranche ist agil; das ist der Vorteil gegenüber der Automobilindustrie. Sie hat schon sehr früh angefangen, sich darauf vorzubereiten, auch mit unserer Unterstützung. Ich bin sehr dankbar, dass mein Kollege Oliver Grundmann vom Arbeitskreis Küste dies immer sehr, sehr intensiv nach vorne stellt. Es geht bei LNG wirklich darum, die Tür für eine Zukunftstechnologie aufzumachen, mit der wir den Strom aus den Erneuerbaren für Power-to-X nutzen können, das heißt, in eine neue Welt mit CO 2 -neutralen Kraftstoffen einzutreten. Die sind auch deswegen eine Lösung, weil sie im vorhandenen alten System funktioniert. Wir müssen nicht warten, bis alle Schiffe auf einen wie auch immer gearteten zukünftigen Antrieb umgestellt sind, sondern wir können diese Schiffe mit Synthetic Fuels weiterfahren lassen und haben sie dann klimaneutral.
Die Dinge, die wir heute unternehmen müssen, werden sich langfristig auswirken. Natürlich stellt sich immer die Frage der Technologieoffenheit; das ist eine sehr wichtige Frage. Wir haben uns in den letzten Jahren überall informiert: Welche Möglichkeiten gibt es? Durch welche Türen kann man gehen? Sie müssen aber auch eines berücksichtigen: Wenn man nicht irgendwann durch eine Tür geht, wird man sein Leben auf dem Flur verbringen, und das wollen wir nicht.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir haben hier eine Reihe von Anträgen, die alle, abgesehen von dem der Grünen, die gleiche Zielrichtung haben, nämlich die Stärkung der deutschen maritimen Wirtschaft. Bei den Grünen hat man eher den Eindruck, als solle nach der Autobranche nun auch eine weitere wichtige Hochtechnologiesparte deindustrialisiert werden.
In Deutschland hängen an der maritimen Wirtschaft circa 400 000 Arbeitsplätze. Das ist eine Schlüsselbranche für unsere Exportnation Deutschland und ganz besonders auch für meine Heimat Mecklenburg-Vorpommern. Ein Großteil sind dabei mittelständische Unternehmen, vielfach in ländlichen Gebieten, wie zum Beispiel der Schiffspropeller-Weltmarktführer MMG aus Waren (Müritz).
Aber, meine Damen und Herren, die Zeiten ändern sich. Die Chinesen scharren mit den Hufen, und das nicht nur bei Massenware, sondern eben auch bei Hightech. Umso wichtiger ist es, dass wir in Deutschland unsere Werftstandorte stärken. Hierbei denke ich natürlich auch an die Peene-Werft in Wolgast in meinem Wahlkreis.
Unsere dezentrale Wertschöpfungskette beim Schiffbau braucht vor allem eine gute Infrastruktur. Die haben wir leider nicht mehr. Der Ausbau der Wasserwege wurde in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Die nun schon fast seit Jahrzehnten anhaltende Diskussion um die notwendige Elbvertiefung gleicht einer unendlichen Geschichte, die selbst die des Flughafens BER in den Schatten stellt. Während die Niederlande ihren Bereich der Außenems schon ausgebaggert haben, wird in Deutschland immer noch die Vereinbarkeit mit Umweltauflagen geprüft. Wir brauchen endlich deutlich schnellere Planverfahren. Und wir müssen den unsäglichen Umweltverbandsklagen endlich ein Ende bereiten.
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Meine Damen und Herren, um zukunftsfähig zu bleiben, können wir nicht nur Kreuzfahrtschiffe bauen. Laut Ihrem Bericht, dem Bericht der Bundesregierung, machen Kreuzfahrtschiffe zusammen mit Fähren und Jachten circa 97 Prozent des Schiffbaus aus. Wir müssen wieder andere Sparten erschließen, um das Risiko zu streuen. Wir müssen im Frachtschiffbau wieder konkurrenzfähig werden. Hier liegen gewaltige Potenziale. Digitalisierung und Beschleunigung der Prozesse werden auch hier zu Hightechprodukten führen. Da müssen wir dabei sein.
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Der Marineschiffbau muss intensiviert werden; denn auch hier ist der weltweite Bedarf an hochtechnischen Lösungen groß. Wenn wir aber unsere Marine mit ihren kaum fahrbereiten U-Booten ins Schaufenster stellen oder unsere Werften im Regen stehen lassen, dann kommen mir schon ernsthafte Zweifel am Engagement der Bundesregierung.
Einen weltweit einheitlichen Rechtsrahmen halte ich für eine Utopie. Das Jammern über die Subventionen in Milliardenhöhe, die China in den Schiffbau steckt, hilft nicht weiter. Wir müssen hier in Deutschland also das tun, was wir selbst regeln können, worauf wir Einfluss haben.
Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag soll ein entscheidender Wettbewerbsnachteil deutscher Häfen beseitigt werden. Die Anträge von Union und SPD sowie der FDP, die bei all ihrer Breite auch unseren konkreten Vorschlag aufgreifen, sind dem Grunde nach zustimmungsfähig. Wenn all das tatsächlich passiert, meine Damen und Herren von der Großen Koalition und der FDP, dann sind wir einige Schritte weiter. Allein, mir fehlt der Glaube daran; denn zumindest die Große Koalition hatte lange genug Zeit dazu. Der Antrag der Grünen muss natürlich abgelehnt werden.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich über die Debatte zur maritimen Wirtschaft heute zur besten Zeit im Parlament. Ich finde, diese Zeit ist angemessen. Angemessen ist diese Debatte aber auch angesichts der Bedeutung der maritimen Wirtschaft für den Wirtschaftsstandort Deutschland, besonders an der Küste – natürlich muss ich das als Kind der Küste betonen –, aber eben nicht nur an der Küste, sondern auch im Binnenland. 400 000 Arbeitsplätze hängen an der maritimen Wirtschaft. 90 Prozent unseres Warenumschlages geht über die maritime Wirtschaft. Das heißt, jeden Tag haben Sie mit maritimer Wirtschaft zu tun, benutzen Sie Produkte in Ihrem Haushalt, die über die maritime Wirtschaft transportiert worden sind. Das ist vielen so nicht bewusst.
Wir beraten diesen Antrag im Vorfeld der Maritimen Konferenz, die dieses Jahr am Bodensee stattfindet. Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, die Maritimen Konferenzen sollten dort stattfinden, wo nennenswerte Mengen an Salzwasser vorhanden sind, aber dieses Mal soll es am Bodensee sein, weil auf die besondere Bedeutung der maritimen Wirtschaft in Süddeutschland hingewiesen werden soll, und das ist gut.
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Man muss aber auch festhalten: Die maritime Wirtschaft geht von Emden aus. In Emden wurde die Idee zur Maritimen Konferenz geboren. Wenn beim nächsten Mal das Dutzend an Konferenzen voll ist, würde ich mich freuen, wenn sie wieder dorthin zurückkehrt, wo sie herkommt, nämlich nach Emden.
Wir brauchen die maritime Wirtschaft, auch wenn das dem einen oder anderen nicht bewusst ist. Deshalb sollten wir die maritime Wirtschaft auch als Schlüsselbranche bezeichnen. Sie sollte Schlüsselbranche sein in der Nationalen Industriestrategie, Herr Staatssekretär, über die wir uns in den letzten Wochen und Monaten ja tüchtig unterhalten haben. Die maritime Wirtschaft steht nämlich vor großen Herausforderungen, die wir mit diesem Antrag benennen und auch begleiten wollen. Der Schwerpunkt unseres Antrages in diesem Jahr ist die maritime Energiewende. Da stehen wir vor großen Herausforderungen, aber, wie ich meine, es bestehen auch riesengroße Chancen. Die Stärke der deutschen Werften liegt im Spezialschiffbau und auf Hightech. Jetzt haben wir die Chance, die richtigen Weichen zu stellen, um Vorreiter zu werden im Bereich Green Shipping, und dafür, dass der Spezialschiffbau in diesem Bereich einen Schwerpunkt bekommt.
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Und der Bund? Der Bund, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss mit gutem Beispiel vorangehen bei öffentlichen Beschaffungen und bei der Beschaffung von Behördenschiffen. Green Shipping werden wir zum Förderschwerpunkt machen müssen; denn der Weltmarkt dafür ist riesig. Es gibt das Pariser Klimaschutzabkommen. Viele Nationen haben sich darauf verständigt, dieses Abkommen umsetzen zu wollen. Da spielt es zukünftig also eine Rolle, wie viel CO 2 ein Schiff ausstößt, wenn es von A nach B fährt. Wir wollen Weltmarktführer werden, was diese Technik angeht.
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Wir sollten die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Wertschöpfung für Green Shipping auch in unseren deutschen Werften generiert wird, und zwar entlang der gesamten deutschen Küste von der niederländischen bis zur polnischen Grenze. Deswegen ist die Fortführung des Programms „Innovativer Schiffbau sichert wettbewerbsfähige Arbeitsplätze“ ganz besonders wichtig. Dieses Innovationsprogramm hat dazu geführt, dass der Schiffbau tatsächlich auf Spezialschiffbau umgestellt werden konnte. Darauf, dass dieses Programm weiter fortgeführt wird, müssen sich die Menschen, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Werften verlassen können.
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Und deswegen: Warum ist es richtig und wichtig, dass der Überwasserschiffbau wie der Unterwasserschiffbau endlich Schlüsseltechnologie wird? Wenn wir eine Antwort auf die Strategie „Made in China 2025“ geben wollen, muss der militärische Schiffbau Schlüsseltechnologie sein, muss der Innovationsfonds erhalten und ausgebaut werden. Bei öffentlichen Beschaffungen, bei komplexen Projekten usw. muss auf die Lebenszykluskosten geachtet werden; denn bei der Beschaffung von Schiffen ist nicht nur ein billiger Einkauf wichtig, sondern die gesamten Betriebskosten des Schiffes über den ganzen Lebenszeitraum hinweg.
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Übergeordnete Rolle in diesem Kontext spielt LNG als Schiffsantriebskraftstoff. Für dessen Nutzung müssen wir endlich Anreize durch einheitliche Rahmenbedingungen und Hafenordnungen schaffen. Wir müssen Infrastruktur dafür schaffen. Daher ist es richtig, dass in Deutschland zumindest der Bau eines LNG-Ports gefördert werden soll. Ein LNG-Port hat zwei Aufgaben: zum einen Gasimport für Deutschland, um eine Diversifizierung der Gasversorgung sicherzustellen, und zum anderen muss er auch Hub sein für die LNG-Versorgung der Schiffe in den deutschen Häfen.
Die Standortauswahl für einen solchen LNG-Port muss nach Standortfaktoren erfolgen, nicht nach politischem Gusto. Die Standortfaktoren sind seeschifftiefes Fahrwasser und nahe Verbindung zum nationalen Gastransportnetz. Schön wäre es auch, wenn durch einen solchen LNG-Port nicht der allgemeine Schiffsverkehr auf den Flüssen eingeschränkt würde.
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Wir werden, wenn wir die Ziele der Energiewende ernst nehmen, die Gasinfrastruktur auch später noch benötigen, entweder um grünes Gas aus anderen Ländern zu importieren oder, was noch viel besser ist, um es selber herzustellen, indem wir überschüssige Energie zum Beispiel aus Nord- und Ostsee nicht abregeln, sondern mit Power-to-X-Anlagen umwandeln. Da besteht eine besondere Chance an der Küste.
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Die Menschen an der Küste haben es verdient, dass wir das ernst nehmen und diese Chance wahrnehmen; denn hier kommt der Strom an, hier ist die Gasinfrastruktur vorhanden, hier sind nennenswerte Speicherkapazitäten in Kavernen vorhanden. Es wäre unsinnig, diese Infrastruktur an irgendeinem anderen Ort neu aufzubauen.
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Es gäbe noch viele Bereiche zum Green Shipping zu nennen. Ich will als letztes Beispiel den Bereich der Versorgung mit Landstrom, den wir in unseren Antrag aufgenommen haben, nennen. Dadurch, dass es künftig möglich ist, dass Schiffe in den Häfen Landstrom beziehen, insbesondere auch die in die Kritik geratenen Kreuzfahrtschiffe, werden Häfen und Städte von Emissionen entlastet. Die Nutzung von Landstrom kann sogar netzentlastende Wirkung haben, da es, wenn man zu viel Strom hat, über Zwischenpuffer und Speicher möglich ist, diesen in Norddeutschland zu behalten, statt ihn abzuregeln.
Vieles ist noch Zukunftsmusik bei der Green-Shipping-Technologie. In Ostfriesland würde man sagen: Dat sünd de Dröömers, de de Welt in Aam hollen, neet de Aartentellers. – Oder für die alpin Sozialisierten unter uns: Die Träumer halten die Welt in Atem, nicht die Erbsenzähler.
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Von den Träumereien zu den wirklich wichtigen Problemen dieser Welt. Dazu gehört die Bekämpfung des Plastikmülls in den Weltmeeren. Wir haben uns in unserem Antrag darauf verständigt, dass Deutschland dazu einen Beitrag leisten muss, entweder durch Schiffbau oder durch die Unterstützung von Schiffbau, dass das Plastikproblem in den Weltmeeren endlich angegangen werden kann.
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Ein weiter gehender Punkt, wo ich mir zugegebenermaßen ein bisschen mehr Motivation, ein bisschen mehr gemeinsamen Mut gewünscht hätte, ist der Bereich des stärkeren Ausbaus der Offshoreindustrie als zentralen Bestandteil der maritimen Wirtschaft. Wir als SPD-Fraktion sehen Nachhaltigkeit nicht nur umweltpolitisch, sondern auch sozialpolitisch. Der Erfolg der maritimen Branche basiert auf qualifizierten Arbeitskräften und auf guter Sozialpartnerschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.
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Die weiteren großen Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung der Wirtschaft ergeben, kann man nur gemeinsam mit den Gewerkschaften in guter Sozialpartnerschaft meistern. Es wird Zeit, dass wir das Maritime Bündnis wieder stärken, bei dem Gewerkschaften und Arbeitgeber an einen Tisch kommen und alle miteinander an einem Tisch gemeinsam auf Augenhöhe die notwendigen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung treffen, damit die maritime Wirtschaft auf die großen Herausforderungen, die auf sie zukommen, vorbereitet ist, damit die guten Sozialstandards, die hart erarbeitet und erkämpft werden mussten, geschützt werden können, gute Sozialstandards, die wir, wie in dem Antrag erwähnt, noch in vielen anderen Bereichen haben, zum Beispiel in der Schleppschifffahrt in Deutschland oder an der Kaikante bei den Hafenarbeiterinnen und Hafenarbeitern. Dass sie auch weiterhin gute Arbeitsplätze haben werden, dafür setzen wir uns ein.
Abschließend bedanke ich mich herzlich bei meinem Kollegen Kruse für die konstruktive Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Antrags und freue mich auf die weitere Zusammenarbeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Hagen Reinhold, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass Sie ein paar Schwierigkeiten mit der Erstellung des Antrags hatten, haben wir mitbekommen. Wie wichtig ist die maritime Wirtschaft? Über sie laufen in Deutschland 90 Prozent des Warenhandels – fast 50 Milliarden Euro an Wertschöpfung –, und sie umfasst 400 000 Arbeitsplätze; das ist erwähnt worden. Und dass Ihr 13‑seitiger Antrag zwei Tage vor der Angst bei uns auf die Tische kommt, das stört uns nicht.
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Wir sind leistungsstark in der liberalen Fraktion und arbeiten den auch gerne durch; kein Problem, alles pfiffige Köpfe bei den Liberalen.
Was mir ein Problem bereitet, ist, warum Sie diesen Antrag hier zur Sofortabstimmung bringen. Sie hätten doch die Chance gehabt, ihn durch die Ausschüsse zu jagen und von unserem viel besseren Antrag einige Punkte aufzunehmen; dann wäre er sogar zustimmungsfähig geworden.
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Was steht denn in Ihrem Antrag außer der Lobhudelei am Anfang? Da fehlen einige wichtige Sachen. Maritime Wirtschaft, das sind nicht nur Häfen, Logistik und Schiffbau, sondern das ist auch Meerestechnik. Hier ist schon von „Made in China 2025“ die Rede gewesen. Ich hasse es, wenn wir dauernd wie das Kaninchen vor der Schlange stehen und uns ducken, uns kleiner machen, als wir sind. Mit der Meerestechnik hätten wir doch endlich mal die Möglichkeit, selbst die Chance zu ergreifen und mit einer Branche mal wieder Weltmarktführer zu werden, mal mutig voranzugehen.
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Wo bleibt denn da die Antwort der Regierung? Wo bleibt sie in Ihrem Antrag? Es gibt nur zwei kleine Spiegelstriche zur Meerestechnik. Herr Saathoff, Sie haben eben selber gesagt: Da gibt es viel zu wenig. – Zu Recht haben Sie das gesagt; da hätten wir nämlich eine Chance.
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Nicht nur, dass wir jetzt Forschung vorantreiben könnten mit dem OTC in Rostock oder mit anderem. Da gäbe es mal eine Möglichkeit, dass man in Deutschland das Heft des Handelns in die Hand nimmt und sagt: Da wollen wir Weltspitze werden; da machen wir uns nicht kleiner, als wir sind.
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Das wäre die Möglichkeit gewesen, in der maritimen Wirtschaft der Zukunft voranzugehen. Aber leider, leider: bei dieser Regierung Fehlanzeige.
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Es gab mal Minister, die haben erkannt, dass es in diesem Land – auch dafür ist Meerestechnik zuständig – eine Rohstoffstrategie braucht. VW will gerade selber eine Batteriezellenproduktion aufbauen. Wir wissen, dass wir in Deutschland keine Rohstoffe haben. Da braucht es eine Rohstoffstrategie, die auf die Zukunft baut, die die Hightechsysteme in Deutschland im Blick hat. Fehlanzeige! Da wäre die Meerestechnik, wären unsere Gebiete in Übersee, die wir dafür nutzen könnten, doch genau das Richtige.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, Sie wollen einen Pilot Mining Test begleiten. Nichts davon ist zu sehen; nicht einmal eine Studie dazu haben Sie bis jetzt in Auftrag gegeben. Studien hatten wir im Wirtschaftsministerium allerdings schon genug – 2016 die letzte. In denen steht nämlich drin: Ein Pilot Mining Test ist der nächste Schritt. Nichts davon zu sehen.
Sie müssten mal erkennen – das müsste das Wirtschaftsministerium doch wohl selber wissen –: Wir haben keine Preussag AG mehr wie vor 30 Jahren, die den Hut aufsetzen kann, die vorangehen kann, die die Industrie hinter sich bündeln kann. Die Gelder will die Industrie gerne geben. Aber uns fehlt ein Rohstoffgigant, wie wir ihn früher mit der Preussag AG oder anderen hatten, der sich den Hut aufsetzt. Also müssen Sie es im Wirtschaftsministerium tun und vorangehen. Fehlanzeige! Nichts davon zu sehen, und das ärgert mich.
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Sie wollen – und das ist auch richtig so – bei der Antriebstechnologie in der Schifffahrt vorangehen. Wo bleibt denn ein umfassendes Konzept, um ein Reallabor für Power‑to‑X aufzubauen, für eine Energie, die Millionen Kunden über ihre Energiekosten, über EEG bezahlen? Wir schmeißen den Offshorestrom zurzeit weg, weil wir ihn gar nicht brauchen. Natürlich könnten wir ihn umwandeln in Power‑to‑Gas-Anlagen.
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Natürlich könnten wir in Behördenschiffe – die sind ja prädestiniert dafür – dieses Gas einführen und könnten damit an der Küste rumfahren. Das sind Reallabore, die Sie sich vorgenommen haben, von denen ich aber noch keinen Umsetzungsplan sehe.
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So ein Reallabor gäbe die Chance, für die Zukunft gewappnet zu sein und zu zeigen, dass wir in Deutschland ernsthaft vorangehen wollen, dass wir mal wieder in einem Segment Marktführer werden wollen und dass wir uns von einem Konkurrenten, egal ob er aus Asien oder Amerika kommt, nicht verschrecken lassen. Das wäre der richtige Weg. So viel Mut und Zuversicht braucht es in Deutschland.
Vielleicht noch das dazu – die Kanzlerin hat ja gerade ihre Sympathie für Europa erkannt –: Wenn Sie meinen, das in Deutschland nicht alleine zu schaffen, dann machen wir es doch auf europäischer Ebene.
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Wo, wenn nicht da? Bis jetzt waren zwölf Leute auf dem Mond und nur vier im Marianengraben. Da ist doch Ihr Mondfahrtprojekt für die Europäische Union. Und wenn die Kanzlerin jetzt ihr Herz für Europa entdeckt hat, dann lassen Sie uns das mit unseren europäischen Partnern machen. Aber das kriegen Sie ja nicht hin. Sie kriegen ja nicht mal eine abgestimmte Rüstungsexportpolitik hin, wie Sie es hier in Ihrem Antrag schreiben.
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Die Spanier liefern Kriegsschiffe, und wir machen uns schon in die Hose, wenn wir Aluboote liefern.
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Wo ist denn da eine abgestimmte europäische Rüstungspolitik? Da muss die Kanzlerin auch mal auf den Tisch hauen, wenn sie in Europa bei den Staatschefs Reden schwingt. Dann schafft man eine abgestimmte Rüstungsexportpolitik, und dann sind wir auch auf dem richtigen Weg. Das sichert maritime Wirtschaft in Deutschland.
Herr Präsident, das blinkt bei mir ganz doll. Jedes Mal habe ich den Eindruck, das läuft bei mir schneller als bei den anderen.
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich habe gerade dem Kollegen Saathoff zugehört; das hörte sich an wie eine halbe Stunde.
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Herr Kollege!
Ich hoffe, ich habe Ihnen viel auf den Weg gegeben, Sie berücksichtigen das ein bisschen und begleiten zumindest wohlwollend unseren Antrag.
Schönen Dank.
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Es blinkt immer dann, Herr Kollege, wenn die Redezeit abgelaufen ist. Das kann man auch durch noch so schnelles Reden nicht ändern.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Reinhold, Ihre Rede hat mir schon gefallen, weil sie einfach ein richtiges Plädoyer für Industriepolitik war. Offensichtlich reicht es ja nicht, wenn die Marktteilnehmer vollkommen autark agieren und nur das tun, was ihnen momentan einfällt. Das war gut an Ihrer Rede. Nur: Sie sollten vielleicht mal mit Ihrer Fraktion reden.
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Im Wirtschaftsausschuss erlebe ich, dass alles, was in Bezug auf Industriepolitik gesagt wird – auch von unserem Wirtschaftsminister,
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der leider heute bei der Debatte fehlt –, als Staatsinterventionismus, als DDR und als Weiß-der-Kuckuck-was bezeichnet wird. Kommen Sie da mal in Ihrer eigenen Gruppe zu Potte; dann können wir Ihre Rede vielleicht wirklich ernst nehmen.
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Meine Damen und Herren, es wurde alles schon gesagt: 400 000 Arbeitsplätze, 18 000 direkt in den Werften, 63 000 Menschen arbeiten bei 400 Zulieferbetrieben, übrigens 40 Prozent von diesen in Bayern und Baden-Württemberg. Also: Das ist ein Thema, was uns wirklich alle angeht, auch im Süden.
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Meine Damen und Herren, die entscheidende Frage ist tatsächlich, wie sich die Branche zukünftig im Wettbewerb behaupten kann. Mein Kollege Saathoff hat die richtigen Dinge angesprochen; das finde ich gut. Da gibt es Herausforderungen. Die Zukunft sind meines Erachtens tatsächlich Spezialschiffe und Green Shipping, umweltfreundliche Schiffsantriebe, CO 2 -freie Produktion, CO 2 -freie Produkte – damit vor allen Dingen eine Alternative zu derzeit gängigen Antrieben mit hohem Schadstoffausstoß – sowie die Umstellung auf wasserstoffbetriebene Brennstoffzellen.
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Alles gesagt, alles gut.
Die Bundesregierung muss sich international dafür einsetzen, dass strengere Umweltauflagen eben auch in der Luft, auf See und in den Häfen durchgesetzt werden, damit dann rasch ein entsprechender Markt für diesen Bereich entsteht.
Meine Damen und Herren, Wirtschaft, das sind nicht nur die Unternehmen; Wirtschaft sind eben auch die vielen Tausend Arbeitnehmer, die in diesem Bereich arbeiten. Und mit modernster Technik sind mittelalterliche Arbeitsbedingungen unvereinbar. Presseberichte über den Einsatz von sogenannten entsandten Arbeitnehmern aus Osteuropa auf deutschen Werften beschreiben unerträgliche Zustände: keine Krankenversicherung, Arbeitszeiten von bis zu 15 Stunden täglich.
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Übrigens gibt es von den jeweiligen Subunternehmern keine Dokumentation der Arbeitszeit. Die Menschen arbeiten in ständiger Angst, ihren Job zu verlieren. Solche Arbeitsbedingungen haben bei Industrie 4.0 nichts verloren und müssen verhindert werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Um es ganz konkret zu sagen: Bei der Meyer Werft in Papenburg – ich habe heute noch mal telefoniert, damit ich nichts Falsches sage – gibt es neben 3 500 Beschäftigten bis zu 5 000 Arbeitnehmer aus Osteuropa, die mehr oder weniger rechtlos in diesem Unternehmen die Schiffe zusammenklopfen. Das ist unerträglich, meine Damen und Herren!
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– Ich weiß nicht, warum Sie sich so aufregen. Gehen Sie mal dorthin. Machen Sie das mal; dann würden Sie anders reden.
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Bereits 2013 berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen bei der Meyer Werft über Sklavenarbeit in Deutschland. Offensichtlich ist das Problem überhaupt nicht behoben. Der Norddeutsche Rundfunk berichtete 2018 von menschenunwürdigen Bedingungen in derselben Werft.
Das Problem ist der Einsatz von Subunternehmen: Die sind billiger, man wird sie schneller los, und es gibt keine Tarifverträge.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb von einer Welt der Ausbeutung und des Lohndumpings – und das bei uns 2019. Meine Damen und Herren, Wirtschaft ist eben nicht nur die Werft, totes Kapital allein rentiert sich nicht. Es geht um die Menschen, die dort arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen dort anständig behandelt werden. Das, was dort stattfindet, ist eine bodenlose Sauerei.
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Auch wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, sind dafür verantwortlich, wenn wir keine Regelungen schaffen, die solche Zustände verbieten.
Ein weiteres Thema, das angesichts der Digitalisierung von Bedeutung ist, ist die Aus- und Weiterbildung. Eine Möglichkeit, diese zu fördern, wäre, Fördergelder bei den jeweiligen Unternehmen an Ausbildung und Beschäftigung zu koppeln.
Noch ein Wort zu den Häfen. Wir alle wissen um die negativen Auswirkungen des sogenannten Ausflaggens auf Arbeitssicherheit, Arbeitsbedingungen und Löhne. Offensichtlich wäre es aber in Häfen rechtlich möglich, das Ausflaggen zu verhindern. Die EU hat mit ihrer Hafenverordnung die Möglichkeit geschaffen, dass nationale Behörden die Flaggenführung für Schiffe im Hafengebiet vorschreiben können. Damit hätten wir mit dem Ausflaggen kein Problem mehr. Sieben EU-Länder wenden das nach Angaben von Verdi an. Warum tun wir das nicht, meine Damen und Herren?
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Im Antrag der Koalition wird die Bundesregierung unter Punkt 14 aufgefordert, „sich stärker gegen illegale, undokumentierte und unregulierte Fischerei … einzusetzen“. Richtig; machen wir das. Dafür müssen Sie die Möglichkeiten elektronischer Fernüberwachung auf den jeweiligen Schiffen nutzen.
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Ein zentrales Thema, das mich auch angesichts der jüngsten Umfragen dazu, was die Menschen bei der Europawahl eigentlich interessiert, wirklich sehr umtreibt, ist das Umweltthema. In Ihrem Antrag kritisieren Sie die „zunehmende Vermüllung der Meere“ und beschreiben die „besondere Verantwortung“ Deutschlands. 84 000 Tonnen Plastikmüll exportierte die Bundesrepublik allein im ersten Halbjahr 2018 nach Malaysia. Wissen wir eigentlich, was dort mit dem Müll passiert? Können wir ausschließen, dass dieser dort im Meer landet?
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Wer in dieser Gegend, zum Beispiel in Bangladesch, schon einmal war, weiß, welche Umstände dort herrschen. Dort haben wir nicht die Bedingungen einer vernünftigen umweltgerechten Entsorgung. Deswegen schicken wir den Müll ja dort hin; die Entsorgung ist dort billiger. Kann die Bundesregierung tatsächlich ausschließen, dass der Müll im Meer landet? Nein, das kann sie nicht. Wir sollten als Land der Hochtechnologie so schnell wie möglich aufhören, unseren Müll bei den Ärmsten dieser Welt abzuladen.
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Wir brauchen bei uns noch mehr Anstrengungen, um Müll zu vermeiden, damit es gar nicht erst so weit kommt, ihn verschicken zu müssen.
Ihr Antrag enthält einige gute Ansätze. Ein schlechter Ansatz ist, weiter auf Rüstung, zum Beispiel U-Boote oder Kriegsschiffe, zu setzen. Auch aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können. Ansonsten enthält er einige vernünftige Punkte.
Danke fürs Zuhören.
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Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Pünktlich zur Nationalen Maritimen Konferenz rückt diese Woche auch die maritime Wirtschaft in den Blickpunkt des Deutschen Bundestages. Das würde ich mir natürlich häufiger wünschen als einmal im Jahr, aber dass das in dieser Woche passiert, war zu erwarten.
Genauso erwartbar ist der Antrag der Koalition, auch in seinem Umfang. Er ist eine Zusammenstellung bereits vorhandener Maßnahmen und an Allgemeinplätzen kaum zu überbieten. „Fortsetzen“ und „Fortführen“ – das scheinen die Lieblingswörter der GroKo zu sein. Das zeigt, dass sie keine neuen Ideen an dieser Stelle entwickelt.
Ich meine, vieles in diesem Antrag ist ja richtig. Das sind Ideen, die wir schon seit einer längeren Zeit diskutieren; aber mir fehlt Neues und die klare Linie, die klare Richtung, die zeigt, wohin es mit unserer maritimen Wirtschaft, mit unserem maritimen Standort Deutschland gehen soll. Das ist doch genau das, was die Branche jetzt braucht.
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Den Fleißwettbewerb haben Sie mit zehn Seiten allerdings gegen die FDP verloren. Dabei waren Sie – Herr Kruse und Herr Saathoff, Sie haben es selbst gesagt – doch zu zweit. Wie konnte das denn passieren? Mehr Ideen bei der FDP?
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Ich kann Sie aber beruhigen: Bekanntermaßen gibt es zwischen Quantität und Qualität keine Korrelation.
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Wir haben uns mit Klimaschutz und Luftreinhaltung klare Schwerpunkte gesetzt. Da muss man ehrlich sein und sagen: Das kam im Bereich Schifffahrt in den letzten Jahrzehnten deutlich zu kurz. Es wurde schon mehrfach gesagt: 90 Prozent der weltweiten transkontinentalen Transporte finden im Seeverkehr statt. Die Schiffe stoßen dabei jährlich 940 Millionen Tonnen CO 2 aus. Das sind 2,5 Prozent des jährlichen Treibhausgasausstoßes. Das ist ungefähr so viel, wie in der gesamten Bundesrepublik Deutschland ausgestoßen wird. Wenn hier nichts unternommen wird, dann wird dieser Anteil nicht kleiner, sondern sich bis 2050 verdreifachen. Das kann vor dem Hintergrund der Klimakrise und vor dem Hintergrund der Anforderungen, die wir auch an andere Branchen stellen, doch niemand wirklich ernsthaft wollen.
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Das löbliche Ziel der IMO, die CO 2 -Emissionen bis 2050 zu halbieren, muss auch hier endlich in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass für die Erreichung der Pariser Klimaziele eigentlich mindestens 70 Prozent nötig wären. Trotzdem ist das Bekenntnis dieser Seeschifffahrtsorganisation ein Meilenstein; denn in den vergangenen Jahrzehnten stand die IMO weiß Gott nicht dafür, ambitionierte Ziele zu verabschieden. Hier scheint sich das Blatt zu wenden. Genau diesen Impuls müssen wir doch jetzt aufgreifen. Wir müssen die Dinge nach vorne treiben und aktiver werden. Was wir hören, sind warme Worte; aber ich sehe die richtungsweisenden Taten nicht.
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Genau diese sind doch jetzt dringend notwendig.
Bleibt es bei dem Einsatz der jetzigen Motoren, die mit schmutzigem Schweröl oder mit immer noch schmutzigem, aber deutlich besserem Marinediesel fahren, und steigt das Transportvolumen, wie prognostiziert, dann werden sich die CO 2 -Emissionen, wie gesagt, nicht halbieren, sondern um 250 Prozent ansteigen. Es gibt bereits effizienzsteigernde Maßnahmen: Modernes Schiffdesign, Slow Steaming – das sind lobenswerte Maßnahmen. Sie werden angewandt. Sie reichen aber bei weitem nicht aus. Wir brauchen – das haben alle Vorredner gesagt –, neue Antriebstechniken und die alternativen Antriebsstoffe.
Wenn wir die Klimaziele von Paris einhalten wollen, dürfen wir eben nicht nur auf die landgebundene Mobilität schauen. Wir müssen den Seeverkehr bzw. den Schiffsverkehr und auch den Luftverkehr – das will ich an dieser Stelle klar betonen – stärker in den Blick nehmen. Hier brauchen wir mehr Forschung und vor allem mehr Innovation im Bereich „alternative Antriebe und Kraftstoffe“.
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Die Innovationsfähigkeit ist die entscheidende Frage für die Zukunftsfähigkeit des maritimen Standorts Deutschland. Ich meine, in der Branche bewegt sich aktuell etwas, auch wenn diese Bewegung – das muss man leider sagen – eher an die Bewegung eines schweren Tankers denken lässt.
Es gibt für internationale Strecken aktuell keine ausgereiften Technologien und keine ökonomisch sinnvollen Alternativen zu fossilen Antrieben. Diese brauchen wir aber dringend. Die Seeschifffahrt kann auf Langstrecken eben nicht auf vollelektrische Antriebe umsteigen. Das geht auf kurzen Strecken; da gibt es bereits gute Beispiele wie elektrisch betriebene Fähren. Auf Langstrecken brauchen wir aber andere Antriebe. LNG ist langfristig eben auch nicht die Antwort, sondern mittelfristig hilfreich. LNG ist bezüglich der Luftreinheit deutlich besser, aber für das Klima macht es keinen Unterschied, erst recht nicht, wenn es durch Fracking gewonnen wird. Hier muss unbedingt deutlich mehr geforscht werden. Die Praxistauglichkeit für die Deep Sea Vessels muss getestet werden. Da brauchen wir schnell Machbarkeitsstudien, damit die Schiffseigner wissen, wohin die Reise geht.
Wir fordern, die Forschung und vor allen Dingen auch die Erprobung von alternativen Antrieben zu intensivieren. Sogenannte First Movers dürfen für ihren Mut nicht bestraft werden. Das haben wir im Bereich der Ballastwasserbehandlung erlebt. Da hat die Bereitschaft, voranzugehen, einige in die Insolvenz getrieben. Wie die Kollegen der FDP sehen wir hier dringenden Handlungsbedarf; aber um das zu betonen, liebe FDP, muss man weiß Gott nicht jede bildungspolitische Idee, die man irgendwann einmal hatte, in diesen Antrag schreiben.
Die Koalition ist mir hier deutlich zu unambitioniert. In Ihren Antrag haben es leider nur zusätzliche Investitionen bei den Schiffbauversuchsanstalten geschafft. Ganz ehrlich: Das ist deutlich zu wenig;
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denn – auch das wurde schon gesagt – Schiffe, die heute gebaut werden, werden auch noch 2050 das Klima anheizen. Das ist in 31 Jahren; das ist keine lange Zeit. In der Seeschifffahrt ist das morgen, und in der Binnenschifffahrt ist das, ehrlich gesagt, vorgestern.
Vielen Dank.
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Norbert Brackmann, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag haben sich die Koalitionspartner darauf verständigt, eine „strategische Industrie- und Innovationspolitik“ zu betreiben, und die Bundesregierung liefert. Ich freue mich, dass wir mit dem 6. Bericht über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in Deutschland, den ich als Maritimer Koordinator der Bundesregierung hier heute habe vorlegen können, zeigen, dass wir ernst machen; denn Technologievorsprung, also die Tatsache, dass wir in vielen Bereichen Weltmarktführer sind, bedeutet, dass wir uns zum einen strategisch aufstellen müssen, dass wir uns zum anderen aber auch weiterentwickeln müssen, wenn es um Schlüsseltechnologien geht. Deswegen ist es richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister eine Industriestrategie vorgelegt hat, in der er das adressiert hat. Insofern ist es, finde ich, ein großer Erfolg, dass wir beim Punkt „Überwasserschiffbau als Schlüsseltechnologie“ einen Schritt weitergekommen sind. Wir haben uns darauf verständigt, dass das Kabinett im Herbst im Rahmen der Beratung einer Verteidigungs- und Sicherheitsstrategie den Überwasserschiffbau zur Schlüsseltechnologie erklären wird. Damit bekommen wir Möglichkeiten an die Hand, um den Zukunftsmarkt in Europa für diesen wichtigen Bereich der Wertschöpfung in Deutschland zu erhalten.
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Wir stehen kurz vor einer Nationalen Maritimen Konferenz, die wir ganz bewusst unter das Motto gestellt haben „ Deutschland maritim global ‧ smart ‧ green“; denn das sind exakt die drei großen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir werden dort nämlich nicht nur das wirtschaftliche Umfeld thematisieren, in dem wir weltweit agieren, sondern wir werden auch in einem eigenen europapolitischen Leitantrag unsere Forderung deutlich machen, dass wir Europäer künftig noch viel stärker, als das heute der Fall ist, mit einer einheitlichen Sprache sprechen müssen. Europa kann stark sein; das hat die Diskussion um die Zölle und um den Brexit gezeigt. Wir stehen als Europäer im Bereich der maritimen Wirtschaft im Wettbewerb mit vielen anderen wichtigen Plätzen in der Welt. Da muss Europa stärker werden. Da werden wir einen Akzent setzen. Ich weiß, dass mein französischer Kollege auf der NMK sein wird und uns dort unterstützen wird.
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Wir haben natürlich das Thema „smart“ auf die Tagesordnung gesetzt, weil die ganze maritime Wirtschaft in einem großen Umbruch ist. Wir müssen sehen, wie wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir das, was viele „Digitalisierung“ nennen – das betrifft die Neuorganisation von ganzen Wirtschaftsketten, die größere Sicherheit in den Häfen, den Beitrag der digitalen Technik, um Umweltschutz besser zu machen, Abgasemissionen zu minimieren und die Logistik deutlich besser zu organisieren –, unter dem Stichwort „smart“ auf der NMK adressieren und mit einer Strategie die Folgediskussion deutlich prägen können. Dazu kommen natürlich ganz konkret unsere Leistungen wie zum Beispiel die Bereitstellung von 5G‑Technologie in den Häfen und die Förderung von entsprechenden Projekten.
Das dritte große Thema der NMK ist natürlich „green“. Das wird die Diskussion deutlich beherrschen. Von allen Rednern ist schon gesagt worden, dass die Abgasemissionen sehr stark sinken müssen. Aber wir tun schon eine ganze Menge. Mit LNG, das hier angesprochen worden ist, werden wir die nächsten Jahre eine hervorragende Entwicklung haben. Es ist eine Übergangstechnologie; darauf ist hingewiesen worden. Aber wir haben unsere Forschungsförderung drastisch nach oben gefahren. Mit dem Projekt MethQuest arbeiten wir zum Beispiel nicht nur daran, neue Fuels zu entwickeln, sondern sie auch marktfähig zu machen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so wichtig, das Thema „green“ strategisch zu adressieren. Wir richten den Blick auch auf die Jahre 2020, 2030, 2040 und 2050.
Sie sehen daran, dass wir auf dieser NMK Akzente setzen werden, die auch in der Folgediskussion über die nächste Maritime Agenda eine Rolle spielen werden. Die jetzige endet 2025. Wir haben sie ergänzt um einen Nationalen Masterplan und eine Maritime Forschungsstrategie, und wir sind jetzt aufgerufen, auf der Nationalen Maritimen Konferenz die Diskussion über eine Erweiterung dieses strategischen Ansatzes bis 2030 einzuleiten. Wir verwalten also nicht die Zukunft. Als Bundesregierung gestalten wir sie und haben sie fest im Blick.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung behauptet in ihrem Bericht, unsere maritime Wirtschaft sei auf Erfolgskurs. Ich komme ja selbst aus Hamburg, war dort zuletzt Vorsitzender der AfD-Fraktion und habe da hautnah miterlebt, wie sehr die Hafenwirtschaft unter Olaf Scholz und seinem rot-grünen Senat litt.
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Der Hamburger Hafen ist eines der größten Industrie- und Logistikzentren des Exportriesen Deutschland, ein Knotenpunkt des Weltverkehrs. Aber während die Konkurrenzhäfen in Rotterdam und Antwerpen immer mehr Container abfertigen, werden Deutschlands Seehäfen immer weiter abgehängt. Selbst Hamburg ist längst nur noch auf Platz drei in Europa. Woran liegt’s? Grund der Misere sind nicht die fleißigen und innovativen Hafenunternehmer und -arbeiter. Deren perfekte, weltweit führende Hafenlogistik steht weiterhin für deutsche Wertarbeit. Auf die können wir nach wie vor stolz sein, meine Damen und Herren.
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Grund der Misere ist die Politik, genauer die linksgrüne Wirtschaftsfeindlichkeit, in Hamburg nicht anders als in Bremen. Beispiel Elbvertiefung: Die Elbe zwischen Hamburg und Nordsee ist das Nadelöhr für Deutschlands Exporte.
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Damit die großen Schiffe weiterhin Hamburg anlaufen können, muss die Elbe nur an wenigen Stellen, nur an 9 von 120 Kilometern, etwas ausgebaggert werden. Aber 17 Jahre lang liefen linksgrüne Umweltverbände dagegen Sturm und blockierten alles, vor allem wegen eines kleinen Pflänzchens. Der Schierlings-Wasserfenchel sollte im Industriehafen selbst unbedingt erhalten bleiben, statt ihn an einen sicheren Ort umzupflanzen. Typisch linksgrün! Jeder kleine Fenchel ist ihnen wichtiger als die 140 000 Arbeitsplätze im Hamburger Hafen.
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In Deutschland haben ökoradikale Umweltverbände eine Macht wie nirgendwo sonst auf der ganzen Welt. Warum ist das so? Das Zaubermittel heißt Verbandsklagerecht. Jeder kleine Umweltverein kann hierzulande demokratisch legitimierte Entscheidungen von Bund, Ländern und Gemeinden unendlich verzögern. Wem haben wir diese totale Ermächtigung der Ökos eigentlich zu verdanken?
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Der ehemaligen Umweltministerin Angela Merkel. Lange vor ihrer Grenzöffnung und der Wende in der Energiepolitik war das 1998 ihr linksgrünes Gesellenstück. Meine Damen und Herren, so lange schon ruiniert sie die Republik. Die ganze Welt lacht über so viel Unfähigkeit.
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Damit nicht genug: Noch ein weiteres Politikversagen belastet unsere maritime Wirtschaft. Anders als in anderen EU-Ländern müssen Reeder und Spediteure bei uns Einfuhrumsatzsteuer zahlen, allein im letzten Jahr rund 60 Milliarden Euro. Das Geld müssen sie sich bürokratisch und höchst umständlich bei den Finanzämtern zurückholen, ein Aufwand, der Warenströme von Deutschlands Häfen wegtreibt. Die Konkurrenz in Antwerpen und Rotterdam reibt sich die Hände. Das kann so nicht bleiben, meine Damen und Herren.
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Als Sie, Herr Vizekanzler Scholz, in Hamburg Bürgermeister waren, versprachen Sie jahrelang eine Reform dieser Einfuhrumsatzsteuer. Sie haben nicht geliefert mit der Ausrede, das sei ja Sache des Bundes. Jetzt sind Sie selbst Bundesfinanzminister und haben die Reform sogar im Koalitionsvertrag angekündigt. Und wieder kommt: nichts, gar nichts, Stillstand.
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Frau Kanzlerin, Herr Vizekanzler, Sie sind nicht in der Lage, eine große Industrienation zu führen.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Uwe Schmidt, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Baumann, wenn Sie aus Hamburg kommen, dann werden Sie den Spruch ja kennen: Wat stimmt mit dem Jungen nich, dat kann er au nich.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, vor über 20 Jahren lief das 148 Meter lange Frachtschiff „Pallas“ vor Amrum im Nationalpark Wattenmeer nach einem Brand auf Grund, mit verheerenden Folgen für das sensible Ökosystem. Als Folge dieses Unglücks im Jahr 1998 wurde das Havariekommando gegründet, das seit 2003 ein gemeinsames Unfallmanagement auf Nord- und Ostsee gewährleistet.
Containerschiffe sind inzwischen 400 Meter lang, 60 Meter breit und haben 20 000 Container an Bord. Das sind Schiffe mit den Ausmaßen des Berliner Hauptbahnhofs. Diese enorme Größe erhöht das Gefährdungspotenzial für die Bevölkerung, die Küste und unsere Umwelt enorm. Wir haben es im Januar bei der Havarie der MSC „Zoe“ erlebt: Bei gar nicht so schlechtem Wetter für ein Schiff dieser Größenordnung verlor es in der Nordsee 345 Container. Das Havariekommando in Cuxhaven hat beim Einsatz zur Gefahrenabwehr einen hervorragenden Job gemacht. Vielen Dank an dieser Stelle und auch an die vielen Freiwilligen vor Ort.
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In den letzten drei Jahren gab es bei circa 2 200 Schiffsinspektionen der ITF in den deutschen Seehäfen fast 2 000 Beanstandungen bei der Betriebssicherheit. Es ist also nicht die Frage, ob, sondern wann das nächste Unglück passieren könnte.
In der nächsten Woche findet die 11. Nationale Maritime Konferenz in Friedrichshafen statt, das erste Mal im Binnenland.
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– Klatschen Sie ruhig. Das finde ich gut. – Das ist ein gutes Zeichen; denn die maritime Wirtschaft ist ein Thema für das gesamte Land, nicht nur für die Küste, sondern auch für die Baden-Württemberger und die Bayern.
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Das Motto lautet in diesem Jahr: Deutschland maritim global ‧ smart ‧ green – Was ist eigentlich mit safe and social? Ohne europäische Sicherheits- und Sozialstandards können wir die bevorstehenden Veränderungen im maritimen Sektor nicht meistern.
Der vorliegende Antrag enthält durch die SPD-Fraktion viele wichtige Forderungen. Ich möchte einige Punkte herausgreifen. An denen wird deutlich, was wir zum Schutz der Bevölkerung, der Beschäftigten und der Umwelt tun müssen.
Wir wollen die Schiffsgrößenentwicklung einer kritischen Bewertung unterziehen und international durch eine unabhängige Schiffszertifizierung für größtmögliche Sicherheit sorgen. Containerschiffe werden ja im Allgemeinen nicht mehr in Europa gebaut. Die meisten Schiffe kommen aus Asien und werden dort allenfalls nach Mindeststandards der IMO, also der International Maritime Organization, zertifiziert. Doch reine Selbstkontrolle reicht da nicht aus. Wir haben diese Entwicklung viel zu lange ausschließlich den internationalen Marktteilnehmern überlassen.
Wir wollen die Qualifikationsnachweise der Schiffsführung aus Drittstaaten bei Ersteinlauf durch die Wasserschutzpolizei überprüfen lassen.
Das Ausflaggen deutscher Seeschiffe ist mittlerweile zur Blaupause für viele andere Wirtschaftsbereiche geworden. Diese Entwicklung spiegelt sich aktuell bei den Paketboten wider.
Der Vorsitzende der Verdi-Bundesfachgruppe Maritime Wirtschaft Thomas Mendrzik hat beim letzten Hamburger Hafengeburtstag gesagt – ich zitiere, Herr Präsident, wenn Sie erlauben –:
Wir sollten uns einmal Gedanken machen, wer die Globalisierung erst möglich macht und wer die größte Last des maritimen Welthandels auszuhalten hat? Es sind Tausende, meist ausländische Seeleute, die das ermöglichen.
Als Dank werden sie von verantwortungslosen Reedern und Bemannungsagenturen zu zusätzlichen Arbeiten gezwungen, wie das Laschen von Containern auf Feederschiffen.
Dabei wird die Gesundheit und das Leben der Seeleute aus Profitgründen leichtfertig aufs Spiel gesetzt! Zwei tödliche Unfälle im Hafen von Dublin in diesem Jahr und zahlreiche Unfälle sind ein trauriges Ergebnis solch eines verantwortungslosen Handelns.
Herr Kollege, ein Kollege der AfD möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte. – Herr Mrosek hat Ahnung.
Sehr geehrter Herr Schmidt, danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie nannten vorhin die neue Technologie, Schiffe von 400 Metern Länge und 60 Metern Breite. Da gebe ich Ihnen zu hundert Prozent Recht: Das ist eine neue Technologie auf dem Wasser. Gehen Sie mit, dass wir die Anlaufbedingungen, die wir in Deutschland und Europa haben, dieser neuen Technologie anpassen müssen?
Ich kenne Ihren Antrag, den wir im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur diskutiert haben. Ja, da gehe ich mit. Wir müssen darüber reden, wie sich solche Veränderungen bei den Schiffsgrößen tatsächlich auf die Anlaufbedingungsverordnung, auf die Sie abgestellt haben, auswirken. Es kann nicht sein, dass wir einem Tankschiff mit 10 000 BRZ, also Bruttoraumzahl, vorschreiben, welche Häfen es bei gewissen Wetterbedingungen anlaufen darf, aber gleichzeitig bei Eigenbunkerkapazitäten in einer Größenordnung von 15 000, 16 000, 17 000 Kubikmetern keinerlei Vorschriften machen. Darüber haben wir debattiert. Ihr Antrag war leider – das hat mich bei Ihnen gewundert – handwerklich schlecht gemacht. Sie haben von einem Tiefgang von 12,30 Metern gesprochen, Sie haben aber nicht gesagt, ob Sie die tatsächlichen Tiefgänge meinen oder die konstruktiven.
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Wir wollen die bestehenden Ladungssicherungskonzepte der Seeschiffe im nationalen Seeverkehrsgebiet und auf Bundeswasserstraßen vollumfänglich kontrollieren. Deswegen sind die Parlamentsbeschlüsse aus Bremen, Hamburg und Niedersachsen, die die Ladungssicherungsarbeiten zukünftig ausschließlich von qualifizierten und tarifgebundenen Hafenarbeitern durchführen lassen wollen, ein wichtiges Zeichen.
Ich komme aufgrund meiner Redezeit zu einem anderen Aspekt.
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Wir wollen einen neuen Forschungseisbrecher bauen. Das AWI hat einen Forschungseisbrecher, der eines der wichtigsten Instrumente für die Polarforschung ist. Da haben unsere Schiffsingenieure und unsere Werftarbeiter wirklich eine tolle Arbeit geleistet. Das Schiff sollte eigentlich 2015 schon außer Dienst gestellt werden. Aber die „Polarstern“ hält Gott sei Dank immer noch. Sie können mittlerweile einen virtuellen Rundgang im Deutschen Schifffahrtsmuseum über die alte „Polarstern“ machen. Aber ich glaube, wenn wir in Zukunft nicht nur virtuell Forschungsschiffe betreiben wollen, sondern auch tatsächlich wieder ein anständiges Forschungsschiff haben wollen, müssen wir darauf hinarbeiten – der Kollege von der FDP nickt ja schon –,
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dass wir gemeinsam dafür Sorge tragen, dass solche Schiffe von der deutschen Wirtschaft, in den deutschen Werften an den deutschen Standorten gebaut werden.
Recht schönen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Bernd Reuther, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kruse hat es gesagt: 108 Punkte sind von der Regierung vorgelegt worden. Da nützt manchmal auch ein Blick zurück. Beim letzten Antrag in der vergangenen Wahlperiode waren es 78 Punkte, jetzt sind noch 30 hinzugekommen. Woran liegt das? Viele sind einfach nicht abgearbeitet worden, es ist nichts passiert.
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Ich will hier ein Beispiel nennen. Herr Kollege Saathoff hat den Landstrom angesprochen. Im Antrag der letzten Wahlperiode stand unter Punkt 32, die Bundesregierung möchte prüfen, ob der Landstrom von der EEG-Umlage befreit werden kann. In diesem Antrag heißt es unter Punkt 58:
… zu prüfen, ob Landstrom in Häfen mit einer reduzierten EEG-Umlage und einem abgesenkten Netzentgelt belegt werden …
Liebe Freunde der Bundesregierung, vielleicht prüft ihr einmal zu Ende und macht etwas. So wird nämlich auch ein Beitrag zum Klima geleistet. Das ist hier der Punkt.
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Es ist schon mehrfach angesprochen worden: Die maritime Wirtschaft braucht vernünftige Infrastruktur. Das gilt natürlich besonders für die Häfen entlang der deutschen Küste. Das gilt aber auch für die Hinterlandanbindungen. Die Anbindung der Seehäfen an die deutschen Wirtschaftsregionen muss mit dem Wachstum des Außenhandels mithalten, ansonsten drohen Infrastrukturengpässe, die die Konjunktur nachhaltig schwächen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der wirtschaftliche Erfolg in unserem Land wird auch weiterhin davon abhängen, ob die Lieferketten funktionieren. Das belegen die unterschiedlichen Industrien, zum Beispiel auch die inzwischen viel gescholtene Autoindustrie. Ich gehe davon aus, dass, mit welcher Antriebsart auch immer, deutsche Autos auch in Zukunft über die deutschen Seehäfen exportiert werden. Dafür brauchen wir vernünftige Transportketten. Gleiches gilt für die chemische Industrie, für den Maschinenbau etc. etc.
Ich komme jetzt einmal mit einem Lob um die Ecke. Ich bin sehr froh, dass der Bundesverkehrsminister in dieser Woche den Masterplan Binnenschifffahrt vorgelegt hat.
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Das war lange überfällig; denn auch eine funktionierende Binnenschifffahrt trägt dazu bei, dass die maritime Wirtschaft, dass die Seehäfen funktionieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben marode Schleusen. Wir brauchen die Abladeoptimierung am Mittelrhein. Das trägt dazu bei, dass die deutsche Industrie ihre Waren auch zukünftig in alle Welt exportieren kann.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, verehrte Bundesregierung, sorgen Sie dafür, dass wir eine Infrastruktur haben, die funktioniert, dass die Waren aus Deutschland rauskommen. Dann können wir uns auch in Zukunft weiter Exportweltmeister nennen.
Herzlichen Dank.
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Peter Stein, CDU/CSU, hat als nächster Redner das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Vor wenigen Tagen hat ein außergewöhnliches und sehr eindrucksvolles maritimes Ereignis stattgefunden: Der Forscher Victor Vescovo hat mit seinem Unterseeboot die zwei tiefsten Tauchgänge in der Menschheitsgeschichte durchgeführt und damit den seit über 60 Jahren bestehenden Rekord gebrochen. An und für sich wäre das ein Grund zum Feiern, wenn er dort, in 11 Kilometern Tiefe, nicht unseren Plastikmüll gefunden hätte. Wir wissen alle, dass die Vermüllung der Meere, die Verbrennung übelster Schweröle von Schiffen, das Einleiten von Giften und Antibiotika in unsere Flüsse, die ungehemmte Entnahme von Grundwasser und dessen Versalzung und eine oft illegale Überfischung am Ende unsere eigene Existenz bedrohen.
Meine Damen und Herren, wir als CDU/CSU stellen zusammen mit unserem Koalitionspartner den diesjährigen Antrag zur Nationalen Maritimen Konferenz ausdrücklich unter die Überschrift der Nachhaltigkeit und des Schutzes der Meere. Ich weise darauf hin: Der Begriff der Nachhaltigkeit fehlt hier leider auf unserer Anzeigetafel. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass der Titel dort vollständig gestanden hätte.
Wir legen in unserem Antrag ganz bewusst einen Großteil der Schwerpunkte auf Meeresforschung und wissenschaftliche Entwicklungen, auf den Schutz des Ökosystems, auf Umwelttechnologien, aber auch auf Fischerei oder Munitionsbergung; denn wir wollen die 17 SDGs der Vereinten Nationen global und lokal umsetzen, und dabei spielt der maritime Bereich in Deutschland eine ganz entscheidende Rolle. Ich freue mich deshalb als Küstenbewohner, als Rostocker und auch als Mitglied des Arbeitskreises Küste, dessen Vorsitzenden Oliver Grundmann ich hier ganz herzlich begrüße, dass wir heute die Gelegenheit haben, über die Zukunft der nachhaltigen maritimen Wirtschaft diskutieren zu können.
Auch der Sechste Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in Deutschland greift ebenso wie die Maritime Agenda 2025 der Bundesregierung aus meiner Sicht alle wichtigen Aspekte auf, die für die maritime Wirtschaft aktuell und in Zukunft von Bedeutung sind. Wir erleben hier keine großen Überraschungen; denn wir haben zusammen mit unserem Koalitionspartner von der SPD in den letzten Jahren schon sehr viel für unsere maritime Wirtschaft getan. Wir legen in dieser Legislatur sogar noch ein paar Schippen drauf.
Meine Damen und Herren, Deutschlands größte Potenziale in Wissenschaft, Forschung, Logistik und Industrie liegen eindeutig im maritimen Sektor. Mit unserem Antrag greifen wir Punkte der Nachhaltigkeit auf, die für eine moderne maritime Wirtschaft zukunftsrelevant sind, und schaffen damit den Rahmen dafür, dass ihre Potenziale ausgeschöpft werden können, und zwar global.
Ich freue mich sehr, dass die Bundesregierung mit dem Programm MARE:N die wissenschaftlichen Grundlagen für den Schutz und die Nachhaltigkeit der Nutzung der Meere liefert. Wir werden die bestehenden Förderprogramme aber nicht nur beibehalten, sondern wir stärken diese insbesondere auch im Bereich der Forschung.
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Das Leibniz-Institut für Ostseeforschung und das Institut für Ostseefischerei, die ich als Rostocker sehr gut kenne, sind herausragende Beispiele auf dem Gebiet der maritimen Forschung und spielen hier weltweit ganz vorne mit. Ich bedanke mich auch ganz ausdrücklich für die Unterstützung des Bundes für den Aufbau und die Einrichtung des Ocean Technology Centers in Rostock; der Kollege Reinhold hat schon darauf hingewiesen. Das Fraunhofer-Institut macht da eine richtig gute Arbeit und hat es verdient, diesen Standort und diesen Ausbau zu bekommen.
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Unsere Wissenschaftlerinnen und Forscher belegen da eindrucksvoll, wie wichtig und auch wirkungsvoll die maritime Technologie ist.
Ein großer Dank gilt an dieser Stelle aber auch allen Beschäftigten in der Schifffahrtsbranche, den Reedern, der Schiffbauindustrie und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die auch in zurückliegenden schwierigen Zeiten an den Standort Deutschland geglaubt und dort weitergearbeitet oder investiert haben. Sie alle haben einen großen Anteil an der wirtschaftlichen Prosperität, an der technologischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schifffahrtsindustrie ist nicht nur auf die deutschen Küstenregionen begrenzt. Viele Zulieferer haben ihren Sitz im süddeutschen Raum. Deshalb war es auch gemeinsame Idee der Fachpolitiker in den vergangenen Jahren, die Maritime Konferenz auch einmal im Süden der Republik und nicht an der Küste stattfinden zu lassen.
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Diese wird – und das gilt als Einladung – nächste Woche in Friedrichshafen am Bodensee stattfinden und stellt alle Akteure des maritimen Netzwerks hinter die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.
Unsere deutschen Schiffbau- und Offshorebetriebe sind auf einem guten Weg, die globalen strategischen Herausforderungen, insbesondere aus Asien, anzunehmen und als Ideenführer technologisch zu bestimmen. Die maritime Wirtschaft wird also einen wesentlichen Beitrag zum Hochtechnologiestandort Deutschland und zur Nachhaltigkeit leisten. Wir hier in der Politik setzen dafür die nötigen Rahmenbedingungen. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem sehr umfangreichen Programm, zu unserem Antrag, der tatsächlich noch mal deutlich über das hinausgeht, was wir in der vergangenen Legislatur niedergeschrieben haben. Die Abarbeitung ist auf einem guten Weg, auch wenn die Kritik in Teilen berechtigt gewesen ist.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erhält das Wort die Kollegin Daniela Ludwig, CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Der Erfolg unserer Wirtschaft – und damit der Grundstein für unseren Wohlstand – hängt ganz wesentlich davon ab, ob wir es schaffen, eine moderne, emissionsarme und gut ausgebaute Infrastruktur auch in Zukunft zur Verfügung zu haben. Das beginnt – und ich begrüße diese Debatte heute außerordentlich – natürlich an unseren Häfen, insbesondere an unseren Küsten im Norden, geht dann über die Hinterlandanbindungen in Richtung Inland und über die Schiene, die Straße, die Binnenwasserstraßen zu uns in den Süden, durchaus auch zu den Binnengewässern, in Richtung Friedrichshafen, meine lieben Kollegen. Richtigerweise findet die Maritime Konferenz diesmal im Binnenland statt. Warum? Ich glaube, es ist richtig, auch in dieser Debatte klar zu sagen: Unsere Binnenwasserstraßen sind so etwas wie ein Hidden Champion, was die Verlagerung des Güterverkehrs angeht, und zwar eben nicht nur von der Straße auf die Schiene, sondern auch von der Schiene auf das Wasser.
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Darum begrüße ich unseren Antrag außerordentlich. Ich finde es richtig, dass wir unser Augenmerk nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch verkehrspolitisch in Richtung Wasser lenken.
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In diesem Bereich tun wir einiges, auch finanziell: Im aktuellen Haushaltsjahr sind 969 Millionen Euro für Investitionen in die Wasserstraße in Deutschland vorgesehen. Wir wissen natürlich um den hohen Investitions- und Nachholbedarf, insbesondere was unsere Schleusen angeht. 60 Prozent der deutschen Schleusen – der Kollege Reuther hat es schon angesprochen – wurden vor 1950 errichtet. Ein Großteil unserer Kanäle stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Wenn wir uns tatsächlich zum Ziel setzen, Güterverkehre auch aufs Wasser zu bringen, was ich dringend unterstütze, müssen wir hier unbedingt ansetzen. Da haben wir noch einen ordentlichen Brocken Arbeit vor uns, auch in dieser Koalition.
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Noch mehr Sorgen macht mir allerdings das Thema Personalmangel, insbesondere was unsere Schiffer angeht. Auch da müssen wir noch deutlich besser werden. Wir haben, wie ich finde, mit noch mal 161 Stellen mehr in 2019 einen großen, guten Schritt bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung gemacht; aber diese Stellen wollen auch besetzt werden. Wie überall gibt es auch hier einen Fachkräftemangel. Das heißt, wir müssen deutlich mehr Werbung für diesen hochattraktiven Beruf machen, der total spannend ist, der einen mobil hält und in Bewegung versetzt und der für unser Land so wichtig ist. Wir tun das, was wir tun können: Wir schaffen zusätzliche Stellen. Aber wir sollten bitte alle miteinander dafür werben, dass diese Stellen auch ordentlich besetzt werden können.
Ich habe es schon angesprochen: Wir haben es hier in der Tat mit einem Hidden Champion zu tun. Warum? Gemessen an den Transportmengen ist die Binnenschifffahrt der umweltfreundlichste Verkehrsträger; das geht in der öffentlichen Debatte durchaus gern mal unter. Deswegen wollen wir uns hier weiter einbringen. Wir haben bereits die Wettbewerbsfähigkeit dieses Wirtschaftssektors dadurch erhöht, dass wir – lange versprochen, endlich eingelöst – die Befahrensabgabe abgeschafft haben. Das wirkt sich unmittelbar auf die Nachfrage aus. Ich danke allen, die sich daran beteiligt haben. Das war eine ausgesprochen wichtige Entscheidung in dieser Legislatur. Genau auf diesem Weg müssen wir weitergehen.
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Natürlich spielt auch die Digitalisierung in der Schifffahrt eine ganz große Rolle; es ist vielfach angesprochen worden. Wir haben schon ein Testfeld für die Digitalisierung in der Schifffahrt am Hamburger Hafen. Das müssen wir natürlich noch in die Fläche ausrollen; denn genauso, wie wir versuchen, den Straßenverkehr und den Schienenverkehr digitaler zu machen, ist dies selbstverständlich auch bei der Wasserstraße unser Ziel. Wir werden eine Förderrichtlinie auflegen, die für das sogenannte Rollout sorgen wird.
Wir sind also auf einem sehr guten Weg, aber es liegt noch wahnsinnig viel Wasserstraße vor uns, die wir zu bewältigen haben. Lassen Sie uns das miteinander anpacken.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Ludwig. – Damit schließe ich die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 24 a. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/10149 mit dem Titel „Nachhaltige maritime Wirtschaftspolitik umsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD gegen die Stimmen von FDP und Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkte 24 b, 24 c, 24 e und 24 f. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9030, 19/10173, 19/10163 und 19/10201 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 19/10173 soll federführend an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was haben Martin Schulz, der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius, Armin Schuster von der CDU/CSU, Manfred Weber – das ist übrigens der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei –, Wolfgang Kubicki
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und – jetzt kommt der Knaller – Sven Giegold, Spitzenkandidat der Grünen bei der Europawahl, gemeinsam?
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Sie alle haben in den letzten Monaten und Jahren die Einrichtung, den Aufbau eines – Zitat – „europäischen FBI“ vorgeschlagen, teilweise mit genau demselben Duktus und genau derselben Formulierung. Meine Damen und Herren, es ist natürlich gut, wenn sich Demokraten einig sind, aber man kann sich schon die Frage stellen: Ist es für die politische Kultur und für die innere Sicherheit in unserem Land sinnvoll, wenn man ständig Schlagworte und Phrasen wie „europäisches FBI“ in den Raum stellt, ohne konkret zu sagen, was man damit eigentlich meint?
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Die Freien Demokraten legen Ihnen heute ein Konzept vor, wie man Europol zu einem europäischen Kriminalamt aufwerten kann, damit diese Diskussion nicht in der Presse, sondern hier im Parlament geführt wird.
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Die europäischen Verträge enthalten ein Versprechen. Sie enthalten das Versprechen, dass mit offenen Grenzen in Europa und mit einer politischen Union ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einhergeht. Wenn man sich anschaut, wie dieser Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Vergangenheit genutzt worden ist, dann muss man leider feststellen, dass er viel von Terroristen und Verbrechern für grenzüberschreitende Aktivitäten genutzt wird. Es kann aber nicht sein, dass sich nur Verbrecher und Terroristen den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zunutze machen und die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden dies nicht tun. Deswegen muss bei Europol eine Schippe draufgelegt werden. Wir legen Ihnen heute ein Konzept für ein europäisches Kriminalamt vor.
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Es kann nicht sein, dass der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Artikel 88 ausdrücklich einräumt, dass die operativen Befugnisse von Europol in Kooperation mit den Behörden der Mitgliedstaaten schon heute intensiver sein und ausgedehnt werden könnten, aber die Europol-Verordnung von diesem Spielraum überhaupt keinen Gebrauch macht. Deswegen schlagen wir in einem ersten Schritt vor, die Europol-Verordnung zu reformieren. Das, was auf europäischer Ebene möglich ist, muss auch gemacht werden.
Ein Aufwuchs an Kompetenzen bei Europol darf aber nicht zu einem Programm zum Abbau von Grundrechten führen. Deswegen ist es richtig, dass sich der Deutsche Bundestag heute erstmals dazu bekennt, dass es auf europäischer Ebene eines Rahmens für ein gemeinsames Strafrecht, für ein gemeinsames Strafprozessrecht und auch für Regeln der gemeinsamen Gefahrenabwehr bedarf. Wir müssen uns doch heute schon fragen: Wenn Europol den Mitgliedstaaten Software zur Verfügung stellt, nach welchem Polizeirecht in Deutschland funktioniert das eigentlich? Wir müssen das Heft des Handelns in die Hand nehmen und auf europäischer Ebene darüber sprechen, wie das eigentlich vonstattengehen soll. Wir brauchen einen weiteren Schritt hin zu materiellen Rechtsgrundlagen auf der europäischen Ebene.
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Meine Damen und Herren, der Bereich der Justiz, der Strafverfolgung und der Polizei ist nicht nur für die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger besonders sensibel, er ist auch für die nationale Souveränität besonders sensibel. Deswegen sollte man aufpassen dabei, das Konzept eines FBI aus dem Amerikanischen eins zu eins nach Europa übertragen zu wollen. Wir wollen ja gerade keine Vermengung von nachrichtendienstlicher Tätigkeit und Polizeitätigkeit. Das Trennungsgebot muss auch auf europäischer Ebene gelebt werden.
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Hinzu kommt, dass wir hier im Deutschen Bundestag, gerade eine Woche vor der Europawahl, mutig genug sein sollten, zu sagen: Auch im Bereich der gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik in der Europäischen Union braucht es eine Vertragsänderung. Ich bin mir absolut sicher, dass vor vielen Jahren und Jahrzehnten so etwas wie eine Europäische Staatsanwaltschaft noch Zukunftsmusik gewesen ist; das konnte man sich überhaupt nicht vorstellen. Heute haben wir eine Europäische Staatsanwaltschaft. Lassen Sie uns heute den Weg in Richtung eines europäischen Kriminalamts gehen mit einem europäischen Rahmen-Strafprozessrecht, einem Rahmen-Strafrecht –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– und Rahmenregeln für die Gefahrenabwehr, damit die Steigerung von Kompetenzen nicht zu einem Programm zum Abbau der Bürgerrechte wird und damit es bei der europäischen Sicherheit vorangeht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Herr Kollege Kuhle, dass Sie die Äußerungen der von Ihnen am Beginn Ihrer Rede genannten Personen als Phrasen abgetan haben, finde ich bemerkenswert.
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Der Kollege Schuster, der als Nächstes das Wort hat, wird darauf sicherlich antworten.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, warum habe ich die Vermutung, dass Sie bei der Bemessung meiner Redezeit heute großzügig sind?
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Lieber Herr Kuhle, liebe Kollegen und Kolleginnen der FDP, gegen Ihren Antrag habe ich überhaupt nichts einzuwenden,
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außer dass Haribo-bunte Plakate noch keine moderne Partei machen. Entschuldigung!
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Die Idee der Schaffung eines europäischen Kriminalamts ist in diesem Haus nun wirklich keine bahnbrechende Idee; sie ist wirklich nichts Neues.
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Ich glaube, einen größeren Konsens können Sie über die Fraktionen hinweg zu kaum einem anderen innenpolitischen Thema finden wie zu diesem.
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Deswegen frage ich mich: Was ist die Motivation für den vorliegenden Antrag gewesen? Natürlich! Wir haben Europawahlkampf, und die FDP möchte sich inszenieren.
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Daran möchte ich mich gerne beteiligen, aber für die Union.
Dass Europol in Den Haag bis heute eine Erfolgsgeschichte ist, ist maßgeblich den deutschen Regierungen zu verdanken, bei denen Sie leider nie den Innenminister gestellt haben. Der Personalstand dort hat sich bis heute fast vervierfacht; das Budget beträgt 140 Millionen Euro. Wir haben Europol evolutionär von einer Grundidee Anfang der 70er-Jahre über die Gründung in den 90er-Jahren hin zur einer Austauschplattform entwickelt. Nachdem wir seit 2010 ein entsprechendes Übereinkommen haben – das Primärrecht – und seit 2016 die Europol-Verordnung, sind wir heute so weit, dass wir sagen können: Europol ist nicht mehr einfacher Assistent der Mitgliedstaaten, Europol ist Partner.
Nach dem Primärrecht darf Europol heute ermitteln, operative Maßnahmen ergreifen, analytisch arbeiten und gemeinsame Ermittlungsgruppen einsetzen. Es entwickelt sich langsam eine ermittelnde Europol-Behörde, die den Geist eines Kriminalamts schon in sich trägt. Das war auch der Gedanke von Thomas de Maizière; ich spreche das ganz bewusst an, nicht nur weil er hinten im Saal sitzt. Wir haben in der Union immer den evolutionären Gedanken verfolgt, nie den revolutionären. Warum? Weil wir Deutsche wissen, wie schwierig es ist, den Föderalismus an der einen oder anderen Stelle zu überwinden. Denken Sie an das BKA und die Terrorismuszuständigkeit, denken Sie an das GTAZ! Das auf europäischer Ebene hinzubekommen, ist unser Ziel. Wir wollen ein europäisches Kriminalamt, aber man muss hier in behutsamen Schritten vorgehen. Ich finde, wir sind auf einem ziemlich guten Weg. Ein Beleg dafür – Thomas de Maizière war einer der Ideengeber, Horst Seehofer setzt das fort – ist der Ausbau des Europäischen Terrorismusabwehrzentrums bei Europol. Seine Einrichtung wurde maßgeblich von der letzten deutschen Regierung gefordert, und wir haben es in Den Haag, meine ich, umgesetzt. Wir haben dazugesellt eine Plattform für OK, für Schleusungskriminalität und für Cyber. Es entwickelt sich etwas. Frau Mittag und Herr Irmer, die Kollegen von der SPD und von der Union, sitzen in einem parlamentarischen Kontrollgremium, das neu geschaffen wurde. Ich spüre, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wo Sie von der FDP auch hinwollen; aber das ist eine Angelegenheit von CDU und CSU. Wir haben das im Bundesvorstand beschlossen; wir haben das im Europawahlprogramm stehen; wir haben das im Koalitionsvertrag mit der SPD verankert.
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Sorry, meine Damen und Herren, das ist wie bei „Wickie“, dieser Zeichentrickserie: Ihr schreibt bei uns ab und tut hier so, als ob das eine neue Idee wäre. – Nein, meine Damen und Herren!
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Mein letzter Gedanke – jetzt müsst ihr euch anschnallen, jetzt tut es weh –: Wenn wir mit Franzosen, Spaniern, Italienern, Briten oder wem auch immer über den Aufbau eines europäischen Kriminalamtes reden wollen, dann ist klar, dass die mit uns die Kinderpornografie erfolgreich bekämpfen wollen, dass die mit uns den Terrorismus erfolgreich bekämpfen wollen und dass die mit uns Cyberangriffe abwehren wollen. Dazu müssen wir aber – das glauben außer einigen wenigen Parteien in Deutschland alle – Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung, Quellen-TKÜ, Cyberabwehr und KI einsetzen.
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Wollen Sie das europäische Kriminalamt als zahnlosen Tiger etablieren? Wir möchten eine moderne Sicherheitspolitik. Wir wollen den Franzosen, Spaniern, Italienern und allen anderen Freunden rundherum das Angebot unterbreiten, ein leistungsfähiges Amt aufzubauen. Da müsst ihr euch allerdings noch ein bisschen bewegen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz?
Ich beende erst meine Rede, danach gerne. Meine Redezeit ist eh zu Ende.
Ich empfehle an der Stelle Manfred Weber.
({0})
Wenn Sie einen Politiker suchen, bei dem Inhalt und Person stimmen, dann gibt es auch einen deutschen Patriotismus. Wählen Sie Manfred Weber!
({1})
Egal aus welcher Fraktion Sie kommen, das ist immer eine gute Idee. – Sie wollten Wahlkampf, jetzt haben Sie ihn gekriegt.
({2})
Herr Dr. von Notz, bitte.
Nein, Kollege Schuster, so geht das nicht. – Moment, Herr Kollege von Notz. – Die Redezeit ist vor 20 Sekunden abgelaufen.
Schade.
Da die Redezeit zu Ende ist, kann ich keine Zwischenfrage mehr zulassen, und eine Endfrage kennt die Geschäftsordnung nicht. – Herr Kollege Schuster, vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich fand ihn gut.
Ich dachte, Sie wären großzügiger. – Danke schön.
({0})
Als Nächster für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Hess.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der FDP zielt darauf ab, Terrorismus und organisierte Kriminalität zu bekämpfen,
({0})
indem man ein europäisches Kriminalamt schafft, das diese Aufgabe wahrnehmen soll. Dabei ist doch die FDP, übrigens gemeinsam mit allen anderen Altparteien, verantwortlich dafür, dass wir überhaupt eine so massive islamistische Terrorgefahr haben.
({1})
Sie tragen die Politik der offenen Grenzen mit, die der illegalen Massenmigration und damit auch dem islamistischen Terrorismus Tür und Tor öffnet.
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Aber anstatt Ihre Fehler einzusehen und sich unserer Forderung nach effektivem Grenzschutz anzuschließen, schlagen Sie jetzt eine europäische Superbehörde als Lösung vor. Nehmen Sie zur Kenntnis: Jeder Praktiker wird Ihnen sagen, dass das völlig realitätsfern und daher reines Wunschdenken ist.
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Sie sind noch nicht einmal in der Lage, effektive Terrorbekämpfung in Deutschland umzusetzen. Sie verweigern sich vehement den Maßnahmen, die dringend erforderlich wären, um die Sicherheitslage für unsere Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Es ist doch angesichts der massiven Bedrohungslage für unsere Bürger nicht mehr nachvollziehbar, dass wir immer noch keine Bundeszuständigkeit bei der islamistischen Terrorbekämpfung haben, wie von der AfD gefordert. 16 verschiedene Länderpolizeigesetze verhindern, dass Sicherheitsbehörden den islamistischen Terror effektiv bekämpfen können. Dies wird von allen Sicherheitsexperten massiv bemängelt. Sie haben diesen Missstand bis heute nicht abgestellt.
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Damit beweisen Sie, dass Sie den Terror nicht bekämpfen, sondern verwalten. Aber genau das ist mit der AfD nicht zu machen.
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Der hocheffektive längerfristige Gefährdergewahrsam ist immer noch nicht bundesweit geltendes Recht. Sie haben es daher mitzuverantworten, dass sich in Deutschland immer noch islamistische Gefährder frei bewegen können, obwohl die Sicherheitsbehörden von einer sehr hohen Anschlagsgefahr ausgehen. Solange Sie Ihre Politik nicht ändern – damit meine ich nicht nur die FDP –, so lange werden Sie den Terror auch nicht effektiv bekämpfen können. Da hilft kein europäisches Kriminalamt und keine Europäische Staatsanwaltschaft. Wer im nationalen Rahmen schon so versagt, wie Sie das tun, der versagt erst recht auf europäischer Ebene.
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Um nicht missverstanden zu werden: Eine verbesserte Zusammenarbeit im Schengen-Raum zur Kriminalitätsbekämpfung ist durchaus sinnvoll – vor allem im Bereich des Datenaustausches –, und auch eine europaweit einheitliche Gefährderdefinition muss endlich umgesetzt werden, und zwar so schnell wie möglich; denn nur so ist eine effektive europäische Terrorbekämpfungsstrategie möglich. Dass dies bis heute nicht umgesetzt ist, zeigt doch, dass Europa die islamistische Terrorgefahr eben gerade nicht beseitigen kann. Zur effektiven Terrorbekämpfung brauchen wir kein europäisches Kriminalamt, das Kapazitäten an sich zieht, die wir zur Terrorbekämpfung selbst dringend benötigen, und das nur zu einem noch größeren Kompetenzwirrwarr führen würde. Das ist deshalb definitiv der falsche Weg.
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Bei Ihrem Antrag hat man den Eindruck, Sie wollen unsere massiven Sicherheitsprobleme überhaupt nicht lösen, sondern sie einfach nur auf die europäische Ebene verschieben. Sie können den Kollegen von der SPD die Hand geben; denn auch ihr Motto scheint zu sein: „Europa ist die Antwort“, wenn sie im Bundestag nicht mehr weiterwissen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es macht keinen Sinn, die EU mit weiteren staatlichen Funktionen und Institutionen auszustatten,
({8})
um den Terror zu bekämpfen, solange man nicht die eigenen nationalen Möglichkeiten voll ausgeschöpft hat. Wir müssen zuallererst selbst handeln, und zwar sofort.
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Wir müssen unverzüglich unsere Grenzen schützen, und die Bekämpfung des islamistischen Terrors muss in die Zuständigkeit des Bundes fallen, damit wir endlich bundesweit allen Gefährdern, bei denen eine Abschiebung nicht möglich ist, die Freiheit entziehen können. Wir brauchen eine konsequente Abschiebung nichtdeutscher Gefährder und Terrorsympathisanten und einen sofortigen Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft bei Terrorkämpfern und deren Unterstützern. Wer zu diesen Maßnahmen nicht bereit ist, der beweist, dass ihm die Sicherheit unserer Bürger nur in Sonntagsreden wichtig ist, aber eben nicht in der Realität. Da der Bürger genau dies immer mehr erkennt, versuchen Sie mit diesem Antrag, sicherheitspolitische Aktivität vorzutäuschen. Ihr Antrag dient im Grunde nur einem Zweck: Ihr Versagen in der nationalen Terrorbekämpfung zu kaschieren, um zukünftig ein europäisches Kriminalamt für Ihr Versagen verantwortlich machen zu können.
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Das wird die AfD nicht mittragen. Wir lehnen Ihren Antrag ab.
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Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Susanne Mittag, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gibt man den Begriff „Europol“ im Netz ein, dann bekommt man sofort einen Eindruck von der Vielfältigkeit von Europol: zweitgrößter Darknet-Marktplatz der Welt abgeschaltet, 150 000 Liter falsches Olivenöl beschlagnahmt, acht Festnahmen in Spanien wegen Kryptogeldwäsche. – Was für eine Bandbreite von Europol.
Schaut man in die Wahlprogramme der Parteien hier bei uns zur Europawahl, so stellt man fest, dass es in fast allen einen Verweis auf Europol gibt, darauf, wie wichtig der weitere Ausbau ist. Nur eine Fraktion hier im Haus hat noch nicht verstanden, wie wichtig Europol für die Sicherheit in unserem Land und für Europa ist. Sie stellen die Sinnhaftigkeit von Europol infrage und wollen weniger europäischen Austausch. Das ist nicht nur falsch, das ist auch gefährlich.
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Ich komme zum Ausbau von Europol zurück. Ja, Europol wurde bereits ausgebaut, und da es mehr Aufgaben gibt, wurde auch die Kontrolle verstärkt. Seit 2017 – das ist schon erwähnt worden – kontrolliert das Europol-Kontrollgremium, bestehend je zur Hälfte aus Mitgliedern des LIBE-Ausschusses des Europäischen Parlaments und aus Parlamentariern aus den Europol-Mitgliedstaaten. Deutschland wird durch vier Parlamentarier vertreten, zwei aus den Bundesländern und – das ist schon erwähnt worden – zwei aus dem Bundestag. Herr Irmer und meine Wenigkeit vertreten Sie alle bei Europol. Wir tagen zweimal im Jahr. Europol erstattet uns in den Sitzungen Bericht. Die Kriminalitätslagen werden erörtert, die erforderliche Vernetzung wird besprochen, und neue Arbeitsbereiche werden vorgestellt. Natürlich sind auch Haushalt und Personal immer wieder Thema. Die Präsidentin von Europol, Frau De Bolle, hat uns im Innenausschuss besucht; vielleicht hat das ja jemand von Ihnen mitbekommen. Sie stand allen Ausschussmitgliedern für Fragen zur Verfügung. Auch dort wurde die nähere und weitere Zukunft von Europol erörtert. Diese steht in engem Zusammenhang mit den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln.
Im Jahr 2018 standen Europol mit einem Nachschlag insgesamt ungefähr 130 Millionen Euro zur Verfügung. Für 2019 wurden 143 Millionen Euro angemeldet. Es sollten aber nur 112 Millionen Euro fließen. Erst durch erheblichen Druck konnte im letzten Moment annähernd der Haushaltsansatz der vergangenen Jahre rausverhandelt werden. Ähnlich war es beim Personal: 2018 hatte Europol 576 Planstellen. Für 2019 waren wegen mehr Aufgaben 43 Stellen mehr erforderlich, genehmigt wurden 5 mehr, in Worten: fünf. Demnächst geht es um den mehrjährigen Finanzplan Europas. Dabei wird der Brexit zu berücksichtigen sein: weniger Geld und mehr Aufgaben, zum Beispiel bei Frontex. Geplant ist hier eine Aufstockung um 10 000 Personen; das ist ja keine Kleinigkeit. Es geht um Grenzsicherungssysteme, aber auch um den erforderlichen und beschlossenen Aufgabenzuwachs bei Europol. Hier besteht Mehrbedarf. Hier sehe ich eine Aufgabe der Bundesregierung, Herr Krings, und des Innenministeriums.
({1})
– Ja, das ist sehr schön. –
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Es ist nämlich sehr wichtig, bei den gesamten Verhandlungen dafür einzutreten, dass die notwendigen Finanzmittel auch zur Verfügung stehen und wir sie nicht im letzten Moment dann in hektischen Verhandlungen noch reinverhandeln müssen, damit die Finanzierung von Europol und deren Zukunftsaufgaben gesichert sind.
In Deutschland, mitten in Europa gelegen, haben wir ein sehr hohes Interesse, dass Europol noch effektiver wird. Es braucht also mehr Mittel für den Ausbau, für die Kapazitätsanalyse, die Speicherung und Auswertung von Daten, Kriminalitätsstrukturen, als Plattform für internationale Zusammenarbeit, als Unterstützung von Dienststellen vor Ort – jetzt schon –, als Verbindungsebene innerhalb Europas, aber auch in die Drittländer weltweit.
Wir brauchen Europol zur Bekämpfung von circa 5 000 – diese Zahl wird geschätzt – agierenden Gruppierungen der organisierten Kriminalität allein in Europa. Ebenso sind Cyberkriminalität und Terrorismus allererstes Ziel, aber auch solche Dinge wie Korruption, Geldwäsche, Finanzermittlungen, Einbeziehung von Vermögen, und zwar in unterschiedlicher Zusammenarbeit in Europa, aber auch mit Ländern – man höre und staune – wie Jordanien, Israel, Ägypten, Marokko, Japan, USA, Süd- und Mittelamerika oder auch Neuseeland, Indien, Irak oder die Russische Föderation, sei es um neue Strukturen zu erkennen, die erst noch nach Europa kommen, sei es, um Taten und Täter zu erkennen, die sich über mehrere Länder und Kontinente erstrecken und die es in dieser Konstellation nur in bestimmten Ländern gibt.
Es zeigt, wie breitgefächert die Arbeit jetzt schon ist und wie wichtig die zukünftige finanzielle Ausstattung sein wird, wie entscheidend es auch ist, fähige und innovative Ermittler und Ermittlerinnen dort zu haben, wie wichtig es ist, dass die einzelnen europäischen Länder auch mit eigener Polizei bei Europol tätig sind und damit auch die Kriminalitätsbekämpfung weltweit und automatisch auch im eigenen Land vorantreiben.
Spanien und die Niederlande sind mit 100 Beamten bei Europol vertreten, Italien, Griechenland und Rumänien mit 67, Deutschland mit 62. Da ist also von Bund und Land noch richtig viel Luft nach oben, mehr Beamte zu Europol zu schicken. Die Beamten bringen nämlich nach ihrer Abordnung unschätzbares Wissen in der Ermittlungsarbeit bei organisierter Kriminalität in die heimischen Dienststellen zurück.
Jetzt komme ich zum Antrag der FDP. Er beschert – man höre und staune – uns hier im Bundestag schließlich eine Debatte über Europol zu einer guten Zeit.
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Das kann ja nur Werbung sein. Aber dann hört es auch schon auf. Der vorliegende Antrag beinhaltet sehr viel Zukunftsmusik
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– wie das eben ist mit Zukunftsmusik –, die aber mit den realen Möglichkeiten zurzeit und in absehbarer Zeit rein gar nichts zu tun hat.
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– Erst einmal ganz entspannt zuhören. – Abgesehen von einem Personalausbau erheblichen Ausmaßes, verbunden mit einem ebenso massiven Sachmittelvolumen,
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bedeutet das logischerweise auch den Aufbau einer europäischen Justiz mit einem identischen Aufbau; so viel nur zum Volumen. Die europäischen Länder haben aber sehr unterschiedliche Systeme des Strafrechts, des Strafverfahrensrechts und auch der polizeilichen Befugnisse. Diese sollen sich jetzt alle angleichen.
Nur ein Beispiel: Es gibt europaweit immer noch höchst unterschiedliche Auffassungen darüber: Was ist ein Gefährder?
({7})
Und: Welche Maßnahmen können, müssen und dürfen angewandt werden? Jeder Mitgliedstaat ist von seinem Rechtssystem sehr überzeugt. Sie wollen also das Problem in diesem Rechtsrahmen lösen. Wir kennen alle die Geschwindigkeit, mit der solche Projekte in Europa verhandelt werden. Das dauert zu lange.
Eine gute von den Ländern gelieferte Datenlage und Erkenntnisse aus dem internationalen Ausland, analysiert und ausgewertet von Europol, angereichert mit den Erkenntnissen der nationalen Zentralstellen, wie bei uns zum Beispiel das BKA –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
– jawohl –, Zusammenarbeit mit den Ländern und mit den Polizeien vor Ort: Das ist eine effektive polizeiliche Arbeit, die vor Ort Auswirkungen hat und auch auf internationaler Ebene funktionieren kann. Das ist unsere Zukunft. Ich hoffe, dass alle mithelfen, die finanziellen Ressourcen zu sichern; denn das ist noch ein weiter Weg.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Mittag. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege André Hahn, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion möchte mit dem vorliegenden Antrag Europol zu einer europäischen Bundespolizei ausbauen. Die Vorstellungen von CDU und CSU – wir haben Herrn Schuster ja gehört – gehen in die gleiche Richtung. Sie haben in Ihrem Europawahlprogramm eine alte Formulierung von Helmut Kohl aufgegriffen und fordern nun ein europäisches FBI. Europäische Bundespolizei und europäisches FBI: Diese schillernden Begrifflichkeiten mögen vielleicht als vage Zukunftsvisionen einen gewissen Reiz haben. Mit der gegenwärtigen Situation der Europäischen Union und der Verfasstheit von Europol haben solche Modelle allerdings nur sehr wenig zu tun.
Ein europäisches Pendant zur deutschen Bundespolizei oder dem amerikanischen FBI würde eine intensive Kooperation ihrer Mitgliedsländer und eine weitgehende Harmonisierung auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafprozessrechts voraussetzen. Im Interesse einer ehrlichen Sicherheitspolitik ist es notwendig, einzugestehen, dass wir davon noch meilenweit entfernt sind.
Um es klar zu sagen: Ich bin durchaus der Ansicht, dass es Formen der Kriminalität gibt, die eine grenzüberschreitende Kooperation auf europäischer Ebene erfordern. Auch der mantraartige Hinweis, dass Kriminalität vor Grenzen keinen Halt mache, mag zwar grundsätzlich richtig sein. Nur wird ja damit oft impliziert, dass keine effektive Strafverfolgung mehr möglich sei, sobald ein grenzüberschreitender Vorgang vorliege. Doch das ist ebenso falsch wie irreführend.
({0})
Meine Damen und Herren, das Stichwort „FBI“ und der Blick auf die Geschichte dieser Behörde, vor allem in der Zeit ihres Direktors Edgar Hoover, als das FBI in beispielloser Weise Politiker und Personen des öffentlichen Lebens überwachte, sind durchaus lehrreich. Es führt uns vor Augen, dass eine Polizeibehörde, die keinen klaren Regeln unterworfen und nicht in erforderlichem Umfang kontrolliert wird, selbst zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit werden kann. Deshalb darf es eine Kompetenzerweiterung bei Europol nur dann geben, wenn zuvor eine wirksame Fach- und Rechtsaufsicht sowie eine demokratische Legitimation durch parlamentarische Kontrolle sichergestellt sind.
({1})
Das in der Europäischen Union geltende Subsidiaritätsprinzip erfordert es, dass die Gemeinschaft und ihre Institutionen nur dort tätig werden, wo bestimmte Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht verwirklicht werden können. Deshalb ist es wichtig, genau zu prüfen, bei welchen Straftatbeständen wirklich die Notwendigkeit besteht, Befugnisse von deutschen Polizeibehörden auf Europol zu übertragen.
Angesichts dessen halte ich es für hochproblematisch – jetzt bin ich wieder beim FDP-Antrag –, dass schon allein der nicht eindeutig definierte Begriff „organisierte Kriminalität“ eine Zuständigkeit von Europol begründen soll.
({2})
Fast jedes Vermögensdelikt, das von mehr als einer einzelnen Person begangen wird,
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könnte nach den unklaren, schwammigen Zuordnungen organisierte Kriminalität sein.
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– Ja, auch grenzüberschreitend. – So besteht die Gefahr – auch dies sollte eine Lehre aus der Geschichte des FBI sein –, dass sich Europol seine Kompetenzen selbst gibt und bei Bedarf erweitert. Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg.
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Für eine effektive Kontrolle der Polizeibehörde ist es daher unerlässlich, dass nicht solche politischen Globalbegriffe, sondern klar gefasste Straftatbestände der Ausgangspunkt für polizeiliches Handeln sind.
Meine Damen und Herren, auch nach der Europol-Verordnung, die einige Verbesserungen gebracht hat, bleibt die parlamentarische und demokratische Kontrolle von Europol äußerst schwach. Im Gemeinsamen parlamentarischen Kontrollausschuss sitzt kein einziger Oppositionsvertreter aus dem Bundestag. Das ist auch nicht akzeptabel.
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Europol agiert praktisch weisungsfrei und muss sich weder gegenüber einem Staatsanwalt noch gegenüber einem Ermittlungsrichter rechtfertigen. Die EU-Agentur Eurojust, die für justizielle Fragen zuständig ist, führt keine Aufsicht über Europol. Zwischen Eurojust und Europol ist lediglich eine punktuelle Kooperation vorgesehen. Eine europäische Staatsanwaltschaft, die, wie wir es von polizeilichen Ermittlungen in Deutschland kennen, Herrin des Verfahrens wäre, existiert in Europa nicht. Sie soll frühestens Ende 2020 kommen und dann auch nur für Straftaten zuständig sein, die den EU-Haushalt betreffen. Während also der europäische Polizeiapparat wächst und wächst und nach dem Willen der FDP und anderer Fraktionen weitere Kompetenzen erhalten soll, stagnieren die Kontrollmechanismen auf einem sehr niedrigen Niveau. Diese Entwicklung muss dringend gestoppt werden.
({7})
Eine weitere Verlagerung von Kompetenzen darf es aus Sicht der Linken nur geben, wenn zuvor die eklatanten Kontrolldefizite von Europol angegangen werden.
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Sofern es um die Prävention und die Verhütung von Straftaten geht, für die Europol nach der Europol-Verordnung zuständig sein soll, muss man sagen: Bestimmte Formen einer vorsorglichen Datenspeicherung durch Europol etwa wären in Deutschland unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohnehin kaum oder gar nicht zulässig.
Mein Fazit lautet deshalb: Wir brauchen nicht nur eine bessere demokratische und justizielle Kontrolle von Europol. Wir müssen uns vor allem Gedanken darüber machen, wie wir in der EU die notwendigen Rechtsgrundlagen schaffen, um Grundrechte und Verfahrensrechte von Betroffenen besser zu schützen. Der Antrag der FDP leistet dazu leider keinen Beitrag.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hahn. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schuster, als Sie vorhin in Ihrer Schwarz-Weiß-Malerei über die Vorratsdatenspeicherung gesprochen haben,
({0})
hätten Sie wenigstens einmal die Haltung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts erwähnen können.
({1})
Wir haben gestern 70 Jahre Grundgesetz gefeiert. Angesichts dessen hätten Sie das ruhig einmal erwähnen können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, das sind ganz schön dicke Bretter, die Sie dort bohren wollen.
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Hut ab! Aber im Ernst: Wir finden das auch ziemlich gut. Ich kenne auch niemanden, der diesen Ansatz richtig schlecht findet. Man muss sich nur einmal die Kriminalitätssituation in Europa anschauen. Da braucht man noch nicht einmal die Gefahr des grenzüberschreitenden Terrorismus zu bemühen. Allein wenn man sich Fälle der Allgemeinkriminalität betrachtet, ist jedem klar, dass solche Phänomene auch europäisch bekämpft werden müssen.
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Deshalb fordern auch wir Grüne seit langem – ganz ähnlich wie Sie – den Aufbau eines europäischen Kriminalamts, aber – jetzt kommt vielleicht ein entscheidender Unterschied – nach Vorbild des Bundeskriminalamts und kein europäisches FBI. Das sei an dieser Stelle auch noch einmal gesagt.
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Was aber ein europäisches Kriminalamt im Kern bedeutet und wie voraussetzungsvoll das ist, macht Ihr Antrag gut deutlich. Daran kann man sehen, wie sich aus der einfachen Forderung, Europol mehr Ermittlungskompetenzen zu geben, sehr schnell ein ganzer Baum aus Abhängigkeiten entwickeln kann, wenn man die Sache zu Ende denkt. Sie haben das in Ihrem Antrag geschrieben: Rahmen-Strafprozessordnung, Rahmen-Strafrecht und Rahmen-Gefahrenabwehrrecht. Das Ganze muss auch noch gerichtlich überprüfbar sein, wenn es am Ende um Eingriffsmaßnahmen geht. Die Europawahl in knapp einer Woche darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass das nicht nebenbei und auf die Schnelle umgesetzt werden kann. Wir reden hier über ein echtes Zukunftsprojekt. Das ist nichts, was man nach einer Europawahl flott machen kann.
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Es liegt nicht in der Entscheidungshoheit des Deutschen Bundestags, was aus Europol wird. Auch da müssen Sie – nicht nur Sie, sondern im Idealfall wir alle – 28 Mitgliedstaaten davon überzeugen; ich hoffe im Übrigen, dass es 28 bleiben. Dass das kein Selbstläufer ist, muss ich Ihnen auch nicht erklären. Wir sollten uns an dieser Stelle daher auch Gedanken darüber machen, wie wir im Rahmen der bestehenden Strukturen für Verbesserungen bei der Kriminalitätsbekämpfung und der polizeilichen Zusammenarbeit sorgen können. Wir Grüne wollen zum Beispiel ein europaweites Austauschprogramm für Polizistinnen und Polizisten ins Leben rufen und die Zusammenarbeit in länderübergreifenden Ermittlungsteams konkret fördern, indem wir diese mit zusätzlichen Mitteln aus dem EU-Haushalt ausstatten.
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Denn es führt kein Weg an einer engeren Zusammenarbeit der Polizeien und der anderen Sicherheitsbehörden in Europa vorbei. Institutionen der Europäischen Union, die diese Zusammenarbeit fördern, müssen deshalb ganz gezielt gestärkt werden.
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Dabei geht es übrigens, Herr Schuster, um viel mehr als um Datenaustausch; das wird manchmal vergessen. Sie haben die sogenannten Joint Investigation Teams angesprochen. Sie leisten schon heute einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit in einem gemeinsamen Europa. Es ist unsere Aufgabe, den Rahmen und die Ziele so zu setzen, dass mehr europäische Staaten auf diese Weise gut zusammenarbeiten können. Das schließt eine Zentralisierung, wie man sie langfristig mit einem europäischen Kriminalamt anstreben kann, nicht per se aus. Aber auch in Europa gilt erst einmal – genauso wie im deutschen Bundesstaat –: Polizei ist Ländersache. Das sollte nicht einseitig als Problem begriffen werden; denn fast alle wesentlichen Entscheidungen für eine gute Sicherheitspolitik können die Menschen vor Ort am besten treffen. Trotz bekannter Schwächen und Probleme hat sich der Föderalismus in Deutschland auch in der Sicherheitspolitik bewährt. Diese Erfahrungen sollten auf europäischer Ebene berücksichtigt werden.
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Eine engere Zusammenarbeit muss ganz dringend mit einer Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle von Europol einhergehen. Das gilt schon heute und erst recht dann, wenn Europol ausgebaut werden soll. Die parlamentarische Kontrolle muss wesentlich effektiver werden.
({10})
Sie muss gemessen an dem, was wir heute haben, unbedingt praktikabler werden. Frau Mittag, zwei Sitzungen im Jahr reichen da bei weitem nicht aus; ich denke, Sie stimmen mir darin zu. Es muss zudem völlig anders organisiert werden. Die Opposition muss besser beteiligt werden.
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Ich schätze unsere Berichterstatterrunden sehr. Aber Sie stimmen mir, glaube ich, auch zu, dass da noch eine Menge Luft nach oben ist. Wir sind vom Idealfall noch ein ganzes Stück entfernt.
Nicht zuletzt müssen wir unsere nationalen Sicherheitsstrukturen reformieren, wenn wir auch in Europa erfolgreich sein wollen. Dazu liegen sowohl von Ihnen als auch von uns Grünen einige Vorschläge auf dem Tisch, über die wir dringend weiter diskutieren müssen und von denen wir viele relativ schnell umsetzen könnten, wenn es dafür eine Mehrheit hier im Haus gäbe. Wenn wir also unsere Sache gut machen wollen und in Bezug auf die deutsche Sicherheitsarchitektur kluge Lösungen finden und gute Entscheidungen treffen, dann können wir auch die europäischen Strukturen zu einer echten Sicherheitsarchitektur weiterentwickeln.
Zum Schluss möchte ich noch Folgendes sagen, weil vorhin etwas polemisch auf den Europawahlkampf hingewiesen wurde: Ich finde es gut, dass wir eine Woche vor der Europawahl über ein sehr wichtiges europäisches Thema diskutieren. Wenn wir das anhand Ihres Antrags tun können, dann finde ich das erst einmal nicht schlecht. Ich hoffe nur – diese Bemerkung sei mir noch gestattet –, dass Sie diesen Antrag nicht im Sinn eines schnellen Punktgewinns aufgesetzt haben, sondern dass wir über die betreffenden Angelegenheiten hier im Parlament mit aller Ernsthaftigkeit diskutieren und uns mit den Fragen rund um die deutsche und die europäische Sicherheitsarchitektur eingehend befassen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Mihalic. – Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Jürgen Irmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich zunächst im Namen der Union – ich hoffe, auch im Namen der anderen Fraktionen – all denen Dank sage, die bei Europol ihrer Tätigkeit nachkommen. Europol inklusive der Exekutivdirektorin Frau De Bolle leistet hervorragende Arbeit. Das muss man bei dieser Gelegenheit ausdrücklich anerkennen.
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Liebe Kollegen von der FDP, Ihr Antrag ist natürlich ausschließlich aus hehren Motiven entstanden; das wissen wir alle. Aber er ist insofern ganz gut – das ist schon angeklungen, liebe Frau Mittag –, als dass wir über das Thema Europol diskutieren können. Ich will in der Kürze der Zeit auf Ihren Antrag eingehen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Terroristische Anschläge werden bedrohlicher. Die organisierte Kriminalität stellt ein Bedrohungspotenzial dar genauso wie die Onlinekriminalität. Die nationalen Strafverfolgungsbehörden stoßen an ihre Grenzen. Die internationale Zusammenarbeit ist verbesserungsfähig; auch das ist richtig. Das Verbrechen ist über die Binnengrenzen hinaus vernetzt. Letzteres ist weiß Gott keine neue Erkenntnis; das ist so. Verbrechen kennt leider keine Grenzen. Deshalb sagen Sie von der FDP: Wir brauchen ein europäisches Kriminalamt; denn der Schutz der Bevölkerung ist Kernbestand staatlicher Souveränität. – Richtig, das kann man nur unterstreichen. Ohne Sicherheit gibt es keine individuelle Freiheit; das ist so.
Sie sagen vor diesem Hintergrund: Europol braucht mehr Personal und mehr Mittel. – Ja, auch das ist völlig richtig. Aber ich füge hinzu: nicht nur mehr Personal und mehr Mittel, sondern auch die technischen Möglichkeiten, um Interoperabilität überhaupt gewährleisten zu können. Entscheidend für den Erfolg von Europol als Hotspot der Datenlieferung, -analyse und -auswertung sowie der Information der Mitgliedstaaten sind der Datenfluss, der Datenaustausch und das Gewinnen von Daten. Das bedeutet – darauf hat Kollege Schuster völlig zu Recht hingewiesen; genau das ist Ihr politisches Problem –: Wenn man etwas auswerten und analysieren will, braucht man zuvor Daten. Man muss also die Messenger-Daten erfassen können. Man braucht
({1})
die Vorratsdatenspeicherung, die Daten aus der Kfz-Scannung, der Schleierfahndung und längere Speichermöglichkeiten. Das sind letzten Endes die Grundvoraussetzungen für den Erfolg von Europol.
({2})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin, FDP-Fraktion?
Bitte schön.
Herr Kollege, ich höre jetzt zum zweiten Mal aus den Reihen der Union, dass die Vorratsdatenspeicherung so elementar sei für die polizeiliche Arbeit. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass polizeiliche Arbeit gar nicht ohne Vorratsdatenspeicherung möglich ist. Das heißt also, wir leben in Deutschland seit Jahren völlig unsicher, haben quasi keine Ermittlungsansätze. Ich frage mich, wie die Polizei in Deutschland dann überhaupt zu Ermittlungsansätzen und zu Ergebnissen kommen kann. Offensichtlich geht es auch anders.
Meine Frage ist nun: Wenn Sie sagen, es geht nicht ohne Vorratsdatenspeicherung, warum sind Sie dann seit Jahren nicht in der Lage, ein verfassungsgemäßes Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vorzulegen?
({0})
Ich bedanke mich für die Frage, Herr Kollege. – Die Vorratsdatenspeicherung ist aus unserer Sicht unverzichtbar, und zwar nicht nur aus unserer Sicht – das ist relativ unerheblich –, sondern auch aus Sicht aller entscheidenden Behörden, die mit dem Thema zu tun haben,
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wie der Bund Deutscher Kriminalbeamter, der sich öffentlich dafür ausgesprochen hat, dass wir das benötigen. Ich erinnere auch an das Bundeskriminalamt.
({1})
– Jetzt bin ich dran, Herr Kollege Notz. Ich stehe am Mikrofon; da bin ich per se etwas lauter als Sie. – Das Bundeskriminalamt beispielsweise hat im Kontext von Ermittlungen gegen die Mafia erklärt,
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dass wir faktisch eine kaum umsetzbare Form der Vorratsdatenspeicherung haben.
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Deshalb brauchen wir eine entsprechende Gesetzesänderung.
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Dazu braucht man parlamentarische Mehrheiten, und da wäre es schön, wenn Sie dabei sind. Wir laden Sie zu einer Gesetzesinitiative ein.
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Sie haben es bisher doch immer abgelehnt.
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Sie haben doch gesagt, Sie wollen die Vorratsdatenspeicherung abschaffen. Sie sind der Ungeeignete, uns in dieser Frage Ratschläge zu geben.
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Meine Damen und Herren, der geschätzte Kollege Kubicki, den ich jetzt virtuell in der Reihe vor mir sehe,
({8})
hat vor wenigen Tagen erklärt: Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, nicht mehr Überwachung. Wir brauchen mehr Menschen, die analysieren. – Lieber Herr Kollege Kubicki, bei aller wirklich großen Wertschätzung: Was will ich mit netter, kollegialer Zusammenarbeit, wenn ich keine Informationen habe, die ich analysieren kann? Das ist doch der springende Punkt.
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Wir haben keine Kenntnisse von Vernetzungen, keine Kenntnisse von Strukturen; das ist aber genau das, was wir brauchen.
Meine Damen und Herren, ich akzeptiere nicht, dass in diesem Staate de facto – zumindest partiell – der Datenschutz zum Täterschutz mutiert. Das ist die falsche Richtung. Deshalb müssen wir hier eine entsprechende gesetzliche Änderung hinbekommen.
Abschließend: Ich habe bei Ihnen wirklich den Eindruck, dass unsere Sicherheitsbehörden für Sie das größere Problem sind als die Kriminellen.
({10})
Ich habe vor unseren Sicherheitsbehörden inklusive Europol und Interpol keinerlei Sorge. Sie machen eine hervorragende Arbeit.
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Aber dazu gehört der optimale Datenaustausch. Vor unseren Sicherheitsbehörden habe ich deshalb keine Angst, weil ich überzeugt bin, dass sie bei aller individuellen Unzulänglichkeit des Einzelnen hervorragende Arbeit machen, seriös, verantwortungsbewusst und professionell arbeiten.
Herr Kollege.
Sorge bereiten mir, meine Damen und Herren, die Kriminellen: Sie sind der Feind der Freiheit. Sie kämpfen mit allen illegalen Methoden. Sie gilt es deshalb zu bekämpfen – mit allen rechtsstaatlichen Mitteln.
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Herr Kollege Irmer, –
Und das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns, meine Damen und Herren.
({0})
– der Kollege von Notz möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Wer?
Kollege von Notz.
Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Irmer, vielen Dank für das Zulassen der Zwischenfrage. – Sie müssen mir das jetzt noch einmal erklären. Wenn die Lage, wie Herr Seehofer sagt, im sichersten Land der Welt – dem können Sie ja widersprechen; das ist Ihr gutes Recht – ohne Vorratsdatenspeicherung so prekär ist, warum präsentieren Sie dann kein funktionierendes Gesetz?
({0})
Wie viele Jahrzehnte will die CDU/CSU-Fraktion noch regieren, ohne zu liefern? Ich verstehe es nicht. Können Sie einfach die Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis nehmen, nach der Sie nicht in der Lage sind, ein verfassungskonformes Gesetz zu präsentieren,
({1})
sodass wir uns mit Alternativen auseinandersetzen müssten?
Herzlichen Dank.
({2})
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege von Notz, ich lade auch Sie genauso herzlich ein, an der Gestaltung eines entsprechenden Gesetzes mitzuwirken.
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Aber Sie haben die Vorratsdatenspeicherung doch genauso abgelehnt wie die Kollegen von der FDP, von links außen ganz zu schweigen.
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In diesem Rahmen braucht man nun einmal eine schöne und im Optimalfall fraktionsübergreifende Zusammenarbeit. Ich lade Sie herzlich dazu ein.
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Natürlich hat der Bundesinnenminister recht, wenn er sagt: Wir leben in einem sicheren Staat. – Das ist so. Aber das Bessere ist der Feind des Guten,
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und wir haben immer noch zu viele Verbrechen in Deutschland; es sind ungefähr 5,8 Millionen jedes Jahr. Jedes einzelne ist eines zu viel. Deshalb müssen wir gemeinsam alles daransetzen,
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die Lage der inneren Sicherheit zu verbessern. Sie sind herzlich eingeladen, da mitzuwirken, meine Damen und Herren.
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Vor diesem Hintergrund – wir wissen, dass es nur um die hehre Motivation geht – und in Bezug auf die Kernaussage, dass wir auf der europäischen Ebene zusammenarbeiten wollen, brauchen wir Ihren Antrag nicht. Wir müssen erst einmal die Grundvoraussetzungen schaffen, und wenn Sie daran mitwirken, meine Damen und Herren, dann sind wir einen großen Schritt weiter. Bei uns ist das Thema „FBI auf europäischer Ebene, Europol“ in den besten Händen. Dazu brauchen wir Ihren Antrag nicht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Irmer. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Lars Herrmann, AfD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 26. Mai, also in neun Tagen, ist Europawahl. Das könnte zunächst eine Erklärung für diesen seltsamen Antrag sein. Dennoch ändert es nichts daran, dass die FDP ihre fachliche Expertise zum Thema innere Sicherheit offensichtlich aus Fernsehserien wie „Alarm für Cobra 11“ oder
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„Kommissar Rex“ zu beziehen scheint.
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Zumindest möchte man das hoffen; denn ansonsten bliebe nur die Erklärung, dass die FDP aus dem Europawahlprogramm der Grünen abgeschrieben hat.
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Dabei sollte sich mittlerweile rumgesprochen haben, dass innere Sicherheit und Grüne eben nicht zusammenpassen. Das trifft leider auch auf Ihren Antrag zu.
Sie möchten den Terrorismus besser grenzüberschreitend bekämpfen, und auch gegen die organisierte Kriminalität will man verstärkt vorgehen. Alles supertolle Ziele; aber was Sie an Maßnahmen zur Erreichung dieser wichtigen Ziele fordern, ist vollkommen realitätsfern und würde sogar genau das Gegenteil verursachen.
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Sie wollen kostbare polizeiliche und kriminalistische Ressourcen aus Deutschland abziehen und in Brüssel eine Art europäisches Bundeskriminalamt installieren. Dazu träumen Sie von einem gemeinsamen europäischen Gefahrenabwehrrecht, also nichts anderes als einem europäischen Polizeigesetz. Das allein ist schon vollkommen absurd, weil wir es hier bei uns nicht einmal hinbekommen, ein einheitliches Polizeigesetz für Deutschland zu verabschieden. Seit 1977 bastelt ein Land, nämlich Deutschland, an einem solchen Musterpolizeigesetz, und jetzt wollen Sie in 28 Mitgliedstaaten auf die Schnelle so ein Gesetz etablieren.
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Dazu soll dann auch noch ein europäisches Strafrecht und Strafverfahrensrecht eingeführt werden, also ein europäisches Strafgesetzbuch und eine europäische Strafprozessordnung.
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Dabei hält man sich nicht mal an die Dublin-Verordnung, und selbst die Einführung eines gemeinsamen europäischen Asylgesetzes zeichnet sich nicht einmal im Ansatz ab. Bei allem gebotenen Respekt, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Freien Demokraten: Seit wann leiden Sie an einem derartigen Realitätsverlust?
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Und vor allem: Wann genau wollen Sie denn damit anfangen, den Terrorismus und die organisierte Kriminalität zu bekämpfen, wenn Sie die EU vorher erst komplett auf den Kopf stellen und 28 Mitgliedstaaten dazu bringen müssen, weitere Souveränität nach Brüssel abzugeben?
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhle?
Ja, selbstverständlich.
Ganz herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich habe Ihren Ausführungen aufmerksam zugehört, aber ich frage mich: Wer ist eigentlich in der AfD-Fraktion der Berichterstatter für Europol? Es gibt ja – das hat die Kollegin Mihalic ganz richtig beschrieben – alle paar Wochen ein Berichterstattergespräch zur Sicherstellung der parlamentarischen Kontrolle von Europol, das von Herrn Irmer und Frau Mittag gemacht wird. Da sind immer Frau Jelpke, Frau Mittag, Frau Mihalic für die Grünen, Herr Irmer für die Union und wir für die FDP dabei. Warum habe ich eigentlich seit der Konstituierung des Deutschen Bundestages noch nicht ein einziges Mal im Berichterstattergespräch zur Vorbereitung der parlamentarischen Kontrolle von Europol einen Vertreter der AfD gesehen? Warum drücken Sie sich vor Ihrer Arbeit als Berichterstatter für dieses Thema? Ist es Ihnen möglicherweise egal?
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Herr Kuhle, so befruchtend scheinen diese Europol-Berichterstattungssitzungen nicht zu sein.
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Herr Kuhle, wenn das Ergebnis ist, dass Sie hier so einen absurden Antrag vorlegen, dann können wir uns das schenken. Aber wir geloben Besserung.
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Ich denke, die Aufgabe, organisierte Kriminalität und Terrorismus zu bekämpfen, ist viel zu wichtig, als dass man auf derartige Träumereien setzen könnte.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir für etwas Ruhe sorgen? Der Redner hat Anspruch darauf, dass man ihm zuhört, damit man auf ihn reagieren kann.
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Ich bin das Geschrei aus dem Innenausschuss gewohnt. – Also, zur Realität zurück. Ich erkläre Ihnen sehr gern mal die Realität.
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Wenn ich heute einen KTU-Antrag ausfülle, also einen Antrag auf kriminaltechnische Untersuchung einer sichergestellten Spur, bekomme ich frühestens im November ein Ergebnis. Selbst das wäre noch schnell. Also sechs Monate Wartezeit bei der Auswertung von Spuren, und das in dringenden Ermittlungssachen! Es ist schön, dass hier in Berlin am Bahnhof Südkreuz Kameras mit Gesichtserkennung eingesetzt werden,
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nur gibt es in Deutschland auch noch andere Bahnhöfe. Dort hängen Videokameras, die älter als die Steinkohle sind, und auf den Bildern können Sie noch nicht einmal Farben, geschweige denn Gesichter erkennen. Außerdem verlangt die Verfolgung von gestohlenen hochpreisigen Kraftfahrzeugen mit einem 120‑PS-Golf-Variant oder einem rostigen Mercedes Vito nicht nur fahrerisches Können,
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sondern auch eine gesunde Portion Optimismus der verfolgenden Polizeibeamten.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ich sagen möchte: Wir müssen unsere Polizeibehörden im Hier und Jetzt vernünftig ausstatten und ausrüsten, und zwar materiell, personell und mit den entsprechenden rechtlichen Befugnissen. Europol soll weiter eine Zentralstellenfunktion einnehmen, vor allem mit Blick auf das Informationsmanagement. Aber dazu braucht es diesen seltsamen Antrag nicht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Christian Petry, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die AfD verbleibt in ihrer Parallelwelt; das ist weiter nicht schlimm.
Ich habe zunächst einmal ein Verständnisproblem beim Antrag der FDP; inhaltlich gehe ich gleich noch darauf ein. Sie reden von einem europäischen FBI, und in der Überschrift steht „europäisches Kriminalamt“. Frau Mihalic hat es schon angedeutet – und der Unterschied ist Ihnen ja klar –: Wir haben die Trennung von Staatsschutz und Verfassungsschutz. – Das hat auch einen guten Grund. Natürlich gibt es enge Zusammenarbeit, aber man sollte es in der Sprache und im Aufbau nicht einfach vermischen. Wenn es um das Kriminalamt geht: klare Trennung von Staatsschutz und Verfassungsschutz. Das hat historische Gründe; die braucht man hier nicht aufzuarbeiten. Wir sollten bei dieser Trennung sauber bleiben. Ich glaube, das ist sehr wichtig.
Zunächst einmal freut es mich, dass der Kollege Schuster die Plakate der FDP mit Haribo verglichen hat; denn in der Tat haben sich jetzt, kurz vor der Wahl, sage ich mal, die europäischen Kräfte in der FDP nach vorne gespielt, während die Nationalliberalen einen Schritt zurückgehen müssen.
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– Es gibt ein paar Nationalliberale bei Ihnen, und das können Sie auch alles nachlesen.
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Es erweckt den Eindruck, dass Sie aufgrund des Europawahlkampfes diese Töne hier anschlagen.
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Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Sie fordern etwas mehr Geld; das ist schön. Sie fordern mehr Personal; das ist auch immer gut. Wenn es aber um die Finanzierung der Europäischen Union geht, sind Sie strikt dagegen, auch nur 1 Euro mehr auszugeben. Das müssen Sie dann mal erklären.
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Insofern ist das interessant.
Es ist aber was dran. Ich meine, man will ja das Positive sehen. Sie wollen die europäischen Institutionen weiterentwickeln, die Rechte weiterentwickeln. Das ist auch dringend notwendig. Dabei haben wir Sie gerne an unserer Seite. Zum Beispiel hat Frontex, das wir ausbauen wollen, das Problem, dass die polizeilichen Befugnisse der Frontex-Mitarbeiter nicht ausreichend gegeben sind. Da muss griechisches, italienisches und sonstiges Polizeirecht angewandt werden. Ich weiß nicht, ob jeder Polizist, der dahin entsandt wird, dieses Polizeirecht zu 100 Prozent kennt. Also, es ist viel Luft nach oben, wenn es darum geht, die europäischen Institutionen, das Recht weiterzuentwickeln. Wir sind immer sehr dafür.
Europäische Rahmen-Strafprozessordnung, europäisches Strafrecht und europäisches Gefahrenabwehrrecht sind gute Ideen und Visionen; wir haben nichts dagegen. Ich frage mich nur, ob wir das mit unseren sozialistischen Freunden in Rumänien oder mit den Konservativen in Ungarn problemlos hinbekommen.
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Das wird ein bisschen schwierig werden. Ich glaube, da haben wir aktuell ein paar Probleme.
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– Ein gutes Stichwort; den wollte ich gerade nennen. – Wenn Sie schon mit Ihren neuen Freunden in Frankreich, auch mit Herrn Macron demnächst zusammenarbeiten, dann bringen Sie ihn doch auch mal dazu, sich bei den Kompetenzregelungen im Bereich der inneren Sicherheit auf europäischer Ebene zu bewegen.
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Das wäre doch mal ein guter Schritt. Das ist Ihre Parteienfamilie, in der Sie Einfluss nehmen können, wenn Sie auch nur etwas von dem umsetzen möchten, was Sie hier ankündigen. Ich glaube, dass Sie in diesem Punkt noch einiges liefern können. Dass dies ein Schaubudenantrag ist, ist hier schon mehrfach genannt worden.
Was ist noch notwendig? Auch das ist hier genannt worden. Natürlich brauchen wir die Möglichkeit einer besseren Zusammenarbeit der Polizeien. Die Schnittstellen sind oft das Problem. Mehr Personal ist immer wichtig, wobei ich aus früherer Tätigkeit im Personalrat und im Umgang mit meinen Polizeikollegen weiß: Man muss bei der Polizei immer aufpassen. Herr Beckstein, früherer Ministerpräsident und Innenminister in Bayern, hat in einer ähnlichen Debatte mal zu Herrn Kanther gesagt: Niemand tut der Polizei ungestraft was Gutes. – Also, da muss man schon aufpassen. Insoweit ist es wichtig, dass die Schnittstellen verbessert werden.
Das kann man in der Bundesrepublik Deutschland sehen; da haben wir die Probleme schon. Ich lade gerne jeden ein, mal ins Saarland zu kommen. Der Grenzübergang Goldene Bremm ist eine der Hauptschleuserlinien. Die Polizei arbeitet dort in einer gemeinsamen Dienststelle mit den französischen Kollegen zusammen. Gehen Sie mal dahin und schauen Sie, wie dort der Datenaustausch stattfindet. Ich erkläre es Ihnen; das geht ganz einfach. Da sind zwei Tische, ein französischer Kollege, ein deutscher Kollege; beide haben ihren PC mit Bildschirm. Der Datenaustausch geschieht wie folgt: Der Franzose dreht den Bildschirm um, damit der deutsche Kollege etwas lesen kann, und der deutsche Kollege dreht ihn um, damit der Franzose etwas lesen kann. Das ist Datenaustausch im Jahr 2019. Ich glaube, da ist noch ein bisschen Luft nach oben.
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Ich glaube, hier können wir viel auf europäischer Ebene – auch über Europol und das Engagement dort – erreichen. An der Stelle geht der Dank von meiner Seite an die Polizei – nicht nur an Europol, sondern auch an die Bundespolizei, die Länderpolizeien, die hier hervorragende Arbeit leisten. Sie brauchen sich nicht von rechts beleidigen und sich vorwerfen zu lassen, nichts würde funktionieren. Das sind Männer und Frauen, die für uns einstehen. Sie können sich des Dankes von unserer Seite gewiss sein. Herzlichen Dank an alle, die hier tätig sind!
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Zum Abschluss. Natürlich kann man fordern, auf Frist zu überlegen, wie wir die europäischen Verträge ändern, um im Polizeirecht in Europa bessere Koordination und Durchsetzungsfähigkeit möglich zu machen. Aber, wenn man ernsthaft mehr für Sicherheit tun will, dann muss man das, was alle Kollegen vorher gesagt haben, auch anwenden. Man muss sehr pragmatisch mit der Sache umgehen und die Schritte, die möglich sind, jetzt auch tun und verbessern. Ein Punkt lautet, mehr Personalausstattung und damit verbunden auch mehr Geld im mehrjährigen Finanzrahmen für diese Aufgabenerledigung bereitzustellen. Das ist ein Punkt, bei dem wir gerne mit dabei sind und sagen: Das muss sein.
Und: Die parlamentarische Kontrolle muss verbessert werden. Ich weiß nur nicht, ob die Opposition eine homogene Opposition ist und ob Sie, wenn Sie davon reden, sie müsse beteiligt werden, immer alle meinen. Ich habe da so meine Zweifel. Die gerichtliche Kontrolle ist selbstverständlich sehr wichtig.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.
Ich glaube, das sind Dinge, bei denen wir gerne zusammenarbeiten.
Herr Kuhle, wenn Sie doch ein europäisches FBI möchten, dann sind wir darauf gespannt, wer der J. Edgar Hoover Europas wird.
Herr Kollege, jetzt bitte Ihren letzten Satz.
Der Präsident hinter mir hat es schon gesagt – ich glaube, er ist kein Kandidat dafür.
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Insofern ist da noch viel zu diskutieren.
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Der Antrag wird verwiesen – –
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Herr Kollege, ich musste Ihnen jetzt bedauerlicherweise, weil ich den Kubicki machen musste, das Wort entziehen.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Stephan Thomae.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Herr Kollege Petry, ich hatte streckenweise bei den Reden von Ihnen und auch dem Kollegen Schuster den Eindruck, es sei etwas Schlechtes und Schlimmes, neun Tage vor einer wichtigen Europawahl ein europäisches Thema hier im Bundestag zu präsentieren.
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Das ist sicherlich nicht so; darin stimmen Sie mir sicherlich zu. In Ihren Reden war viel Kritik, aber waren auch viele Übereinstimmungen zu hören.
Wenn man die Leute fragt: „Was erwartet ihr euch von Europa? Was ist euch wichtig?“, dann rangiert weit vorne immer das Thema Sicherheit. Europa soll mehr Sicherheit schaffen. Wir nehmen das Thema „Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ernst.
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Die Dinge gehören zusammen. Sie bilden keinen Gegensatz. Freiheit entsteht auch durch Sicherheit, und Sicherheit entsteht auch durch Recht. Gerade in Zeiten, in denen die Grenzen zwischen Terrorismus, organisierter Kriminalität und auch Internetkriminalität mehr und mehr verwischen, wird es wichtiger, dass wir die Zusammenarbeit verstärken.
2015 gab es in Europa ungefähr 40 Terroranschläge mit etwa 350 Todesopfern. Und jedes Mal ertönt erneut der Ruf nach strengeren Gesetzen und mehr Überwachung. Warum? Da schaue ich jetzt den Kollegen Schuster an. Lieber Armin Schuster, wir hätten fast die Uhr danach stellen können, wie lange es braucht, bis Sie das Thema Vorratsdatenspeicherung vorbringen.
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Jedes Mal kommt dann wieder der Ruf nach anlassloser Vorratsdatenspeicherung. Sie tun ja gerade so, als sei es die böse kleine FDP, an der es liege, dass sie nicht kommt.
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Nehmen Sie doch mal zur Kenntnis, dass Ihre Versuche, eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung einzuführen, jedes Mal gescheitert sind – an mittlerweile drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes und des EuGH. Das liegt doch nicht an uns. Es liegt daran, dass Sie es nicht zustande bringen, eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung zu implementieren.
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Aber es liegt ja auch gar nicht daran. Das beste Beispiel ist doch der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg vom 11. Dezember 2018. Der Täter war französischen und deutschen Behörden bekannt.
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Warum hat die Zusammenarbeit nicht optimal funktioniert? Daran lag es doch, dass die Zusammenarbeit nicht funktioniert hat. Die müssen wir verbessern. Es liegt nicht daran, dass die Daten nicht vorlägen, dass die Täter nicht bekannt wären. Es liegt an der mangelnden Zusammenarbeit.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoffmann?
Sehr gerne, Herr Kollege.
Danke, Herr Kollege Thomae, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
Immer gerne.
Sie provozieren natürlich eine solche Frage in dem Moment, wo Sie Einzelfälle herauspicken und sagen: Da lag es mal nicht an der Vorratsdatenspeicherung, sondern an anderen Dingen. – Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, wo es sehr wohl an der Speicherung von Verbindungsdaten gelegen hat. Sie kennen die Zahlen vom BKA? Ich hoffe, sie sind Ihnen bekannt. Im Jahr 2017 konnten 8 400 Fälle von Kinderpornografie im Netz – ich wiederhole die Zahl: 8 400! – in Deutschland nicht weiterverfolgt werden, weil die Verbindungsdaten gefehlt haben. Da erwarte ich von Ihnen jetzt schon eine Erklärung, wie Sie gedenken Phänomene wie „Kinderpornografie im Netz“, die im Übrigen zunehmen, zu bekämpfen, wenn wir auf der anderen Seite solche ernüchternden Zahlen vorgetragen bekommen. Da genügt es von Ihrer Seite nicht, zu sagen: „Ja, das geht so nicht“ und „Sie kriegen das nicht hin“, sondern da hätte ich gerne einen konkreten Vorschlag von Ihnen.
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Herr Kollege Hoffmann, wir sagen doch immer: Bauen Sie gemeinsam mit uns – dazu reichen wir Ihnen die Hand – ein Gesetz mit einer anlassbezogenen Datenspeicherung.
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Das ist doch das Problem, um das es geht: die Anlassbezogenheit.
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Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass Ihnen, bei jedem Ihrer Versuche, eine anlasslose Datenspeicherung einzuführen, in drei Entscheidungen aus Karlsruhe und Luxemburg immer wieder gesagt wurde: Irgendein Anlass muss schon da sein.
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Wenn Sie das hinbekommen, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite; aber es darf eben keine flächendeckende anlasslose Vorratsdatenspeicherung geben. Es liegt nicht an uns. Das liegt an diesen drei Entscheidungen, die auch Sie zur Kenntnis nehmen müssen.
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Deswegen sind wir sehr dafür, dass wir die gemeinsame Terrorabwehr ausbauen und die bestehenden Institutionen wie das gemeinsame europäische Terrorabwehrzentrum ECTC verbessern. Das Gleiche gilt natürlich auch für unser Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum in Deutschland, das GTAZ, bei dem auch wir sagen: Das ist eine sinnvolle, gute Einrichtung.
Das Problem liegt darin, dass Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Verfahrensweisen ungeklärt sind; die Kollegen Strasser und Willkomm aus unserer Fraktion können ein Lied davon singen. Das ist schon bei uns in Deutschland der Fall gewesen. Der Fall Amri ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir hier ein Gesetz brauchen, um die Verfahrensweisen, Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten zu klären, und ein Gleiches benötigen wir auch auf europäischer Ebene. Daran sollten wir arbeiten. Deswegen glaube ich: Wenn wir auf diesem Weg weitergehen, den wir mit diesem Antrag beschreiten – der von Ihnen ja auch anerkannt worden ist –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
– als Ausblick auf die Zukunft –, dann machen wir wirklich Ernst mit einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Philipp Amthor.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir in den letzten Debattenbeiträgen schon wieder so viel Quark von der FDP und den Grünen über die Vorratsdatenspeicherung gehört haben,
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wäre jetzt eigentlich Gelegenheit, sich gleich darüber aufzuregen; aber ich stelle das etwas zurück.
Ich stelle das etwas zurück, um vielleicht doch noch mal das Positive hervorzuheben. Wir müssen schon sagen: Ja, das hat natürlich mit dem Europawahlkampf zu tun; aber es ist positiv, dass wir hier im Deutschen Bundestag auch einmal in einer Kernzeitdebatte so intensiv über Europol diskutieren, und es ist positiv, dass wir auch den Blick darauf richten, stärker zu werden in der Sicherheitsunion, in der Europäischen Union. Es ist richtig, dass auch CDU und CSU dafür arbeiten, dass wir auf dem Weg zur Errichtung eines europäischen Kriminalamts vorankommen.
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Aber was sich unterscheidet, sind der Weg und die Weite, in der wir zu diesem Ziel gelangen wollen. Wir haben uns in unserem Wahlprogramm dazu bekannt – und das ist auch die realistische Einschätzung –, dass wir Europol in den nächsten Monaten vor allem zu einer verbesserten Koordinierungs- und Verbindungsstelle weiterentwickeln wollen. Deswegen geht es jetzt in einem ersten Schritt darum, vor allem die Interoperabilität von Datensystemen zu verbessern.
Aber ja, Ihr Antrag geht deutlich weiter. Die FDP will deutlich mehr operative Befugnisse für Europol; darüber kann man durchaus staunen. Politik fängt mit dem Betrachten der Wirklichkeit an. Wenn man ehrlich ist, dann sieht man, dass Ihr Vorschlag alles andere als realistisch ist; denn er erfordert eine Änderung der europäischen Verträge, die mittelbar, die kurzfristig nicht zu machen ist. Und wenn Sie diesen großen operativen Aufwuchs bei Europol haben wollen, müssten Sie vor allem erklären, wo er denn herkommen soll. Die FDP ist ja die große Digitalpartei; aber, ich glaube, selbst Sie als große Digitalpartei haben noch nicht entdeckt, dass man kurzfristig Bundespolizei- oder Europolbeamte bei Amazon bestellen kann. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass das nicht geht.
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Das ist eine langfristige Aufgabe, und deswegen setzen wir andere Schwerpunkte: Für uns steht im Vordergrund, jetzt die Informationsverarbeitung weiterzuentwickeln; operative Befugnisse sind für uns zuallererst nationale Aufgabe. Deswegen richten wir vor allem den Blick auf die nationalen Behörden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie zu stärken, ist wichtig. Da sollte man sich von Ihnen keinen Sand in die Augen streuen lassen.
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Es wundert mich schon – das will ich auch sagen –, dass ausgerechnet die FDP – und die Debatte hat gezeigt, wie schief das ist – jetzt neue Befugnisse auf europäischer Ebene fordert. Das ist das klassische Bild, die Metapher des Bocks, der sich selbst zum Gärtner machen will. Warum ist das eine schlechte Idee? Weil der Bock erstens ein schlechter Gärtner ist und zweitens den Garten auch noch auffrisst. Genau das machen Sie nämlich mit Ihrer Sicherheitspolitik: Sie wollen Befugnisse bei Europol, aber verhindern auf nationaler Ebene eine konsequent aufgestellte Sicherheitspolitik: gegen Onlinedurchsuchung,
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gegen aktive Cyberabwehr,
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gegen Vorratsdatenspeicherung.
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Das machen wir nicht mit.
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Sie brauchen nicht über Befugnisse auf europäischer Ebene zu reden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir hier über Vorratsdatenspeicherung reden, finde ich es wirklich bemerkenswert, mit welchen juristischen Dünnbrettbohrereien hier argumentiert wird.
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– Hören Sie zu, Frau Mihalic; das ist besser. Wenn Sie reden, können Sie mir nicht so gut folgen.
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– Sehen Sie! Da machen Sie denselben Fehler wie Konstantin von Notz. Er stellt sich bei der Rede vom Kollegen Irmer hin und sagt, das Bundesverfassungsgericht habe gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung ist unwirksam.
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Das stimmt nicht. Wir haben darauf reagiert. Es gibt in der Tat eine Entscheidung, die ein erstes Gesetz verworfen hat.
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Aber wir haben 2015 einen neuen und aus unserer Sicht verfassungskonformen Gesetzentwurf vorgelegt. Es gibt ein Gesetz.
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Volker Ullrich war damals Berichterstatter, einer der besten Juristen unserer Fraktion.
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Ich bin sicher, er wird es gleich noch einmal erklären. Das Bundesverfassungsgericht wird uns bestätigen. Und es ist möglich. Wir haben aus Rücksicht auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen darauf verzichtet, die Vorratsdatenspeicherung jetzt umzusetzen; aber sie ist verfassungsrechtlich möglich.
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Ich hätte das gern auch Herrn von Notz gesagt; er ist jetzt aber losgegangen und liest es wahrscheinlich gerade in der Bibliothek nach. Das ist ihm an dieser Stelle auch zu empfehlen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Also: Die Vorratsdatenspeicherung ist möglich. Wir arbeiten an einer Lösung. Die Intervention des Kollegen Hoffmann hat es deutlich gemacht: Wenn es um Tausende Fälle von Kinderpornografie in Deutschland und in Europa geht, dann brauchen wir diese Instrumente.
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Was wir in diesem Moment brauchen, sind vernünftige Befugnisse für unsere Sicherheitsbehörden und nicht solche Scheindebatten. Wir arbeiten realistisch daran, die Sicherheit in unserem Land und in Europa zu erhöhen. Das bekommt man nur mit CDU und CSU.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Als letzter Redner in dieser Debatte erhält der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion – gerade so hoch gelobt –, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa ist ein Raum für Freiheit, Sicherheit und Recht. Die Menschen erwarten, dass der Staat sie schützt, und das gilt nicht nur für die nationale Ebene, sondern auch für die Europäische Union. Terrorismus, Menschenhandel, Drogenhandel, Geldwäsche und Cyberkriminalität machen nicht an den Binnengrenzen halt. Deswegen brauchen wir Ermittlungsbehörden, die, mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet, den Kampf gegen Kriminelle auf Augenhöhe vornehmen können. Das ist das, was die Menschen von Europa erwarten, und das werden wir einlösen.
Diese vielfältigen Herausforderungen legen es nahe, dass wir die Befugnisse der europäischen Sicherheitsbehörden sukzessive angemessen ausbauen. Das Ziel eines europäischen Kriminalamts ist damit richtig, und wir setzen uns dafür ein. Aber wir wissen auch, dass ein langer Weg vor uns liegt und dass die Integrationsbereitschaft auf europäischer Ebene in diesem Bereich uns viel abverlangt.
Ich will darauf hinweisen, dass die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft keine leichte Angelegenheit war. Wie ursprünglich vorgesehen, durch einstimmige Errichtung, konnte sie nicht realisiert werden, sondern nur durch das sogenannte Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit. Das bedeutet, dass im Augenblick nur 22 von 28 Staaten dabei sind. Die Europäische Staatsanwaltschaft hat weder ein europäisches Verfahrensrecht, noch gibt es ein europäisches materielles Recht. Das zeigt, dass die ersten Schritte getan sind, aber noch ein weiter Weg vor uns liegt, und diesen Weg wollen wir mit Vernunft und Augenmaß gehen.
Wir stellen fest, dass es in Europa verschiedene Datenbanken gibt: Eurodac, das Visa- und Schengener Informationssystem, das Europol-Informationssystem und zukünftig das Einreise- und Ausreisesystem. Wir müssen zunächst einmal dafür sorgen, dass all diese Datenbanken besser vernetzt werden und dass auch die Dateneingabe in diese Datenbanken so erfolgt, dass die nationalen Polizeibehörden davon einen effektiven Mehrwert haben. Wir sind beim Datenaustausch und beim Datenabgleich noch nicht dort, wo wir sein wollen. Es ist ein erster wichtiger Schritt, dass wir die Datenlage in Europa verbessern – zum Schutz unserer Bürger und zur Bekämpfung von Kriminalität.
Dazu brauchen wir, meine Damen und Herren, natürlich auch die Speicherung von Verbindungsdaten; darüber ist schon viel gesprochen worden. Der rechtliche Rahmen ist folgender: Das Bundesverfassungsgericht hat ein erstes Gesetz des Bundes im Jahr 2010 verworfen und hat Leitlinien aufgestellt, wie eine Vorratsdatenspeicherung in Deutschland aussehen kann. Wir haben im Jahr 2015 im Rahmen dieser Leitlinien ein Bundesgesetz verabschiedet. Gegen dieses Gesetz sind Verfassungsbeschwerden anhängig. Es ist noch nicht darüber entschieden.
Der EuGH hat nicht nur die ursprüngliche Richtlinie verworfen, sondern hat gleichzeitig auch die nationalen Vorratsdatenspeicherregelungen in Großbritannien und in Schweden verworfen. Das heißt aber nicht, dass deswegen eine Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich unzulässig wäre, sondern es kommt darauf an, dass der europäische Gesetzgeber eine Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf den Weg bringt und dass dann die nationalen Gesetzgeber im Rahmen dieser neuen Richtlinie dieses notwendige Instrumentarium auch auf den Weg bringen. Dafür treten wir ein.
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Wir wollen nicht, dass die Entdeckung von schwersten Straftaten, dass die Aufklärung von Kriminalität letztlich dem Zufall überlassen wird. Im Augenblick hängt es vom Zufall ab, ob Daten gespeichert sind oder nicht. Das werden wir bei diesen vielen Phänomenbereichen – Terrorismus, Menschenhandel, Drogenhandel, Kinderpornografie – nicht akzeptieren.
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Wir wollen im verfassungsrechtlichen Rahmen eine Regelung haben, um Kriminellen das Handwerk zu legen.
Und ja, wir müssen auch darüber sprechen, wie es gelingen kann, ein europäisches Rahmen-Strafrecht auf den Weg zu bringen. Das wird ziemlich anspruchsvoll werden, weil nämlich die nationalen Rechtsvorschriften in der Frage von Vorsatz und Fahrlässigkeit und die Beweiserhebungsvorschriften ziemlich stark voneinander abweichen. Und gerade weil das so ist, müssen wir sehr sorgfältig einen europäischen Harmonisierungsrahmen setzen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.
Was wir jetzt brauchen, sind ein besserer Datenabgleich, mehr Stellen bei Polizei und Sicherheitsbehörden – das werden wir umsetzen – und das Bewusstsein, dass wir uns hier auf den Weg machen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür streiten!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10164 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach 15 Jahren Bürgerkrieg im Libanon haben sich die Menschen dieses Landes eine fragile Stabilität erarbeitet. Trotz innerer Spannungen, nicht aufgearbeiteter Vergangenheit und wirtschaftlicher Turbulenzen herrscht heute im Libanon weitestgehend Frieden. Dass sich das Land trotz des Krieges im Nachbarland Syrien und der Aufnahme von mehr als 1 Million Flüchtlingen bei etwa 4,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern diese Stabilität bewahrt hat, das verdient, meine Damen und Herren, unsere Anerkennung und unsere Unterstützung.
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Die Bereitschaft zu Kompromissen ist lebensnotwendig für den Libanon. Ohne diese geht es nicht, wenn eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften zusammenleben und sich die Verantwortung für das Gemeinwesen teilen wollen. Wir sollten daher die Kompromissfähigkeit der libanesischen Politik nicht durch Druck von außen unnötig erschweren. Denn wir wollen einen libanesischen Staat, dem immer wieder der Ausgleich und der Kompromiss gelingt, weiterhin unterstützen. Dies geschieht im Interesse der staatlichen – das sieht man ja jeden Tag, wenn man sich die Nachrichten anschaut – und im Interesse der regionalen Stabilität, aber auch aus eigenen Interessen, die wir in der Nachbarschaft haben.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Friedensmission UNIFIL der Vereinten Nationen bleibt zentral für den Libanon und die Entschärfung dieses Konfliktpotenzials. Wie brüchig das ist – wie brüchig die fragile Stabilität ist –, das haben wir ja nun mehrfach beklagen müssen. Ich will hier als Erstes nennen die Tunnel unter der sogenannten Blue Line, der Blauen Linie, die die Demarkationslinie zu Israel darstellt, die durch israelische Sicherheitskräfte identifiziert und aufgedeckt worden sind. Diese Tunnel sind inakzeptabel. Sie bedrohen Israel und sind eine klare Verletzung der Resolution 1701 des Sicherheitsrates.
Wir müssen aber auch feststellen, dass israelische Streitkräfte im Moment Mauerbautätigkeiten an der Blue Line durchführen, teils auch an umstrittenen Abschnitten. Es kommt auch immer wieder zu Verletzungen des libanesischen Luftraums.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so wichtig, das Eskalationspotenzial zu erkennen und einzudämmen. Dafür müssen die Konfliktparteien miteinander sprechen. Das sagt sich so leicht. Das ist in der Praxis kompliziert. Dass UNIFIL für diese Möglichkeit die einzige existierende Plattform bietet, das ist eine große Leistung, die UNIFIL erbringt. Sie wissen: Es gibt einen Drei-Parteien-Mechanismus. Das wird von Israel, aber auch vom Libanon akzeptiert. Diese Gespräche bleiben unerlässlich, um Missverständnisse – gefährliche Missverständnisse – in einer solchen Krisensituation zu vermeiden, um Spannungen abzubauen.
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All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, wäre nicht möglich ohne den engagierten Einsatz der an UNIFIL beteiligten Soldatinnen und Soldaten, auch der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich für ihre professionelle Arbeit in einem Spannungsgebiet danken möchte.
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Es geht – das ist der Schwerpunkt unserer Arbeit, wie Sie wissen – um die Unterbindung des Waffenschmuggels von See. Unser Beitrag zur maritimen Komponente bleibt dafür unerlässlich. Sein Wegfall würde ein Vakuum hinterlassen. Das könnte die Ausrüstung von Gruppen, die die Stabilität des Libanon, aber auch die Sicherheit Israels bedrohen, über den Seeweg wieder ermöglichen.
Zudem leisten wir auch einen konkreten Beitrag zur Situation an der Blue Line, wie ich eben erläutert habe, mit einem kleinen, aber auch, wie ich mich persönlich überzeugen konnte, sehr engagierten Kontingent im Bereich der Grenzsicherung.
Insbesondere durch die deutsche Unterstützung konnte ein Küstenradarsystem aufgebaut werden, damit die libanesische Marine die landgestützte Überwachung der Küstengewässer dann auch wirklich selber übernehmen kann.
Wir wissen alle: Zur wirklichen Verantwortungsübernahme ist es noch ein weiter Weg. Es müssen noch Dinge und Arbeiten erledigt werden, auch im Bereich der Grenzsicherung, um zu verhindern, dass radikale Kräfte in dieses Land einsickern.
Bei all diesen Themenfeldern ist es natürlich die libanesische Regierung, die in der zentralen Verantwortung steht. Aus der wollen und werden wir sie auch nicht entlassen. Deswegen will ich schon sagen: Uns bereiten die paramilitärischen Fähigkeiten der Hisbollah allergrößte Sorgen. Diese Miliz wird immer mehr zu einer fast regulären Armee aufgebaut. Die Hisbollah verstößt auch durch ihre Beteiligung an den Kampfhandlungen in Syrien gegen die Dissoziierungspolitik der libanesischen Regierung. Das ist sozusagen auch die Grundlage dafür, sich aus diesem Bürgerkrieg herauszuhalten. Zu dieser Politik hat sich der Libanon seit 2012 bekannt. Es ist gefährlich und besorgniserregend, wie sich die Hisbollah an dieser Stelle verhält.
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Deswegen sind wir der Meinung, die libanesische Regierung muss offensichtlich mehr tun, um die Bestimmungen der Resolution des Sicherheitsrates umzusetzen. Das richtet sich in Richtung Hisbollah, aber auch anderer bewaffneter Milizen. Damit die libanesische Regierung in die Lage versetzt wird, das zu tun, ist es aber der richtige Weg, die regulären Streitkräfte zu unterstützen. Das tun wir mit unseren Maßnahmen. Das tun wir in enger Kooperation beispielsweise auch mit unseren amerikanischen Verbündeten. Das ist der richtige Weg. Ich bitte Sie, diesen Weg auch in Zukunft zu unterstützen.
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Die innenpolitische Lage im Libanon erschwert diese Arbeit; das kann man nicht ignorieren. Die Tatsache, dass es Monate gedauert hat, bis nach den Wahlen eine libanesische Regierung dann endlich in ihr Amt eingeführt wurde, hat das ja auch sichtbar gemacht. Die wirtschaftliche Lage ist angespannt. Aus Sicht der internationalen Geber und möglicher Investoren, vor allem aber auch aus Sicht der libanesischen Regierung müssen endlich nachhaltige Reformen umgesetzt werden. Die ersten Entscheidungen liegen vor. Wir unterstützen Ministerpräsident Hariri bei dieser wichtigen Arbeit.
Ich will die Gelegenheit nutzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier noch einmal deutlich zu machen: Peacekeeping ist ein zentrales Mittel zur Stabilisierung von Ländern in Konfliktsituationen und zur Unterstützung einer dauerhaften politischen Lösung. Wir setzen uns deswegen nicht nur für UNIFIL ein, sondern wir nutzen auch unsere Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um die Friedensmission der Vereinten Nationen insgesamt auch ausreichend finanziell auszustatten. Auch die notwendige politische Unterstützung zu gewährleisten, ist ein wichtiger deutscher Beitrag neben dem, was wir konkret – auch militärisch – vor Ort leisten.
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Wir stehen dem Libanon bei der Bewältigung der Herausforderungen durch eine große Anzahl von Initiativen zur Seite. In dieser Debatte geht es natürlich vor allem um UNIFIL und den militärischen Beitrag. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir seit Jahren umfangreiche Unterstützung leisten, auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Die Flüchtlingssituation habe ich schon genannt. Wir haben eine Kooperation, die erfolgreich ist – das kennen die Menschen im Libanon auch – im Bereich der Berufsbildung, der Verbesserung der Infrastruktur. Das sind alles Schwerpunkte, die meiner Meinung nach wichtig sind. Ich möchte ein Beispiel herausgreifen. Ich glaube nämlich, dass das UNICEF-Bildungsprogramm mit deutscher Unterstützung dort herausragende Arbeit geleistet hat und leistet,
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indem es libanesischen und syrischen Kindern die Möglichkeit eines Schulbesuchs bietet.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz aller Widrigkeiten: Wer den Libanon und die Geschichte des Landes kennt, der weiß, dass man sich manchmal gar nicht vorstellen kann, wie man dieses Konstrukt überhaupt zusammenhalten kann. Trotz aller Widrigkeiten ist dieses Land insgesamt auf einem guten Weg. Wir sollten gerade in einer solchen Situation unsere Unterstützung hier unterstreichen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Als nächster Redner hat das Wort für die AfD-Fraktion der Kollege Petr Bystron.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Annen, Sie haben das schon erwähnt: Neben dem Libanon geht es bei dieser Mission darum, die Interessen des Staates Israel zu schützen. Damit sind Sie in die Fußstapfen von Ihren SPD-Kollegen Hitschler, Oppermann und Hendricks getreten, die in den letzten Jahren alle gesagt haben: Ja, wir müssen hiermit Israel schützen. – Liebe Freunde von der SPD, das ist Heuchelei pur. Sie stellen den Außenminister. Wenn Ihnen das Schicksal des Landes Israel so am Herzen liegt, warum stemmen Sie sich nicht gegen die antiisraelischen Resolutionen in den United Nations? Warum unterstützen Sie die BDS-Kampagne, eine Kampagne zum Boykott Israels?
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Und wie meine Kollegin Beatrix von Storch herausgefunden hat: Warum lassen Sie Jahr für Jahr 80 Millionen Euro an die UNRWA überweisen? Das ist der verlängerte Arm der Hisbollah.
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Mit diesem Geld, mit dem, was Sie zu verantworten haben, werden Raketen in Schulen stationiert, die gegen Israel gerichtet sind. Mit diesem Geld werden antisemitische Schulbücher gedruckt, in denen das Land Israel ausradiert ist. Die Mitarbeiter von UNRWA sagen, Hitler hätte alle Juden auslöschen sollen.
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Also wenn Sie hier ankommen, mit dem Schutz Israels argumentieren, wenn es um diesen sinnlosen Einsatz geht, und dieses Argument wie eine Monstranz vor sich hertragen und gleichzeitig Millionen Euro an die Todfeinde Israels überweisen, dann ist das Heuchelei pur.
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Da ist es wirklich kein Wunder, dass die von Ihnen ach so Beschenkten und Beschützten von Ihnen die Schnauze voll haben. Es ist keine drei Tage her, da hat der Sohn des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu zu Heiko Maas wörtlich gesagt – ich zitiere –:
Es wäre schön, wenn Sie aufhören würden, sich in unsere internen Angelegenheiten einzumischen und Hunderte linksradikale NGOs in Israel zu finanzieren, die seine Zerstörung wollen.
Also, ich fasse das mal kurz zusammen: Sie sollen aufhören, linksradikale und antisemitische Gruppen zu fördern.
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Das ist natürlich schwer für die SPD, nicht? Das ist schwer für eine Partei, deren Stiftung gerade jetzt einen iranischen Antisemiten nach Deutschland zu einer Podiumsdiskussion eingeladen hat. Das ist natürlich schwer für eine Partei, deren Bundespräsident den Mullahs in Iran zu 40 Jahren Revolution gratuliert, aber dem US-amerikanischen Präsidenten nicht zu seiner Inauguration.
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Das ist schwer für eine Partei, deren Präsident linksextremistische Konzerte bewirbt – das ist uns klar –
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und deren Bundesvorsitzender der Jugendorganisation unsere Großkonzerne verstaatlichen will. Das ist schwer für eine Partei, die selbst linksextrem und antisemitisch ist.
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Herr Kollege, das Thema ist Bundeswehreinsatz UNIFIL.
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Ich bin schon beim Thema.
Dann ist gut.
Liebe Kollegen von der CDU,
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Merken Sie nicht, mit wem Sie da paktieren?
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Merken Sie nicht, wem Sie da eine Bühne geben?
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Merken Sie nicht, wen Sie da hofieren? Diese Partei ist nicht nur linksradikal und antisemitisch, diese Partei ruiniert unser Land wirtschaftlich und politisch.
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Sie isoliert uns außenpolitisch.
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Hören Sie bitte auf, mit den Linksextremisten zu paktieren! Lassen Sie uns wieder ehrliche und bürgerliche Politik machen!
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Herr Kollege, ich rufe Sie zur Sache!
Lehnen Sie mit uns diesen Antrag ab!
Vielen Dank.
({0})
In der Tat muss ich als Präsident des Bundestages feststellen, dass Sie zum Thema nicht ein einziges Wort gesagt haben. Das ist nicht der Sinn der Veranstaltung.
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Als nächster Redner hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn für die Bundesregierung.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über das UNIFIL-Mandat der Vereinten Nationen im Libanon,
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an dem sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Bundeswehr beteiligt. Ich finde, wir sind es den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr schuldig,
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dass wir uns in der Sache zu diesem Thema einlassen.
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Wir haben ein strategisches Interesse an Frieden und dauerhafter Stabilität im Nahen Osten. Der Libanon ist direkt von den Folgen des Syrien-Krieges betroffen; er hat über 1 Million Flüchtlinge aufgenommen. Und die politische Lage zwischen Israel und dem Libanon bleibt trotz aller Bemühungen angespannt. In diesem volatilen Umfeld hat sich UNIFIL als ein außerordentlich wichtiger Stabilitätsfaktor erwiesen. Die Mission UNIFIL setzt sich mit rund 10 500 Soldaten und Soldatinnen aus 42 Ländern für einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon ein.
Nachdem die Spannungen und Vorfälle, auch entlang der Blauen Linie – Herr Staatsminister Annen hat darauf hingewiesen –, im vergangenen Jahr zugenommen haben, bleibt die Rolle von UNIFIL als Puffer und als wichtiger Vermittler zwischen den beiden Ländern unverzichtbar. Dabei ist auch wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass sowohl Israel als auch der Libanon großen Wert auf eine fortgesetzte Präsenz der Vereinten Nationen legen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Ziel ist es, dass der Libanon den Schutz der eigenen Südgrenze als hoheitliche Aufgabe übernehmen und damit die staatliche Souveränität auf seinem gesamten Staatsgebiet eigenständig durchsetzen kann. Aber solange das noch nicht der Fall ist, bleibt der UNIFIL-Einsatz notwendig.
Ich möchte hier die Gelegenheit nutzen, unseren Soldaten und Soldatinnen ausdrücklich zu danken und meinen tiefen Respekt zu bekunden für den Dienst, den sie verrichten. Es sind derzeit 115 Bundeswehrangehörige vor Ort im Einsatz. Mein Dank gilt auch denen, die ihren Einsatz bereits beendet haben. Sie leisten einen wichtigen Dienst im Interesse unseres Landes und für die Stabilität im Nahen Osten.
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Wir beteiligen uns seit 2006 an der maritimen Komponente von UNIFIL: mit der Korvette „Oldenburg“ im UNIFIL-Flottenverband, mit einem Führungs- und Unterstützungselement für die Korvette auf Zypern, mit Personal im Hauptquartier von UNIFIL und beim Fähigkeitsaufbau im Bereich der Ausbildung der libanesischen Marine. Zweck unserer Beteiligung bleibt zum Ersten, die libanesische Marine bei der Überwachung der Seegrenzen mit unserer Korvette zu unterstützen, und zum Zweiten, den Aufbau der Fähigkeiten der libanesischen Marine zum selbstständigen Schutz ihrer eigenen Seegrenzen zu fördern.
Unser Engagement bei UNIFIL ergänzen wir im Übrigen auch durch bilaterale Maßnahmen der Ertüchtigung und Ausbildung in enger Abstimmung mit den Verantwortlichen vor Ort. Deutschland hat zum Beispiel seit 2007 drei Patrouillenboote, eine Navigations- und Radarausbildungsanlage sowie eine Elektronik- und Ausbildungswerkstatt übergeben. Wir haben außerdem eine Küstenradarorganisation mit neun Radarstationen und Leitstellen entlang der libanesischen Küste aufgebaut und übergeben. Diese Küstenradarorganisation trägt bereits jetzt signifikant dazu bei, die Überwachung der Seegrenze vor der libanesischen Küste zu sichern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fähigkeiten und Fertigkeiten der libanesischen Marine haben sich durch das deutsche und internationale Engagement wesentlich verbessert. Allerdings sind die Voraussetzungen, um die Verantwortung in libanesische Hände zu übergeben, noch nicht gegeben. Um diesen Prozess der Eigenverantwortung weiter voranzutreiben, ist nun im Auftrag der Vereinten Nationen eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden, die zusammen mit der libanesischen Regierung eine Strategie zur Übernahme von derzeit durch UNIFIL bereitgestellten Fähigkeiten durch die libanesische Marine entwickelt.
Mit der Fortsetzung unserer Beteiligung an UNIFIL um ein weiteres Jahr nähern wir uns also mit ganz konkreten Schritten dem Ziel, die Sicherheitsverantwortung in die Eigenverantwortung Libanons zu übergeben. Deshalb bitte ich Sie um Ihre weitere Unterstützung für die Verlängerung dieses Mandats.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Spannungen im Nahen Osten haben sich in den vergangenen Tagen und Wochen extrem verschärft. Täglich ist von neuen brenzligen Situationen zu lesen. Es gibt durchaus bedenkliche Situationen, die das Szenario einer militärischen Eskalation realistisch erscheinen lassen. Der Nahe Osten ist erneut in einer extrem gefährlichen Situation.
Eine solche Eskalation würde sich auch direkt auf die UNIFIL-Truppen im Libanon auswirken. Denn im Südlibanon, wo sie die Grenze zwischen Libanon und Israel sichern sollen, sind sie im direkten Umfeld des verlängerten Armes des iranischen Regimes. Hier hat die Hisbollah so etwas wie einen radikalislamischen Staat im Staat errichtet, einen Staat im Staat, dessen erklärtes Ziel die Zerstörung Israels ist.
Der UN-Sicherheitsrat hat bereits vor vielen Jahren beschlossen, dass es keine bewaffneten Gruppen außer der libanesischen Armee im Libanon geben darf. Dies wurde bislang nicht umgesetzt. Im Gegenteil: Die Hisbollah ist nach wie vor bis an die Zähne bewaffnet und den libanesischen Streitkräften weit überlegen. Selbst einige NATO-Mitglieder sind in mancher Hinsicht wahrscheinlich schlechter aufgestellt. Dieser Zustand ist definitiv inakzeptabel, meine Damen und Herren.
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Solange nichts gegen diesen Status quo unternommen wird, wird es auch keine nachhaltige Stabilität für die Region geben können.
Meine Damen und Herren, an dem UNIFIL-Mandat kann man sehr viel kritisieren. In der Tat, es ist definitiv nicht perfekt, es gibt sehr viel Luft nach oben, und es gibt nach wie vor viel Potenzial für Verbesserungen. Aber gerade in den letzten Jahren konnten Fortschritte bei der Kooperation mit Israel verbucht werden. Ich denke da zum Beispiel an die vorhin genannten Tunnel der Hisbollah, die 2018 entdeckt wurden und deren Zugänge zu Israel, also über die Blaue Linie hinaus, anschließend zerstört wurden. Schritt für Schritt können hier Annäherung und Dialog zwischen Israel und dem Libanon erfolgen.
UNIFIL als Gesprächsplattform – da gibt es also durchaus Grund zu Optimismus. Und das muss fortgesetzt und intensiviert werden, nicht zuletzt auch, weil die Konflikte des Nahen Ostens in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfinden und somit direkte Auswirkungen auf Deutschland und Europa haben werden. An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal deutlich machen, dass der Libanon fast genauso viele syrische Flüchtlinge aufgenommen hat wie die gesamte Europäische Union. Es liegt also in unserem ureigenen Interesse, in der Region Verantwortung zu übernehmen.
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Meine Damen und Herren, dass Deutschland bzw. die deutschen Soldaten durch die Beteiligung an UNIFIL einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Libanon leisten, steht außer Frage. Zwar hat das Land mit Beirut eine weltoffene und moderne Metropole zur Hauptstadt, doch erlauben es die vorherrschenden Strukturen kaum, von staatlicher Souveränität zu sprechen. Gerade in einem Land, in dem so viele Religionsgemeinschaften auf so einem engen Raum zusammenleben, ist das brandgefährlich. UNIFIL ist dementsprechend auch nicht der alleinige Schlüssel zum Erfolg. Die neugewählte libanesische Regierung hat viel zu tun. Die Reformen, die sie sich vorgenommen hat, müssen dringend umgesetzt werden.
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Eine Frage muss die Bundesregierung bei dieser Debatte dennoch beantworten: Wie steht es um die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten, sollte es zu einem Konflikt mit dem Iran und der Hisbollah kommen? Auf diese Frage hat die Bundesregierung bis jetzt keine Antworten entwickelt. Ich finde, es ist höchste Zeit, sich damit zu beschäftigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin erhält für die Fraktion Die Linke die Kollegin Kathrin Vogler das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp 40 Jahren hat die UNO die Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon, kurz UNIFIL, eingesetzt. Wie der Name schon sagt, sollte das zunächst eine Übergangslösung sein; aber davon ist ja heute wohl keine Rede mehr.
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Tatsächlich ist es, wie die Bundesregierung selbst schreibt, in 40 Jahren nicht gelungen, die Ziele der Mission zu erreichen. Da finde ich schon, Sie sollten den Mut haben, den Ansatz hinter dem Einsatz zu hinterfragen.
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Derzeit sind etwa 130 deutsche Soldaten in Führungsstäben und in der Seeraumüberwachung eingesetzt. Das Ganze soll in den kommenden zwölf Monaten 28,7 Millionen Euro kosten. Demgegenüber werden für Dialog und Versöhnung im gleichen Zeitraum lächerliche 1,9 Millionen Euro veranschlagt. Darin ist sogar noch der Unterhalt für den Libanon-Sondergerichtshof in Den Haag enthalten. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, lieber Niels Annen, das ist wirklich völlig inakzeptabel;
({2})
denn was der Libanon im Jahr 2019 nötig hat, ist nicht Aufrüstung, sondern Versöhnung, Dialog, Friedensförderung und soziale Gerechtigkeit.
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Wenn Sie dafür 30 Millionen Euro ausgeben wollten, dann hätten Sie die volle Unterstützung meiner Fraktion.
Bei meinem Besuch mit der Parlamentariergruppe im Libanon vor zwei Wochen haben wir vor allem immer wieder von drei großen Sorgen bzw. Problemen gehört:
Da sind erstens die etwa 1,5 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge, die auf absehbare Zeit nicht in ihr Heimatland zurückkönnen, die im Libanon aber auch nicht sesshaft werden sollen, weil es große Sorgen gibt, dass sie das fragile Gleichgewicht zwischen den Religionsgemeinschaften verschieben könnten. Über die Hälfte dieser Menschen lebt in absoluter Armut, aber nur 19 Prozent von ihnen erhalten vom UN-Flüchtlingshilfswerk eine marginale finanzielle Unterstützung, und nur jedes zweite Kind ab dem Grundschulalter geht noch zur Schule.
Die zweite große Problemlage ist die ökonomische und finanzielle Krise, die einerseits mit hausgemachten Defiziten zu tun hat, aber auch mit dem Krieg in Syrien und mit der aggressiven Destabilisierungspolitik der Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabiens. Wir haben gehört, dass Fachleute davon gesprochen haben, dem Libanon drohe ein Economic Meltdown, also eine ökonomische Kernschmelze.
Und drittens macht die brandgefährliche Nahostpolitik eines Donald Trump mit seiner Administration Sorgen, der Israels völkerrechtswidrige Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten und auf dem Golan stützt und jetzt auch noch dem Iran mit Krieg droht. Das bedroht die Stabilität im Libanon ganz essenziell.
Diese Gemengelage bietet jede Menge Zündstoff für Krisen und Konflikte, auch weil die libanesische Regierung, gedrängt durch IWF und Weltbank, die maroden Finanzen mit einer scharfen Austeritätspolitik sanieren will. Meine Damen und Herren, wer dann, wenn die Bevölkerung die volle Härte dieser Maßnahmen spürt, als Sündenbock herhalten muss, ist noch völlig offen: Die Syrer? Die Palästinenser? Oder Israel, ein Land, mit dem der Libanon bis heute keinen Friedensvertrag geschlossen hat? Was täten denn die Bundeswehrsoldaten, die die Grenze sichern sollen, wenn das nächste Mal israelische Soldaten über die Grenze kämen, etwa um auf libanesischem Gebiet Stellungen der Hisbollah zu bekämpfen?
Meine Damen und Herren, schon vor dem Hintergrund unserer Geschichte ist es unvorstellbar, dass deutsche Soldaten mit der Waffe in der Hand gegen Israelis kämpfen.
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Auch deswegen hat meine Fraktion von Anfang an Nein zur Beteiligung der Bundeswehr an diesem Einsatz gesagt, und dabei bleiben wir auch.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen, wenn wir über UNIFIL sprechen, über einen der ältesten friedenserhaltenden Einsätze der Vereinten Nationen. Als UNIFIL 1978 begonnen hat, waren einige von uns noch gar nicht geboren, und die Berliner Mauer stand noch. Der Konflikt im Nahen Osten – wir alle wissen es – ist jahrzehntealt. In so einer Situation, wenn ein Einsatz 40 Jahre dauert – das ist einer der wenigen Punkte, an dem ich bei Ihnen bin, Frau Kollegin Vogler –, ist es natürlich berechtigt, die Frage zu stellen: Ist der Einsatz sinnvoll? Ist er berechtigt?
Aber ich finde, genauso kann man eine andere ganz einfache Frage stellen. Sie lautet: Ist es in den nächsten zwölf Monaten in der Region, in Israel, im Libanon, sicherer oder unsicherer mit UNIFIL? Und wir Grüne, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen zum klaren Ergebnis: Auch wenn UNIFIL nicht alle Probleme dieser Region lösen kann, auch wenn UNIFIL nur ein Baustein ist, ist und bleibt UNIFIL ein wichtiger Baustein für die Sicherheitsarchitektur – gerade in diesen Tagen. Deswegen unterstützen wir diesen Einsatz weiterhin.
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Zentral ist bei dieser Mission der Vereinten Nationen, dass beide Konfliktparteien, Libanon und Israel, diese Mission nach wie vor befürworten. Gerade das ist in dieser Region eine Besonderheit. Staatsminister Annen hat es erwähnt, UNIFIL ist auch bis zu einem gewissen Grad, wenn auch nur zu einem kleinen, ein Scharnier für Dialog und Austausch zwischen Israel und Libanon. Wir sollten solche Formate, solche Instrumente nicht einfach mit dem Verweis „Das ist seit 40 Jahren existent“ beiseitetun. Im Gegenteil: Sie sind in diesen Tagen wichtiger denn je.
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Frau Kollegin Vogler, Sie haben eben gesagt: Was diese Region braucht, ist Entwicklung. – Da bin ich bei Ihnen. Auch bin ich bei Ihnen, als Sie sagten: Wir brauchen keine Aufrüstung in dieser Region. – Nur, ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist UNIFIL doch. UNIFIL ist nicht Aufrüstung; UNIFIL ist das Gegenteil von Aufrüstung, meine Damen und Herren;
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denn UNIFIL trägt dazu bei, dass Waffenschmuggel unterbunden wird und Seeraumüberwachung sichergestellt wird. UNIFIL trägt auch dazu bei, dass es einen Zugang für humanitäre Hilfe in den Libanon gibt, und das ist wichtig und notwendig.
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema „Ausbildung und Qualifizierung der libanesischen Armee“ sagen: Auch ich gehöre zu den Kollegen, die immer skeptisch sind, wenn es um Ausbildung fremder Streitkräfte geht. Ich gehöre zu den Kollegen hier im Haus, die erst mal hinterfragen: Ist das der richtige Ansatz? Aber wenn man sich vergegenwärtigt, dass die libanesische Armee eine der wenigen konfessionsübergreifenden Institutionen in diesem Land ist, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie dort eher Bindeglied als Spaltpilz oder Ähnliches ist, dann sage ich: Ich halte es für richtig, dass im Rahmen von UNIFIL auch den libanesischen Streitkräften dabei geholfen wird, mehr Verantwortung für ihre territoriale Integrität und für die Sicherung des Seeraums übernehmen zu können.
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Ein letzter Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Herr Bystron, Mandatsdebatten sind wichtige und verantwortungsvolle Debatten. Viele Soldatinnen und Soldaten schauen uns zu und wollen wissen, wie wir mit unserem Privileg, Bundeswehreinsätze mandatieren oder ablehnen zu können, umgehen. Da, finde ich, ist es schon ein starkes Stück, dass Sie in Ihren fünf Minuten, die Sie an diesem Pult standen, alles Mögliche erzählt und alle möglichen Beschimpfungen ausgestoßen haben, aber dieser Verantwortung am Ende des Tages nicht gerecht geworden sind.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindner. – Als nächste Rednerin hat für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Gisela Manderla das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon sehr gut, dass die demokratischen Parteien sich heute bei diesem so wichtigen Thema einig sind. Ich kann dem Kollegen Lindner nur beipflichten: Das, was aus der rechten Ecke kam, hatte überhaupt nichts mit dem Thema zu tun. Und die Anschuldigungen der Linken möchte ich hier nicht bewerten.
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Meine Damen und Herren, der Nahe Osten ist eine Region, die seit Jahren von Unbeständigkeit geprägt ist. Gerade in diesen Tagen kommt es zu Konflikten, die die Stabilität und die Sicherheit vor Ort immer wieder bedrohen. Die Folgen dieser Konflikte sind jedoch nicht regional begrenzt, sondern reichen weit darüber hinaus. Dies machen die Flüchtlingsbewegungen nach Europa aufgrund des Syrien-Krieges immer wieder deutlich.
Angesichts der geostrategischen Bedeutung haben Deutschland und Europa ein großes Interesse an der langfristigen Stabilisierung der Anrainerstaaten Syriens. Die Mission UNIFIL – das ist hier auch schon zum Ausdruck gekommen – ist dabei ein wichtiger Pfeiler und hat zum Ziel, endlich eine Waffenruhe zwischen Libanon und Israel zu etablieren. Sie ist somit ein wesentlicher Bestandteil für Stabilität in der gesamten Region.
Nach wie vor sieht sich der Libanon zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt: der Syrien-Konflikt, der Einfluss des Irans sowie die Präsenz der Hisbollah, insbesondere im Süden Libanons. Nachdem das Land rund 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, ist der Libanon zu dem Land mit der weltweit höchsten Flüchtlingsquote, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, geworden. Hieraus ergibt sich ein besonderes Bedürfnis nach Stabilität und einer Verbesserung der staatlichen Strukturen, wozu auch eine Entlastung der libanesischen Armee durch die UNIFIL-Truppen zählt.
Mit der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit im Frühjahr 2019 und der Vorlage eines Reformprogramms konnten bereits wichtige Fortschritte erreicht werden. Jedoch ist es noch nicht gelungen, die hoheitliche Sicherung der eigenen Grenze zu Israel zu etablieren. Auch was die Überwachung der Seegrenzen betrifft, muss noch viel getan werden, um die libanesische Marine hierzu zu befähigen. Auch konnte eine dauerhafte Waffenruhe bislang nicht erzielt werden, doch hat die UNIFIL-Mission dafür gesorgt, dass es im Einsatzgebiet relativ ruhig geblieben ist.
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UNIFIL spielt hierbei nicht nur eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Israel und dem Libanon, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung vor Ort.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, durch das internationale und deutsche Engagement konnten die Fähigkeiten der libanesischen Marine bereits gesteigert werden. Die Bundesregierung verfolgt hier einen Beitrag mit einem umfassenden Ansatz. In den letzten sieben Jahren konnten Mittel in Höhe von knapp 1,5 Milliarden Euro zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ausgegeben und bereitgestellt werden. Ich möchte an dieser Stelle allen Organisationen, die dazu beitragen, dass Kinder zur Schule gehen können und dass Lebensmittel beschafft werden können, ganz herzlich für ihr Engagement danken. Den Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr, die sich in diesem friedlichen Einsatz engagieren, danke ich an dieser Stelle ganz besonders.
Meine Damen und Herren, damit es zu einer guten Lösung kommt, muss der UNIFIL-Einsatz fortgesetzt werden. Darum bitte ich heute dafür um Ihre Stimme.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste und letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind heute Zeugen einer im Großen und Ganzen sehr konstruktiven Debatte gewesen. Der Ton von fünf der sechs Fraktionen war sehr angemessen für ein Land, das zurzeit Mitglied im Weltsicherheitsrat ist und vor wenigen Wochen auch den Vorsitz geführt hat. Ich glaube, es war gut, dass wir in dieser konstruktiven Weise über dieses Mandat gesprochen haben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, vier der Fraktionen haben sich eindeutig für den UNIFIL-Einsatz ausgesprochen, aber auch sehr nuanciert unterschieden. Ich möchte am Ende der Debatte drei Punkte herausgreifen, die, glaube ich, nicht nur aus Sicht der Union wichtig sind.
Dieser Einsatz – mit einer Dauer von über 40 Jahren einer der ältesten der Vereinten Nationen; der Kollege Lindner hat es angesprochen – ist einer der ganz wenigen Einsätze der Vereinten Nationen, die von den Konfliktparteien akzeptiert werden. Nennen Sie mir in dieser Region einen weiteren: Es gibt dort keinen.
Ich glaube, deshalb ist es auch ganz entscheidend, dass wir den Beitrag – das ist mein zweiter Punkt –, den die Bundesrepublik Deutschland leistet, noch konstruktiver machen. Das Neue – das Mandat ist ja in den letzten Jahren kaum verändert worden – an diesem Mandat, über das wir in der nächsten Sitzungswoche abstimmen werden, ist, dass die Bundesrepublik sich mit einer Korvette beteiligt, die mit den modernsten Radarführungsmitteln ausgestattet ist, die die Bundeswehr zu bieten hat. Mit dieser Korvette können wir ein Luftlagebild über dem gesamten Libanon erstellen, damit einen Beitrag zur internen Flugkoordinierung von UNIFIL leisten und natürlich, was den Einsatzraum im Südlibanon angeht, erheblich mehr zur Lagefeststellung beitragen. Woran liegt das? Das liegt daran – der Kollege Silberhorn hat es angesprochen –, dass die Bundeswehr inzwischen besser ausgestattet ist und dem Einsatz damit deutlich angemessener gerecht wird. Da kann man nur sagen: Die Trendwende funktioniert zumindest im UNIFIL-Einsatz.
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– Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt. Es ist entscheidend, dass unsere Soldatinnen und Soldaten das bestmögliche Material haben. Das müssen wir auch zum Einsatz bringen. Dieses Radar ist beeindruckend.
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– Sie haben gar nichts zu sagen. Ihr Kollege hat sich vorhin nicht mal zur Sache geäußert. Deswegen können Sie ruhig schweigen. Von Ihrer Seite haben wir nichts zu erwarten außer Polemik und Hass.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der letzte Punkt, den ich anführen möchte, ist, dass wir die Gesamtlage in der Region betrachten müssen. UNIFIL ist ja nur ein Baustein. Die Bundesrepublik ist in Jordanien mit Tornado-Flugzeugen und Luftbetankung engagiert, um den Kampf gegen Daesh zu unterstützen. Sie ist engagiert im Irak in einer Ausbildungsmission, die im Moment angesichts der Lage kurz ausgesetzt ist. Aber unsere Soldatinnen und Soldaten sind auch dort präsent. Die Botschaft dieses Hauses ist: Wir sehen die Einsätze nicht isoliert, sondern den Gesamtzusammenhang. Wir sollten als EU durchaus mit durchgestrecktem Rücken gegenüber den USA sagen: Das ist ein glaubwürdiger Beitrag Europas zur Stabilisierung der Region und zur Verhinderung eines Zerfalls des Iraks, eines Zerfalls des Libanon und der Versuch, Ausgangsbedingungen für weitere Verhandlungen für Syrien zu schaffen.
In diesem Sinne ist die UNIFIL-Mission also eine besondere Mission, nicht nur, weil sie so lange anhält, nicht nur, weil sie von beiden Konfliktparteien getragen wird, sondern auch, weil sie in den nächsten zwei, drei Jahren sicherlich aufgrund der Zuspitzung des Konflikts im Iran und die Rolle der Hisbollah, die angesprochen wurde, wesentlich wertvoller werden wird. Wir sollten deshalb mit Nachdruck für die bestmögliche Ausstattung unserer Soldaten in dieser Region werben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Ich schließe die Aussprache zu TOP 26.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9956 an die in der Tagesordnung aufgeführte Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Versorgung mit sauberem Trinkwasser ist bei uns gefährdet, bzw. man muss sagen: Traurigerweise ist es keine Selbstverständlichkeit mehr, dass die Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser versorgt werden kann, da immer größere Anteile unseres Grundwasserkörpers verschmutzt sind. Inzwischen ist circa ein Viertel der Grundwasserkörper in der Bundesrepublik Deutschland verschmutzt. Und was tut die Bundesregierung? Die Bundesregierung handelt nicht, sondern schweigt dazu. Das ist mehr als skandalös angesichts der Verschmutzung unseres wichtigsten Lebensmittels.
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Der BDEW, der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, stellt fest: Um die Versorgung mit Trinkwasser sicherzustellen, kann es in einer ganzen Reihe von Regionen zu Preissteigerungen von 60 Prozent – von 60 Prozent! –
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für unser wichtigstes Lebensmittel kommen. Jetzt stellen wir uns mal vor, es käme – aus welchen Umständen auch immer – zu einer Preissteigerung für Benzin von 60 Prozent. Würde da die CDU/CSU auch schweigen?
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Würde die CDU/CSU da auch einfach die Augen zudrücken? Oder würden Sie da vielleicht etwas unternehmen? Aber bei unserem wichtigsten Lebensmittel fällt Ihnen nichts ein, als zu schweigen, und das ist skandalös.
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Das Problem ist:
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Sie trauen sich nicht, die Ursachen zu bekämpfen. Die Hauptursache ist die industrielle Agrarwirtschaft.
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Die Hauptursache ist die hohe Anzahl von Tieren in einer ganzen Reihe von Regionen und damit die große Menge von Gülle, die auf unsere Böden aufgebracht wird und ins Grundwasser durchsickert.
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Gülle, Mikroplastik, Antibiotika: Alles landet in unseren Gewässern und am Ende im Meer. Laut Umweltbundesamt kann es dazu führen, dass in manchen Regionen eine vierköpfige Familie in Zukunft 134 Euro mehr pro Jahr für Wasser ausgeben muss. Angesichts dessen, dass die Bundesregierung nicht handelt, dass das Landwirtschaftsministerium nicht handelt und auch aus dem Kanzleramt und von den Regierungsfraktionen in dieser wichtigen Frage nichts kommt, würde ich diesen Familien vorschlagen: Schicken sie diese Rechnungen in das Landwirtschaftsministerium. Dort liegt die Ursache dafür, dass die Menschen immer mehr Geld für Wasser ausgeben müssen.
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Was haben wir von den Vertretern der Regierungsfraktionen, insbesondere von der CDU/CSU, gehört? Dass man sich bitte an die Regeln halten möge. Was haben Sie sich lustig gemacht und gelästert über unsere südeuropäischen Nachbarn, dass sie endlich die Regeln einhalten sollen. Hier geht es um europäisches Recht. Wenn Sie schon nicht aus Einsicht etwas tun, um unser Grundwasser zu schützen, dann sollten Sie unser Grundwasser nach dem Motto schützen: Wir halten uns an die Regeln. Es ist mehr als Heuchelei, von den anderen Ländern zu verlangen, sich an die Regeln zu halten, und wenn es einem selber nicht passt, die Regeln zu übertreten und damit für den deutschen Steuerzahler mehrere Hunderttausend Euro Strafzahlung zu riskieren, weil man sich weigert, die Regeln in Deutschland durchzusetzen.
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Deshalb mein Appell an die Regierungsfraktionen: Halten Sie sich wenigstens an die europäischen Regelungen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Astrid Damerow.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sauberes Wasser – darüber sind wir uns alle einig – ist eine unverzichtbare Ressource der Menschheit. Insofern teilen wir das Anliegen von Bündnis 90/Die Grünen durchaus. Was wir allerdings, Herr Dr. Hofreiter, überhaupt nicht teilen, ist die Art der Skandalisierung und Panikmache, die Sie hier gerade versucht haben.
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Immer wieder versuchen Sie, den Eindruck zu erwecken, die CDU/CSU-geführte Bundesregierung sei untätig.
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Ihr Antrag bietet uns jetzt die Gelegenheit, das Gegenteil darzulegen.
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– Richtig, ich beginne.
Erstens. Im Koalitionsvertrag haben wir sauberes Wasser als wichtigste Lebensgrundlage aller Menschen herausgestellt.
Zweitens. Die Bundesregierung orientiert ihre Wasserpolitik selbstverständlich an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Wir bekennen uns auch deshalb zur Nachhaltigkeit, weil wir wissen: Wasser ist ständig in Bewegung, und Verunreinigungen stoppen an keiner Grenze. Deshalb denken wir Wasserpolitik global und fördern im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch Projekte in Ländern, in denen sauberes Wasser alles andere als selbstverständlich ist.
Drittens. Mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der Europäischen Union arbeiten wir daran, aufeinander abgestimmte nationale Meeresstrategien umzusetzen. Unser Ziel ist es natürlich, die Vermüllung unserer Meere durch Plastik deutlich zu reduzieren.
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Wir setzen allerdings dabei auf ein partnerschaftliches Miteinander von Schifffahrt, Fischerei, Tourismus und anderen beteiligten Akteuren. Diese Herausforderungen werden wir auch nur global meistern können. Wir haben im Haushalt 2019 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um den Transfer deutscher Technologien im Bereich der Abfallwirtschaft nach Asien und Afrika zu fördern.
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Viertens. Mit der Wasserrahmenrichtlinie als zentralem Element des europäischen Gewässerschutzes arbeiten wir weiter daran, einen guten Zustand aller Gewässer zu erreichen.
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Die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser prüft derzeit, wie wir die Empfehlung der EU-Kommission in den künftigen Bewirtschaftungsplänen entsprechend berücksichtigen. Wir bedauern allerdings nach wie vor, dass die EU-Kommission unsere Novellierung der Düngemittelverordnung als nicht ausreichend bewertet hat. Allerdings – das wissen Sie genauso gut – ist Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner in Gesprächen mit der EU-Kommission, um zu optimalen Ergebnissen zu kommen.
Fünftens. Die europäische Trinkwasserrichtlinie und ihre Weiterentwicklung unterstützen wir selbstverständlich.
Sechstens. Unser Wasser wird durch viele Stoffe und Eintragswege belastet. Mit dem Spurenstoffdialog haben wir die wichtigsten Akteure zusammengebracht, um Empfehlungen für eine nachhaltige Spurenstoffstrategie des Bundes zu erarbeiten. Es liegen bereits erste konkrete Empfehlungen vor, und die Pilotphase läuft.
Siebtens. Erst im letzten Jahr haben wir uns über den Schutz vor multiresistenten Keimen hier im Deutschen Bundestag auseinandergesetzt. Mit der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie 2020 werden viele Maßnahmen erfolgreich umgesetzt. Zwischen 2011 und 2016 ist der Verbrauch von Antibiotika in der Veterinärmedizin und in der Tierhaltung um mehr als 50 Prozent gesunken. Auch das hat positive Auswirkungen auf unsere Gewässer.
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Wir setzen außerdem eine Kampagne um, in der wir die Öffentlichkeit auf Gefahren der falschen Entsorgung von Arzneimitteln über Abwasser hinweisen.
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Achtens. Mit der Novellierung der Abwasserabgabenregelung wollen wir Gewässerverunreinigungen weiter reduzieren. Dabei folgen wir selbstverständlich dem Verursacherprinzip und fördern, dass Verunreinigungen bereits an der Quelle vermieden werden.
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Derzeit diskutieren wir die Vor- und Nachteile einer vierten Reinigungsstufe. Dabei ist noch völlig offen, welche Methoden in welchem Umfang am besten geeignet sind.
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Wir führen außerdem bereits einen Nationalen Wasserdialog unter dem Motto: Zukunft Wasser. Dabei nehmen wir bereits heute die Wasserversorgung im Jahr 2050 in den Blick. Im Mittelpunkt stehen auch hier allerdings die Kommunikation und die Einbindung wichtiger Akteure aus den Bereichen Infrastruktur, Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Natur- und Klimaschutz sowie aus der Zivilgesellschaft. Ich betone: Hier geht es um Kommunikation, um Dialog und nicht in erster Linie um Verbote.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anträge beinhalten Forderungen, die von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung bereits umgesetzt oder bearbeitet werden. Aber bei einer nahezu überall vorhandenen Ressource wie Wasser muss es doch nachvollziehbar sein, dass Maßnahmen, die wir heute ergreifen, nicht übermorgen sichtbar sind. Das Thema Wasserqualität stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen und neue Erkenntnisse, aus denen sich natürlich Verbesserungsbedarf ergibt. Wir wollen dabei aber nicht übersehen, dass wir hier in Deutschland nach wie vor das große Privileg haben, dass wir Wasser aus unseren Leitungen in jedem Haushalt bedenkenlos trinken können. Dieses ist auch nicht in Gefahr, so wie es Herr Dr. Hofreiter gerade versucht hat aufzuzeigen.
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Wir haben in den vergangenen Jahren eine Menge erreicht. Wir wissen alle, dass wir vor großen Herausforderungen stehen. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung bearbeitet diese. Wir müssen feststellen, die CDU/CSU und die Bundesregierung handeln. Wir tun dies allerdings nicht im Rahmen von Verboten und Repressalien, sondern wir tun dies im Dialog mit den notwendigen und unverzichtbaren Partnern. Wir werden die Herausforderungen annehmen. Wir werden Fortschritte erzielen. Ich bin gespannt auf die Diskussionen im Umweltausschuss.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die AfD hat das Wort der Kollege Wilhelm von Gottberg.
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Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Der Schutz des Grundwassers nimmt mit Recht eine wichtige Rolle ein. Wer möchte gerne verunreinigtes Wasser trinken? Ich nehme Stellung zum Antrag der Grünen „Grundwasser schützen, Überdüngung stoppen“. Im Antrag heißt es zu Beginn: Unser Grundwasser ist „vielerorts massiv mit Nitrat belastet, eine Trendumkehr ist nicht in Sicht“. Das ist reichlich überspitzt formuliert. Zur Dramatisierung der Qualität unseres Grundwassers besteht kein Anlass.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie schüren mit dieser unnötigen Dramatisierung Ängste bei den Menschen.
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Jedoch gleich nach der eben zitierten Passage räumen Sie in Ihrem Antrag ein, dass lediglich von 17 Prozent der Messstellen Wasser mit einem Wert von über 50 Milligramm pro Liter gezogen wurde. Also nichts mit „vielerorts … mit Nitrat belastet“.
Weiter wird im Antrag ausgeführt, dass die Biodiversität in Nord- und Ostsee durch Überdüngung stark gefährdet ist. Was hat das mit dem Grundwasser zu tun? Die Nord- und Ostsee werden durch Flüsse gespeist,
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und in diese leiten Kläranlagen geklärtes Abwasser ein. Das Grundwasser und die fließenden Gewässer in Deutschland sind allerdings außerhalb der Landwirtschaft nicht unerheblichen Belastungen ausgesetzt.
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Das blenden Sie aus. Beispiele: Ich nenne die streckenweise marode Kanalisation, den nicht unerheblichen Einsatz von Dünger und Pflanzenschutz in den Kleingartenanlagen oder die vielen Einleitungen von ungenügend gereinigtem Abwasser in die Vorfluter. Dieses Abwasser ist durch Absetzteiche und Schilfgräben nur ungenügend vorgereinigt.
Dennoch: Seit Jahren vermelden die Wasserwerke durchgängig gute Wasserqualitäten. Der Deutschlandfunk, DLF, meldet in einem Beitrag vom 22. März 2014: „Mehr als 99,9 % der Trinkwasserbrunnen in Deutschland liegen unterhalb des Grenzwertes“,
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„Berichte über hohe Nitrat-Belastungen in Deutschland beruhen auf faulen Tricks“. – So weit der DLF.
Das „Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben“ berichtet im April dieses Jahres, zwei Paderborner Zeitungen hätten Ende März 2019 die Meldung gebracht, der Fluss Lippe „weise von der Quelle bis zur Rheinmündung eine viel zu hohe Nitratkonzentration auf“. – Eine Falschmeldung, die durch Verwechselung der Begriffe zustande kam!
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Sowohl öffentliche Messungen des Landes Nordrhein-Westfalen wie auch private Untersuchungen haben ergeben, dass der strenge Nitratgrenzwert in der Lippe eingehalten wird. Auch bei Untersuchungen von Proben aus privaten Entnahmestellen – Hausbrunnen – sei der Nitratgrenzwert der Trinkwasserverordnung in 95 Prozent der Fälle unterschritten worden. – So weit das „Wochenblatt“.
Die AfD bedauert, dass die seit 2017 gültige Düngeverordnung, die den Landwirten sehr viel abverlangt, nun auf Druck der EU ab 2020 nochmals verschärft wird.
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Vernünftig wäre, die Wirkungen der jetzt gültigen Düngeverordnung abzuwarten, wofür ein Zeitraum von etwa fünf Jahren erforderlich wäre.
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Diese Düngeverordnung würde dann positive Auswirkungen haben.
Immerhin: Das von den Ministerinnen des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen vorgelegte 7‑Punkte-Programm zum Grundwasserschutz und zur Düngung ist sinnvoll. Über Einzelheiten kann man streiten.
Resümee: Es geschieht viel zum Schutz des Grundwassers. Der Antrag der Grünen erweist sich als wilder Aktionismus. Dieser Aktionismus geht mit einer Stigmatisierung der Landwirte einher.
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Dazu können wir nicht schweigen. Keine Sündenbockrolle für unsere Landwirte! Der Antrag ist abzulehnen.
Danke.
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Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär im Umweltministerium, Florian Pronold.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir sollten aufpassen, dass wir uns im Dialog über die Maßnahmen, die wir beim wichtigen Thema „Wasser und Grundwasser“ ergreifen, auf Fakten stützen
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und nicht hier irgendwelche Verschwörungstheorien verbreiten. Man kann zum Zustand unserer Gewässer und zum Zustand unseres Grundwassers sehr viel und sehr deutlich etwas sagen.
Beim Grundwasser stellen wir fest, dass 63,8 Prozent der Grundwasserkörper in einem guten oder sehr guten chemischen Zustand sind. Das bedeutet, dass der Rest nicht in einem guten chemischen Zustand ist und dass es dort tatsächlich auch eine relevante Belastung durch Nitrat gibt. Das ist so,
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und das kann uns nicht ruhen lassen.
Wir haben jetzt von der Europäischen Kommission sehr deutliche Hinweise bekommen, dass die vorhin angesprochene Reform der Düngeverordnung nicht ausreicht. Das wussten übrigens alle bei der Debatte um die letzte Düngeverordnung. Es kann mir niemand, der dabei war, erzählen, dass er davon nichts gewusst hat. Ich bin froh, dass die Bundesumweltministerin und die Bundeslandwirtschaftsministerin jetzt gemeinsam in Gesprächen mit der EU sind, um die Defizite, die dort gesehen werden, abzustellen und zu einer besseren Düngepraxis zu kommen. Es gibt natürlich Dinge, die wir berücksichtigen müssen und die im nationalen Rahmen wichtig sind. Ich bin überzeugt davon, dass es gelingen kann, hier zu einer vernünftigen Verbesserung der Düngeverordnung zu kommen.
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Dann haben wir als Bundesregierung – Frau Kollegin Damerow hat es aufgezählt – wirklich viel getan, um zur Verbesserung des Wassers und Grundwassers in Deutschland zu kommen. Die Spurenstoffstrategie ist ein gutes Beispiel dafür. Im Rahmen des Nationalen Wasserdialogs, den wir jetzt begonnen haben, setzen wir das Jahr 2050; denn wir haben natürlich, zum Beispiel auch durch den Klimawandel, ganz neue Herausforderungen – mit mehr Starkregenereignissen, mit Hitzeereignissen, mit der Frage, wie die Grundwasser- und Trinkwasserversorgung dementsprechend in Zukunft zu gestalten ist. Da ist es jetzt wichtig, dass alle Betroffenen, die Kommunen, die Länder und der Bund, gemeinsam die Herausforderungen aufgreifen, die dort auf uns zukommen, um die gute Trinkwasserversorgung, die wir in Deutschland haben, auch noch in 20 oder 30 Jahren aufrechterhalten zu können. Es sind enorme Herausforderungen, die da vor uns liegen.
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Es ist richtig, dass wir mehr über die Belastungen wissen, denen unsere Gewässer ausgesetzt sind. Es gibt zusätzliche Gefahren, die die Menschen berechtigterweise in Sorge versetzen. Ich nenne das Thema Mikroplastik, das angesprochen worden ist. Es gibt verschiedene Stoffe aus Medizinprodukten usw., die in die Natur gelangen. Das Nitrat und verschiedene andere Dinge belasten nach wie vor die Grundwasserkörper und die Gewässer.
Wir in Deutschland haben aber – ich glaube, ernsthafter als viele andere Länder in Europa – mit der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie begonnen. Auf allen Ebenen sind wir dort aktiv. Trotzdem ist der Zustand der Gewässer nicht in einem befriedigenden oder guten Bereich. Die Wasserrahmenrichtlinie sieht allerdings in der Betrachtung nur „gut“ oder „schlecht“ vor. Die Verbesserungen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten massiv vorangetrieben worden sind, werden aufgrund dieser einfachen Betrachtungsweise nicht deutlich.
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Wenn man sich anschaut, was wir zum Beispiel im Hinblick auf die chemische Belastung im Vergleich zu den 70er-, 80er-, 90er-Jahren erreicht haben, dann erkennt man enorme Fortschritte. Weil Deutschland aber viele Altlasten hat, die nicht zu beseitigen sind und immer noch in die Flüsse eingehen, haben wir einen Gewässerzustand, der nur in 20 Prozent der Fälle gut oder sehr gut ist. Wenn man die Altlasten bei zwei chemischen Stoffen aber nicht betrachten würde, hätten wir bei 80 Prozent der Gewässer einen guten chemischen Zustand. Das ist ein Indikator dafür, dass wir ziemlich viel erreichen und auf einem guten Weg sind. Ich finde, Umweltpolitik muss auch Erfolge deutlich und sichtbar machen. Nur dann kämpfen Menschen weiter für den Umweltschutz.
Wir haben uns mit den Ländern und Kommunen insgesamt 100 000 Maßnahmen vorgenommen – das ist auf der letzten Umweltministerkonferenz bestätigt worden –, um den Zustand der Gewässer zu verbessern. Ich rufe aber auch dazu auf, die Personalsituation in den Ländern und in den Kommunen zu verbessern und die Zuschusspraxis zu überprüfen, weil es den Kommunen oft trotz Zuschüssen nicht gelingt, die notwendigen Umsetzungen in ihren Zuständigkeitsbereichen vorzunehmen, um die Gewässerqualität zu verbessern. Deswegen gibt es dort – auch wenn schon viel passiert – noch eine Menge Handlungsbedarf, um unser wichtigstes Gut Wasser auch in Zukunft zu schützen.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Gero Hocker.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will hier ganz ausdrücklich in Richtung der antragstellenden Fraktion – in Ihre Richtung, Herr Hofreiter – formulieren: Was Sie hier betreiben, indem Sie pauschal die Landwirtschaft in eine bestimme Ecke stellen – ich sage: an den Pranger stellen –, und das ohne jede faktische Fundierung,
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ist blanker Populismus,
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der mit Ängsten spielt, die Sie selber erzeugt haben. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Es läuft bei Ihnen ja immer nach demselben Schema ab, etwa beim Thema „Multiresistente Keime im Trinkwasser“. Obwohl die Gabe von Antibiotika in der Landwirtschaft in den letzten Jahren mehr als halbiert worden ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, sagen Sie: Haltet den Dieb! – Keiner weiß tatsächlich, wie viele Antibiotika in der Humanmedizin gegeben werden. Das ist Ihnen völlig egal; diese Fakten blenden Sie aus. Stattdessen ist für Sie die Landwirtschaft allein der Verursacher, und das kann es nicht sein, meine Damen und Herren.
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Das Gleiche geschieht, Herr Kollege Hofreiter, wenn wir über den Klimawandel sprechen, wenn wir über CO 2 -Emissionen sprechen. Auch da ist für Sie die Landwirtschaft einer der Treiber.
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Sie blenden wiederum völlig aus, dass gerade die Forst- und Landwirtschaft als einziger Wirtschaftsbereich überhaupt in der Lage ist, CO 2 zu binden – wenn Bäume gepflanzt werden, wenn Nahrungsmittel erzeugt werden, wenn Pflanzen angebaut werden. Herr Hofreiter, es kann nicht sein, dass Sie so singulär argumentieren und so pauschal und populistisch ans Werk gehen.
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Genauso populistisch gehen Sie beim Thema Nitrat vor. Die Messergebnisse zeigen, dass insbesondere in den Regionen, in denen es Intensivtierhaltung gibt, häufig genug keine Auffälligkeiten zu erkennen sind. Gleichzeitig blenden Sie aus, dass gerade in Großstädten in Deutschland 50 Prozent der Abwässer, die aus privaten Haushalten in die Abwassersysteme eingeleitet werden, nicht bei den Kläranlagen ankommen, weil sie auf dem Weg dorthin durch Leckagen diffundieren.
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Trotzdem machen Sie die Landwirtschaft verantwortlich. So einfach, wie Sie sich das machen, funktioniert es in der Realität nicht, Herr Hofreiter.
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Meine Damen und Herren, bereits vor gut anderthalb Jahren ist die Düngeverordnung das letzte Mal verschärft worden. Die Daumenschrauben für Landwirte sind noch fester angezogen worden. Dabei dauert es Jahre, bis man überhaupt erkennen kann, wie sich die Novellierung auf die Qualität unserer Grundwasserkörper auswirkt. Trotzdem fordern Sie bar jeder Vernunft, bar jeder Erkenntnis der geologischen, chemischen, physikalischen und hydrologischen Wissenschaft eine weitere Verschärfung. Und wenn die Düngeverordnung noch fünfmal verschärft werden würde: Für Sie, Herr Hofreiter, stünde der Schuldige längst fest, nämlich die Landwirtschaft. Das hat vielleicht in den Jahren 2013 bis 2017 funktioniert. Aber seit es wieder eine FDP-Bundestagsfraktion gibt, bleiben diese Anschuldigungen nicht unwidersprochen.
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Natürlich gibt es in bestimmten Regionen Nitratüberschüsse. In einigen Bereichen gibt es aber auch Nachfrage nach wertvollem Wirtschaftsdünger; denn durch ihn wird – wie Sie hoffentlich wissen, Herr Hofreiter – die Bodenfruchtbarkeit verbessert und Humusbildung erst möglich. Das zeigt eines ganz deutlich: Es kann nicht darum gehen, über ganz Deutschland dieselben Regularien auszurollen, sondern es geht darum, dass wertvoller Wirtschaftsdünger aus den Regionen, in denen es Überschüsse gibt, dorthin gebracht werden kann, wo Nachfrage nach diesem wertvollen Wirtschaftsdünger existiert. Das ist der Punkt, an dem Politik ansetzen muss, anstatt pauschal irgendwelche Daumenschrauben anzuziehen.
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Herr Hofreiter, die Nichtanerkennung von wissenschaftlichen Fakten wird in der Politik seit einigen Jahren als Fake News bezeichnet. Mit einer derartigen Negierung wissenschaftlicher Fakten machen Sie sich gemein mit all denjenigen, die aus Fake News und Angst ein politisches Geschäftsmodell – auch in diesem Hohen Hause – gemacht haben.
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Mit denen wollen Sie sich doch eigentlich am allerwenigsten gemein machen, aber genau das tun Sie mit solchen Reden, wie Sie sie eben im Deutschen Bundestag gehalten haben.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Ralph Lenkert.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sauberes Wasser ist Menschenrecht. Letztens las ich von Ivo Pala den Roman „H 2 O“. Ivo Pala beschreibt, wie Terroristen im Bayerischen Wald mit atomarem Müll aus Atomkraftwerken das Trinkwasser verseuchen. Tausende sterben, und ganze Regionen sind auf Jahrzehnte unbewohnbar. Sicher, das ist eine düstere Vision, aber sie zeigt uns deutlich auf, was passiert, wenn diese wertvolle Ressource nicht mehr bedenkenfrei getrunken werden kann.
Diese Gefahr – und da ich muss zur rechten Seite des Hauses gucken – ist in Deutschland real. 20 Millionen Euro müssen die Wasserwerke Frankfurt/Oder zukünftig aufbringen, damit das Trinkwasser trotz der Sulfatbelastung der Spree und aufgrund zurückgehender Grundwasserbestände genießbar bleibt. Wenn sich jemand hierhinstellt und trotz der Tatsache, dass 17 Prozent der Grundwasserkörper bereits nicht mehr trinkbar sind, behauptet, wir hätten kein Problem, dann frage ich mich: Wann fängt bei Ihnen denn das Problem an?
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Den meisten ist bekannt, dass unser Wasser gefährdet ist. Es geht um Pestizide aus Landwirtschaft, aus Fassadenfarben und aus Dämmstoffen. Es geht um Kunststoffe aus Reifenabrieb, aus weggeworfenem Plastik und aus Kosmetika. Es geht um Nitrate aus der Düngung, aber auch umgewandelt aus überhöhten Stickoxidabgasen der Dieselfahrzeuge. Es geht um Schwermetalle und Quecksilber aus Bergbau, aus Industrie und auch aus Kohlekraftwerken. Es geht um Salze, die vom Winterdienst ausgebracht werden, aber eben auch von Kali + Salz und von Braunkohletagebauen, die Sulfat in die Flüsse leiten. Es geht um Medikamentenreste, die nach medizinischer Behandlung – das gilt auch für die Tiermedizin – ins Wasser gelangen.
Unser Wasserkreislauf ist noch mit weiteren Substanzen belastet, von denen wir heute noch nicht wissen, ob sie kritisch sind, beispielsweise die Fluoressigsäure. Sie ist ein Zerfallsprodukt eines neuen Kältemittels in Pkws. Die Wissenschaftler wissen, dass es sich absetzt; sie wissen, es ist persistent. Aber was passiert, das wissen sie nicht. Wir sagen: Wir müssen Risiken ausschließen. Unser Trinkwasser ist Lebenselixier, das wir schützen müssen. Deshalb unterstützen wir alle Vorschläge, die in diese Richtung gehen. Vorausschauendes Handeln und Risikominimierung sind hier unerlässlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, wir müssen auch das Verursacherprinzip berücksichtigen. Wer Wasserverunreinigung verursacht, wessen Produkte gefährlich sind, der muss sich an der Wasserreinigung beteiligen.
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Lassen Sie mich ein etwas älteres Beispiel für die Herren der FDP zur Erinnerung nennen. Der Emscher-Lippe-Wasserverband stellte schon vor zehn Jahren fest, dass 70 Prozent der Arzneimittelrückstände, die sich in Gewässern finden, aus Punktquellen stammen. Das ist ein Problem.
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– Ja, jetzt kommt noch eine weitere Information für Sie. – Die Arzneimittelrückstände könnten beseitigt werden, indem in Krankenhäusern und Altersheimen rechtzeitig entsprechende Anlagen installiert werden. Vorschläge dazu haben wir eingebracht, aber sie wurden von Ihnen ignoriert. Inzwischen sind beim Fraunhofer-IKTS in Hermsdorf, Thüringen, Keramiken entwickelt worden, die diese Filterung übernehmen könnten. Das ist relativ teuer, aber es ist besser, die Rückstände schon in den Krankenhäusern zu beseitigen als in der kommunalen Kläranlage. Die Kosten muss der Verursacher tragen.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, jetzt komme ich zu Ihnen. Jeder von uns hat Altarzneimittel, und selbstverständlich entsorgen Sie diese nicht über die Spüle oder die Toilette. Trotzdem sind 15 Prozent der Rückstände von Arzneimitteln über diesen falschen Weg in die Gewässer gelangt. Da stellt sich die Frage: Wieso? Wie können Sie Ihre Medikamente entsorgen? In der Apotheke zurückgeben? – Nein. Das hat die FDP verhindert.
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Sie hat die Rücknahmepflicht in den Apotheken, finanziert durch Pharma-Konzerne, abgeschafft, um den Pharma-Konzernen höhere Gewinne zu verschaffen, und das ist schäbig.
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Ich möchte hinzufügen: Die Union hat 2012 ebenfalls einen von uns eingebrachten Antrag abgelehnt, in dem wir gefordert haben, dass man wenigstens auf die Medikamentenschachtel druckt: Bitte in die Mülltonne werfen! – Doch selbst das haben Sie mit der Begründung abgelehnt – hören Sie genau zu –, das wäre zu teuer. Es ist schäbig, sich hierhinzustellen und zu sagen: „Die anderen machen Panik“, wenn Sie nicht mal die kleinsten Maßnahmen umsetzen. Das könnten wir übrigens ganz schnell beschließen. Ein verpflichtender Aufdruck macht niemanden pleite.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuhörer, ich komme aus Thüringen.
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Als Techniker kann ich das Verhalten der unionsgeführten Regierung in Berlin und in Hessen nicht verstehen. Ehrlich! Wenn Sie sich von Kali + Salz aus Kassel erklären lassen, dass es keine Alternative zur Haldenaufschüttung und zur Salzeinleitung gäbe, dann kennen Sie den Stand der Technik nicht. Die Firma K-UTEC, übrigens auch aus Thüringen, hat ein Verfahren entwickelt, das die Haldenaufschüttung und die Salzeinleitung in die Werra verhindern könnte. Angeblich soll das in Hessen nicht funktionieren. Die Firma K-UTEC setzt dieses Verfahren für Kali + Salz in Kanada ein; dort funktioniert es. Bei einer neuen Kali-Aufschlussanlage in Niedersachsen ist es eingeplant. Lassen Sie sich von den Konzernen nicht so vorführen.
Wasser ist Menschenrecht. Es muss geschützt werden. Die Linke lehnt jede Privatisierung und jeden Angriff auf diese Daseinsvorsorge ab. Lassen Sie uns die Ursachen von Verschmutzung bekämpfen.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Kees de Vries.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Eines möchte ich eingangs gleich klarstellen: Die Landwirte setzen sich schon aus eigenem Interesse für eine gesunde Umwelt ein und sind die aktivsten und effektivsten Umweltschützer.
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Erlauben Sie mir einen kurzen Rückblick. In den 60er-Jahren hat EU-Kommissar Mansholt von der Landwirtschaft gefordert, mehr Chemie und mehr Düngemittel einzusetzen. Die Landwirtschaft musste – das war ganz klar – eine stark wachsende Bevölkerung ernähren. Wir Landwirte haben gut zugehört. Und ja, wenn ich zurückdenke, dann muss ich sagen: Wir haben in den 70er- und 80er-Jahren unsere Umwelt ausgebeutet und verschmutzt, obwohl, Herr Hofreiter, wir uns immer an geltendes Recht gehalten haben.
Das zunehmend vernetzte Agieren von wissenschaftlicher Grundlagenforschung und guter fachlicher Praxis hat immer wieder neue umweltrelevante Erkenntnisse hervorgebracht, und die Landwirte – immer noch gute Zuhörer – haben ihre Arbeitsweise immer wieder an die neuen Erkenntnisse angepasst. Das führte dazu, dass ich seit 27 Jahren – so lange lebe ich inzwischen in Deutschland – alle Jahre wieder in der Zeitung lesen kann, dass die Oberflächengewässer wieder sauberer geworden sind.
Leider aber haben wir in unserem Grundwasser punktuell immer noch zu hohe Nitratwerte. Die Ursache dafür ist eindeutig in der Langzeitwirkung zu finden. Für Fehler, die wir vor 20 bis 30 Jahren gemacht haben – und die haben wir gemacht –, tragen wir heute die Konsequenzen. Wer aber glaubt, dass zum Beispiel mit einem emissionsarmen Ausbringen von Gülle das Problem gelöst ist, dem möchte ich sagen: Gut gedacht ist nicht immer gut gemacht. Holland hat hier viel Erfahrung gesammelt. Dort ist man inzwischen deutlich zurückgerudert.
Zum Glück aber haben wir die Grünen:
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Einfach pauschal einen maximalen Überschuss von 30 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr sowie eine flächengebundene Tierhaltung beschließen, und das Problem ist gelöst. – Bei Ihren pauschalen Forderungen verkennen Sie nicht nur die Langzeitwirkung, sondern auch die unterschiedlichen natürlichen Ursachen und den Umfang der Nitratbelastung.
Schauen wir uns einfach mal die roten Gebiete an. Ein Grundwasserkörper mit einer mittleren Größe von etwa 200 Quadratkilometern wird schon zum roten Gebiet, wenn an nur zwei Messstellen die Grenzwerte überschritten werden. Es lohnt sich, die Fließbewegungen und die Eintragswege genauer zu untersuchen, um genaue Nitratbelastungen festzustellen. Mein Heimatbundesland Sachsen-Anhalt hat dies getan. Die roten Gebiete konnten um zwei Drittel verringert werden.
Ich möchte auf mögliche Ursachen für die Nitratbelastung und mögliche Lösungen eingehen: Ja, klar, es ist so: Neben zu wenig Niederschlag und zum Beispiel intensivem Gemüseanbau kann auch ein regional zu hoher Tierbestand die Ursache sein. Allerdings ist Ihre Forderung nach einem Abbau der Tierbestände komplett unsinnig. Mit bundesweit durchschnittlich 1,38 Großvieheinheiten pro Hektar liegen wir sogar weit unter Ihrer Forderung.
Aber der Viehbestand ist ungünstig verteilt. Und wo besonders viele Tiere gehalten werden, werden Grenzwerte auch mal überschritten. Vernünftig wäre also eine optimale Verteilung der Bestände, um damit flächendeckend zu gesünderen Böden in Deutschland zu kommen. Dieser Umstand trifft übrigens eins zu eins auch für Europa zu. Es liegt auf der Hand, dass die neuen Verschärfungen der Düngeverordnung auf Dauer zu einer Verlagerung der Tierbestände führen werden – der erste Schritt wäre gemacht –; aber nur, wenn Sie mitmachen.
Wenn Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Grünen, mal etwas richtig Gutes für unsere Umwelt tun wollen, dann setzen Sie sich für Stallneubauten in Gebieten mit geringer Viehdichte ein.
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Wir haben viele Regionen, in denen organischer Dünger gebraucht wird. Aber in diesen Regionen können neue, moderne, umwelt- und tierschutzgerechte Ställe von unseren Landwirten nur dann errichtet werden, wenn Sie, liebe Grünen, nicht bei jeder Initiative den Weltuntergang prophezeien und durch diese Angstmacherei jeden Bauantrag torpedieren. Ganz nebenbei würde der Stallneubau übrigens dazu führen, dass deutlich weniger Gülle quer durch Deutschland und Europa transportiert wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer mir wirklich zugehört hat, der hat längst erkannt, dass gezielte Maßnahmen dazu führen, dass wir insgesamt weniger Stickstoffbedarf und weniger Emissionen haben werden, sowohl in der Luft als auch im Grundwasser. Im Übrigen ist dieser Fakt auch auf der kürzlich in Hamburg zu Ende gegangenen Umweltministerkonferenz bestätigt worden.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie haben die Wahl: Weitermachen mit der grünen Anti-Massentierhaltungspropaganda, die jedes konstruktive Gespräch mit Bürgern zum Thema Stallneubau unmöglich macht, oder ein ehrliches Agieren Ihrerseits im Sinne unserer Umwelt, und zwar gemeinsam mit unseren Landwirten und nicht gegen sie.
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Stand heute kann ich Ihren Antrag leider nur als populistischen Aktionismus ansehen, der stark nach Wahlkampf riecht und deshalb abzulehnen ist. Ob Sie es mit unserer Umwelt wirklich ernst meinen, können Sie selbst unter Beweis stellen.
Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Heiko Wildberg.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle wollen sauberes Wasser, bezahlbares Trinkwasser; wir wollen aber auch Obst, wir wollen Gemüse, und die meisten von uns wollen auch Eier, Käse und Fleisch. Alle wollen Arzneimittel, die sicher und schnell heilen. Viele wollen Verhütungsmittel, Kosmetika, Äpfel ohne Wurmlöcher und, bei Bedarf, auch künstliche Herzklappen. Und es ist gut, meine Damen und Herren, dass es alle diese Produkte und Lebensmittel jederzeit gibt, und es ist gut, dass sie uns immer zur Verfügung stehen. Diese lebenswichtige Grundversorgung darf auf keinen Fall gefährdet werden.
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Im Antrag der Grünen gibt es eine etwas missverständliche Formulierung, die man unbedingt klarstellen sollte. Da heißt es nämlich – ich zitiere –: „… unverzüglich eine verbindliche Liste persistenter Stoffe“ zu etablieren, „die nicht mehr in Arznei-, Pflanzenschutz- sowie Wasch- und Reinigungsmitteln verwendet werden dürfen und durch ungefährliche Stoffe zu ersetzen sind“. Meine Damen und Herren, ich will das jetzt mal nicht böswillig interpretieren. Man könnte aber sagen, Sie wollen, dass Stoffe vom Markt genommen werden, wodurch gerade die lebenswichtige Grundversorgung mit Antibiotika gefährdet wird. Ich kann beispielsweise keine Antibiotika vom Markt nehmen, ohne ein Ersatzpräparat zu liefern. Das geht sicherlich nicht.
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Meine Damen und Herren, den Antragstellern ist offensichtlich nicht bewusst, was passieren würde, wenn der Bundestag einem solchen Antrag zustimmen würde: nicht zu behandelnde Infektionskrankheiten wegen fehlender Antibiotika, Ernteausfälle wegen fehlender Pflanzenschutzmittel. Auf solche Kollateralschäden grüner Verbotspolitik können wir jederzeit verzichten.
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Wer kann denn schon unverzüglich Antibiotika ohne Nebenwirkungen entwickeln oder Pflanzenschutzmittel ohne Folgewirkungen? Das sollten wir immer bedenken, wenn wir diese Mittel kritisieren, die natürlich in unsere Umwelt, in unsere Gewässer, in unser Grundwasser und im schlimmsten Fall sogar in unser Trinkwasser gelangen können.
Meine Damen und Herren, Wasser ist in der Tat ein lebenswichtiges Gut, und es ist unser aller Aufgabe, dieses sauber zu halten. Das gebietet nicht zuletzt unsere Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern, aber auch unsere Verantwortung gegenüber der Umwelt.
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Meine Ausführungen machen deutlich, dass es hier wieder den bekannten Zielkonflikt zwischen den Bedürfnissen einer entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft auf der einen Seite und den Erfordernissen eines langfristigen Erhalts sauberen Wassers auf der anderen Seite gibt. Diesen Konflikt können wir sicherlich nicht durch das Malen eines drastisch übertriebenen Katastrophenszenarios – wie in den Anträgen der Grünen – lösen. Das geht sicherlich nicht, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen zur Lösung dieses Zielkonfliktes vielmehr eine nüchterne Abwägung. Die ökologisch notwendigen Maßnahmen zur Gewässerreinhaltung stehen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite müssen wir die ökonomischen und sozialen Komponenten ausloten, um diesen Zielkonflikt sozialverträglich und bezahlbar, wie es in dem Antrag heißt, lösen zu können.
Meine Damen und Herren, in diesem Augenblick gibt es Tausende von Menschen, die in diesem Land damit beschäftigt sind, Proben zu nehmen, zu analysieren, zu forschen und zu berichten. Hören wir doch einfach mal, was diese Damen und Herren zu sagen haben, und hören wir nicht auf irgendwelche ideologischen Neinsager.
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Diese Ideologie folgt doch nur dem Motto: Alles, was ich nicht mag, soll verboten werden. Alles, was ich mag, ist mein Recht, und andere sollen dafür bezahlen.
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Dies kann nicht das Motto meiner Partei sein, meine Damen und Herren.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich denke, dass wir mit diesen beiden Anträgen inhaltlich sicherlich nicht konform gehen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Michael Thews, SPD-Fraktion.
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Ganz zu Anfang, Herr Wildberg: Wer den vom Menschen gemachten Klimawandel leugnet, übernimmt garantiert keine Verantwortung für die nächsten Generationen; das will ich Ihnen gleich sagen.
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Also, insofern stellen Sie Ihre Fraktion nicht als an Nachhaltigkeit und an kommenden Generationen interessiert dar.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen!
Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss.
Dieses Zitat findet sich in den Erwägungsgründen der europäischen Wasserrahmenrichtlinie. Für uns alle ist mit Sicherheit ausreichendes Trinkwasser von hoher Qualität direkt aus dem Hahn eine Selbstverständlichkeit. Deswegen vergessen wir manchmal, dass dieses Gut auch geschützt werden muss. Um es an dieser Stelle noch einmal deutlich zu sagen: Für mich gehört eine gute Wasserversorgung in Deutschland zur Daseinsvorsorge und damit auch in die öffentliche Hand.
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Zum Schutz des Wassers gibt es heute eine ganze Reihe von Regelungen: national das Wasserhaushaltsgesetz oder den Leitfaden des Abwasserverbands zu Oberflächengewässern oder die Grundwasserverordnung und auf europäischer Ebene die Wasserrahmenrichtlinie oder die Nitratrichtlinie, um nur einige zu nennen. Letzten Endes sorgen aber unsere Wasserversorgungsunternehmen dafür, dass auch zukünftig einwandfreies Wasser aus dem Hahn kommt. Dabei müssen wir sie auch unterstützen.
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Die Überschrift des Antrags der Grünen „Wasser muss sauber und bezahlbar bleiben“ ist, finde ich, durchaus passend. Liest man sich allerdings den Rundumschlag der Grünen durch, dann fragt man sich, was die Grünen unter „bezahlbar“ verstehen. Richtig ist, dass wir immer wieder an der Quelle der Verunreinigungen ansetzen müssen, damit nicht die ganze Verantwortung bei den Kläranlagen liegt und wir damit im Endeffekt den Bürgerinnen und Bürgern die Kosten übertragen.
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Es ist eben nicht sinnvoll, alle 9 500 Kläranlagen mit einer neuen Reinigungsstufe auszurüsten, um Stoffe aus dem Wasser zu holen.
Die sogenannte vierte Reinigungsstufe ist kein Allheilmittel und darf es auch nicht sein. Eigentlich gibt es auch gar keine vierte Reinigungsstufe. Es gibt vielmehr eine Reihe von Techniken, die zusätzlich zur Kläranlage zum Einsatz kommen können: Ozonisierung, Aktivkohlefilter, Nanofiltration oder Umkehrosmose; Reinigungsverfahren, die immer einige Problemstoffe in Angriff nehmen, aber nie alle beseitigen können und auch nicht in jeder Kläranlage Sinn machen. Wer das nicht wahrhaben will, dem empfehle ich, sich die öffentliche Anhörung zum Thema multiresistente Keime vom Juni letzten Jahres anzusehen. Aus dieser Anhörung hat sich klar ergeben, dass bisher noch keine Technik dazu geeignet ist, alle multiresistenten Keime aus dem Wasser zu holen. Eine weitere Reinigungsstufe kann also nur in bestimmten Gebieten und für bestimmte Kläranlagen das Mittel zur Wahl sein.
Richtig ist aber auch, dass der Zustand der Gewässer in Deutschland nicht so schlecht ist, wie es uns der Antrag der Grünen glauben macht. Wenn man die ubiquitären, also weitverbreiteten, Schadstoffe, die sich angereichert haben und die nur schwer zu entfernen sind, rausrechnet, dann haben jetzt schon 84 Prozent der Oberflächenwasserkörper einen guten chemischen Zustand. Trotzdem können wir uns mit dem Zustand unserer Gewässer insgesamt nicht zufriedengeben. Wir müssen, wie schon erwähnt, früh an der Quelle der Verunreinigungen ansetzen und die Verursacher von Gewässerverunreinigungen auch in die Verantwortung nehmen.
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Beispielhaft dafür ist der strategische Ansatz der Europäischen Union für Arzneimittel in der Umwelt, den wir diese Woche im Umweltausschuss debattiert haben. Die Kommission will Forschung und Innovation bei der Entwicklung von Arzneimitteln unterstützen, die unsere Gewässer deutlich weniger belasten; Arzneimittel, die sich in Kläranlagen und der Umwelt leichter zu umweltverträglichen Stoffen abbauen. Sie will aber eben auch im Rahmen der Herstellerverantwortung die Arzneimittelindustrie stärker in die Pflicht nehmen. Ich meine, das ist auch gut so.
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Ein wichtiger Ansatzpunkt bei der Bekämpfung von Arzneimittelrückständen und auch multiresistenten Keimen im Wasser ist die Identifizierung von Punktquellen, also genau da, wo sozusagen die größte Belastung zu erwarten ist. Ein gutes Beispiel dafür ist das Klinikum in Duisburg. Geplant ist hier eine innovative Reinigungsanlage, ein sogenannter Pharmafilter, der gezielt Krankenhausabwässer von Spurenstoffen und anderen Stoffen reinigen soll. Die Ergebnisse aus diesen und anderen Projekten werden in Zukunft helfen, Problemstoffe noch effizienter aus dem Wasser zu entfernen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Grundwasser werden deutschlandweit etwa 1 200 Grundwasserkörper bewirtschaftet. Die meisten sind mengenmäßig in einem guten Zustand. 63,7 Prozent dieser Grundwasserkörper sind auch in einem guten chemischen Zustand. Das heißt aber, dass es bei etwa 40 Prozent Probleme gibt. Meistens handelt es sich dabei – das haben wir heute schon an vielen Stellen gehört – um das Thema Nitrat. Ich meine, wir müssen dringend die Situation ändern und hier zu einer Novellierung der Düngeverordnung kommen. Wir müssen den gordischen Knoten durchschlagen und eine Einigung finden.
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Zum Schluss ein Wort zur Wasserrahmenrichtlinie. Ich meine, wir können auch in dieser Legislaturperiode das Ziel der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie intensiv angehen, damit wir die Ziele für das Jahr 2027 erreichen. Dazu müssen wir auch in den Bereichen, in denen der Bund die Zuständigkeit hat, zu einer beschleunigten Umsetzung der geplanten Maßnahmen und auch zusätzlicher Maßnahmen kommen. Es wurde ja schon angesprochen, dass wir zum Beispiel die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung personell unterstützen müssen.
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Das geschieht gemäß der Agenda 2030 und dem Nachhaltigkeitsziel 6: Sauberes Wasser in einer ökologisch guten Qualität und mehr Biodiversität in unseren Gewässern.
Vielen Dank.
({9})
Als Nächstes hat das Wort der Kollege Dr. Lukas Köhler, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wasser ist ein zentraler Bestandteil unseres Lebens. Wir sollten gerade hier im Hohen Haus, aber auch auf allen Ebenen politisch wohlüberlegt damit umgehen. Ich denke, wir müssen über die Frage der Ebenen – das muss das Ziel sein – politisch diskutieren, und auch darüber, wie wir auf den richtigen Ebenen politische Veränderungen anreizen können.
Meine Damen und Herren, das Umsetzen von Politik muss natürlich auf regionaler, auf lokaler und auf nationaler Ebene geschehen. Aber die Verhandlungen darüber, was gutes Wasser ist, wie die Wasserrahmenrichtlinie ausgestaltet wird, das geschieht auf europäischer Ebene. Liebe Grüne, das vermisse ich in Ihrem leider viel zu national gestrickten Antrag völlig. Das ist das große Problem, das ich mit dem Antrag habe.
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Ich verstehe ja, dass Sie die Situation als unbefriedigend empfinden, zum Teil tun wir das auch. Natürlich gehen Veränderungen nicht schnell genug. Aber, meine Damen und Herren, Sie hinken mit diesem Antrag Ihrer Zeit deutlich hinterher, und zwar vor allem auf europäischer Ebene. Sie fordern unter anderem die Einführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung für Arzneimittel. Ja, da müssen wir ran. Aber warten Sie doch den Konsultationsprozess auf europäischer Ebene ab. Am 30. Juni dieses Jahres, also nicht in zwei Jahren, sondern gut in einem Monat, ist das Thema durch. Da geht es genau um die Frage, wie wir diese Umweltverträglichkeitsprüfung auf europäischer Ebene – da gehört sie hin – umsetzen können. Das muss der Punkt sein. Wir müssen die Ebenen einhalten. Da können wir einiges tun.
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Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf einen anderen Punkt aus Ihrem Antrag eingehen. Ich möchte gerne das Menschenrecht auf sauberes Wasser nennen. Das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen ist seit 2010 ein extrem wichtiger Bestandteil unserer Menschenrechtskonzeption. Das ist richtig. Ich glaube, die Umsetzung dieser Rechtspraxis auf nationaler Ebene und weltweit ist eine notwendige Bedingung.
Aber, liebe Grüne, Sie fordern nicht das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen ein, sondern – ich zitiere – „das Menschenrecht auf Zugang zu Wasser an öffentlichen Plätzen und Einrichtungen“. Meine Damen und Herren, es gibt ein solches Menschenrecht nicht. Das ist auch aus gutem Grund so. Das würde nämlich bedeuten, dass jemand, der in München auf dem Marienplatz keinen Trinkwasserspender findet, vor den EGMR ziehen könnte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und einen Trinkwasserspender auf diesem Platz einklagen könnte.
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Wir haben viele Probleme, die wir angehen müssen. Wir haben aber wenig Geld und nicht mehr viel Zeit. Ein solches Menschenrecht in einem Antrag einzufordern, greift viel zu kurz. Das berücksichtigt auch nicht die Ebenen, auf denen etwas passieren muss. Wir müssen und können die Wasserrahmenrichtlinie weiterentwickeln. Wir können die Umsetzung auf deutscher Ebene fortführen. Wir können gemeinsam mit den Landwirtinnen und Landwirten dafür sorgen, dass die Wasserqualität sowie der ökologische und chemische Zustand der Gewässer verbessert werden. Aber lassen Sie uns das mit Vernunft und Rationalität tun.
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Ein letzter Satz. Der Antrag strotzt vor Verboten und Prüfaufträgen. Mit Verboten haben wir große Probleme. Mit Prüfaufträgen sind wir ordentlich auf die Nase gefallen. Ich rate uns, hier konkrete, klare Vorschläge für Änderungen zu machen. Dann kommen wir gerade im Wasserbereich sinnvoll zusammen.
Herzlichen Dank.
({4})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Bettina Hoffmann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Wasser kein Leben! Und was tun wir? Wir setzen es überall aufs Spiel. Der chemische Zustand aller Oberflächengewässer ist schlecht, unabhängig von der jeweiligen Definition. Da genügt ein Blick auf die Ostsee. Nitrat lässt dort Algen wuchern. In den Todeszonen gibt es keinen Sauerstoff und kein Leben mehr.
({0})
Das alles geschieht bei uns. Doch das ist noch nicht alles. Auch etwa ein Drittel unseres Grundwasserkörpers ist in keinem guten Zustand. Das ist besonders schlimm; denn Grundwasser ist der Schatz in unserem Boden. Bis zu 70 Prozent unseres Trinkwassers kommen von dort. Der Nitratgehalt ist vielerorts so hoch, dass ohne die Arbeit der Wasserversorger das Wasser gar nicht genießbar und die Gesundheit von Säuglingen gefährdet wäre. Häufig müssen die Wasserversorger belastetes Grundwasser mit sauberem mischen, um die Grenzwerte einzuhalten. Das ist ein Skandal und bleibt nicht ohne Folgen.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hocker?
Nein, am Ende bitte. – Die Wasserwerke rechnen uns vor: Die Kosten der Wasseraufbereitung werden in besonders belasteten Regionen um bis zu 60 Prozent steigen. Tragen werden diese Kosten voraussichtlich die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wasserschutz ist Gesundheitsschutz, Verbraucherschutz und Artenschutz. Der Bauernverband und Frau Klöckner können daher nicht alleine entscheiden, wie es mit der Düngeverordnung weitergeht.
({0})
Sie sind es aber, die Verantwortung tragen. Doch die Strafe für ihr Versagen – immerhin drohen 850 000 Euro pro Tag als Schadensersatz – werden wohl die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu zahlen haben. Offensichtlich kann uns die Bundesregierung – vielleicht will sie das auch nicht – kein sauberes Wasser garantieren. Doch jetzt kommt es darauf an. Schadstoffe müssen an der Quelle gestoppt werden. Diejenigen, die zur Wasserverschmutzung beitragen, müssen dafür bezahlen und grundsätzlich umsteuern.
({1})
Das heißt, die Bauern müssen deutlich weniger Gülle und Mineraldünger ausbringen.
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Sie müssen aus der Massentierhaltung aussteigen. 2 Kühe oder 20 Schweine pro Hektar – damit man sich das einmal vorstellen kann – kann die Natur geradeso vertragen. Mehr geht nicht. Das ist die eine Seite.
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Zudem gibt es Industriechemikalien im Wasser, die so schädlich sind, dass sie auf eine Verbotsliste gehören. Schmerzmittel, Antidepressiva, Antibiotika und Verhütungsmittel – von Hormongiften gar nicht zu reden – kommen hinzu. Spuren davon gelangen in unser Trinkwasser. Daher brauchen wir dringend klare Kriterien für eine vierte Reinigungsstufe an besonderen Hotspots wie Kliniken und einen Verursacherfonds, durch den Industrie und Landwirtschaft an den Kosten für die Wasserreinigung beteiligt werden.
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Das sind unsere Vorschläge; darüber können wir gerne diskutieren.
Würden Sie bitte zum Ende kommen.
Letzter Satz. – Aber eines sind unsere Vorschläge nicht: Sie sind nicht Ausdruck von Ideologie und Panikmache. Unsere Forderungen decken sich zu 95 Prozent mit den Forderungen der Wasser- und Abwasserwirtschaft, und das sind keine Grüne.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion.
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Hochgeschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn uns die Diskussion eines gezeigt hat, dann das, dass wir uns alle einig sind, dass sauberes Trinkwasser ein hohes Gut ist, das wir alle schützen müssen. Daran müssen wir arbeiten. Wenn ich aber vom Kollegen Hofreiter höre, dass nur die Landwirtschaft die Böse ist und schuldig daran ist, dass unser Trinkwasser Probleme hat,
({0})
dann muss ich sagen: So einfach geht das nicht.
({1})
Gehen wir doch einmal in die Praxis. Herr Hofreiter, wenn Sie mir jetzt zuhören, können Sie vielleicht noch etwas lernen.
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Wir haben nun eine Düngeverordnung, die einen Höchststickstoffeintrag von 170 Kilogramm pro Hektar durch Wirtschaftsdünger vorschreibt. Sie verteufeln hier die deutsche Landwirtschaft. Es gibt in Deutschland Regionen, in denen die Grundwasserwerte bei 9 bis 12 Milligramm Nitrat liegen. Das sind – von der Wasserqualität und nicht von der politischen Richtung her – sogenannte grüne Regionen. In diesen grünen Regionen können die Landwirte jetzt nur noch 170 Kilogramm Wirtschaftsdünger aufbringen. Aber in diesen Regionen gibt es auch Tierhaltung, die die Landschaft freihält. In diesen Regionen fällt drei-, viermal so viel Regen wie beispielsweise in Brandenburg. Die betreffenden Betriebe in Süddeutschland müssen nun darüber nachdenken, ob sie aufgrund der aktuellen Düngeverordnung die Tierhaltung einstellen, obwohl das Grundwasser in Ordnung ist. Das haben auch Sie mit Ihrem Populismus zu verantworten.
({3})
Ich höre von Ihnen oft, dass Sie etwas für die Landwirtschaft tun wollen. Zu mir kommen Biolandwirte und sagen: Die neue Bodenausbringtechnik können wir nicht finanzieren; wir brauchen Sonderlösungen. – Wollen wir jetzt die kleine und mittlere bäuerliche Struktur stärken,
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oder machen wir sie weiterhin kaputt? Das liegt auch in Ihrer Verantwortung.
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Eine weitere Verschärfung der aktuellen Düngeverordnung konnten wir – Gott sei Dank – noch einmal zurückhalten. Wir sollten darüber noch einmal fachlich diskutieren. Da waren Vorschläge dabei, die in der Praxis nicht zu realisieren sind. Ich nenne ein Beispiel: Eine verpflichtende Winterbegrünung wurde vorgeschlagen. Eine solche Begrünung braucht circa 100 Kilogramm Stickstoff im Frühjahr. Nun wird in Teilen Deutschlands auch Braugerste angebaut. Diese Braugerste braucht vielleicht 70 Kilogramm Stickstoff. Wenn eine verpflichtende Winterbegrünung eingeführt wird, dann wird aus der Sommergerste keine Braugerste mehr, weil der Eiweißgehalt zu hoch ist. Man braucht entsprechend magere Böden. Das ist Praxis in Deutschland. Aber Sie von den Grünen sehen das nicht und wollen nur billigen Populismus betreiben.
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Es ist gut, dass Sie die Biolandwirtschaft stärken und ausbauen wollen. Da bin ich ganz bei Ihnen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die Produkte auf dem Markt abgesetzt werden. Wenn Sie mit Milchbauern reden, die jetzt auf Biomilchproduktion umstellen und händeringend nach Molkereien suchen, die ihnen die Biomilch abnehmen, wenn Sie mit Landwirten reden, die auf Bioproduktion umstellen und händeringend nach Betrieben suchen, die ihre Mastschweine abnehmen, dann werden Sie feststellen, dass Ihnen diese Bauern sagen: Der Markt ist voll. Der Verbraucher ist nicht bereit, mehr dafür zu zahlen.
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Deshalb: Etwas mehr Realität in der gesamten Diskussion!
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Wir sollten uns nicht gegenseitig auseinanderdividieren, sondern gemeinsam nach Lösungen suchen.
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Heute Nacht haben wir zum Beispiel über die Digitalisierung beraten. Ich sehe hier auch einen Lösungsansatz, um die Landwirtschaft in der Zukunft umweltfreundlicher und ökologischer zu gestalten. Wenn wir zum Beispiel mit technischen Messmethoden auf den Feldern arbeiten, dann haben wir ein hohes Potenzial. Aber ich sage auch noch einmal: Wir müssen aufpassen, dass das unsere kleinen und mittleren Strukturen nicht ruiniert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, wir haben ein Verteilproblem und kein Mengenproblem. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, wo die roten Gebiete sind, wo die intensive Tierhaltung entstanden ist.
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Schauen Sie bitte mal in Ihren eigenen Parteibiografien nach, wer in den letzten Jahren und Jahrzehnten in den Umweltministerien in den einzelnen Ländern die Verantwortung hatte.
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Das gehört auch zur Wahrheit dazu.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, beim Schutz des Trinkwassers hat die Landwirtschaft eine hohe Verantwortung; wir alle haben da eine hohe Verantwortung – das wurde hier angesprochen –, auch im Abwasser- und im Arzneimittelbereich. Nur wenn wir gemeinsam daran arbeiten, gute Lösungen zu finden, dann haben wir, glaube ich, auch gute Perspektiven für die Zukunft.
Ich bedanke mich.
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Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 19/9959 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht eine Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Grünen, also Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, abstimmen. Wer stimmt dafür? – Das sind die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind alle übrigen Fraktionen. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse über den Überweisungsvorschlag der Koalition abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen mit Ausnahme der Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Leider ein ernstes Thema. Was haben folgende Personen gemeinsam? Ojub Titijew, russischer Menschenrechtler, der wegen absurder konstruierter Vorwürfe in einem tschetschenischen Gefängnis sitzt; Selahattin Demirtas, türkischer Oppositionspolitiker, der eigentlich im türkischen Parlament sitzen sollte, aber jetzt in einem türkischen Gefängnis sitzt; und Ilgar Mammadov, Oppositionspolitiker aus Aserbaidschan, der in Aserbaidschan zwar nicht mehr im Gefängnis ist, aber unter Hausarrest steht. Was haben sie gemeinsam? Für all diese bedrängten und unterdrückten mutigen Menschen gibt es eine letzte Hoffnung, und diese letzte Hoffnung ist als letzte Instanz der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – keine Institution der Europäischen Union, wie so manche glauben, sondern eine Institution des Europarats, dessen 70-jähriges Jubiläum wir heute begehen; parallel dazu findet die Außenministerkonferenz in Helsinki mit Minister Heiko Maas statt.
Ähnlich wichtig sind auch andere Institutionen des Europarates zum Schutz von 820 Millionen Menschen, die oft gar nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden. Wie viel wüssten wir eigentlich über die Lage in den Gefängnissen in den Mitgliedstaaten des Europarats, wenn es nicht das Antifolterkomitee CPT geben würde? Wie viel schlechter wäre es um die Lage des Rechtsstaats und der Demokratie bestellt, um Justizreformen in Bulgarien, Georgien, Polen und anderswo, wenn es nicht die Experten der Venedig-Kommission – auch eine Institution, die an den Europarat und nicht bei der Europäischen Union angegliedert ist – geben würde? Wie könnten wir Korruption bekämpfen, wenn es nicht GRECO gäbe? Und so könnte ich weitermachen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es rundheraus sagen: Der Europarat ist im 70. Jahr seines Bestehens in einem bemitleidenswerten Zustand. Er leidet unter Angriffen derjenigen, die sich zwar gern mit dem Titel des Europarats schmücken, aber seine Werte mit Füßen treten. Aber – und das ist Selbstkritik – der Europarat leidet auch darunter, dass viele Staaten ihn in der Vergangenheit mit Missachtung gestraft haben, darunter eben auch die Staaten, in denen es mit den Menschenrechten eigentlich ganz vernünftig lief. Ich komme nicht umhin, zu sagen, dass das zwar kein Alleinstellungsmerkmal Deutschlands war, aber ein Stück weit – wie für andere Länder – auch für Deutschland gegolten hat.
({0})
Das ändert sich gerade. Die Debatte heute ist Ausdruck dessen. Ich will Außenminister Heiko Maas stellvertretend für das Auswärtige Amt ausdrücklich dafür loben, dass sich Deutschland gerade auch im Vorfeld der Ratspräsidentschaft 2020 als Reformmotor innerhalb des Europarats betätigt. Ich will aber auch ausdrücklich das Engagement der Kolleginnen und Kollegen, der Parlamentarierinnen und Parlamentarier unter Leitung von Andreas Nick loben. Ich glaube, wir spielen mittlerweile wirklich eine gute Rolle in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und tragen dazu bei, dass diese Organisation in eine gute Zukunft geführt wird.
({1})
Der Europarat mit seinen heute 47 Mitgliedern war lange eine Schönwetterorganisation. Nicht, dass früher immer alles ganz einfach war; aber im Verhältnis zu heute war es eine normale Organisation mit normalem Prozedere. Zwischen 1949 und 1990 gab es eine Phase, in der es Probleme mit der einen oder anderen Militärdiktatur gab. Im Großen und Ganzen hatte man aber Staaten versammelt, die sich auf den Weg gemacht hatten, noch demokratischer zu werden, als sie es schon waren.
Dann gab es, beginnend 1990, eine Phase, in der osteuropäische ehemalige Diktaturen dazukamen und heiß waren auf den Europarat, auf die Werte von Demokratie und auf eine Organisation, von der sie entsprechend lernen konnten. Das hat sich nach meiner Einschätzung aber mit Beginn der 2000er-Jahre geändert, als es eine gewisse Abkühlung, ein gewisses Desinteresse an den Werten des Europarates gab. Und in den letzten fünf bis zehn Jahren erleben wir eine aggressive Abwendung von diesen Werten in einigen der Mitgliedstaaten, eben leider gepaart mit einer gewissen Interessenlosigkeit anderer Staaten. Das ist eine Situation, die, wie jedenfalls ich finde, zu der tiefsten Krise seit Bestehen des Europarats geführt hat.
Das liegt im Übrigen nicht an der Institution selbst – die ist super; man müsste sie erfinden, wenn es sie nicht schon längst gäbe –, sondern an den Mitgliedstaaten, die ihre Wertebasis, ihr Wertefundament verlieren oder in denen es jedenfalls erodiert. Das kann am Ende natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Organisation als Ganzes bleiben. Deswegen mein klarer Warn- und Weckruf: Diese Organisation steht am Scheideweg. Wenn wir die Werte des Europarats – Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – erhalten wollen, wenn sie so unter Druck stehen, dann müssen wir uns entscheiden: Brauchen wir diese Organisation, oder kann sie weg? Wenn wir uns dafür entscheiden, dass wir diese Organisation brauchen, dann müssen wir alles tun, um diese Organisation gerade im 70. Jahr ihres Bestehens entsprechend zu stärken. Das ist unsere Aufgabe hier und heute und in den nächsten Monaten.
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Das wurde gerade heute auch in Helsinki besprochen und diskutiert. Dabei geht es im Übrigen nicht nur um Russland. Wenn wir über den Europarat reden, dann wird auch immer über Russland geredet. Russland ist ein Problem, ja; aber die Probleme mit Russland sind eher ein Synonym für die Probleme der gesamten Organisation.
Ich glaube, es gibt drei Herausforderungen – es gibt noch ein paar mehr, aber drei zentrale Herausforderungen –, denen wir uns jetzt stellen müssen.
Erstens. Wir brauchen einen gemeinsamen Mechanismus zwischen der Parlamentarischen Versammlung, also uns, und den Vertretungen der Regierungen als Antwort auf die Staaten, die fundamentale Regeln und fundamentale Werte in fundamentaler Art und Weise brechen. Diesen Mechanismus haben wir nicht. Die Parlamentarische Versammlung hat allein Maßnahmen ergriffen, was uns aber am Ende in eine schwierige Lage als Organisation insgesamt geführt hat. Wir brauchen einen glaubwürdigen gemeinsamen Mechanismus. Daran wird akut gearbeitet.
Als Zweites brauchen wir eine Antwort darauf, wie wir mit der finanziellen Schwindsucht der Organisation umgehen. Diese Organisation hat einen Haushalt, der mit dem der kleinen, aber feinen Stadt Castrop-Rauxel, aus der ich komme, vergleichbar ist. Nun kann man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Der Europarat hat keine Sozialausgaben oder Ähnliches. Aber: Castrop-Rauxel hat etwa 75 000 Einwohnerinnen und Einwohner, während der Europarat 820 Millionen Einwohner hat; der Haushalt ist in etwa gleich. Da stimmt irgendetwas nicht. Wir geben zu wenig Geld für diese wichtige Institution Europarat aus.
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Das führt ganz aktuell dazu, dass wir ernsthaft darüber diskutieren, die Jugendorganisation abzuwickeln oder sie zumindest einzuschränken. Diese Organisation hat zwei Büros: eines in Straßburg und eines in Budapest. Einer der Vorschläge ist, das Büro in Budapest zu schließen – nicht weil Orban es schließen will, sondern weil die Organisation nicht in der Lage ist, es zu finanzieren. Das kann ja wohl nicht wahr sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da müssen wir einschreiten und für eine vernünftige Finanzierungsbasis sorgen.
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Die dritte Herausforderung betrifft das Thema Korruption. Dieses Hohe Haus hat sich mit dem Thema leidlich beschäftigt. Ich finde weiterhin: Es ist eine Schande und beschämend für uns alle, dass Abgeordnete aus diesem Parlament im Auftrag von Autokraten, zum Beispiel aus Aserbaidschan, unterwegs waren. Das sind aber einzelne Fälle. Mit denen muss man sich beschäftigen; das haben wir auch getan. Wir brauchen aber einen dauerhaften, belastbaren Antikorruptionsmechanismus. Korruption gibt es überall. Gerade in einer Organisation, die gegen die Korruption eintritt, brauchen wir einen belastbaren Mechanismus. Das ist die Aufgabe, die wir vor uns haben.
Wenn wir diese drei Dinge leisten – erstens neue Mechanismen, um mit den bösen Buben umzugehen, zweitens eine neue, vernünftige finanzielle Basis und drittens eine klare Antikorruptionsagenda –, dann glaube ich, dass wir aus diesem Krisenjahr am Ende gestärkt hervorgehen können und diese wichtige Institution, die wir ganz dringend brauchen, erhalten und stärken können.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Schwabe. – Der nächste Redner: der Kollege Ulrich Oehme, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Vorab ein Hinweis an unsere Zuschauer: Der Europarat, wie Herr Schwabe schon sagte, ist kein Organ der EU. 70 Jahre Europarat! Er ist eine wirkliche Errungenschaft für Demokratie und Menschenrechte. Deshalb gebührt diesem Jubiläum eigentlich mehr Aufmerksamkeit, als es derzeit erhält.
({0})
Wir als AfD stehen zum Europarat, dem Organ der europäischen Vaterländer. Das ist für uns das wirkliche Europa, und wir sind die wirklichen Europäer und Demokraten.
({1})
Wollen Sie Beweise? Lassen Sie uns zuerst über die sowohl von der Regierungskoalition als auch von der FDP in ihren Anträgen einhellig beschworene Wichtigkeit dieses Gremiums sprechen. Immer wieder wird uns, der AfD, in diesem Hohen Haus vorgeworfen, ein Feind des europäischen Gedankens zu sein.
({2})
Wie sieht aber die Realität im Europarat aus? Die Abgeordneten der AfD nehmen ihre Aufgabe in der Parlamentarischen Versammlung sehr ernst, was man von anderen leider nicht behaupten kann.
({3})
Ja, man hat sogar den Eindruck, dass Grüne und FDP gar keine Mitglieder der deutschen Delegation sind, weil sie durch Abwesenheit glänzen.
({4})
Wie ernst ist Ihnen das Gremium? Wie ernst ist es Ihnen mit Europa und dem Dialog, den Sie, liebe FDP, in Ihrem Antrag so beschwören?
({5})
In Ihren Augen ist die AfD gegen Europa und gegen die Demokratie. Komischerweise scheinen wir und wenige andere Abgeordnete die einzigen zu sein, die an dieser Demokratie teilnehmen, auch wenn in Straßburg keine Milliarden Euro an Haushaltsmitteln und keine gut bezahlten Funktionen wie in Brüssel zu vergeben sind.
({6})
Stichwort „Demokratie“. Weil die AfD nicht nur in Deutschland, sondern auch im Europarat den Bedarf gesehen hat, dem demokratischen Orchester der Nationen eine neue Stimme hinzuzufügen, haben wir uns zusammen mit den anderen heimatlosen Europaratsmitgliedern an die Gründung einer Fraktion gemacht. Wie demokratisch die etablierten Parteien tatsächlich sind, zeigt die Änderung der Geschäftsordnung des Europarates in Bezug auf Fraktionen. Ganz zufällig passierte dies, kurz nachdem wir unseren Antrag auf Fraktionsgründung beim Präsidium des Europarats eingereicht hatten.
({7})
Es erinnert stark an die Farce hier im Bundestag bei der Wahl des Bundestagsvizepräsidenten und an die Änderung der Geschäftsordnung im Zusammenhang mit dem Alterspräsidenten.
({8})
Und wieder stellen Sie sich hin und behaupten, Sie seien für freie Meinungsäußerung, Demokratie und Europa. Ich verspreche Ihnen: Sie werden uns nicht aufhalten!
({9})
Zu guter Letzt das Thema „Frieden und Menschenrechte“. Eine der größten Errungenschaften des Europarates ist die Einführung der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese bilden die Grundpfeiler unseres Menschenrechtsverständnisses in Europa und in Deutschland.
Es sollte hier noch einmal klar gesagt werden, dass der Europarat durch die Resolution 2253 aus diesem Jahr die Unvereinbarkeit der Kairoer Erklärung mit unserer Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt hat.
({10})
Mit dieser Resolution wurde mit großer Mehrheit beschlossen, dass die Scharia mit den europäischen Menschenrechtsnormen nicht kompatibel ist.
({11})
Eine klare Aussage, die man hier in Deutschland – ausgenommen bei der AfD – schändlichst vermisst.
({12})
Auch beim Thema Russland können Sie nicht früh genug mit Austritt und Rauswurf drohen. Ich möchte hier betonen, dass der Verbleib Russlands im Europarat unerlässlich für die Stabilität und den Frieden in Europa ist.
({13})
Ein Ausscheiden Russlands ist für uns als AfD nicht hinnehmbar. Ansonsten fallen wir zurück in die Zeiten des Kalten Krieges. Und das wollen wir doch alle nicht.
Ich selbst kann – das gefällt mir so sehr am Europarat – offen mit anderen Abgeordneten, zum Beispiel aus der Ukraine, mit denen ich partout keiner gleichen Meinung bin, diskutieren und argumentieren – alles ohne Beschimpfung, ohne Hass und ohne Verleumdung.
({14})
Wir brauchen diesen Dialog. Die russische Bevölkerung braucht den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und der Europarat braucht Russland.
({15})
Der Europarat und nicht das Europäische Parlament steht für das Europa der Vaterländer – unsere Vorstellung von Europa. Und gerade deswegen werden wir als AfD anders als andere Parteien dort wirklich die Demokratie leben und den Frieden der Völker und Europas verteidigen.
Vielen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Andreas Nick.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 70 Jahre Europarat – für uns in Deutschland ist dies zuallererst ein Grund zu tiefer Dankbarkeit; denn der Europarat war nicht nur die erste zwischenstaatliche Organisation in Europa nach 1945, sondern auch die erste, die Deutschland überhaupt wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen hat. Daran werden wir im nächsten Jahr mit 70 Jahren deutscher Mitgliedschaft erinnern.
Der Europarat blickt zurück auf eine einzigartige Erfolgsgeschichte bei der Heranführung junger Demokratien an die Standards von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und pluralistischer Demokratie nach 1949 und erneut nach 1990. Lassen Sie mich festhalten: Ohne diese historische Leistung wäre auch die Heranführung der Staaten Mittel- und Osteuropas an die Europäische Union nicht denkbar gewesen. Damit hat der Europarat einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Rechts- und Friedensordnung insgesamt geleistet.
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Heute umfasst der Europarat 47 Mitgliedstaaten mit über 800 Millionen Menschen. Dazu gehören über die EU hinaus nicht nur Regionen wie der westliche Balkan und der Kaukasus, sondern auch große und manchmal durchaus schwierige Nachbarn wie Russland, die Ukraine oder die Türkei. Kernaufgabe des Europarats ist der Schutz der individuellen Menschenrechte. Dieser wird vor allem durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewährleistet.
Auch mit Blick auf manche politischen Debatten der letzten Jahre in der Parlamentarischen Versammlung muss ich aber zu bedenken geben: Nicht alles, was gesellschaftspolitisch vielleicht als wünschenswert erscheinen mag, ist deshalb gleich ein Menschenrecht. Oder, um es mit den Worten des französischen Philosophen André Glucksmann zu sagen: Bei den Menschenrechten geht es nicht um den jährlichen Urlaub im Club Méditerranée, sondern um die Verhinderung des Abstiegs in die Hölle.
Wir müssen deshalb in vielen Fällen deutlich früher ansetzen, nämlich bei der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie.
({1})
Wenn dieser institutionelle Rahmen erodiert, dann können am Ende auch die Rechte des Einzelnen nicht mehr umfassend geschützt werden.
Es ist nicht zu bestreiten: Aktuell haben wir es mit einer neuen Herausforderung zu tun, nämlich mit einer wachsenden Zahl von Mitgliedstaaten, die sich offenbar bewusst nicht mehr in diese Richtung bewegen will, sondern im Hinblick auf diese Standards andere Wege einschlägt. Das betrifft leider auch Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie Polen und Ungarn. Grundsätzlich verfügt der Europarat durchaus über ein geeignetes Instrumentarium, vom Monitoringverfahren der Parlamentarischen Versammlung über die Gutachten der Venedig-Kommission bis hin zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs. Dieses wird aber bislang im Falle von Problemen in einzelnen Mitgliedstaaten nicht immer entschlossen und konsequent genug angewendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am heutigen Tag wird aber nicht nur das 70-jährige Bestehen des Europarats gewürdigt; vielmehr werden vom Ministerkomitee heute in Helsinki auch wichtige Entscheidungen für seine weitere Zukunft getroffen. Der heutige Beschluss des Ministerkomitees stellt einen wichtigen Schritt zur Überwindung der institutionellen Krise zwischen den Organen des Europarates dar; Kollege Schwabe hat das ja schon dargestellt. Die Entscheidung bekräftigt auch die deutsche Position, die von der Bundesregierung und der Delegation gleichermaßen geteilt wird, nämlich dass Russland nach Möglichkeit Mitglied des Europarats bleiben soll, und zwar mit allen Rechten und Pflichten.
({2})
Denn nur wenn dies gelingt, kann die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für 140 Millionen Bürger der Russischen Föderation auch weiter aufrechterhalten werden.
Ich will ausdrücklich der finnischen Präsidentschaft für ihre Bemühungen in den letzten Monaten danken. Sie hat einen herausragenden Beitrag für die Zukunft des Europarats geleistet.
({3})
Herr Kollege Nick, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen. – Mit der Etablierung eines robusten Sanktionsmechanismus für die Zukunft wollen wir gleichzeitig ein Instrument schaffen, um Staaten, die gegen unsere Grundwerte verstoßen, im Einklang mit dem Statut des Europarates wirksam sanktionieren zu können.
Darüber hinaus ist der Europarat aber auch bei wichtigen Zukunftsaufgaben gefragt. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Wir haben im Januar die Staaten Europas aufgefordert, durch die Einführung des sogenannten Magnitsky-Acts mit globaler Reichweite sicherzustellen, dass weltweit Täter sowie Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen gezielt und auf rechtsstaatlicher Grundlage sanktioniert werden können und nicht pauschal ganze Staaten oder Völker. Die Sanktionen sollen diejenigen, die Menschenrechte verletzen, persönlich treffen. Bei der Frage der ethischen Gestaltung künstlicher Intelligenz kann der Europarat wichtige Beiträge leisten im Hinblick auf ihre Nutzung im Einklang mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.
Konrad Adenauer hat den Europarat einst als das europäische Gewissen bezeichnet. Ich glaube, wir stimmen der Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung, Liliane Maury Pasquier, zu, die gestern Abend festgestellt hat: Unsere gemeinsame Geschichte und unser fester Wunsch, Europa zu einem friedlichen, prosperierenden Ort zu machen, sind stärker als die Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen und Konflikte, denen wir momentan gegenüberstehen. – Dies gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hebner. Die Betonung liegt auf kurz.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Dr. Nick, eine ganz kurze Bemerkung. Wir hätten bei dem Thema „70 Jahre Europarat“ gerne ein Wort von Ihnen gehört zur Korruptionsaffäre, die den Europarat massiv erschütterte. Die Korruptionsaffäre betrifft Ihre Fraktion, Ihre Partei. Ihre Kollegin Frau Karin Strenz – es geht hier um 30 000 Euro – nahm einen Auftrag einer Firma aus Aserbaidschan entgegen, einer Firma, die übrigens einem Kollegen von der CSU, Eduard Lintner, gehört. Die besagte Kollegin hat den Europarat in eine massive Krise geführt. Sie hat im Europarat lebenslanges Hausverbot. Ich möchte auch klarstellen, dass das Präsidium natürlich schon Maßnahmen ergriffen hat. Aber gleichwohl wären von Ihrer Seite ein paar Worte zu dieser massiven Krise sinnvoll gewesen. Bitte seien Sie so nett, und äußern Sie sich dazu.
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Herr Kollege, wollen Sie dazu Stellung nehmen?
Herr Kollege Hebner, in dieser Frage brauche ich von Ihnen nun wirklich keinerlei Belehrungen.
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Wir haben als Deutscher Bundestag, als CDU/CSU-Fraktion und auch in der Parlamentarischen Versammlung den Korruptionsskandal umfassend aufgearbeitet. Es gab einen Expertenbericht, es gab klare Entscheidungen der Parlamentarischen Versammlung und ihres Geschäftsordnungsausschusses. Es gibt eine klare Entscheidung des Präsidiums des Deutschen Bundestages. Soweit ich weiß, ist auch bei einer Staatsanwaltschaft eine Anzeige anhängig, die diese Frage hinsichtlich weiterer rechtlicher Auswirkungen prüft. Ich habe im Übrigen, ebenso wie der Kollege Schwabe, bei verschiedenen Gelegenheiten auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu diesem Korruptionsskandal Stellung genommen. Dass Sie die Beratungen zum Thema „70 Jahre Europarat“ mit dieser Diskussion überschatten wollen, zeigt nur den destruktiven Charakter, mit dem Sie diesem Thema begegnen. Sie versuchen doch nur, von ihren eigenen Parteispendenaffären abzulenken, statt sich der Verantwortung für diese Organisation zu stellen.
Vielen Dank.
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Jetzt kommt die Kollegin Gyde Jensen für die FDP-Fraktion.
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Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Nur kurz vorab: Herr Oehme, wenn Sie sich davon überzeugen wollen, was wir als FDP-Fraktion in der PVER so machen, dann unterstützen Sie doch gerne den Antrag, den unter anderem Konstantin Kuhle eingebracht hat, Thema: Transparenz von Spenden an politische Parteien und Wahlkampagnen aus dem Ausland. – Die Dokumentennummer gibt es gleich hier vorne.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ist als demokratische Vorinstanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Eckpfeiler für den Schutz der Menschenrechte. Die Glaubwürdigkeit des Europarats mit seiner Geschichte und dem von seinen Mitgliedstaaten auferlegten Auftrag ist unabdingbar, um gemeinsam diese universellen Werte zu verteidigen. Allerdings beeinträchtigt die mangelnde Umsetzung von Urteilen des EGMR den Schutz der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten. Der Europarat selbst warnt seit mehreren Jahren davor, dass die Missachtung dieser Grundrechte innerhalb einiger Mitgliedsländer den Prinzipien und Werten klar widerspricht; Werten und Prinzipien, denen sich auch Russland und die Türkei verpflichtet haben.
Befremdlich ist deshalb, dass die Bundesregierung in der Kleinen Anfrage, die wir als FDP-Fraktion gestellt haben, bei insgesamt 11 745 Verfahren gegen Russland dennoch ein – ich zitiere – „hinreichendes Rechtsschutzniveau“ als gewährleistet sieht. 1 572 Urteile hat Russland nach wie vor nicht umgesetzt. Wer diese Zahl als ausreichendes Schutzniveau bezeichnet, setzt hier komplett falsche Maßstäbe.
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Wir als FDP-Fraktion fordern deshalb einen besseren Sanktionsmechanismus im Europarat, der es ermöglicht, Staaten wie Russland direkt mit Strafzahlungen zu belegen. Ich erwarte deshalb auch vom Auswärtigen Amt, die Russland-Ambitionen zurückzustellen und stärker und vor allen Dingen mit klaren Worten auf die Einhaltung gemeinsamer Regeln auf europäischer Ebene zu drängen.
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Es kann nämlich nicht im Interesse des Europarates sein, denjenigen zu belohnen, der sich am wenigsten an die Regeln hält. Ansonsten steht die Glaubwürdigkeit des Europarates bei Menschenrechten auf dem Spiel. Das kann hier nicht unser Ziel sein.
Wir können einer autoritären Regierung nur entgegentreten, wenn wir zusammenstehen und auf die Einhaltung dieser universellen Werte bestehen. Unverhohlene Drohungen wie von Präsident Erdogan, türkische Beiträge an den Europarat und an die Versammlung des Europarates zu kürzen, zeigen deutlich, wes Geistes Kind er ist.
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Russland gehört auch dazu, Herr Hebner.
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Es ist mir deshalb schleierhaft, warum es die Koalition in ihrem Antrag leider nicht für notwendig erachtet, auch die Türkei zu nennen.
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Bedauerlich ist auch die Entscheidung der russischen Duma, bis dato an den Sitzungen nicht mit einer eigenen Delegation teilzunehmen. Das zeigt: Russland kappt lieber diplomatische Kanäle, als auf Dialog zu setzen. Das Dialogforum ist der Europarat.
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– Herr Hebner, wenn Sie das Ganze hier ernst nehmen würden,
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dann hätten Sie heute einen Antrag angekoppelt. Das haben Sie nicht getan.
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Als selbstbewusste Parlamentarier können wir dem entgegentreten. Treiben wir die Entwicklung eines Menschenrechtsmechanismus voran, der die Umsetzung der EGMR-Urteile gewährleistet. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist nur so stark wie seine Urteile und deren Umsetzung. Wenn sie nicht beachtet werden, dürfen und müssen wir auch über Sanktionen sprechen. Dass das notwendig ist, sehen wir an den Beispielen Russlands und der Türkei. Europa muss in der Welt weiterhin der Kontinent für jene Regeln sein, die in manchen Ländern leider mit Füßen getreten werden, der Kontinent, der für Pressefreiheit, Bürgerbeteiligung, Gleichheit der Geschlechter, Gewaltenteilung, Demokratie und Religionsfreiheit steht.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: der Kollege Andrej Hunko, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei gute Nachrichten vorneweg. Erstens: In Helsinki beim Ministerkomitee zeichnet sich eine Lösung in der Russlandfrage ab. Das sind gute Signale. In einer Zeit, in der wir in den internationalen Beziehungen überwiegend Hiobsbotschaften vernehmen, stehen wir davor, hier einen kleinen, positiven Erfolg zu verzeichnen, und das begrüßen wir ausdrücklich zum 70. Jahrestag des Europarates.
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Der Europarat ist natürlich durch seine Konventionen – maßgeblich durch die Menschenrechtskonvention, durch die Sozialcharta und viele weitere Konventionen – so bedeutsam. Er ist aber eben auch bedeutsam, weil er einen Raum von Lissabon bis Wladiwostok abbildet. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir diese institutionellen Gesprächskanäle auch mit der Russischen Föderation erhalten.
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Die zweite gute Nachricht. Der Antrag der Großen Koalition von SPD und CDU/CSU ist ein guter Antrag, und die Linke wird diesem Antrag zustimmen. Das kommt ja nicht alle Tage vor; deswegen will ich das hier auch ausdrücklich unterstreichen.
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Zu den Auseinandersetzungen, die es in den letzten fünf Jahren mit der Russischen Föderation gegeben hat, noch ein paar Anmerkungen:
Die Sanktionen, die im April 2014 gegen die russische Delegation verhängt wurden, sind im September letzten Jahres überwiegend für rechtswidrig erklärt worden, und zwar vom Rechtsdienst des Europarates; das muss man ja auch mal erwähnen.
Ich versuche, das zu erklären: Wir haben den Gerichtshof für Menschenrechte. Wir erwarten von allen 47 Mitgliedstaaten, dass die Urteile dieses Gerichtshofs in den eigenen Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Das alleine ist schon schwierig genug. Und nun wird einer nationalen Delegation, in dem Fall der russischen Delegation, das Wahlrecht der Richter entzogen und gleichzeitig erwartet, dass dieses Land die Urteile umsetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann auf Dauer nicht funktionieren, und deswegen ist es gut, dass diese Sanktionen aufgehoben werden. Das ist völlig unabhängig davon, wie man das russische Vorgehen auf der Krim im Einzelnen beurteilt. Aber das Instrument, das die Parlamentarische Versammlung angewendet hat, war völlig falsch. Deswegen bin ich froh, dass ich im April 2014 als einziger deutscher Abgeordneter dagegengestimmt habe.
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Wir haben jetzt eine Lösung, die auf einem guten Weg ist. Im Juni wird die Parlamentarische Versammlung wahrscheinlich noch die letzten Hürden nehmen müssen; aber ich hoffe, dass das gelingen wird. Die Grundlage dafür ist ein Bericht von Tiny Kox, dem Vorsitzenden der Linksfraktion im Europarat; auch das würde ich gerne erwähnen.
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Der Antrag der Großen Koalition enthält einige wichtige Forderungen, die wir ausdrücklich unterstützen und die für die Zukunft dieser Institution wichtig sind. Erstens: dass die Europäische Union endlich, wie im Lissabon-Vertrag vorgesehen, der Menschenrechtskonvention beitritt.
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Vielen Dank, dass Sie das in den Antrag aufgenommen haben. Zweitens – was ich hier oft eingefordert habe –: dass Deutschland endlich der revidierten Europäischen Sozialcharta beitritt, wie die meisten europäischen Länder auch. Auch diese Forderung findet sich in Ihrem Antrag.
Zum Schluss – darauf hat Frank Schwabe hingewiesen –: Der Europarat ist wirklich abenteuerlich unterfinanziert. Pro Bürger in Europa, auch pro deutschem Bürger, gehen weniger als 50 Cent pro Jahr an den Europarat. Ich glaube, wir müssen diese wichtige Organisation finanziell stärken, damit auch die nächsten 70 Jahre gesichert sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Frithjof Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Gründung des Europarates vor 70 Jahren und damit verbunden wenige Jahre später des europäischen Menschenrechtsgerichtshofes war ein historischer Durchbruch. Zehn nordwesteuropäische Staaten haben sich im Europa des beginnenden Kalten Krieges auf gemeinsame Grundwerte verständigt. Das war ein Start mit großer Ausstrahlung, der auch Impulse in Richtung der Gründung der Europäischen Union gegeben hat.
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Mit dem Gerichtshof wurde eine internationale Instanz geschaffen, an die sich Bürgerinnen und Bürger aus den Mitgliedstaaten bei Verletzung ihrer Rechte wenden können. Auch das ist ein internationales Modell, das große Ausstrahlung hat,
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und das macht bis heute die besondere internationale Bedeutung dieser Institution aus.
Das hat gerade heute wieder eine besondere Aktualität. Es gibt leider einen Trend zur Etablierung autoritärer Herrschaft in verschiedenen Mitgliedstaaten. Das führt insbesondere in der Parlamentarischen Versammlung zu politischen Zerreißproben, wenn es um die Benennung oder die Verurteilung solcher Entwicklungen geht. Für viele Menschen in diesen Staaten ist der Menschenrechtsgerichtshof oft die letzte Instanz und die letzte Hoffnung zur Durchsetzung ihrer Rechte gegen eine repressive Staatsmacht; Kollege Schwabe hat vorhin darauf hingewiesen. Die schlichte Existenz dieser Instanz erzeugt politischen Druck auf die Herrschenden, die um ihr internationales Ansehen fürchten müssen. Deswegen sagen uns immer wieder Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, dass die durchaus nahe liegende Forderung nach Ausschluss solcher Länder aus dem Europarat keine gute politische Lösung im Sinne der betroffenen Menschen ist.
Diese widersprüchliche Situation produziert für den Ministerrat und die Parlamentarische Versammlung ein aktuelles politisches Dilemma. Denn ohne Konsequenzen dürfen schwere Verstöße gegen die Werte des Europarates nicht bleiben. Die Glaubwürdigkeit der Institution ist ein hohes Gut, das wir nur so verteidigen können.
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Wenn gar die territoriale Integrität von Mitgliedstaaten verletzt wird, wie im Fall der Annexion der ukrainischen Krim durch Russland, dann erfordert das besonders klare politische Reaktionen und Verurteilungen. Das führt zu einem schwierigen politischen Ringen um die richtige Balance der nötigen Schritte, weil wir ja den Europarat bewahren, verteidigen und stärken wollen.
Meine Fraktion begrüßt die politische Intention des Antrages, den die Koalitionsfraktionen eingebracht haben. Ich bedanke mich auch ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit in der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung. Aber: Wir hätten uns politisch viel deutlichere Worte zu den aktuellen Dilemmata, die ich hier zu beschreiben versucht habe, durch die autoritären Entwicklungen und die Missachtung der Werte und Regeln durch verschiedene Mitgliedstaaten gewünscht. Die Türkei und Russland sind hier schon benannt worden, aber auch Aserbaidschan gehört auf diese Liste.
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Durch die Sofortabstimmung ist eine Veränderung Ihres Antrages in dieser Hinsicht leider nicht möglich. Deswegen wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung dieses Antrages heute der Stimme enthalten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Matern von Marschall.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europarat – auch für die Zuhörer auf den Tribünen – ist nicht die Europäische Union. Er ist aber ein Geburtstagskind, das sich 70 Jahre lebendiger Entwicklung erfreuen darf, genauso wie übrigens unser Grundgesetz, was wir in dieser Woche auch gefeiert haben. Deutschland ist nach dem Krieg in den Europarat gekommen. Das war die erste internationale Organisation, in die es hat hineinkommen können. Auch deswegen sind wir dieser Institution verpflichtet.
Das Ministerkomitee – darüber ist gesprochen worden – tagt heute in Helsinki, um die institutionelle Krise zu lösen. Herr Kollege Schmidt, Sie haben ja als Erster und unmittelbar vor mir darüber gesprochen, was der eigentliche Grund für diese institutionelle Krise ist, nämlich die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Ich möchte übrigens ergänzen: Ein weiterer Grund ist die Destabilisierung Georgiens, die maßgeblich Russland zu verantworten hat; das möchte ich an dieser Stelle einmal nennen.
Ich kann sehr wohl verstehen, dass insbesondere die Ukraine und Georgien allergrößte Schwierigkeiten mit der Frage haben, ob Russland dieser Gemeinschaft weiterhin angehören kann. Deswegen – das möchte ich hervorheben, obwohl ich nicht seiner politischen Richtung angehöre – war es richtig, dass der Kollege Kox ein Papier vorgelegt hat, das unmissverständlich, klar abgestimmt und gestuft einen Weg aufzeigt, wie man mit Mitgliedstaaten umgeht, die sich nicht an die grundlegenden Prinzipien, die wir uns selbst im Europarat gegeben haben, halten. Deswegen halte ich das für einen willkommenen und bedeutenden Schritt.
Ich möchte klarmachen, dass die Entwicklung eines solchen Konzepts zum Umgang und auch zur möglichen Sanktionierung von Mitgliedstaaten, die sich gegen die Prinzipien des Rates wenden, selbstverständlich auch bedeuten kann, dass Russland dann rechtskräftig Sanktionen erfährt. Die Frage, ob die Sanktionen, die die Parlamentarische Versammlung gegenüber Russland ausgesprochen hat, rechtmäßig sind, ist ja nur deshalb durch einen wissenschaftlichen Dienst so bewertet worden, weil wir keine eigentlichen Rechtsinstanzen haben, um unser eigenes Handeln dort überprüfbar zu machen.
Ich will sagen – das ist mir wichtig –: Die Frage eines künftigen Verbleibs Russlands – ein Dilemma – kann ich nur positiv beantworten, wenn ich sehe, wie viele Menschen auch in Russland selbst ihre Hoffnung in diese Institution setzen. Ich kann mich an das Urteil in der Sache Nawalnyj zurückerinnern, das gegen Russland ergangen ist und in dem festgestellt wurde, dass dieser Hausarrest rein politisch motiviert war, um ihn von seiner eigenen politischen Entfaltung abzuhalten. Das finde ich gut und wichtig.
Der Ball liegt jetzt im Feld von Russland. Russland muss jetzt sagen: Ja, wir wollen drinbleiben. Ja, wir wollen die fehlenden Beiträge nachzahlen. Ja, wir wollen durch diese Mitgliedschaft auch zeigen, dass wir – das hat die Duma ausgesetzt – künftig auch wieder die Urteile umsetzen. – Der Ball liegt also im Feld von Russland und nicht bei uns. Ich bin sehr gespannt, was Russland bzw. Lawrow, die Duma und der Präsident jetzt sagen werden, und ich bin sehr gespannt darauf, ob wir jetzt einen kleinen Hoffnungsschimmer erkennen werden, dass Russland sich vielleicht wieder auf einen Weg macht, der etwas mehr Bekenntnis zu den Grundlagen und Werten dieser wundervollen Einrichtung des Europarats und der Europäischen Menschenrechtskonvention zeigt.
Diese Hoffnung will ich nicht aufgeben. Aber meine Solidarität gilt denjenigen, die durch Russland in ihrer Integrität so schwer beeinträchtigt sind, namentlich die Ukraine und Georgien.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Dr. Volker Ullrich.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Errichtung des Europarats vor 70 Jahren hat die europäische Integration begonnen. Es war die erste Einrichtung, die der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Aufnahme hat zuteilwerden lassen.
Trotz aller Probleme, die wir heute zu Recht beschreiben, muss klargemacht und deutlich werden, dass eine Organisation mit 47 Staaten und über 800 Millionen Einwohnern, die sich an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten orientiert, eine große historische Errungenschaft ist. Das muss auch so bleiben.
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Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein schöner und kluger Rechtstext, in den viele Menschen in Europa die letzte Hoffnung setzen. Auch deswegen muss die Konvention im Mittelpunkt politischen Handelns bleiben.
Der Europarat ist in der Tat nicht die Europäische Union; er steht vielmehr neben ihr und oftmals auch im Schatten. Aber ohne die Integrationskraft des Europarats wäre die Erfolgsgeschichte auch der Europäischen Union nicht denkbar gewesen. Denn Ausgangspunkt ist nicht allein der Binnenmarkt, sondern das sind auch gemeinsame Werte wie Menschenrechte und Demokratie, auf die wir uns in Europa gründen.
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Die Flagge Europas – das ist übrigens der Sternenkranz auf blauem Grund, den wir auch hier im Saal sehen – war ursprünglich die Flagge des Europarats, welche die Europäischen Gemeinschaften erst 1986 übernommen haben. Es ist also ein Symbol für das gemeinsame Europa und für die Werte, für die wir eintreten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist eine Einrichtung, auf die wir Europäer stolz sein dürfen. Er hat mit seiner Rechtsprechung wesentlich zur Geltung der Menschenrechtskonvention beigetragen. Umso notwendiger ist, dass der Gerichtshof weiterhin seine Arbeit leisten kann. Dazu gehört eine ordentliche Arbeitsausstattung genauso wie der Umstand, dass die Fälle in angemessenen Fristen abgearbeitet werden müssen. Verfahrensdauern von bis zu zehn Jahren sind nicht akzeptabel. Wir brauchen Möglichkeiten der Beschleunigung im Verfahrensrecht.
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Wichtig ist auch, dass die Urteile von den Mitgliedstaaten uneingeschränkt beachtet und zeitnah umgesetzt werden müssen. Es darf dabei keinen Rabatt oder keine Relativierung geben. Deswegen müssen wir darüber nachdenken, wie wir bei Nichtbeachtung die Sanktionen stärker anziehen können, auch bis hin zu Geldstrafen. Das sind wir den Menschenrechten in Europa schuldig.
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Wir wissen, dass der Europarat mit großen Herausforderungen konfrontiert wird.
Ich möchte an einen Punkt erinnern, der heute noch nicht angesprochen worden ist, nämlich die Missionen zur Wahlbeobachtung, die dafür Sorge tragen, dass faire und gleiche Wahlen überall in Europa gewährleistet werden. Ich sage das aus aktuellem Anlass. Deswegen ist es wichtig und richtig, dass auch bei der Wiederholung der Kommunalwahl in Istanbul Wahlbeobachter dabei sind und darauf schauen, dass diese Wahl ordnungsgemäß vonstattengeht.
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Es ist auch richtig, dass wir alles dafür tun, dass kein Mitglied des Europarats verloren geht, aber nicht auf Kosten der Freiheit, der Menschenrechte oder der Demokratie. Wir wissen, dass das zurzeit herausgefordert wird: von autoritären Staaten, von Radikalen von rechts und links. Aber wir wissen auch, dass der Europarat nichts von seiner Strahlkraft verloren hat. Das bleibt nur so, wenn wir uns klar zur Menschenrechtskonvention bekennen und alles dafür tun, dass auch im Herzen der demokratischen Vertretung, nämlich in der Parlamentarischen Versammlung, diese Werte gelebt und diskutiert werden. Lassen Sie uns daran arbeiten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Volker Ullrich. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/10146 mit dem Titel „70 Jahre Europarat“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind CDU/CSU, SPD und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? – Grüne, FDP und AfD. Der Antrag ist damit angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 19/9444 und 19/10165 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! In den Zeiten des Merkelismus, in denen wir leben, kann man nur empfehlen, ab und an einen Blick in Gesetzestexte und Rechtsgrundlagen zu werfen. Denn dann kommt oft die wundersame Erkenntnis, dass die gelebte Praxis nur wenig mit geltendem Recht zu tun hat.
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Die EU ist hier leider keine Ausnahme.
Wenn man sich Artikel 5 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU anschaut, steht dort – ich zitiere –:
Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
Meine Damen und Herren, was heißt das? Das heißt – so wird weiter ausgeführt –, dass die EU nur tätig wird, „sofern und soweit die Ziele … von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können“. Also nur und nur dann!
({1})
Was heißt das aber konkret? Beispielsweise bei der Sozialpolitik? Warum greift die EU hier ein? Was genau kann hier auf regionaler oder lokaler Ebene nicht ausreichend verwirklicht werden? Antwort: nichts.
Die deutschen Arbeitsagenturen und Sozialämter können das vor Ort nicht nur besser, sondern haben für soziale Belange bereits ein eigenes, nationales Budget.
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Investitionsförderung? Was ist hier das Ziel? Ist man wirklich der Meinung, dass die Technokraten in Brüssel besser entscheiden können, welche Projekte und Technologien gefördert werden sollen, als Unternehmen und nationale Förderbanken?
EU-Regionalförderung? Ein Fiasko. Ein einziges Korruptionsprogramm für Ost- und Südeuropa. Ein Durchlauferhitzer für Bauruinen, Bürokratie und Beschäftigungstherapie ohne belegbaren Mehrwert.
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EU-Landwirtschaftspolitik? Protektionismus in Reinform, der sich in Zöllen auf zwei Drittel aller Agrargüter niederschlägt und damit in höheren Lebensmittelpreisen, worunter vor allem sozial schwache Familien leiden.
In all diesen Punkten werden die Dinge durch das Eingreifen der EU nicht besser, nein, sie werden sogar schlechter.
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Aber wenn das alles nicht funktioniert, warum machen wir es dann? Warum holen wir die Programme nicht zurück auf die einzelstaatliche, die nationale Ebene? Die Antwort, meine Damen und Herren, mag vielleicht unangenehm sein; aber bei Lichte betrachtet geht es eben nicht um Verbesserung, sondern um Macht:
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um die Gründung eines europäischen Superstaats, um Zentralismus, um Einfluss und Kontrolle, um die Bereicherung der Politikerkaste und ihrer Günstlinge.
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Und wenn Sie das nicht glauben, dann studieren Sie einfach die Geschichte der Euro-Einführung und wie Frankreich die Bundesregierung erpresste: „Wenn ihr die Wiedervereinigung wollt, dann nehmen wir euch die D-Mark“,
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mit katastrophalen Folgen, wie die Euro-Krise seit fast zehn Jahren mit ihren vielen sogenannten Rettungspaketen belegt.
Wissen Sie, es ist eines der großen Missverständnisse der Geschichte, dass Menschen immer wieder glauben, man könne durch Zentralismus und Planwirtschaft den Wohlstand fördern. Das Gegenteil ist der Fall.
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Der sozialistische Traum, mit dem Sie, die Grünen, die Linken, die SPD und nicht zuletzt Sie, die Merkel-CDU/CSU, und Macron
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die Menschen ködern wollen, die Idee vom starken und guten Zentralstaat, hat in der Geschichte immer zur Knechtschaft geführt – niemals zur Freiheit.
({10})
Am Ende der Zentralisierung stand immer Regulierung, Bevormundung, Zensur und vor allem die Verarmung der Massen, während die Funktionseliten auf Kosten der einfachen Leute in Saus und Braus leben.
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Bei von Mises und Hayek ist das gut beschrieben, oder bei Roland Baader. Er prophezeite bereits 1993 in seinem Buch „Die Euro-Katastrophe“:
Das Sozialeuropa der Gleichheitsfanatiker wird sich zum Klüngel-, Erpressungs- und Ausbeutungskontinent mausern, zu einer Umverteilungs- und Verschiebegemeinschaft von welthistorischer Singularität.
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Den Gegenentwurf, meine Damen und Herren, haben Sie hier vor sich. Einen Gegenentwurf, der sich von EU-Großmachtfantasien freimacht, die unter EU-Romantikern auch hier in diesem Hause so weit verbreitet sind. Einen Entwurf für ein Europa der Freiheit. Und daher mein Appell: Folgen Sie unserem Antrag! Lassen Sie uns die EU wieder auf ein menschliches Maß zurückführen, zum Wohle der Bürger und zum Wohle Europas.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: Uwe Feiler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächste Woche wird das Europäische Parlament gewählt. Zu der Frage, ob Deutschland aus der Europäischen Union austreten soll, stand in dem Wahl-O‑Mat, den man nutzen kann, bei der AfD zunächst das Votum „stimme zu“. Später hat die AfD das auf „neutral“ geändert. Das ist für mich nichts anderes als Wahlpopulismus in reinster Feinkultur.
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Kurz vor der Europawahl ist nämlich die Zustimmung zur EU in Deutschland noch gewachsen. Nach einer aktuellen Umfrage sind 63 Prozent der Deutschen sicher, dass es Deutschland ohne die Europäische Union schlechter gehen würde. Was macht also die AfD? Sie gibt sich schon fast proeuropäisch.
Der Antrag, den wir hier beraten, zeigt aber mehr als deutlich, dass die AfD die Europäische Union am liebsten abschaffen will.
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Denn was bliebe übrig, wenn man die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Agrarpolitik, die Wirtschafts- und Reformpolitik sowie die europäische Förderung abschaffte? Faktisch würde es dann keine Union mehr geben. Und darum geht es doch der AfD, meine Damen und Herren, um nichts anderes.
Wenn wir wollen, dass die EU ein Global Player bleibt, dann braucht sie einen auf die Zukunft ausgerichteten Haushalt. Dafür muss der Haushalt mit entsprechenden Mitteln ausgestattet sein. Das kostet Geld; ja, so ist es nun mal. Deswegen müssen wir die finanziellen Belastungen für die Mitgliedstaaten im Blick behalten. Es ist schließlich das Geld der Bürgerinnen und Bürger nicht nur unseres Landes, sondern der gesamten Europäischen Union.
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Aus diesem Grund setzt sich die CDU/CSU dafür ein, dass eine ausgewogene Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten gewährleistet wird. Deswegen soll die Vergabe von EU-Geldern auch an die Umsetzung nationaler Reformen geknüpft werden. Damit wir handlungsfähig und wettbewerbsfähig bleiben, brauchen wir auch Investitionen, und die AfD will alles streichen, was Sinn macht. Das ist unverantwortlich und gegen die Interessen unseres Landes.
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Im Rahmen des Programms „Digitales Europa“ sollen Fördermittel für Projekte in sehr wichtigen Bereichen bereitgestellt werden. Die Digitalisierung macht nicht vor Staatsgrenzen halt. Auch die Cyberkriminalität agiert grenzüberschreitend. Digitale Angebote und Systeme müssen europaweit harmonisiert werden. Nur zusammen bleiben wir wettbewerbsfähig und können uns gegen die USA, gegen China und auch gegen Russland behaupten. Auch nur so können wir gegen unfaire Praktiken und Sicherheitsrisiken vorgehen und die Rechte unserer Bürgerinnen und Bürger effektiv schützen. Die digitale Gesellschaft der Zukunft kann nur made in Europe sein, wenn wir alle gemeinsam zusammenarbeiten.
In Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik können wir im Verhältnis zu wichtigen Ländern und Regionen der Welt nur zusammen handlungsfähig sein. Die steigende Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung im Mittleren Osten und die Krisen an der Peripherie Europas zeigen deutlich, dass die Europäische Union verteidigungspolitisch noch handlungsfähiger werden muss. Das sind die neuen Herausforderungen unserer Zeit, denen wir uns nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern stellen können.
Ob es heutzutage noch gerechtfertigt ist, die Gelder für Agrar- und Kohäsionspolitik in gleicher Höhe auszugeben, darüber kann man sicher diskutieren. Aber eines sage ich Ihnen auch, meine Damen und Herren: Wir brauchen vitale ländliche Räume. Wir brauchen wettbewerbsfähige Regionen, darunter auch starke Grenzregionen. Als Brandenburger weiß ich sehr genau, wovon ich rede. Das Land Brandenburg hat allein in den letzten beiden Förderperioden insgesamt mehr als 5,5 Milliarden Euro aus den Förderfonds erhalten. Den Strukturwandel hätte Brandenburg nicht so erfolgreich meistern können, wenn es nicht durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung unterstützt worden wäre. In der aktuellen Förderperiode haben wir aus dem EFRE fast 850 Millionen Euro bekommen.
Es gibt auch „Horizont 2020“, aus dem „Horizont Europa“ wird, und den EFSI, der den wesentlichen Teil von InvestEU bildet. Das sind alles sehr erfolgreiche Programme, die den Menschen in Deutschland spürbaren Mehrwert bringen. Was haben Sie, meine Damen und Herren von der AfD, eigentlich gegen Erfolge einzuwenden? Die CDU/CSU-Fraktion weiß, dass Erfolge nicht verspielt werden dürfen. Deswegen lehnen wir den vorliegenden Antrag mit aller Deutlichkeit ab.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Die AfD will, dass Deutschland alles alleine und für sich regelt. Wir als CDU/CSU-Fraktion erkennen: Nur wenn wir als Europäer zusammenstehen, nur wenn wir unsere wirtschaftlichen Kräfte bündeln, können wir im globalen Wettbewerb bestehen. Letztlich ist es wie beim Fußball: Die stärkste Mannschaft gewinnt das Turnier, nicht der beste Spieler.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Gerald Ullrich. – Ach Quatsch! Entschuldigung, ich habe gerade überlegt, wer morgen die beste Mannschaft ist; aber das ist ein anderes Thema.
Vielen Dank, Uwe Feiler. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Gerald Ullrich.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Heute Morgen habe ich wie fast immer das ZDF-Morgenmagazin „moma“ geschaut. Zu Gast war Herr Meuthen, der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl.
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Die erste Frage beim Interview lautete: Was halten Sie für die größte Errungenschaft der EU? Die Antwort von Herrn Meuthen war: den gemeinsamen Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen. – Hätte ich das nicht wirklich gehört, würde ich es nicht glauben, wenn es mir einer erzählt. Ich dachte, mich laust der Affe. Zu Hause prangen an jedem zweiten Lichtmasten die Plakate der AfD mit dem Ruf: „Grenzen sichern“ und „Grenzen sofort schließen“,
({1})
und Herr Meuthen sagt: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.
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Meine Damen und Herren von der AfD, was ist eigentlich los bei Ihnen? Hat Ihr Spitzenkandidat Kreide gefressen,
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oder hängt Ihre Fraktion in der Schnittchenskandalblase fest, ohne zu merken, dass sich die Welt da draußen weitergedreht hat? Die Europakandidaten der FDP vertreten das Europawahlprogramm der FDP. Bei der AfD scheint das nicht der Fall zu sein. Ganz ähnlich sieht es übrigens auch bei der CDU aus.
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Man denke nur daran, was Ihr Spitzenkandidat zu Nord Stream 2 sagt.
Nun aber konkret zu Ihrem Antrag. Darin wimmelt es nur so von Fake News, Fehleinschätzungen und Forderungen, die genau die deutschen Interessen gefährden, die der Antrag zu schützen vorgibt. Gleich zu Beginn behauptet die AfD, dass die Verträge von Maastricht und Lissabon eine Vorfestlegung auf die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa enthielten. Das ist komplett falsch. In der Präambel des EU-Vertrages steht: „Schaffung einer immer engeren Union … entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip“.
Die AfD fordert, den EU-Haushalt um 80 Prozent – 80 Prozent! – zu kürzen. Die AfD verspricht viel Geld für deutsche Programme, die EU-Programme ersetzen sollen. Dabei soll angeblich sogar noch Geld übrig bleiben. Aber, meine Damen und Herren, ich möchte daran erinnern: Boris Johnson muss sich am Donnerstag in einem Strafprozess für seine berühmte Lüge verantworten, mit der er behauptet hat, dass nach dem Brexit 350 Millionen Pfund mehr pro Woche für das nationale Gesundheitssystem zur Verfügung stünden. Die AfD sollte aufpassen, dass sie nicht das gleiche Schicksal wie Boris Johnson erleidet.
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Die AfD fordert, die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds zu streichen, den Freihandel innerhalb der EU aber beizubehalten. Meine Damen und Herren von der AfD, man lernt schon im ersten Semester VWL, dass der Freihandel nur dann Gewinn für alle Menschen bringt, wenn durch eine strukturierte Schaffung von Infrastruktur auch neue und effektive Arbeitsplätze geschaffen werden.
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Die Mitgliedstaaten mit einer geringeren Wettbewerbsfähigkeit haben schließlich dem Freihandel innerhalb der EU nur im Paket mit den Kohäsionfonds zugestimmt. Eine Abschaffung dieser Investitionen in Bildung und Infrastruktur, wie die AfD sie fordert, würde wohl den Aufstand vieler Mitgliedstaaten gegen den Freihandel innerhalb der EU zur Folge haben. Also funktioniert der Binnenmarkt, so wie wir ihn haben, nur durch und mit der Kohäsion.
Die AfD lehnt ab, dass wir mit PESCO die enormen Skalenerträge gemeinsamer Wehrforschung und -beschaffung ernten. Die AfD schadet hier dem Steuerzahler.
Die vielen anderen Programme hat mein Vorredner schon genannt; er hat auch ihren Sinn erklärt, und zwar richtig. Ich muss das kein zweites Mal tun. Ich möchte nur zusammenfassend sagen, dass der AfD-Antrag einzig und allein auf die Abschaffung der EU abzielt
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und dass offenbar schon erster Zersatz in Ihrer Partei vorliegt.
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Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Gerald Ullrich. – Nächster Redner: Christian Petry für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut und schön, dass wir heute mehrere Anträge zum Thema Europa haben. Dass dies so geballt der Fall ist, hat natürlich auch mit dem Wahltermin zu tun.
Der sehr entlarvende Antrag der AfD – er ist bewusst so eingebracht worden – heißt: „EU-Budget zum Wohle Europas kürzen“. Das ist aber ein falscher Titel. Eigentlich muss es heißen: Die EU abschaffen. – Nichts anderes ist hier gewollt. Wenn ich mir anschaue, wofür Sie kein Geld mehr geben wollen – das ist eine lange Liste; da ist so ziemlich alles aufgeführt –, dann fällt mir fast nichts mehr ein, wofür Sie überhaupt noch Geld ausgeben wollen. Sie sind die wirkliche europafeindliche Partei in diesem Parlament, und das sollen die Mitbürgerinnen und Mitbürger auch wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber es reicht ja nicht, europafeindlich zu sein – um Gottes willen; das gilt bei Ihnen ja als schick. Nein, Sie säen auch Hass und Unfrieden.
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Das haben Sie in Ihrem Antrag mit aufgeführt.
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Sie behaupten, es gäbe Konflikte und Unfrieden durch die EU. Nein, durch Ihre Handlungsweisen wollen Sie dies provozieren. Das wird Ihnen natürlich nicht gelingen. Sie unterstellen den Staaten Ost- und Südeuropas pauschal, dass sie Korruptionsprogramme haben. Das machen Sie einfach so; da gehen Sie über alles hinweg. Sie sind nicht einmal halbwegs in der Lage, einen Ansatz für europäische Politik zu finden. Das ist wirklich sehr bedauerlich.
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Bei weiteren Ansätzen in Ihrem Antrag – zum Beispiel wollen Sie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr finanzieren bzw. abschaffen und Außen- und Sicherheitspolitik nur noch national betreiben – widersprechen Sie sich selber. Sie wollen Frontex nicht, wenn ich das richtig lese; sonst würden Sie die Mittel dafür nicht streichen wollen. Wie wollen Sie das, was Sie immer behaupten tun zu wollen, nämlich die Außengrenzen sichern, denn dann tun? Mit deutschen Beamten, deutscher Polizei unter deutscher Hoheit an den EU-Außengrenzen? Was stellen Sie sich überhaupt vor? Welcher Irrwitz treibt Sie denn? Was wollen Sie uns hier erzählen? Das ist mehr als blamabel.
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Die Nummer mit der Wiedervereinigung und der D-Mark eben war neu. Das habe ich noch nie gehört; aber es gibt ja immer wieder neue Revolvergeschichten. Und dass das die Franzosen waren, ist ganz interessant. Ich bin gespannt, was daraus wird. Das ist wirklich eine neue These gewesen; die kennen wir alle noch nicht. Sie wird bestimmt noch ausgebaut werden. Davon werden wir bestimmt noch ein paarmal hören. Es ist hochspannend, was Ihnen da immer wieder einfällt. Interessant ist auch, dass Sie sich in der Singularität verloren haben; das kenne ich aus „Raumschiff Enterprise“. Das ist auch nicht ganz einfach. Die AfD ist also tatsächlich nicht mehr von dieser Welt.
({5})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Malsack-Winkemann?
Nein.
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Eine Aufgabenkritik ist natürlich notwendig, die Aufgabenerledigung und -kontrolle ebenso. Wir wollen daher eine Stärkung der Säule der sozialen Rechte und eine stärkere Finanzierung. Wir wollen Bildung und Forschung selbstverständlich auf hohem Niveau finanzieren. Wir wollen Sicherheit, und deshalb wollen wir Frontex ausbauen. Wir haben natürlich klassische Aufgaben. Den Kapitalmarkt und die Bankenunion im Auge zu behalten, ist ganz wichtig für die Wirtschaftskreisläufe. Auch die Investitionsprogramme für Beschäftigung und Wachstum sind uns wichtig.
All dies sind Dinge, die wir über die Europäische Union finanzieren wollen; das steht in unserem Programm. Das ist im mehrjährigen Finanzrahmen abzubilden. Wir werden eine Diskussion darüber führen, wie viel Geld man dafür braucht. Die FDP hat schon gesagt, dass sie nicht mehr geben will, stellt aber immer wieder neue Forderungen auf. Das ist Bestandteil des Programms. Wir werden diese Diskussion nach der Europawahl führen, und dann brauchen wir ein ausreichend großes Budget. Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass Deutschland zu einem höheren Beitrag bereit ist.
({1})
Die Eigenmitteldebatte werden wir auch führen; denn es ist vollkommen klar: Wir brauchen Europa; denn wer glaubt, dass Deutschland die Antwort auf die Globalisierung, die Digitalisierung und auf die Anforderungen des Umweltschutzes oder des Grenzschutzes und der Sicherheit national geben kann, der hat wirklich keine Ahnung, wie die Welt funktioniert.
({2})
Wir brauchen ein starkes Europa. Wir brauchen ein friedliches Europa. Wir wollen ein offenes Europa. Was wir nicht brauchen, sind solche irrwitzigen Anträge der AfD.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
({3})
Vielen Dank, Christian Petry. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Frau Dr. Malsack-Winkemann.
Ich wollte eines klarstellen: Frontex wird nach den AfD-Vorstellungen nicht angetastet, soll also nicht abgeschafft werden.
({0})
Und mit der angeblichen Mär „Wer die Wiedervereinigung will, muss die D-Mark hergeben“ beziehe ich mich ausdrücklich auf den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Ich habe aus dem Buch von Professor Roland Vaubel „Das Ende der EUromantik“ zitiert, der wiederum Bezug genommen hat auf „Richard von Weizsäcker im Interview“ von Hans-Ulrich Jörges. Wenn Sie Herrn Richard von Weizsäcker nicht als integer ansehen, ist das Ihr Problem.
Danke schön.
({1})
Herr Petry, würden Sie antworten wollen?
In Ihrem Antrag wollen Sie die Mittel für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik streichen. Lesen Sie doch einfach mal Ihren eigenen Antrag,
({0})
dann sind Sie ein bisschen schlauer. Das ist das eine.
Zum anderen möchte ich hier klarstellen, dass Sie unseren ehemaligen Bundespräsidenten in dieser Form nicht in ein solches Licht setzen dürfen. Dazu haben Sie nicht das Recht.
Herzlichen Dank.
({1})
Wenn ich das ergänzen darf, Frau Malsack-Winkemann: Wenn Sie zitieren, wäre es gut, wenn das Hohe Haus weiß, was Sie zitiert haben und woraus Sie Herrn von Weizsäcker zitiert haben.
({0})
– Wir haben es nicht verstanden.
({1})
Es gab hier eine Rückfrage. Vielleicht können Sie es noch einmal sagen. Dann haben wir das fürs Protokoll.
Die Zitate wurden gesammelt in dem Buch von Professor Roland Vaubel „Das Ende der EUromantik“. Richard von Weizsäcker wurde dort seinerseits wiederum zitiert aus dem Beitrag
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„Richard von Weizsäcker im Interview“ von Hans-Ulrich Jörges in „Der Kampf um den Euro“, Hamburg 1998, Seite 365 f.
Nein, die Seite brauche ich nicht. Aber wir haben es wirklich nicht gehört. – Vielen Dank.
Nächster Redner in der Debatte: Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Die AfD fordert eine Streichorgie im EU-Haushalt im Interesse der EU-Bürger. Was den Konzernen nützt, soll hingegen nicht nur erhalten bleiben, sondern auch mehr werden. Da ist im AfD-Antrag zu lesen – ich zitiere –, dass „bei der Strukturpolitik eher auf Steuererleichterungen für Unternehmen als auf Subventionen“ zu setzen sei.
({0})
Mit Subventionen meint die AfD die EU-Fördergelder für Straßen, Schulen, Schwimmhallen insbesondere im Osten unseres Landes. Das erkennt man immer an diesen Schildern, auf denen dann steht: „Gefördert mit den Mitteln der EU“. Die AfD will auch bei Landwirtschaft und Kohäsion streichen, auf Deutsch: bei sozialem Zusammenhalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es reicht nicht, wenn wir uns hier alle gegenseitig versichern, wie unterirdisch der AfD-Antrag ist. Nötig sind auch ein paar grundlegende Erklärungen zum Staatswesen allgemein, sei es nun zum Staatswesen der EU sui generis oder zum traditionell bekannten Nationalstaat, den auch ich aus modischen Gründen nicht in den Abfalleimer werfen möchte.
Es gibt keine Zivilisation ohne Staatswesen und auch kein Staatswesen ohne ein Minimum an Umverteilung von oben nach unten, von den Superreichen zur breiten Mehrheit.
({1})
Ansonsten würde ein Staat, dessen Bürokratie nur die Superreichen bedient, die breiten Mehrheiten und die unteren Gehaltsgruppen vor den Kopf stoßen. Das ist übrigens der Grund, weshalb wir einen so großen Rückhalt für unser Grundgesetz haben und warum die EU an Rückhalt verliert. Es ist die mangelnde Sozialstaatlichkeit, auf die Gewerkschafter, Linke, Attac und viele andere immer hingewiesen haben, eine Sozialstaatlichkeit, wie sie sich in den Artikeln 14 und 15 des Grundgesetzes findet.
({2})
Das ist der eigentliche Kern des Widerspruchs von Linken, von Gewerkschaften und übrigens auch von der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD gegen alle Sozialkürzungen, sei es in der EU oder in Deutschland, in Griechenland, in Portugal oder anderen Nationalstaaten.
Die AfD legt mit ihrem Plädoyer für Steuerkürzungen aber die Axt an jedes Staatswesen, an die EU und an den Nationalstaat, den Sie vorgeben zu verteidigen. Sie sind eigentlich Gegner jeglichen zivilisierten Staatswesens. Das ist der Kern.
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– Herr Gauland, das glaube ich zutiefst.
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Darum auch das AfD-Bekenntnis, Herr Gauland, vom 13. Dezember 2017, als Sie sich hier ans Mikrofon gestellt haben und tatsächlich ein Plädoyer für die Panama Papers, für die Steuerhinterzieher
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mit ihren Briefkästen in Panama, für die Deutsche Bank gehalten haben. Darum auch die Bekenntnisse zu den Kürzungsorgien. Die Linke will keine EU mit mehr Konzerndienerei. Bei Ihnen von der AfD aber wird jede Kontrolle der Konzerne heruntergefahren, weil Sie demagogisch versuchen, das in den großen Topf eines EU-Bürokratismus zu werfen. Jeder Staat braucht aber eine bürokratische Kontrolle von Konzernen und Superreichen;
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denn die sind diejenigen, die sich dann auch oftmals der staatlichen Mittel bedienen.
Die AfD bekennt sich in ihrem Antrag auch wieder zur NATO – das haben Sie auf Ihrem Parteitag ja durchgesetzt, Herr Gauland –, zu deutschen Rüstungskonzernen und begrüßt die – ich zitiere – „militärische Mobilität“. Was ist das denn anderes als der Ausbau von NATO-Panzer-Straßen an die russische Grenze, gegen die Sie sich ansonsten äußern? Was ist das anderes als militärische Mobilität? Was ist das anderes? Deswegen kann ich nur sagen: Die AfD verkündet dem Sozialstaat den Krieg. Wer Frieden und Sozialstaat sichern will, sollte nicht neoliberal, darf aber auf gar keinen Fall rechts wählen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Diether Dehm. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Franziska Brantner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Um gleich mit der Verschwörungstheorie „D-Mark gegen Wiedervereinigung“ anzufangen: Die Grundzüge des Euros wurden auf dem Gipfel im Juni 1988 in Hannover beschlossen. Meiner Kenntnis nach war das vor der Wiedervereinigung, vor dem Mauerfall.
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Von daher kann der Mist, den Sie hier wieder verzapfen, gar nicht stimmen.
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Um es auf den Punkt zu bringen: Ihr Antrag ist einfach Irrsinn. Unsere Gesellschaften in Europa stehen vor riesigen Herausforderungen. Wir wollen das Klima retten, wir wollen bei der Digitalisierung endlich aufholen, und wir wollen unsere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik besser hinbekommen, um in der Welt überhaupt noch gehört zu werden. Um diese Herausforderungen anzugehen, will die AfD den EU-Haushalt um 80 Prozent kürzen.
Ich zitiere mal zwei Sätze aus dem Antrag. Erster Satz: „Die Rückholung der Digitalpolitik auf die nationalstaatliche Ebene“ ist „angemessen“.
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Ist ja klar: Das Internet endet ja auch an den deutschen Grenzen in Aachen, Flensburg oder Frankfurt/Oder. Da kann man auch eine rein nationale Digitalpolitik machen. Danke AfD, dass uns der Antrag das noch mal aufgezeigt hat.
Zweiter Satz: „Klimaschutz ist eine Irreführung der Öffentlichkeit, die dem Umweltschutz zuwiderläuft“.
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In welcher Welt die AfD lebt, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall nicht auf diesem Planeten. Das ist einfach nur Verschwörungstheorie und Klimaleugnerei.
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In Ihrem Antrag sagen Sie klar, wofür die EU kein Geld mehr ausgeben soll. Das erlaubt mir, hier noch mal dazulegen, was das konkret bedeuten würde.
Beispiel „Europäischer Sozialfonds“. Dafür soll die EU, ginge es nach der AfD, nichts mehr ausgeben. Im letzten EU-Haushalt hat Deutschland über sieben Jahre hinweg 7,5 Milliarden Euro erhalten. Was wurde denn damit finanziert? Über 100 000 jungen Menschen wurde beim Berufseinstieg geholfen. Über 20 000 Langzeitarbeitslose wurden in Jobs gebracht. Das soll es dann nicht mehr geben.
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Beispiel „Forschung und Innovation“. 2014 bis 2020 gingen mehr als 4 Milliarden Euro in die deutsche Forschung und 3,5 Milliarden Euro in die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der kleinen und mittelständischen Unternehmen im Austausch mit ihren europäischen Kolleginnen und Kollegen.
Beispiel „ländlicher Raum“. Sachsen-Anhalt erhielt allein in diesem Zeitraum 850 Millionen Euro für die Entwicklung im ländlichen Raum.
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Liebe AfD, machen Sie sich mal ehrlich. Gehen Sie mal zu den Menschen, die dort leben, die davon profitiert haben, und sagen Sie ihnen: Dieses Geld nehmen wir euch weg; das stellen wir euch nicht mehr zur Verfügung.
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Aber das konkret zu sagen, trauen Sie sich nicht.
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Was immer wieder in Ihren Anträgen steht und mich unglaublich nervt, ist dieser Mythos über die aufgeblasene EU-Verwaltung. Die Europäische Union hat rund 50 000 Mitarbeiter und kümmert sich um 500 Millionen Menschen. Die Stadt München beschäftigt ungefähr 40 000 Mitarbeiter und ist für 1,5 Millionen Menschen zuständig. Von daher: Hören Sie auf, immer von diesem aufgeblasenen Verwaltungsapparat zu reden.
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Sie sind zum Glück nicht an der Regierung und auch weit davon entfernt – hoffentlich für immer.
Herr Petry, Sie haben gesagt: Im Koalitionsvertrag steht, dass wir mehr für den EU-Haushalt ausgeben wollen. – Das ist auch richtig. Aber das Traurige ist, dass Herr Scholz, sobald er im Rat ist und dort redet, an dem Wert von 1 Prozent festhält und nirgends signalisiert, dass er bereit ist, darüber hinauszugehen. Das können Sie überall nachlesen. Der Wert von 1 Prozent ist festgeschrieben. Wissen Sie: Wir führen hier im Haus immer die Debatte über das 2-Prozent-Ziel für die NATO. Hier reden wir über 1 Prozent. Wir sagen, dass die NATO 2 Prozent braucht, um den Frieden auf diesem Kontinent zu sichern. Auch die EU sichert Frieden, und Frieden in Europa bedeutet immer auch sozialer Friede. In diesem Sinne: Machen Sie etwas für den europäischen Haushalt!
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Vielen Dank, Franziska Brantner. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Katrin Staffler.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich sollten wir diese Debatte schon in der letzten Woche führen, nämlich am 9. Mai, an dem Tag, an dem 69 Jahre zuvor Robert Schuman seinen Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgestellt hat und damit, wie wir heute wissen, den Grundstein für die Europäische Union gelegt hat. Die Debatte hat dann an dem historischen Tag – fast muss man sagen: zum Glück – nicht stattgefunden, weil die AfD einmal wieder länger gebraucht hat, bis sie sich einig darüber war, welchen Inhalt dieser Antrag haben sollte. Ehrlich gesagt kann ich es gar nicht verstehen, warum das so lange gedauert hat.
Wenn man sich den Antrag der AfD, den wir heute vorliegen haben, anschaut, dann stellt man fest, dass er nicht nur inhaltlich schlecht recherchiert ist, sondern er beinhaltet rein gar nichts Neues. Er folgt dem altbekannten Schema: Deutschland könne allein alles besser, und die EU sollten wir am liebsten gleich abschaffen. Er trieft vor populistischen Aussagen, und das einzige Ziel dieses Antrags ist, dass er Angst in der Bevölkerung schürt. Deswegen freue ich mich, dass wir heute, wenn auch ein wenig verspätet, diese Diskussion führen können, weil es uns die Möglichkeit gibt, die Dinge wieder richtigzustellen.
({0})
In Ihrem Antrag geht es um die Kürzung des EU-Budgets und aller EU-Förderungen. Die AfD begründet das mit Halbwahrheiten und mit Argumenten, die mit Fakten überhaupt nicht belegbar sind. Leider reichen meine vier Minuten Redezeit nicht aus, um jede einzelne falsche Behauptung richtigzustellen. Deswegen will ich mich auf einen Punkt beschränken, weil ich finde, dass dieser Punkt sehr plakativ zeigt, um was es eigentlich geht und wie falsch die Behauptungen sind, und zwar das Thema „Forschungsförderung in der EU“.
In Ihrem Antrag fordern Sie unter anderem auch, ausgerechnet die Mittel der EU für Forschung zu kürzen, weil durch mehr EU-Beteiligung – Zitat – „der Wettbewerb zwischen den nationalen Wissenschaftssystemen ausgeschaltet“ würde. Ich sage ganz ehrlich: So viel scheinbare Unwissenheit und Ignoranz der Fakten macht mich ein Stück weit sprachlos,
({1})
weil überall in Deutschland deutsche und europäische Forscher zusammenarbeiten. Es gibt eine riesengroße Menge enger Kooperationspartnerschaften zwischen den Forschungseinrichtungen überall in der EU. Ohne die europäischen Forschungsförderungsmittel hätte es bis heute viele wichtige Erkenntnisse zum Beispiel im Bereich der Krebsforschung, der Alzheimer-Forschung nicht gegeben. Was lernen wir daraus? Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen mehr EU-Förderung auf der einen Seite und besserer Wissenschaft auf der anderen Seite. Wettbewerb allein schafft keine neuen Ideen, sondern nur, wenn er in Verbindung mit Kooperation stattfindet, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. Deswegen werden wir uns als CDU/CSU-Fraktion dafür einsetzen, dass die EU auch weiterhin ausreichend Geld für Innovationen hat, ausreichend Geld für Investitionen hat.
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Abschließend möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, zeigen, wie weit Sie sich mit Ihren Behauptungen von der Realität entfernt haben. Es gab eine Halbzeitbilanz von Horizon 2020. Hier lag der deutsche Anteil an den geflossenen Fördermitteln im EU-Vergleich bei 4,7 Milliarden Euro. Das sind 17,6 Prozent der gesamten Fördermittel in diesem Programm. Der deutsche Anteil bei geförderten Unternehmen, Forschungseinrichtungen und sonstigen Institutionen lag bei 4,69 Milliarden Euro. Das sind 13,7 Prozent. Damit hat Deutschland mit Abstand die meisten Fördermittel aus diesem Programm „Horizon 2020“ europaweit erhalten. Sie sehen also: Kooperation lohnt sich, Kooperation lohnt sich für Deutschland, und Kooperation lohnt sich vor allem auch finanziell.
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Nur gemeinsam können wir wettbewerbsfähig auf internationaler Ebene bleiben. Deshalb sehen Sie die Aufschrift auf meinem T-Shirt heute bitte als Statement: „gemeinsam“. Nur gemeinsam kann sich Deutschland in der Welt behaupten. Nur wenn wir als Europa zusammenhalten, werden wir auf der Welt auch stark sein.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Frau Staffler. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Metin Hakverdi.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute vorliegende Antrag der AfD macht deutlich: In unserem Land gewinnt man mit einer destruktiven Europapolitik kaum noch Stimmen. Deshalb hat die AfD ein taktisches Wendemanöver vollzogen. Deshalb haben wir heute keinen Antrag auf dem Tisch, in dem die AfD den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union fordert, sondern – das ist neu –: Die AfD fordert nunmehr, das EU-Budget um 80 Prozent zu kürzen. Ihre Forderung nach einem Dexit hat die AfD damit heimlich kassiert. Das geht sogar so weit, dass die AfD ihre Position zu einem EU-Austritt Deutschlands beim Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung nachträglich geändert hat. Dieses Wendemanöver ist nicht das Ergebnis einer besseren Einsicht – das wissen wir hier alle im Haus –, nein, der tatsächliche Grund ist viel profaner: Die AfD findet kaum noch Menschen, die einer solchen Antieuropapolitik zustimmen. Das steckt hinter dieser Wende.
({0})
Das ist auch gut so. Die Menschen in unserem Land sehen den Schaden, den die EU-Feinde im Vereinigten Königreich politisch angerichtet haben. Nigel Farage und seine Leute haben mit einer Lügenkampagne eine Mehrheit für den Austritt seines Landes aus der Europäischen Union organisiert. Das versprochene Paradies nach einem Austritt findet nicht statt. Mit einem Austritt werden England, Schottland, Wales und Nordirland nicht wohlhabender, nicht bedeutender, nicht stärker, nicht einmal souveräner. Das ist die Erkenntnis. Knapp drei Jahre sind seit dem Brexit-Votum vergangen. Das Vereinigte Königreich ist noch immer Mitglied der Europäischen Union und nimmt – voraussichtlich – an den Wahlen zum Europäischen Parlament teil. Ich kann verstehen, dass sich die politischen Entscheidungsträger in London schwertun, den Austritt aus der EU tatsächlich zu vollziehen.
Es gibt keinen guten Ausstieg aus der Europäischen Union. Jeder Ausstieg ist auch ein Abstieg. Hinzu kommt, dass sich seit dem Brexit-Votum die Welt noch einmal kräftig verändert hat. Die Rivalität zwischen den USA und China hat deutlich an Fahrt aufgenommen. Die globalen Spannungen nehmen zu. In diesen stürmischen Zeiten müssen wir gut aufgestellt sein. Russland, Iran, Klimawandel, Migration, Handel – eine überragende Mehrheit in unserem Land weiß: Wir können in dieser globalen Gemengelage unsere nationalen Interessen nur mit einem starken gemeinsamen Europa durchsetzen.
({1})
Wir müssen unser gemeinsames Haus, die Europäische Union, gut vorbereiten. Die Europäische Union muss in Zukunft mehr können, sie muss mehr Aufgaben übernehmen. Sie muss mehr leisten für ihre Mitglieder, für die Mitgliedstaaten und für jeden einzelnen Bürger. Sie muss in der Lage sein, unsere Interessen in der globalen Auseinandersetzung zu verteidigen. Grenzschutz und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik liegen auf der Hand. Aber auch im Bereich „Forschung und Entwicklung“ gibt es einen Mehrwert, wenn wir dies auf europäischer Ebene organisieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir technologisch von den USA oder China abgehängt werden.
({2})
Dieses Mehr an Aufgaben werden wir aber nicht mit weniger Geld hinbekommen. Wir müssen aufhören, davon zu reden, dass uns die Europäische Union Geld kostet. Die EU kostet uns nicht Geld, sondern sie spart uns Geld, viel Geld. Das ist die Wahrheit.
({3})
Die gemeinsame Organisation auf europäischer Ebene ist der Mehrwert.
Wir müssen aber auch in ein soziales Europa investieren. Die Jugendarbeitslosigkeit in anderen europäischen Staaten muss uns interessieren. Die wirtschaftliche Entwicklung jedes einzelnen Mitgliedstaates betrifft uns unmittelbar. Unseren wirtschaftlichen Erfolg verdanken wir diesen Staaten in der Europäischen Union. Unser Land wird nur in einem Europa prosperieren, in dem Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in allen Mitgliedstaaten bestehen. Die Investition in ein soziales Europa ist kein Selbstzweck, sondern Investition in eine bessere Zukunft, auch der Menschen in unserem Land.
Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine starke, eine handlungsfähige Europäische Union. Sie ist die Grundlage unserer globalen Souveränität, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands. Deshalb ist es in unserem eigenen nationalen Interesse, dass die EU auskömmlich finanziert ist. Daher wird die SPD-Fraktion den Antrag der AfD selbstverständlich ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Hakverdi. – Letzter Redner in dieser Debatte: Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schauen wir uns noch einmal den Titel des vorliegenden AfD-Antrages an. Lassen wir uns ihn auf der Zunge zergehen: „EU-Budget zum Wohle Europas kürzen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das klingt nicht nur widersprüchlich, das ist es auch. Das, was Sie tun, was Sie vorschlagen, dient nicht dem Wohle Europas. Ich will Ihnen anhand von einigen Beispielen zeigen, dass das vor allem nicht dem Wohle Deutschlands dient. Die Kürzungen, die Sie vorschlagen, dienen nicht dem deutschen Interesse, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir können uns verschiedene Projekte anschauen. Sie schlagen vor, den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU vollständig zu kürzen, und Sie begründen das, indem Sie sagen, er basiere auf einer ideologiegetriebenen Politik, die den Interessen der europäischen Völker zuwiderlaufe. Ich sage Ihnen: Das ist falsch; denn diese Mittel, die wir im Bereich Migration aufwenden, dienen nicht dazu, mehr illegale Migration herbeizuführen, sondern dazu, Zuwanderung zu steuern, zu ordnen und zu begrenzen und Lasten zu teilen. Das ist im deutschen Interesse. Diese Mittel zu streichen, ist nicht im deutschen Interesse, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Noch besser wird es, wenn wir uns das Programm „Digitales Europa“ anschauen. Sie sagen, mit Blick auf die Datenschutz-Grundverordnung solle die Europäische Union kein Geld mehr in die Digitalisierung investieren. Natürlich, die DSGVO ist nicht perfekt – deswegen bessern wir an manchen Stellen auch nach –; aber es ist doch unglaublich kleingeistig, zu glauben, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit, die vierte industrielle Revolution durch die künstliche Intelligenz und anderes mehr, mit nationalstaatlichen Lösungen angehen können. Wir müssen europäisch denken. Wir brauchen einen digitalen Binnenmarkt. Wir brauchen einen europäischen Champion in der künstlichen Intelligenz.
({2})
Wir brauchen ein europäisches MIT. Wir brauchen Wissenschaftszusammenarbeit – und nicht Ihre Kleingeistigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Weiter geht es mit der Regionalförderung der Europäischen Union. Da sieht man, in welcher Blase Sie sich bewegen und dass Sie in Ihren Wahlkreisen anscheinend nicht mit offenen Augen durch die Regionen gehen. Wir als direkt gewählte Abgeordnete sehen, was ESF, EFRE und andere Regionalfonds bringen.
({4})
Wir haben dort konkrete Projekte. Ich denke an Anklam, die Stadt in Vorpommern – 25 Millionen Euro aus der Regionalförderung für die Wirtschaftsentwicklung und anderes mehr.
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Hunderte Millionen fließen da in Ihre Wahlkreise, und Sie reden es schlecht. Sie verkennen die Dimension, die Ihnen bei dieser Debatte eigentlich bewusst sein sollte.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der AfD]
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gipfel ist dann der Blick auf die europäische Außenpolitik. Sie begründen, dass wir keine Mittel für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bräuchten, indem Sie sagen, die EU sei kein Staat und brauche deshalb keine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist falsch. Die Europäische Union ist freilich kein Staat; aber natürlich haben wir gemeinsame europäische Interessen. Es ist doch verrückt, anzunehmen, dass wir mit China, USA, Russland – den großen Dimensionen in dieser Welt – mithalten können, wenn wir nicht gemeinsame Mittel aufwenden.
Insofern muss man sehen: Sie operieren hier mit ganz kleinem Karo. Sie argumentieren kleingeistig. Das ist uns zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Wir erkennen einen europäischen Mehrwert. Wir sehen, dass europäische Investitionen nicht nur dem Wohle Europas dienen, sondern auch dem Wohle Deutschlands. Und wir achten auf deutsche Interessen. Das gelingt Ihnen mit Ihrem Antrag nicht. Wir lehnen ihn ab.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Philipp Amthor. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10171 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Haushaltsausschuss.
({0})
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD abstimmen, also Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die AfD-Fraktion. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und der Linken.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Keine Enthaltungen. Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung der Fraktionen von FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und der Linken und Ablehnung der AfD-Fraktion angenommen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! BDS – das sind scheinbar nur drei Buchstaben. Doch hinter dieser Abkürzung verbirgt sich viel, viel mehr. BDS steht für „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“. Getragen von 170 palästinensischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, wendet sich diese Bewegung in ihrer Zielrichtung letztendlich gegen die Existenz des Staates Israel – eines Staates, der 1948 durch einen Teilungsplan der Vereinten Nationen entstanden ist, einen Plan, den die Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen hat und der letztendlich der Befriedung des Nahen Ostens dienen sollte. Er sieht zwei Staaten vor, die in einer Wirtschaftsunion miteinander verbunden sein sollen, mit Jerusalem als Sonderterritorium unter internationaler Kontrolle. Die arabischen Staaten waren jedoch nicht bereit, die Teilung Palästinas zu akzeptieren, und die Großmächte haben in der Folgezeit der letzten 60 oder 70 Jahre das Ihrige dazu beigetragen, dass es zu keiner friedlichen Beilegung des Konfliktes gekommen ist.
Schon mit der genannten UN-Resolution 181 wurde zumindest mittelbar zum Ausdruck gebracht, dass die Palästinenser als Volk Anspruch auf einen eigenen Staat haben. Das Staatsgebiet muss jedoch geklärt sein; denn wir wissen es aus der Staatsrechtslehre: Ein Staat besteht aus drei Komponenten – einem Staatsgebiet, einem Staatsvolk und einer Staatsgewalt,
({0})
die sich auf ebenjenes Staatsgebiet erstreckt.
Ein eigenes, klar abgegrenztes Staatsgebiet haben die Palästinenser derzeit nicht. Dies scheitert aber auch daran, dass sie Gebiete für sich reklamieren, die ihnen durch die erwähnte UN-Resolution entzogen sind. Ob die Palästinenser derzeit überhaupt über eine legitimierte Interessenvertretung verfügen, darf, denke ich, infrage gestellt werden,
({1})
weil das palästinensische Volk seit 15 Jahren nicht mehr gewählt hat.
({2})
Anders ist es im Staate Israel.
Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt, auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die von mir genannte Zweistaatenlösung. Wir stehen dazu, auch wenn der amerikanische Präsident mit seinen derzeitigen Handlungen eine Zweistaatenlösung zumindest infrage zu stellen scheint.
Eigentlich sollte man meinen, dass die beiden genannten Völker, das jüdische Volk und das palästinensische Volk, größtes Verständnis füreinander aufbringen müssten; denn auch das jüdische Volk war – 2 000 Jahre lang – ein Volk ohne eigenen Staat. Verständnis für die eigene Situation kann ich aber nur erwarten, wenn ich dem anderen nicht das Existenzrecht abspreche.
({3})
Genau das ist aber letztendlich die Zielrichtung der BDS-Bewegung. Eine solche Haltung einer solchen Bewegung kann von verantwortungsvoll handelnden Politikern des Deutschen Bundestages in keinem Fall gebilligt werden.
({4})
Das Existenzrecht des Staates Israel ist und bleibt für uns Staatsräson. In den sozialen Medien zeigt die BDS-Kampagne leider immer wieder, dass sie sich von der Propaganda der NS-Diktatur beeinflussen lässt.
({5})
Wir erinnern uns – hoffentlich – an die vielen hasserfüllten Bilder aus dem Dritten Reich, auf denen Schilder mit der Aufschrift „Deutsche! Kauft nicht bei Juden!“ zu sehen waren – ein erster Schritt auf dem Weg zum Völkermord. Diese sich aus unsere Geschichte ergebende unendliche Verantwortung gebietet es uns, alles zu unterlassen und zu unterbinden, was antisemitisch ist oder auch nur den Eindruck erweckt, antisemitisch werden zu können.
({6})
Antisemitisch ist es auch, das Existenzrecht des Staates Israel infrage zu stellen, ebenso wie es antisemitisch ist, Investoren, Kulturschaffende oder Handeltreibende von einem Austausch mit dem Staate Israel abzuhalten oder abzubringen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Zielsetzungen der BDS-Bewegung sind inakzeptabel.
({7})
Wir lassen in diesem Punkt keine Auslegung und keine Handlungsspielräume zu. Wir haben das durch zwei in dieser Legislaturperiode eingebrachte Anträge bereits unter Beweis gestellt. Das ist auch richtig und wichtig.
Ich bin dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, sehr dankbar, dass er sich einerseits tagtäglich um das Thema Antisemitismus kümmert und andererseits auch nicht die Mühe scheut, beispielsweise zu Schülerinnen und Schülern in meinen Wahlkreis, nach Wangen im Allgäu, zu kommen, um mit ihnen über diese Themen zu diskutieren. Denn nur wenn Geschichte weitererzählt wird, gerät sie nicht in Vergessenheit.
({8})
Denken Sie bitte an die Redezeit!
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind gefordert, dem interfraktionell eingebrachten Antrag zuzustimmen und darüber hinaus diesem Thema in unseren politischen Zielsetzungen und in unserer politischen Arbeit Rechnung zu tragen. Kritik am Staate Israel ist in jedem freiheitlich demokratischen Staat legitim. Die BDS-Bewegung ist aber im Ergebnis ein Vehikel, das sich im Deckmantel dessen tarnen möchte. Wir stehen zu Israel.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Müller – Angesichts der fortgeschrittenen Zeit werde ich keine Zwischenfragen bzw. Kurzinterventionen zulassen. Später haben wir auch noch eine namentliche Abstimmung. Ich hoffe, Sie verstehen das.
Nächster Redner: Jürgen Braun für die Fraktion der AfD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Die AfD ist die Partei der Freunde Israels in diesem Parlament.
({0})
Unsere Fraktion beschäftigt sich seit dem Einzug in den Bundestag mit der antijüdischen BDS-Bewegung. Die Altparteien klappern mit ihren Anträgen hinterher. Unser Antrag war der erste, und unsere Fraktion hat ihn einstimmig beschlossen.
({1})
Bei der entscheidenden Frage kneifen die alten Fraktionen allesamt. Das Verbot der BDS-Bewegung fordern sie nicht. Über diese radikalen Judenfeinde sagt der Schriftsteller Henryk M. Broder – Zitat –:
({2})
Die BDS-Anhänger bereiten die Endlösung der Judenfrage vor – diesmal im Nahen Osten.
Schauen wir allein auf die aktuelle Kampagne gegen den Eurovision Song Contest in Tel Aviv; morgen ist das Finale. Die BDS-Bewegung ruft mit Worten zum Boykott auf, die fatal an das Dritte Reich erinnern. Das ist linke Judenfeindschaft pur.
({3})
Die Anti-Israel-Kampagne BDS – Boykott gegenüber dem jüdischen Staat, keine Investitionen, kauft nicht bei Juden – riecht nach 1933.
({4})
Die Altparteien kritisieren in ihren Anträgen nur einzelne Kampagnen der BDS-Bewegung. Sie drücken sich davor, diese widerwärtige antijüdische Hetze im Kern beim Namen zu nennen. Ein sofortiges Verbot von BDS fordern sie nicht.
({5})
Im Antrag der Altparteien stehen auf der ganzen ersten Seite nur allgemeine, altbekannte Floskeln, nicht ein einziges Mal fällt der Begriff „BDS“. Auf die Koalition und die linke Opposition hier im Haus kann sich der jüdische Staat nicht verlassen.
({6})
Innenminister Seehofer hat vor kurzem eine fatal falsche Statistik zur Judenfeindschaft vorgestellt. Die deutsche Bundesregierung stimmt in der UNO nach wie vor mit den Judenfeinden dieser Welt gegen Israel.
({7})
Vor allem: Alle parteieigenen Stiftungen der Altparteien finanzieren BDS-Projekte mit, egal wie sie heißen:
({8})
Ebert, Adenauer, Böll, Luxemburg, Seidel, Naumann: alle Stiftungen verstrickt im Netz der Judenfeinde.
({9})
Das Verbot der BDS-Bewegung ist überfällig, aber das wollen die anderen Fraktionen nicht, weil ihnen die von den Israelis frei gewählte demokratische Regierung nicht passt. Die Linken wollen noch weniger. Sie haben einen Antrag eingebracht, der vertuschen soll. Offene Feindschaft gegenüber Juden in Deutschland hat wieder eine Bühne. Der Antisemitismus kommt heute von der linken Seite, und er kommt aus dem Islam.
({10})
Der Staat, den sich jüdische Menschen nach dem Holocaust geschaffen haben und in dem Araber bessere Chancen haben als irgendwo sonst, braucht unsere Stimme
({11})
für ein klares und eindeutiges Verbot der israelfeindlichen BDS-Bewegung.
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Ich möchte darauf hinweisen, dass hier demokratisch gewählte Abgeordnete aus demokratischen Parteien sitzen. Herr Braun, ich wäre sehr vorsichtig mit dem Zitat „Altparteien“ in diesem Zusammenhang. In der allerdunkelsten Geschichte ist dieses Wort immer wieder von Joseph Goebbels verwendet worden. Ich gehe davon aus, dass Sie das nicht zitieren.
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Nächster Redner in der Debatte: Christian Lange für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für diesen Hinweis, Frau Präsidentin. – Am 14. Mai 1948 verkündete David Ben-Gurion noch vor Sonnenuntergang und damit vor dem Beginn des Schabbats „kraft des natürlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes und aufgrund des Beschlusses der UN-Vollversammlung“ den jüdischen Staat Israel. In seinem Tagebuch schrieb er an diesem Tag – ich zitiere –:
Um 1 Uhr: Bestätigung der Unabhängigkeitserklärung im Volksrat. Um 4 Uhr nachmittags Ausrufung des Staates. Jubel und Freude im Land. Wieder, wie am 29. November 1947, bin ich ein Trauernder unter Frohlockenden. Das Schicksal des Staates liegt in den Händen der Sicherheitskräfte. Sofort nach der Zeremonie kehrte ich ins Generalstabsgebäude zurück. Beratung über die Lage, die sich dauernd zuspitzt.
Wir wissen, dass nach der Ausrufung des Staats Israel der sogenannte Unabhängigkeitskrieg stattfand. Der nur wenige Stunden alte Staat konnte den Angriff seiner Nachbarn glücklicherweise abwehren.
Betrachtet man diese Geschichte, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss man fast von einem Wunder sprechen. Dass drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Shoah und erst drei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ein demokratischer jüdischer Staat unter diesen schwierigsten Bedingungen gegründet wurde, der heute zu den führenden Wissenschafts- und Wirtschaftsnationen dieser Welt gehört, ist eigentlich unglaublich. Wenn man heute die Intensität der deutsch-israelischen Beziehungen betrachtet, die vielen Städtepartnerschaften, die Universitätskooperationen und bilateralen Vereine, wenn man sich in diesen Tagen die Bilder im Fernsehen anschaut, auf denen man feiernde junge Deutsche in Tel Aviv bei der Eurovision sieht, kann man wirklich nur von einem Wunder sprechen. Aber, wie Ben-Gurion passend sagte: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“
Doch leider ist der Anlass unserer Debatte heute kein erfreulicher. Seit Jahren nimmt der Hass auf den jüdischen Staat zu. Auch nimmt der Antisemitismus in unserem Lande immer gravierendere Züge an. Antisemitismus und Israelhass sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, deren Prägung Hass ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht zulassen, dass in unserem Land das Existenzrecht des jüdischen Staates offen infrage gestellt wird.
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Wir dürfen nicht zulassen, dass Veranstaltungen mit israelischen Holocaustüberlebenden, mit israelischen Wissenschaftlern oder Politikern, dass Konzerte mit israelischen Musikern von Israel-Gegnern gesprengt werden, die zum Boykott des jüdischen Staates aufrufen.
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Wir dürfen nicht zulassen, dass im Jahr 2019 Aktivisten mit „Boykottiert Israel“-Schildern vor Kaufhäusern in Berlin, Bremen und anderswo stehen. Das erinnert in der Tat an die dunkelste Zeit Deutschlands.
Ich freue mich deshalb, dass wir uns heute über Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam auf einen Antrag verständigt haben, um uns von den Aktivitäten der sogenannten BDS-Bewegung zu distanzieren und ein Signal gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit zu setzen.
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Eine letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen nicht zulassen, dass junge Juden sich überlegen, Deutschland zu verlassen. Wir sehen an einer Bewegung in unserem Nachbarstaat Frankreich, was passieren kann, wenn es zu einer großen Auswanderungswelle kommt. All das wollen wir nicht.
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Aus vielen Gesprächen mit jüdischen Freunden weiß ich, dass diese Unruhe auch in Deutschland herrscht. Dagegen wehren wir uns heute hier gemeinsam. Deshalb bitte ich um Unterstützung dieses interfraktionellen Antrags.
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Vielen Dank, Christian Lange. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Bijan Djir-Sarai.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass der Deutsche Bundestag mit so deutlicher Mehrheit eine so starke gemeinsame Haltung gegen Antisemitismus einnimmt.
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Wir können und dürfen nicht Bewegungen und Organisationen akzeptieren, die den israelischen Staat wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren wollen. Wir können nicht Propaganda und Hass gegen Juden und gegen das Existenzrecht Israels tolerieren, meine Damen und Herren.
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Durch die Aktionen der BDS-Bewegung wird ein noch tieferer Keil zwischen Palästinenser und Israelis getrieben und der Dialog aktiv verhindert. Dabei erinnern ihre Kampagnen zum Teil an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte. So findet in dieser Woche – das ist vorhin schon erwähnt worden – in Tel Aviv der Eurovision Song Contest statt, ein Wettbewerb, der für Freiheit, Vielfalt und Gemeinschaft steht. Doch schon im vergangenen Jahr rief die BDS-Bewegung Musiker dazu auf, die Veranstaltung zu boykottieren. Auf ihrer Internetseite zeigt die Bewegung das Logo des Wettbewerbs mit Stacheldraht, das Herz in der Mitte geteilt durch SS-Runen. Auch hier: unter dem Deckmantel BDS alles möglich.
Solche deutlichen Zeichen von Antisemitismus können und dürfen wir in Deutschland nicht hinnehmen.
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Das ist zum einen eine Frage der historischen Verantwortung Deutschlands, zum anderen eine Frage der Würde und des Anstands, meine Damen und Herren.
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Und als Außenpolitiker möchte ich gerne noch einmal daran erinnern, dass Israel als einziger Staat im Nahen Osten die Demokratie hochhält.
Meine Damen und Herren, es ist unweigerlich unsere Pflicht, für das Existenzrecht Israels einzustehen. Umso erfreulicher ist es, dass wir dies heute gemeinsam tun. Mit dem hier vorliegenden Antrag setzen die Fraktionen von Union, SPD, FDP und Grünen gemeinsam ein weiteres Zeichen gegen antiisraelische und antisemitische Hetze. Das ist gerade in Zeiten, in denen die jüdische Bevölkerung in Deutschland und Europa zunehmend Übergriffen ausgesetzt wird, ein außerordentlich wichtiges Zeichen. Das ist genau der richtige Weg in dieser Situation.
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Der Bundestag geht also mit dem Beschluss, keine Organisationen finanziell zu fördern, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, mit gutem Beispiel selber voran. Ich hoffe, dass weitere Länder, Städte und Gemeinden diesem Schritt in die richtige Richtung folgen werden, meine Damen und Herren.
Aber natürlich ist die Arbeit mit diesem Antrag nicht getan. Hass und Hetze müssen wir tagtäglich bekämpfen. Dazu gehört auch, international die Augen offen zu halten.
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Schon lange kritisiert die FDP-Fraktion daher das deutsche Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat. Regelmäßig finden dort einseitige und rein quantitativ in keinem Verhältnis stehende Verurteilungen des Staates Israel statt.
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Hierzu hat sich auch der Außenminister in der vergangenen Woche geäußert.
Abschließend ist festzustellen: Der heutige Tag ist ein guter Tag. Dem Deutschen Bundestag ist es gelungen, gemeinsam ein wichtiges Zeichen gegen Hass und Hetze zu setzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin: Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Vorab ein Satz zur AfD. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Herr Schuster, hat gestern, befragt zu Ihrem Antrag, unter anderem gesagt: Solche falschen Freunde braucht man nicht.
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Das bedarf keines Kommentars.
Die Fraktion Die Linke lehnt BDS ab. Den Boykott israelischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler im Rahmen von BDS weisen wir als inakzeptable Praxis zurück
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wie auch den generellen Boykott von Waren aus Israel hier in Deutschland. Wir haben dazu einen eigenen Antrag vorgelegt, in dem wir dies ausführlich begründen.
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Die Fraktion Die Linke stimmt aber gegen den Antrag der Koalitionsfraktionen, der FDP und der Grünen sowie gegen den Antrag der AfD. Eine pauschale Kriminalisierung und Sanktionierung von BDS-Unterstützerinnen und -Unterstützern, wie Sie es formulieren, ist problematisch.
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Ich finde, es hätte uns gut angestanden, wenn wir Befürchtungen aus der israelischen Zivilgesellschaft – deren Vertreter haben sich ja auch an uns, an die Mitglieder des Deutschen Bundestages, gewandt –, durch Ihren Antrag hier könne die Presse- und Meinungsfreiheit unter Druck geraten, in den Beratungen stärker berücksichtigt hätten.
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Vor diesem Hintergrund ist zu bedauern, dass aus Ihrem Antrag die Passage, für die sich SPD und Grüne eingesetzt hatten – ich zitiere: „Der kritische Umgang mit israelischer Regierungspolitik ist von Meinungs-, Presse- und Äußerungsfreiheit geschützt und muss selbstverständlich in Deutschland genauso wie in Israel erlaubt sein“ –, auf Initiative der FDP, wie der „Spiegel“ berichtet, gestrichen wurde.
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Wir kritisieren auch, dass dieses Thema nicht mit ausreichend Zeit in den Ausschüssen vorberaten wurde und die Fraktion Die Linke sowie unsere Bedenken durch die Koalition wieder einmal von vornherein ausgegrenzt wurden.
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60 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Israel, die sich an uns alle hier gewandt haben – initiiert durch Amos Goldberg, Professor für die Geschichte des Holocausts an der Hebräischen Universität in Jerusalem –, unter denen sich Befürworter wie Gegner von BDS befinden, befürchten, dass mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen, der FDP und der Grünen dazu beigetragen wird – ich zitiere –, „jeden Diskurs über palästinensische Rechte und jede internationale Solidarität mit den Palästinensern, die unter …“ – israelischer – „Besatzung und schwerer Diskriminierung leiden, zu delegitimieren“.
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Man muss diese Auffassung nicht teilen; aber es hätte dem Parlament gut angestanden, wenn derartige Mahnungen aus der israelischen Zivilgesellschaft hier stärker berücksichtigt worden wären.
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Ich möchte darauf verweisen, dass Kollegen der CDU, unter anderem der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, heute warnen – ich zitiere –:
Legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung darf nicht als vermeintlich antisemitisch diskreditiert und … eingeschränkt werden.
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Ich möchte, dass wir dies alles bedenken. Das ist notwendig, wenn wir zu einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts beitragen wollen.
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Vielen Dank, Heike Hänsel. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Omid Nouripour.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während wir hier im Plenum sitzen, läuft in Tel Aviv der Eurovision Song Contest. Man kann diese Veranstaltung musikalisch bewerten, wie man will; aber es ist eines der erfolgreichsten Formate der Völkerverständigung und des kulturellen Austausches der letzten Jahrzehnte in Europa. Es kommen Künstlerinnen und Künstler aus Staaten zusammen, die Krieg gegeneinander führen. Deshalb ist das eine sehr besondere Veranstaltung. Dass BDS versucht, gegen exakt diese Veranstaltung einen Boykott zu organisieren, spricht Bände. Das sagt viel aus über den Charakter dieser Bewegung.
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BDS will nicht nur diese Veranstaltung boykottieren. Sie gehen auch gegen Public-Viewing-Veranstaltungen vor. In Barcelona haben sie es sogar geschafft, dass ein Public Viewing abgesagt wurde. Sie haben in einer Darstellung den Davidstern aus dem Logo des Eurovision Song Contests beseitigt und durch eine SS-Rune ersetzt. Das ist schlicht unerträglich.
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Diese Art der Gleichsetzung von israelischer Politik mit den Verbrechen, die es unter den Nazis an Jüdinnen und Juden, an Roma, an Homosexuellen und vielen anderen gab, hat nichts mehr zu tun mit Kritik an der israelischen Regierung. Das ist schlicht zynisch und menschenverachtend. Das müssen wir mit allem, was wir haben, zurückweisen.
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Deshalb bin ich froh, dass wir als Deutscher Bundestag mit großer Mehrheit ein Zeichen gegen solche Aktionen und gegen diese Art von Antisemitismus setzen und dass wir mit Israel solidarisch sind, nicht nur aufgrund unserer Geschichte und der Verantwortung, die daraus erwächst, sondern auch aufgrund eines Bekenntnisses, das wir hier abzugeben haben, zu Menschenrechten und Meinungsfreiheit. Genau diese Meinungsfreiheit bekämpft ja die BDS-Bewegung, indem sie jede Debatte auszuschließen versucht. Diese Politik richtet sich nicht nur gegen die Jüdinnen und Juden. Diese Art von Boykott, diese Art von Politik und diese Art von Polemik richtet sich gegen alle Menschen in Israel, unabhängig davon, welcher Glaubensrichtung sie angehören.
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Wir stimmen diesem Antrag auch zu, weil wir Meinungsfreiheit und Debatte schützen wollen.
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– Ja, das ist richtig. – Selbstverständlich gilt das auch für Kritik an der Regierungspolitik Israels in diesen Tagen. Und ja, es ist selbstverständlich auch erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Palästinenserinnen und Palästinenser unter der israelischen Besatzung leiden, so wie sie auch unter Repressalien der eigenen Führung leiden.
Wir schreiben auch niemandem vor, welche Art von gewaltfreiem Widerstand zu wählen ist. Wir wollen Meinungsfreiheit für das gesamte Spektrum der Zivilgesellschaft, ob in Deutschland, in Israel oder in Palästina.
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Deshalb lehnen wir selbstverständlich auch den Antrag der AfD ab.
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Es ist nämlich mehr als durchsichtig, dass Sie mit diesem Antrag und mit dieser Rhetorik eigentlich nur versuchen, die schäbige Art und Weise, wie Sie mit den dunkelsten Zeiten unserer Geschichte umgehen, zu verwischen. Das werden wir nicht zulassen.
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Denken Sie an die Redezeit, bitte.
Es ist auch ein sehr klares Signal, wenn Knesset-Mitglieder auf Reisen in Deutschland nicht bereit sind, sich genau mit Ihnen zu treffen, weil sie auf die Verschleierung Ihrer wirklichen Absichten,
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zum Beispiel die Arbeit der GIZ oder der politischen Stiftungen zu zerstören, nicht hereinfallen.
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Denken Sie bitte an die Redezeit.
Wir stehen auf der Seite der Demokratinnen und Demokraten überall und selbstverständlich auch auf der Seite derer in Israel.
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Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner: Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin überrascht, aber auch erfreut, dass sich mehrere Fraktionen zusammengefunden haben, diese begrüßenswerte Initiative voranzutreiben, nicht zuletzt auch deswegen, weil die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich den deutsch-israelischen Schriftsteller Chaim Noll ausgeladen und dafür einen iranischen Holocaustleugner eingeladen hatte.
Ich finde es aber auch spannend, zu sehen, welche Fraktionen heute diesen wichtigen Antrag unterstützen, aber den des Kollegen Müller-Rosentritt vom März dieses Jahres, als es um das Abstimmungsverhalten Deutschlands in der UN gegen Israel ging, blockierten. Ich finde es spannend, wie dieselben Parteien, die sich heute an die Seite von Israel stellen, vorgestern hier an dieser Stelle den Iran-Deal noch mit allen Mitteln verteidigen wollten.
Ich will aber auch keine Zweifel aufkommen lassen: BDS ist eine antisemitische Organisation. Sie dämonisiert den Staat Israel, streut Fake News wie die Forderung nach einem Rückkehrrecht von erfundenen – mittlerweile sind es 7 Millionen – palästinensischen Flüchtlingen, was tatsächlich nichts anderes als das Ende des jüdischen Staates bedeuten würde. Dennoch wäre es schön, wenn der Bundestag immer so geschlossen auftreten und sich für das Existenzrecht Israels einsetzen würde.
So ist denn auch der Antrag der AfD sicherlich der weitestgehende, aber es ist auch nicht verwunderlich, wenn jüdische und israelische Organisationen diese Unterstützung ablehnen, wenn in letzter Konsequenz nichts passiert, wenn man sich gegenseitig Wehrmachtsbilder schickt, wenn man über Holocaustmahnmale der Schande fabuliert oder über Vogelschisse.
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Wenn wir uns wirklich an die Seite der Israelis stellen wollen, dann wäre der größte Beweis unserer Freundschaft, wenn wir uns klar gegen ihre Feinde auf internationaler Ebene bekennen und nicht nur heute gegen dieses kleine Grüppchen von Antisemiten, aber ein Anfang ist es allemal.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Mario Mieruch. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Abend des 15. September 1935 wurden auf dem siebten Parteitag der NSDAP in meiner Heimatstadt Nürnberg die Nürnberger Gesetze einstimmig angenommen. Die Nationalsozialisten stellten ihre antisemitische und rassistische Ideologie damit auf eine juristische Grundlage. Wie wir alle in diesem Haus wissen, ist durch diese antisemitische und rassistische Ideologie unermessliches Leid für über 6 Millionen Juden in Europa eingetreten.
Nach der Shoah, dem nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas, sollte es keinem Menschen in unserem Land, keiner Organisation in unserem Land und insbesondere auch keinem deutschen Politiker in unserem Land mehr möglich sein, Boykottaufrufen gegen Juden oder Israelis zuzustimmen oder solchen nur schweigend Raum zu geben.
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Noch vor dem Parteitag in Nürnberg begannen die Nationalsozialisten ab dem 1. April 1933, jüdische Geschäfte zu boykottieren. „Kauft nicht bei Juden“, so war es geschrieben. Heute findet man Aufkleber mit dem Text „Don’t buy“, also „Kauft nicht“, auf israelischen Produkten mit Verweis auf die BDS-Bewegung. Das ist ein nicht hinnehmbarer Zustand. Das ist eine Aktion, die mit einer Kritik an der Regierung Israels nichts zu tun hat, sondern das ist klar antisemitisch motiviert.
({1})
Die Bewegung „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“, kurz BDS, fordert nicht, wie die Bundesregierung es tut, eine Zweistaatenlösung. Ihre Aktionen zielen auf eine Zerstörung des jüdischen Staates in seiner Existenz. Deswegen beschließen wir mit dieser großen Einstimmigkeit in diesem Haus wie auch schon im Januar 2018 mit dem Antrag „Antisemitismus entschlossen bekämpfen“ erneut, jede Form von Antisemitismus in aller Konsequenz schon im Entstehen zu verurteilen. Diese Haltung werden wir auch in Zukunft immer wieder ganz klar formulieren und gemeinsam in diesem Hause unterstreichen.
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Es handelt sich bei der BDS-Bewegung eben nicht um eine Kritik an der Tagespolitik der Regierung des mit uns befreundeten Staates Israel. Kritik darf jeder üben, so wie wir das auch tun. Wer einmal israelische Zeitungen liest, weiß, dass auch in Israel Kritik geübt wird. Ein Beispiel dafür ist die Zeitung „Jerusalem Post“. Es ist erlaubt, Regierungen zu kritisieren: in Israel, aber auch in Deutschland.
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Es ist auch nichts gegen diese Kritik einzuwenden, unabhängig davon, ob man sie inhaltlich teilt oder nicht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grenze ist dann überschritten, wenn der Staat Israel dämonisiert wird, wenn der Staat delegitimiert wird, wenn doppelte Standards angewendet werden, also Israel bei gleichartigen Handlungsweisen mit anderen Standards bewertet wird als alle übrigen Staaten.
Wie schon von unserer Bundeskanzlerin in ihrer vielbeachteten Rede im Jahr 2018 in der Knesset formuliert wurde, trägt Deutschland eine historische Verantwortung, die Teil der Staatsräson Deutschlands ist. Die Sicherheit und das Existenzrecht Israels sind für uns niemals verhandelbar. Das gilt für mich als Nürnberger im Besonderen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Letzter Redner in dieser Debatte: Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Als interfraktionelle Koalition gegen den Antisemitismus sagen wir Nein. Wir sagen ganz klar Nein gegen den billigen Versuch der AfD, Antisemitismus für ihren antimuslimischen Rassismus und für ihre Araberhetze zu instrumentalisieren.
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Am deutlichsten formulierte das im Rahmen von „Berlin trägt Kippa“ Dalia Grinfeld von der Jüdischen Studierendenunion, indem sie sagte: Ihr seid bei uns nicht willkommen. Ich zitiere: Wir sind gegen eure „Fake-Judenfreundlichkeit“. – Deutlicher kann man es nicht sagen.
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Wir sagen aber auch jenseits von Tagespolitik und außenpolitischen Fragen – denn darum geht es jetzt nicht – in aller Deutlichkeit Nein. Wir sagen Nein zu jeder Form von Antisemitismus: rechtem Antisemitismus und linkem Antisemitismus, religiösem Antisemitismus, christlichem Antisemitismus und muslimischem Antisemitismus und eben auch jedem Antisemitismus – da gibt es keine falsche Toleranz – im Zuge des Nahostkonfliktes. Das steht im Kern unseres heutigen Antrages.
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Es kann eben nicht sein – das müssen wir ächten –, wenn in höchster historischer Insensibilität Boykottforderungen formuliert werden, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird und wenn – das ist inakzeptabel und antisemitisch – der jüdische Staat mit dem Nationalsozialismus parallelisiert wird. Das funktioniert nicht mit uns und ist zu ächten.
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Wir sind da deutlich. Aber selbstverständlich gilt Meinungsfreiheit. Es ist selbstverständlich möglich und erlaubt, Kritik an der israelischen Regierung zu üben. Ja, je problematischer womöglich der israelische Ministerpräsident ist, desto deutlicher und klarer können wir ihn kritisieren. Aber je klarer er nach unserer Meinung womöglich versagt, desto deutlicher müssen wir jeder Form von Antisemitismus unser Nein erteilen; denn alles andere wäre Nachgeben gegenüber dem Antisemitismus. Gerade dies kann in diesem Land nicht mehr möglich sein.
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Wir sagen aber auch Nein dazu, uns zu entscheiden zwischen unseren palästinensischen, arabischen, jüdischen oder israelischen Freunden. Nein, diesen Weg gehen wir nicht. In meiner Stadt hat, als ein eindeutig antisemitisch motivierter Anschlag auf die Synagoge verübt wurde, der Sprecher der dortigen Interessenvertretung der Muslime als Erster seine Solidarität bekundet und gesagt: Wenn ihr das Gotteshaus angreift, dann greift ihr uns an. – Dies ist der Geist, in dem wir heute unseren Antrag verabschieden wollen.
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Deshalb sagen wir Ja zum Existenzrecht Israels. Wir sagen Ja zur Zweistaatenlösung. Wir sagen Ja, dass Stiftungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, wenn sie nicht antisemitisch sind, selbstverständlich tätig sein müssen und sich für den Frieden im Nahen Osten einsetzen müssen. Wir sagen aber auch Ja – auch ich persönlich sage Ja, und das anstatt einer Zusatzerklärung –, dass wir in den Schmerz und in die Wunden gehen müssen. Ich kenne meine arabischen und palästinensischen Freunde, die wütend sind ob der Besatzung und der völkerrechtswidrig errichteten Siedlungen. Ich kenne meine jüdischen Freundinnen und Freunde, die wütend sind, weil man sie für Israel haftbar macht, weil sie ihr Jüdischsein nicht frei leben können und keine Kippa tragen sollen.
Herr Lindh, Ihre Redezeit!
Das müssen wir aussprechen. Wir müssen den Dialog – vielleicht ist das heute der Auftakt – viel mehr verstärken. Dialog schlägt Boykott. Aussprechen schlägt Ausschweigen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Helge Lindh. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir stimmen jetzt noch nicht namentlich ab. Es ist etwas unübersichtlich, weil sich manche Kolleginnen und Kollegen schon um die Urnen versammelt haben. Das wird es nicht leichter machen, gleich festzustellen, wie Sie zu den anderen Punkten abstimmen. Aber da wir sehr spät dran sind, kann ich manches verstehen.
Ich kündige jetzt erst mal an: Es gibt mehrere Erklärungen gemäß § 31 der Geschäftsordnung unseres Bundestages zum Zusatzpunkt 11. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/10191 mit dem Titel „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist angenommen. Für den Antrag gestimmt haben die große Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Kollege Mieruch. Dagegengestimmt haben Abgeordnete von den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich fast einheitlich die AfD-Fraktion.
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– Es ist wirklich schwierig, Herr Braun. Gut, einheitlich. – Enthalten haben sich die AfD-Fraktion sowie einige Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken. – Entschuldigen Sie, aber es ist sehr unübersichtlich. Ich hoffe, dass ich das jetzt richtig gesagt habe. Damit ist der Antrag – –
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– Es gibt Unklarheiten. Deswegen frage ich Sie noch mal – auch diejenigen, die sich jetzt schon um die Boxen versammelt haben –: Wer stimmt für den Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Danke schön, Herr Grosse-Brömer; es war tatsächlich so. Für uns war das anders sichtbar. – Für den Antrag haben gestimmt die CDU/CSU-Fraktion, die FDP-Fraktion, die SPD-Fraktion, Herr Mieruch und große Teile der Grünenfraktion. Dagegengestimmt haben Teile der Linken – –
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– Teile der Linken haben sich enthalten. So, jetzt ist mal Ruhe hier!
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Große Teile der Linken haben dagegengestimmt, und Teile der Grünenfraktion haben dagegengestimmt. Enthalten haben sich die AfD-Fraktion, Teile der Grünen und Teile der Linken. Damit ist der Antrag angenommen.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Während wir hier im Bundestag debattieren, bombardiert die Luftwaffe Saudi-Arabiens ununterbrochen die jemenitische Hauptstadt Sanaa. Die Hilfsorganisation CARE berichtet, dass allein bei den 19 heftigen Luftangriffen heute Morgen sieben Menschen ums Leben gekommen sein sollen, darunter vier Kinder. Und uns erreichen dramatische Berichte aus der Hauptstadt:
„Eine Bombe fiel unweit unseres Büros, die Fenster hielten der Erschütterung kaum stand, der Boden bebte heftig. Wir sahen Rauch in der ganzen Stadt aufsteigen“, berichtet Alexandra Hilliard, die für CARE in Sana’a arbeitet. „Später hörten wir, dass eine Familie in einem Wohngebiet im Schlaf getötet wurde. Diese Familie ist gestern Abend nichts ahnend schlafen gegangen und wird nun nie wieder aufwachen.“
Zitat Ende.
Man könnte sich natürlich fragen: Was haben die Geschehnisse im Jemen mit uns hier in Berlin zu tun? Ich antworte: Ganz einfach, es sind deutsche Waffen in den Händen der islamistischen Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien, mit denen im Jemen mit bombardiert und gemordet wird. Deshalb brauchen wir ganz dringend einen umfassenden, einen absoluten Rüstungsstopp für Saudi-Arabien, für Ägypten und alle anderen Länder, die an diesem mörderischen Krieg beteiligt sind.
({0})
„Aber hat denn die Bundesregierung nicht einen Stopp für Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien erlassen?“, könnte man natürlich auch fragen. Nein; denn der sogenannte Lieferungsstopp steht nur auf dem Papier. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Wir haben es hier mit einem gezielten, ich würde sagen, Täuschungsmanöver der Bundesregierung zu tun; denn über Länder wie Frankreich, Großbritannien und Italien werden weiterhin Waffen geliefert, die in Saudi-Arabien oder eben auch in den Emiraten, die im Jemen bombardieren und Krieg führen, landen. Angesichts dessen, dass Sie dabei auch noch die europäische Idee und die europäischen Verpflichtungen als eine Ausrede bemühen, obwohl die Lieferungen in dieses Kriegsgebiet gegen europäisches Recht, gegen den Gemeinsamen Standpunkt der Europäischen Union verstoßen, sind Ihre Äußerungen meines Erachtens absolut zynisch.
({1})
Es bleibt dabei: Die Genehmigungen von Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien sind auch ein eklatanter Verstoß gegen das Friedensgebot unseres Grundgesetzes.
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Es ist auch ein Verbrechen und muss deshalb dringend gestoppt werden.
Ich finde es auch wirklich an Zynismus kaum zu überbieten, dass die Bundesregierung klammheimlich die Bestimmungen für einen korrekten Endverbleib deutscher Rüstungsexporte geändert hat. Sie als Regierung erklären uns jetzt, dass es keinen Verstoß durch Saudi-Arabien gegen die Endverbleibserklärungen bedeutet, wenn die Waffen in einem Krieg gegen ein Nachbarland wie Jemen eingesetzt werden, solange sich die deutschen Waffen in saudischen Händen befinden. Wenn Sie das tatsächlich ernst meinen, dann können Sie sich auch das ganze Regime der Endverbleibskontrolle sparen, meine Damen und Herren;
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denn dann ist klar, dass bei jeder Verwendung deutscher Waffen in Angriffskriegen oder bei einem Bruch des Völkerrechts von Frau Merkel, Herrn Altmaier oder auch Herrn Heiko Maas der deutsche Behördenstempel aufgedrückt wird: „Alles unbedenklich“.
Ich und meine Fraktion finden: Die Menschen im Jemen brauchen dringend einen absoluten Waffenexportstopp.
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Wer wie die Bundesregierung weiter liefern und genehmigen lässt, macht sich mitschuldig an den Massakern, an der Hungerblockade gegen eine ganze Bevölkerung, an dem Hungertod von bisher 50 000 Kindern und an der Ermordung von Zivilisten im Jemen. Deshalb fordern wir: Stoppen Sie die Waffenexporte!
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Vielen Dank, Sevim Dağdelen.
({0})
– Jetzt kommt vor allem Klaus-Peter Willsch. Er ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Dağdelen, ich kann ja verstehen: Sie sind gegen jegliche Waffenexporte,
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und das können Sie auch jedes Mal sagen. Aber verdrehen Sie doch nicht die Tatsachen dabei.
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So, jetzt ist mal Ruhe. Jetzt redet der Herr Willsch, okay? – Gut.
Was soll der Begriff „Endverbleib“ denn anderes bedeuten, als dass die Gerätschaften, die geliefert werden, in der Verfügungsgewalt des Empfängers bleiben, unabhängig davon, wohin sie verbracht werden?
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Das ist doch selbstverständlich; das ist schon vom Sprachlichen her leicht erklärlich.
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Gleichwohl müssen Sie hier immer wieder die gleiche Platte auflegen. Das ermüdet nicht nur mich,
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sondern auch das Publikum, glaube ich.
Weil heute wieder Menschen auf den Tribünen und an den Bildschirmen zuschauen, die nicht genau wissen, wie das bei uns läuft, und die nicht den Eindruck mit nach Hause nehmen sollen, wir würden hier leichtfüßig Waffen in die ganze Welt verteilen,
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will ich Folgendes sagen: Sie alle wissen, dass wir ein sehr restriktives Waffenexportregime haben. Wir sind nicht Exportweltmeister, wir sind nicht so gut
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wie allgemein beim Export von Hochtechnologiegütern, sondern wir sind sehr zurückhaltend im Gegensatz zu anderen Parteien, so zurückhaltend, dass unsere Geschäftsfähigkeit immer mehr infrage gestellt wird, Stichwort: Kooperationsfähigkeit mit anderen Ländern. Das müssen wir auch beachten, wenn wir über diese Themen sprechen.
Sie sprechen hier Ägypten als ein Beispiel an. Die U-Boote sind geliefert worden. Hier geht es nun um Ausrüstungsgegenstände für die U-Boote. Die Logik, zu dem einen Ja und zu dem anderen Nein zu sagen, müssten Sie mir mal erklären. Das wäre widersinnig; denn die U-Boote sind an Ägypten gegangen. Dagegen hat auch Israel nichts gehabt, die ja wohl am ehesten Interessen in der Region haben. Wir haben gerade eben über Israel gesprochen. Ich denke, man sollte das einfach mal zur Kenntnis nehmen.
Jede Rüstungsexportentscheidung ist eine Einzelfallentscheidung. Es gibt nach Außenwirtschaftsverordnung eine eindeutige Genehmigungspflicht für jeden einzelnen Fall.
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Rüstungsexporte werden grundsätzlich nicht genehmigt, wenn der hinreichende Verdacht besteht, dass damit interne Repressionen oder sonstige Menschenrechtsverletzungen begangen werden können. Sie wissen, dass der Bundessicherheitsrat unter Berücksichtigung aller vorliegenden Informationen zu einem Vorgang befasst wird und wir dort auf ein zuverlässiges und verantwortungsvolles Handeln der Regierung setzen können.
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Wir als Union setzen hier jedenfalls auf die Regierung und trauen ihr zu, dass sie das richtig macht.
Ich will die aktuellsten Entwicklungen in diesem Zusammenhang nicht verschweigen. Wir reden da über Bootslieferungen an Saudi-Arabien, die in einem Vertrag genehmigt worden sind. Es gab die Aussetzung auch bestehender genehmigter Geschäfte in Form einer Bitte der Regierung an die Industrie, die sich daran gehalten hat. Plötzlich kam erneut eine Verlängerung um sechs Monate. Jetzt wird das Verfahren eben gerichtsanhängig. Daran ist in meinen Augen zunächst einmal nichts zu kritisieren. Das Unternehmen hat die komplizierte Prozedur durchlaufen, die Genehmigung erteilt zu bekommen. Schon wenn Sie vorführen wollen, was Sie haben, brauchen Sie zum Außer-Land-Verbringen die erste Genehmigung. Der Vertrag ist dann geschlossen worden, und ein Unternehmen hat nun den Anspruch, dass es den Vertrag erfüllen kann. Wir haben hier eine Verantwortung gegenüber unserer Industrie in diesem Bereich, dass sie nicht als unzuverlässiger Partner in der Welt angesehen wird, sondern ihre Verträge erfüllen kann.
Insofern habe ich volles Verständnis, dass diejenigen, die Verantwortung für die Firma tragen – es geht in Wolgast um viele Arbeitsplätze –, nun sagen: Wenn die Bitte, nicht weiter zu liefern, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verlängert wird, dann müssen wir die Interessen unserer Unternehmen gegebenenfalls auch gegenüber der Bundesregierung vertreten. – Nun haben wir den Salat –
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ich weiß nicht, ob Herr Mützenich noch da ist –, und wir werden uns gerichtlich auseinandersetzen. Wir haben natürlich immer noch die Hoffnung, dass sich in dem avisierten Gütetermin eine Lösung ergibt, dass ein Vergleich in irgendeiner Weise möglich ist. Aber wir müssen feststellen, dass die Äußerungen der französischen Botschafterin Anne-Marie Descôtes ein weiteres Mal bestätigt werden durch dieses Vorgehen, das hier an den Tag gelegt wird und das nichts mit seriösem Außenwirtschaftshandeln und seriösem Umgang mit einmal erteilten Genehmigungen zu tun hat.
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Ich rate uns allen dazu, zu einer Politik der Vertragseinhaltung und der Vertragstreue zurückzukehren. Wir werden damit Herrn Dehm, der die ganze Zeit dazwischenblökt,
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nicht zufriedenstellen können. Aber das ist etwas, was wir machen müssen, wenn wir ein Interesse daran haben – und das betont die große Mehrheit dieses Hauses immer wieder –, dass wir in Europa durch Zusammenarbeit Ressourcen effizienter einsetzen und dass wir eine gemeinsame Industrie in verschiedenen Bereichen aufbauen. Mit dem, was hier jedes Mal vollzogen wird, wird uns das nicht gelingen. Dann ist dieses Gequatsche über Zusammenarbeit in Europa Schall und Rauch.
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Wir als Union meinen es ernst damit. Wir sind deshalb eindeutig gegen die Anträge, die uns vorgelegt worden sind, und werden dem natürlich nicht folgen.
Ich wünsche uns allen miteinander jetzt 14 sitzungsfreie Tage, in denen wir diese Debatte mal nicht erneut zum siebten, achten, zehnten Mal führen müssen.
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Danke schön.
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Danke schön, Kollege Willsch. – Noch mal zur Erklärung: Ich habe vorhin gesagt, dass ich angesichts der fortgeschrittenen Zeit keine Zwischenfragen und Kurzinterventionen mehr zulasse. Das habe ich gesagt; dann kann ich jetzt keine Ausnahme machen.
Jetzt kommt der nächste Redner: für die AfD-Fraktion Enrico Komning.
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Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die AfD-Fraktion ist grundsätzlich gegen Waffenexporte in solche Länder, die Krieg führen, ohne sich dabei selbst zu verteidigen. Der Jemen-Krieg ist ein Stellvertreterkrieg, auf dem Rücken der ärmsten Menschen ausgetragen. Den Konfliktparteien dort gebührt daher unsere größte Verachtung.
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Und was für Saudi-Arabien gilt, muss eigentlich auch für Ägypten gelten; denn auch Ägypten ist Teil der von Saudi-Arabien im Jemen geführten Koalition.
Die Art und Weise, wie die Bundesregierung in dieser ganzen Frage agiert, ist bestenfalls dilettantisch zu nennen. In Wahrheit gefährden Sie mit Ihrer Politik jegliche Friedensbemühungen auf der arabischen Halbinsel, und Sie gefährden den Wirtschaftsstandort Deutschland. Außerdem werden wir immer mehr und mehr zu einem unzuverlässigen Partner. Ihr einseitiger Exportstopp nach Saudi-Arabien zeigt deutlich: In Wahrheit wollen Sie gar keine europäische Integration. Sie und Ihre grünen Genossen wollen eine deutsche Hegemonie in Europa. Das wollen die anderen nicht, und deswegen wollen die Briten auch raus.
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Meine Damen und Herren, die Gleichwertigkeit der Nationen in Europa ohne Bevormundung aus Berlin oder Brüssel – das ist das Europa, was wir wollen. Das ist das Europa, das Frieden und Wohlstand garantiert, ein Europa der Vaterländer.
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Deutschland muss sich in der Frage von Rüstungsexporten mit Frankreich, mit Italien, mit Großbritannien grundsätzlich einigen. Hier ist tatsächlich mal ein europäischer Gleichklang notwendig. Mit Ihrem überheblichen Handeln schwächen Sie Deutschland, die europäischen Partner und vor allem die betroffenen Arbeitnehmer –
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nur nicht Saudi-Arabien, und das soll ja wohl das eigentliche Ziel sein. Es kann nicht sein, dass bei deutsch-französischen Kooperationen exportiert werden kann und bei rein deutschen Rüstungsgütern nicht. Das kann man keinem Werftarbeiter in Wolgast – Herr Willsch hat gerade die Peene-Werft angesprochen – begreiflich machen. Das wissen Sie, und daher versuchen Sie, die Menschen an der Nase herumzuführen.
Zu unserem Antrag. Herr Willsch, ich finde Ihr Mitgefühl gegenüber der Lürssen-Werft schon etwas heuchlerisch. Sie sagten ja, Sie könnten verstehen, dass jetzt geklagt werden soll. Heute kam über die Medien tatsächlich die Mitteilung, dass die Lürssen-Werft gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz klagt – zu Recht, und das ist Ihre Schuld. Wir bieten seit Monaten mit unserem Peene-Werft-Antrag eine Lösung an. Was haben Sie gemacht? Sie haben nichts gemacht. Zwischendurch gab es im Januar den Anschein, dass die Boote tatsächlich von der Bundesrepublik übernommen werden können. Es ist bis heute nichts passiert. Diese Klage verschulden Sie selbst.
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Herr Willsch, ich will Ihnen gerne abnehmen, dass Sie das persönlich nicht gewollt haben. Aber ich glaube, Sie sprechen in dem Moment nicht für Ihre gesamte Fraktion.
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Unseren Antrag auf Übernahme der Boote – dann hätte Deutschland wenigstens noch etwas davon;
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so wird Deutschland wahrscheinlich nur Schadensersatz zahlen müssen –, den haben Sie mit Häme sowohl in der Beratung hier im Parlament als auch im Ausschuss zurückgewiesen. Sie haben ihn als populistisch abgetan und uns Ahnungslosigkeit vorgeworfen. Das muss ich ebenso tun: Ich glaube, diejenigen, die keine Ahnung haben, sind Sie.
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Sie haben keine Ahnung und auch kein Bedürfnis, zu wissen, was Perspektivlosigkeit für die Menschen in Vorpommern und speziell in Wolgast bedeutet.
Ich darf Sie also noch einmal auf unseren heutigen Antrag aufmerksam machen und appelliere ausdrücklich an Sie, an alle Seiten hier im Haus, unserem Antrag zuzustimmen. Diese Schiffe könnten im Rahmen des Mandats für EUNAVFOR MED Operation Sophia viele Menschenleben auf dem Mittelmeer retten. Wir haben vorgeschlagen, wie das Schlepperwesen durch eine solche Aktion wesentlich reduziert werden kann. Das würde Planungssicherheit für die Peene-Werft bedeuten. Deshalb noch mal mein Appell: Überlegen Sie es sich, heute vielleicht unserem Antrag zuzustimmen. Wenn Sie das tun, dann können Sie auch den Fortgang der Klage abwenden, und das könnte eine mögliche Voraussetzung für einen etwaigen gerichtlichen Vergleich sein.
Im Übrigen können wir dem Antrag der Linken keinerlei Regelungen für die vom Exportstopp betroffenen Unternehmen und Arbeitnehmer entnehmen, sodass wir diesem Antrag nicht zustimmen werden.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Komning, wenn Sie uns Heuchelei unterstellen in Bezug auf das, was in Ihrem Antrag steht, dann ist das aus meiner Sicht an Scheinheiligkeit in überhaupt keiner Art und Weise zu überbieten.
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Ich sage an dieser Stelle, dass Ihr Antrag par excellence für den Politikstil steht, den Sie hier versuchen umzusetzen.
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Sie gaukeln den Menschen vor, der Kümmerer zu sein, präsentieren vermeintliche Lösungen, wie Patrouillenboote über die Bundesregierung vermarkten oder vermakeln zu lassen, gaukeln den Beschäftigten der Peene-Werft vor, Sie würden sich um ihre Belange kümmern. Am Ende entpuppt sich Ihr Antrag als Luftnummer, hinter der nichts steht.
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Vor dem Hintergrund scheint es Ihnen aber völlig egal zu sein, dass es überhaupt keine gesetzlichen Regelungen für das, was Sie da fordern, gibt, dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Aufgabenverteilung und Zuständigkeit gar keinen Handlungsspielraum hat, so vorzugehen, und dass vor allen Dingen auch – das ist genauso absurd – der Bundestag nicht beschließen kann, an wen die Bundesregierung Rüstungsexporte vorzunehmen hat. Das alles entbehrt jeglicher Grundlage. Vor diesem Hintergrund ist Ihr Antrag also heiße Luft und dient überhaupt nicht dazu, den Belangen der Peene-Werker vor Ort nachzukommen.
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Das wissen Sie, und es ist Ihnen piepegal, weil Sie glauben, auf diese Art und Weise billig Stimmenfang betreiben zu können. Aus meiner Sicht ist das nicht nur unehrlich; es ist schäbig, weil Sie auf dem Rücken der Betroffenen Ihr Süppchen kochen und Ihr politisches Kalkül daraus ziehen wollen. Im Gegensatz zu dem, was Sie tun, hat verantwortungsvolle Politik schon längst gehandelt. Bundespolitiker von SPD und CDU aus Mecklenburg-Vorpommern haben hier Hand in Hand gearbeitet. Wenn Sie sich mal die Entscheidung des Bundessicherheitsrats vornehmen, dann sehen Sie das klare Bekenntnis der Bundesregierung, für den Schaden, den der Peene-Werft entsteht, geradezustehen und nach Lösungen zu suchen. Genau das ist auf dem Weg, und das wird auch rechtssicher sein.
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Die beiden Anträge der Linken lehnt meine Fraktion ebenfalls ab. Nach meiner Auffassung sind das zwei Anträge, mit denen versucht werden soll, das, was wir an restriktiver Rüstungspolitik umsetzen, zu diskreditieren und in Mitleidenschaft zu ziehen. Ich sage, dass wir eines der besten Rüstungsexportkontrollsysteme der Welt haben. Ich nenne ein paar Zahlen, um das zu verdeutlichen. Wir haben laut SIPRI bei den Rüstungsexporten im Vergleich von 2013 bis 2017 zu 2008 bis 2012 ein Rüstungsexportminus von 14 Prozent, und das in einer Zeit, in der die Rüstungsexporte global um 10 Prozent gestiegen sind. Wenn ich jeweils die Halbjahresbilanz der Rüstungsexportberichte von 2018 und 2017 nehme, dann stellt es sich so dar, dass wir im ersten Halbjahr 2017 in Drittländer Rüstung im Wert von 2 Milliarden Euro exportiert haben und im ersten Halbjahr 2018 waren es Rüstungsgüter im Wert von 1,5 Milliarden Euro. Bei Kleinwaffen sind wir auf einem historischen Tiefststand. Im Zuge dessen sind wir ganz knapp davor, das Ziel des Koalitionsvertrags, keine Kleinwaffenexporte an Drittstaaten zuzulassen, zu erreichen.
Ich denke aber auch – damit komme ich zum Schluss –, dass wir vor dem Hintergrund der Situation in Saudi-Arabien mit dem verlängerten Exportstopp eine richtige Entscheidung getroffen haben, dass wir an dieser Stelle aber auch Zeit als Bundesregierung gewonnen haben, um mit unseren europäischen Partnern noch stringenter als bisher einheitliche europäische Rüstungsexportrichtlinien zu verhandeln. Ich denke, dass wir einerseits die Zeit dafür nutzen müssen, um auf der Arabischen Halbinsel zu einem tragfähigen Friedensverhandlungsprozess zu kommen. Die sechs Monate sind aus meiner Sicht aber auch gut und richtig, dass wir in Europa bei der Frage „Wie arbeiten wir zukünftig im Rahmen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik noch enger zusammen?“, noch lange nicht da sind, wo wir hinwollen. Vor dem Hintergrund ist das der Weg, der uns voranbringen wird.
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Vielen Dank, Frank Junge. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Sandra Weeser.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Ausschuss und im Parlament schon etliche Male über Rüstungsexporte diskutiert. Ich habe den Eindruck: Vor allen Dingen die linke Partei hat ein gesteigertes Interesse an der Debatte. Aber so recht kommen wir hier nicht weiter. Mir kommt es manchmal so vor: Allwöchentlich grüßt das Murmeltier. Und nach wie vor teilen wir die eindimensionale Einschätzung der Fraktion Die Linke nicht.
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Ich will an dieser Stelle noch mal ausdrücklich betonen: Wir lehnen Rüstungsexporte in Krisengebiete ab und halten auch die Einbeziehung der Menschenrechte bei der Erwägung und Entscheidung von Exporten für essenziell.
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Gleichzeitig erkennen wir aber auch, im Gegensatz zu Ihnen, den Zielkonflikt an, den wir zwischen den Sicherheitsinteressen Deutschlands und der Bündnisfähigkeit in Europa auf der einen Seite und der moralischen Bewertung auf der anderen Seite haben.
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Es ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken, Grünen und Teilen der SPD, nicht so einfach, wie Sie es gerne in der Öffentlichkeit darstellen. Das Thema wird auch von der Öffentlichkeit viel differenzierter gesehen. Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen Rüstungsexporte ab. Auf der anderen Seite wollen 62 Prozent in Deutschland allerdings auch, dass eine nationale Rüstungsindustrie bestehen kann, um die Ausrüstung der eigenen Streitkräfte sicherzustellen und damit auch die Sicherheit in Europa und in Deutschland. Warum erwähne ich das? Ohne Zweifel ist die Rüstungsexportpolitik ein hochsensibles Thema, und es lässt sich zudem sehr schnell und sehr leicht emotional aufladen. Ich wehre mich dagegen, dass dieses Thema hier ständig instrumentalisiert wird.
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So werden wir nämlich der komplexen Sachlage nicht gerecht.
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Da ärgert mich der Populismus von der linken Seite des Hauses genauso wie der Populismus von der rechten Seite des Hauses; denn das ist reine Taktik vor den Wahlen. Das hat mit seriöser Politik, meine Damen und Herren, nichts mehr zu tun.
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Sie, meine Damen und Herren von der AfD, verstricken in verquerer, unsinniger Weise den Fall der Peene-Werft mit Ihrer abwegigen Migrationspolitik. Das ist schlichtweg indiskutabel. Die Geschäftsführung der Peene-Werft versucht jetzt durch die Klage gegen die Bundesregierung, ihr Problem selber zu lösen. Das heißt letztendlich, die Privatwirtschaft versucht, Sachen zu lösen, wo die Politik leider traurigerweise komplett gescheitert ist. Dennoch fehlen den deutschen Werften und auch den Unternehmen in der Rüstungsindustrie nach wie vor verlässliche Rahmenbedingungen für den Export. Hier besteht Handlungsbedarf, meine Damen und Herren.
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Dazu finden sich in den von Ihnen vorgelegten Anträgen sicherlich keine entsprechenden Vorschläge.
Wir bewegen uns hier in diesem Haus keinen Millimeter weiter. Wir brauchen eine Debatte, die von Sachkenntnis und Differenzierung geleitet ist
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und endlich auch Deutschlands strategische Interessen in Europa in den Blick nimmt.
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Das Problem ist die Große Koalition; denn sie vertritt die verlogene sozialdemokratische „Nein, aber“-Politik. Seit Herbst 2018 sorgen Sie für Unsicherheit bei den Unternehmen und vor allen Dingen bei unseren europäischen Bündnispartnern. Und das ist auch der Öffentlichkeit so nicht mehr zu vermitteln.
Wir brauchen hier zwei Dinge, und zwar erstens Klarheit darüber, was mit den momentan von Lieferungen ausgeschlossenen Waren passiert, die bei den Unternehmen auf dem Hof stehen. Hier brauchen wir entweder eine begründete Freigabe, oder aber wir müssen endlich über das Thema „Rücknahme mit Entschädigung“ sprechen, meine Damen und Herren. Aber eine Hängepartie, wie sie momentan vorliegt, können wir nicht weiter betreiben.
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Zweitens brauchen wir endlich eine wissenschaftliche Grundlage und darauf aufbauende Entscheidungen, die strategisch ausgerichtet und mit unseren europäischen Partnern abgestimmt sind. Ich fordere alle hier in diesem Hause auf, dieses Thema nicht wahltaktisch auszuschlachten, sondern den Worten aus Ihren Wahlprogrammen endlich Taten folgen zu lassen. Stimmen wir uns mit unseren europäischen Partnern gemeinsam ab!
Wir brauchen eine europäische Exportkontrolle. Deutsche Alleingänge bringen hier relativ wenig. Es geht nur gemeinsam in Europa. Ansonsten haben wir hier keine Chance, international zu bestehen. Wir lehnen die vorgelegten Anträge ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sandra Weeser. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter diesem Tagesordnungspunkt reden wir jetzt über insgesamt drei Anträge zu Rüstungsexporten. Ich versuche es der Reihe nach:
Zunächst geht es um Ägypten. Auch wir Grüne sind gegen Rüstungsexporte an Ägypten. Die katastrophale Menschenrechtslage wird im Antrag der Linken zutreffend geschildert. Dennoch wurden in den letzten drei Jahren Kriegswaffen im Wert von über 1 Milliarde Euro genehmigt – die neueste Fregatte noch gar nicht eingerechnet. Dabei ist Ägypten nicht nur am Krieg gegen den Jemen, sondern auch am Krieg in Libyen massiv beteiligt. Die ägyptische Unterstützung von General Haftar und dessen militärischem Vormarsch auf Tripolis macht derzeit jeden Versuch einer politischen Lösung zunichte, führt zu einer Eskalation der Gewalt und hat bereits Hunderte von Menschen das Leben gekostet. Damit disqualifiziert sich Ägypten nach den Grundsätzen der Bundesregierung und nach den Kriterien des Gemeinsamen Standpunktes der EU als Empfänger von Rüstungsgütern.
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Als Nächstes geht es um einen Antrag der AfD, die alle gestoppten Waffenlieferungen nun durch die Bundesregierung selbst aufkaufen möchte, um damit Flüchtlinge abzuwehren. Das ist der übliche Unsinn, den wir selbstverständlich ablehnen.
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Dann geht es wieder um einen Antrag der Linken: zum Stopp der Exporte an Saudi-Arabien und die Freigabe der Lieferungen an die europäischen Partnerländer. Auch wir Grünen halten diese Freigabe für falsch, und die Erkenntnisse über die Verwendung der Endprodukte im Jemen-Krieg kommen immer mehr an die Öffentlichkeit. So haben Journalisten belegen können, dass französische Korvetten, die an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert wurden, bei der Seeblockade eingesetzt werden. Diese französischen Korvetten werden von deutschen Motoren angetrieben und verfügen über Geschütze von Rheinmetall. Auch die von Großbritannien an Saudi-Arabien gelieferten Eurofighter werden bei der Bombardierung des Landes eingesetzt. Wenn wir einfach keine Ersatzteile mehr nach Saudi-Arabien liefern würden, stünden diese Kampfflugzeuge ziemlich schnell am Boden.
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Wir Europäer haben also direkten Einfluss auf das Kriegsgeschehen und können, nein müssen die Bombardierung der Zivilbevölkerung verhindern.
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Im Gemeinsamen Standpunkt der EU heißt es dazu: Die Mitgliedstaaten sollen das Bestehen eines bewaffneten Konfliktes zwischen dem Empfängerland und einem anderen Land berücksichtigen. Die Militärtechnologie darf zu keinem anderen Zweck als für die legitime nationale Sicherheit und Verteidigung verwendet werden.
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Außerdem darf durch die Verwendung der Exporte die regionale Stabilität nicht wesentlich beeinträchtigt werden. – Danach darf weder an die Vereinigten Arabischen Emirate noch an Saudi-Arabien geliefert werden.
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Ich höre immer wieder, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Rüstungsindustrie sei auf diese Exporte angewiesen. Was soll dann das Gerede von mehr europäischer Autonomie? Herr Willsch, hören Sie zu!
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Wenn die europäische Verteidigung unabhängiger von den USA werden soll, dann kann die Alternative ja wohl nicht sein, sich künftig von Saudi-Arabien abhängig zu machen, weil die so gut bezahlen.
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Mehr strategische Autonomie im Verteidigungsbereich kann es nur geben, wenn wir uns weniger vom Export abhängig machen. Dazu müssen die Überkapazitäten und Dopplungen abgebaut und die Systeme zusammengeführt werden. Mit den Preiseinsparungen sollte die Industrie dann in der Lage sein, für den europäischen Markt zu produzieren und auf die Drittstaatenexporte zu verzichten.
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Unsere eigenen Sicherheitsinteressen sollten wir jedenfalls nicht verkaufen.
Zum Schluss noch zu der weiteren Forderung nach einem Stopp des Exports von Atomtechnologie für zivile Atomkraftwerke: Auch diese Forderung teilen wir Grüne, und zwar nicht nur für Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate. Die Urananreicherungsanlage der Firma Urenco in Gronau muss umgehend stillgelegt werden,
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bevor dort jetzt höher angereichertes Uran an die USA geliefert wird, das eindeutig nicht mehr nur zivil genutzt werden soll. Dass ein ehemaliger Mitarbeiter von Urenco eine gefälschte Stellungnahme eines nicht existierenden Wissenschaftlers an den Deutschen Bundestag weiterleitet, um eine Anhörung des Umweltausschusses zu manipulieren, ist ein Skandal sondergleichen.
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Wir brauchen in Deutschland weder taktische Atomwaffen noch Firmen, die hochangereichertes Uran verkaufen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Bernhard Loos.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich frage mich natürlich – wie auch schon meine Vorredner –: Wie oft sollen wir uns denn eigentlich noch die gleiche Thematik anhören?
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Wann setzt endlich bei den Linken und den Grünen ein Erkenntnisgewinn, ein gewisser Memo-Effekt ein? Es wäre doch grundfalsch, wenn die Regierungskoalition ihre intensiv überprüfte und natürlich nicht leichtfertig abgewogene Haltung ändern würde. Meinen Sie denn, dass es richtig wäre, Deutschland international zu isolieren?
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Meinen Sie, dass man die deutsche wehrtechnische Industrie bewusst nachhaltig schädigen muss? Meinen Sie wirklich, dass man sogar Arbeitsplätze in anderen NATO-Partnerländern gefährden muss? Das nämlich wären die unverantwortlichen Folgen der Anträge der Linken.
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Der gültige Beschluss des Bundessicherheitsrats vom 28. März 2019 ist doch eindeutig: Die Ruhensanordnungen für die Auslieferung genehmigter Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien werden über den 21. März 2019 hinaus um weitere sechs Monate bis zum 30. September 2019 verlängert. Für diesen Zeitraum werden grundsätzlich auch keine Neuanträge genehmigt. Jetzt konstruieren Sie in Ihrem neuen Kurzantrag, dass die von Deutschland gelieferten Schiffe von Ägypten kriegerisch unmittelbar gegen Jemen zum Einsatz kommen. Dafür gibt es doch keine Belege.
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Die Bundesregierung hat dafür auch keine Anzeigen. Ihre Spekulationen sind unseriös.
Grundsätzlich geht es der Regierungskoalition um europäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik und nicht um einen deutschen Sonderweg in der Außenpolitik. Es geht um eine europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik. Ich bleibe bei meinem sicherheitspolitischen Dreiklang für Deutschland:
Erstens: nationale Verteidigungsfähigkeit.
Zweitens: Erhalt einer eigenen deutschen wehrtechnischen Industrie. Oder wollen Sie deutsche Steuergelder in den USA, China oder Russland ausgeben, um damit dort Arbeitsplätze zu schaffen, weil Sie in Deutschland unsere bestehenden wehrtechnischen Arbeitsplätze aus ideologischen Gründen vernichten? Es geht immerhin um 55 000 direkte bzw. – mit den Zulieferern zusammen – 135 000 Arbeitsplätze in unserem Land. Wir von der Union stehen zum Erhalt einer leistungsfähigen deutschen wehrtechnischen Industrie.
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Wir wollen nicht, dass diese deutsche Hochtechnologiefähigkeit unwiederbringlich verloren geht.
Drittens: Zusammenhalt im Bündnis; das ist ein ganz wichtiger Punkt.
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Wir planen und produzieren als verlässlicher Partner gemeinsame Rüstungsprojekte, die wir selber wegen der enormen Entwicklungskosten und notwendigen Stückzahlen alleine nicht wirtschaftlich produzieren könnten.
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Doch schon heute macht vor dem Hintergrund der permanenten Saudi-Arabien-Debatten das Schlagwort „German-free“ die Runde, also: Wir machen es lieber ohne die Deutschen.
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Wollen Sie also einen Ausschluss Deutschlands aus all diesen internationalen Kooperationen?
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Wenn ja, dann stehen Sie doch auch dazu, zeigen Sie die Konsequenzen auf, und zeigen Sie insbesondere Mitarbeitern von Krauss-Maffei, Rheinmetall, der Peene-Werft, Heckler & Koch oder der Airbus-Gruppe die Konsequenzen auf.
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Aber Sie wollen doch eigentlich mehr. Sie wollen eine Isolierung Deutschlands bei den europäischen Partnern im Bündnis und den Ausstieg aus der NATO. Das ist doch ihr eigentliches Ziel.
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Bundesaußenminister Heiko Maas hatte recht, als er am 10. März 2019 im Berliner „Tagesspiegel“ zur Haltung der Bundesregierung ausführte:
Das haben wir nicht nur mit Blick auf den Fall Khashoggi getan, sondern auch weil wir Druck ausüben und deutlich machen wollen, dass wir auch von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten einen Beitrag zu einem Friedensprozess … erwarten.
Auf die Frage, ob wieder geliefert werden könne, antwortete er:
Das hängt davon ab, wie sich die Dinge entwickeln.
Wir von der Union unterstützen diese Haltung, und ich stimme Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier völlig zu, wenn er in der „SZ“ am 25. Oktober 2018 sagt:
Es hat keine Folgen positiver Art, wenn nur wir die Exporte nicht weiter durchführen, aber gleichzeitig andere Länder diese Lücke füllen.
Ich sage: Eine gemeinsame europäische Linie ist nötig; denn Saudi-Arabien erhält aus anderen Ländern weitaus mehr Rüstungsgüter als aus Deutschland. Um die Größenordnung der Rüstungsimporte zu vergleichen: USA 61 Prozent, Vereinigtes Königreich 23 Prozent, Frankreich 3,6 Prozent, Deutschland 1,7 Prozent.
Zum Antrag der AfD nur eine kurze Anmerkung. Es geht Ihnen allein darum, zwei Themen unanständig zu verknüpfen, nämlich ein Rüstungsexportverbot mit der Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer. Es geht Ihnen gar nicht um eine sinnvolle mögliche Alternativverwendung, sondern allein um Schaufensteraussagen.
Was Sie in Ihrem Antrag machen, ist schlicht und einfach schäbig: Sie versuchen, die Angst der Mitarbeiter vor einem Arbeitsplatzverlust in parteipolitische Münze zu Ihren Gunsten umzuwandeln. Das ist Populismus pur.
Ich danke umso mehr der Bundesregierung, dass im Beschluss des Bundessicherheitsrates vom 28. März 2019 klar geregelt ist, dass auch eine Entschädigungsmöglichkeit für die Werften bzw. die Wehrindustrie für die nicht gelieferten Waffen besteht.
Das ist Politik, wie sie die Union macht: die internationale Fähigkeit Deutschlands zur Zusammenarbeit stärken, das Vertrauen in geschlossene Kooperationsverträge untermauern, deutsche wehrtechnische Industrie erhalten und stärken und damit Sicherheit und Arbeitsplätze in Deutschland. Das ist der Weg der Union.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Bernhard Loos. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Als ich den Antrag der Linken zu Ägypten gelesen habe, hat mich ein seltsames Gefühl beschlichen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken. Ich hatte den Eindruck, den Text zu kennen, aber nicht aus der Linkenfraktion, sondern aus anderen Publikationen.
Ich bin dem nachgegangen und habe festgestellt, dass Sie Wort für Wort das, was ich hier Gelb markiert habe,
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dem Ägypten-Bericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte entnommen haben, und den bunt markierten Rest des Antrags – das ist nur eine Seite – haben Sie Wort für Wort den „Stuttgarter Nachrichten“ vom 2. Januar 2019 entnommen.
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Ich finde, wenn Sie uns zum wiederholten Mal hier mit diesem Thema beschäftigen, dann sollten Sie sich etwas mehr Mühe geben.
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Ich denke, das dürfen wir hier erwarten.
Wenn es um Ägypten geht: Ich finde dieses Interesse durchaus legitim – bitte verstehen Sie mich nicht falsch –, aber dann bitte nicht in Schwarzweißmalerei, und dann bitte auch in einem vollständigen Bild.
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– Na ja, also bitte. Wenn man einfach nur abpinnt, nennen das andere „Plagiat“. Ich finde das nicht gut, und ich finde, das verdient ein bisschen mehr Seriosität.
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Aber reden wir über das schwierige Verhältnis zu Ägypten. Das ist in der Tat geradezu ambivalent. Einerseits war und ist Ägypten im Jemen beteiligt. Das ist richtig. Und es ist nach wie vor so, dass Ägypten ein Teil der arabischen Koalition ist.
Andererseits – das müssen auch Sie zugeben – ist Ägypten für uns ein wichtiger regionaler und strategischer Partner – für die Bundesrepublik, aber auch für Europa. Und ich bin dankbar, dass nach wie vor eine Reihe Bundesdeutscher in Ägypten Urlaub machen. Das hilft nämlich auch, die Situation zu befrieden.
Ja, Ägypten ist Nachbarstaat Libyens und hat eine wichtige strategische und geopolitische Lage am Roten Meer. Deshalb ist es durchaus nachvollziehbar, dass es hier ein maritimes Sicherheitsinteresse von ägyptischer Seite gibt.
Ja, es ist so: Die Welt gerät immer mehr aus den Fugen, und deshalb passiert auch auf unseren Weltmeeren so viel. Auch da darf sich ein Land schützen, liebe Sevim Dağdelen. Das passiert eben auch. Das können wir auch den Ägyptern nicht einfach verbieten.
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Es ist doch nachvollziehbar, dass die Ägypter ihre durchaus veraltete maritime Technik etwas besser ausstatten wollen. Dass sie dazu Partner in Deutschland suchen, sollten wir ihnen nicht verbieten.
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Ja, es ist andererseits aber auch richtig, dass der Interimspräsident el-Sisi – das wurde schon gesagt – die Opposition drakonisch unterdrückt. Aber hier, Frau Dağdelen, geht es um eine Fregatte, die möglicherweise vor allem auf hoher See eingesetzt wird, und das ist durchaus nicht illegitim.
Reden wir doch auch mal über die alte Wunde Ägyptens im Jemen-Konflikt: General Nasser, der in den Jahren 1962 bis 1970 viel Kriegserfahrung sammeln musste, hat den Jemen, weil man im Jemen-Krieg viele tote Soldaten zu beklagen hat, einmal das „Vietnam Ägyptens“ genannt, und das hat seine Gründe.
Erinnern wir uns – auch das gehört zur Gesamtlage dazu –: Was ist denn mit dem Nachfolger von Nasser passiert? Anwar al-Sadat hat nämlich – deshalb ist das auch ein so wichtiger Partner; das möchte ich der Linkenfraktion in Erinnerung rufen – 1979 ein Friedensabkommen mit Israel geschlossen. Gedankt hat man ihm das nicht. Dafür ist der Friedensnobelpreisträger al-Sadat ermordet worden. Das gehört zur Lagebeschreibung dazu, statt einfach nur, wie wir es eben von der rechten Seite gehört haben, eine Verurteilung aller Konfliktparteien zu geben. Das greift zu kurz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
In einer idealen Welt würde auch ich am liebsten keine Rüstungsgüter veräußern müssen; das wäre mir auch lieb. Aber wir leben leider nicht im Paradies. Lassen Sie uns deshalb nicht naiv sein, sondern auf der sicheren Seite. Deutschland ist eine Exportnation, und das sollte sie auch bleiben.
Deshalb, liebe Frau Dağdelen: Nehmen Sie das Thema Ägypten bitte auf die Tagesordnung des Auswärtigen Ausschusses, dann aber mit etwas mehr Seriosität!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Daniela De Ridder. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10152 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen: Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben die SPD, CDU/CSU, FDP und AfD-Fraktion.
Jetzt stimmen wir andersrum ab. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Jetzt geht es um die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Dagegen waren die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie auf Drucksache 19/10026. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/7039 mit dem Titel „Rechtssicherheit für Unternehmen – Aufträge durch verhängte Ausfuhrstopps durch die Bundesrepublik Deutschland übernehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung der Fraktionen der FDP, der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und der Linken. Die Gegenstimme kam von der AfD-Fraktion. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/8965 mit dem Titel „Keine Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und andere am Jemenkrieg beteiligte Staaten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Dagegengestimmt haben die Fraktionen der Linken und Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Jahren hat der Deutsche Bundestag endlich die Öffnung der Ehe für Paare gleichen Geschlechtes beschlossen. Seitdem kann jeder Mensch den Menschen heiraten, den sie oder er liebt. Das hat Deutschland offener und glücklicher gemacht.
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Nun heißt es oft: Ihr habt doch jetzt alles, was ihr wolltet; jetzt ist aber mal gut mit den Forderungen. – Heute ist der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit.
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Wir Grüne haben diese Aktuelle Stunde beantragt, um zu sagen: Nein, es ist noch längst nicht alles gut. Es gibt noch sehr viel zu tun, damit alle Menschen verschieden sein können, aber gleich an Rechten, gleich an Würde und frei von Diskriminierung. Nicht mehr, aber auch definitiv nicht weniger muss der Anspruch des Bundestages sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Zwischenrufe von rechts zeigen auch, wie verdammt notwendig diese Aktuelle Stunde und wie verdammt notwendig dieser heutige Tag ist.
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Deswegen freue ich mich, dass heute der Bundesrat gefordert hat, sogenannte „Homoheiler-Therapien“ zu verbieten. Dem muss sich der Bundestag schnellstmöglich anschließen.
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82 Prozent aller nicht heterosexuellen Jugendlichen machen Erfahrungen mit Diskriminierung – in der Familie, in der Schule, im Sportverein. Bei transgeschlechtlichen Jugendlichen sind es sogar 96 Prozent.
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„Schwule Sau“ ist immer noch ein beliebtes Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen. Über Lesben wird immer noch gesagt: Na, die hat einfach noch nicht den Richtigen gefunden. – Gerade jungen Menschen gegenüber muss aber auch dieser Bundestag laut und deutlich sagen: Du bist richtig, ganz genau so, wie du bist.
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Diskriminierung und Homo- und Transfeindlichkeit sind aber tief in der Gesellschaft verankert, und leider auch – wir haben es gerade eben wieder gehört – in diesem Bundestag. So liegt derzeit ein Gesetzentwurf dieser menschenfeindlichen Fraktion vor, die die Ehe für alle wieder abschaffen will.
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Ich sage: Das hatten wir schon mal. Es war 1935, als den Jüdinnen und Juden das Recht auf Eheschließung mit Nichtjüdinnen und Nichtjuden untersagt wurde.
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– Das hat sehr viel damit zu tun. – Ich finde: In diesem Haus darf nie wieder ein Gesetz beschlossen werden, das Menschen ihre Rechte wegnimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Diskriminierung führt zu Hass und Gewalt. Über 380 homo- und transfeindliche Übergriffe wurden allein in Berlin im letzten Jahr erfasst. Die Dunkelziffer liegt sehr viel höher. Denn verbale Beleidigungen gehören für Minderheiten quasi zum Alltag; ein Alltag, an den wir uns nicht gewöhnen dürfen.
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Wir haben eine Verpflichtung, dazu beizutragen, dass sich das gesellschaftliche Klima ändert. Schöne Worte reichen da nicht.
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Wir Grüne fordern deshalb einen nationalen Aktionsplan für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, der auch mit konkreten Maßnahmen und mit ausreichend Geld hinterlegt ist.
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Der heutige Tag ist auch der Tag gegen Transfeindlichkeit. Aktuell berät die Bundesregierung über einen Referentenentwurf, der das Transsexuellengesetz ersetzen soll. Bisher reicht nämlich nicht einfach eine Selbstauskunft. Vielmehr müssen Menschen verschiedene psychologische Gutachten vorlegen, um ihren falschen Geschlechtseintrag korrigieren zu dürfen. Und dieser neue Entwurf, der gerade beraten wird, macht weiter mit Pathologisierung und Fremdbestimmung. Es bleibt bei Begutachtung durch Dritte. Künftig sollen dazu sogar die Ehegatten befragt werden.
Ich meine: Was ist das bitte für eine unfassbare Anmaßung? Es scheint irgendwie ein zwanghaftes Bedürfnis danach zu geben, die Sexualität, den Körper und das Geschlecht von Menschen zu kontrollieren. Wir dagegen sagen: Über seinen Körper und über sein Geschlecht kann nur ein Mensch bestimmen – und das ist jeder Mensch selber.
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Die einzig sinnvolle Reform des Transsexuellengesetzes ist deshalb seine Abschaffung.
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Ich komme zum Schluss. Heute hat Taiwan als erstes Land in Asien die Ehe für alle geöffnet. Ich finde, auch der Bundestag sollte sagen: Herzliche Glückwünsche nach Taiwan für diese absolut richtige Entscheidung!
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Aber fast die Hälfte der Menschheit lebt weiterhin in Ländern, in denen LSBTI staatlich diskriminiert, brutal verfolgt oder sogar umgebracht werden.
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Diese Schande darf uns nicht kaltlassen; sie muss zu beherztem politischem Handeln führen. Zum Glück werden heute weltweit Menschen auf die Straße gehen – für ihr Recht auf So-Sein, ihr Recht auf Akzeptanz und ihr Recht auf Würde. Wir müssen uns an die Seite dieser Menschen stellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Vielen Dank, Sven Lehmann. – Nächster Redner in der Aktuellen Stunde: Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen und Kolleginnen!
({0})
Liebe Zuhörer und Zuschauer auf der Tribüne, die Sie derzeit, glaube ich, eine größere Anzahl ausmachen als die im Plenum befindlichen Parlamentarier. „Maßnahmen gegen Homo- und Transfeindlichkeit“ ist das Thema der heutigen Aktuellen Stunde, die die Grünen beantragt haben. Meine lieben Damen und Herren von den Grünen, wenn ich es richtig im Kopf habe, hat Ihre Fraktion 67 Mitglieder; es sind ungefähr 10 oder 12 von Ihnen heute Nachmittag da.
In der Erläuterung zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages heißt es, dass die Aktuelle Stunde ein „parlamentarisches Großereignis“ sei. Behandelt werden sollen Themen, die in der Öffentlichkeit von größerer Bedeutung sind und für die deshalb Diskussionsbedarf besteht. Selbstverständlich gehören in einer rechtsstaatlichen Demokratie alle Themen, die Minderheiten betreffen, auf die Tagesordnung. Es ist nicht akzeptabel, dass Minderheiten, gleich aus welchem Grunde, rassisch oder geschlechtlich, diskriminiert werden. Mir ist aber trotz aufmerksamer Lektüre der Tagespresse, der Medien, auch der sozialen Netzwerke nicht aufgefallen, dass das, was Sie zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde machen, von so großer medialer Aufmerksamkeit ist, dass wir es heute Nachmittag hier diskutieren müssten.
({1})
– Ja, das dürfen Sie, Frau Lemke, deshalb machen wir das ja auch.
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Aber ich kann Ihnen versichern: Die CDU/CSU und ich persönlich, wir sind mit Vertretern der betroffenen Gruppen und einzelnen Personen in einem intensiven und konstruktiven Dialog, was dieses Thema anbelangt.
({3})
Wir brauchen da auch keine Nachhilfe von Ihnen – ich füge hinzu: zumindest nicht mehr.
({4})
– Dazu komme ich gleich.
Aus diesem Grunde habe ich das Gefühl, dass das Thema heute zur Debatte steht, weil wir uns im Vorfeld von Wahlen befinden. Letztendlich habe ich das Gefühl nämlich nicht verloren, dass dieses Thema gegenwärtig nicht mehr so die Gemüter bewegt, wie das einst der Fall gewesen ist.
({5})
Auch wenn es Anträge der AfD gibt: Gerade die machen Sie mit der heutigen Aktuellen Stunde erst wieder hoffähig und heben sie auf den Schild der Diskussion.
({6})
Nach meinem Dafürhalten haben wir in diesem Haus die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften und ehelicher Gemeinschaften heterosexueller Paare vollzogen. Wir machen das im Arbeitsmodus, und zwar lautlos, Schritt für Schritt. Die in der Vergangenheit immer wieder gestellte Frage des Ob ist schon längst der Frage des Wie, wie wir das machen, gewichen. Aber Klappern gehört zum Geschäft, und wenn man mit den unmittelbar betroffenen Menschen spricht und ihnen etwas Gutes tun möchte, sollte man ihre Probleme lösen und nicht nur darüber reden.
({7})
Und genau das machen wir.
Jetzt komme ich zu den Vorschriften. Die Vorschriften, die vom Bundesverfassungsgericht rechtlich kassiert wurden, weil sie einer Diskriminierung gleichkamen, haben wir längst einer gesetzes- und verfassungskonformen Anpassung unterzogen.
({8})
Damit befinden wir uns im erwähnten Arbeitsmodus. Begonnen haben wir beispielsweise mit der rechtlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher und heterosexueller Paare im Bürgerlichen Gesetzbuch, im Steuerrecht usw. usf. Wir befinden uns in einer intensiven abstimmenden Diskussion zur Anpassung des Abstammungsrechts.
({9})
Wir haben auch Regelungen geschaffen, Frau von Storch, die zwischenzeitlich in Kraft getreten oder noch in der Diskussion sind, die sich mit intersexuellen Menschen beschäftigen,
({10})
Die Regeln, die wir machen, werden den Besonderheiten dieser Menschen, denke ich, ausreichend gerecht. Wir haben das Personenstandsgesetz um ein drittes Geschlecht entsprechend ergänzt und erweitert. Wir beseitigen damit die Diskriminierung, die es gegeben hat.
Gegenwärtig befinden wir uns in der internen Abstimmung beim Transsexuellenrecht. Ich möchte doch auf eines hinweisen – denn bei Ihnen, Herr Lehmann, klang vorhin an, das sei doch alles irgendwie das Gleiche –: Nein, es ist nicht alles das Gleiche. Gleiches wird gleich und Ungleiches wird ungleich behandelt. Intersexualität und Transsexualität sind eben nicht gleich und können daher auch nicht gleich behandelt werden.
({11})
– Sie dürfen doch gleich reden, Frau von Storch. Können Sie sich nicht noch 30 Sekunden beherrschen? – Deshalb kann es auch nicht sein, dass für Transsexuelle bei der Änderung des Personenstandsgesetzes die gleichen Anforderungen verlangt werden wie für Intersexuelle oder umgekehrt. Über diese Sachfragen werden wir uns in den zuständigen Ausschüssen, Recht und Inneres, intensiv unterhalten müssen.
Das, was ich hier gerade vorgetragen habe, war etwas nüchtern und sachlich.
({12})
Es geht hier aber auch nicht um Popularität, die man gewinnen möchte; denn Popularität sollte nicht der Antrieb für unser politisches Handeln sein.
Ich bedanke mich.
({13})
Vielen Dank, Axel Müller. – Nächste Rednerin: Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag der Grünen von gestern, einen bundesweiten Aktionsplan zur Förderung der geschlechtlichen Vielfalt aufzulegen, zeigt, wohin sie wollen. In einem Satz: Dieser Aktionsplan ist die Ausgeburt grüner Allmachtsfantasien aus einer dekadenten, abgehobenen Parallelwelt urbaner Eliten,
({0})
die mit den realen Problemen der Bürger nichts mehr zu tun haben.
({1})
Bemerkenswert ist nicht, was die Grünen zu Homophobie und Transphobie sagen.
({2})
Sie adressieren natürlich ihren politischen Lieblingsfeind: die Populisten und Nationalisten und die Neokonservativen –
({3})
der übliche Popanz. Bemerkenswert ist aber, was sie bei alledem zu dem Thema Homophobie nicht sagen. Ich gebe Ihnen einen Tipp. Es sind nicht die Populisten, die Nationalisten oder die Neokonservativen,
({4})
die Homosexuelle steinigen, köpfen oder von Dächern werfen.
Sie haben in Ihrer Presserklärung zwar zu Recht auf das himmelschreiende Unrecht hingewiesen, dass Homosexuelle in einigen Ländern mit dem Tode bedroht werden. Was Sie nicht gesagt haben, ist, in welchen Ländern.
({5})
Es sind Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Sudan, Mauretanien, Jemen, Somalia, Syrien und Brunei.
({6})
Was haben alle diese Staaten gemeinsam? Erstens. Alle diese Staaten stehen auch auf der Liste der Christenverfolgung von Open Doors. In allen Ländern, in denen Homosexuelle mit dem Tode bedroht werden, werden auch Christen verfolgt.
Zweitens. Alle diese Staaten sind muslimisch.
({7})
Wenn in einem Land Homosexuellen die Todesstrafe droht, dann gibt es eine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit dafür, dass dort auch Christen verfolgt werden und dass es sich um ein muslimisches Land handelt.
({8})
Dieser Befund steht für sich.
Dritte Gemeinsamkeit. Das sind die Staaten, aus denen die überwiegende Zahl der Migranten im Moment zu uns kommt –
({9})
und nach dem Wunsch der Grünen gerne schnell noch sehr viel mehr.
Um zu sehen, was das für einen Einfluss auf Westeuropa haben wird, schauen wir uns Großbritannien an.
({10})
Im Landesdurchschnitt sagen dort 15 Prozent: Homosexualität ist moralisch falsch. – Da werden Sie sagen: Na klar, da, wo diese populistischen, nationalistischen, neokonservativen Brexiteer-Anhänger hausen, ist das kein Wunder.
({11})
Das ist das Klischee. Aber schauen Sie auf die Zahlen:
({12})
In London betrachten 29 Prozent Homosexualität als moralisch falsch – fast doppelt so viele. Im bunten, weltoffenen von Labour regierten London lehnen doppelt so viele Menschen Homosexualität ab wie im ländlichen, christlichen, konservativen England. Warum ist das so? Schauen Sie sich die Zahlen einfach an. Schauen Sie sich an, wie hoch der Anteil der Muslime in Londonistan ist, dann haben Sie die Antwort.
({13})
Die Mehrheit der Muslime lehnt Homosexualität übrigens nicht nur als moralisch falsch ab. Es geht weit darüber hinaus. 52 Prozent der britischen Muslime sagen nicht nur: „Homosexualität ist moralisch falsch“, sondern: Homosexualität sollte verboten werden. – 52 Prozent der britischen Muslime! London ist heute schon da, wo Berlin, das Ruhrgebiet und Köln bald sein werden.
({14})
Nach Berechnungen des Pew Research Centers wird sich bei fortgesetzter Einwanderung der Anteil der Muslime in Deutschland in den kommenden Jahren auf 20 Prozent erhöhen. In vielen Städten und Gemeinden sind sie dann die Mehrheit.
({15})
Der Islam kennt keine Minderheitenrechte. Das sind die dunklen Wolken, die über den Homosexuellen in Westeuropa aufziehen.
({16})
Die wollen Sie, die grünen Trommler für die Multikultirepublik, natürlich nicht sehen, weil Ihnen die Zerstörung der christlich-abendländischen Kultur viel wichtiger ist als das, was danach kommt – auch wenn es der Abgrund ist.
({17})
Die Grünen reden lieber über Diversität, sensible Sport- und Freizeitangebote, über Programme für die mediale Repräsentanz lesbischer Mädchen
({18})
und über Geschlechtersensibilisierungsprogramme für die Polizei. Das ist alles aus Ihrem Antrag; das sind die Modethemen Ihrer Klientel, der Hipster, der Latte-macchiato- und Mandelmilch-Linken.
({19})
Sie und Ihre Anhänger sollten endlich erwachsen werden und der bitteren Realität ins Auge sehen. Wenn die Fahne des Halbmondes steigt,
({20})
wird die Fahne des Regenbogens brennen. Das ist nur eine Frage der Zeit und der Demografie.
({21})
Wer Homosexuelle schützen will, braucht keine Diversity-Strategie, der braucht eine Strategie gegen die Islamisierung unseres Landes. Und ob es ihm passt oder nicht: Die einzige Partei, die die Islamisierung Deutschlands verhindern will, ist die AfD.
({22})
Vielen Dank.
({23})
Danke schön, Frau von Storch. – Nächster Redner: Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich dachte ich: Schlimmer geht es nimmer. Aber es geht manchmal doch noch schlimmer.
({0})
Ich will Ihnen, der Vorrednerin, einen guten Rat geben: Gehen Sie doch in die muslimischen Länder, die Sie beschrieben haben, dort fühlen Sie sich mit Ihrer homophoben Haltung wohl. Da gehören Sie hin.
({1})
Ich sage ganz deutlich: Diesem Tag gegen Homophobie und Transphobie sollte man noch einen Tag gegen Islamophobie und andere Religionen anfügen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben beim vorvorigen Tagesordnungspunkt bei sehr hoher Übereinstimmung in diesem Hause darüber debattiert, dass Antisemitismus in diesem Land inakzeptabel ist und alle Menschen in einem freien Land wie der Bundesrepublik Deutschland dem Schutz des gesamten Staates bedürfen.
({3})
Das war gut, das war richtig. Darauf – das sage ich ganz deutlich – war und bin ich stolz.
({4})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wäre genauso stolz, wenn die vielen Menschen dieses Landes, die als schwul, lesbisch, inter, trans geboren sind, die gleiche Achtung, den gleichen Respekt und den gleichen Schutz in diesem Land in allen Bereichen bekommen würden.
({5})
Da reicht es nicht, Sonntagsreden zu halten. Die Erklärungen, die wir abgegeben haben, als wir alle sehr glücklich waren, dass die Zeit der Ausgrenzung, der Zweiklassengesellschaft von heterosexuellen Ehen und homosexuellen Verbindungen
({6})
beendet wurde, reichen nicht.
Wir konnten hier in diesem Hause eine Entscheidung in großer Übereinstimmung treffen. Menschen gleich welchen Geschlechts können sich ehelichen. Wir haben in diesem Land die verwerfliche Gesetzgebung und die verwerflichen Verurteilungen gegenüber Männern, die nach § 175 verurteilt wurden, überwunden. Darauf können, dürfen und müssen wir stolz sein.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aber mit der Rehabilitation der Männer, die nach § 175 verurteilt wurden, mit der Ehe für alle, mit den Anpassungen, die der Kollege Müller angesprochen hat, über die wir – das Bundesverfassungsgericht hat es uns aufgetragen – entscheiden müssen, ist das noch nicht erreicht, was wir in diesem Land und überall auf dieser Welt zu erreichen haben, nämlich die Würde im Umgang mit allen Menschen, die wir beim Gedenken an 70 Jahre Grundgesetz angesprochen haben. Die Würde des Menschen wird nur dann wirklich gewahrt, wenn sich eine Gesellschaft an den Rechten ihrer Minderheiten messen lassen kann.
({8})
Nur so gut, wie es den Minderheiten geht, so gut, wie Minderheitenrechte geschützt sind, so gut geht es einem Land, so gut ist seine gesellschaftlich-moralische Verfassung.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben noch viel zu tun; denn die Menschen in diesem Land, gleich ob sie in meinem Alter oder noch Kinder oder Säuglinge sind, die geborgen in ihrer Familie aufwachsen, haben nicht nur einen Anspruch darauf, in den Schulen, auf dem Schulhof nicht als Schwuchtel oder Lesbe bezeichnet zu werden, sondern sie haben auch einen Anspruch darauf, als gute oder nette Schülerin, als Freundin oder Freund bezeichnet zu werden, und auch darauf, in dieser Gesellschaft aufgenommen zu werden, die gleichen Chancen zu bekommen, so zu leben, wie sie leben wollen. Niemand hier in diesem Hohen Hause wird irgendjemandem, der heterosexuell ist, vorschreiben, mit wem er eine Ehe eingeht. Aber bei anderen ist man der Meinung, man müsse das Gesicht etwas verziehen oder sagen: Wir haben es euch ja erlaubt. – Nein, es gibt kein Erlauben. Vielmehr ist es ein ureigenes Menschenrecht, dass Menschen diese Entscheidung selbst treffen können.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich an diesem Tag, an dem die meisten europäischen Staaten die IDAHO-Erklärung schon unterzeichnet haben, einen Wunsch äußern: Ich würde mir eigentlich wünschen, dass wir den IDAHO nicht mehr begehen müssen, weil die Menschenrechte, die Rechte von homosexuellen Menschen, von transsexuellen Menschen, von intersexuellen Menschen, von Minderheiten gleich welcher Art, ob geschlechtlich oder ethnisch, geachtet werden.
In diesem Sinne fordere ich uns alle auf: Lassen Sie uns genauso, wie wir uns übereinstimmend gegen den Antisemitismus verschworen haben, gemeinsam darüber debattieren, wie es uns gelingt, eine einheitliche Lösung zu finden, bei der wirklich alle Menschen in diesem Land dem Schutz von Artikel 3 Grundgesetz unterstellt sind. Dazu gehören selbstverständlich auch die sexuellen Minderheiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist Gyde Jensen, FDP.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit eineinhalb Jahren dürfen gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland heiraten. Der jahrzehntelang ersehnte Meilenstein für Gleichberechtigung homosexueller Menschen wurde bunt gefeiert, auch hier im Bundestag. Darauf folgten allein im ersten Jahr über 10 000 Eheschließungen. Wenn man aber genauer hinschaut, dann ist dieser Meilenstein eigentlich kein wirklicher. Im europäischen Vergleich ist Deutschland bei der Gleichberechtigung von LSBTI-Menschen dieses Jahr von Platz 12 auf Platz 15 abgerutscht. Grund für den Absturz Deutschlands sind zunehmend homophob und transphob motivierte Straftaten. Allein in Berlin – das wurde hier schon angesprochen – wurden im letzten Jahr 382 Übergriffe auf LSBTI gezählt. Das sind 58 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
({0})
– Es ist vollkommen egal, von wem. Es geht darum, dass diese Anzahl zugenommen hat.
({1})
Wir alle können uns vorstellen – der Kollege Lehmann hat es angesprochen –, dass vor allen Dingen die Dunkelziffer deutlich höher ist. Gleichsam erschreckend ist aber, dass Berlin das einzige Bundesland ist, das Hasskriminalität gegen LSBTI tatsächlich einzeln erfasst. Im Rest Deutschlands gibt es homo- und transphob motivierte Straftaten noch nicht einmal als eigene Kategorie im Strafkatalog.
Meine Damen und Herren, Menschen in Deutschland werden aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung weiterhin diskriminiert. Homo- und Transphobie ziehen sich auch heute noch durch alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Schauen wir uns doch mal das Familienrecht an: Bei der Adoption werden gleichgeschlechtlichen Paaren immer noch Steine in den Weg gelegt. Wir brauchen endlich – das fordern wir als FDP-Fraktion – eine Modernisierung des Abstammungsrechts hin zu Mehrelternschaften, in denen lesbische Eltern genauso wie schwule Väter berücksichtigt werden.
({2})
Umfangreiche Screenings und ein belastendes Gerichtsverfahren erschweren transgeschlechtlichen Menschen die Anpassung ihres Geschlechts. Wir als FDP-Fraktion fordern deshalb eine Neufassung des Gesetzes, damit diese diskriminierenden, belastenden und vor allen Dingen unnötigen Hürden abgeschafft werden.
({3})
Stattdessen stellt die Bundesregierung aber in ihrem jüngsten Entwurf weitere Hürden auf. Weiterhin fällt mir die unzureichende Aufklärung von LSBTI über ihre Rechte ein, die unzureichende Aufklärung von Lehrpersonal an Schulen und oft auch von Eltern darüber, wie Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und Selbstbestimmung unterstützt werden können.
({4})
So vielfältig, wie wir uns unsere Gesellschaft wünschen würden, sind aber auch die Formen der Diskriminierung. Schaffen wir ein Bewusstsein, ja eine Akzeptanz für sexuelle und für geschlechtliche Vielfalt, damit LSBTI die Anerkennung in unserer Gesellschaft finden, die sie verdienen, damit es solche Debatten im Bundestag bald, hoffentlich sehr bald, gar nicht mehr braucht.
Meine Damen und Herren, ich komme aus einem Bundesland, aus Schleswig-Holstein, das im europäischen Vergleich Vorbildregion bei der Umsetzung von Minderheitenrechten allgemein ist, in dem Vielfalt als Stärke begriffen wird. Ich betone das deshalb, weil ich das Glück hatte, in einer aufgeklärten Gesellschaft aufzuwachsen, die sich durch den Schutz von Minderheitenrechten auszeichnet. Gerade heute wurde im Bundesrat die Initiative zum Verbot der sogenannten Homo-Heilung beschlossen, das auf einen Antrag unter anderem aus Schleswig-Holstein zurückgeht. Denn so unfassbar es auch klingt: In über 70 Ländern ist Homosexualität immer noch strafbar. Im Sudan, in Saudi-Arabien, im Jemen und im Iran droht Homosexuellen gar die Todesstrafe.
({5})
– Herr Hebner, nehmen Sie doch den Zug nach Hause. Sie müssen nicht hier sein.
({6})
Meine Damen und Herren, eine viel schlimmere Zahl ist eigentlich die Zahl 20; denn nur in 20 Ländern dieser Erde hat gleichgeschlechtliche Liebe tatsächlich genau die gleichen Rechte wie heterosexuelle Liebe. In Brasilien ist letztes Jahr ein Präsident gewählt worden, der mit frauenfeindlichen und homophoben Äußerungen Wahlkampf gemacht hat. In Russland, wo positive homosexuelle Propaganda noch mit Geldstrafen belegt wird, häufen sich Angriffe gegenüber LSBTI-Menschen, und in Tschetschenien gab es seit letztem Jahr über 100 Entführungen homosexueller Männer. Wir müssen die Verantwortlichen genau dieser Menschenrechtsverletzungen klar benennen und auch die Möglichkeit schaffen, dokumentierte Fälle direkt mit individuellen Sanktionen zu belegen.
Genau daran erinnern wir heute in dieser Aktuellen Stunde. Wir erinnern auch an die vielen Ungerechtigkeiten, die selbst in einer aufgeklärten Zeit wie dieser noch fortbestehen. Nutzen wir diesen Tag, nutzen wir diesen Moment, um uns klarzumachen, was noch zu tun bleibt: in den eigenen Köpfen, am Arbeitsplatz, in der Schule, in Ausbildung und Studium, im Sport, im Tourismus, hier im deutschen Parlament und vor allen Dingen auch in der Europäischen Union.
({7})
Nutzen wir diesen Tag, um weltweit für Toleranz und Akzeptanz in einer weltoffenen Gesellschaft zu werben; denn die Würde des Menschen ist so selbstverständlich unantastbar, wie sie es für Homo- und Transsexuelle schon immer hätte sein sollen – bei uns in Deutschland und auch weltweit.
({8})
Doris Achelwilm, Die Linke, hat als nächste Rednerin das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit ist ein guter Tag, um auf die Straße zu gehen und Solidarität in Vielfalt zu zeigen. Ein besonderer Gruß geht deshalb an alle, die sich gerade versammeln, zum Beispiel in meiner Heimatstadt Bremen auf dem Goetheplatz, in Berlin auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz oder am Rathaus Lichtenberg, wo aus diesem Anlass jetzt die Regenbogenfahne weht. Wir stehen hier mehrheitlich an eurer Seite.
({0})
2019 ist es 50 Jahre her – wir haben schon viele Beispiele gehört –, dass beim Stonewall-Aufstand Lesben, Schwule und Transmenschen, vorwiegend keine Weißen, in New York historischen Widerstand gegen homophobe Polizeigewalt geleistet haben. 50 Jahre nach Stonewall bleibt eine der wichtigsten Botschaften: Nicht spalten lassen, sondern aufeinander achten und sich gegen Unrecht organisieren. Denn 2019 ist Sichtbarkeit immer noch eine Gefahr. Wir haben es hier an mehreren Stellen gehört: Das Berliner Antigewaltprojekt Maneo hat vor kurzem öffentlich gemacht, dass in Berlin letztes Jahr allein 382 homo- oder transfeindliche Übergriffe erfasst worden sind. Die Dunkelziffer wird auf 80 bis 90 Prozent geschätzt. Weltweit wurden in den letzten zehn Jahren fast 3 000 Menschen ermordet, einfach weil sie Transpersonen sind.
({1})
Im Internet passieren grausame Fälle von homo- oder transfeindlichem Stalking, Verleumdung und digitaler Gewalt, die oft zu spät ernst genommen und zu wenig gesetzlich bekämpft werden. Beratungszentren werden weiter und wieder angegriffen – das ist die Realität heute –, virtuell oder ganz unmittelbar und handfest, in Großstädten und auf dem Land. Es gehört zu unseren Aufgaben hier im Haus, diesen Taten und ihrem gesellschaftlichen Nährboden entgegenzutreten. Von Ihnen von der AfD hören wir ja die ganze Zeit, was Sie da an Hetze betreiben. Das ist eine Unverschämtheit, gerade angesichts dieser Todesfälle.
({2})
2019 – da gibt es homo-, trans-, inter- und bisexuelle Menschen, die vor Gewalt und Verfolgung in ihren Herkunftsländern fliehen müssen. Deutschland stuft leider Länder, in denen Homosexualität unter Strafe steht, als sichere Herkunftsstaaten ein. Das ist unverständlich und muss dringend geändert werden.
({3})
2019 – da gibt es einen Referentenentwurf aus dem Innen- und Justizministerium zur Reform des in weiten Teilen verfassungswidrigen Transsexuellengesetzes, TSG. Dieser Entwurf wird Probleme nur verschlimmbessern, wenn er so bleibt, wie er ist. Auch Die Linke setzt sich für die weitgehende Abschaffung des TSG ein und dafür, an geschlechtlichen Minderheiten nicht länger herumzudoktern, Nachweispflichten zu verhängen, Krankheitsdiagnosen und Schubladendenken vorzunehmen; denn das Gebot der Stunde ist, Selbstbestimmung und Vielfalt ins Recht zu setzen.
({4})
Wir plädieren insbesondere auch für mehr Einfluss der Betroffenenverbände, die ihre Kritik bereits in über 20 Stellungnahmen mehr als deutlich gemacht haben. Zur Kommentierung haben sie übrigens eine unverschämte Frist von gerade einmal zwei Tagen bekommen. Allein dieser Umgang spricht Bände und sollte für das weitere Verfahren zurückgenommen, deutlich versachlicht und demokratisiert werden.
({5})
2019 wird es im weiten Feld der Queer-Politik auch um etwas ganz Grundsätzliches gehen müssen. Die Öffnung der Ehe und die dritte Option sind Fortschritte, die nach gesellschaftlichem Druck und einigen Gerichtsurteilen politisch überfällig waren. Aber die Grundhaltung der GroKo beharrt auf einer Politik, die Normen und Lebensweisen eher stereotyp gedachter Männer und Frauen als Maßstab setzt. Eine solche Politik bleibt hinter den gesellschaftlichen Realitäten zurück. Sie schreibt Ausgrenzung und Diskriminierung fort. Diesen Zustand müssen wir dringend überwinden.
({6})
Als Linke wollen wir, dass Vielfalt nicht als Bedrohung gesehen wird. Statt Kontrollzwang muss das Recht auf Selbstbestimmung gelten. Wir wollen beenden, dass Medizin und Staat die Definitionsmacht darüber haben, zu sagen: „Du bist der oder die“ oder „Du hast es aus unserer Sicht zu sein“. Es braucht eine Familienpolitik, die gleiche Rechte für Paare vorsieht, die nicht der heterosexuellen klassisch zweigeschlechtlichen Norm entspricht.
Wir wollen, dass der Bundestag pseudotherapeutische Angebote zur vermeintlichen Heilung von Orientierung und Begehren, die keine Krankheit sind, also sogenannte Homo-Heilungen, soweit es geht, stoppt; wir wollen, dass aufschiebbare Operationen verboten werden, die das Geschlecht intergeschlechtlicher Kinder gegen ihren selbsterklärten Willen anpassen. Wir brauchen mehr Beratungs- und Antigewaltangebote, mehr Schutz vor Diskriminierung in der Arbeitswelt und im Sport.
Es ist 2019. Wir sollten nicht noch mehr Zeit vertun, sondern für Akzeptanz und Schutz vielfältiger Geschlechter und Lebensweisen sorgen.
Vielen Dank.
({7})
Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Grundgesetz enthält in Artikel 3 ein umfassendes Benachteiligungs- und Diskriminierungsverbot. Das bedeutet, dass niemand wegen seines Geschlechts oder wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Das ist kein unverbindlicher Programmsatz, sondern das ist ein besonderer Verfassungsauftrag. Solidarität, meine Damen und Herren, mit Menschen, die diskriminiert werden wegen ihrer sexuellen Orientierung, die angegriffen werden, weil sie anders sind, ist eine Verpflichtung, die wir ernst nehmen und umsetzen. Das darf dieser Rechtsstaat unter keinen Umständen aufgeben. Gegenteiligen Bestrebungen stellen wir uns, besonders auch am heutigen Tag, energisch entgegen.
({0})
Unser Blick geht auch weltweit. Wir stehen an der Seite der Menschen, die in vielen Teilen der Welt ihre Liebe nicht leben können und ihre sexuelle Orientierung nicht ausleben dürfen. Wir sagen ganz klar: Wir werden niemals akzeptieren, dass es auf der Welt Staaten gibt, bei denen Homosexualität nach wie vor strafbar ist. Das muss international geächtet werden.
({1})
Wir schauen auch auf unser Land. Wir haben vor zwei Jahren in diesem Hohen Haus die Ehe für alle geöffnet. Ich gebe zu, dass dieses Thema in unserer Fraktion umstritten war, und ich bitte auch um Respekt für diejenigen Kollegen, die damals anderer Meinung waren. Das gehört auch dazu.
({2})
Aber wir haben alle juristischen und zivilrechtlichen Folgen dieser Entscheidung umgesetzt. Ich sage eines ganz klar: Es geht nicht nur darum, dass wir froh sind, dass es viele glückliche Paare gibt, sondern wir werden uns auch gegen all diejenigen stellen, die das Rad zurückdrehen wollen und die Ehe für alle wieder abschaffen wollen. Da schaue ich zu Ihnen herüber.
({3})
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten weitere Maßnahmen in diesem Bereich angehen. Wir werden die Initiative des Bundesrates aufgreifen, sogenannte Konversionstherapien zu verbieten. Homoheilung ist etwas, was mit unserem Menschenbild unvereinbar ist. Menschen sind so, wie sie sind.
({4})
Sie dürfen deswegen nicht irgendwie umgedreht werden.
Wir müssen auch sprechen, wie es im Koalitionsvertrag steht, über ein Verbot von sogenannten geschlechtszuweisenden Operationen bei Kindern. Es ist doch kein Schaden, wenn ein Kind intersexuell ist. Wir müssen das Kind so nehmen, wie es ist. Diese Operationen sind ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Das werden wir verbieten.
({5})
Es ist auch ein schwieriges Thema, wie wir mit der Reform des Transsexuellengesetzes umgehen werden. Wir nehmen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr ernst. Wir wissen, dass gerade für die Betroffenen und für die Menschen, für die es ein wichtiges Thema ist, die Frage einer ganz genauen akribischen Begutachtung, auch für sie ganz persönlich, stigmatisierend wirken mag. Deswegen sollten wir gemeinsam mit den Verbänden und den Betroffenen darüber sprechen, ob wir nicht durch eine Art Gutachten oder zumindest Beratung
({6})
die Hürde wesentlich abmindern können, weil es auch hier darum geht, dass wir den Menschen in dieser Situation entgegenkommen. Das hat auch etwas mit unserem Menschenbild zu tun.
({7})
Insgesamt geht es um die große Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen: In einer Gesellschaft, die die Menschen diskriminiert oder stigmatisiert wegen ihrer sexuellen Orientierung, oder in einer Gesellschaft, in der wir die Menschen so nehmen, wie sie sind? Jeder Mensch, egal wie er lebt, hat den gleichen Anspruch auf Würde und den Schutz dieses Staates.
Besonders erschütternd ist, dass – das ist bereits angesprochen worden – auf Schulhöfen das Wort „schwul“ nach wie vor ein Schimpfwort ist. Da müssen wir etwas im Denken ändern. Da müssen wir mit der Bildung beginnen. Da müssen auch Gleichberechtigung und Schutz vor Diskriminierungen zu den Lehrplänen gehören,
({8})
weil ich nicht akzeptieren will, dass bereits Kinder mit diesen vermeintlichen Schimpfwörtern aufwachsen.
Es geht heute bei dieser Debatte letzten Endes um etwas elementar Wichtiges. Es geht darum, dass wir das Grundgesetz leben. Das Grundgesetz beschreibt bereits in den ersten drei Artikeln, worum es geht: die Würde des Menschen und die Gleichberechtigung. Deswegen ist es wichtig, dass wir zu diesen entscheidenden Grundgesetzartikeln stehen und damit auch Solidarität mit allen zum Ausdruck bringen, die verfolgt werden und die ihr Leben nicht so leben können, wie sie es wollen.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Nicole Höchst, AfD.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Hochverehrte Bürger! Jeder ist in Deutschland frei, zu lieben, wen er will und wie er will, solange es unter Erwachsenen und einvernehmlich geschieht.
Liebe Kollegen, lieber Herr Lehmann, Ihr Zetern um angebliche Homo- und Transfeindlichkeit der AfD läuft komplett ins Leere. Homosexuelle werden bei uns ohne viel Getöse Mitglieder, Parlamentarier und Vorsitzende.
({0})
Die AfD stellt zudem völlig unaufgeregt den ersten transsexuellen Parlamentarier Deutschlands. Das alles sind Tatsachen, die Sie von den Gender- und Gedönsparteien offensichtlich schier wahnsinnig machen.
({1})
Wir von der AfD befeuern mit diesen Menschen im Gegensatz zu Ihnen keine Profilneurosen, sondern leben gesellschaftliche Normalität und respektieren gegenseitig unser Privatleben, wie es alle tun sollten, ohne es ständig ins Rampenlicht zu zerren.
({2})
Haben wir uns gestern mit der großen Errungenschaft der deutschen Politik, dem Grundgesetz, befasst, müssen wir uns heute mit dem Befehl einer der einflussreichsten Lobbygruppen weltweit, der LGBT, an ihren willigen politischen Vollstrecker, die Grünen, auseinandersetzen.
({3})
Dieser Befehl lautet wohl unmissverständlich, dieses großartige Grundgesetz wegen Maßnahmen gegen Homo- und Transfeindlichkeit zu ändern. Hier soll nicht etwa Diskriminierung abgeschafft, sondern eine gesellschaftszersetzende Ideologie durchgesetzt werden.
({4})
Damit wollen Sie ganz bestimmte Lebensweisen explizit fördern und andere eben nicht. Homosexualität ist schon lange entkriminalisiert und straffrei gestellt.
({5})
Homosexualität und Transsexualität sind als Ausnahmeerscheinung längst in der Normalität der Gesellschaft angekommen. Es gibt die Ehe für alle
({6})
und den selbst bei Transgendermenschen umstrittenen Geschlechtseintrag „divers“.
Aber das ist Ihnen anscheinend noch lange nicht genug.
({7})
Die Bürger sollen nun Homosexualität und Transsexualität nicht nur tolerieren; sie sollen sie akzeptieren.
({8})
„Akzeptieren“ – dieses Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ursprünglich „annehmen, gutheißen“. Und was kommt denn dann als Nächstes? Wird Homo- und Transsexualität unter dieser verstrahlten Regierung
({9})
noch zur Staatsnorm erhoben und somit zur heiligen Pflicht für jeden Bürger?
({10})
Das spezialdemokratische Familienministerium stützt diese steile These mit Veröffentlichungen, die unter www.regenbogenportal.de nachzulesen sind: „Mein Kind ist inter*“, „Jung und schwul, lesbisch, bi, pan, a, queer …“ usw.,
({11})
ein Bilderbuch, das Drei- und Vierjährigen einbläut, „dass es mehr als zwei Geschlechter gibt“, Vorlesegeschichten, um Gespräche über schwul-lesbische „Liebensweisen“ zu führen – mit Kindern ab fünf!
({12})
Das ist übergriffig, meine Damen und Herren, und das ist schon allein aus erziehungspsychologischer Sicht ein Riesenskandal.
({13})
Das Hissen der Regenbogenflagge vor dem Familienministerium gehört schon zur Folklore. Für Familien hingegen wird nicht geflaggt, Unterstützung ist auch nicht finanziell spürbar. Gefördert werden dafür mit Inbrunst Organisationen, die irgendeinen „Anti-ismus“ im Namen tragen. Die Liste dieser Organisationen gleicht dabei dem offiziellen Programm einer Antifa-Jugendgruppe.
({14})
Fazit: Die Genderista dringen mittels dieser steuergeldabsaugenden Helfershelfer
({15})
auf allen Ebenen, mit aller Perfidie und Macht
({16})
in die Köpfe der Menschen vor, so wie einst im autoritären Volkserziehungsapparat der DDR vorgelebt.
({17})
Dabei wird so getan, als sei das Geschlecht frei wählbar
({18})
– jetzt hören Sie mal gut zu! – und als könne jeden Moment wieder ein weiteres, bislang unbekanntes Geschlecht aus der Hecke hüpfen.
({19})
Mit Ihren unwissenschaftlichen Lügen über angebliche Vielfalt und Beliebigkeit
({20})
legen Sie nicht nur die Axt an die Keimzelle unserer Gesellschaft, die Familien. Nein, Sie verletzen die Würde von Homosexuellen und Transgendermenschen
({21})
und zeigen sogar Homophobie und Transphobie in übelster Form. Denn Sie sprechen diesen Menschen ihre Gefühle und die Normalität ihres Seins ab. Aber Gefühle und Sein sind eben nicht frei wählbar.
({22})
Diese Menschen haben sehr konkrete Vorstellungen davon, wer sie sind und wen sie lieben, und das ist eben Mann oder Frau und nicht divers.
({23})
Liebe Bündnisseurinnen 90 der Grüninnen, Sie sind wahrhaft die größten Heuchler der deutschen Politik:
({24})
Sie geben vor, Homo- und Transgenderfeindlichkeit zu bekämpfen, und holen gleichzeitig massenhaft die Intolerantesten der Intoleranten, die größten Schwulenhasser zu Tausenden in unser Land. Pfui, wie schäbig!
({25})
Die AfD wird Diskriminierungen und tatsächliche Angriffe auf egal wen, also natürlich auch auf Homosexuelle und Transgender in Deutschland, niemals dulden. Dieses Versprechen ist – allen Verleumdungen zum Trotz – unser Alleinstellungsmerkmal.
Vielen Dank.
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Leni Breymaier, SPD, hat als Nächste das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Tag auf den Zuschauertribünen! Ich bin froh, dass das Pult noch ganz ist,
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und freue mich über die Debatte heute Nachmittag. Es ist ein Nachmittag, an dem sehr viele Begriffe gefallen sind, von denen ich glaube, dass es in meinem Wahlkreis, in Aalen in der Fußgängerzone, wohl eine ganze Reihe Menschen gibt, die mit den Begriffen gar nichts anfangen können. Und doch ist die Debatte so wichtig für unsere Gesellschaft, aber vor allem auch für die Menschen, die persönlich betroffen sind. Ich glaube, wir müssen schon erklären, was wir hier tun.
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Herr Müller, ich glaube, wir als Parlament sind es, die die Themen zu setzen haben und nicht warten sollten, bis sie uns von den Medien präsentiert werden. Deshalb ist es richtig, dass wir heute Nachmittag hier debattieren.
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Um was geht es? Am 17. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel für Krankheiten. Diese Streichung durch die Weltgesundheitsorganisation ist der Grund dafür, dass wir am heutigen 17. Mai den Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie begehen. Zum 15. Mal wird dieser Tag begangen, und er soll besonders auf die Diskriminierung und Bestrafung von Menschen hinweisen, die von der sogenannten Heteronormalität abweichen.
Bei der Geburt eines Kindes wird im Schwäbischen noch vor der Frage nach Größe, Gewicht und ob es gesund ist, gefragt: Isch’s oi Bub odr oi Mädle? – Vielfach wird es als gut empfunden, wenn das Geschlecht schon vorher bekannt ist, nicht nur wegen der Namenssuche, sondern auch wegen der Ausstattung. Lange waren Rosarot und Pink für Mädchen, bei Jungs die Farben Blau oder Hellblau die Wahl. Meine Schwiegermutter hat bei geschlechtlicher Unklarheit vorab gerne in Gelb gestrickt.
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Was die längste Zeit schlicht nicht berücksichtigt wurde, ist, dass sich das in Rosarot gepackte Kind womöglich gar nicht feminin fühlte oder dass sein Bruder in Hellblau später womöglich lieber Kleider tragen wird. Die scheinbare äußerliche Klarheit verdeckt und verstärkt innerliche Unklarheit.
Und es geht noch weiter: Immer schon gab es Eltern, die die gesellschaftliche Frage nach dem Geschlecht gar nicht recht zu beantworten wussten, weil das Neugeborene äußerliche Merkmale beider Geschlechter hatte. Da wurden früher ohne viel Federlesen mit dem Skalpell vermeintliche Fakten geschaffen, und so wurde wirklich viel Leid produziert. Dabei kann die Frage, ob sich diese Kinder einem Geschlecht zugehörig fühlen bzw. welchem, zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gestellt oder gar beantwortet werden.
Nach der Verfolgung in der Nazizeit und der späteren Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Männern – Frauen wurden auch hier nicht ernst genommen – schrieb dieses Haus vor knapp zwei Jahren mit der Ehe für alle ein neues, erfreuliches Kapitel dieser Geschichte, aber eben nicht das letzte Kapitel.
Die Mehrheitsgesellschaft gibt eine Norm vor. Diese ist für alle belastend, die nicht in diese Norm passen. Sie haben es in ihrer Familie, in der Schule, bei ihrem Aufwachsen, in ihrer Geschlechts- und Persönlichkeitsentwicklung richtig schwer. Genau diesen Schwierigkeiten wird beispielsweise der vorgelegte Entwurf des Innenministeriums zur Reform des Transsexuellengesetzes nicht gerecht.
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Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass es beim Geschlechtseintrag auf die selbst empfundene Geschlechtsidentität ankommt. Dieser Vorgabe kommt das Gesetz mit seiner medizinisch-psychiatrischen Bevormundung nicht nach.
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Wir reden nicht von Menschen, die krank sind. Wir reden von Menschen, die schlicht von einer gesellschaftlich gesetzten Norm abweichen. Aber natürlich sind diese Menschen normal. Sie wollen und müssen als solche von der Mehrheitsgesellschaft angenommen und wahrgenommen werden, und sie sind nicht gesellschaftszersetzend, Frau Höchst.
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Wer sein zugeordnetes Geschlecht wechseln möchte, dem sollten wir es leicht machen; denn die Betroffenen hatten und haben es schon schwer genug. Wir müssen Steine aus dem Weg räumen. Wir dürfen keine Steine in den Weg legen.
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In der Aalener Fußgängerzone muss nicht jede und jeder die Fachwörter dieser Debatte erklären können. Aber unser Ziel muss es sein, dabei zu helfen, dass der Mensch mit all seinen geschlechtlichen Varianten in unserem Land akzeptiert wird und es bereichert. Dann darf neben gelb auch gerne hellgrün und lila-bunt getupft gestrickt werden. Denn Homophobie und Transphobie haben in unserer Gesellschaft keinen Platz.
Herzlichen Dank.
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Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Höchst, Sie haben wirklich eindrücklich bewiesen, warum Sie im Kuratorium der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld nichts, aber auch gar nichts verloren haben mit Ihrem Hass.
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Die AfD ist der parlamentarische Arm der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit,
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und deshalb werden wir Sie auch bekämpfen. Sie verachten und fürchten Vielfalt.
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Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind verliebt in Vielfalt.
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Frau von Storch – wo ist sie? –,
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Ihre extrem selektive Wahrnehmung von Homosexuellenverfolgung spricht auch für sich. Warum haben Sie Russland nicht erwähnt,
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Tschetschenien, Jamaika, Zentralafrikanische Republik, Botswana und all die anderen Länder? Homosexualität darf nirgendwo verfolgt und kriminalisiert werden,
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sondern die Würde des Menschen muss unantastbar sein – überall auf diesem Globus.
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– Auch in Deutschland, selbstverständlich. Dazu haben Sie ja gar nichts gesagt.
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Was sagen Sie denn zu der Zahl, dass 82 Prozent der lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen und 96 Prozent der transsexuellen Jugendlichen massive Diskriminierungserfahrungen machen?
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Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Im Ergebnis ist das Suizidrisiko homosexueller Jugendlicher gegenüber heterosexuellen Altersgenossen vier- bis sechsmal so hoch, also signifikant höher. Dieser brutale Befund muss uns doch alle alarmieren und zum Handeln anregen. Was würden wir denken und fühlen, wenn das unseren Kindern passieren würde?
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Feindlichkeit gegenüber Lesben, Schwulen, trans- und intersexuellen Menschen ist kein abstraktes Phänomen. Das ist kein ideologischer Kampfbegriff, sie hat ein Gesicht.
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Übrigens: Als ich vor 23 Jahren mein Coming-out hatte, habe ich unheimlich viele positive Erfahrungen gesammelt. Aber es waren so rechtsextrem gesinnte Leute wie Sie, die mir das Leben damals durchaus schwer gemacht haben. Und deshalb: Hören Sie damit auf, dieses Klima in der Gesellschaft weiter anzuheizen. Homosexuellenfeindlichkeit hat ein Gesicht, auch das Ihre.
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– Ich mache einfach weiter.
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Es ist wichtig – und das beweisen Sie einmal mehr –, dass wir eine Taskforce gegen Homo- und Transphobie in unserem Land brauchen.
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Ich fordere die Jugendministerin und die Bildungsministerin auf, endlich einen nationalen Aktionsplan auf den Weg zu bringen, angefangen mit Bildungsplänen.
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– Dann können Sie Nachhilfe nehmen, um zu merken, was Vielfalt alles Tolles bringt.
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Dann fühlen Sie sich nicht weiter bedroht. Ich merke, dass Sie sich von gesellschaftlicher Vielfalt sehr bedroht fühlen.
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Die in den vergangenen 30 Jahren aufgebauten Gedenk- und Erinnerungsorte für die homosexuelle Verfolgungs- und Emanzipationsgeschichte wurden in den vergangenen Jahren wiederholt geschändet, und das ist extrem erbärmlich. Auch dazu haben Sie kein Wort verloren. Zuletzt wurden im Oktober 2018 die beiden Gedenktafeln am Magnus-Hirschfeld-Ufer beschädigt, die an die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung erinnern. Die Augen von Anita Augspurg und Karl Heinrich Ulrichs wurden ausgekratzt. Die gleichen Beschädigungen fanden im Sommer 2017 statt.
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Auch das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten und verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten wurde schon mehrfach beschädigt. Bislang konnten keine Täter ermittelt werden. Auch das muss uns alle im Bundestag, im Herzen unserer Demokratie, empören und zum Handeln auffordern.
Wenn „nie wieder“ ernst genommen werden soll, dann darf nie wieder ein Gedenkort für die homosexuelle Verfolgungsgeschichte angegriffen werden.
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Ein solcher Angriff ist nämlich nicht nur ein Angriff auf Lesben und Schwule, es ist ein Angriff auf all diejenigen, für die die zwölf entsetzlichen Jahre des Nationalsozialismus eine Lehre, eine Mahnung und ein politischer Imperativ sind. Daher müssen wir nicht nur am heutigen Tag, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Biphobie und Transfeindlichkeit, alle gemeinsam nach Wegen suchen, wie die Ausbrüche gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bekämpft werden können; selbstverständlich auch hier im Parlament.
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Obwohl wir den Kampf um Akzeptanz und gleiche Rechte nicht kurzfristig gewinnen können, müssen wir zumindest für unsere Kinder entschlossen daran arbeiten,
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damit sie alle unabhängig von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität gut und gerne, das heißt selbstbestimmt und angstfrei in Deutschland leben können, damit sie in einem Land leben, das aus den schrecklichsten Kapiteln seiner Geschichte Lehren gezogen hat. Nie wieder Feindlichkeit gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen, das sollten gerade Sie sich endlich einmal hinter die Ohren schreiben.
Vielen Dank.
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Melanie Bernstein, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über sexuelle Identität und Orientierung war in Deutschland lange Zeit geprägt von Diskriminierung, Vorurteilen und gesellschaftlicher Ausgrenzung, kurz: der Verhinderung von persönlichem Glück und beruflicher Selbstverwirklichung der Betroffenen. Wir sind aber als Staat und als Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten einen weiten Weg gegangen, um Herabwürdigung und Ungleichbehandlung ein für alle Mal zu beenden.
Ich erinnere mich noch gut an die öffentliche Diskussion, als 2009 mit Guido Westerwelle zum ersten Mal ein offen schwul lebender Mann zum Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland ernannt wurde.
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Er und andere sorgten dafür, dass der homosexuelle Spitzenpolitiker, der Transgendersoldat oder die lesbische Staatssekretärin endlich keine gesellschaftlichen Aufreger mehr waren.
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Diese Persönlichkeiten haben sehr, sehr viel aushalten müssen, und wir schulden ihnen Dank und Anerkennung.
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Bei der Bundeswehr durften Männer, wenn sie sich zu ihrer Homosexualität bekannten, noch bis zum Jahr 2000 keine Offiziere werden. Seit 2002 gibt es einen Arbeitskreis homosexueller Soldatinnen und Soldaten, und es gibt eine Bataillonskommandeurin mit Transhintergrund, die selbst sagt, dass der Rückhalt im Kameradenkreis nach ihrem Coming-out überwältigend war. Was hat sich dadurch für die Bundeswehr verändert? Ein leistungsstarker Offizier muss sich eben nicht mehr verstecken und ist der Truppe erhalten geblieben. Soldaten werden nicht mehr diskriminiert, ausgegrenzt und versteckt. Damit ist die Bundeswehr Vorbild im Kampf gegen Diskriminierung.
Am 1. Oktober 2017 trat endlich die Ehe für alle in Kraft. Ich halte das für einen Meilenstein auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Diskriminierung
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und hätte dafür gestimmt, wäre ich in der letzten Wahlperiode schon Abgeordnete gewesen.
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Ich erwähne diese Punkte, um deutlich zu machen, dass die Große Koalition sich durchaus und mit klaren Ergebnissen mit diesem Thema beschäftigt hat und auch weiter beschäftigen wird. Es gibt noch sehr viel zu tun.
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Im Koalitionsvertrag steht ganz klar, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Identität, frei und sicher leben können sollen, mit gleichen Rechten und Pflichten, dass wir Homosexuellen- und Transfeindlichkeit verurteilen und jeder Diskriminierung entgegenwirken.
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Wir werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hierzu umsetzen, auch wenn es seine Zeit dauert.
Ganz oben auf die To-do-Liste gehören nach meiner Auffassung ganz klar das Verbot geschlechtszuweisender Operationen ohne zwingende medizinische Notwendigkeit,
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das Verbot von Konversionstherapien und die Reform des Transsexuellengesetzes.
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In seiner jetzigen Form trägt es nämlich dazu bei, Akzeptanz und gesellschaftliche Anerkennung zu erschweren. Transsexualität ist kein psychisches Krankheitsbild.
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Geschlechtliche Identität sollte auch nicht durch den Staat oder medizinische Gremien bestimmt werden. An erster Stelle muss für uns alle das Selbstbestimmungsrecht des Individuums stehen.
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Ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt, ist die Lebenssituation Homosexueller im Alter. Die Generation, die sich als erste das Recht erkämpft hat, offen schwul oder lesbisch zu leben, die die gesellschaftliche Debatte über sexuelle Identität überhaupt erst angestoßen hat, ist mittlerweile in die Jahre gekommen. Und nach einem Leben, das in weiten Teilen von Diskriminierung und Ausgrenzung gekennzeichnet war, verdienen es diese Menschen, in Würde zu altern und mit der nötigen Sensibilität gepflegt zu werden.
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Man darf ihnen nicht zumuten, im Alter, wenn die Kräfte schwinden, dieselben Kämpfe noch mal austragen zu müssen, die viele Jahre ihres Lebens bestimmt haben. Dafür benötigen wir dringend entsprechende Konzepte: in der Wohnsituation, in der Pflege und beim Freizeitangebot; denn hier braucht es mehr als Infonachmittage zum Thema Patientenverfügung.
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Auch der finanzielle Aspekt spielt hier eine Rolle. Wenn es einem Menschen jahrzehntelang gesetzlich verboten war, seinen Partner zu heiraten, genießt er natürlich auch keine Absicherung in Form einer Hinterbliebenenrente. Damit wird nicht zuletzt ein gutes Pflegeheim unerschwinglich. Wir sollten nicht zulassen, dass nach Jahrzehnten der Ausgrenzung ein Mensch in der dritten und vierten Lebensphase aufgrund seiner sexuellen Orientierung und Identität in der sozialen Isolation verschwindet oder in Armut gerät.
Ich weiß, diese Diskussionen sind nicht immer einfach und mitunter auch im Wahlkreis schwer zu vermitteln, besonders vielleicht auf dem Land. Trotzdem und gerade deshalb sollten wir – und damit meine ich wirklich uns alle – den Mut haben, die guten Absichten aus dem Koalitionsvertrag auch zügig umzusetzen.
Vielen Dank.
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Ulli Nissen, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei den Grünen dafür, dass sie heute diese Aktuelle Stunde aufgerufen haben. Es ist für mich eine Ehre, dass ich dazu reden darf.
Am 17. Mai 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus der Liste der Krankheiten gestrichen. Unfassbar, erst 1990! Seit 2005 wird am 17. Mai der Internationale Tag gegen Homophobie gefeiert. Es ist gut, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für den Gedenktag wächst. Zur gleichen Zeit wie unsere Aktuelle Stunde findet auf dem Frankfurter Klaus-Mann-Platz eine Kundgebung des Bündnisses Vielfalt für Alle statt.
Ich will mich in meiner heutigen Rede auf die Situation von Kindern und Jugendlichen konzentrieren. Etwa bei einer von 4 000 Geburten kann ein Säugling nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Statt die Vielfalt der Geschlechter zu akzeptieren, werden in Deutschland deshalb immer noch Säuglinge und kleine Kinder operiert. Damit wird das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit der Kinder verletzt. Die Folgen für sie sind verheerend. Die betroffenen Kinder werden als Kranke behandelt und können deshalb ihre Kindheit nicht unbeschwert genießen. Sie verbringen Monate in Krankenhäusern und werden qualvollen Hormonbehandlungen ausgesetzt. Später kämpfen sie häufig mit Depressionen, Schulverweigerung und selbstverletzendem Verhalten. Im schlimmsten Fall sind sie sogar suizidgefährdet. Die/der Berliner Künstler/in Ins A Kromminga wollte während der Pubertät die Hormonbehandlung abbrechen. Vom behandelnden Arzt kam zu diesem Wunsch folgender Kommentar: Wenn Sie sich nicht behandeln lassen, können Sie sofort in den Zirkus gehen. – Diese zynische Haltung ist menschenverachtend und kann nicht geduldet werden.
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Wir in der SPD stehen eindeutig auf der Seite der Betroffenen. Kinder sollen später selbst entscheiden können, wer sie sein wollen.
In der Medizin hat leider anscheinend immer noch kein Umdenken stattgefunden. 2012 hat der Deutsche Ethikrat eine gute politische Debatte zur Intersexualität angestoßen. Wie die Studie der Humboldt-Universität zeigt, ist die Anzahl der chirurgischen Genitaloperationen im Kindesalter erschreckenderweise nicht rückläufig. Die ärztliche Ständeordnung reicht also nicht aus. Wir müssen gesetzlich handeln, um weiteres unnötiges Leiden zu verhindern.
In der Koalitionsvereinbarung steht:
Wir werden gesetzlich klarstellen, dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig sind.
Außerdem haben wir den Gesetzentwurf zur sogenannten Dritten Option auf den Weg gebracht und fordern die Aufhebung des Transsexuellengesetzes. Dies regelte bisher die Anpassung des Geschlechtes in einem teuren, langen und unwürdigen Verfahren. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach Passagen des bisherigen Gesetzes zu Recht für verfassungswidrig erklärt. Wir wollen stattdessen Beratung, Begleitung, Unterstützung in der Selbstbestimmung, keine Bevormundung. Nur die Person selbst kann wissen, wer sie ist. Kein Gutachten kann das sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Beratungen über den geplanten Gesetzentwurf zur Reform des Transsexuellengesetzes laufen noch. Die Blockadehaltung des CSU-geführten Innenministeriums ist leider noch deutlich zu erkennen. Ich hoffe auf die Unterstützung der Kollegin, die gerade vorher geredet hat.
Dass Transmenschen die Anpassung ihres Geschlechtseintrages immer noch vor Gericht klären müssen, lehnen wir ab. Wir in der SPD werden alles dafür tun, dass im Interesse der Betroffenen gehandelt wird. Wir wollen die gesellschaftliche Akzeptanz für die Vielfalt der Geschlechter erhöhen, damit inter- und transsexuelle Menschen sich nicht länger ausgegrenzt fühlen müssen.
Außerdem setzt sich die SPD dafür ein, dass die sogenannten Konversionstherapien verboten werden. Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität sind Wesensmerkmale des Menschen. Homosexualität ist weder eine Erkrankung noch eine Störung, und deshalb auch in keiner Weise behandlungsbedürftig.
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Im Gegenteil: Konversionstherapien sind auch nach Ansicht der Bundesärztekammer gesundheitsgefährdend. Die Menschen sind, wie sie sind; und das ist gut so.
Auch die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 fordern uns auf, zu handeln. Maßgabe ist, dass die Nachhaltigkeitsziele für alle Menschen überall gelten und niemand zurückgelassen wird. Dieses Prinzip ist für Lesben, Schwule, bi-, trans- und intersexuelle Menschen besonders relevant, da sie weltweit vielfältige Formen der Diskriminierung erleben. Diese betreffen die Geschlechtergerechtigkeit – SDG 5 – und die Inklusion aller und die Chancengleichheit für alle, also den Abbau von Ungleichheiten in den Staaten, SDG 10.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn mich Homophobie mal wieder total nervt, schaue ich mir einen Videoclip von Marcus Wiebusch an: „Der Tag wird kommen“. Er steht aktuell auch auf meiner Facebook-Seite. Es ist eine Hommage an Freiheit, Toleranz, ein Zeichen gegen alle homophoben Vollidioten.
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Er macht mir Mut, weiterzumachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, heute ist der letzte Plenartag vor der Europawahl. Meine große Bitte: Gehen Sie wählen, und handeln Sie nach dem Motto von Pulse of Europe „Was immer Du wählst, wähl Europa.“
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Was soll man als letzter Redner zu der Debatte noch beitragen? Ich stelle mir am Ende dieser Debatte die Frage – ich halte es für wichtig, das zu sagen –: Haben diejenigen, die hier auf der Tribüne sitzen, jetzt den Eindruck, dass unsere Diskussion in dieser Aktuellen Stunde, in der ich die Argumente kaum habe verfolgen können, Homophobie, Abneigung und selektive Wahrnehmung in der Gesellschaft vermindert hat?
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Ich denke, wir müssen lernen, einander anzuhören und Argumente auszutauschen. – Sehen Sie, das ist genau das, was ich meine. Ich kann meinen Satz gar nicht vollenden. Sie reden mir und anderen ständig dazwischen. Das ist doch unsere Kultur; deswegen machen wir doch die Aktuelle Stunde.
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– Herr Lehmann, auch wenn ich mich aus bestimmten Gründen gegen die Ehe für alle entschieden habe, lasse ich mich noch lange nicht in die Nähe von faschistischen Einstellungen transportieren. Ich glaube, dass der Respekt voreinander und die Meinungen, die wir hier vertreten, hilfreich sind für das Anliegen, das uns – jedenfalls die meisten hier, würde ich sagen – verbindet.
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Das heißt, wir wollen zu einer Gesellschaft reifen, in der das, was uns das Grundgesetz vorgibt, auch tatsächlich mit Leben erfüllt ist.
Bei dem, worüber wir hier diskutieren, gibt es ja eine Diskrepanz: Wir haben ein Grundgesetz, das Ansprüche stellt und aufweist, wohin wir wachsen, wohin wir uns entwickeln sollen; aber wir schaffen das noch nicht einmal selber. Das, was ich hier gehört habe – „Hetze“ und alles Mögliche –, zeigt, dass wir – ich sage es mal ganz positiv – lernbedürftig sind. Es ist schwer, eine Meinung auszuhalten, die ganz anders ist als die eigene.
Wir haben in der Debatte natürlich auch positiv erkannt, wo wir gesetzlichen Handlungsbedarf sehen. Aber auch da muss man genau überlegen, damit man nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Wir müssen in den Ausschüssen sachlich darüber diskutieren, ob eine Gesetzesveränderung wirklich hilft. Ich persönlich bin der Meinung – ich bilde mir überhaupt nicht ein, dass damit das letzte Wort für mich gesprochen ist, auch nicht hinsichtlich der Ehe für alle; vielleicht lerne ich auch noch dazu –, dass man, wenn man das Grundgesetz ändert und die gleiche Würde der Menschen zerteilt und andere Gruppen dazunimmt, dann einen endlosen Katalog bekommt: zwischen Jung und Alt, zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, Deutschen. Also, es geht um diesen Universalanspruch, nach dem alle Menschen gleich sind, egal ob sie gleichgeschlechtlich veranlagt sind oder heterosexuell sind. Alle haben die gleiche Würde. Eine Systematisierung würde am Ende einen endlosen Katalog hervorbringen. – Das ist im Moment meine Meinung. Ich weiß nicht, ob ich dabei bleibe. Ich möchte mit Ihnen darüber diskutieren, aber in einer Weise, dass ich die Argumente der anderen auch hören kann.
So, jetzt will ich mal davon abgehen. Ich glaube, wir haben alle erkannt, dass wir viel Handlungsbedarf haben, auch auf gesetzlicher Ebene. Da stehe ich vollkommen hinter Ihnen. Ich wünsche mir auch eine Gesellschaft, in der wir menschlich miteinander umgehen, in der unterschiedliche Menschen das Recht haben, ihr Leben zu leben, und nicht nur das, sondern auch mein Leben zu bereichern mit ihrer Eigenart; das kommt ja auch noch dazu.
Ich will den Blick vom Gesetzgeber auf uns alle als Privatpersonen lenken. Man muss sich doch Gedanken machen, wenn in Schulen und Ausbildungsstätten, also gerade bei jungen Menschen, diese Homophobie und das Maß an Aggressivität wieder ansteigen. Die Zahlen steigen. Ich sage Ihnen das als Berichterstatter für Erziehungskompetenz und als langjähriger Pädagoge: Kinder und Jugendliche imitieren unser Verhalten. Einstellungen und Haltungen werden nicht nur durch Wissenstransfer vermittelt, sondern sie werden insbesondere von Vorbildern übernommen, von handelnden Personen im Nahraum der Menschen, also von Lehrern, Eltern, Erziehern, sonstigen Verwandten. Die Frage richtet sich an uns alle: Wie leben wir denn mit dieser Herausforderung des Grundgesetzes? Sind wir mutig genug, einem Witz, einem Lächeln, einer Isolierung von Gleichgeschlechtlichen entgegenzutreten? Haben wir den Mut, eine klare Haltung zu zeigen?
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Sind wir eigentlich mit uns selber im Reinen? Ich möchte uns alle, mich eingeschlossen – damit ich hier keinen stigmatisiere –, ermuntern, nicht immer nur andere zu stigmatisieren, sondern in den Lebenszusammenhängen, in denen wir leben, den Kontakt, einen natürlichen und nicht einen besonderen Umgang mit gleichgeschlechtlich liebenden Menschen zu suchen, zu leben und unseren Kindern und Enkeln vorzuleben. Ich glaube, das hat eine viel größere Langzeitwirkung als Bildungsprogramme, in die wir alles hineinstecken; auch wissen wir noch nicht, ob die Kinder das in diesem Alter angemessen beurteilen können.
Es ist schade, dass wir so miteinander kämpfen, anstatt zu sagen: Wir suchen gemeinsamen einen Weg.
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Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. – Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Auch ich möchte Ihnen gerne in Erinnerung rufen, am Sonntag in acht Tagen, falls Sie es nicht schon vorher machen, wählen zu gehen; denn es ist die wichtige Europawahl.
Im Übrigen berufe ich die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 5. Juni 2019, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende.
(Schluss: 17.30 Uhr)