Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Verfassung wurde in sorgenvoller Zeit geboren und auch nur für einen Teil unseres Landes, nämlich für den westdeutschen Teil, und selbst der ohne das Saarland. Am 23. Mai 1949 waren gerade einmal vier Jahre vergangen seit dem völligen Zusammenbruch Deutschlands. Es war nicht nur der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates; es war vor allem ein moralischer Offenbarungseid.
Der Zivilisationsbruch der Shoah lag erst wenige Jahre zurück. In dieser Zeit hatten die Politikerinnen und Politiker, die am Grundgesetz gearbeitet haben, nur eine Gewissheit: dass nichts, aber auch gar nichts mehr selbstverständlich war – nicht der Respekt vor dem Leben, schon gar nicht die Demokratie. Genau deswegen hat der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes – „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ – eine ganz besondere Bedeutung. Er ist eben nicht nur das Bekenntnis zur christlich-abendländischen Tradition unseres Landes; er ist vielmehr eine Absage an alle menschliche Allmacht und zugleich Ausdruck von Demut gegenüber der Erkenntnis, nicht alles regeln zu können und regeln zu müssen. Genau dieses Vertrauen, dass nicht alle Dinge in unserer Hand liegen, hilft durch schwierige Zeiten. Es ist ein Vertrauen darauf, dass der Mensch nicht die letzte Instanz sein kann und im Übrigen auch nicht sein muss.
Unter diesen Vorzeichen formuliert das Grundgesetz ein umfassendes „Nie wieder“, das bis in die heutige Zeit hinein trägt. Nie wieder sollen die universellen Rechte der Menschen infrage gestellt werden. Deswegen ist der Grundrechtsteil der Verfassung so überragend wichtig. Allen voran gilt das für das prägendste Grundrecht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
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Dies war die Kernerfahrung aus dem nationalsozialistischen Terror. Dabei geht es nicht nur um den Schutz des Menschen vor Willkür und Gewalt. Dahinter steht ein größeres Bild, das die Einzigartigkeit und Freiheit des Menschen auch gegenüber dem Staat aufzeigt. Ja, Grundrechte sind auch Abwehrrechte gegenüber einem regulierenden Staat, gegenüber einem Staat, der den perfekten Menschen schaffen möchte. Das Grundgesetz will dies nicht, und es setzt diesen perfekten Menschen auch nicht voraus. Im Gegenteil, es gibt den Menschen die Möglichkeiten, sich erst einmal so zu entfalten, wie sie sind. Denn Menschenwürde, meine Damen und Herren, liegt auch in der selbstgewählten Lebenspraxis. Die Würde des Menschen hat auch viel mit Freiheit zu tun. Ich denke, gerade diese Forderung nach Freiheit ist in einer Zeit, in der viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass ihnen immer mehr vorgeschrieben wird, so aktuell wie nie.
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Freiheit und eine offene Gesellschaft sind im Übrigen auch die Voraussetzung für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand.
Nie wieder sollte eine demokratische Verfassung durch ihre Feinde missbraucht werden. Deswegen fordert das Grundgesetz nicht nur eine wehrhafte Demokratie, sondern schafft eine ganze Reihe von Sicherheitsvorkehrungen, zum Beispiel das konstruktive Misstrauensvotum. Denn das Grundgesetz enthält eine klare Absage an destruktive Parlamentsarbeit, eine Parlamentsarbeit, die letztlich nur darauf aus ist, das Parlament als zentrales Verfassungsorgan zu schwächen und damit unseren Staat vorzuführen. Wir müssen dafür sorgen, dass es bei dieser klaren Absage auch in Zukunft bleibt.
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Nie wieder sollte ein allmächtiger Zentralstaat alles dominieren, deswegen ist Deutschland föderal. Das ist zugegeben manchmal sehr anstrengend und – wir wissen das – auch manchmal sehr langsam. Es ist aber Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, das besagt: Im Zweifel wird auf der unteren Ebene, nämlich nah an und mit den Bürgerinnen und Bürgern, entschieden. Wir sollten dieses Prinzip bei all unseren Projekten, von der Kommune bis Europa, als Maßstab im Kopf behalten.
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Nie wieder sollte Deutschland national allein und eigensüchtig handeln oder gar Sonderwege gehen. Deswegen geht es in der Präambel des Grundgesetzes auch um eine Einbindung Deutschlands in ein vereintes Europa. Gerade in diesen Tagen vor der Wahl des Europäischen Parlaments kann das nicht oft genug betont werden. Europa und das Grundgesetz sind kein Widerspruch. Im Gegenteil, wer die Einbindung Europas rückabwickeln will, steht eben nicht auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Wer einen deutschen Sonderweg fordert, handelt gegen den Geist unserer Verfassung.
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Die Präambel des Grundgesetzes ist seit 1990 eine andere als 1949. Denn in der Fassung von 1949 hieß es noch:
Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, welch ein Glück, dass wir im Jahr 1990 nach so langen Jahren der Teilung die Einheit unseres Vaterlandes vollenden konnten.
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Diesen Weg zur Einheit hat das Grundgesetz von 1949 vorgezeichnet. Erkämpft worden ist er aber in der friedlichen Revolution von 1989 durch das Engagement und vor allen Dingen den Wagemut der Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR.
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So kann man sagen: Unser Land hat sich mit oder gerade durch das Grundgesetz in einer Weise entwickelt, die die Hoffnung der Deutschen vor 70 Jahren bei weitem übersteigen: wiedervereint, respektiert und anerkannt in der Gemeinschaft der Völker, Bestandteil eines gemeinsamen Europas, wirtschaftlich erfolgreich und trotz allem immer noch mit einer stabilen Gesellschaftsstruktur.
Das Grundgesetz war als Provisorium gedacht. Entsprechend nüchtern ist es formuliert, einige schreiben: „karg“, aber, so meine ich, gerade deswegen dauerhafter als viele andere ambitionierte Verfassungsentwürfe. Heute, 70 Jahre nach seiner Verkündung, stößt das Grundgesetz auf eine sehr gute Resonanz in der Bevölkerung. Es ist populär. Seine klare Sprache, seine weitgehende Reduktion auf das Wesentliche machen es – so wird zu Recht gesagt – zeitlos.
Aber: Das Grundgesetz steht nicht unantastbar auf dem Sockel. Deshalb ist es richtig, dass wir heute hier im Parlament keine Gedenkstunde feiern, sondern über unsere Verfassung debattieren. Wir haben eine lebende Verfassung. 63-mal wurde das Grundgesetz geändert – nicht immer nur zum Positiven, wenn ich an den einen oder anderen eingefügten Buchstabenartikel denke. Und es besteht weiterhin der Wunsch, das Grundgesetz zu ändern und zu ergänzen. Ich denke, das ist auch richtig. Trotzdem rate ich zur Vorsicht. Die DNA, die dieses Grundgesetz erfolgreich gemacht hat, muss erhalten werden, und dazu gehört zumindest im Grundrechtsteil die Beschränkung auf das Wesentliche. Eine weitere zeitgeistgetriebene Anreicherung von Staatszielen oder gar der Grundrechte macht das Grundgesetz sicherlich nicht besser.
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Insofern halte ich wenig davon, alles und jedes, mag es auf den ersten Blick noch so sinnvoll erscheinen, in den Verfassungsrang zu erheben.
Die Werte des Grundgesetzes, von der Würde des Menschen über den Schutz des Eigentums bis zum Schutz des Fernmeldegeheimnisses – ja, das steht auch darin –, sind im Übrigen zukunftsoffen und gelten auch für das sogenannte Neuland. Meine Damen und Herren, das Internet ist kein rechts- und schon gar kein grundrechtsfreier Raum und darf es auch nicht werden.
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Abwehrrechte ebenso wie Schutzpflichten des Staates zur Einhaltung der Rechte anderer gelten hier in gleicher Weise wie in der analogen Welt. Alles andere würde nämlich bedeuten, dass wesentliche Teile unseres Lebens eben nicht mehr von einer demokratisch legitimierten Verfassung geschützt würden.
Alles gut also? Keine Herausforderungen? Kann dann doch alles so bleiben, wie es ist? Natürlich nicht. Ich möchte einige Punkte benennen, über die wir in den nächsten Monaten und Jahren dringend reden müssen:
Erstens. Das einzig direkt gewählte Verfassungsorgan – bei allem Respekt – ist das Parlament, ist der Deutsche Bundestag. Gerade in Zeiten von großen Koalitionen sollten wir als Parlament deswegen auch sehr selbstbewusst agieren. Gesetze werden vom Parlament gemacht, und das müssen wir tagtäglich auch so leben. Das bedeutet auch, dass Gesetzentwürfe der Bundesregierung nicht in Stein gemeißelt sind. Denn hier im Parlament ist der Ort der politischen Auseinandersetzung, an dem wir offen und transparent die beste Lösung für unser Land suchen sollen.
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Zweitens. Das Grundgerüst des Föderalismus stammt aus dem Jahr 1949 mit all seinen Besonderheiten. Seitdem stand die Reform der bundesstaatlichen Ordnung mehrfach auf der Agenda. Die verschiedenen Ebenen haben sich gerade in den letzten Jahren wieder zunehmend verflochten. Es ist heute oft nicht zu erkennen, wo der Bund und wo die Länder für politische Entscheidungen verantwortlich sind. Einiges ist in den letzten Jahren sicherlich auch in die falsche Richtung gelaufen. Deshalb müssen wir wieder zu klareren Zuständigkeiten – im Übrigen auch Finanzierungsregelungen – zwischen Bund und Ländern kommen.
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Das Prinzip von klarer Verantwortlichkeit gilt ebenso für Gremienbeschlüsse, die im Grundgesetz – auch das muss gesagt werden – so nicht vorgesehen sind, etwa wenn die durchaus respektable und wichtige Ministerpräsidentenkonferenz versucht, mit den legendären 16 : 0-Beschlüssen Druck auf den Deutschen Bundestag auszuüben.
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Auch Abstimmungsregeln im Bundesrat müssen wir in den Blick nehmen. Das hat der Bundestagspräsident ganz zu Recht gesagt. Noch einmal: Wir als Union stehen zum Föderalismus ohne Wenn und Aber, doch wenn wir nicht bereit sind, ihn immer wieder zu überprüfen, zu reformieren und weiterzuentwickeln, wird er keine gute Zukunft haben. Wir brauchen daher ganz dringend eine dritte Föderalismuskommission.
Drittens. Deutschland ist heute fest im Gefüge der europäischen und internationalen Gemeinschaft verankert. Das führt dazu, dass wir viele internationale Vereinbarungen multilateral abschließen, und das ist auch gut so. In europäischen Fragen haben wir dabei eine Einbindung des Bundestages zum Beispiel über Artikel 23 des Grundgesetzes, den wir im Übrigen eigentlich noch viel aktiver als heute nutzen sollten.
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Im Bereich des Völkerrechtes sitzt der Bundestag hingegen faktisch häufig auf der Zuschauertribüne. Wir kommen oft erst bei der Ratifizierung von komplett ausgehandelten, nicht mehr veränderbaren Verträgen wirklich ins Spiel. Wir sind sozusagen der Notar. Das kann auf Dauer nicht richtig sein.
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Wir müssen uns als Parlament daher früher einmischen und dafür auch institutionelle Grundlagen legen – gegebenenfalls auch in unserer Verfassung.
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Viertens. Was noch zum 60-jährigen Bestehen des Grundgesetzes undenkbar gewesen wäre: Heute werden wieder elementare Bestandteile der Rechtsstaatlichkeit infrage gestellt. – Bei aller Solidität der Verfassung muss uns klar sein: Keine Verfassung kann sich selbst schützen, wenn sie nicht von der Mehrheit des Landes getragen wird.
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Keine Norm nimmt es uns ab, als Staatsbürgerinnen und -bürger selbst für unsere Ordnung zu kämpfen. Da bin ich, meine Damen und Herren, trotz breiter Akzeptanz des Grundgesetzes in Sorge: eine sich verbreitende Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie; zunehmende Skepsis gegenüber politischen Parteien; politisches Interesse, das sich leider nur auf den eigenen Vorgarten bezieht.
Hoffnung bereitet, dass sich junge Menschen mehr politisieren, als dies in den letzten Jahren der Fall war. Zuversicht bereitet, dass überall im Land ehrenamtlich Tätige das Rückgrat unserer Gesellschaft und unserer Demokratie sind. Das zeigt sich täglich in Hospizen, Kirchen, sozialen Einrichtungen und Sportvereinen, wo Menschen uneigennützig etwas für andere Menschen tun, und – das darf man auch einmal sagen – das zeigt sich beim politischen Engagement auf kommunaler Ebene. Bei den Kommunalwahlen in vielen Ländern kandidieren jetzt am 26. Mai Zehntausende Bürgerinnen und Bürger für die Kreistage und die Gemeinderäte, um aus ihrer Stadt, ihrem Kreis einen besseren Ort zu machen. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
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Wir brauchen mehr davon; denn ich denke, es ist eine Lehre aus der Weimarer Republik, dass wir die Mitarbeit in demokratischen Parteien – als Ort der politischen Willensbildung – viel mehr schätzen sollten.
Fünftens. Gerade jüngeren Generationen müssen wir zeigen, dass das Grundgesetz nicht nur das Jetzt, sondern auch ihre Zukunft im Blick hat. Das gilt für die Umwelt, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, den Zustand unserer Infrastruktur, aber auch für die Finanzen. Da stehen wir gerade in diesen Monaten vor entscheidenden Weichenstellungen – natürlich in der Klimapolitik, aber auch mit dem Haushalt für das kommende Jahr. Mit Blick auf die junge Generation, auf die Nachhaltigkeit kann das nur bedeuten: Wir müssen sowohl politisch als auch finanziell mehr in die Zukunft investieren.
Meine Damen und Herren, ich habe zu Beginn davon gesprochen, dass das Grundgesetz in einer Zeit entstanden ist, in der vieles nicht mehr gewiss war. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes sind damit klug umgegangen. Sie konnten dies, weil sie genau wussten, wohin sie nicht wollten: Diktatur, Krieg und Terror sollten eben nie wieder von deutschem Boden ausgehen. Sie wussten, wohin sie wollten: in ein wiedervereintes Land mit einem respektierten Platz unter den Völkern Europas und der Welt. Und auch, wenn es im Grundgesetz nur manchmal durchscheint: Sie wollten natürlich auch wirtschaftlichen Wohlstand für alle. – Das war mehr als genug, um ein Land 70 Jahre zusammenzuhalten und politisch zu führen.
Ein Vergleich mit 1949 verbietet sich natürlich aus vielerlei Gründen; keine Frage. Aber auch heute leben wir in einer Zeit, in der vieles nicht mehr gewiss ist, in der wir mit Unsicherheit in die Zukunft schauen. Angesichts des technischen Wandels und einer Weltordnung mit neuen Koordinaten brechen alte Sicherheiten weg. Vieles verändert sich. Zugleich leben wir in einem noch nie dagewesenen Wohlstand, der, wenn wir ehrlich sind, manchmal auch träge für Zukunftsziele macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen, die hier vertreten sind, haben – wenn auch durchaus unterschiedliche – Vorstellungen davon, wohin sie wollen, wo Deutschlands Zukunft liegen soll. Nur müssen wir hier viel mehr darüber reden; denn zu häufig geht es hier bei uns im Bundestag eben nicht um die Zukunft, nicht um Orientierung und Führung, sondern um kleinteilige Gegenwarts- und Vergangenheitsdebatten.
Vielleicht ist das der Auftrag aus 70 Jahren Grundgesetz: nicht dass wir das Grundgesetz auf den Kopf stellen, nicht dass wir uns gegenseitig überbieten, was man noch ergänzen oder ändern könnte, sondern dass wir hier im Parlament, in unseren Parteien und vor allem mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes darüber sprechen, wohin wir in den nächsten Jahrzehnten mit unserem Land wollen. Es wird nicht reichen, dass wir selbstzufrieden sagen: Es ist genug, dass alles so bleibt, wie es ist. – Das gilt national, europäisch und natürlich auch hinsichtlich unseres Engagements in der Welt.
Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, nach vorne schauen, so wie es das Grundgesetz vor 70 Jahren getan hat. Ich bin überzeugt, dass wir diese Aufgabe mit der gleichen Zuversicht, mit dem gleichen Optimismus angehen sollten wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes, bei denen ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst einmal: Das Grundgesetz ist einer der größten Erfolge der deutschen Geschichte.
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Wir feiern heuer sein 70-jähriges Bestehen. Das ist länger als jede deutsche Verfassung, nimmt man einmal das lange Siechtum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation aus. Der Deutsche Bund des Wiener Kongresses hielt 51 Jahre. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Kaiserreiches dauerte es ebenfalls 51 Jahre; so lange hielt die Bismarck’sche Reichsverfassung. Der Weimarer Verfassung waren nur 13 Jahre Dauer beschert, ehe ein verbrecherischer Klüngel sie zur Makulatur machte.
Allerdings ist Dauer noch kein Wert an sich. Das Grundgesetz hat in diesen 70 Jahren auch den freiheitlichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Staat der deutschen Geschichte gestaltet und bewahrt. Wenn manche Historiker meinen, man könne aus der Geschichte nichts lernen, dann beweist das Grundgesetz das Gegenteil.
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Die Verfassungsväter haben aus den Fehlern der Weimarer Reichsverfassung Lehren gezogen, die das Grundgesetz bis jetzt so erfolgreich gemacht haben. Also könnte man meinen, alles ist gut; eine ganz ähnliche Formulierung brachte Herr Kollege Brinkhaus. Doch dem ist nicht so. Verfassungen sind erst einmal Buchstaben; auch da haben Sie völlig recht, Herr Kollege Brinkhaus. Sie müssen gelebt werden und von den Gesellschaften, die sie verfassen, immer aufs Neue verteidigt werden, und da sieht es weniger überzeugend aus.
Ja, natürlich gibt es Verfassungsfeinde, links wie rechts und auch im islamischen Bereich. Aber diese sind leicht zu erkennen und zu stellen. Die wirkliche Gefahr geht von denen aus, die das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gleichheit immer von neuem zulasten der Freiheit verschieben wollen. Sie geht von denjenigen aus, die ihre politischen Ziele in die Verfassung hineininterpretieren, um den politischen Diskurs zu verengen und so, beschützt vom Grundgesetz, Vorteile im Meinungskampf zu erringen.
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„Unfreiheit kommt auf leisen Sohlen“, titelte die letzte „Welt am Sonntag“ und beschrieb die Gefahren jener politischen Korrektheit, die heute unbequeme Professoren trifft und morgen soziale Netzwerke.
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In seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1945 sagte Richard von Weizsäcker – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –:
Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag.
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Das Grundgesetz ist ein Rahmen, in dem vieles möglich ist, auch Kevin Kühnerts Enteignungsfantasien oder eine demokratische Identitätspolitik, wie wir sie vertreten.
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Das Grundgesetz ist auch ein Schutz für Minderheiten und Mindermeinungen gegen die Überwältigungsfantasien demokratischer Mehrheiten.
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Weil wir als Minderheit das wissen, schützen wir das Grundgesetz. Was John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert als Gefahren für die Freiheit ausgemacht haben, haben die Verfassungsgeber des Grundgesetzes beherzigt und nach bestem Wissen und Gewissen gebannt. Es ist an uns – da stimme ich wieder mit dem Kollegen Brinkhaus überein –, dieses freiheitliche Regelwerk immer von neuem mit Leben zu erfüllen. Eine neue oder gar bessere Verfassung werden wir nicht bekommen, so wenig übrigens, Kollege Bartsch, wie eine neue oder gar bessere Nationalhymne.
Ich bedanke mich.
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Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der SPD-Fraktion, Andrea Nahles.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir feiern heute das Grundgesetz – zu Recht. Ich bin keine Juristin. Ich bin Literaturwissenschaftlerin, und ich habe mich schon früh von der Schönheit und der Klarheit der Sprache des Grundgesetzes beeindrucken lassen.
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Zum Beispiel Artikel 3 Absatz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Ein Satz ohne Schnörkel. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten sicherstellen, dass die Deutschen das Recht verstehen, damit sie es auch wahrnehmen können. Das ist der tiefere Kern dieser Klarheit.
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Deswegen, glaube ich, hat das Grundgesetz auch nach 70 Jahren seine Kraft und Wirkung nicht eingebüßt. Es hat aber auch noch Platz, Herr Brinkhaus, für einen weiteren schönen klaren Satz, zum Beispiel zu Kinderrechten.
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Nach 70 Jahren ist unser Grundgesetz immer noch eine lebendige Verfassung. Warum? Weil sie uns auch nach 70 Jahren noch Orientierung gibt. Was 1949 aufgeschrieben wurde und was wir hier heute immer wieder entscheiden müssen, hat teilweise gar nichts miteinander zu tun: Präimplantationsdiagnostik, Digitalisierung, Klimawandel. – Nein , das hatte die Gründungsväter und Verfassungsmütter nicht beschäftigt. Die Zeiten ändern sich also, aber die zivilisatorische Kraft, der zivilisatorische Kompass des Grundgesetzes bleibt und hilft uns jeden Tag, hier kluge und richtige Entscheidungen zu treffen.
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Diese werden wir auch in Zukunft brauchen. Nehmen wir einmal das Thema künstliche Intelligenz. Künstliche Intelligenz wird unser Leben grundlegend verändern, teilweise zum Besseren, wenn wir daran denken, welche Fortschritte in der Gesundheitsversorgung denkbar werden, wenn wir an autonomes Fahren oder auch geringeren Energieverbrauch denken. Aber künstliche Intelligenz stellt auf der anderen Seite auch unser Zusammenleben infrage, wenn daraus zum Beispiel Instrumente der Überwachung werden oder wenn es Richter gibt, die keine Rechenschaft mehr ablegen müssen. Wir sehen das schon jetzt in den USA, wo aufgrund von Algorithmen über Bewährungsstrafen entschieden wird. Das sind Entwicklungen, die nicht nur das Zusammenleben infrage stellen, sondern auch unser Menschsein.
Auch hier ist das Grundgesetz Richtschnur, besonders Artikel 1 – Zitat –: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Denn wenn wir hier nicht gestalten, wenn wir als Demokraten nicht handeln, dann wird diese Würde antastbar. Das dürfen wir niemals zulassen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Mit den bloßen Buchstaben des Grundgesetzes dürfen wir uns also nicht zufriedengeben. Es geht immer auch darum, dass wir das Grundgesetz für die Menschen, für die wir hier Politik machen, umsetzen. Deswegen ist Teilhabe der entscheidende Punkt. Teilhabe in Freiheit – das ist der Auftrag unserer Verfassung.
Das Grundgesetz hat uns deshalb auch ein Sozialstaatsgebot und eine Sozialbindung des Eigentums mit auf den Weg gegeben. Das ist ein wesentlicher Bestandteil der Erfolgsgeschichte unserer Bundesrepublik und natürlich auch die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Hier ist deutlich zu sagen: Es geht immer auch um materielle Voraussetzungen, wenn wir die Rechte, die hier stehen, tatsächlich umsetzen wollen. Ein Beispiel ist Artikel 3 Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
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Für dieses Recht mussten Elisabeth Selbert und auch andere Mütter des Grundgesetzes erbittert kämpfen. Dreimal war der Satz zuvor im Parlamentarischen Rat abgelehnt worden. Erst der Aufschrei der Frauen im Land hat dazu geführt, dass er eingefügt wurde. Trotzdem dauerte es noch Jahre, bis aus der Verfassungstheorie Gesetzesrealität wurde. Trotzdem dauerte es Jahrzehnte, bis das Grundgesetz um eine konkrete Handlungsverpflichtung ergänzt wurde. Trotzdem klafft auch heute ein Graben zwischen verfassungsrechtlichem Anspruch und gesellschaftlicher Realität.
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Der Buchstabe des Gesetzes reicht auch hier nicht. Es müssen die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, damit Gleichberechtigung auch in der Realität umgesetzt werden kann, zum Beispiel durch Kitas oder durch Ganztagsschulen, aber eben auch durch Parité. Wir warten darauf, dass hier eine Mehrheit für ein Paritätsgesetz entsteht; denn das würde wirkliche Gleichberechtigung bringen. Und da haben wir noch einiges vor uns, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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70 Jahre Grundgesetz, das sind 40 Jahre Bundesrepublik und 30 Jahre wiedervereinigtes Deutschland. Unsere Verfassung ist zur Verfassung aller Deutschen geworden. 1948 blieb es den Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone verwehrt, an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitzuwirken. Das System ließ es nicht zu. Drei Dekaden später öffnete sich dann der Eiserne Vorhang; die friedliche Revolution hatte gesiegt. Die Diktatur – von mutigen Menschen hinweggefegt.
In Ostdeutschland wurde die Freiheit mit beiden Händen ergriffen. Die anschließende Debatte über eine neue Verfassung hallt bis heute nach. Sie wurde in Ostdeutschland damals leidenschaftlich geführt. Jedoch wünschte sich die Mehrheit der Ostdeutschen vor dem Hintergrund ihrer Diktaturerfahrung etwas anderes: den sofortigen Beitritt zur Bundesrepublik und den Beitritt zum Grundgesetz. Das war ein Vertrauensbeweis, und es war auch ein Vertrauensvorschuss.
Das Grundgesetz hat sich bewährt; das können wir heute feststellen.
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Dennoch gibt es 30 Jahre nach der Wiedereinigung bei vielen Ostdeutschen das Gefühl, dass etwas nicht richtig gelaufen ist. Das Grundgesetz fordert die Herstellung gleichwertiger Verhältnisse. Diesem Anspruch werden wir immer noch nicht gerecht. In Spitzenpositionen in Ostdeutschland sind Ostdeutsche unterrepräsentiert. In Sachsen sind 39 Prozent der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt; im Westen sind es deutlich mehr. Deswegen arbeiten die Ostdeutschen nicht nur länger, sie haben auch weniger Urlaub. Hier steht also viel an. Am Buchstaben des Grundgesetzes liegt es nicht, sondern es liegt an der Umsetzung, dass wir immer noch keine gleichwertigen Lebensverhältnisse haben.
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Das ist der Auftrag, der sich aus diesem Grundgesetz aus meiner Sicht ganz klar ergibt.
Nach der Wiedervereinigung wurde der Einigungs-Artikel 23 – Herr Brinkhaus hat auch darauf hingewiesen – durch einen neuen verfassungsrechtlichen Auftrag ersetzt: die Verwirklichung eines vereinten Europas. Mit dem EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 sind wir auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen. Vor allem haben wir mit der EU-Grundrechtecharta einen großen und auch rechtsverbindlichen Schritt hin zu einem sozialen Europa getan. Seitdem haben wir beides: eine deutsche Verfassung und ein europäisches Grundgesetz. Es ist jetzt an der Zeit, die Bestimmungen der EU-Grundrechtecharta auch mit Leben zu füllen.
Die Fliehkräfte in Europa werden stärker. Die Bürgerinnen und Bürger haben genauso ein Recht auf die Charta, wie die Frauen 1949 ein Recht auf Gleichberechtigung hatten.
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Die Demokratie darf nicht deswegen warten, bis erst Gerichte Recht gegen die Politik erzwingen.
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
Artikel 31 Absatz 1 EU-Grundrechtecharta. – Ich sage: Setzen wir sie um mit einem europäischen Mindestlohn überall in Europa. Die Höhe orientiert sich an der jeweiligen Wirtschaftskraft. Das ist gerecht, ökonomisch sinnvoll und sorgt für eine Angleichung der Lebensverhältnisse. Das ist die Fortsetzung des Geistes der Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes auf der europäischen Ebene. Wir müssen das auch hier zusammendenken und zusammenbringen.
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Ich glaube, dass wir wirklich sagen können, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes, wenn sie es heute beurteilen könnten, ihre Hoffnung, dass das Grundgesetz ein Bollwerk ist gegen Faschismus, gegen den Rückfall in Diktatur, als erfüllt ansehen würden.
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Aber wenn wir uns jetzt an dieser Stelle ankucken, wie sich die Gesellschaft entwickelt und was für Radikalisierungen hier zu beobachten sind,
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dann wissen wir auch, dass wir einen Auftrag in die nächsten Jahrzehnte mitnehmen. Diese Verfassung ist lebendig. Diese Verfassung ist mehr als der Buchstabe; sie ist gelebte Realität. Es gilt, sie jeden Tag aufs Neue zu verteidigen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der FDP-Fraktion Christian Lindner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
So beginnt der erste Artikel des Grundgesetzes. – Zu selten zitiert der zweite:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt …
Das Grundgesetz ist angelegt als die kompromisslose Antwort auf jede Form von Kollektivismus. In seinem Zentrum steht der einzelne Mensch. Nach der Erfahrung des Totalitarismus, der Nazidiktatur, ergreift das Grundgesetz eben nicht Partei für einen völkischen Kollektivismus, in dem der Einzelne gebeugt wird unter eine vermeintliche Volksgemeinschaft. Aber das Grundgesetz ergreift eben auch nicht Partei für einen sozialistischen Kollektivismus von Klassengegensätzen. Es ist eine mutige Reaktion auf das, was passiert, wenn Ideologien wichtiger werden als Würde und Freiheit des Einzelnen. Deshalb ist dieses Grundgesetz in seinem Wesenskern heute aktueller denn je.
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Übrigens: Im Herrenchiemseer Entwurf kommt das noch deutlicher zum Tragen. Dort heißt es – ich zitiere –:
Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.
Ein Journalist hat das dieser Tage sehr plastisch zusammengefasst: Die Menschenwürdegarantie klinge wie das Paradies, die Wahrheit sei aber, sie sei aus der Hölle geboren worden.
Ein Mensch, der die Hölle kennengelernt hat, ist Margot Friedländer. Sie hat vorgestern auf dem Festakt zum 70-jährigen Bestehen des Grundgesetzes gesprochen. Ihre Rede schloss sie mit den bewegenden Worten – ich zitiere –:
74 Jahre nach meiner Befreiung in Theresienstadt lebe ich in einem Deutschland, das stolz auf sein Grundgesetz sein kann.
Was für eine Größe einer alten Dame! Was für ein Kompliment für unser Grundgesetz! Nach 70 Jahren dürfen wir alle als Verfassungspatriotinnen und -patrioten sagen: Wir haben Grund, auf dieses Deutschland, auf den Staat des Grundgesetzes stolz zu sein.
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Das ist auch einmal Anlass für liberale Selbstkritik.
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Thomas Dehler sprach im Parlamentarischen Rat seinerzeit für viele, als er sagte: Das Grundgesetz sei – Zitat – „keine Musterverfassung und kein Werk von Ewigkeitswert“. Da haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes ihre eigene Leistung grob unterschätzt. Das Grundgesetz ist eine großartige Verfassung und Vorbild für viele Staaten in der Welt, und es hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir unser Land heute als eine geglückte Demokratie bezeichnen können.
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Das Grundgesetz hat sich in den letzten 70 Jahren als ausgesprochen wandlungsfähig erwiesen. Es ist eine atmende Verfassung, und als solche war sie auch angelegt. Sie hat auch Antworten auf Fragen, die sich 1949 noch gar nicht gestellt haben.
Dennoch muss diese Verfassung auch immer wieder auf die Höhe der Zeit gebracht werden. Ich nenne exemplarisch, dass das Grundgesetz 1949 die damals modernsten bekannten Medientechnologien bereits erwähnt hat, nämlich den Buchdruck, die Zeitschriften und den Rundfunk. Wer heute als junger Mensch in das Grundgesetz schaut, findet zwar die modernsten Medientechnologien des 19. und 20. Jahrhunderts darin erwähnt und beachtet, aber eben nicht die modernste Medientechnologie des 21. Jahrhunderts, nämlich das Internet. Und wir sollten auch in dieser Frage unsere Verfassung auf die Höhe der Zeit bringen. Die Klärung solcher Fragen sollten wir nicht der Interpretation des Verfassungsgerichts überlassen.
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Im Zentrum, liebe Kolleginnen und Kollegen, des Grundgesetzes, unserer Werteordnung stehen die Grundrechte, und wie Carlo Schmid sagte: „Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren“. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber nicht. Nehmen wir nur die aktuelle Debatte um die Enteignung von Wohnungsbauunternehmen – ich will jetzt gar nicht im Einzelnen in die Baupolitik einsteigen –; es ist eben eine doch auch gesellschafts- und verfassungspolitische Debatte. Die Kollegin Nahles sprach – zu Recht – von der Sozialbindung des Eigentums. Dem Grundgesetz entnehmen wir, dass der Sozialbindung des Eigentums die Garantie des Privateigentums vorausgeht. Deshalb sollten wir unser Grundgesetz in diesem Sinne vom Artikel 15 befreien,
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der von einer Vergesellschaftung des Privateigentums ausgeht.
Der Artikel 15 wurde in das Grundgesetz gebracht vor der Verabschiedung des Godesberger Programms der Sozialdemokratie – zu einer Zeit, als die CDU in ihrem Ahlener Programm noch von der Vergesellschaftung der Montanindustrie und der Schlüsselindustrien ausging.
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Danach kam die soziale Marktwirtschaft, danach kam das Wirtschaftswunder. Wir sollten heute die Konsequenzen aus unserer historischen Lehre ziehen, dass die soziale Marktwirtschaft jeder Form von sozialistischem Wirtschaften überlegen ist.
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Und, liebe Freundinnen und Freunde, es besorgt auch der Umgang der Regierung mit unseren Grundrechten im Bereich der inneren Sicherheit. Die Regierung versucht oft genug, ihre Befugnisse bis an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen auszudehnen – und manchmal auch darüber hinaus. Diese Form der Entgrenzung geschieht aus politischem Kalkül, markiert aber einen Tabubruch.
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Übrigens: Die Grundrechte sind auch eine Grenze für andere edle Motive. Die einen sprechen von Sicherheit und nehmen es dann mit demokratischer Legitimität und Verhältnismäßigkeit nicht so genau. Die anderen sprechen vom edlen Motiv des Klimaschutzes. Auch dort sind dann plötzlich demokratische Legitimität und Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht so wichtig. Für uns als Verfassungspatriotinnen und -patrioten muss eines gelten: Egal wie edel das Ziel ist, die demokratische Legitimation und die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Mittel stehen nicht zur Disposition.
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Die zweite große Säule des Grundgesetzes neben den Grundrechten ist die Demokratie. Wie erhalten wir sie attraktiv? Wie machen wir sie lebendig? Nicht, Frau Kollegin Nahles, mit Parité-Gesetzen. Nicht wir hier – nicht der Gesetzgeber – entscheiden über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages.
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So edel die Motive sein mögen: Über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages entscheiden die Wählerinnen und Wähler in freier, gleicher und geheimer Wahl, ohne irgendeine Quote.
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Ich glaube, dass wir nach sieben Jahrzehnten, auch den oft gehörten Debatten um und über mehr direkte Demokratie eine selbstbewusste Antwort geben können: Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes hat sich im Kern bewährt; sie muss durch nichts anderes ersetzt werden.
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Über andere Fragen kann man nachdenken. Beispielsweise hat ja die CSU in Bayern eine verfassungspolitische Debatte angestoßen, ob die Amtszeit von Regierungschefs begrenzt werden muss. Das ist nicht mehr so ganz aktuell – Herr Seehofer ist nach Berlin gewechselt –,
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aber trotzdem ist der Denkanstoß interessant, wenn wir über eine Reform unseres Grundgesetzes nachdenken.
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Die dritte Säule ist der Föderalismus. Lieber Kollege Brinkhaus, Ihre Bereitschaft für eine Föderalismusreform III, zuvor eine Föderalismuskommission, nehmen wir gerne und dankbar auf.
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Auch wir haben Themen: Wir wünschen uns mehr Gestaltungsföderalismus, insbesondere in der Frage der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Sie haben es in der Hand. Machen Sie zum Beispiel – ein kleinster Schritt! – den Weg dafür frei, dass die Länder im Wettbewerb auch einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer beschließen können. Dann können Länder nämlich Menschen den Weg zum Eigentum erleichtern.
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– Ich kann es auch größer.
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Wenn Ihnen das zu kleinteilig ist, dann lassen Sie uns einen Steuerwettbewerb mit Heberechten bei der Einkommensteuer schaffen. Auch das würde den föderalen Wettbewerb um beste wirtschaftliche Rahmenbedingungen beleben.
Wieso sprechen wir nicht neu über eine Reform des Bildungsföderalismus? Das Bundesverfassungsgericht selbst sagt, das Abitur in Deutschland sei ungerecht, weil es nicht mehr vergleichbar sei. Also: Gehen wir einen Schritt nach vorne, schaffen wir mehr Mobilität und Vergleichbarkeit in der Bildung.
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Nicht zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Gedanke der Gewaltenteilung, der Gewalthemmung durch Föderalismus, das war eine Reaktion auf die Gleichschaltung in der Nazidiktatur. Heute, nach 70 Jahren, können wir sagen: Die Kleinteiligkeit, die Zerklüftetheit unserer Sicherheitsarchitektur in Deutschland hindert den Staat, begrenzt seine Handlungsfähigkeit. Sollten wir nicht 70 Jahre nach Annahme des Grundgesetzes in einer gereiften Demokratie, in einem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland darüber nachdenken, ob wir im Bereich der Sicherheitsarchitektur mehr Gemeinsamkeit in den Vordergrund stellen können, müssten sogar, statt einfach nur über die Gewaltenverschränkung und -teilung nachzudenken?
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Mein letzter Gedanke, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es gibt ja dieses berühmte Böckenförde-Diktum, dass eine Verfassung von Voraussetzungen lebe, die sie gar nicht selbst garantieren könne. Das wird von Konservativen oft geäußert. Ich bin skeptisch, was diese Vorhaltung gegenüber dem Grundgesetz angeht. Das Grundgesetz selbst ist eine objektive Wertordnung, mit Würde und Freiheit des Einzelnen, negativer und positiver Religionsfreiheit, der Gleichberechtigung der Geschlechter und vielem anderen mehr.
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Das Grundgesetz ist übrigens auch die beste Willkommenskultur, die man sich auf der Welt überhaupt nur vorstellen kann. Es ist eine Einladung zur Integration in unsere Werteordnung. Und deshalb: Erinnern wir uns an eines: Wir haben eine liberale Verfassung. Aber eine liberale Verfassung braucht auch eine liberale Gesellschaft, die den Geist der Verfassung im Alltag lebt. Weimar ist nicht gescheitert an seiner Verfassung, sondern am Fehlen einer liberalen Gesellschaft, die für ihre Werte eintritt, und das sollte die Lehre aus der deutschen Geschichte sein.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der Linken, Dr. Dietmar Bartsch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 70 Jahre Grundgesetz sind zu Recht ein Anlass, über das Grundgesetz, über Deutschland, über seine Geschichte, aber auch über seine Gegenwart hier im Plenum würdigend zu debattieren und nachzudenken. Entscheidend ist: Das Grundgesetz ist die Antwort auf den und eine praktische Lehre aus dem Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als der zentrale Satz
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ist eine Antwort auf ein Regime, für das „Menschenwürde“ ein Fremdwort war.
Vor fünf Jahren hat hier, an dieser Stelle, der von mir sehr geschätzte Navid Kermani zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes eine berührende Rede gehalten.
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Er wies darauf hin, dass der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ paradox sei; denn wenn sie unantastbar sei, müsste es ja nicht festgeschrieben werden. Und er hat recht. Der industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden und der Vernichtungskrieg im Osten waren grausame Höhepunkte dieses Gewaltregimes und haben gezeigt, dass ein Staat den Verstoß gegen die Menschenwürde zum Prinzip erheben kann.
Es muss daran erinnert werden, dass die Deutschen nicht in der Lage waren, die sogenannte Machtergreifung der Nazis zu verhindern. Sie waren auch nicht in der Lage, deren Herrschaft aus eigener Kraft abzuschütteln. Befreiung war nur von außen möglich – durch den Sieg der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition. Menschen überall in der Welt zahlten für unsere Befreiung einen hohen Preis. Letzte Woche haben wir dieses Tages der Befreiung gedacht, und es war, meine Damen und Herren, ein Tag der Befreiung – das muss man immer wieder betonen, und das sollten auch alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages immer wieder betonen –,
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der Befreiung von einer Politik der Unmenschlichkeit. Dass Politik auf die systematische Zerstörung der Menschlichkeit hinausläuft, das dürfen wir alle nie wieder zulassen.
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Gerade deswegen ist es so wichtig, die Tragweite des Artikels 1 zu verstehen. Er ist ein Versprechen, das jeden Tag aufs Neue eingelöst werden muss. Dieser Satz muss als Auftrag an die konkrete Gesellschaftsgestaltung verstanden werden. Der Geist des Grundgesetzes ist ein radikaler Bruch mit dem Faschismus. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben genau gewusst, dass der Kampf gegen den Faschismus umfassend sein muss, dass ein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen nicht reicht, dass dieses Bekenntnis im Staat verankert sein muss.
Der Geist des Grundgesetzes verpflichtet uns deswegen, auch eine soziale Politik zu machen, einen solidarischen Staat und eine solidarische Gesellschaft zu gestalten. Das Grundgesetz ist ein Bekenntnis zur sozialen Demokratie, lieber Christian Lindner. Im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es nicht umsonst:
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
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Die Bundesrepublik wurde mit diesem Artikel als sozialer Rechtsstaat definiert. Artikel 79 Absatz 3 stellt, wie wir alle wissen, diese Definition unter den Schutz der Ewigkeitsklausel. Das zeigt, wie zentral die soziale Demokratie im Grundgesetz ist. Deswegen findet sich neben der Eigentumsgarantie auch deren Einschränkung durch Gemeinwohl bzw. die sogenannte Sozialpflichtigkeit in Artikel 14.
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Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten ganz genau, dass eine allzu große soziale Spaltung die Gesellschaft gefährdet. Es ist doch auch kein Zufall, wenn im Koalitionsvertrag steht: „Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Das sagt vor allen Dingen eins, dass es offensichtlich Defizite im sozialen Zusammenhalt gibt.
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Tatsächlich ist die Gesellschaft sozial gespalten wie seit Jahrzehnten nicht. Die Republik und auch das Grundgesetz werden aktuell auf eine Bewährungsprobe gestellt; denn mittlerweile ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde leider infrage gestellt. Es gibt sogar Zehntausende Men schen, die das Grundgesetz als Verfassung infrage stellen. Wir alle haben gesehen: Wenn in Plauen Rechtsextreme marschieren, dann ist das ein Wiedergänger jenes Faschismus, den wir alle längst erledigt glaubten.
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Aber es ist nicht nur die Reinkarnation des Nationalsozialismus, die das Grundgesetz auf die Probe stellt. Eine Gefahr ist auch die neoliberale Umgestaltung unserer Gesellschaft und des Staates. Der Neoliberalismus will eine andere Demokratie als das Grundgesetz. Ich will mal die – Zitat – „marktkonforme Demokratie“ hier erwähnen. Die „marktkonforme Demokratie“ unterwirft die Demokratie und die Menschenrechte der Verwertungslogik – und das kann letztlich die soziale Demokratie zerstören, meine Damen und Herren.
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In einer sozialen Demokratie geht es stattdessen darum, den Kapitalismus dort, wo er Demokratie zerstört, einzuhegen. Dieses Einhegungsprojekt ist aber schon lange kein Thema mehr in der Politik in Deutschland, obwohl das Grundgesetz, die Verfassung, darauf angelegt ist. Das ist im Übrigen auch der Sinn, lieber Christian Lindner, von Artikel 15, den Sie für sozialistisch halten. Für andere ist er ein Relikt. Aber: Es geht darum, zu vergesellschaften, wenn andere Steuerungsinstrumente versagen. Das ist der Sinn, der dort festgehalten wird.
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Dass das Thema Vergesellschaftung selbst heute hier zu so hysterischen Reaktionen führt, dass viele neoliberale Glaubenssätze nicht mal mehr auch nur hinterfragt werden dürfen, das finde ich, ehrlich gesagt, grotesk. Die Debatten der letzten Wochen und die wirklich hysterischen Schreie auch einiger hier aus dem Haus haben gezeigt, wie beschränkt viele mittlerweile sind, über Wirtschaft und Gesellschaft abseits vom Turbokapitalismus nachzudenken.
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Da ist das Grundgesetz offener, kreativer als manche Debattenbeiträge der letzten Wochen. Statt die Lehren, die im Grundgesetz verankert sind, ernst zu nehmen, wird bei jedem Anlass schnell die Änderung des Grundgesetzes gefordert. Ich will Herrn Harbarth – unlängst noch in diesem Hause – zitieren, der in der „FAZ“ diese Woche ein bemerkenswertes Interview gegeben hat. Er hat gesagt: Ob jede der über 60 Änderungen des Grundgesetzes sinnvoll war, will er bezweifeln. – Ich will dem gerne folgen und zum Beispiel an das Asylrecht und andere Dinge erinnern, wo wir das Grundgesetz nicht unbedingt verbessert haben.
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Deswegen, meine Damen und Herren, haben mich die sehr leichtfertigen Forderungen, Artikel 15 abzuschaffen, ehrlich gesagt, entsetzt. Ich finde das anmaßend. Insbesondere die ersten 20 Artikel sind doch nicht einfach mal so abzuschaffen.
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Oder glauben diejenigen, die das wollen, wirklich, dass sie es besser wissen als die, die das Grundgesetz geschrieben haben, als diejenigen, die Zerstörung und Leid durch die Nazis unmittelbar vor Augen hatten? Nein, lieber Christian Lindner: Auch bei Artikel 15 haben sich die Damen und Herren auf Herrenchiemsee etwas gedacht, nämlich dass das Gemeinwohl im Zweifel über Kapitalinteressen stehen muss.
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Das Grundgesetz und die Verpflichtungen daraus sind natürlich nur so stark und lebendig wie die Verfassungspraxis. Verfassung und Praxis sind immer auch ein Ausdruck der Zeit. Das kann man sich an der Geschichte der Bundesrepublik alt, aber auch bezogen auf die Zeit nach 1989 anschauen. Und ja, es gab damals – es ist darauf verwiesen worden – den Entwurf des Runden Tisches. Und ja, der Artikel 146 gibt immer noch die Möglichkeit, eine seriöse Debatte zu führen. Es waren im Übrigen vor allen Dingen die Bürgerbewegten, die sich hier sehr engagiert haben.
Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, ist immer nur so gut wie seine Institutionen, die den Geist leben. Deswegen liegt es an uns allen – Herr Brinkhaus hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Einzigen sind, die direkt vom Volk gewählt werden –, den Geist des Grundgesetzes zu leben. Wir – bei aller scharfen und notwendigen Auseinandersetzung – müssen das hier im Bundestag zuallererst tun. Nur dann werden wir dem Geist der Väter und der wenigen Mütter des Grundgesetzes gerecht.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
… von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Das ist ein Zitat aus der Präambel des Grundgesetzes.
Das Grundgesetz bildet den Identitätskern unseres Landes. Es steht in einem kleinen Büchlein, sehr bescheiden im Ausmaß, herausragend im Anspruch. Ich finde, wir können stolz darauf sein.
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Im ersten Teil dieses Satzes in der Präambel geht es um Verantwortung, aber schon im zweiten um Willen: „von dem Willen beseelt“. Das mag altmodisch klingen. Ich finde, das macht die Verfassung lebendig; denn ohne Willen, also Handeln, ohne Seele, also Leidenschaft, sind wir nicht in der Lage, diese Verfassung zu leben. Vor allem sind wir eins nicht: Wir sind nicht „über alles“. Wir sind Teil eines vereinten Europas. Wir sind ein Staat in der Europäischen Union. Mit den Worten eines anderen:
Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein
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Wir hier, die wir die Verfassung als Grundlage und Kompass unseres Handelns sehen, wissen: Wir sind ein Teil. Es geht um Dienen und nicht um Ansagen, um Zusammenhalt und eben gerade nicht um „wir gegen die“. Wir spielen uns nicht gegeneinander aus, sondern es geht um Zugehörigkeit in Verschiedenheit. Das ist unsere Verfassung.
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Was in unserer Verfassung steht, ist gerade nicht exklusiv. Es ist größer als jede und jeder von uns. Da steht: Freiheit der Person, des Glaubens, der Meinung, der Kunst, die Freiheit, sich zu versammeln. Da steht: das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Sie verlangt Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht, Nachteile abzuwehren, und natürlich die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frauen – natürlich. Ich sage das alles, weil der eine Satz, den hier alle erwähnt haben – fast alle –, der die Verfassung stützt, von der sie ausgeht, nicht oft genug gesagt werden kann:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Des Menschen!
Ich zitiere das Bundesverfassungsgericht:
Auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar.
Sie sind mit unserer Verfassung nicht vereinbar:
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nicht damals, nicht heute, niemals. Die Menschenwürde hängt nicht vom Pass ab, sie gilt für den Deutschen, für den Nachbarn genauso wie für jede und jeden einzelnen Geflüchteten.
Meine Damen und Herren, und doch, vielleicht wäre es aus heutiger Sicht gut gewesen, vor 30 Jahren noch einmal darüber zu reden, welche Verfassung wir gemeinsam wollen, so wie es der Runde Tisch vorgeschlagen hat. War die alte Bundesrepublik wirklich dieses perfekt eingerichtete Haus mit einer perfekten Hausordnung, wie viele, übrigens auf beiden Seiten, dachten? Ich kenne die Ambivalenz. Das Grundgesetz hatte sich ja bewährt: 40 Jahre lang, nach Weimar und dem Nationalsozialismus. Und außerdem: Anderes schien wichtiger. – Zumi ndest aber lohnt es, heute daran zu erinnern, worum es damals unter anderem ging: nämlich das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung, das Recht auf angemessenen Wohnraum, den Vorrang von Genossenschaften vor Großgrundbesitz – es war übrigens die Überwindung des Sozialismus, Herr Lindner, den der Runde Tisch da wollte –, die Pflicht des Staates, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.
Wäre eine gemeinsame Verfassung ein komplett neuer Text gewesen? Nein. Wäre das Grundgesetz auf breitere Basis gestellt worden? Auf jeden Fall. Und trotzdem sage ich heute – und das ist leider nötig in diesen Tagen – als überzeugte Verfassungsschützerin: Die Verfassung ist der Herzschlag unserer Demokratie, diese Verfassung ist der Herzschlag unserer Demokratie.
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Wie viele sehnen sich auf dieser Welt danach, dass Rechte und Freiheiten garantiert sind? Wie viele sorgen sich darum, dass sie ihnen genommen werden, in Demokratien, in unserer Nachbarschaft, in Europa? Wir müssen nur nach Polen oder nach Ungarn schauen.
Vor fünf Jahren hat Navid Kermani – ja! – über die Würde des Menschen geredet. Er hat auch gesagt: Das Grundgesetz hat „Wirklichkeit geschaffen durch die Kraft des Wortes“. Stimmt! Unsere Verfassung hat vieles vorgezeichnet und erleichtert, was dadurch gesellschaftliche Realität werden konnte: die Gleichberechtigung von Mann und Frau, von hier Geborenen und später Zugezogenen, die wachsende Mündigkeit von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, die ihre Rechte gegenüber dem Staat sicher einklagen dürfen, die Wehrhaftigkeit des Staates, die nie maßlos werden kann. Und, Herr Lindner, es geht dabei um den Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinsinn und nicht darum, dass das eine wichtiger wäre als das andere
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und dass das Gemeinsame wichtiger wäre.
Das alles ermöglicht dieser Text. Man könnte auch sagen: Für eine 70-Jährige ist diese Verfassung ganz schön jung geblieben. Und wie das bei Junggebliebenen so ist: Sie verändern sich natürlich. – Verfassungen dürfen nicht starr sein. Sie sind lebendig wie unsere Demokratie. Deswegen hat sich die Verfassung immer wieder verändert, deswegen haben wir sie auch in diesem Haus gerade erst wieder verändert – mit dem modernen Bildungsföderalismus.
Ich bin da bei Andrea Nahles: Gerade in diesen Zeiten, in denen es darum geht, welche Erde wir eigentlich der nächsten Generation übergeben, gehören die Kinderrechte – na klar! – in unser Grundgesetz, meine Damen und Herren.
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Eine Verfassung kennt keinen Endpunkt. Sie ist kein Bauplan für ein idealtypisches Deutschland, weil auch dieses Land nie fertig wird. Der Wandel unseres Landes bildet sich in ihr ab – und die Verantwortung gegenüber denen, die nach uns kommen. Eben deswegen gehört der Klimaschutz ins Grundgesetz und nicht nur in die Sonntagsreden, nicht nur in leere Versprechen, die wir jede Woche einmal hören.
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Regeln dieser Verfassung können Macht verleihen oder Macht nehmen. Änderungen müssen erarbeitet sein. Es geht nicht darum, dass alle sich einig wären, aber darum, dass es Kompromisse gibt mit wenigstens Zweidrittelmehrheiten. Und darum ist es so fatal, wenn Verfassungsänderungen auf Kosten von Minderheiten passieren wie in den 90er-Jahren beim Asylrecht. Ich finde, auch darüber müssen wir bei allem Stolz, bei aller Freude über 70 Jahre Grundgesetz reden.
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Wir müssen darüber reden, dass diese Verfassungsänderung uns in der Seele liegt, und zwar in der dunklen Seite, meine Damen und Herren.
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Unsere Verfassung ist nicht nur eine Hausordnung. Sie ist auch gemeinsame Verabredung für die Zukunft, Verantwortung zu übernehmen, vom Willen beseelt, als Gleiche in Europa, im geeinten Europa. Und dann vielleicht noch einmal Bert Brecht:
Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land.
Das, würde ich dann sagen, ist des Glückes Unterpfand.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Grundgesetz ist ein Segen der deutschen Geschichte, mehr als die Summe seiner Artikel, mehr als ein historisches Dokument. Das Grundgesetz hat die Menschen in Deutschland für sich gewonnen.
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Meine Damen und Herren, das Grundgesetz ist heute eine lebendige Verfassung für über 80 Millionen Menschen in unserem Land, und es hat die Menschen im Laufe der Geschichte zweimal für sich gewonnen.
Unser Grundgesetz ist entstanden nach nationalsozialistischer Diktatur, nach Krieg und Zerstörung. Deutschland war damals seiner geistigen Grundlage beraubt, moralisch gescheitert und entkernt. Und es waren einige wenige Entscheidungsträger im Parlamentarischen Rat, die in dieser Stunde mit dem Grundgesetz eine neue Werteordnung geschaffen haben und damit der Bundesrepublik einen ethisch-moralischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuanfang ermöglicht haben. Was damals einer kleinen Gruppe gelungen ist, wurde dann zu einer gemeinsamen, einer geteilten Überzeugung der Menschen in unserem Land. Aus einem Projekt der wenigen wurde eine Werteordnung für Millionen. Das ist ein Grund, warum wir heute feiern.
Aber das Grundgesetz hat auch ein zweites Mal die Menschen für sich gewonnen: vor 30 Jahren, als die Menschen in der DDR bei den Montagsdemonstrationen auf die Straßen gingen. Denn diese Demonstrationen waren im Kern ja auch ein Ruf nach dem Grundgesetz, nach seinen Werten und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung. In all den Jahren des Unrechts der DDR war es immer auch der dringende Appell der Präambel, „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, die den Menschen im Osten Hoffnung gegeben hat, meine Damen und Herren.
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Wenn wir heute 70 Jahre Grundgesetz feiern, dann feiern wir auch, dass Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenwürde stärker sind als Diktatur, als Stacheldraht, als Schießbefehl. Dieses Grundgesetz hat Mauern eingerissen und Menschen zusammengeführt. Heute ist unser Grundgesetz die gemeinsame Klammer, eine Klammer der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit, eine Klammer für Einigkeit, für Recht und Freiheit. Diese Klammer ist nicht nur so stark, weil sie uns als Bürger schützt, sondern vor allem, weil Bürger unsere Verfassung schützen. Das kann man zu Recht auch Patriotismus nennen.
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Mit dieser Klammer bildet das Grundgesetz übrigens auch die Voraussetzung für gelungene Integration. Wer integrieren will, der muss auch wissen, wohin – und wir wissen, wohin: in die Werteordnung unseres Grundgesetzes und seiner Grundsätze für das Zusammenleben in Deutschland. Dieses Grundgesetz grenzt niemanden aus. Es ist ein Grundgesetz für alle Menschen, egal welchen Glaubens, welcher Herkunft, welcher Kultur, welcher Tradition.
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Dieses Grundgesetz garantiert allen Menschen in Deutschland Rechte und Privilegien, aber es fordert auch etwas ein. Genau diese Erwartung einzulösen, ist der Ausgangspunkt für eine gelungene Integration.
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Der Parlamentarische Rat hat als Grundlage des Wertefundaments unseres Grundgesetzes eine christliche Prägung verankert. In „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ – so laute n die ersten Worte unserer Verfassung. Genau das ist der Ausgangspunkt für vieles, was folgt: Die Würde des Menschen, die Freiheit und Gleichheit, das Asylrecht, die Subsidiarität, der Schutz des Eigentums – diese Werte gründen auf der christlichen Soziallehre. Deswegen will ich an dieser Stelle auch denen in Erinnerung rufen, die in einer Leitkulturdebatte gerne meinen, dass eine spezifische deutsche Kultur nicht identifizierbar sei und deswegen das Grundgesetz der alleinige Maßstab sei: Ja, das Grundgesetz ist der Maßstab. Aber das ist kein Argument gegen eine Leitkultur, es ist gerade die Bestätigung unserer christlichen Werteordnung, meine Damen und Herren.
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Eine zentrale Garantie des Grundgesetzes, das sich übrigens unmittelbar auf unser tägliches Miteinander auswirkt, ist die Meinungsfreiheit. Sie ist der klare Ausgangspunkt einer offenen, positiven politischen Debattenkultur, aber übrigens auch eine tägliche Verpflichtung für uns alle, Meinungsfreiheit nicht auf die eigene Meinung zu verengen, Meinung nicht aus der Debatte auszugrenzen, sondern sie in die Mitte der Debatte zu holen, sie zuzulassen, zuzuhören, sich Diskussionen zu stellen und zu versuchen, mit Argumenten zu überzeugen, nicht mit Lautstärke.
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Aber auch das sage ich klar und deutlich: Die in unserem Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit kennt auch Grenzen. Und die Grenzen verlaufen nicht dort, wo die eigene Meinung endet, sondern dort, wo die Meinungsfreiheit missbraucht wird, um die verfassungsrechtliche Ordnung anzugreifen oder zu zerstören oder den Parlamentarismus zu untergraben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer die Religionsfreiheit abschaffen will und wer den Nationalsozialismus relativiert, der kann sich hier nicht hinstellen und sagen, er sei ein Freund des Grundgesetzes. Er ist das Gegenteil.
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Wer immer wieder Wege zum Kommunismus sucht und wer das Unrecht der DDR verharmlost, der kann sich hier nicht hinstellen und sagen, er sei ein Freund des Grundgesetzes. Er ist das Gegenteil, liebe Freunde.
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Das Grundgesetz – das ist ein bedeutender Aspekt – ist eine zutiefst föderale Verfassung. Dafür formuliert das Grundgesetz sogar eine Ewigkeitsgarantie. Heute wissen wir: Der Föderalismus ist ein absolutes Erfolgsmodell. Er ist zwar nicht jeden Tag immer gleich einfach zu erfüllen, aber dass politische Entscheidungen nicht nur in Berlin, sondern auch in den Landeshauptstädten getroffen werden, das stärkt unsere Demokratie, meine Damen und Herren, und schwächt sie nicht.
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In der Präambel unseres Grundgesetzes steht neben dem Gottesbezug übrigens ein weiterer sehr bemerkenswerter Satz: „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Das ist der Auftrag, den die Mütter und Väter des Grundgesetzes uns mit auf den Weg gegeben haben, ein Auftrag, 1949 geschrieben. In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen – vier Jahre nach Krieg und Zerstörung, acht Jahre vor Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dieses klare Bekenntnis zur europäischen Einheit, weil die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes wussten, was heute genauso gilt: Ein starkes Deutschland gibt es nur in einem starken Europa. Unsere nationale Souveränität, unseren Wohlstand, all das können wir nicht alleine, sondern nur gemeinsam in Europa sichern. Das ist heute genauso aktuell wie damals. Für dieses Europa sollten wir gemeinsam eintreten. Das Grundgesetz hat die Menschen für sich gewonnen. Europa kann die Menschen für sich gewinnen.
Danke schön.
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Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alice Weidel.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist ein solides Fundament der deutschen Demokratie. Es war ein Glücksfall der Geschichte, dass in schwerster Zeit ein Neuanfang gewagt werden konnte, der in der besten Tradition der deutschen Verfassungsgeschichte und der deutschen Freiheitsbewegung steht. Dieses Erbe verpflichtet uns zu achtungsvollem Umgang.
Bei allem berechtigten Stolz dürfen wir uns nicht darauf ausruhen, dass es in Deutschland so lange Zeit gelungen ist, die im Grundgesetz verbrieften Rechte und Prinzipien mit Leben zu erfüllen. Das Grundgesetz ist nicht vollkommen. Es hat Schwächen, vor allem aber drohen ihm Gefahren. Sie sind ernst; denn sie gehen von jenen aus, die sich am lautesten als seine Verteidiger aufspielen. Dass Verfassungsbuchstabe und Verfassungswirklichkeit zuletzt immer weiter auseinanderklaffen, ist ein Alarmsignal.
({0})
– Klar, dass Sie am lautesten brüllen!
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder die Wissenschaftsfreiheit oder die Kulturfreiheit?
Wir stehen auf brüchigem Boden. Der Wohlstand, auf dem der innere Zusammenhalt der Gesellschaft unter dem Schirm des Grundgesetzes beruht, ist in akuter Erosionsgefahr. Zehntausende produktive industrielle Arbeitsplätze gehen gerade erdrutschartig verloren: bei Autobauern und Zulieferindustrie, bei Chemie- und Pharmaunternehmen, bei Energieversorgern und Kraftwerksbauern, Mittelständlern und Konzernen. Die Politik berauscht sich an Statistiken, die hohe Beschäftigungszahlen bei stagnierendem Wirtschaftswachstum vorgaukeln. Pizzaboten, Paketzusteller und Fahrradkuriere sind aber kein Ersatz für produktive Arbeitsplätze, die den Wohlstand erst schaffen, den der Sozialstaat verteilt.
({1})
Der politisch erzwungene Umbau Deutschlands vom Hochleistungsindustriestandort zum Niedriglohnland vernichtet die ökonomische Substanz, die den Sozialstaat am Laufen hält.
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Und damit wird auch das in Artikel 20 des Grundgesetzes festgeschriebene Sozialstaatsgebot zum toten Buchstaben und zur leeren Hülle.
({3})
Das ist eine direkte Folge falscher Regierungspolitik.
In der deutschen Nachkriegsgeschichte wird die Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel stets mit dem Makel dreier eklatanter Brüche verbunden sein: der Euro-„Rettungs“politik, die nationales und europäisches Recht missachtet und sich über die Souveränitätsrechte des Volkes und seiner Vertreter mutwillig hinwegsetzt; der „Energie- und Autowende“, die Eigentumsrechte willkürlich missachtet, und der bis heute ungelösten Migrationskrise, die unter fortgesetztem Bruch von Artikel 16a Grundgesetz illegale Einwanderung über sichere Drittstaaten faktisch und in einer Dimension hinnimmt, welche die Integrität des Souveräns, des Staatsvolkes, dauerhaft und dramatisch verändern wird.
({4})
Damit haben Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, unserer Rechts- und Verfassungsordnung schweren Schaden zugefügt.
({5})
Das Volk, der Souverän, wurde bei alledem nicht ein einziges Mal gefragt. Und das ist eine der unleugbaren Schwächen unseres Grundgesetzes: das Misstrauen gegenüber dem Bürger, sehr geehrte Damen und Herren.
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Nach der Wiedervereinigung wurde in den 90er-Jahren die Gelegenheit vertan, diese Schwäche zu heilen. Der Auftrag, den das Grundgesetz selbst in Artikel 146 erteilt hatte, nämlich dass das gesamte deutsche Volk in freier Selbstbestimmung sich eine neue Verfassung geben sollte, wurde nicht erfüllt. Statt vom gesamten deutschen Volk, wurde die Wiedervereinigung von der Volkskammer der untergehenden DDR in einem nüchternen Beschluss vollzogen.
Der damit obsolet gewordene Artikel 23, nach dem der Beitritt der mitteldeutsc hen Bundesländer zum Grundgesetz erfolgte,
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war von vorbildlicher Lakonik. Er wurde ersetzt durch einen neuen Artikel 23, der die Weiterentwicklung der Europäischen Union zum Staatsziel erklärt, aber in seinen zahlreichen Absätzen weder dem Volk noch seinen Vertretern das letzte Wort gibt, sondern Bundestag und Bundesrat lediglich ein Recht zur „Stellungnahme“ einräumt. Faktisch also ein Verlust an Souveränität,
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und ein Artikel, der ein ums andere Mal als Freibrief für weitreichende Übertragungen von Hoheitsrechten ausgenutzt wird. Es besteht hier fraglos Verbesserungsbedarf.
Denn es ist ja klar: Jede Verfassung, auch die beste, bedarf der kontinuierlichen Weiterentwicklung. Dabei gilt: Je prägnanter ein Verfassungstext, desto größer ist dabei seine Autorität. Je mehr Detailregelungen dagegen aufgenommen werden, desto größer die Gefahr der Verengung und Verwässerung. Die Achtung vor dem Geist des Grundgesetzes gebietet, Bewährtes schärfer herauszuarbeiten, Überholtes anzupassen und Anachronistisches zu streichen.
Das heißt zum Beispiel, den hunderttausendfachen Missbrauch des individuellen Grundrechtsanspruchs auf Asyl durch eine institutionelle Garantie mit einfachgesetzlicher Regelung zu ersetzen.
Das bedeutet: Schluss mit ewig lähmenden Gerichtsverfahren Ausreisepflichtiger.
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Das heißt, Deutsch als Staatssprache festzuschreiben, was vor 70 Jahren noch als unnötige Selbstverständlichkeit erschienen wäre.
Und das bedeutet, Volksabstimmungen und Volksentscheide auch auf Bundesebene endlich in der Verfassung zu verankern,
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damit das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes an seinen ihm zustehenden Platz zurückkehrt.
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Nächste Rednerin ist die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz, Dr. Katarina Barley.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz erlassen. Es enthält unglaublich viele weitsichtige, kluge, wichtige Artikel, von denen heute schon einige zur Sprache gekommen sind. Ich möchte einen Satz herausgreifen, der heute auch schon zur Sprache gekommen ist, aber dem vielleicht gerade nach der letzten Rede noch einmal besondere Bedeutung zukommt:
… von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …
So steht es in der Präambel. Das zeigt die Zuversicht und die Weitsicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes; und das ist gerade in diesen Zeiten ein unglaublich wichtiger Satz.
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Dieses damals knapp 1 400 Gramm schwere Buch war der Grundstein unseres Rechtsstaates und der Beginn einer bis heute andauernden Erfolgsgeschichte. Nach Jahren der Diktatur, der Menschenverachtung, der Vernichtung entstand aus diesem Deutschland innerhalb sehr kurzer Zeit ein funktionierender Rechtsstaat, dem die Wahrung der Menschenrechte oberstes Prinzip ist.
Das Grundgesetz hat sich in guten wie in schlechten Zeiten unserer Bundesrepublik bewährt. Sei es in der Zeit des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg, sei es in Phasen der Rezession, sei es in der Zeit der Finanzkrise – das Grundgesetz ist ein Stabilitätsanker der Politik; denn das Grundgesetz gibt die Politik eben nicht vor, es gestaltet nicht selbst, sondern es setzt einen sehr weit gefassten Rahmen.
In der politischen Debatte hat man manchmal den Eindruck, dass das Grundgesetz geradezu inflationär zitiert wird – für dieses, für jenes. Auch das haben wir eben wieder gesehen. Für jedes Argument wird es herangezogen. Dabei ist die Wahrheit, dass das Grundgesetz uns Spielraum lässt für unsere politische Gestaltung. Es bleibt unsere Aufgabe, vor allen Dingen Aufgabe dieser demokratischen Institution, des Deutschen Bundestages, diesen Spielraum auszufüllen.
Doch auch wenn das Grundgesetz einen weiten Spielraum lässt, ist es nicht beliebig.
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Es vereint und definiert unsere Grundwerte. Diese Werte – Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat und einige mehr – sind das Fundament, auf dem unser Staat und unsere Gesellschaft stehen. Sie sind nicht selbstverständlich. Immer wieder kommt es in der politischen Debatte, und zwar nicht nur von extremistischer Seite, zu Angriffen auf fundamentale Prinzipien unserer Verfassung. Besonders augenscheinlich wird das bei Angriffen auf den Rechtsstaat. Ich werde nicht müde, das immer wieder auch von diesem Pult aus laut zu sagen und anzuprangern; denn wir dürfen solche Grenzverschiebungen nicht langsam einsickern lassen.
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Wir dürfen nicht zulassen, dass man sich daran gewöhnt.
Wenn die Verbindlichkeit von Gerichtsentscheidungen infrage gestellt wird, wenn das Einlegen gesetzlich vorgesehener Rechtsmittel als illegitime Verzögerung begriffen wird, dann muss man immer wieder sagen: Das Rechtsstaatsprinzip ist kein wolkiges und substanzloses Prinzip; es ist kein unverbindlicher Programmsatz. 70 Jahre Grundgesetz bedeutet auch, daran zu erinnern, dass Rechtsmittel, ein faires Verfahren, das Prinzip des gesetzlichen Richters, Freiheitsrechte Ausdruck einer demokratischen, fortschrittlichen Gesellschaft sind, dass sie staatliche Macht begrenzen und begrenzen sollen. Das alles ist Ausdruck dessen, dass dieser Staat, diese Bundesrepublik keine Untertanen, sondern nur Bürgerinnen und Bürger kennt. Und das ist eine gute Entwicklung.
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Wir dürfen das Grundgesetz und seine Werte niemals als selbstverständlich erachten. Wir dürfen dieses Jubiläum nicht nur feiern, sondern wir müssen auch etwas tun. Wir müssen aktiv für demokratische, rechtsstaatliche Prinzipien einstehen, gerade heute. Das sieht man auch daran, dass die Zustimmung zu den Werten, die wir heute hier beschwören, international eher abnimmt. Während bis zum Jahr 2005 die Zahl der repräsentativen Demokratien weltweit stieg, hat sich dieser Trend seitdem wieder umgekehrt. Auch in Europa erleben wir, dass Staaten für uns elementare Errungenschaften wie Gewaltenteilung und rechtsstaatliche Gerichtsverfahren zunehmend infrage stellen. Das ist Anlass zu großer Sorge, aber das ist eben auch Anlass, unsere Werte wieder selbstbewusster zu vertreten, zu ihnen zu stehen, stolz auf sie zu sein. Es ist Anlass, sie nach innen wie nach außen zu verteidigen.
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Gerade wir hier in Deutschland wissen, welche Bedeutung dieses Grundgesetz für die demokratische, die rechtsstaatliche sowie die wirtschaftliche Entwicklung und vor allen Dingen auch die soziale Entwicklung unseres Landes hat und gehabt hat. Wir sollten diese Erfahrungen dort einbringen, wo das derzeit besonders nötig ist. Und wir sollten wieder den Weg hin zu einer europäischen Verfassung mitgestalten, „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Danke schön.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Marco Buschmann, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute war viel die Rede von Müttern und Vätern des Grundgesetzes. Ich möchte mal ein anderes Bild bemühen: Das Verfassungsleben ist ja in gewisser Weise eine Art Ehe zwischen der sozialen Tatsache des Staates und dem normativen Gestaltungsanspruch des Rechts. Würden wir heute über eine 70 Jahre währende Ehe unter Menschen sprechen, dann würden wir Gnadenhochzeit feiern; und das ist Anlass zu großer Freude.
({0})
Das Grundgesetz hat selber viel dazu beitragen, dass wir diese außergewöhnlichen 70 Jahre erleben durfte n – hier ist schon angeklungen, dass ein solch langer Zeitraum in der deutschen Verfassungsgeschichte ungewöhnlich ist –; es war nämlich nicht nur ein karges Grundgesetz – das Wort ist hier schon gefallen – mit einem kargen Text, sondern es war eine unglaublich moderne Verfassung, die mit unglaublich viel Mut gespickt war. Vieles ist uns heute selbstverständlich; aber dass Grundrechte einklagbare Rechte sind, dass der Einzelne, dass jedermann sich an ein Verfassungsgericht wenden kann – dass es überhaupt ein Verfassungsgericht gibt –, das war Mitte des 20. Jahrhunderts revolutionär, nicht nur für das deutsche Verfassungsrecht. Wir sehen von daher, dass sich dieser Mut ausgezahlt hat und auch viel dazu beigetragen hat, dass wir heute diese Gnadenhochzeit feiern können.
({1})
Was aber eine Gnadenhochzeit im Staat von einer Gnadenhochzeit unter Menschen unterscheidet, ist, dass man bei Menschen sich sicherlich in erster Linie über das Vergangene freuen kann. Nach 70 Jahren Ehe weiß man, man hat das Gröbste schon hinter sich.
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Unser Auftrag ist aber ein anderer. Unser Auftrag ist, nach 70 Jahren Freiheit die Frage zu stellen: Was können wir dazu beitragen, dass es mindestens noch weitere 70 Jahre Freiheit werden?
Wir sind heute sehr stolz darauf – einige Redner haben das zu Recht schon gesagt –, dass wir die Lehren aus der Weimarer Zeit gezogen haben. Wir haben unsere Lektion aus Weimar gelernt; das zeigen ganz konkrete Änderungen in unserem Verfassungstext. Aber die Feinde der Freiheit haben immer andere Gesichter. Die Feinde der Freiheit suchen sich wie Wasser immer neue Wege, um das Fundament der Freiheit aufzuweichen. Wenn wir heute nach Polen und nach Ungarn schauen, sollten wir nicht nur mit dem Finger auf sie zeigen, sondern auch uns selbst die Frage stellen: Haben wir eigentlich schon die Lehren aus den Ereignissen in Polen und Ungarn gezogen? Wie wird dort beispielsweise die Unabhängigkeit der Gerichte unterspült? Dort wird mit einfachem Gesetz vorgegangen. Nehmen Sie die Präsidentin des Obersten Gerichts von Polen, Malgorzata Gersdorf: Sie ist über eine neue Altersregelung aus dem Amt gedrängt worden. – Ich bin übrigens sehr froh darüber, dass sie für ihren Einsatz mit einem Preis ausgezeichnet worden ist, der nach einem der Väter des Grundgesetzes benannt ist, nämlich mit dem Theodor-Heuss-Preis.
Meine Damen und Herren, in diesen Ländern wird mit einfachem Gesetz vorgegangen: Altersbestimmungen werden neu geregelt, Spruchkörper werden erweitert, Zusammensetzungsregelungen werden verändert. In diesen Ländern hat es eine einfache Mehrheit geschafft, sich die Justiz untertan zu machen. Deshalb sollten auch wir uns die Frage stellen: Wäre das auch in Deutschland möglich? In Wahrheit lautet die Antwort: Ja! Deshalb sollten wir uns auch fragen, ob wir die Lektionen aus Polen und Ungarn gelernt haben und solche Regelungen nicht auch in Deutschland in den Rang formellen Verfassungsrechts erheben sollten. – Für mehr bleibt an dieser Stelle bei meiner Redezeit nichts übrig.
Herzlichen Dank.
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Niema Movassat, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz feiert seinen 70. Geburtstag, und wir haben eine gesellschaftliche Debatte über die Enteignung großer Konzerne; das hat ja die Rede von Herrn Lindner gezeigt. Ich möchte darauf ein etwas anderes Licht werfen.
Artikel 15 des Grundgesetzes erlaubt die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln sowie von Grund und Boden. Mittlerweile sprechen sich laut einer repräsentativen Umfrage 49 Prozent der Bevölkerung für die Enteignung großer Wohnungskonzerne aus. Nur 29 Prozent sind dagegen, 22 Prozent hatten in der Umfrage keine Meinung.
Die großen Immobilienkonzerne haben für massive Mietsteigerungen in den Ballungsgebieten gesorgt. Selbst Normalverdiener können sich in Berlin, Hamburg oder München keine Wohnung mehr leisten. Die hohen Mieten sorgen für volle Taschen bei den Konzernen. Allein Vonovia hat im letzten Jahr über 1 Milliarde Euro Gewinn gemacht. Die Bundesregierung versagt hier und tut praktisch nichts gegen die Mietpreisexplosion. Deshalb fordert hier in Berlin eine starke zivilgesellschaftliche Initiative die Vergesellschaftung des Wohnungsbestandes von Deutsche Wohnen, von Vonovia und Co. Angesichts der Wohnungsnot ist das eine wichtige Forderung, die wir als Linke unterstützen.
({0})
Gegen die Vergesellschaftung wird oft eingewandt, dass die Entschädigung der Eigentümer zu teuer sei. Aber schon im Parlamentarischen Rat sagte der CDU-Abgeordnete und Verfassungsrechtler Hermann von Mangoldt auf die Frage, ob eine Entschädigung auch für 1 Pfennig möglich sei – ich zitiere –: Ja, diese Möglichkeit besteht.
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Heute ist die herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft, dass eine Entschädigung unter Verkehrswert möglich ist.
Im Übrigen sind Enteignungen nichts Seltenes. Aktuell finden 200 Enteignungsverfahren für den Straßenbau statt. Zuständig dafür ist Enteignungsminister Andreas Scheuer von der CSU.
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Aber die Berliner Initiative will nicht wie Enteignungsminister Scheuer Bauern enteignen, um Autobahnen zu bauen, sondern sie will große Wohnungskonzerne enteignen, um Menschen ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu geben. Das finde ich deutlich sympathischer.
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Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Verfassung wirtschaftspolitisch neutral ist. Das Grundgesetz schreibt – da muss vor allem die FDP stark sein – den Kapitalismus nicht fest. Warum sollen zum Beispiel nicht diejenigen, die in einer Fabrik arbeiten, auch Eigentümer des Unternehmens sein?
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Die Familie Quandt – sie ist der Eigentümer von BMW – hat im letzten Jahr 1,1 Milliarde Euro Dividende eingestrichen.
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Für diese Dividende haben die BMW-Beschäftigten geschuftet, nicht die Quandts. Es darf nicht so weitergehen, dass wenige fast alles besitzen und viele sich krummarbeiten und wenig haben. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten, dass die Wirtschaft den Menschen dient, dass wirtschaftliche Macht nicht in den Händen weniger konzentriert ist. Die heutige wirtschaftliche Realität sieht leider anders aus. Deshalb müssen wir auch über die Vergesellschaftung
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großer Wohnungskonzerne und großer Unternehmen reden, um gegen die Ungleichheit zu kämpfen.
Danke schön.
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Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Unrelativierbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen und die tief in unserer Verfassung implementierte Wehrhaftigkeit unserer Demokratie und unsere Rechtsstaatlichkeit sind gerade heute für uns von überragender Bedeutung, meine Damen und Herren.
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Die überragende Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit drückt sich auch in der Gewaltenteilung aus, in der individuellen gerichtlichen und parlamentarischen Kontrolle exekutiver Entscheidungen. Diese parlamentarische Kontrolle ist mitnichten ein mangelndes Vertrauen oder gar eine Phobie: nicht gegenüber der Exekutive, nicht gegenüber Behörden oder gar ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Diese Kontrolle ist gelebte Rechtsstaatlichkeit und das dokumentierte Vertrauen auf die Grundwerte und in die Mechanik unserer Verfassung.
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Ich würde mir sehr wünschen, dass wir das alle, Koalition und Opposition, hier zukünftig mehr verinnerlichen, meine Damen und Her ren.
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Aber es gibt derzeit auch massive Herausforderungen im Digitalen, beispielsweise Unternehmen, die unser Leben und Verhalten bis auf das letzte Stück Privatsphäre vermessen und monetarisieren wollen und sich dabei nicht um unsere Verfassung scheren, sondern ihre eigenen Gemeinschaftsstandards durchsetzen wollen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir die digitale Dimension der Grundrechte massiv stärken und der Schutzverantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern im Digitalen endlich gerecht werden; denn wenn wir die Bürgerrechte in der digitalen Welt verlieren, verlieren wir sie in allen Lebensbereichen. Das müssen wir mit allen demokratischen Mitteln verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dazu gehört auch – das sage ich vor allen Dingen in Richtung des Innenministeriums –, das Bundesverfassungsgericht im schönen Karlsruhe nicht ständig als bürgerrechtliches Korrektiv für die eigene, allzu oft unsere Freiheitsrechte ignorierende Gesetzgebung zu missbrauchen.
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Nur wenn wir als Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen staatlicher Macht selbst beachten und wertschätzen, können wir glaubhaft gegenüber den Ländern und Systemen auftreten, die Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte tagtäglich mit Füßen treten, grundlegende Prinzipien der Gewaltenteilung fortlaufend missachten und die eigenen Bürgerinnen und Bürger durch Gesichtserkennung und Social Scoring zum Objekt totalitärer Überwachung degradieren. Das ist mit unserer Verfassung nicht zu machen, meine Damen und Herren.
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In diesen zweifelsohne besonderen und vielleicht auch schwierigen Zeiten fliegt unsere Verfassung nicht auf Autopilot. Wir müssen wehrhaft für sie streiten, um ihre konstituierenden Werte zu bewahren, sodass wir auch zum 80. Jubiläum das sagen können, was wir heute sagen können: Unser Grundgesetz hat sich bewährt. Es ist stark und wehrhaft. Darauf können wir stolz sein.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können uns heute gratulieren, nämlich zur besten Verfassung, die Deutschland je hatte. Dabei war es alles andere als wahrscheinlich, dass es damals in Bonn die Mitglieder des Parlamentarischen Rates schaffen würden, eine glückliche Entwicklung unseres Landes in dem Grundgesetz grundzulegen, das sie entworfen und verabschiedet haben: von dem besiegten und auch moralisch zerstörten Land hin zu einer demokratischen, föderalen, sozialen Republik und hin zu einem echten Rechtsstaat mit einem modernen und christlich geprägten Bild vom Menschen, das ganz bewusst den Bruch zu den Jahren davor vollzog, den Jahren des Krieges, des Holocaust, der Naziherrschaft.
Der Artikel, der jedem Menschen das gleiche Maß an Würde, Freiheit und Recht zuspricht, steht ganz bewusst am Anfang unseres Grundgesetzes. Es begründet damit auch ein modernes Staatsverständnis, das erstmals ausdrücklich staatliche Macht in jeder Form an die Grundrechte bindet. Mit dem Bekenntnis zur unantastbaren Menschenwürde, zu den Menschenrechten und mit der Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht macht das Grundgesetz unmissverständlich klar, dass der Staat für den Menschen da ist und nicht andersrum.
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Uns erscheint das in Deutschland selbstverständlich. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten aber, dass dies gerade nicht der Normalfall ist. Auch heute haben wir dafür viele Beispiele. Einige wurden schon genannt, und es gibt noch schlimmere, etwa Länder, in denen Herrscher zum eigenen Machterhalt Krieg gegen das eigene Volk führen.
Deshalb bietet das Grundgesetz wirklich alles auf, damit es auch so bleibt, dass die Grundrechte effektiv abgesichert sind. Dazu gehört die Ewigkeitsgarantie; sie wurde schon angesprochen. Dazu gehört auch das Bundesverfassungsgericht – eine Neuentwicklung in dieser Verfassung –, das sogar Gesetze aufheben kann, das Grundrechte einzelner Bürger sogar gegen die Regierung durchsetzen kann.
Im Alltag vielleicht noch wichtiger, neu und von zentraler Bedeutung ist die Rechtsweggarantie des Artikels 19 Absatz 4, die gegen jeden Eingriff der öffentlichen Gewalt einen effektiven Rechtsschutz bietet, zusammen mit einer wirklich unabhängigen und gut arbeitenden Justiz mit unabhängigen und hochqualifizierten Richtern. Das gibt jedem Bürger die alltägliche Gewissheit, dass er nicht ausgeliefert ist, dass er sich gegen Maßnahmen – von der kommunalen Ebene bis hin zur Bundesebene – wehren kann und dass der Schwächere vor dem Stärkeren geschützt wird, in welchem Gewand er auch daherkommt. Für diese Gewissheit ist wichtig, dass wir den Pakt für den Rechtsstaat auf den Weg gebracht haben. Auch das ist gelebter Grundrechtsschutz, den wir täglich erbringen.
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Das Grundgesetz bindet die staatliche Macht an demokratische Legitimation und föderale Teilung. Es muss immer wieder neu erworben werden. Ralph Brinkhaus hat darauf hingewiesen, dass wir das einzige Verfassungsorgan sind, das eine eigene, unmittelbare Legitimation hat. Ich möchte noch einmal betonen, dass vor allem die direkt gewählten Abgeordneten aus den Wahlkreisen ein besonderer Ausdruck der unmittelbaren, direkten Demokratie sind und eine entsprechende Legitimation haben. Deshalb sollten wir sehr vorsichtig sein, wenn wir da rangehen wollen. Die direkte Wahl eines Abgeordneten ist wirklich die unmittelbare Entscheidung für einen einzelnen Volksvertreter. Diesen Weg sollten wir dem Bürger lassen und nicht überall die Parteien dazwischenschalten, meine lieben Kollegen von den Oppositionsfraktionen, die Sie gerne da rangehen wollen. Hier sind wir dagegen.
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Das alles sind Lehren aus einigen Schwächen der Weimarer Republik und der Katastrophe der Nazizeit. Aber die Verfassung hat sich seither in 70 Jahren bewährt, auch bei Fragen, die den Vätern und Müttern des Grundgesetzes damals im Leben nicht in den Sinn gekommen wären. Es gibt bei der Auslegung von Gesetzen folgenden Satz: Das Gesetz kann sogar klüger sein als der Gesetzgeber. – Er ist nicht ganz unbestritten. Wenn er aber gilt, dann gilt er jedenfalls auch für das Grundgesetz.
Das Grundgesetz enthält auch den von den vier Frauen miterstrittenen Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Das wurde irgendwann einmal beim Wort genommen. Das wurde konsequent umgesetzt, auch wenn erst viele Jahre später. Dann war Schluss mit Stichentscheid und irgendwelchen Erlaubnissen. Möglicherweise hat sich nicht jeder im Parlamentarischen Rat das so vorgestellt. Es gibt sogar die Theorie, dass der Mut deshalb so groß war, weil man gedacht hat, dass alles nur ein Provisorium ist. Aber dieses Provisorium hat sich wirklich bewährt, gerade in diesen Punkten. Etwas anderes können wir uns gar nicht mehr vorstellen. Ein Dank an die Mütter des Grundgesetzes an dieser Stelle!
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Ähnlich verhält es sich mit folgendem Satz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Dieser Satz bedeutet auch: unabhängig von der sexuellen Orientierung. Das hat viele Konsequenzen gehabt, vom Steuerrecht über das Familienrecht bis hin zum Strafrecht. Vielleicht war auch das nicht jedem damals bewusst. Aber das ist konsequent und ist angelegt in den Grundrechten, die ganz bewusst am Anfang der Verfassung stehen. Auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – den Müttern und Vätern des Grundgesetzes damals völlig fremd – ist heute in Zeiten der öffentlichen Medien, des Neulandes eine zentrale Schutzvorschrift und dient – ganz wichtig – dem Schutz der Privatsphäre.
In vielen Punkten hat das Bundesverfassungsgericht entscheidende Impulse gegeben. Aber noch mehr ist es unsere eigene Aufgabe als erste und unmittelbar legitimierte Gewalt, das Grundgesetz immer wieder mit Leben zu erfüllen. Wir müssen hier vorausdenken, was zu tun ist, damit die Grundrechte auch in Zukunft Substanz haben, dass sie auch in Zukunft gewahrt bleiben. Es ist Gestaltungsaufgabe der Politik, das ganz konkret immer wieder zu tun.
Die Würde des Menschen auch in Zeiten der modernen Medizin und Fortpflanzungstechnik zu bewahren, verlangt den Schutz des menschlichen Lebens in allen Phasen, vom Anfang bis zum Ende.
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Ob Sterbehilfe, PraenaTest oder Embryonenforschung, wir müssen schauen, wo die Würde und das Lebensrecht Grenzen ziehen und wo sie vielleicht noch mehr Förderung und Engagement fordern. Das sind oft schwierige Entscheidungen, die wir an diesem Kompass ausrichten müssen.
Die individuelle Freiheit des Menschen braucht Wahlmöglichkeiten. Sonst ist sie nichts wert. Es braucht Bildungschancen, Arbeitsplätze und Freizügigkeit in Europa. Das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit müssen wir immer wieder neu austarieren, und zwar vor allem aus dem Blickwinkel derjenigen, die Opfer sind, aus dem Blickwinkel der Kinder, die Opfer von Missbrauch werden und nicht Verfassungsbeschwerde einlegen können, sondern von uns hier in ihren Rechten vertreten werden müssen.
Dazu gehört auch ganz konkret die Aufgabe, die Informations- und Meinungsfreiheit im Netz zu gewährleisten. Dabei geht es um den Schutz vor Hass, Hetze, Mobbing und Manipulation sowie den Schutz des geistigen Eigentums. Wir sollten auch darüber nachdenken, was es für die Meinungsfreiheit bedeutet, dass nur noch private Anbieter die Infrastruktur zur Verfügung stellen, wo wir das gewohnte Recht auf Meinungsfreiheit ausüben können. Müssen wir dann nicht – genauso wie im Bereich des Rundfunks – zu einer dualen Struktur kommen,
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in der auch der Staat ein solches Angebot vorhält? Dann kann jeder wählen, wohin er geht. Aber wir dürfen uns dort nicht abhängig machen.
({6})
Der französische Historiker Ernest Renan hat gesagt, eine Nation sei geprägt vom Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit und von dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft. Unser Grundgesetz stiftet genau das, egal woher wir kommen, welchen Glauben wir auch haben, welche Sprache wir sprechen: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft. So sagte das Norbert Lammert. Ich bin mir noch nicht sicher, ob das in jedem Punkt ein Selbstläufer ist. Aber wir haben die Chance und die Aufgabe, daran zu arbeiten.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nächster Redner: Stephan Brandner, AfD.
({0})
Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz ist es, das aus unserem Staat einen demokratischen Rechtsstaat macht, gemacht hat. Mit der Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht, mit der Bindung der Gesetzgebung, also von uns, an die verfassungsmäßige Ordnung wurden die Grundanliegen dieses Rechtsstaates in den letzten 70 Jahren verwirklicht. Was die Verfassungsgeber wollten, das ist uns, der AfD, als inzwischen einziger Partei der Rechtsstaatlichkeit ein Anliegen,
({0}): Büttenrede!)
also vor allem Grundrechte, Gewaltenteilung und unabhängige Gerichte.
Doch immer mehr, massiv zunehmend seit einigen Jahren, wird das Recht, wird der Rechtsstaat von Ihnen von den Altparteien und Altfraktionen ignoriert, gebogen und mit den Füßen getreten.
({1})
Der Rechtsstaat, meine Damen und Herren, erodiert, und das auf nahezu sämtlichen Ebenen.
Fangen wir ganz oben an, beim Staatsoberhaupt, beim Bundespräsidenten, der auf der Tribüne ist. Guten Tag, Herr Steinmeier! Sie machten offen Werbung für eine linksextremistische Veranstaltung, wie der Verfassungsschutz von Sachsen vor kurzem herausgefunden hat,
({2})
für eine Veranstaltung, auf der sogenannte Musikgruppen ihre primitiven Gewaltfantasien ausgelebt hatten. Ich meine die peinliche Veranstaltung in Chemnitz.
({3})
Sie haben Gratulationsschreiben an menschenverachtende, mörderische Regime gesandt. Ich meine den Iran.
({4})
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung, sämtliche Altparteien – –
Herr Kollege Brandner, –
({0})
Herr Präsident?
– der Bundespräsident ist unser aller Staatsoberhaupt.
({0})
Das habe ich gesagt.
Wenn er uns die Ehre erweist, an unserer Debatte teilzunehmen, ist das für Sie nicht die Gelegenheit, ihn zu kritisieren. Bitte unterlassen Sie das!
({0})
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung, sämtliche Altparteien sind verantwortlich für millionenfachen Rechtsbruch im Rahmen der von ihnen verursachten Masseneinwanderung und damit auch mitverantwortlich für die daraus resultierenden Morde, Tötungsdelikte, Vergewaltigungen und viele andere Verbrechen und Vergehen,
({0})
massenhafte Verstöße gegen Artikel 16a Grundgesetz; verantwortlich für die gesellschaftlichen Verwerfungen und Kosten in vielfacher Milliardenhöhe,
({1})
an denen noch Generationen von Deutschen leiden werden und über die dieses Parlament nie entschieden hat.
({2})
Verantwortlich sind Sie alle für politische Verfolgungen alles Bürgerlichen, alles Vernünftigen, alles Deutschen im besten Sinne und für die politische Instrumentalisierung des Inlandsgeheimdienstes gegen die größte Oppositionsfraktion. Sie sind verantwortlich für Arbeitsplatzverluste und Berufsverbote, für tätliche Angriffe auf Personen und Sachen. Und das alles unter dem Mantel des Kampfes gegen rechts! Dieser Kampf gegen rechts, meine Damen und Herren von den Altfraktionen, ist pervertiert zu einem Kampf gegen das Recht.
({3})
Das ist auf Ihrem Mist gewachsen. Alles Verstöße gegen die Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes!
({4})
Nehmen Sie die Zensurgesetze des Herrn Maas – Verstoß gegen Artikel 5. Nehmen Sie die Beliebigmachung der Ehe – Verstoß gegen Artikel 6 Grundgesetz.
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Meine Damen und Herren, die Liste dessen, was die Gründer unserer Republik, was die Väter – es waren übrigens 61 – und Mütter – es waren vier – des Grundgesetzes in ihren schlimmsten Träumen nie und nimmer hätten erahnen können, ließe sich nahezu beliebig verlängern.
({6})
Das alles ist möglich, obwohl es unser Grundgesetz gibt. Das ist alles möglich, weil Sie das Grundgesetz zwar in Ihren Sonntagsreden loben, aber nicht wirklich leben, meine Damen und Herren von den Altparteien.
({7})
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam das Grundgesetz leben, w ieder mit demokratischem Geist erfüllen
({8})
und, ja, an einigen Stellen auch verbessern.
Wir haben ja heute schon ein paar Wünsche von Ihnen gehört. Wir als AfD sind da weiter gegangen: Wir haben sogar einen Antrag gemacht, wir waren parlamentarisch tätig. Wir werden den nachher unter Tagesordnungspunkt 31 f ohne Debatte in die Ausschüsse überweisen.
({9})
Ich nenne einige Punkte, die uns am Herzen liegen: Direktwahl des Bundespräsidenten; wir wollen direktdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen stärken, wir wollen die Amtszeitbegrenzung der Bundeskanzlerin einführen, und wir wollen die Gewaltenteilung wiederherstellen.
({10})
Daher, meine Damen und Herren, fordern wir von der AfD Sie auf: Kehren Sie von den Altparteien zurück auf den Boden unseres Grundgesetzes!
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Leben Sie den Geist des Grundgesetzes wieder so, wie ihn sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes vorgestellt haben, und nicht so, wie Sie ihn in der Erosion unseres Rechtsstaats pervertieren.
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Und vor allem, meine Damen und Herren – lassen Sie mich das zum Abschluss sagen –
Herr Kollege Brandner, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
({0})
– ich falte bereits mein Manuskript, Herr Präsident –:
({0})
Eigentlich ist es eine Beerdigungsveranstaltung. Jede einzelne Richtlinie, jede einzelne Verordnung der Europäischen Union steht inzwischen im Rang über unserem Grundgesetz, und das haben Sie zu verantworten. Dafür keinen Dank!
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Nur ein Satz zum Vorredner: Wer so grob gegen die Parteienfinanzierung verstößt, wer tief im Spendensumpf steckt,
({0})
der sollte sich hüten, hier anderen Rechtsverstöße vorzuwerfen.
({1})
Sie geben allen Anlass, an Ihrer Verfassungstreue zu zweifeln, Kollege Brandner, liebe Kollegen von der AfD.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Happy Birthday, Grundgesetz! Herzlichen Glückwunsch unserer Verfassung zum 70. Geburtstag! Selten war ein 70-jähriger Jubilar so verdienstvoll und modern zugleich. Seit 70 Jahren leben wir in Deutschland in Frieden und Freiheit. Wir leben wirklich in guter Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({2})
Dabei war die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes alles andere als absehbar, als die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat unsere Verfassung entwickelten. Ursprünglich nur als Provisorium gedacht, ist das Grundgesetz seit 70 Jahren Garant für eine stabile Demokratie und unsere freiheitliche Gesellschaft. Und wenn wir uns anschauen, in welcher Verfassung sich andere Staaten befinden, dann kann man nur sagen: 70 Jahre Grundgesetz sind eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Wir leben in guter Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Grundgesetz war dabei die Reaktion auf die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten, als Bollwerk für Demokratie und Freiheit. Das zeigt sich, um ein Beispiel zu nennen, ganz besonders an der Abschaffung der Todesstrafe. Die gnadenlose NS-Justiz verhängte über 30 000 Todesurteile in willkürlichen Prozessen, und deshalb war es nur konsequent, dass das Grundgesetz die Todesstrafe ausdrücklich für abgeschafft erklärt hat. Das steht beispielhaft dafür, dass das Grundgesetz an den Werten der Menschenwürde, Humanität und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet ist.
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Das kommt uns heute selbstverständlich vor, genauso wie uns viele andere Rechte selbstverständlich vorkommen, die als Grundrechte im Grundgesetz normiert sind. Aber die Mehrheit der Menschen auf unserer Welt lebt in Staaten, in denen die Todesstrafe noch gilt. Das zeigt, wie modern schon vor 70 Jahren die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes vorgegangen sind.
Umso erbärmlicher ist es, dass wir heute aus der AfD-Fraktion ernsthaft den Vorschlag hören, über das Verbot der Todesstrafe nachzudenken. Das ist ganz klar gegen den Wert unseres Grundgesetzes. Das hat nichts mit Humanität und Rechtsstaatlichkeit zu tun, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir sorgen dafür, dass solche Gedanken in Deutschland nicht mehrheitsfähig werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist erfreulich, dass fast 90 Prozent der Deutschen das Grundgesetz für sehr gut oder für gut halten. Es gibt also eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Das zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger vom Wert der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überzeugt sind und das unterstützen, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes geschaffen haben. Dieses Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere Verfassung auf diesem hohen Wert zu halten, das ist unser Auftrag, und das müssen wir durch unsere Arbeit hier im Parlament immer wieder rechtfertigen und bestätigen.
Das Grundgesetz sichert also nicht nur die Grundrechte, sondern ist zugleich Handlungsauftrag für uns als Parlament. Dazu gehört, dass wir endlich die Kinderrechte im Grundgesetz verankern müssen,
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damit auch die Jüngsten in unserer Verfassung und im parlamentarischen Prozess der Gesetzgebung stärker berücksichtigt sind.
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Dazu gehört, dass wir auf moderne Entwicklungen wie die Digitalisierung oder die neuen Medien reagieren. Einen grundgesetzändernden Schritt in diese Richtung haben wir etwa mit dem DigitalPakt schon getan. Dazu gehört auch der Auftrag, dass wir endlich in der Realität dafür sorgen, dass Frauen und Männer tatsächlich gleichberechtigt sind,
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was in vielen Bereichen, etwa in der Arbeitswelt oder auch bei der Zusammensetzung des Bundestags, noch nicht der Fall ist. Auch das ist ein wichtiger Verfassungsauftrag.
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Und schließlich gehört dazu der Auftrag, Deutschland als sozialen Bundesstaat auszugestalten. Dazu gehört, dass alle Menschen eine gesicherte Altersvorsorge haben, dass wir die Sozialpartnerschaft leben, dass wir mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und dass wir Bildungschancen und Kulturangebote für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Damit sichern wir das Vertrauen der Bürger in unsere Verfassung auch weiterhin.
Ich komme zum Schluss. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes waren vorausschauend und haben nicht nur an Deutschland gedacht. So ist in der Präambel des Grundgesetzes das Ziel formuliert, dass Deutschland in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen soll. Ich finde, besser kann man die Rolle von Deutschland in der Welt nicht definieren. Das ist ein wichtiger Handlungsauftrag, genauso wie der Auftrag, den sozialen und rechtsstaatlichen Bundesstaat zu erhalten.
Lassen Sie uns alles dafür tun, dass wir auch in 70 Jahren und darüber hinaus in guter Verfassung leben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Marco Bülow.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 70 Jahre Grundgesetz feiern wir heute. 70 Jahre zitieren und sprechen wir den Satz aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Politik sollte sich genau an diesem wichtigen ersten Artikel immer messen lassen.
Man muss aber leider fragen: Die Würde welcher Menschen ist unantastbar? Sind wir da alle wirklich gleich? Wie würdig ist es, wenn in einem so reichen Land wie Deutschland 9 Millionen Niedriglöhner mit weniger als 10,80 Euro pro Stunde auskommen müssen, 4,4 Millionen Kinder von Armut bedroht sind, 8,6 Millionen Menschen von monatlich weniger als 800 Euro Rente leben müssen und über 8 Millionen Menschen mittlerweile ein Drittel oder mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen? Auf der anderen Seite aber gilt, dass Cum/Ex-Abzocker straffrei bleiben, weil es bei der Polizei nicht genug Stellen gibt, Autokonzerne betrügen und der Verbraucher die Zeche zahlen muss, Lobbyisten an Gesetzen mitschreiben, einige Großkonzerne kaum Steuern zahlen und einige Banken, wenn sie in Not geraten, gerettet werden müssen und sich eben nicht dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft unterordnen. „Wie gerecht und wie würdig ist das?“, muss man an dieser Stelle fragen.
({0})
Man ist da schnell bei anderen Grundgesetzartikeln, die zum Teil auch schon zitiert worden sind. Das Sozialstaatsprinzip jedenfalls existiert hier nicht mehr. Würde ist unteilbar und darf eben nicht an Reichtum oder Macht gekoppelt sein.
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Umso wichtiger: Die Menschen und die Demokratie müssen würdig vertreten werden, gerade auch von diesem Haus; wir begehen in diesem Jahr nämlich auch 70 Jahre Bundestag. Aber wie ist es mit der Würde dieses Hohen Hauses bestellt? Wir Abgeordnete repräsentieren die Bevölkerung. Unser erster Artikel müsste eigentlich lauten, dass wir unserem Gewissen verpflichtet sind, keiner mächtigen Lobby, keiner Parteitaktik und keiner Regierung.
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Aber die Realität sieht leider auch da häufig anders aus.
Schlimmer noch ist es, wenn die Kanzlerin an bestimmten Stellen sagt, was denn die Gewissensfreiheit ist. Stimmt nicht, nein: Vor fast einem Jahr waren wir hier und haben die Ehe für alle beschlossen. Aber wie ist sie zustande gekommen? Es gab lange eine breite Mehrheit in diesem Haus für diese Abstimmung, aber sie wurde nicht durchgeführt. Anträge von Grünen, von Linken wurden sozusagen ignoriert und aufgehalten, nicht diskutiert, es wurde nicht über sie abgestimmt. Und was ist dann passiert? Die Kanzlerin war bei einem Talk und sprach darüber, dass es ja vielleicht eine Gewissensentscheidung sei. Erst dann traute man sich, über diese Sache hier abstimmen zu lassen. Erst dann war es auf einmal eine Gewissensentscheidung. Aber das darf nicht passieren. Es ist unwürdig, wenn die Regierung bestimmt, was eine Gewissensentscheidung ist.
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Das muss die Aufgabe jedes Abgeordneten sein. Das ist unsere eigene Verantwortung, der wir wieder gerecht werden müssen. Das darf niemals die Regierung übernehmen, das darf keine Parteispitze oder sonst wer übernehmen.
Holen wir uns die Würde und die Entscheidungsgewalt in den Bundestag, zu den Abgeordneten zurück! Und dann können wir auch dafür sorgen, dass die Würde aller Menschen gewahrt wird, und nicht nur die der Menschen mit einem großen Geldbeutel.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gegen Ende unserer Debatte insofern ein Fazit ziehen, als es, so denke ich, eine weise Entscheidung war, dass wir das 70-jährige Jubiläum unseres Grundgesetzes heute nicht in einer Feierstunde würdigen, sondern mit einer lebhaften Debatte.
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Denn schließlich ist unsere Verfassung kein Pokal, den man in eine Vitrine stellt, um ihn zu bestaunen, sondern die lebendige Grundlage unserer Demokratie.
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Einerseits sind – nicht nur heute – viele Worte des Lobes über unser Grundgesetz zu seinem 70. Geburtstag gefallen. Wenn man andererseits etwas Kritisches an unserem Grundgesetz finden möchte, so gehört es fast schon zum guten Ton, in Reden über unsere Verfassung zu betonen – auch heute geschah das zum Teil –, dass der Urtext der Verfassung eigentlich der beste war und dass die folgenden über 60 Verfassungsänderungen in 70 Jahren den Text Stück für Stück schlechter gemacht haben.
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Merkwürdig nur, dass zum Teil die Gleichen, die Verfassungsänderungen ganz grundsätzlich verdammen, dann doch im Konkreten diese oder jene Vorschrift selbst im Grundgesetz angefügt sehen wollen. Das ist etwas widersprüchlich, meine Damen und Herren.
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Ich will heute einmal ein Lob auf Verfassungsänderungen aussprechen. Ja, nicht alle 63 Änderungen sind perfekt gelungen. Manche von ihnen sind zu lang, zu detailliert, zu sehr Spiegelbild des politischen Tauziehens, aus denen sie hervorgingen. Das gilt übrigens auch für manche Verfassungsänderungen der jüngeren Zeit. Aber für die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz unserer Verfassung ist es gut und wichtig, dass sie geändert werden kann, dass wir es nicht mit einem versteinerten Text zu tun haben. Die Möglichkeit, sie mit entsprechenden Mehrheiten zu ändern, macht unsere Verfassung anpassungsfähig. Sie kann auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Damit unterscheidet sie sich übrigens von manch anderen Verfassungen, aber auch von völkerrechtlichen Verträgen einschließlich der EU-Verträge, die schwer überwindbare Hürden für ihre Änderungen aufstellen.
Fast so lange, wie unser Grundgesetz besteht, diskutieren wir natürlich auch, wie dynamisch oder gar kreativ es ausgelegt werden darf. Manche Lesart des Grundgesetzes in politischen Debatten halte ich für sehr gewagt. Es mag immer ein starkes Argument sein, zu behaupten, ein bestimmter Vorschlag verstoße gegen das Grundgesetz, oder, umgekehrt, die Verfassung gebiete ein bestimmtes Vorgehen. Aber, meine Damen und Herren, wer es gut meint mit unserem Grundgesetz, der vermischt verfassungsrechtliche und politische Argumente nicht.
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Denn: Politik will gestalten, Recht aber muss befolgt werden.
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Es gibt den schönen Satz des britischen Tories-Kritikers Lord Salisbury, dass Konservative „Veränderungen … verzögern, bis sie harmlos geworden sind“. Diese Sentenz lässt sich, wie ich finde, auf das Grundgesetz übertragen. Das Grundgesetz marschiert eben nicht an der Spitze eines – ja auch von jedem anders verstandenen – Fortschritts, sondern es sichert vor allem einen gesellschaftlichen Konsens. Es stellt diesen Grundkonsens her, indem es bestimmte Fragen einer einfachen parlamentarischen Mehrheit entzieht. Und es ist eben nicht legitim, wenn Politiker die ihnen fehlende Mehrheit für eine bestimmte Grundgesetzänderung dadurch zu umgehen suchen, dass sie die Verfassung geradezu unbegrenzt und ungehemmt auslegen – nach dem schon seit Goethe bekannten Motto:
Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihrs nicht aus, so legt was unter.
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Die Aufgabe des Grundgesetzes ist nicht eine der Erfindung, sondern im Wesentlichen eine der Bewahrung von Rechten. Das heißt konkret: Der Wortlaut des Grundgesetzes und der objektive Empfängerhorizont, wie wir Juristen sagen, seiner Wortbedeutung müssen im Verfassungsstaat den Grund und die Grenze der Auslegung bilden.
Die Verpflichtung auf den Text des Grundgesetzes gilt für die politischen Gewalten und für die Rechtsprechung gleichermaßen. Sie speist sich ganz tief aus dem Grundgedanken der Demokratie; denn keiner verfassunggebenden Versammlung, die ja das Volk vertritt, kann man unterstellen, dass sie einer Verfassungskontrollinstanz eine Blankovollmacht ausstellen wollte, was den Inhalt des Prüfungsmaßstabes anbelangt. Auch heute imponieren uns deshalb die berühmt gewordenen Sätze, die der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Höpker-Aschoff, bei der Eröffnung des Gerichts 1951 seinen Zuhörern zurief:
Wir Richter des Bundesverfassungsgerichts sind Knechte des Rechts und dem Gesetze Gehorsam schuldig. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, selbst den Gesetzgeber spielen zu wollen.
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Diese Haltung sollte uns lehren, dass auch wir uns aus Respekt vor dem Grundgesetz davor hüten sollten, dieses nur selektiv und als Instrument im politischen Streit zu nutzen. Aus den Freiheitsrechten etwa folgt ein Anspruch auf die Abwehr übermäßiger staatlicher Maßnahmen, aber eben auch die Pflicht des Staates, seine Bürger zu schützen. Ja, das Grundgesetz enthält eine Sozialstaatsklausel, aber auch ein grundsätzliches Kreditverbot. Kennzeichen des Grundgesetzes ist der Ausgleich und nicht die einseitige Parteinahme. Allerdings, meine Damen und Herren, mit einer ganz wichtigen Ausnahme, nämlich wenn es um den Schutz der Menschenwürde und der Freiheit geht. Damit garantiert das Grundgesetz, dass unser Staat immer aufseiten der Bürger, der Menschen steht.
Diese Parteinahme, die wir oft für allzu selbstverständlich halten, spüren vielleicht am stärksten jene Menschen, die aus Diktaturen, aus Polizeistaaten, aus Kriegen zu uns kommen. Auch aus diesem Grund spielt unser Grundgesetz eine wichtige Rolle bei der Integration von Zuwanderern. Das Grundgesetz bildet eine wichtige Klammer für unser Zusammenleben in Deutschland. Aber natürlich wissen wir auch, dass eine Gesellschaft nicht alleine von einer Verfassung oder von Gesetzesparagrafen zusammengehalten werden kann. Da hatte aus meiner Sicht Böckenförde recht: Kein Staat kann die nötige Akzeptanz und Zustimmung zu seinem Handeln und seinen Institutionen aus sich selbst heraus erzeugen. Eine Verfassung kann sich nicht selbst legitimieren.
Kulturelle Gemeinschaftswerte oder ein Heimatbewusstsein sind dafür nicht minder wichtig. Es wäre deshalb unsinnig, den richtigen und wichtigen Verfassungspatriotismus einerseits und den klassischen Patriotismus andererseits gegeneinander ausspielen zu wollen. Wir brauchen beide, meine Damen und Herren.
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Die Bedeutung des Verfassungspatriotismus für das Zusammenleben in diesem Land jedenfalls ist mir vorgestern noch einmal aufs Neue sehr bewusst geworden, und zwar beim Festakt der Deutschlandstiftung Integration. Die Stiftung startete hier in Berlin ihre Kampagne zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes unter dem Titel „Mein Deutschland. Ich lebe hier auf gutem Grund“. Migrantinnen und Migranten stellen hier jeweils einen Grundgesetzartikel vor, der ihnen etwas Besonderes bedeutet. Die Reihe beginnt mit der eben schon zitierten 97-jährigen Holocaustüberlebenden Margot Friedländer und dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Margot Friedländers Rede vorgestern, in der sie schilderte, warum sie nach über sechs Jahrzehnten in New York mit 88 Jahren wieder zurückkehrte in ihre Geburtsstadt Berlin, ins Land des Grundgesetzes, hat wohl alle, die dabei waren, tief berührt.
Wenn unser Grundgesetz dazu beiträgt, dass unser Land für Menschen erneut oder erstmals zu ihrer Heimat werden kann, dann ist auch das ein großes Geschenk, das uns das Grundgesetz selbst zu seinem 70. Geburtstag macht.
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Wir haben den Auftrag, diese beste Verfassung, die Deutschland je hatte, überzeugend und wehrhaft gegen alle Angriffe zu verteidigen, damit wir auch in den kommenden Jahrzehnten auf ihrem guten Grund zusammenleben können.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Timon Gremmels für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als Kasseler Bundestagsabgeordneter hier gerne über die Kasseler Ehrenbürgerin Elisabeth Selbert und ihre Verdienste als eine der Mütter des Grundgesetzes sprechen. Sie war eine von vier Frauen und 65 Männern, die Mitglied des Parlamentarischen Rates waren. Ich glaube, behaupten zu können: Ohne Elisabeth Selbert sähe Artikel 3, Gleichheitsgrundsatz, heute anders aus. Es gab Bestrebungen im Parlamentarischen Rat, die Formulierung aus der Weimarer Reichsverfassung, die sich ausschließlich auf die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten von Mann und Frau beschränkte, in das Grundgesetz zu übernehmen. Aber es ging Elisabeth Selbert nicht nur um Rechte und Pflichten, sondern um Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen. Das war ihre Triebfeder, das war ihr Motto. Deswegen hat sie dafür gekämpft, dass das auch Teil des Grundgesetzes wird.
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Gleichberechtigung sollte als imperativer Auftrag an den Gesetzgeber in unsere Verfassung hineinkommen.
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Es war damals ein harter Kampf. Es gab mehrere Versuche im Parlamentarischen Rat, diese schlichte Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz zu übernehmen. Das wurde von Männern und Frauen aller Parteien konterkariert. Ich glaube, auch die Männer der Sozialdemokratie waren nicht sofort davon überzeugt. Und dann hat Elisabeth Selbert etwas gemacht, was wir heute Networking nennen würden. Heute würden wir Facebook- oder Campact-Kampagnen oder andere Dinge nutzen; das alles gab es damals nicht im Dezember 1948/Januar 1949. Elisabeth Selbert hat über den Rundfunk, das Radio dafür geworben. Daraufhin gab es massenhaft Briefe und Schreiben an den Parlamentarischen Rat, und das war dann der Durchbruch. Denn natürlich haben auch die männlichen Abgeordneten gesehen, dass die Frauen Wählerpotenzial sind, und sich deshalb dafür eingesetzt, den schlichten und richtigen Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in das Grundgesetz zu schreiben.
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Artikel 3 – das war Elisabeth Selbert wichtig – sollte verfassungsrechtliche Manifestation und zugleich Anspruch und Motor sein – all das mit diesem schlichten Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Elisabeth Selbert persönlich wurde es nicht gedankt. Sie hatte sich später als Richterin am Bundesverfassungsgericht beworben und ist damit nicht durchgekommen. Sie war noch ein paar Jahre Landtagsabgeordnete in Hessen und dann bis zu ihrem 85. Lebensjahr Anwältin in Kassel, eine vielgeachtete Frau.
Wir feiern heute 70 Jahre Grundgesetz, aber auch 25 Jahre Gemeinsame Verfassungskommission. Diese hat Artikel 3 ergänzt, dass auch auf die Beseitigung bestehender Nachteile im Verhältnis von Männern und Frauen hingewirkt werden soll. Das ist wichtig, und das ist auch die Grundlage für die Frage der Parität. Das Ob steht im Grundgesetz, über das Wie können wir hier leidenschaftlich streiten. Aber Frauen und Männer müssen auch im Parlament gleichberechtigt vertreten sein.
Lassen Sie mich, Frau Präsidentin, zum Schluss sagen: Ich würde mir sehr wünschen, dass wir beim 80. Geburtstag unserer Verfassung hier im Deutschen Bunde stag vor einem Plenum reden, das sich gleichberechtigt aus Männern und Frauen zusammensetzt.
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Mein Schlusszitat ist von Elisabeth Selbert:
In die Parlamente müssen die Frauen! Dort müssen sie durchsetzen, was ihnen zusteht!
In diesem Sinne: Alles Gute! Glück auf!
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Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 70 Jahre Grundgesetz bedeuten 70 Jahre Erfolgsgeschichte. Unser deutscher Grundrechtekatalog ist zum weltweiten Vorbild geworden. Auch wenn die meisten von uns in sein Bestehen hineingeboren wurden, so können wir stolz darauf sein und sind wahrlich gehalten, dieses Grundgesetz zu verteidigen und weiterzuentwickeln.
Ich will aber auch an den Geist des Verfassungskonvents appellieren; denn dieses Grundgesetz ist eine historische Verfassung, die aus ihrer eigenen Zeit zu verstehen ist. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des beginnenden Eisernen Vorhangs prägten die Runde, die nicht aus Politikern, sondern aus Sachverständigen bestand. Ideologie und Parteipolitik spielten damals noch keine Rolle. Ich betone das, weil die Ergebnisse der Expertengruppe von Herrenchiemsee immer öfter im Gegensatz zu dem stehen, wie die heutige Politik das Grundgesetz ändern möchte. So ist es für einen Rechtsstaat aufhorchenswert, wenn führende Verfassungsrichter das Außerkraftsetzen des Artikels 16a anprangern. Und wir erleben aktuell gerade, wie Artikel 14 oder Artikel 15 aus ihrem historischen Kontext der Wiederaufbauhilfe gerissen werden, oder wie andere meinen, wieder die erste Strophe des Deutschlandliedes singen zu müssen.
In Zukunft soll der ideologische Trendsetter Klimaschutz sogar Einzug in das Grundgesetz finden, um damit Artikel 5, die Freiheit von Wissenschaft und Lehre, auszuhebeln. Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind in erschreckendem Zustand; denn während die eigene Meinung zu gerne von der moralisch richtigen Einstellung niedergebrüllt wird oder im gesellschaftlichen Miteinander zunehmend Ächtung erfährt, geben Teile der Presse ihre Freiheit gleich selber auf: Statt Berichterstattung verschmilzt es zu Kommentaren, oder man verfasst sofort Framing Manuals. Das Grundgesetz droht damit zum Spielball von Parteipolitik und ideologischen Grabenkämpfen zu werden. Und es besteht die Gefahr, dass wir dieselben Fehler begehen wie die EU, die mit einer Verfassung von über 200 Seiten fast jedes Detail des menschlichen Zusammenlebens regeln will. Die Amerikaner haben aus gutem Grund einen kurzen Text aus wenigen Artikeln vorgezogen, den jeder Bürger nebenbei lesen kann und der einfach und leicht für alle verständlich ist.
Wie weit Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit heute auseinanderdriften, sieht man daran, dass die Parteien mit ihrer Politik nicht mehr nur an der Willensbildung mitwirken, sondern nahezu in allen Positionen diese Willensbildung bestimmen und mittlerweile sogar direkten Einfluss auf das Bundesverfassungsgericht ausüben, indem Fraktionsvizes nahtlos in das höchste Richteramt wechseln können.
Hier im Hause steht bei jeder Abstimmung ein Fraktionsvertreter mit der richtigen Karte an der Urne. Ich erinnere mich noch an Schlagzeilen, dass in Sachen „Griechenland“ und „Euro-Rettung“
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mit Abweichlern Einzelgespräche geführt werden sollten: Aufhorchen lassen hat das damals keinen.
Diese Dinge laufen tragenden Gedanken unseres Grundgesetzes massiv entgegen. Und man kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass es heute hier im Hause möglicherweise nur noch vier Parlamentarier gibt, die frei von jeglichen Zwängen sind
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und tatsächlich ein freies Mandat ausüben. Es wäre traurig, wenn es wirklich so wenige wären.
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Für die SPD-Fraktion hat nun Helge Lindh das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin stolz, ein bundesrepublikanischer Deutscher zu sein. Ich bekenne mich zu diesem Land. – Diese Sätze kann ich und können wir nur sprechen, weil es dieses Grundgesetz gibt und weil es uns mit ebendiesem Verfassungspatriotismus, der uns hoffentlich alle durchdringt und der keineswegs blutleer ist, versöhnt hat mit dieser Nation, auch mit ihrer Kultur, mit ihrer Sprache.
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Das ist gelungen mit einem einschließenden Patriotismus, der auf Basis der Menschenwürde gilt, ungeachtet dessen, ob ich nun Stephan heiße oder Mohammed oder Alice oder Rahel. Für alle ist dies gültig.
Neben der Versöhnung ist dieses Grundgesetz aber auch manchmal Grund für stille Wut, für stille Wut darüber, dass in diesem Moment auf vielen Plätzen dieser Erde die Ideen des Grundgesetzes mit Füßen getreten werden und dass dies – das müssen wir zugeben – auch manchmal, immer noch viel zu oft, in diesem Land geschieht. Dieses Grundgesetz – so bescheiden, wie es formuliert ist – war getragen von Vertrauen und Zutrauen. Wir alle müssen, glaube ich, zugeben, dass wir in diesem Land, das eines der besten und freisten und tolerantesten ist, gegenwärtig nicht alle frei sind von Angst und dass es uns manchmal an ebendiesem Vertrauen mangelt, das die Verfassungsmütter und -väter hatten. Wir müssen auch sehen, dass dieses Grundgesetz – das in einem radikalen Pathos der Nüchternheit formuliert war – von radikaler Menschlichkeit und von radikalem Mut getrieben war. Können wir wirklich sagen, dass wir heutzutage immer radikal menschlich und radikal mutig sind?
Deshalb will ich mit aller Deutlichkeit feststellen: Bei allen Unzulänglichkeiten, bei allen Fehlern, die wir auch korrigieren, bei allem, was uns nicht mehr gefällt: Die Entscheidung des Septembers 2015, getragen von der Koalition, von dieser Regierung, war keine solche – wie uns die AfD und andere glauben machen wollen –, die einen Verfassungsbruch darstellte, nein, sie war eine Form des Verfassungsschutzes. Und ich bin stolz darauf, dass die Regierung dieses Landes und das Volk dieses wunderbaren Landes damals diese Entscheidung getroffen haben. Ich finde, das sollten wir deutlicher und öfter ausdrücken.
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Wenn aber der so aufrechte Verteidiger dieses Grundgesetzes, unser Bundespräsident, hier in diesem Hause als extremistisch denunziert wird,
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wenn der sächsische Verfassungsschutz eine Demonstration unter dem Motto „Wir sind mehr“, zu deren Besuch der Bundespräsident zu Recht aufgerufen und auf die er zu Recht hingewiesen hat,
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als linksextremistisch brandmarkt, dann merken wir, dass das Grundgesetz dieses Landes viel stärker und besser ist als oft seine Schützer und Organe.
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Und wenn es so ist, dass unser Bundespräsident extremistisch sein sollte,
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und wenn dieses „Wir sind mehr“ extremistisch sein sollte, dann ist auch das Grundgesetz dieses Landes mit seinem radikalen Bekenntnis zu Menschenwürde, Menschenrechten und Demokratie extremistisch.
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Und wenn das wahr sein sollte, dann sage ich in aller Deutlichkeit:
Kollege Lindh, auch i n dieser Debatte müssen Sie bitte auf mein Zeichen achten und jetzt einen Punkt setzen.
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Als Liebhaber des Grundgesetzes bin ich im Land der Menschenwürde stolz, ein Extremist des Grundgesetzes zu sein.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache zum 70-jährigen Bestehen bzw. zur 70-jährigen Gültigkeit unseres Grundgesetzes.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die bedauerlicherweise den weiteren Verhandlungen hier im Plenarsaal nicht folgen können, zügig die Plätze mit den anderen zu tauschen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die AfD möchte Geringverdiener entlasten.
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Wir möchten das in der Form machen, dass wir Arbeitnehmern die Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen erlassen, und zwar bis zu einer Höhe von 300 Euro. Das bedeutet: Wer auf Mindestlohnbasis Vollzeit arbeitet, der zahlt zukünftig keinen Arbeitnehmeranteil an den Sozialversicherungsbeiträgen mehr. Bei dem, der mehr verdient, schmilzt dann diese Entlastung ab.
Was erreichen wir damit? Wir stellen endlich wieder das Lohnabstandsgebot her. Denn wir haben heute doch die Situation: Wer als Mindestlohnempfänger Vollzeit arbeitet, der hat am Monatsende gerade mal 200 Euro mehr in der Tasche als derjenige, der Hartz IV bekommt.
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Wir machen aus diesen 200 Euro 500 Euro. Wir belohnen damit die Menschen, die für harte Arbeit wenig Geld verdienen, und das ist genau das Ziel unseres Antrags, meine Damen und Herren.
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Wir lösen damit vielleicht auch noch andere Probleme und stellen gleichzeitig eine Teilfinanzierung unserer Idee sicher. Ich spreche von der Schwarzarbeit. Diese macht in Deutschland jährlich 300 Milliarden Euro aus. Schwarzarbeit wird vor allen Dingen in Bereichen geleistet, in denen nicht viel Geld verdient wird: am Bau, es sind Gärtner, es sind Putzhilfen. Mit Steuerentlastungen können wir diese Menschen kaum in die Legalität locken. Denn selbst wenn sie ihr Einkommen versteuern würden: Viele Steuern würden sie nicht bezahlen.
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Aber mit einer Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen bauen wir diesen Menschen eine Brücke in die Legalität, und wir holen sie auch zurück in die Sozialversicherung. Und ich denke mir: Es ist ein wirklich gutes Ziel, das wir hiermit erreichen können.
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Ich glaube, unsere Lösung ist auch von großem Vorteil für Hartz-IV-Empfänger. Jeder Hartz-IV-Empfänger, der einen Job annimmt, entlastet unsere staatlichen Haushalte und Sozialkassen jährlich um ungefähr 15 000 Euro. Aber wir machen den Menschen diesen Wechsel nicht besonders leicht. Denn einem Hartz-IV-Empfänger wird in der Regel ein Job im Mindestlohnbereich angeboten. Das ist dann vielleicht nicht der Traumjob. Dazu kommt dann noch, dass man vielleicht Fahrtkosten hat. Von den 200 Euro, die ich eben erwähnt habe, bleibt dann kaum noch etwas übrig. Es ist doch klar, dass dann vielleicht mal ein Jobangebot abgelehnt wird, weil man auf was Besseres hofft. Wir sagen diesen Menschen: Nimm diesen Job ruhig an. Es ist vielleicht nicht dein Traumjob, aber es ist ein Einstieg, und du hast wirklich deutlich mehr in der Tasche als vorher mit Hartz IV.
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Ich möchte aber nicht verhehlen, meine Damen und Herren: Ein Großteil der Finanzierung dieses Projektes kommt aus einem anderen Topf, und zwar möchten wir die EU-Beiträge der Bundesrepublik Deutschland deutlich reduzieren. Der Antrag dazu wird morgen verhandelt, und dieser Antrag sagt ganz klar Nein zu den Europafantasien eines Macron. Er sagt auch ganz klar Nein zu rot-grünen Luftschlössern einer europäischen Sozialversicherung, die letztendlich finanziert werden würde mit Milliardenbeträgen deutscher Steuerzahler. Wir möchten, dass diese Steuergelder hier im Land verbleiben. Wir möchten mit diesem Geld die Geringverdiener hier in Deutschland entlasten. Das ist das Ziel unseres Antrags, zu dem ich Sie um Ihre Zustimmung bitte.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD fordert in ihrem Antrag, bestimmte gesetzlich Versicherte und Selbstständige von Sozialversicherungsleistungen zu befreien und diese Zahlungen dann aus Steuermitteln zu bestreiten. Das Finanzierungsvolumen geben Sie mit 36 Milliarden Euro pro Jahr an. Einen großen Teil – der Kollege hat es eben gesagt – wollen Sie dadurch finanzieren, dass Sie Zahlungen nach Europa einstellen und umlenken.
Hierzu will ich zwei Bemerkungen machen:
Die erste Bemerkung. Bei einer Versicherung, sei es die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung oder die Rentenversicherung, stehen den Prämien, die zu zahlen sind, immer auch Leistungen gegenüber. Diese Leistungen sind individuell: nach dem Äquivalenzprinzip bei der Rente, nach den Versicherungszeiten bei der Arbeitslosenversicherung und nach der medizinischen Indikation bei der Krankenversicherung. Aus guten Gründen sind Arbeitnehmer pflichtversichert; aus guten Gründen debattieren wir die Einbeziehung von Selbstständigen in diese Versicherungen. Zentral ist aber: Es sind Versicherungen und keine Fürsorgeleistungen.
Die Fürsorgeleistungen werden in Deutschland nach dem Prinzip der Subsidiarität und der Solidarität von den Steuerzahlern getragen. Die Versicherungsleistungen nicht. Sie sind nur subsidiär, und Subsidiarität ist ein freiheitssicherndes Prinzip.
Sie wollen mit Ihrem Antrag Menschen von staatlichen Transferleistungen abhängig machen, indem Sie Versicherungs- und Fürsorgeleistungen vermischen. Das ist ordnungspolitisch grundfalsch. Es widerspricht der Idee des freien und Verantwortung für sich tragenden Menschen. Ihr Antrag führt zu einem Staat der Unfreiheit, der zumindest uns in der Union fremd ist. Das ist der Weg in die Knechtschaft.
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Das ist übrigens schon erstaunlich für eine Partei, die ansonsten misstrauisch gegenüber dem Staat ist. Aber da sind Sie vermutlich wie die Kommunisten: Wenn man die staatliche Gewalt selbst hat, ist alles anders.
Eine zweite Bemerkung. Was da verschämt hinter dem Antrag hervorlugt und sich als Sorge um die Bezieher kleiner Einkommen tarnt, ist in Wahrheit etwas ganz anderes. Des Pudels Kern ist hier: Sie wollen unser Europa nicht, und Sie wollen unser Europa zerschlagen.
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Dazu passt, dass Sie kürzlich Steve Bannon eingeladen haben, der sich die Zerschlagung Europas auf die Fahnen geschrieben hat. Der Mann ist Ihr geistiger Pate. Er versammelt um sich alle Antieuropäe r, mit denen Sie auch befreundet sind: den Front National mit Marine Le Pen, die Lega Nord mit Salvini, die niederländische PVV mit Geert Wilders. Europa zu zerschlagen, darin sind sich auch Trump und Putin einig – aus unterschiedlichen Gründen. Sie sind deren willige Vollstrecker.
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Sie sind anti Europa wie Ihr Freund Farage, nationalistisch wie Ihr Vorbild Trump, und Sie lassen sich von Putin finanzieren.
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Sie sind keine Alternative für Deutschland. Sie sind der Untergang Europas.
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Sie versuchen, Geringverdiener gegen die EU auszuspielen. Sie hoffen dabei im Stillen, dass die Geringverdiener Europa für ihre Lage verantwortlich machen, und rufen ihnen zu: Schaut her! Weniger Geld für Europa, und schon geht es euch gut. – Das Gegenteil ist der Fall. Nur in einem starken Europa können wir Wachstum und Wohlstand wahren. Nur in einem starken Europa können wir die Arbeitsplätze sichern. Nur in einem starken Europa können wir auf Frieden und Freiheit hoffen. Europa ist deshalb unsere Zukunft.
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Sie und Ihr Nationalismus, das ist Vergangenheit, die nie wieder Zukunft werden darf. Sie und Ihr Nationalismus, Sie und Ihr Europabild, das ist das 19. Jahrhundert, das ist Kampf, Konflikt, Konkurrenz und Krieg in Europa. Dieses Europa wollen wir genauso wenig, wie wir Sie wollen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Till Mansmann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegen von der AfD-Fraktion, vor ein paar Monaten noch hatte Ihre Fraktion überhaupt keine Vorstellung von Arbeits-, Sozial- oder Rentenpolitik. Wenn man damals gefragt hat, stieß man weder in Ausschüssen noch in der Öffentlichkeit bei Talkshows oder Interviews auf irgendwelche Antworten.
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Nun sollte Ihre Findungsphase ja vorbei sein, doch auf sachlich überzeugende Vorschläge müssen wir weiter warten. Sie legen auf ein paar mageren Seiten einen Vorschlag vor, der so weit geht, dass man sich mehr Details gewünscht hätte.
Immerhin: Das von Ihnen angesprochene Problem existiert. Der Lohnabstand ist bei vielen Beschäftigungsverhältnissen nicht gewahrt, und die Anreize, geringe Einkommen zu verbessern, sind leistungsfeindlich und unsozial ausgestaltet.
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Fast jeder Zuverdienst, den Minijobber und Geringverdiener in harter Arbeit aufwendig erwirtschaften, wird auf die staatliche Hilfe angerechnet. Gleichzeitig wird Eigeninitiative durch bürokratische Hürden erstickt. Gerade Menschen mit niedrigen Einkommen brauchen nicht nur Entlastung, sondern bessere Übergänge. Im Grunde wollen Sie eine Gleitzone durch eine andere ersetzen. In diese Richtung denken auch wir, aber viel innovativer. Ihre Grenzsätze werden wieder zu ähnlichen Problemen führen, wie wir sie jetzt schon haben. Stattdessen schlagen wir vor, die starren Grenzen zu dynamisieren und an den Mindestlohn anzukoppeln.
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Das Teilhabechancengesetz wollen Sie gleich ganz abräumen. Dieses Gesetz verfehlt in der Tat in seiner derzeitigen Fassung leider weitgehend sein Ziel. Wir brauchen ausreichend Mittel für berufliche Qualifikationen während der Beschäftigungsphase. Da muss man noch nachlegen. Aber das Gesetz ist doch wenigstens in die richtige Richtung gedacht. Man müsste es grundlegend verbessern, aber nicht abschaffen. Denn hier geht es doch um etwas ganz anderes, als um das eingangs beschriebene Problem, das Problem niedriger Einkommen, es geht um Langzeitarbeitslose, die wir mit der Entlastung bestehender Arbeitsverhältnisse gar nicht erreichen. Das Teilhabechancengesetz ersatzlos streichen zu wollen, das ist, wie ich hoffe, nur eine Eselei unter dem Aspekt „Thema verfehlt“ und nicht etwa die Ankündigung der zukünftigen Sozialpolitik Ihrer Fraktion.
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Ganz abenteuerlich ist dann Ihre Finanzierung. Sie greifen in die Vollen. Im Umgang mit Steuergeldern überbieten Sie an Höhe sogar die immer teuren Vorschläge von Linken und Grünen. 36 Milliarden Euro pro Jahr, wenn das nur reicht! Ein Teil davon soll gleich einem steuerlichen Perpetuum mobile von selbst zurückfließen. Für den Rest greifen Sie auf einen Trick zurück, der schon beim Brexit in Großbritannien angewendet wurde: Wie die britischen Rechtspopulisten fabulieren Sie von Brüsseler Geld und missbrauchen eine ernsthafte Sozialdebatte für ganz andere Zwecke.
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Als würde es den Bürgerinnen und Bürgern helfen, wenn man ihre Belastungen einfach von den Sozialabgaben zu den Steuern verschiebt! Aber zu diesem Punkt wird mein Kollege Cronenberg noch ausführlicher Stellung nehmen.
Ja, Steuern, Abgaben und die strukturellen Mechanismen des Arbeitsmarkts gehören reformiert, gerade im Bereich niedriger und mittlerer Einkommen. Gerne gehen wir Freie Demokraten mit gutem Beispiel und fertig entwickelten Vorschlägen voran. Es wäre sinnvoll, Sozialleistungen zusammenzufassen und staatliche Aufgaben zu bündeln, zum Beispiel in einem liberalen Bürgergeld. In Kombination mit moderaten Steuer- und Beitragssätzen könnten die notwendigen Freiräume entstehen, ohne eine Schieflage zu riskieren, wie bei Ihrem Vorschlag. Das Geld, das Sie verbraten wollen, sollten wir lieber zur Finanzierung der Hartz-IV-Verwaltung nutzen. Gleichzeitig ist es zur Unterstützung von Arbeitslosen dringend geboten, die Jobcenter durch Entbürokratisierungsmaßnahmen zu entlasten. Nur so können sich die Mitarbeiter vor Ort persönlich und in der gebotenen Tiefe mit den einzelnen betroffenen Bürgern auseinandersetzen.
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Das würde nicht nur den Geringverdienern helfen, sondern auch den Langzeitarbeitslosen und all denen, die aus der Erwerbslosigkeit gerade wieder zurück in den Arbeitsmarkt finden.
Eine schlecht kalkulierte Milliardenverschiebung von den Sozialkassen in die Steuerbelastung ist kein sinnvoller Vorschlag. Daher lehnen wir Ihren Antrag ab. Wir werden im Ausschuss darüber sprechen, was wir stattdessen an dieser Stelle wirklich tun können.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute müssen wir uns mit einem Antrag der AfD befassen. Ich sage vorweg: Das ist alles andere als vergnügungsteuerpflichtig. Dieses Mal wollen sich die Kollegen von der AfD angeblich den Beziehern von kleinen und mittleren Einkommen widmen und wollen sie bei den Sozialabgaben entlasten. Aber ehrlich gesagt braucht es nicht viel Mühe, Kollegen von der AfD, um zu erkennen, dass es Ihnen nicht um die Menschen geht. Die Wahrheit ist: Es geht Ihnen einmal mehr um Diffamierung, um Nationalismus.
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Wieder einmal spielen Sie Menschen gegeneinander aus, dieses Mal die arbeitenden Menschen gegen Bezieher von ALG II und ALG III. Das einzig Gute, was ich Ihrem Antrag abgewinnen kann, ist, dass er die Möglichkeit eröffnet, sich mit ihm auseinandersetzen zu können und zu zeigen, dass Sie falsche Thesen behaupten und dass Sie weitab der Realität sind.
Sie behaupten, Menschen in Deutschland seien arm, weil die Sozialabgaben zu hoch seien und ihnen deshalb zu wenig Geld in der Tasche bliebe. Ich sage Ihnen: Das ist falsch. Wenn Sie wenigstens die Zusammenfassung des letzten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung gelesen hätten, dann wüssten Sie, was Armut verursacht: Erwerbslosigkeit und die geringen Löhne. Besonders armutsgefährdet sind Geringqualifizierte, Alleinerziehende, ihre Kinder, Ältere, Kranke, Menschen mit Behinderungen, Seniorinnen und Senioren, auch Migranten. Hier muss Politik ansetzen und die richtigen Instrumente schaffen, damit es gelingt, Menschen in Arbeit zu bringen, und zwar durch Qualifizierung, durch Unterstützung am Arbeitsplatz, durch Betreuung von Familienangehörigen, durch Assistenzen, auch durch Sprachkurse – ja – und durch vieles mehr.
Genau das, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, tun wir, nämlich mit dem Teilhabechancengesetz, das Sie abschaffen wollen, mit dem Budget für Arbeit, mit dem Qualifizierungschancengesetz, mit dem wir dafür sorgen wollen, dass sich Menschen angesichts der Anforderungen durch die Digitalisierung weiter fit für den Arbeitsmarkt halten können. Zu behaupten, nur Entlastung bei den Abgaben mache den Weg frei, um Anreize für Mehrarbeit zu schaffen, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen, das geht weit an der Realität vorbei. Das hilft nicht, die Hemmnisse, die ich eben genannt habe, zu überwinden.
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Außerdem ignorieren Sie, dass wir die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bereits abgesenkt haben, dass wir – darauf sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besonders stolz – die Parität bei den Zahlungen zur Krankenversicherung wieder eingeführt haben, dass wir das Starke-Familien-Gesetz und das Familienentlastungsgesetz beschlossen haben. All das stärkt und entlastet Familien. Das sind die wichtigen und richtigen Ansatzpunkte. Ja, wir wollen auch weitere Herausforderungen annehmen und wollen mit der Grundrente für viele Menschen in diesem Land mit geringen und mittleren Einkommen bessere Lebensstandards schaffen. Das sind die richtigen Antworten und Lösungen.
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Kolleginnen und Kollegen von der AfD, es wundert mich auch nicht, wenn Sie wieder einmal darauf drängen, Gelder, die wir an die EU überweisen, eben nicht an die EU zu überweisen. Sie geben vor, Sie wollten so unsere Sozialversicherungssysteme stärken, es steckt aber etwas anderes dahinter – das wurde bereits mehrfach angesprochen –: Ihnen geht es darum, die EU finanziell auszutrocknen. Permanent erzählen Sie den Menschen, es sei Verschwendung, wenn Deutschland Geld nach Brüssel schickt. Auch diese Aussage ist falsch. Kein Land profitiert so wie Deutschland vom Binnenmarkt.
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Ich rate Ihnen dringend, die aktuelle Bertelsmann-Studie dazu zu lesen. Die These, den Menschen ginge es ohne die EU besser, ist falsch. Nein, die EU ist nicht das Problem, die EU ist die Lösung!
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Ich nenne nur den Entschuldungsfonds oder die Jugendgarantie; das alles sind doch Erfolgsprojekte, um Menschen zu qualifizieren. Auch ganz viele junge Menschen profitieren davon. Sie haben die Chance, in den Arbeitsmarkt, an Arbeit zu kommen. Wir fördern Unternehmen, auch junge Unternehmen, dass sie im Markt Fuß fassen können. Wir schaffen Arbeitsplätze!
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Ja, ich will nicht leugnen, es gelingt nicht durchweg, den Wohlstand gleichmäßig zu verteilen. Er muss überall ankommen, in allen Regionen, in allen Ländern. Deswegen ist es richtig, dass wir an einem sozialen Europa festhalten, das darauf drängt, dass es den Menschen überall in Europa gut geht, dass wir dafür kämpfen, dass es gleichwertige Lebensverhältnisse gibt, und zwar überall in Deutschland.
Daran müssen wir uns messen lassen. Wir wollen verbindliche Mindeststandards mit einem Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde in Deutschland. Das schafft den Zusammenhalt, den wir brauchen, um uns gemeinsam für Frieden einzusetzen, für die Bekämpfung des Klimawandels, um Steuervermeidung der Großkonzerne in Europa zu beenden.
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Das schafft Gemeinsamkeit. Das schafft Stärke. Das sind die Antworten, die man auf die Herausforderungen unserer Zeit geben muss. Diese sehe ich in Ihrem Antrag nicht.
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Das Wort hat die Abgeordnete Susanne Ferschl für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag ist nichts anderes als ein antieuropäischer Spaltpilz.
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Sie von der AfD sind mit Ihren rechtspopulistischen Schwesterparteien auf Linie und behaupten, dass wir uns einen Sozialstaat nicht leisten könnten, wenn das EU-Budget nicht gekürzt wird. Was für ein Unsinn.
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Der Antrag und Ihr Wahlprogramm zur Europawahl zeigen, dass Beschäftigte von der AfD nichts zu erwarten haben. Gerade einmal zwei Seiten widmen Sie dem Kapitel „Soziales und EU“. Darin führen Sie aus, dass es unterschiedlich geregelte Sozialsysteme und Arbeitsmärkte gibt. Wörtlich schreiben Sie – ich zitiere –:
Die sich daraus ergebende Vielfalt wollen wir im Sinne des Wettbewerbs der Systeme innerhalb der EU erhalten.
Ich wusste, ehrlich gesagt, gar nicht, dass Sie das Wort „Vielfalt“ überhaupt buchstabieren können.
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Aber an der Stelle ist es natürlich entlarvend. Denn es geht Ihnen ausschließlich um einen Wettbewerb auf Kosten der Lohnabhängigen in Europa. Sie halten am deutschen Exportmodell der Niedriglöhne fest und üben damit weiterhin Druck auf die Beschäftigten in Deutschland und in den anderen Ländern aus.
Jetzt wollen Sie die Arbeitnehmerbeiträge bei den Sozialversicherungen steuerlich bezuschussen. Damit zementieren Sie aber den Status quo. Letztlich läuft es damit auf ein staatliches Förderprogramm für den Niedriglohnbereich hinaus.
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Sie schreiben kein Wort zur notwendigen Einschränkung der Leiharbeit, zur Befristung oder zur Stärkung der Tarifbindung. Schlimmer noch: Sie sind gegen einen armutsfesten Mindestlohn. Sie sind für Sanktionen bei Hartz IV, und Minijobs wollen Sie sogar noch ausweiten. Behaupten Sie nie wieder, Sie würden Arbeitnehmerinteressen vertreten!
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Im Antrag versteckt sich dann noch die Forderung, das Teilhabechancengesetz ersatzlos zu streichen. Das ist absurd. Wir hatten Kritik an dem Gesetz, weil es uns nicht weit genug geht. Sie aber wollen es abschaffen. Damit nehmen Sie den Langzeitarbeitslosen die Möglichkeit, in den regulären Arbeitsmarkt zurückzukehren. Sie sind und bleiben die Partei der Spaltung. Sie spielen Nationalitäten sowie Menschen mit und ohne Arbeit gegeneinander aus.
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Wir geben eine andere Antwort: gute Löhne und ein starker Sozialstaat. Das hilft auch der Wirtschaft in anderen Ländern, weil es diesen unsäglichen Wettbewerb nach unten unterbindet. Wenn wir schon über die Verteilung des EU-Budgets diskutieren, dann sollten wir darüber diskutieren, wie wir für gleiche Lebensverhältnisse für alle Menschen in der EU sorgen können, statt immer nur noch mehr Geld für Militarisierung und Abschottung nach außen auszugeben.
({6})
Das wäre eine Politik für alle Menschen in einem solidarischen Europa. Dafür steh t Die Linke.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Anja Hajduk das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, Arbeit sollte sich immer lohnen, auch materiell, und wir als Politikerinnen und Politiker sind selbstverständlich aufgefordert, dies sicherzustellen. Das Thema, dass wir darauf achten müssen, ob gerade Durchschnitts- und Geringverdiener aktuell zu stark durch Steuern und Sozialabgaben belastet werden, wollen wir angehen, und das werden wir auch angehen.
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– Sie gehen es nicht an. Gut ist, dass Sie jetzt einmal zuhören dürfen.
({1})
Wenn man mit Armut argumentiert und fordert, dass sich die Lebenssituation von Geringverdienern oder auch anderen Arbeitnehmern verbessert, dann ist erst einmal absolut wichtig und richtig, zu sagen: Dafür sind Löhne verantwortlich, dafür ist in einer freien Wirtschaft nicht per se der Staat verantwortlich. – Damit wir gute Löhne haben, brauchen wir eine stärkere Tarifbindung. Es muss leichter gemacht werden, Branchenmindestlöhne zu verabschieden. Darüber können Sie einmal nachdenken. Wir brauchen sowieso einen höheren Mindestlohn. Die Mindestlohnkommission muss gestärkt werden.
({2})
Was wir auch brauchen, liebe AfD,
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ist ein europäischer Mindestlohn,
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der in den jeweiligen Ländern die Produktivität dieser Länder berücksichtigt und auch dort vor Armut schützt. Er würde Europäerinnen und Europäer vor zu geringen Löhnen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland vor einem falschen Dumpingwettbewerb in einem offenen Europa schützen.
({5})
Es ist doch nicht so schwer, das zu verstehen. Dafür müssen Sie nur einmal Europa positiv in den Mund nehmen. Das können Sie natürlich aus ideologischen Gründen nicht.
Ich komme noch einmal zu Ihrem Antrag,
({6})
der ja das interessante Thema Sozialabgaben aufmacht. Ich kann nicht umhin, auf die Gegenfinanzierung zu schauen. Sie versprechen das Blaue vom Himmel: 36 Milliarden Euro für die Sozialversicherung in Form eines Freibetrags, der dann insbesondere für niedrige Einkommen wirken soll. Bei der Gegenfinanzierung sollen 5,4 Milliarden Euro von alleine wieder in die Kasse kommen. Das ist diese unseriöse Art: Wir geben da etwas aus, und irgendwie werden die Leute dadurch schon mehr Geld ausgeben, und über den Konsum füllen wir dann die Steuerkassen. Mit solchen Versprechen hat der Haushalt in Deutschland noch keine guten Erfahrungen gemacht.
Der nächste Punkt neben der Unseriosität ist noch viel schlimmer: Er ist unsozial. Sie wollen das Programm des sozialen Arbeitsmarkts ersatzlos streichen. Dabei ist gerade dieser für die Menschen wichtig, die langzeitarbeitslos sind und die Unterstützung brauchen, um überhaupt wieder Fuß zu fassen.
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Den allergrößten Batzen von über 20 Milliarden Euro – ja, in der Tat, das haben Sie gesagt – will man zur Verfügung stellen, indem man bei der Finanzierung Europas kürzt. Da muss man sich wirklich einmal die Dimension anschauen. Sie schlagen für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen vor, die Finanzierung Europas mal eben so um 80 Prozent einzusparen. Sie wollen damit die europäischen Programme abwickeln. Schauen wir uns einmal die Liste an, wofür keine Mittel mehr zur Verfügung gestellt werden sollen: nichts mehr für den Europäischen Sozialfonds, nichts mehr für die regionale Entwicklung in Europa, gar nichts mehr für den Kohäsionsfonds, nichts mehr für das Reformhilfeprogramm und andere Dinge. Auch den Europäischen Verteidigungsfonds – brauchen wir angeblich null und gar nicht.
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Das ist nicht nur das Blaue vom Himmel, weil es so nicht kommen wird, sondern es ist extrem antieuropäisch. Da fragt man sich, ob diese Partei überhaupt irgendeine Stimme bekommen sollte.
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Denn Sie stellen sich nicht die Frage, ob wir in Europa mit unserer regionalen Heimat, mit unserer regionalen Identität weiter zusammenwachsen wollen. Sie wollen Europa abwickeln; dafür haben Sie sich entschieden. Das ist zukunftsfeindlich.
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Es ist wieder dieses typische Prinzip, Menschen gegeneinander auszuspielen. Denn Sie locken die Leute damit, dass wir milliardenschwere soziale Versprechen in Deutschland einlösen können, wenn wir das entsprechende Geld anderen und unserer Solidarität in Europa entziehen. Wissen Sie, das ist nicht nur zutiefst antieuropäisch – das kann man ja so vertreten, wenn man das möchte –, sondern es ist in einer globalisierten Welt auch eine komplett naive Illusion.
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Sie haben jeden Grund, sich einmal anzuschauen, wie sicher die Brexiteers in Großbritannien agieren. Bei der Abwicklung des Austritts aus der Europäischen Union ist Chaos ausgebrochen. Das ist natürlich auch getrieben von Sorge und Angst, weil man jetzt spürt, welche Auswirkungen er auf das Land, auf die dortige Wirtschaft und auf die dortigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich hat. Wer glaubt, durch einen Rückzug aus europäischer Solidarität oder aus der Europäisierung von Standards irgendeinen Gewinn für unseren heimischen Arbeitsmarkt zu ziehen, der kann nur ein Illusionär sein oder jemand, der die Leute schlicht hinter die Fichte führt.
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Deswegen ist es gut, dass die Mehrheit in unserem Land diesen Ideen eine Absage erteilt. Wir haben keine antieuropäische Stimmung. Ihre sozialpolitischen Versprechen sind unseriös, zutiefst europafeindlich und dürfen deswegen auch nicht realisiert werden.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Jana Schimke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Gründe für unsere Ablehnung des AfD-Antrages heute mal nicht aus europäischer, sondern aus nationaler Sicht beleuchten. Es ist schon bemerkenswert, wie umfassend die fachlichen Fehleinschätzungen in dem Antrag sind. Der Antrag zeigt, dass die AfD offenbar ein sehr seltsames Sozialstaatsverständnis hat, und er ist natürlich auch in der Sache falsch.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die AfD beklagt, dass die Wohneigentumsquote in Deutschland so gering sei, weil die Menschen erstens so wenig Geld verdienen und zweitens an so hohen Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben leiden würden. Die Wahrheit ist doch aber eine ganz andere: Das Land wurde im Zweiten Weltkrieg nahezu flächendeckend zerstört.
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Die Bundesrepublik fokussierte sich in den Nachkriegsjahren massiv auf den Mietwohnungsbau. Insofern entstand eine Wohnkultur in Deutschland, die den Mieter sehr stark in den Blick nimmt.
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Bauen ist in Deutschland sehr hochqualitativ; es ist aber auch teuer. Deswegen lohnt es sich für viele Menschen, zur Miete zu wohnen. All diese Faktoren – wohlgemerkt: diese historischen Faktoren, liebe Kollegen, auf die Sie sich ja so oft berufen – führen dazu, dass wir eben nach wie vor ein Mietwohnungsland sind.
Natürlich wünschen auch wir uns eine höhere Woh neigentumsquote. Um diese aber zu erhöhen, muss man an anderen Punkten ansetzen. Warum sollten Länder wie Portugal, Spanien oder Italien sonst über deutlich höhere Wohneigentumsquoten verfügen als die Bundesrepublik? Weil es dort eben ganz andere Zusammenhänge gibt.
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Das müssen wir beim Blick auf Deutschland natürlich berücksichtigen. So weit zur fachlichen Klarstellung.
Wie geht es weiter? Ihr Vorschlag zielt darauf ab, nur eine Personengruppe in der Bundesrepublik in den Blick zu nehmen, nämlich die Geringverdiener. Sie wollen Sozialabgaben massiv streichen. Sie wollen das Ganze finanzieren, indem Sie Förderprogramme streichen und unsere Beteiligung an der Europäischen Union massiv zurückfahren. Sie denken, das Ganze funktioniert, indem die Menschen dann mehr konsumieren und man dadurch am Ende mehr Steuern einnimmt. Sie denken, dass sich die ganze Sache auf diese Weise trägt. Aber, meine Damen und Herren, so einfach ist es eben nicht.
Wie bitte schön soll eine Solidargemeinschaft funktionieren, wenn deren Akzeptanz leidet? Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Sozialstaat, ein funktionierender Sozialstaat. Das ist sie nur deshalb, weil dieser immer noch flächendeckend, bevölkerungsübergreifend auf eine hohe Akzeptanz stößt. All das, was wir uns leisten, die soziale Unterstützung, die wir Bedürftigen in Deutschland bieten, erfordert eben auch die flächendeckende Akzeptanz und Toleranz unserer Solidargemeinschaft.
Das ist auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit. Ich kann Sozialpolitik eben nicht nur für eine Gruppe machen, nicht nur fordern, Geringverdiener zu entlasten, während alle anderen dafür zahlen müssen. So funktioniert Sozialpolitik nicht. So erhalten Sie den sozialen Frieden in einem Land auch nicht auf Dauer. Wenn Sie etwas für die Menschen tun wollen, dann bitte für alle und nicht nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen.
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Das ist unser Verständnis von Sozialpolitik. Darauf beruhen unsere sozialen Werte.
Meine Damen und Herren, was wird denn eigentlich aus der Nachhaltigkeit? Was wird denn aus der Lebensplanung, wenn wir von politischer Seite nur auf Konsum achten? Ich meine, Sozialabgaben zu leisten, bedeutet ja eben auch, in Vorsorge und Nachhaltigkeit und nicht nur in den Konsum zu investieren. Wir haben uns doch etwas dabei gedacht,
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als wir die breite soziale Sicherung in Deutschland ausgebaut haben. Ihr Vorschlag hat sehr kurzfristige Effekte. Ich glaube, er würde die Menschen in unserem Land auf Dauer nicht in eine finanzielle Stabilität führen.
Liebe Kollegen der AfD,
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glauben Sie denn tatsächlich, dass mit dem Vorschlag, den Sie uns hier unterbreiten, ein Staat zu machen ist? Das ist nicht so. Sie wollen aus internationalen Verpflichtungen raus. Sie denken sich, Sozialpolitik könnte man schlicht mit Umverteilung regeln. Und Sie wollen den Gestaltungswillen, den wir national wie international haben, einfach abbauen. Das – ich sage es ganz ehrlich – ist mir deutlich zu kurz gedacht.
Nein, ich bin der Meinung: Sozialpolitik muss alle Menschen in Deutschland im Blick behalten. Wir werden diesen Antrag ablehnen, weil er eine eklatante Unkenntnis von sozialen und ökonomischen Zusammenhängen aufweist und schlichtweg gegen die soziale Marktwirtschaft gerichtet ist.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste des Hohen Hauses! Wie mein geschätzter Kollege Jörg Schneider als Vorredner ausführte, wollen wir circa 36,4 Milliarden Euro aus allgemeinen Bundessteuern aufwenden, um Sozialversicherungsbeiträge von circa 17,5 Millionen Arbeitnehmern zu subventionieren. Ihrem Protestgeschrei von vorhin entnehme ich, dass Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, anscheinend entsetzt darüber sind, dass wir das umsetzen, was Sie den Wählern seit Jahren nur versprechen.
({0})
Sie haben in den letzten Legislaturperioden immer wieder in Ihren Wahlprogrammen versprochen, etwas für die Bezieher kleiner Einkommen zu tun.
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Hinterher in der Regierungsverantwortung hatten Sie, was das betrifft, plötzlich Amnesie und haben, im Gegenteil, gerade den einkommensschwächsten Erwerbstätigen noch tiefer in die Tasche gegriffen als vor der Wahl.
Sie haben Zustände geschaffen, in denen Erwerbstätige teilweise ein geringeres Einkommen haben als Arbeitslose, die staatliche Leistungen beziehen. Sie haben die soziale Marktwirtschaft ad absurdum geführt, indem Sie immer tiefer in die Taschen des arbeitenden Teils der Bevölkerung gegriffen haben. Wer muss die Zeche letztlich zahlen? Richtig: der Arbeitgeber; denn er ist gezwungen, immer höhere Löhne zu zahlen, damit die Arbeitnehmer sich Ihre Steuern überhaupt noch leisten können.
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Wir haben hier in Deutschland mit 49,7 Prozent die zweitgrößte Abgabenlast der Welt – und das bei angeblich fast Vollbeschäftigung und einem Wirtschaftsboom. Da stellt man sich die Frage: Was machen Sie eigentlich mit den für 2019 geschätzten 793,7 Milliarden Euro Steuereinnahmen?
({3})
Wie wäre es, wenn Sie den Leistungsträgern dieser Gesellschaft, also der arbeitenden Bevölkerung, einen Teil ihrer Steuerlast erlassen würden, damit diese Bürger in der Lage sind, ein menschenwürdiges Leben in Deutschland zu führen – trotz Arbeit im Niedriglohnbereich? Ja, Sie haben richtig gehört: trotz Arbeit. Teilweise geht es Bürgern, die von Sozialleistungen leben, besser als der arbeitenden Bevölkerung im Niedriglohnbereich.
Aber Gott sei Dank gibt es jetzt die AfD im Deutschen Bundestag. Wir halten, was wir versprechen.
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Daher haben wir Ihnen hier einen mutigen Antrag zur Entlastung von Gering- und Durchschnittsverdienern in einem Volumen von circa 36 Milliarden Euro vorgelegt, und von Ihnen kommt nichts anderes als Häme und unsachliche Kritik.
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17,5 Millionen Arbeitnehmer in den unteren Einkommensbereichen werden durch unseren Antrag entlastet. Was für ein ausgezeichnetes Konjunkturprogramm ist das für unsere einheimische Wirtschaft,
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was für ein Segen für 17,5 Millionen fleißige Arbeitnehmer, die jeden Monat circa 300 Euro netto mehr in ihrer Geldbörse haben.
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Wir kennen Ihre Gegenargumente, Herr Zimmer: Weil nach unserem Vorschlag Arbeitnehmer keine Beiträge zahlen, wird das Äquivalenzprinzip verletzt. – Davon haben Sie sich doch aber schon längst verabschiedet. Mütterrente, Respektrente und die neuen Vorschläge der SPD zum sozialen Arbeitsmarkt – all das wird aus Steuermitteln bezahlt.
Wir vertreten die Interessen der für wenig Geld hart arbeitenden Menschen in unserem Land. Genau: In unserem Land, und das heißt Deutschland.
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Daher sind wir der Meinung, dass wir zuerst für die Inländer, die hier im Niedriglohnbereich arbeiten, sorgen müssen, bevor wir immer höhere milliardenschwere Zuschüsse an einen europäischen Superstaat zahlen. Diese Zuschüsse haben wir auf ein vernünftiges Maß gestutzt, wie es auch unser Europawahlprogramm vorsieht.
Seien Sie mutig! Trauen Sie sich, unseren Antrag zu unterstützen! Vor allen Dingen: Zeigen Sie ein Herz für die arbeitende Bevölkerung in Deutschland!
Danke schön.
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Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Martin Rosemann das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der AfD ist zutiefst europafeindlich. Aber nicht nur das: Er atmet auch eine ganz bestimmte Ideologie,
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nämlich die Vorstellung, dass, wenn die finanziellen Anreize groß genug wären, alle, auch Hartz-IV-Bezieher, arbeiten würden und keine weitere Unterstützung nötig sei. Ich frage mich: Was steckt dahinter für ein Menschenbild? Der Gipfel ist, dass Sie auch noch den sozialen Arbeitsmarkt abschaffen wollen, mit dem wir denen ohne Perspektive jetzt endlich wieder Perspektiven geben. Das, was Sie machen, ist Arbeitsverweigerung und mit Sicherheit keine soziale Politik.
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Ja, es stimmt: Sozialabgaben belasten vor allem Gering- und Durchschnittsverdiener. Aber wir brauchen mit Sicherheit keine Nachhilfe von rechts außen, wenn es um die Senkung von Sozialbeiträgen geht; denn die Sozialabgaben sind in den letzten 15 Jahren gesunken – um über 2 Prozentpunkte. Das hatte vor allem zwei Ursachen.
Die erste Ursache war, dass die Arbeitslosigkeit in großem Maße gesunken ist. Ich sage es mal in aller Bescheidenheit: Das hat auch ein bisschen was mit sozialdemokratischer Politik seit 1998 zu tun.
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Die zweite Ursache ist, dass Rot-Grün damals die versicherungsfremden Leistungen, die Lasten der Wiedervereinigung endlich durch einen höheren Steuerzuschuss zur Rentenversicherung ordentlich finanziert hat und dass es damit möglich war, den Rentenversicherungsbeitrag zu senken. Mehr Steuerzuschüsse in die Rente, das war eine große Leistung.
Das sind die beiden Ursachen dafür, dass wir es sogar geschafft haben, die Sozialabgaben zu senken. In dieser Wahlperiode haben wir auch einiges getan, um Gering- und Durchschnittsverdiener zu entlasten: Bei der Krankenversicherung zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder jeweils zur Hälfte den Krankenversicherungsbeitrag.
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Den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung haben wir um 0,5 Prozentpunkte gesenkt, und wir haben mit dem Rentenpaket I ganz gezielt die Geringverdiener entlastet, indem Geringverdiener bis zu einem Einkommen von 1 300 Euro monatlich reduzierte Beiträge zahlen, aber der volle Rentenanspruch entsteht, also reduzierte Beiträge, aber voller Rentenanspruch. Das haben wir für Geringverdiener und Geringverdienerinnen gemacht.
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Matthias Zimmer hat schon darauf hingewiesen: Die Beiträge sind die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind die Leistungen der Sozialversicherung. Wir haben die Leistungen in unserer Regierungszeit verbessert. Ich erinnere nur an verbesserte Leistungen der Pflegeversicherung, eine höhere Erwerbsminderungsrente, die Stabilisierung des Rentenniveaus, mehr Geld für Prävention und Rehabilitation. Und wir haben die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung, vor allem für kurzfristig Beschäftigte, ausgebaut.
Meine Damen und Herren, wir richten die Arbeitsmarktpolitik auf die Herausforderungen der Zukunft aus, auf digitalen, technologischen und strukturellen Wandel. Wir sorgen dafür, dass wir mit unserem Sozialstaat den Beschäftigten Schutz und Chancen im Wandel bieten. Ein Schlüssel ist dabei Qualifizierung. Deswegen haben wir das Qualifizierungschancengesetz gemacht. All das folgt der Vorstellung, dass wir den Sozialstaat als Partner stärken, der den Beschäftigten während des Arbeitslebens Sicherheit gibt, sie unterstützt, berät und qualifiziert, damit keiner im Wandel verloren geht, der schnelle Hilfe aus einer Hand gewährt, individuell, in den unterschiedlichen Lebenslagen, über das Erwerbsleben hinweg. Meine Damen und Herren, uns geht es darum, dass wir die Herausforderungen in Gesellschaft und Arbeitsleben durch Digitalisierung, durch technologischen Wandel, durch strukturellen Wandel solidarisch und gemeinsam bewältigen. Dafür stehen die Sozialversicherungen in Deutschland. Das packen wir an.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Carl-Julius Cronenberg das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD fordert die Abkehr vom Versicherungsprinzip im Sozialsystem und möchte die Finanzierungslücke in Höhe von 36 Milliarden Euro durch eine Kürzung im EU-Budget gegenfinanzieren. Damit kopiert die AfD die Hard Brexiteers, die den Briten vor drei Jahren vorgegaukelt haben, mit weggesparten EU-Beiträgen das marode Gesundheitssystem sanieren zu können.
({0})
Dieses leere Versprechen hat genau bis zum Tag nach dem Referendum gehalten. Jetzt verknüpft die AfD linkspopulistische Sozialfantasien mit rechtspopulistischen Europaressentiments.
({1})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Da sind mir, lieber Kollege Schneider, die Europafantasien von Präsident Macron aber dreimal lieber.
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Sie schreiben in Ihrem Antrag – ich zitiere – „der mehrjährige Finanzrahmen der EU“ könnte „auf ein Volumen von 0,22 Prozent des Bruttonationaleinkommens angesetzt werden“. 0,22 Prozent? Zurzeit beträgt der MFR ohne die Beiträge Großbritannien circa 1,2 Prozent. In dieser Größenordnung bewegen sich auch die Vorschläge von Kommission und Parlament für den nächsten Haushalt. Die AfD schlägt 0,22 Prozent vor. Das entspricht einer Haushaltskürzung von über 80 Prozent.
({3})
Meine Damen und Herren, wer den EU-Haushalt um 80 Prozent zusammenstreichen will, dem geht es nicht um die Entlastung von Durchschnitts- und Geringverdienern, sondern der legt in Wahrheit die Axt an die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union.
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Aber was bezwecken Sie eigentlich mit Ihren Finanzierungsvorschlägen konkret? Sie beklagen doch tagein, tagaus die unkontrollierte Migration nach Europa. Wir wollen Frontex endlich zu einer echten Grenzschutzagentur ausbauen.
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Europa braucht sichere Außengrenzen. Das kostet Geld, Geld, das Sie jetzt streichen wollen.
Sie beklagen in Ihrem Wahlprogramm den Ausverkauf der Wirtschaft durch China. Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit stärken, indem wir in eine europäische KI-Strategie investieren. Das kostet Geld, Geld, das Sie jetzt streichen wollen.
({6})
Sie schüren Angst vor EU-Bürgern, die angeblich in unsere Sozialsysteme einwandern. Wir wollen über den Europäischen Sozialfonds Plus Jugendarbeitslosigkeit in Problemregionen bekämpfen, damit genau das nicht passiert. Auch das kostet Geld, Geld, das Sie jetzt streichen wollen.
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Mit Verlaub: Ihre Politik ist an Widersprüchlichkeit nicht zu überbieten.
Deutschland ist eine Exportnation. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, 20 Prozent unserer Arbeitsplätze hängen am EU-Binnenhandel. Kollege Witt, das war wohl ein Freud’scher Versprecher, dass Sie statt „entlasten“ „entlassen“ gesagt haben. Wer jetzt leichtfertig die Basis für den Binnenmarkt untergräbt, der gefährdet Millionen Arbeitsplätze, der entlastet nicht, s ondern gefährdet Arbeitsplätze.
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Gehen Sie ruhig hinaus auf die Straßen und Plätze, und erklären Sie den Bürgern, warum Sie eigentlich in ein Parlament einziehen wollen, das Sie gleichzeitig bis zur Unkenntlichkeit entmachten wollen!
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Wir jedenfalls kämpfen unbeirrt weiter für ein liberales Europa des Fortschritts, des Mehrwerts und der Chancen, für seine Menschen im Sinne der Präambel unseres Grundgesetzes.
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Das Wort hat der Abgeordnete Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute und morgen zwei Anträge der AfD, die in einem engen Zusammenhang stehen. Die Kernbotschaft ist wieder mal das, was die AfD am besten kann: Spalten, hetzen und diffamieren. Sie wollen den Menschen klarmachen, dass es den Geringverdienern besser ginge, wenn wir nicht in den Haushalt der Europäischen Union einzahlen würden. Das ist überhaupt nicht das Problem, das wir haben. Diese Spaltung hat in Großbritannien zum Brexit geführt. Sie wollen die Europäische Union abschaffen, alle anderen Fraktionen hier im Haus wollen das nicht, und das haben Sie in dieser Debatte noch mal bewiesen.
({0})
Was ich überhaupt nicht verstehe, ist: Das Problem, das wir in diesem Land haben, ist nicht, dass der Hartz‑IV-Empfänger ein Problem mit dem arbeitslosen Jugendlichen in Griechenland hat. Wir haben auch nicht das Problem, dass der geringfügig Beschäftigte ein Problem mit Migration hat. Unser Problem in diesem Land ist, dass die Umverteilung schlecht funktioniert.
({1})
Wir dürfen nicht die Menschen gegeneinander aufhetzen, sondern wir müssen eine Umverteilungspolitik betreiben; denn genug Geld ist in Europa und in Deutschland für alle da.
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Da versagt aber leider auch die Große Koalition mit ihrer Politik gegen Armut. Oder mal andersrum: Sie machen zu wenig, um Armutsbekämpfung in diesem Land zu betreiben.
Noch einmal: Das, was Sie hier machen, kann man nur ablehnen. Das zeigt auch Ihr menschenverachtendes Bild. Sie wollen im Prinzip die Europäische Union auch finanziell ausbluten. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Deutschland 20 Milliarden Euro weniger ins Budget der Europäischen Union einzahlen solle.
({3})
Haben Sie sich überhaupt schon mal Gedanken gemacht, wie viel Deutschland überhaupt netto einzahlt in den Haushalt der Europäischen Union? Wenn Sie sich Gedanken gemacht hätten, dann würden Sie feststellen: 2017 haben wir netto keine 20 Milliarden Euro eingezahlt. Das heißt: Sie wollen im Prinzip die Europäische Union finanziell ausbluten. Sie wollen damit die Europäische Union zerstören. Da können Sie im Wahl-O-Mat noch so oft Ihre Antworten verändern. Die Botschaft ist doch klar: Die AfD will eigentlich den Dexit über die Finanzen.
({4})
Damit das auch klar ist: Wir Linke kritisieren die Planungen für den mehrjährigen Finanzrahmen. Wir sagen aber klipp und klar: Wir wollen nicht kürzen. Wir glauben sogar, dass wir in Zukunft mehr zahlen müssen. Wenn der Brexit durchgeführt worden ist und Großbritannien als Nettozahler ausfällt,
({5})
dann müssen wir möglicherweise mehr zahlen.
Uns interessiert auch: Für was werden diese Mittel genutzt? Da ist das, was die EU-Kommission vorgeschlagen hat, kritikwürdig. Es soll an der Kommission gespart werden, es soll am Sozialfonds gespart werden, aber es soll für Militarisierung und Abschottung nach außen mehr Geld ausgegeben werden. Das lehnen wir ab.
({6})
Wir brauchen ein Europa des sozialen Fortschritts. Da müssen gerade in diese Fonds mehr Gelder eingezahlt werden und nicht für Militär oder Aufrüstung. Deshalb: Lassen Sie uns streiten, wie man mit Mindestlöhnen, mit Tarifbindung und mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland etwas tun kann. Das wäre dringend notwendig.
Wir haben schon viele, viele Anträge geschrieben. Diese können Sie meinetwegen auch abschreiben, damit von der AfD auch einmal etwas Vernünftiges kommt. In Europa müssen wir endlich den Worten, die im Wahlkampf immer wieder gesagt werden – wir wollen ein soziales Europa –, Taten folgen lassen. Lassen Sie uns das im mehrjährigen Finanzrahmen ausgestalten. Da gibt es viel zu tun. Das, was die EU-Kommission plant, ist an dieser Stelle tatsächlich ablehnungsbedürftig.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier im Saal und an den digitalen Endgeräten! Liebe Milchmädchenfraktion, Ihr Antrag ist falsch gerechnet, in sich widersprüchlich und insgesamt ein krasses Beispiel für versuchte Volksverdummung. Lassen Sie mich Ihnen das bitte einmal vorrechnen.
({0})
Sie versprechen sich von einer Kürzung des EU-Finanzrahmens auf ein Fünftel zusätzliche Mittel in Höhe von 20 Milliarden Euro. Sie lassen aber völlig außer Acht, dass Deutschland auch Bezieher von Mitteln aus der EU ist. Das heißt, Ihr Antrag geht davon aus, die anderen zahlen zugunsten von Deutschland weiter, wir kürzen unsere Leistungen. Aber das macht sich bei unseren Einnahmen nicht bemerkbar; denn der Nettobeitrag liegt bei 11 Milliarden Euro und nicht bei 20 Milliarden Euro. Das ist auch eine hohe Summe, aber 11 Milliarden Euro sind deutlich weniger als 20 Milliarden Euro. In Ihrem Antrag steht, dass sich die Kosten nach Ihren Berechnungen – wenn es denn reicht – auf 36 Milliarden Euro belaufen. Dann fehlen 25 Milliarden Euro. Das ist die erste krasse Fehlberechnung in Ihrem Antrag.
({1})
Zweitens – auch das sieht man an der Kürzung; das haben meine Vorredner auch gesagt – zeigt Ihr Antrag Ihre tief verwurzelte Europafeindlichkeit, von der ich gar nicht weiß, ob ich mich mehr ärgern oder sorgen soll. Ihre nationalistisch-populistische Gefühlsduselei wollen Sie nun mit scheinökonomischen Gedanken rechtfertigen. Dabei verrechnen Sie sich allerdings gewaltig. Sie missbrauchen die Sorgen von Geringverdienern, indem Sie ihnen vorgaukeln, mit weniger EU ginge es ihnen besser, dabei ist das Gegenteil richtig.
({2})
Wir haben bekanntlich übernächsten Sonntag Europawahlen. Ich kann alle Wählerinnen und Wähler nur auffordern, genau hinzusehen, was Sie vorschlagen. Sie wollen nicht nur das EU-Budget massiv kürzen, Sie wollen keine freie Fahrt für freie Bürger; denn Sie wollen die Binnengrenzen schließen. Sie wollen das EU-Parlament in seiner jetzigen Form auflösen
({3})
mit dem interessanten Argument, es sei undemokratisch, weil kleine Länder überrepräsentiert sind.
({4})
Warum wollen Sie dann eigentlich nicht den Bundesrat auflösen? Da ist es ganz genauso, dass weniger Einwohner mehr Stimmen haben.
({5})
Es ist einfach unfassbar. Natürlich sollte man auch noch erwähnen: Den Euro wollen Sie ja auch nicht.
({6})
Es steht in Ihrem Parteiprogramm: Wenn alle Reformen, die Sie „grundlegende Reformansätze“ nennen, ni cht kommen, dann wollen Sie den Dexit, wie Sie es nennen. Dann sagen Sie doch bitte gleich die Wahrheit. Stellen Sie doch nicht erst unrealistische Forderungen auf, um dann zu sagen: Wenn die nicht kommen, dann treten wir aus. – Sagen Sie doch gleich die Wahrheit: Sie wollen raus aus Europa. Ich finde, das sollte man den Wählern am kommenden Sonntag auch noch einmal in dieser Klarheit sagen.
({7})
Ich meine, das ist nicht im deutschen Interesse. Nichts schadet dem deutschen Interesse mehr als Ihre Forderung nach Separatismus.
({8})
Um es noch weiter vorzurechnen: Ihre Milchmädchenrechnung hat noch eine weitere Dimension, eine volkswirtschaftliche Dimension. Die EU hat einen positiven Beitrag von mindestens 86 Milliarden Euro auf die Einnahmen deutscher Unternehmen. Wenn Sie dann noch eine 30-prozentige Steuerquote rechnen,
({9})
dann haben Sie dadurch eine weitere Einnahmeverbesserung in Höhe von 30 Milliarden Euro in den Haushalten.
({10})
Die fallen dann auch weg. In Mathematik ist es zwar so, dass minus mal minus plus ergibt, aber minus plus minus ergibt ein noch größeres Minus. Das, was Sie uns hier vorschlagen, ist: Wir sollen 36 Milliarden Euro ausgeben für Ihre unrealistischen Sozialversprechen. Außerdem wollen Sie noch eine EU-Budgetkürzung, die am Ende dazu führen wird, dass wir noch weniger Einnahmen haben, weil der gemeinsame Markt schwächer wird. Im Ergebnis wird es also noch viel teurer als das, was Sie uns vorrechnen. Ich finde, das müsste man den Wählern und Wählerinnen auch noch einmal deutlich sagen.
({11})
Ihre werten Kollegen der Brexit-Fraktion in England haben bekanntermaßen ihre Kampagne unter das Motto gestellt: „Take back control“. – Ich meine, wenn es irgendwo mehr Kontrollverluste gegeben hat als nach dieser Entscheidung, dann weiß ich nicht, was man „Kontrollverlust“ nennen kann. Jedenfalls kann der Brexit kein Vorbild für das sein, was wir machen wollen.
({12})
Ich kann nur sagen: Wenn Ihnen die Staatskasse in die Hände fällt, werden Unternehmer wie ich auswandern müssen, weil man einem solchen wirtschaftlichen Unverstand die Staatskasse nicht anvertrauen kann.
({13})
Ein letzter Punkt. Sie haben wahrscheinlich gedacht, wir merken es nicht: Sie haben Ihren Antrag schon letzte Woche auf die Tagesordnung gesetzt, aber den Text haben Sie vor noch nicht einmal 24 Stunden veröffentlicht. Haben Sie gedacht, wir kommen nicht drauf, dass Ihre Zahlen vorne und hinten nicht stimmen? Aber auch damit haben Sie sich verrechnet. Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({14})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fakt ist: Die Vorschläge der AfD tragen nicht dazu bei, Menschen, die für wenig Geld schuften, tatsächlich zu entlasten. Im Gegenteil, der Niedriglohnsektor würde weiter angeheizt. Das lehnen wir ab.
({0})
Ganz offensichtlich ist der AfD auch entgangen, dass die SPD gemeinsam mit dem Koalitionspartner die Sozialabgaben für Geringverdiener bereits gesenkt hat.
({1})
Ab dem 1. Juli starten wir im Rahmen des Rentenpakts mit einer neuen Regelung für Midijobber, also für Beschäftigte, die mehr als 450 Euro verdienen.
({2})
Wir weiten die bisherige Gleitzone von 850 Euro auf 1 300 Euro für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen aus. In diesem Segment zahlen Midijobber weniger Sozialversicherungsbeiträge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist doch klar: Wir lösen das Problem nur durch höhere Löhne. Die Löhne im unteren Segment müssen deutlich steigen. Nur so können wir den Niedriglohnsektor austrocknen. Wer arbeitet, soll auch einen fairen Lohn erhalten. Davon lese ich aber in dem Antrag der AfD nichts: null, nada.
({3})
Ein vernünftiger Mindestlohn und höhere Löhne wären gute Maßnahmen für Menschen, die heute mit wenig Geld für ihre Arbeit abgespeist werden. Das würde die Kaufkraft stärken, Armut bekämpfen, bessere Renten bewirken und mehr Geld in die Sozialkassen spülen.
({4})
Aber das scheint für die AfD ein rotes Tuch zu sein.
({5})
Warum, meine Damen und Herren? Weil Sie die Wirtschaft nicht in die Pflicht nehmen wollen,
({6})
obwohl die Unternehmensgewinne kräftig sprudeln. Sie wollen stattdessen den Niedriglohnsektor zulasten der Beschäftigten ausbauen und das staatlich subventionieren.
({7})
Meine Damen und Herren, als wären 5 Millionen Menschen, die heute von miesen Löhnen leben müssen, nicht genug. Hier zeigen Sie Ihr wahres Gesicht.
({8})
Das ist unsozial und geht zulasten derer,
({9})
die in unserem Land am wenigsten haben.
({10})
Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass allein durch die Verringerung von Abgaben Menschen automatisch in ein Beschäftigungsverhältnis kommen würden.
({11})
Wie absurd ist das denn? Die Langzeitarbeitslosigkeit ist trotz guter Konjunktur kaum zurückgegangen. Hier brauchen wir ganz andere Maßnahmen. Aber ausgerechnet diese Menschen, die unsere Unterstützung am dringendsten brauchen, lassen Sie voll im Regen stehen. So sieht es aus.
({12})
Für Menschen, die lange ohne Arbeit sind, haben wir das Teilhabechancengesetz auf den Weg gebracht. Wir sind froh, dass wir es sogar mit unserem Koalitionspartner geschafft haben,
({13})
mit diesem neuen Gesetz einen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen, mit dem wir Langzeitarbeitslosen wieder eine Aussicht auf Beschäftigung und Teilhabe geben.
({14})
Und ausgerechnet dieses Gesetz, meine Damen und Herren, wollen Sie von der AfD
({15})
zur Finanzierung Ihrer Vorschläge ersatzlos streichen!
({16})
Mit diesem Antrag wird überdeutlich, auf wessen Seite die AfD tatsächlich steht.
({17})
Klar ist: Sie vertritt nicht die Interessen der hart arbeitenden Menschen, die sich für miese Löhne in unserem Land krumm machen müssen. Sie vertritt nicht die Interessen der Menschen, die am nötigsten auf einen intakten Sozialstaat angewiesen sind. Nein, die AfD ist eine Partei, die sich von der Wirtschaft subventionieren lässt
({18})
und diese Geschenke jetzt zulasten der Steuer- und Beitragszahler wieder an ihre Gönner zurückgeben will. So sieht es aus.
({19})
Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, sind unsozial, lassen langzeitarbeitslose Menschen im Regen stehen und dienen allein der Wirtschaft. Obendrein wollen Sie unser Europa, unsere EU noch gleich mit zerschlagen.
({20})
Ich sage: Pfui Deibel, nicht mit uns!
({21})
Ich bitte darum, auch für den letzten Redner in dieser Debatte die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen.
Das Wort hat der Kollege Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben heute hier im Deutschen Bundestag tatsächlich alternative Politik für Deutschland. Mit diesem Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren, zeigt die Alternative für Deutschland ihr wahres Gesicht.
({0})
– Sehr geehrter Herr Kollege Witt, unser „Protestgeschrei“ hier in diesem Hause – wie Sie sagen – ist nicht nur eine Einschätzung Ihres Antrags, sondern wir merken, was Sie in diesem Antrag für einen Quatsch schreiben.
({1})
Wir, die CSU, haben selbstverständlich ein klares Profil. Dazu komme ich noch. Aber das wahre Gesicht, das Sie von der AfD heute wieder zeigen, ist Populismus gepaart mit Verantwortungslosigkeit und Orientierungslosigkeit.
Der Titel des Antrags und sein Inhalt, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD, passen nicht zusammen. Sie legen Zahlen vor, die nicht valide, ja unseriös sind – nicht gegenfinanziert, nicht richtig gerechnet. Sie arbeiten, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD, mal wieder mit alternativen Fakten.
({2})
Sie behaupten in Ihrem Antrag, die Steuer- und Abgabenlast in Deutschland sei der Hauptgrund für Armut. Das entspricht nicht den Tatsachen. Ich habe mir den Armutsbericht angeschaut.
({3})
– Wenn Sie da reingeschaut hätten, dann hätten Sie Ihren Antrag so nicht formuliert, dann hätten Sie gesehen, welche Bevölkerungsgruppen vor allem von Armut betroffen sind: zu einem großen Teil arbeitslose Menschen,
({4})
Alleinerziehende, kinderreiche Familien,
({5})
Migranten, Menschen mit schlechter Ausbildung. Hier sollten Sie Antworten geben – nicht mit einem kruden Antrag, der nicht wirklich Lösungen bietet.
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut und nach Ihren Lösungen sucht, dann findet man: mehr Bürokratie,
({6})
mehr Belastungen, Umschichtungen des Sozialstaates, eine Finanzierung, die nicht möglich ist. Sie rechnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, mit Zahlen, die nicht belegt sind. Sie wollen das Teilhabechancengesetz abschaffen. Schauen Sie doch erst, wie es wirkt. Gehen Sie in die Wahlkreise. Reden Sie beispielsweise mit dem Werkhof, wie ich es gemacht habe, und erfahren Sie, welche Menschen neue Chancen bekommen haben, wieder in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Sie wollen das ja gar nicht. Sie arbeiten populistisch. Am Schluss ist natürlich die EU schuld. Sie wollen dort schnell mal Geld wegnehmen, um alles andere zu finanzieren. Das, meine Damen und Herren, ist keine verantwortungsvolle Politik.
Wir, die Union, machen das anders.
({7})
Wir stehen tatsächlich für die Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen. Wir kämpfen für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags.
({8})
Wir wollen in der Einkommensteuer die kalte Progression abbauen, damit mittlere Einkommen entlastet werden. Wir haben die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt, vor allem auf Nachdruck der CSU. Das, Herr Witt, ist soziale Politik.
Wir stehen für mehr Netto vom Brutto, und wir stehen auch für mehr Gerechtigkeit. Das Stichwort „Mütterrente“ ist vorhin gefallen.
({9})
Ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin froh, dass „Alternative“ immer heißt, eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten zu haben. Ich bin froh, hier für eine Partei stehen und reden zu dürfen, die den Grundstein für eine starke soziale Marktwirtschaft in unserem Land gelegt hat.
({10})
Wir bringen den Ausgleich von sozialen Interessen und wirtschaftlicher Freiheit zusammen – das Erfolgsmodell in unserem Land.
Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen darüber reden, wie die soziale Marktwirtschaft mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen wird. Wir müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass wir den Wandel zum Wohle der Menschen in unserem Land und in Europa gestalten können. Mit unserer Arbeit hier im Deutschen Bundestag müssen wir verantwortungsvoll und verlässlich Politik gestalten, nicht populistisch, wie Sie, liebe Kollegen der AfD, es tun.
({11})
– Okay. Bitte streichen!
({12})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu all diesen Maßnahmen gehört ein starkes Europa, das sich auf seine Kernkompetenzen konzentriert. Wir stehen für eine starke soziale Marktwirtschaft. Wir stehen für ein starkes, soziales Europa, das wirtschaftlich ausgerichtet ist, das vor dem Hintergrund der sozialen Marktwirtschaft eines der Erfolgsmodelle unseres Wirtschaftens ist. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD, ab.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10170 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf hat ein zentrales Ziel, nämlich die Durchsetzung rechtsstaatlicher und fairer Regeln. Wir gewähren jedem Menschen, der Schutz braucht, bei uns im Lande Schutz. Aber das heißt auf der anderen Seite: Wer kein Bleiberecht hat, muss unser Land wieder verlassen.
({0})
Dieses Gesetz wird eine Reihe von Schwachstellen im geltenden Recht beheben.
({1})
Erstens. Die persönliche Passbeschaffungspflicht für Asylbewerber wird strenger.
({2})
Es wird deutlich zwischen Personen unterschieden, die ihre Pflichten verletzen, also selbst zu verantworten haben, dass die Pässe nicht da sind, und solchen, die aus gutem Grunde nicht ausreisen können, weil zum Beispiel im Herkunftsland Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit droht.
({3})
Wir regeln, dass Ausreisepflichtige selbst alles Zumutbare tun müssen, um einen Pass zu beschaffen. Wer das nich t tut und damit für das Ausreisehindernis selbst verantwortlich ist, wird spürbar sanktioniert. Er bekommt künftig nur noch eine „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“. Das ist – für Nichtjuristen übersetzt – eine „Duldung minus“. Die damit verbundenen Einschränkungen lauten: Erwerbstätigkeitsverbot, Wohnsitzauflage, Verhinderung der Aufenthaltsverfestigung und auch die Möglichkeit zur Verhängung von Bußgeldern.
({4})
Zweitens. Wir verbessern die Voraussetzungen erheblich, damit die Ausreisepflicht auch durchgesetzt werden kann. Wer in der Praxis unterwegs ist, wird immer wieder erfahren, dass das Phänomen des Abtauchens zum Zeitpunkt der Abschiebung eines der Haupthindernisse ist. Unverzichtbare Instrumente, um diese Hindernisse zu beseitigen, sind die Abschiebungshaft und der Ausreisegewahrsam. Die Voraussetzungen hierfür werden systematischer gefasst und die Haftgründe ausgeweitet. Damit wird der Ablauf für die Behörden deutlich handhabbarer. Das ist wichtig; denn es hat keinen Sinn, Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam in das Gesetz zu schreiben, wenn dies in der Praxis kaum anwendbar ist.
({5})
Drittens. Die Rückführung von Gefährdern, also von Personen, von denen besonders schwere Anschläge zu befürchten sind, und Intensivstraftätern hat für uns seit langem oberste Priorität. Hier wollen wir die Ausweisungsregeln schärfen und das Schutzniveau der EU besser und klarer abbilden. Wenn ein Intensivstraftäter unter keinen Umständen abgeschoben werden kann – solche Gründe können vorliegen –, dann werden wir diese Personen in Zukunft ähnlich intensiv überwachen wie heute schon die etwa 750 Gefährder in der Bundesrepublik Deutschland.
Viertens. Nach wie vor gibt es zu wenige Abschiebungshaftplätze. Es sind weniger als 500 für ganz Deutschland; das ist etwa ein Viertel der Kapazitäten, die in Frankreich dafür zur Verfügung stehen. Wir müssen und wollen diesen Mangel beheben, indem das Trennungsgebot von Strafgefangenen und abzuschiebenden Personen ausgesetzt wird. Das erlaubt uns das europäische Recht ausdrücklich. Zwar ist innerhalb einer Justizvollzugsanstalt zwischen Strafgefangenen und Abzuschiebenden zu trennen. Aber die Justizvollzugsanstalten sollen für Abschiebungen genutzt werden können; das ist wichtig.
({6})
An die Adresse der Bundesländer gerichtet möchte ich zwei Punkte ansprechen, die deutlich machen, wie absurd manche Diskussionen bei uns in Deutschland sind. Am 5. Dezember fand eine Ministerpräsidentenkonferenz statt. Die Ministerpräsidenten beschlossen einstimmig – 16 : 0 – die Aufforderung an die Bundesregierung, dass eine Lockerung des Trennungsgebotes für drei Jahre erfolgt. Die Justizminister der Bundesländer kritisieren nun die Bundesregierung, weil sie den Vorschlag ihrer Ministerpräsidenten umsetzt. Das ist skurril.
({7})
Ich will darauf hinweisen: Es gibt bekanntlich 16 Bundesländer, und es geht jetzt um 500 zusätzliche Haftplätze für alle 16 Bundesländer zusammen. Ich will die Rechnung jetzt selber nicht anstellen, aber Ihnen mitgeben: 500 durch 16! Das sollte in einem hochentwickelten Land wie der Bundesrepublik Deutschland doch möglich sein.
({8})
Abschließend noch der Hinweis: Die gesetzlichen Grundlagen für die Rückführungen sind ein Teil. Wir brauchen sie, wenn Menschen nach einem rechtsstaatlichen Verfahren kein Bleiberecht haben. Wir brauchen das, damit die Akzeptanz der Bevölkerung für die Schutzbedürftigen erhalten bleibt. Aber genauso wichtig wie dieses Gesetz ist die operative, die administrative Umsetzung der Rückführungen.
({9})
Da möchte ich Ihnen klar sagen: Wir haben gemeinsam mit den Ländern in Berlin ein Zentrum zur Unterstützung der Rückführung eingerichtet. In diesem Zentrum sitzen Beschäftigte aus allen Bundesländern. Das Zentrum unterstützt bei der Passersatzbeschaffung. Das Zentrum unterstützt bei einer besseren Kooperation mit den Herkunftsländern. Wir als Bundesregierung unterstützen alle Bundesländer, die das wollen, bei der Passersatzbeschaffung vom Staat her. Wir haben mit 40, 50 Ländern gute Kooperationen für die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern vereinbart. Außerdem wird das Personal der Bundespolizei von 1 300 auf 2 000 Bundespolizisten aufgestockt; sie begleiten die Abzuschiebenden für die Bundesländer. Beide Teile, die rechtlichen Grundlagen und der administrative Vollzug, sind wichtig, damit wir in diesem Bereich Erfolg haben und die Akzeptanz der Bevölkerung erhalten.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Gottfried Curio für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Unvereinbarkeiten dieser Regierungskoalition spiegeln sich in den Zwiespältigkeiten ihrer Gesetzesvorlagen wider. Der Innenminister hat ein Gesetz zur besseren Abschiebung vorgelegt, doch das Geordnete-Rückkehr-Gesetz entpuppt sich, wie darzulegen sein wird, als ein Schlechte-Durchsetzbarkeit-Gesetz, wenn nicht gar als Abschiebevermeidungsgesetz.
({0})
Ganz wie das vor kurzem eingebrachte Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das nicht hält, was der Titel verspricht, sondern Migration von außerhalb Europas nach Deutschland forciert. Ganz wie das Ausbildungsduldungsgesetz, das Asylbetrüger, die Deutschland getäuscht und geschröpft haben, noch belohnt –
({1})
das unrühmliche Spurwechselgesetz –: ein Asylmissbrauch-Belohnungsgesetz und als solches seinerseits geradezu ein Abschiebeverhinderungsgesetz.
Der Spurwechsel führt zu allem, nur nicht zu Rückführung. Er arbeitet ihr entgegen, und das ist wohl auch so gewollt. Untertauchen war gestern. Irgendein sogenannter Ausbildungsplatz findet sich, gern bei einem der vielen kurzlebigen Scheinselbstständigen. Einwanderung, Duldung, Rückführung – die Fülle der Gesetze soll nicht nur Lösungen selbstgemachter Probleme suggerieren, sondern in irreführenden Überschriften auch die tiefe Zerstrittenheit dieser handlungsunfähigen Koalition verdecken. Vor allem: Die Wahlbevölkerung soll, gerade noch rechtzeitig vor fünf wichtigen Wahlen, getäuscht werden. Dafür kalkuliert man für den Machterhalt jedweden Schaden Deutschlands ein. Das ist unerhört, meine Damen und Herren.
({2})
Bereits die Gründe bisheriger Abschiebehindernisse machen die jahrelange Hinnahme krimineller Machenschaften deutlich. Einer davon: Migranten entledigen sich ihrer Pässe auf ihrer Reise in ein Deutschland, das üppigste Sozialleistungen mit inexistenter rechtlicher Abwehr verbindet. Letzte Ansätze zu administrativer Gegenwehr hat die SPD aus dem Entwurf gestrichen. Statt Sanktionen soll es nun auf unbegrenzte Zeit möglich sein, verweigerte Mitwirkung bei der Identitätsaufklärung irgendwann nachzuholen – ohne irgendwelche Konsequenzen. Das heißt, jede Unrechtsbekämpfung ist ausgesetzt. Die Aufenthaltsperspektive für Identitätstäuscher bleibt so gut wie je.
Ein anderer Grund gescheiterter Abschiebungen: Sogenannte Flüchtlingshelfer warnen Ausreisepflichtige vor Abschiebeterminen. Hier waren Haftstrafen vorgesehen, auf Druck der SPD nur noch für Amtsträger, nicht für sogenannte Flüchtlingsräte oder Journalisten, was eine partielle Straffreistellung bedeutet. Man kann aber doch nicht den Stehler der Information in den Amtsstuben bestrafen und den Hehler, den Weiterträger, der erst durch Weitergabe der Information die Abschiebung verhindert, straffrei stellen.
({3})
Wie weichgeklopft muss ein Innenminister in dieser Koalition sein, dass er eine Maßnahme, die auf die Verhinderung seiner eigenen r echtsstaatlichen Anordnung abzielt, straffrei stellt?
({4})
Dann die Abschiebehaft. Sie ist ein notwendiges Instrument, um das Untertauchen von Abzuschiebenden zu verhindern. Solche Plätze wurden vom rot-rot-grünen Senat in Berlin bewusst aufgelöst, um die rot-grüne Unrechtspolitik zu betonieren. Also war die Idee, vollziehbar Ausreisepflichtige kurzfristig auf Haftanstaltsgelände unterzubringen, und zwar räumlich getrennt. Ein Boykott dieser Maßnahme wird unter Bannerführung der SPD-Justizminister bereits von etlichen Ländern angekündigt. Aber was ist schlimm daran, wenn Asyltäuscher dort zwischenverwahrt werden?
({5})
Angesichts des Ausländeranteils in Gefängnissen von über 50 Prozent ist das doch nicht wirklich eine fremdartige Umgebung.
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Meine Damen und Herren, wenn wir über Abschiebeprobleme reden, müssen wir doch vor allem auch über das Anreizsystem reden. Wieso gibt es immer noch für Abgelehnte, vollziehbar Ausreisepflichtige neben dem physischen Existenzminimum das sogenannte Existenzminimum für kulturelle Teilhabe an der Gesellschaft, das berühmte Taschengeld? Es ist, wo sogar Haft anzuordnen ist, natürlich auf null zu setzen, statt noch erhöht zu werden. Auch dieses Geld muss doch erst vom Bürger erarbeitet werden. Wer damit Unberechtigte alimentiert, der veruntreut es. Aber selbst dafür wurde von Ihnen noch der Status der Berechtigung der Unberechtigten erfunden, die sogenannte Duldung. Und selbst wer kein Duldungsfall ist, sondern vollziehbar ausreisepflichtig, sich aber dem Vollzug entzieht – selbst der wird in Deutschland weiterfinanziert statt bestraft. Das ist niemandem mehr vermittelbar. Deutsche mit abgelaufenem Ausweis bekommen ein Bußgeld, Migranten ohne Pass ein Taschengeld plus Unterkunft und Vollverpflegung.
({7})
Und wieso bekommen Personen, die nur Geduldete sind und nie schutzbedürftig waren, und auch die sogenannten Dublin-Fälle, die zu Unrecht nach Deutschland weitergezogen sind, weiterhin Geldleistungen statt Sachleistungen? Wieso reden wir über bessere Abschiebungen, wenn man gleichzeitig das Anreizsystem in vollem Umfang fortbestehen lässt, meine Damen und Herren?
({8})
So sehen wir jede Menge Symptomdoktorei, statt das Grundproblem der offenen Grenze anzugehen. Das ist wie „Messer verbieten wollen, aber die Leute, die die Messer tragen wollen, forciert reinholen“. Bei nach wie vor sperrangelweit offenen Grenzen stricken Sie an Details der Abschiebereglung. Diese Flickschusterei soll suggerieren: Es geht nur noch um ein paar Einzelmaßnahmen, nicht um das Ob dieser Politik.
({9})
Aber Unberechtigte, die man kaum mehr rauskriegt, nicht erst reinzulassen – das wäre angezeigt, meine Damen und Herren.
({10})
Nicht Verfahrensdetails bessern die lachhaft niedrigen Abschiebequoten. Ohne konsequente Zurückweisung an der Grenze wird die Bugwelle weiter wachsen. Der Minister will nur etwas schneller mit dem Sieb schöpfen, statt endlich das Leck abzudichten. Seine Rücknahmevereinbarungen mit Erstaufnahmeländern – ein Fehlschlag. Die Union plakatiert jetzt, in Freud’scher Fehlleistung: „Offene Grenzen nach innen und sichere Grenzen nach außen“. Das heißt wohl: Rein kommt jeder, aber wieder rauskomplementiert wird keiner.
({11})
Deshalb braucht es jetzt eine Rückkehr zum geltenden Recht. Dublin III ist nicht obsolet; es gilt. Wir brauchen Amtsärzte, die Schluss machen mit politisch begründeten Scheinattesten für Geduldete und Ausreisepflichtige.
({12})
Bei Identitätsbetrügern und Kriminellen: Ausweisung. Bei Abtauchen und Widerstand gegen Abschiebung: Schluss mit überflüssigen Sozialleistungen!
({13})
Meine Damen und Herren, die einprogrammierte Nichtdurchsetzbarkeit auch des neuen Rückführungsgesetzes nimmt die milliardenschwere finanzielle Belastung der Bürger ohne Skrupel in Kauf, eine Belastung durch Leute, die sich in krimineller Weise ihrer Ausreisepflicht entziehen, und das jetzt, wo der Sozialstaat ächzt und wankt.
({14})
Wer mit unzureichenden Abschieberegelungen dafür sorgt, dass weiter Hunderttausende Unberechtigte die Sozialkassen plündern, der verrät die rechtstreuen, hart arbeitenden Menschen in unserem Lande.
({15})
So wiegt die Schuld dieser Union schwer, in dieser Koalition der Rechtsstaatsverweigerung prinzipienlos bis heute zu verharren. Wir als AfD sagen: Schluss damit! Es ist Zeit für eine geordnete Rückkehr – zur Rechtsstaatlichkeit.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Dr. Curio, mir fällt ein Wahlkampfslogan für Ihren nächsten Auftritt ein: Schlimmer geht immer. – Sie bestätigen das jedes Mal aufs Neue.
({0})
Sie haben gerade ein Meisterstück in Dialektik vollbracht. Wir erinnerten ja vor gut einer Stunde an 70 Jahre Grundgesetz. Ohne dieses Grundgesetz wären Sie nicht wählbar, säßen Sie nicht hier;
({1})
Ihre Rede ließe sich aber so zusammenfassen: Abschaffung des Grundgesetzes. – Wie Sie diese Dialektik hinbekommen, macht mich immer wieder sprachlos,
({2})
aber nicht völlig sprachlos. Deshalb verweise ich auf die Wortwahl.
Gerade wenn wir über eine so sensible Thematik wie „Rückkehr und Abschiebung“ sprechen, ist es sinnvoll, auf die Sprache zu achten. Die Garantie der Menschenwürde des Grundgesetzes geht davon aus, dass Menschen in ihrem Dasein um ihrer selbst willen geachtet werden und gerade nicht Dinge sind. Ich meine mich aber zu erinnern, dass Sie vorhin – das Protokoll wird es belegen – von „zwischenverwahrt“ gesprochen haben. Menschen werden nicht „zwischenverwahrt“.
({3})
Sie werden vielleicht in Gewahrsam genommen, inhaftiert, aber nicht „zwischenverwahrt“.
({4})
Dasselbe gilt für Ihre Metapher mit dem Leck. Menschen sind nicht irgendwelche Wasserfluten, die dieses Land überfallen. Das sind immer noch Menschen, die, egal aus welchem Grund – ob legal oder illegal, legitim oder illegitim –, hier sind. Diese Grenze gibt uns das Grundgesetz. Und wenn Sie sich nicht auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen, sollten Sie sich ernsthaft überlegen, ob Sie noch einen weiteren Tag in diesem Parlament sitzen wollen.
({5})
Ihre Aussagen waren – dankenswerterweise – auch ein Hinweis darauf, dass wir im gesamten Migrationspaket etwas richtig gemacht haben müssen; denn Ihr vehementer Widerstand ist Beleg für eine gewisse Qualität der entsprechenden Gesetzgebung.
({6})
Sie haben auch auf die durchaus mäßigende Wirkung der SPD in den Verhandlungen hingewiesen. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich dem Justizministerium, das als Hüter der Verfassung hier genau hingeguckt und verhindert hat, dass wir einen Entwurf beraten, der aus unserer Sicht verfassungsmäßig nicht tragbar gewesen wäre.
Sie haben weiter darauf hingewiesen, dass die Justizminister in Form irgendeiner geheimnisvollen Vers chwörung eine grenzenlose Migration ermöglichen wollten. Da habe ich mich wirklich gefragt, auf welchem Kontinent Sie sich bewegen. Es ist das gute Recht jeder Justizministerin und jedes Justizministers, Bedenken zu äußern. In diesem Fall – erlauben Sie mir, das zu sagen – teile ich nicht die Einschätzung des Bundesinnenministers. Es muss möglich sein, dass Justizminister der Bundesländer genau auf die Politik schauen. Das bedeutet Föderalismus. Das ist eine gute Bremse und vernünftig. Ich finde, das ist kein Grund, darüber zu klagen.
({7})
Ich will hier ganz bewusst nicht hurrapatriotisch und jubelnd sprechen. Das ist nicht geboten bei Fragen von Rückkehr und Abschiebung.
({8})
Beide Fälle bedeuten eine dramatische Situation, sowohl für die Betroffenen als auch für diejenigen, die das an Flughäfen und in Institutionen mitbekommen, auch für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte. Deshalb glaube ich auch nicht, was manche vielleicht denken, dass wir die Zahl der Abschiebungen unbegrenzt erhöhen können. Das wird keine Möglichkeit sein. Es ist aber ebenso nicht richtig, dass es keine Möglichkeit gibt, die Zahl derer, die zurückgeführt werden, zu erhöhen. Auch das ist nicht wahr. Wir müssen uns lösen von diesen groben Vereinfachungen.
Was ist die Grundidee dieser Gesetzgebung, die auch für uns Sozialdemokraten keine einfache ist? Wir bewegen uns hier auf einem ganz schmalen Grat. Wir müssen genau darauf achten, wie weit wir gehen und wie weit wir nicht gehen können. Wir haben uns im Koalitionsvertrag versprochen, dass wir unterscheiden zwischen denen, die schutzbedürftig sind, die Anspruch auf Schutz haben, und solchen, die ihn nicht haben. Das bedeutet, dass, wenn man das Asylrecht in der bestehenden Form ernst nimmt, diejenigen, die keinen Schutz genießen, zurückkehren müssen.
({9})
Diese binäre Option ist zwingend notwendig.
Jetzt mache ich es wieder komplizierter: In der Realität gibt es eben nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch viele Grautöne. Beides müssen wir berücksichtigen. Wir müssen die Paradoxie akzeptieren: Es gibt die klare Unterscheidung zwischen schutzbedürftig und nicht schutzbedürftig, und es gibt in der Realität laut Statistiken 235 000 Menschen, die zwar vollziehbar ausreisepflichtig sind, von denen aber 180 000 eine Duldung haben. Und darunter sind solche, die tatsächlich hinsichtlich ihrer Identität getäuscht haben und die nicht mitwirken. Diese müssen die Konsequenzen dafür im rechtsstaatlichen Rahmen tragen,
({10})
und das werden künftig härtere Konsequenzen sein. Das vertreten wir, und das vertreten wir auch mit Nachdruck.
({11})
Es sind aber auch solche darunter, die aus gesundheitlichen Gründen nicht abgeschoben werden können, solche, die in Ausbildung sind, solche, die einen Beruf ausüben; es gibt noch viele andere Gründe. Das heißt, es ist dringend geboten, sich diese Gruppe genau anzugucken und nicht einer zu einfachen Theorie zu folgen, nach der alle, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, ihre Abschiebung, ihre Rückkehr bewusst boykottieren. Das wäre schlicht realitätsfremd.
({12})
Ich komme jetzt zu den Zwischenrufen seitens der Grünen. Ich finde es richtig, dass Sie und auch Die Linke da deutlich Ihre Stimme erheben. Es ist gut, dass wir geprüft werden, auch durch Widerspruch. Ich möchte aber auch deutlich machen, dass ich hier keine Alternative sehe. Wir müssen unseren Blick weiten: Ist es ernsthaft unsere Absicht, all denjenigen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht schutzbedürftig sind und sich in diesem Land aufhalten, zu suggerieren, dass sie irgendwie doch über das Asylrecht und letztlich über den Weg der Duldung hier leben können? Das kann doch nicht ernsthaft eine dauerhafte Perspektive sein und auch kein Zustand, den wir fortschreiben wollen.
({13})
Diese Gesetzgebung muss daher in einem Gesamtzusammenhang gesehen werden. Für diejenigen, die tatsächlich keine Aussicht haben, hierzubleiben, muss es mehr legale Wege der Zuwanderung geben;
({14})
Stichwort „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“. Für diejenigen, die hier leben und gut integriert sind, bei denen jeder mit gesundem oder halbwegs gesundem Menschenverstand, auch jeder Unternehmer – auch die meisten hier im Raum – sagen würde: „Es ist Irrsinn, sie abzuschieben“ –,
({15})
muss es Wege geben, zum Beispiel über Beschäftigungs- und Ausbildungsduldung – daran arbeiten wir, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen –, sodass sie unter bestimmten Kriterien hierbleiben können und perspektivisch einen sicheren Status erlangen.
({16})
Es ist auch sinnvoll, zu gucken, wie wir stärker als bisher Instrumente des Resettlements und der Relocation verwenden können.
({17})
Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind jetzt in einer besonderen Situation. Wir sehen, dass mehr Menschen als bisher dieses Land verlassen müssen.
({18})
Das gebietet die Konsequenz einer vernünftigen Asylpolitik.
Kollege Lindh, wenn Sie weitersprechen, geht das auf Kosten Ihres Kollegen.
Aber es muss doch unser aller Ziel sein, dass sich zukünftig nicht mehr viele Menschen auf den Weg nach Deutschland begeben und wir die Fragen, die wir jetzt diskutieren, in Ermangelung dieser Probleme künftig gar nicht mehr diskutieren müssen. Das ist das Ziel dieser Gesetzgebung.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gute Nachricht ist, dass wir heute endlich über das lange angekündigte Rückkehrgesetz der Bundesregierung sprechen. Das ist überfällig.
({0})
Denn die Große Koalition und auch die Europäische Kommission tun gern so, als habe man die Probleme inzwischen in den Griff bekommen. Doch leider ist das Gegenteil der Fall.
({1})
„Europa ist auch heute nicht auf eine Flüchtlingskrise vorbereitet“, sagt der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi. Eine europäische Lösung, eine echte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist in weite Ferne gerückt. Der Aufbau von Frontex vollzieht sich im Schneckentempo. Und von einer fairen Lastenteilung kann nicht die Rede sein. Umso wichtiger wäre es, dass wir in Deutschland endlich unsere Hausaufgaben machen und hier vorankommen.
({2})
Aber hier gibt es Fortschritt nur im Schneckentempo. Das Rückkehrgesetz, das die Koalition uns heute vorlegt, ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Die eingeschränkte Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, die dafür selbst Verantwortung tragen. Die Neuregelung des Ausreisegewahrsams. Die Mitwirkungspflicht bei der Passersatzbeschaffung. – Das alles ist sinnvoll.
({3})
Das begrüßen wir ausdrücklich, auch wenn wir an verschiedenen Stellen noch deutlichen Diskussionsbedarf haben.
Allerdings hat dieser Gesetzentwurf auch große blinde Flecken. Etwa wenn es darum geht, das Problem der Dublin-Rückkehrer in den Griff zu bekommen. Hier brauchen wir dringend beschleunigte Verfahren, um diese Personen möglichst schnell wieder zurückzuführen. Wir müssen die Anreize zur wiederholten Einreise reduzieren.
({4})
Aber v or allem gehen Sie ein entscheidendes Problem überhaupt nicht an: das Kompetenzchaos zwischen Bund und Ländern.
({5})
Da versuchen Sie höchstens, wie mit der Einschränkung des Trennungsgebotes, die Symptome zu lindern. Dabei kann die Lösung doch nur sein, dass der Bund hier endlich vollständig die Verantwortung für das Rückkehrmanagement übernimmt. Einschließlich der Abschiebehaft und des Vollzuges.
({6})
Dazu brauchen wir endlich einen nationalen Gipfel von Bund und Ländern. Es ist durchaus richtig, hier die Länder in die Pflicht zu nehmen. Auch mir ist es zu wenig, wenn sie nur kritisieren, anstatt selbst Haftplätze zur Verfügung zu stellen, und zwar reguläre Abschiebehaftplätze. Wir wollen hier zu Lösungen kommen. Wir sind bereit, über einen echten, breiten Migrationskonsens zu sprechen. Ich freue mich auch, vom Kollegen Lindh dazu heute deutlichere Worte zu hören als in früheren Reden.
({7})
– Doch, doch. – Wir müssen endlich wirksame Konsequenzen aus dem Jahr 2015 ziehen. Denn vergleichbare Situationen kann in Zukunft niemand seriös ausschließen. Dazu genügt schon ein Blick auf den Persischen Golf.
({8})
Wo der Iran gerade droht, er werde 3 Millionen afghanische Flüchtlinge nach Europa schicken. Das ist blanke Erpressung. Aber durch eigene Versäumnisse ist Europa leider erpressbar. Das müssen wir ändern.
({9})
Wir müssen die Akzeptanz für das Asylrecht in unserer Bevölkerung wieder stärken. Damit auch in Zukunft Menschen, die unseren Schutz benötigen, diesen erhalten. Und da gilt – um noch einmal den Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zu zitieren –: Nie wieder so ein Chaos. – Dafür muss es eben einen Unterschied machen, wie ein rechtsstaatliches Verfahren ausgeht. Dafür gibt es in diesem Gesetzentwurf bei allen Problemen im Detail immerhin gute Ansätze. Aber am Ziel sind wir damit noch lange nicht.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
({0})
Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! Es ist gerade einmal zwei, drei Stunden her, dass wir viele schöne Worte über das 70-jährige Bestehen des Grundgesetzes gehört haben. Aber ein Blick in die rechte Ecke zeigt – das wird angesichts der Hetze und Spaltung,
({0})
die Sie heute wieder betrieben haben, deutlich –, dass Sie von unserem Grundgesetz, von unserer Verfassung nichts verstanden haben.
({1})
Aber auch in Richtung der Regierungsreihen muss man sagen, dass das Geordnete-Rückkehr-Gesetz, das die Bundesregierung heute im Entwurf vorlegt, die verbliebenen Rechte von Schutzsuchenden bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
({2})
Ich nenne Ihnen dafür ein paar Beispiele: die maßlose Ausweitung der Abschiebehaftgründe und das Aushungern – anders kann man es nicht nennen – von Schutzsuchenden, die über einen anderen EU-Staat nach Deutschland kommen. Griechenland und Italien sind Länder, in denen Schutzsuchende unter elendigen Bedingungen leben müssen.
({3})
Das ist eine Duldung zweiter Klasse für Geflüchtete, die aus Sicht der Behörden nicht genügend an der eigenen Abschiebung mitwirken.
Nicht zuletzt wollen Sie neue Geheimhaltungspflichten für geplante Abschiebungen einführen. Beispielsweise müssen Amtsträger künftig mit einer Haftstrafe von fünf Jahren rechnen, wenn sie Informationen, etwa den Zeitpunkt von Abschiebungen, weitergeben. Flüchtlingsräte und übrigens auch zivilgesellschaftliche Initiativen befürchten zu Recht eine Kriminalisierung. Sie befürchten, dass ihnen, wenn sie Abzuschiebende beraten, Anstiftung oder Beihilfe zum Geheimnisverrat vorgeworfen wird. Das ist gegenüber der Zivilgesellschaft, aber auch gegenüber den Beamten, die solidarisch handeln, ein ganz schäbiges Vorgehen, meine Damen und Herren.
({4})
Die Koalition will so angebliche Vollzugsdefizite bei Abschiebungen bekämpfen. Doch diese Vollzugsdefizite existieren nur in der Fantasie der Bundesregierung; das muss man hier einmal ganz deutlich sagen.
({5})
Falschinformationen dienen regelmäßig zur Stimmungsmache in diesem Land. Ich will Ihnen Beispiele geben: Von den 236 Ausreisepflichtigen,
({6})
die Herr Lindh eben angesprochen hat, haben 180 000 eine Duldung. Viele dürfen aus guten Gründen nicht abgeschoben werden: weil sie eine Ausbildung machen,
({7})
wegen familiärer Bindungen, aus medizinischen Gründen. Manche haben auch gar keinen Asylantrag gestellt, sondern sind hier aus humanitären Gründen. 50 000 Ausreisepflichtige ohne Duldung sind vermutlich längst ausgereist.
({8})
– Lachen Sie ruhig. – Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage genau das zugegeben: Sie selber hat ein Datenchaos im Ausländerzentralregister bestätigt, das bislang nicht bereinigt worden ist. Anstatt Karteileichen aus dem AZR endlich zu beseitigen, sollte die Bundesregierung nicht eine öffentliche Vergiftung des Klimas betreiben, indem sie mit falschen Zahlen arbeitet.
({9})
Im Jahr 2017 wurden über 4 000 Flüchtlinge in Abschiebehaft genommen. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Jahr 2015.
({10})
Gerichtsurteile und Erfahrungen von Anwälten zeigen, dass etwa die Hälfte aller Anordnungen zur Abschiebehaft rechtswidrig ergeht. Die Bundesregierung will alles verschlimmern, indem sie die Abschiebehaft künftig noch leichter und umfassender anordnet, und das alles ohne Beschränkung durch richterliche Kontrolle. Das geht gar nicht.
({11})
Noch dazu will sie die Abzuschiebenden in ganz normale Strafgefängnisse sperren, wie wir heute gehört haben. Das hat der Europäische Gerichtshof 2014 eindeutig untersagt. Flucht ist kein Verbrechen. Es ist menschenunwürdig, Schutzsuchende wie Strafgefangene hier in Deutschland zu behandeln. Deshalb lehnen wir diese Forderung bzw. Maßnahme entschieden ab.
({12})
Jahr für Jahr werden etwa 25 000 Menschen abgeschoben. Bund und Länder setzen Abschiebungen längst mit beispielloser Brutalität durch.
({13})
Erst in der letzten Woche hat das Antifolterkomitee des Europarats Kritik an der deutschen Praxis geübt. Deutschland solle bei Abschiebungen seine „unverhältnismäßige und unangemessene“ Gewaltanwendung beenden. Konkret ging es hier um einen Mann, der während seiner Abschiebung – übrigens nach Afghanistan – am ganzen Körper mit Klebeband gefesselt und von sechs Beamten festgehalten wurde.
({14})
Ein Beamter drückte dem Betroffenen die Luft ab. Ein weiterer quetschte immer wieder seine Genitalien. Menschen, die sich verzweifelt gegen ihre Abschiebung wehren, müssen damit rechnen, dass ihr Widerstand mit roher körperlicher Gewalt gebrochen wird.
({15})
Da frage ich Sie doch: Wo ist hier die Würde des Menschen? Warum gehen Sie nicht auf solche Dinge ein?
({16})
Die Menschenrechte dieser Geflüchteten werden im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten.
({17})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
({0})
Ja, ich komme gleich zum Schluss. – Die Brutalisierung der Abschiebepolitik lässt sich übrigens auch durch Kleine Anfragen und die Antworten der Bundesregierung belegen.
({0})
Ich möchte zum Schluss sagen: Mit diesem Gesetz bereiten Sie der AfD den Weg. Die SPD sollte über diesen Gesetzentwurf gründlich nachdenken und auch darüber, ob man solchen Schweinereien zustimmen kann.
({1})
Ich danke Ihnen.
({2})
Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Filiz Polat.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Sie haben wirklich Nerven, heute diesen Gesetzentwurf vorzulegen, diesen Katalog der Entrechtung und der Inhumanität, nachdem wir 70 Jahre Grundgesetz gewürdigt haben. Heute schleift die Bundesregierung gnadenlos unsere Verfassung. Ich zitiere noch einmal Artikel 1 des Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Die Würde aller Menschen ist unantastbar – von „einschließendem Patriotismus“ hat Helge Lindh heute Morgen gesprochen –, egal ob sie deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind, egal welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Das gilt auch für abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen.
({0})
Genau das stellen Sie infrage. Spätestens mit der Vorlage dieses Gesetzentwurfs ist das besiegelt. Da machen wir nicht mit. Wir werden diesen Gesetzentwurf aus gutem Grund ablehnen.
({1})
Insgesamt liegen uns im Moment zehn Gesetzentwürfe im Bereich des Asyl- und des Aufenthaltsrechts vor, die parallel und in extrem kurzer Zeit behandelt und verabschiedet werden sollen. Die meisten stehen unter der Prämisse: abschrecken, abschotten und abschieben. Schaut man sich den nun vorliegenden Katalog genau an, stellt man fest: Es ist nicht verwunderlich – ich möchte an Sie appellieren, zu bedenken, dass das die Mehrheit in der Bundesrepublik ist –, dass es von allen Seiten fundamentale Kritik an diesem Gesetzentwurf hagelt, nicht nur von unserer humanitären Koalition der Kirchen, der Wohlfahrts- und der Menschenrechtsorganisationen. Nein, selbst zahlreiche Bundesländer, Herr Innenminister, gehen auf die Barrikaden.
({2})
So haben die unionsgeführten Justizministerien der Länder gegen den Referentenentwurf „ganz erhebliche Einwände“. Sie schreiben in ihrem Brief an die Bundesregierung, dass der Gesetzentwurf in weiten Teilen verfassungsrechtlich und rechtspolitisch höchst bedenklich ist. Denn schon allein die Vorstellung, dass zwischen teils gefährlichen Straftätern Familien mit Kindern untergebracht werden sollen, müsse doch von der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme überzeugen, so die Justizminister. Es geht hier um Familien, denen allenfalls zur Last gelegt werden kann, nicht ausgereist zu sein. Selbst wenn die gesetzliche Vorgabe eine getrennte Unterbringung vorsieht, sei dies im Haftalltag kaum zu realisieren. – Da brauchen Sie gar nicht den Kopf zu schütteln. Das ist so.
({3})
Die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann hat es auf den Punkt gebracht. Das ist kein Geordnete-Rückkehr-Gesetz, sondern ein Organisiertes-Chaos-Gesetz. Recht hat sie!
({4})
Sie werfen die Grundprinzipien des deutschen Rechtsstaates über Bord, weil Sie lieber den Orbans und Salvinis in Europa zuhören. Sie vermarkten Ihr Gesetz nämlich genau mit deren Rhetorik. Das macht das Bundesinnenministerium; das bestreitet hinter den Kulissen auch niemand. Frau Jelpke hat das im Detail beschrieben. Sie machen Geflüchtete pauschal zu Identitätstäuschern, und Flüchtlingshelferinnen und -helfer werden kriminalisiert. Das ist nach wie vor im Gesetzentwurf so. Eva, schau in die Begründung, Seite 46.
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Ein demokratischer Rechtsstaat, der durch die öffentliche Auseinandersetzung mit Leben erfüllt wird, kann nicht seinen Bürgerinnen und Bürgern den Mund verbieten oder sie gar dafür bestrafen. Aber genau das macht die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf. Ich verweise noch einmal auf die Justizressorts der Länder, die fundamentale Kritik an diesem Tatbestand geübt haben. Ich zitiere:
Den Einsatz mit dem schärfsten Schwert des Rechtsstaates zu sanktionieren, bedeutet, plakatives Gesinnungsstrafrecht zu schaffen.
Das schreiben die Bundesländer Ihnen ins Stammbuch, nicht wir.
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Sie wollen in der Flüchtlingsarbeit Tätige der Beihilfe zum Geheimnisverrat bezichtigen. Proteste gegen Abschiebungen sind aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts legitime Meinungsäußerungen. Hierzu gehört auch, konkret terminierte Abschiebungen zu benennen. Sonst nehmen Sie den Betroffenen selbst, denen der Abschiebetermin nicht bekannt ist – die Vorschrift, dass das mitzuteilen ist, haben Sie im Asylpaket II abgeschafft –, die letzte Möglichkeit, ihre Aufenthaltsaussichten noch einmal gerichtlich zu überprüfen. Ja, das ist ein Schritt hin zur Orbanisierung der deutschen Politik. Das sagen wir hier ganz deutlich.
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In diesem Gesetz befinden sich weitere unverhältnismäßige Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte; sie lassen sich gar nicht alle aufzählen. Aber mit der geplanten Einführung der Duldung light werden bestimmte Geflüchtete zu Menschen dritter Klasse deklariert. Wir sprechen hier von 50 000 Kindern und Jugendlichen, von denen die Hälfte länger als vier Jahre in Deutschland ist. Sie werden Arbeits- und Ausbildungsverbote verhängen. Sie werden sich noch wundern, was so alles in Zukunft passieren wird. Die gesellschaftliche Teilhabe wird unmöglich gemacht. Die Zugänge zu Integrationsmaßnahmen werden komplett verwehrt sein. Das ist besonders zynisch, nein, eigentlich ist es schizophren; denn in der letzten Woche hat die Bundesregierung doch erst den Entwurf eines Gesetzes zur Beschäftigungsduldung eingebracht, mit dem der Zugang zum Bleiberecht vereinfacht werden sollte. Dieselbe Regierung will nun de facto diesen Zugang abschaffen. Das ist eine Farce. Wir prophezeien Ihnen – das erleben wir bereits in Bayern –: Abschiebung von der Werkbank weg wird Realität in ganz Deutschland sein. Wir Grüne sagen: Ausbildung statt Abschiebung.
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Zum Schluss möchte ich aus der Rede von Dr. Navid Kermani in der Feierstunde zu 65 Jahren Grundgesetz zitieren:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ … ist ein herrlicher deutscher Satz, so einfach, so schwierig, auf Anhieb einleuchtend und doch von umso größerer Abgründigkeit, je öfter man seinen Folgesatz bedenkt: Sie muss dennoch geschützt werden.
Mehr denn je!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion: der Kollege Thorsten Frei.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens nach den letzten beiden Reden scheint es mir wichtig zu sein, dass wir die gesamte Debatte wieder vom Kopf auf die Füße stellen.
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Ich glaube, es geht schon darum, die Dinge richtig einzuordnen. Wenn da zum einen von der AfD, zum anderen von der Linken und von den Grünen so getan wird, als würden wir widersprüchliche Gesetzentwürfe vorlegen,
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dann ist das an Absurdität einfach nicht zu überbieten.
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Vor einer Woche haben wir hier in den Deutschen Bundestag den Entwurf eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes eingebracht. Da geht es um qualifizierte Fachkräfte, die in den deutschen Arbeitsmarkt einwandern sollen, weil wir sie aufgrund einer prosperierenden Wirtschaft und einer schwierigen demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft brauchen. Heute geht es mit dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht um diejenigen, die nach Deutschland gekommen sind und umfassende Asylverfahren hatten, gegen die im Übrigen meistens auch geklagt worden ist. Dort wurde mehrfach festgestellt, dass sie weder über einen Flucht- noch über einen Asylgrund verfügen, damit keine Bleibeperspektive haben und deshalb unser Land wieder verlassen müssen.
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Liebe Frau Jelpke, da geht es einfach nicht, dass Sie in Ihrer Rede hier relativierend über das Recht sprechen. Das spricht unserer Debatte zu 70 Jahren Grundgesetz tatsächlich Hohn. Recht lässt sich nicht relativieren; Recht muss durchgesetzt werden.
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Das ist unsere Verpflichtung. Darum geht es – um nichts weniger und um nichts mehr.
Deshalb, glaube ich, müssen wir alles dafür tun, dass wir geltendes Recht auch tatsächlich umsetzen können. Es ist in dieser Debatte angesprochen worden: Das schaffen wir aktuell trotz erheblicher Anstrengungen noch nicht so, wie wir es wollen, bei 240 000 vollziehbar Ausreisepflichtigen. Diese Zahl wird absehbar steigen, weil derzeit knapp 300 000 Menschen vor Gericht gegen ihren Asylbescheid klagen, obwohl wir derzeit eine Aufhebungsquote von gerade einmal 17 Prozent haben, was für die Qualität der BAMF-Bescheide spricht. Deshalb müssen wir an dieser Stelle etwas tun. Auch die Tatsache, dass im vergangenen Jahr mehr Rückführungen gescheitert als gelungen sind, zeigt, dass wir die Instrumentarien, die uns das Aufenthaltsgesetz gibt, nachschärfen und praxistauglicher ausgestalten müssen. Genau das tut der von Minister Seehofer vorgelegte Gesetzentwurf. Wir brauchen diese Gesetzesnachschärfung, meine Damen und Herren.
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Wir müssen etwas dagegen tun, dass 8 000 Rückführungen am Abflugtag gescheitert sind, weil man der Menschen nicht habhaft geworden ist.
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Wir müssen etwas dagegen tun, dass Menschen kurzfristig untertauchen, und dafür brauchen wir die Möglichkeiten des Ausreisegewahrsams, dafür brauchen wir die Möglichkeiten der Abschiebehaft. Dafür müssen wir die notwendigen praxistauglichen Voraussetzungen schaffen, beispielsweise, indem Gerichten nicht mehr ermöglicht wird, eine Fluchtgefahr als Voraussetzung hineinzulesen, wo sie tatbestandlich gar nicht erforderlich ist. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf.
Lassen Sie mich am Schluss noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, der wichtig ist. Neben der Nachschärfung von Ausreisegewahrsam und Abschiebehaft konkretisieren wir die Unterscheidung zwischen denjenigen, die selber dafür verantwortlich sind, dass sie als Geduldete unser Land nicht verlassen können, und denjenigen, die das eben nicht zu verantworten haben, indem wir einen neuen Rechtstatbestand der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität schaffen. Das ist dringend notwendig. Über die Konsequenzen hat Minister Seehofer gesprochen.
Weil Abschiebungen für alle Beteiligten mit äußersten Herausforderungen verbunden sind, müssen wir alles dafür tun, sie weitestgehend zu verhindern. Tatsächlich geht es dabei auch um andere Dinge. Neben dem Schutz der Grenzen, der Durchsetzung der Ausreisepflicht geht es eben vor allen Dingen auch darum, dass Sekundärmigration in Europa möglichst verhindert wird. Im letzten Jahr hatten wir 55 000 sogenannte Dublin-Überstellungsersuchen. Das sind 55 000 Menschen, die hier waren, obwohl sie in einem anderen europäischen Land bereits einen Asylantrag gestellt haben. Es war ein einstimmiger Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz am 5. Dezember des letzten Jahres, mit dem die Bundesregierung gebeten wurde, dafür zu sorgen, dass in diesen Fällen abgesenkte Leistungen vergeben werden. Das ist ein effektives Mittel, um Sekundärmigration zu verhindern. Deshalb, meine Damen und Herren, wollen wir das durchsetzen.
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Jetzt diskutieren wir in den nächsten Wochen –
Kommen Sie bitte zum Ende.
– ich komme zum Ende, Herr Präsident – all die Gesetze, die auf dem Tisch liegen, und ich bin sicher, dass wir sie zu einem guten Ende führen können.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist Professor Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.
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Danke. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Recht auf Asyl und die internationalen Verträge zum Flüchtlingsschutz sind Juwelen des Menschenrechts. Wir wollen sie bewahren, und das geht nur, indem wir Recht und Gesetz auch durchsetzen.
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Deutschland hat vielen Menschen Schutz gewährt, und Deutschland soll auch weiterhin den Menschen, die Schutzes bedürfen, Schutz gewähren. Starke Schultern sollen mehr tragen als schwache – das ist unser Grundsatz. Wir sind in der Lage, zu helfen, also sind wir auch gefordert, zu helfen. Soweit wir unserer Bevölkerung zusagen können, dass wir mit unserer Hilfe wirklich Hilfsbedürftige erreichen können, so weit werden auch Akzeptanz und Hilfsbereitschaft gehen. Übrigens sagen fast drei Viertel der deutschen Bevölkerung, dass wir gleich viele oder sogar mehr Geflüchtete aufnehmen sollten, soweit sie politisch verfolgt sind oder vor Bürgerkrieg fliehen. Deswegen entpuppt sich das, was Sie, Herr Curio, hier vorgetragen haben, als die hässliche Spitze dessen, was es ist, nämlich eine Minderheitsmeinung in Deutschland. Sie repräsentieren keinesfalls das Volk, wie Sie es hier immer vortragen.
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Ja, es gibt auch Menschen, die ablehnend oder skeptisch sind; aber das sind nicht von vornherein Ausländerfeinde. Vielmehr sind es Menschen, die sich vielleicht selbst zurückgesetzt und nicht ausreichend von der Politik wahrgenommen fühlen, die Konkurrenz am Arbeits- oder am Wohnungsmarkt fürchten. Deswegen sind wir aufgefordert, neben der Politik im Bereich von Migration und Integration mit aller Kraft für eine soziale Politik in diesem Land zu sorgen: für anständige Arbeitsbedingungen, für bezahlbaren Wohnraum, für auskömmliche Renten.
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Es ist ein gutes Zeichen, dass wir unter dem nächsten Tagesordnungspunkt hier die Paketboten in den Blick nehmen und da für ordentliche Arbeitsbedingungen sorgen. Es ist gut, dass sich die SPD durchgesetzt hat, und das zeigt, dass wir Politik für alle Menschen in diesem Land machen.
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Wer sich in diesem Land anstrengt, der soll auch etwas davon haben.
Es kommen aber auch Menschen in unser Land, die nach Prüfungen, nach Entscheidungen von Verwaltungen und Gerichten hier keinen Anspruch auf Schutz haben, und diese Menschen müssen unser Land auch wieder verlassen. Denn wenn es keinen Unterschied macht, ob man einen Asylantrag genehmigt bekommt oder ob er abgelehnt wird, dann gerät der Rechtsstaat ins Wanken. Das wollen wir nicht. Ob ich mich an ein Gesetz halte oder nicht, muss einen Unterschied machen. Mein Verständnis von Rechtsstaat, liebe Kollegin Polat, ist ni cht, dass man die Dinge laufen lässt, sondern dass man den Rechtsstaat auch da durchsetzt, wo es vielleicht nicht den eigenen politischen Überzeugungen entspricht.
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Schauen wir nach Baden-Württemberg: Dort funktioniert unter einer grün geführten Landesregierung heute ja nicht einmal die Drei-plus-zwei-Regelung. Also, sehen Sie es mir nach: Ich sehe da einen Unterschied zwischen dem, was Sie hier vortragen, und dem, was Sie dort, wo Sie in der Verantwortung sind, politisch umsetzen.
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Für das, was ich hier vortrage, haben wir schon einiges getan. Wir haben beispielsweise den Ausreisegewahrsam auf zehn Tage erhöht und haben dafür gesorgt, dass Handys ausgelesen werden können. Wir müssen uns jetzt schlicht fragen: Reicht das, was wir bisher getan haben? Es ist vorgetragen worden: Die Zahlen, die uns das Innenministerium vorlegt, sind aus meiner Sicht nicht besonders aussagefähig und definitiv zu überarbeiten. Aber der Umkehrschluss, dass alles in Ordnung wäre, wenn die Tendenz ist, dass mehr Rückführungen scheitern als gelingen, stimmt auch nicht. Also müssen wir nachlegen.
Aber die Frage ist: Was können wir tun? Das, was wir tun, muss verhältnismäßig, geeignet und erforderlich sein. Es gibt Stimmen, die sagen, dass praktisch alle, deren Asylantrag abgelehnt wurde, am besten in Gefängnisse kommen sollen, um von dort aus abgeschoben werden zu können. Ich will klar sagen: Das ist nach unserer Auffassung auch kein rechtsstaatliches Verständnis. Gefängnisse sind für Straftäter da, und nicht für Leute, die einen Asylantrag gestellt haben. Wir müssen die rechtsstaatlichen Grundsätze in beide Richtungen aufrechterhalten.
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Damit ist auch ein kritischer Punkt angesprochen; denn die Justizminister sagen, sie wollen unser Gesetz gar nicht umsetzen. Das sind die gleichen Justizminister, die zuvor nicht dafür gesorgt haben, dass ausreichend Plätze für die Abschiebehaft da sind.
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Über diesen Punkt müssen wir in den Verhandlungen noch einmal sprechen.
Es kann jedenfalls nicht sein, dass sich die einen entziehen und dafür diejenigen abgeschoben werden, die sich hier ordentlich verhalten, die sich schon integriert haben, die fleißig sind, die sich nichts zuschulden kommen lassen.
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Deswegen sind wir für die Duldung der Menschen, die sich anstrengen. Es ist ein Gesamtsystem, an dem wir hier arbeiten müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Migration – ob erzwungen oder freiwillig – hat es immer gegeben. Sie gehört zum Menschen dazu. Vernünftig geregelt, hat sie noch immer zu Wohlstand und Entwicklung beigetragen. Lassen Sie uns an diesen vernünftigen Regeln weiterarbeiten – mit einer Prise Zuversicht, dass es gelingen kann, und mit Realitätssinn.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Benjamin Strasser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Woche haben wir hier eine Debatte über das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz geführt. Heute reden wir über das Thema Abschiebungen. Das macht deutlich, wie weit diese Koalition gekommen ist. Sie sind weder willens noch in der Lage, einen großen Wurf zur Steuerung der Einwanderung vorzulegen. Sie verlieren sich lieber im Klein-Klein,
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weil Sie erkennbar zu keiner gemeinsamen Kraftanstrengung mehr imstande sind. Herr Lindh und Herr Seehofer haben uns das hier exemplarisch vorgeführt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir aber bräuchten, wäre ein Einwanderungsgesetzbuch, das alles umfasst: klare Regeln, wer zu uns kommen soll und darf, klare Regeln für Fachkräfte, für politisch Verfolgte, für Kriegsflüchtlinge und, ja, auch klare Regelungen zur Ausreisepflicht. Die Fraktion der Freien Demokraten hat einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, wie ein solcher großer Wurf aussehen könnte. Sie, Herr Minister Seehofer, präsentieren uns heute stattdessen einen Gesetzentwurf, der weiter an einzelnen Stellschrauben herumdoktert. Von welchem Erfolg diese Methode gekrönt ist, entlarven Sie in Teil A Ihres Gesetzentwurfes selbst. Sie schreiben – ich zitiere –:
Zwar wurden in den vergangenen Jahren viele Regelungen neu gefasst. Diese haben in der Praxis jedoch nicht immer den gewünschten Erfolg bewirkt.
Ich finde es eine bemerkenswerte Aussage für die Bilanz unionsgeführter Innenpolitik.
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Aber, Herr Minister Seehofer, bei aller berechtigten Kritik: An dieser Stelle muss man Sie auch irgendwie loben; denn niemand auf dieser Regierungsbank scheitert so ehrlich wie Sie.
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Meine Damen und Herren, ich habe die schlimme Befürchtung, dass sich dieses Scheitern fortsetzen wird. Denn wenn wir uns die Situation vor Ort anschauen, dann müssen wir feststellen: Diese Regierung schiebt die Falschen ab. Sie schieben die ab, die sich integriert haben.
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Sie schieben die ab, die in Arbeit sind, wie den 29-jährigen Sanneh Bakary, der sich am 1. März 2019 wie immer auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle, zu einem Eisenwarenverarbeiter, in Biberach machen wollte. Er wurde aber um kurz vor 7 Uhr morgens aus seiner Flüchtlingsunterkunft abgeholt, um nach Gambia abgeschoben zu werden, obwohl er eine Duldung und Arbeitserlaubnis bis Juli 2020 hatte und obwohl diese Firma händeringend Arbeitskräfte sucht.
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Oder – ein anderes Beispiel – was ist mit dem Irrsinn, dass Sie Pflegeazubis abschieben lassen, obwohl überall Pflegefachkräfte fehlen und händeringend gesucht werden?
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Sie lassen diese kleinen und mittelständischen Betriebe im Stich, und das, obwohl die Frau Bundeskanzlerin in den Jahren 2015 und 2016 auch die Unternehmen in die Pflicht genommen hat, einen Beitrag zur Integration zu leisten. Sie, Herr Seehofer, haben von fairen Regeln gesprochen. Dieser Gesetzentwurf hat aber weder etwas mit einer zielgerichteten Steuerung noch mit Fairness und Aufrichtigkeit gegenüber den Betrieben zu tun.
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Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Ja, in das Abschiebechaos gehört endlich Ordnung. Aber zu jeder geordneten Rückkehr gehört auch eine geordnete Einreise. Ein entsprechendes Gesetz dazu legen Sie hier leider nicht vor. Deswegen haben wir Bedenken.
Vielen Dank.
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Der Kollege Dr. Mathias Middelberg ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf den Mittelteil der Debatte zurückkommen. Wir haben zu Anfang einen sehr unappetitlichen Beitrag gehört. Ich muss allerdings auch sagen, dass auch die Beiträge der Kolleginnen Jelpke und Polat uns in der Sache kein Stück weitergebracht haben.
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Dass Sie gesagt haben, wir würden mit diesem Gesetz einen Schritt Richtung Orbanisierung gehen,
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ist – das sage ich Ihnen das ganz ehrlich – unsäglich.
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Genauso abwegig ist die Aussage von Frau Jelpke, das Asylrecht würde verstümmelt.
Dazu nur eine Zahl: Im Jahr 2017 haben wir hier in Deutschland 524 000 Asylgesuche geprüft. In allen anderen 27 Mitgliedstaaten der EU waren es weniger, nämlich 449 000 Asylgesuche.
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Das sagt viel darüber aus, wie sorg fältig, wie gründlich und auch wie rechtsstaatsgebunden und rechtstreu
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wir hier in Deutschland mit unserem Asylrecht und mit dem Flüchtlingsrecht umgehen. Da müssen wir uns von Ihnen, von den Grünen und von den Linken, keine Kritik anhören.
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Ich sage Ihnen weiter: Ich bin mir sehr sicher, dass wir alle hier, auch die Zuschauer, die heute hier sind, diejenigen, die das am Bildschirm verfolgen, und die Bevölkerung insgesamt, wahrscheinlich zu weit über 90 Prozent der Meinung sind, dass wir unser Recht so umsetzen sollten, wie es sorgfältig in diese Verfassung geschrieben ist.
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Das haben übrigens auch die Kollegen Lindh und Castellucci zu Recht betont. Deswegen gibt es hier überhaupt gar keinen Dissens.
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Es kommen Menschen in dieses Land, bei denen wir feststellen: Die haben einen Fluchtgrund, die haben einen Asylgrund. – Dann kümmern wir uns um diese Menschen. Wir bieten denen Schutz, und wir kümmern uns um das Thema Integration, und das ist richtig so. Aber es gibt auch Menschen, bei denen wir nach gründlicher und sorgfältiger Prüfung in einem Verwaltungsverfahren und ganz häufig auch in nachgeordneten Gerichtsverfahren am Ende feststellen, dass kein Schutzgrund und kein Fluchtgrund vorliegen. Es ist das billige Recht der Bevölkerung in diesem Land
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– ich sage noch mal: ich glaube, dass über 90 Prozent dieser Meinung sind –, dass sie erwarten, dass Menschen, die hier kein Bleiberecht haben, dieses Land wieder verlassen, Frau Polat.
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So ist es. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das so ist.
Dieses Gesetz, mit dem Probleme bei der Rückkehr beseitigt werden sollen, ist ein Beitrag zur Erhaltung des Asylrechts und ein Beitrag zur Erhaltung und zur Stützung unseres Rechtsstaates.
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Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass es ein Gesetz ist, bei dem es geradezu Sinn macht, dass wir es heute, am Jahrestag unseres Grundgesetzes, diskutieren. Es passt in diesen Zusammenhang.
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Die Diskussionen der letzten Wochen will ich an einem Beispiel deutlich machen. Wir haben uns über Flüchtlingsräte unterhalten und darüber, was diese Flüchtlingsräte tun. Ich sage Ihnen ganz klar: Wir finden es richtig, dass diese Flüchtlingsräte Flüchtlinge beraten, dass sie sich auch um das Thema Integration kümmern. Wenn aber irgendwann festgestellt ist, dass jemand gar kein Flüchtling ist, dass er hier kein Bleiberecht, keinen Schutzstatus hat, dann muss auch die Tätigkeit dieser Flüchtlingsräte enden. Wir haben kein Verständnis dafür, dass es Leute gibt, die die Betreffenden dahin gehend beraten, wie sie ihre Abschiebung, ihre Rückkehr und anderes verhindern können. Wir sind vielmehr der Meinung, dass sich alle rechtsstaatlich orientierten Kräfte in diesem Land und gerade solche, die aus öffentlichen Mitteln gefördert werden, stringent mit dem Thema „Wie helfe ich diesen Menschen, und wie berate ich diese Menschen im Hinblick auf ihre Rückkehr?“ befassen müssen. Das ist konsequent.
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Dieses Gesetz ist – damit komme ich zum Schluss – keine Verschärfung des Rechts, sondern es ist ein Beitrag zur konsequenten Umsetzung unserer Asylentscheidung, zur konsequenten Umsetzung unseres Rechtsstaates. Damit dient es der Herstellung des Rechtsfriedens, und es ist, wie ich hoffe, auch ein Beitrag zur Herstellung des politischen Friedens.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will am Anfang sagen, dass ich es schon sehr befremdlich finde, mit welchem Fanatismus und wie unter Ausblendung der Realität hier von Linken über Grüne bis zur AfD gesprochen wird. Wenn von der AfD Worte wie „die Zwischenverwahrung von Menschen“ fallen, dann ist das eine menschenunwürdige Wortwahl.
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Gegen eine solche Wortwahl verwahre ich mich im Namen meiner Fraktion.
Und wenn dann populistisch so getan wird, als ob man Schluss machen könnte mit Sozialleistungen für alle Asylbewerber – anerkannt wie nicht anerkannt –, dann ist dies unerträglich an einem Tag, an dem wir heute Morgen 70 Jahre Grundgesetz gefeiert haben. Sie scheren sich einen Dreck um das, was unser Bundesverfassungsgericht erklärt. Dieses hat nämlich mehrfach entschieden, dass eine gewisse Grundsicherung für Asylbewerber notwendig ist. Deswegen müssen Sie dies auch anerkennen und dürfen den Menschen nicht immer Sand in die Augen streuen.
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Gehen wir noch mal zurück zum Ursprung: Es geht heute ausschließlich um Menschen, die nach einem langwierigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren – oft über mehrere Instanzen rechtsstaatlich abgehandelt – rechtskräftig verpflichtet wurden, unser Land zu verlassen, und dieser Aufforderung des deutschen Staates nicht folgen. Und deswegen müssen wir alle hier uns schon die Frage stellen: Wollen wir uns von denen, die dieser Pflicht schuldhaft nicht folgen, weiterhin auf der Nase herumtanzen lassen, oder wollen wir das, was wir in Gesetze gefasst haben, tatsächlich auch durchsetzen? Ich denke, wir als Demokraten müssen uns doch alle dahinter vereinigen können, dass wir Recht durchsetzen können und wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich finde es auch befremdlich, wenn Frau Kollegin Polat den Vorwurf einer „Orbanisierung“ erhebt. Dies ist, Frau Polat, bei aller Wertschätzung, eine Entgleisung.
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Deswegen will ich Ihnen nochmals vorhalten, was Ihre Parteivorsitzende Baerbock in einem bemerkenswerten Interview – Sie kennen es – vom 19. Dezember 2018 in der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat:
Abschiebungen können mit massiver menschlicher Härte verbunden sein. Das ist für uns ein schmerzhaftes Thema. Aber wenn wir das Recht auf Asyl aufrechterhalten wollen, müssen wir auch bei Rückführungen den Rechtsstaat durchsetzen.
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Genau das hat Ihre Parteivorsitzende gesagt. – Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nicht nur Lippenbekenntnisse abgeben, mit denen Sie populistisch die Menschen beruhigen wollen, sondern lassen Sie hier im Parlament, wo es darauf ankommt, auch Taten folgen!
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Frau Jelpke hat ausgeführt, wir hätten gar kein Vollzugsdefizit. Ich weiß gar nicht, ob Sie die Antworten auf die vielen Anfragen, die Sie ständig an die Bundesregierung stellen, auch tatsächlich lesen und zur Kenntnis nehmen; denn daraus ist klar ersichtlich, dass beispielsweise im letzten Jahr die Mehrheit der Abschiebeversuche im Versuchsstadium stecken geblieben sind und wiederum von den nicht geglückten Abschiebeversuchen etwa die Hälfte daran gescheitert sind, dass wir der Menschen nicht habhaft geworden sind und diese nicht zu den Flughäfen und in die Flugzeuge bringen konnten.
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– Ich gestatte eine Zwischenfrage, Herr Präside nt.
Gestatten Sie? – Okay.
Ja, denn meine Redezeit ist gerade zu Ende.
Ich möchte noch mal zu den Abzuschiebenden Stellung nehmen. In der Tat bin ich der Meinung: Die Bundesregierung muss in der Öffentlichkeit Klarheit über die Zahlen schaffen. Wir reden hier über eine Zahl von etwa 50 000 Menschen, die abgeschoben werden sollen. Die Bundesregierung hat mit dem Asylpaket II in der letzten Legislaturperiode beschlossen, dass eine Abschiebung den Betroffenen nicht angekündigt werden darf.
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Das bedeutet, dass man in der Regel in Nacht-und-Nebel-Aktionen in die Flüchtlingsunterkünfte geht, die entsprechenden Menschen rausholt und sie abschiebt.
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Frau Jelpke, Sie sollen keine zweite Rede halten, sondern eine Zwischenbemerkung machen.
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Das ist zulässig. Ich kann eine Zwischenfrage stellen; aber ich darf auch eine Zwischenbemerkung machen.
Immer häufiger passiert es, dass Geflüchtete nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Abschiebung durch richterliche Anweisung oder überhaupt durch ein Gerichtsverfahren klären zu lassen. Das sagen die Anwälte, die diese Menschen vertreten. Ich frage Sie: Ist Ihnen überhaupt bekannt oder bewusst, dass die Abschiebungen heute immer häufiger auch brutalisiert ablaufen? Das belegen die Zahlen aus Antworten von Ihrer Bundesregierung auf Kleine Anfragen.
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Und es kann doch nicht sein, dass man so menschenunwürdig damit umgeht, dass die Betroffenen im Grunde genommen keine Möglichkeit mehr haben, zu klagen.
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Sehr geehrte Frau Jelpke, zunächst einmal: Es sollten letztes Jahr 57 000 Menschen abgeschoben werden. Die Mehrheit von ihnen konnte nicht abgeschoben werden. Davon wiederum waren es etwa 40 Prozent, knapp 8 000 Menschen, die man nicht dem Flughafen oder anderen Einrichtungen zuführen konnte. Ich sage es nochmals: Wir haben hier ein rechtsstaatliches Verfahren, und wer hier vollziehbar ausreisepflichtig ist – unter Berücksichtigung aller Rechtsmittel, die er vorher nutzen konnte –, der muss dieses Land verlassen.
Und wenn Sie darauf hinweisen, dass es in diesem Bereich auch Gewalt gebe – das haben Sie in Ihrer Rede gemacht –, dann weise ich Sie darauf hin, dass ursächlich der Widerstand der Menschen ist, dem hier begegnet wird.
Insofern glaube ich, dass wir hier in Deutschland ein Vollzugsdefizit haben, und diesem wollen wir abhelfen, indem wir jetzt mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz die Mittel und Instrumente, die der Staat zur Verfügung hat, schärfen, um die Ausreisepflicht, diesen Rechtsanspruch des Staates, auch durchzusetzen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10047 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren nimmt die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Qualität der Postzustellung zu. Die Zahl der registrierten Beschwerden steigt und steigt, und zwar drastisch. Das belegen die dazu heute veröffentlichten Zahlen noch mal eindrucksvoll. Fehlerhafte Briefzustellungen, überlange Laufzeiten, verlorengegangene Sendungen: Viele Bürgerinnen und Bürger können inzwischen ihre eigene kleine Geschichte erzählen, wie sich die Postzustellung in den letzten Jahren verschlechtert hat. Und diese Unzufriedenheit sollten wir in diesem Haus sehr ernst nehmen.
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Das alles kann einen aber auch kaum wundern, wenn man weiß, wie sich die Arbeitsbedingungen in der Branche seit der Postprivatisierung verschlechtert haben. Ein massiver Stellenabbau hat die Belastung für die Beschäftigten enorm erhöht. Und auch der hohe Anteil befristeter und unsicherer Beschäftigungsverhältnisse hat seine Spuren hinterlassen. Auch das sollte uns zu denken geben. Aber nicht nur das: Auch die Postinfrastruktur wurde nach der Privatisierung massiv abgebaut: Die Anzahl der Postfilialen ist seitdem um mehr als die Hälfte gesunken. Die Anzahl der Briefkästen hat der Konzern um ein Viertel reduziert; die Menschen auf dem Lande trifft das besonders.
Einzig das Postmanagement ist – wie durch ein Wunder – von diesem Kürzungskurs verschont geblieben. Im Gegenteil: Bisheriger Höhepunkt war das Jahr 2017. Da hat der siebenköpfige Vorstand 27,7 Millionen Euro eingestrichen:
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davon allein Postchef Appel über 9,8 Millionen Euro. Das ist das 232-Fache des Einkommens eines durchschnittlichen Postbeschäftigten. Das 232-Fache, liebe Kolleginnen und Kollegen! In sonst keinem anderen DAX-Konzern ist die Einkommensungleichheit so groß. Mit Leistungsgerechtigkeit hat das aus meiner Sicht nichts, aber auch rein gar nichts zu tun.
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Es gäbe also viel zu tun im Postsektor und bei der Deutschen Post ganz speziell. Aber das Einzige, was diese Koalition hier bisher zustande gebracht hat, ist, der Deutschen Post erneut den roten Teppich für kräftige Portoerhöhungen auszurollen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen dadurch in Kürze deutlich mehr für das Versenden ihrer Briefe zahlen. Von bis zu 25 Prozent Portoerhöhung für den Standardbrief ist die Rede, wohlgemerkt: nur für Privatkunden; Großkunden mit ihren massenhaften Werbesendungen sollen davon verschont bleiben.
Die Geschichte dieser Portoerhöhung ist ein Lehrstück des Lobbyismus mächtiger Wirtschaftsunternehmen zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Denn eigentlich hätte nach dem noch Anfang des Jahres geltenden Recht die zulässige Portoerhöhung deutlich geringer ausfallen sollen. Doch dann intervenierte der Postkonzern bei Herrn Altmaier, und siehe da: Die Bundesregierung ändert mal eben die entsprechende Rechtsgrundlage, und zwar genau so, dass sich die dem Unternehmen zugestandene Umsatzrendite im Vergleich zum Vorjahr drastisch erhöht und damit auch die Spanne, um die die Deutsche Post das Briefporto insgesamt erhöhen darf.
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Offenkundig fehlt dieser Bundesregierung jegliches Gespür dafür, wie es bei den Menschen ankommt, wenn sich die Deutsche Post immer höhere Gewinne genehmigen lässt, während sich gleichzeitig die Qualität der Zustellung verschlechtert. Garantierte Renditeerhöhung bei sinkender Qualität, das jedenfalls ist weder sozial noch leistungsorientiert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aus den Reihen der Koalition – Herr Mohrs hat sich ja schon angekündigt – wird uns sicherlich gleich wieder das Märchen aufgetischt, die Verdopplung des Portoerhöhungsspielraums ergebe sich daraus, dass der Postkonzern dringend benötigtes Personal einstellen wolle. Bevor Sie das hier wiederholen, empfehle ich Ihnen dringend einen Faktencheck. Nehmen Sie doch einfach nur zur Kenntnis, was uns die Bundesnetzagentur als die zuständige Regulierungsbehörde dazu schriftlich mitgeteilt hat. Ich zitiere: Die steigenden Personalkosten waren in dem von der Bundesnetzagentur ursprünglich – also Anfang des Jahres – zugebilligten Preiserhöhungsspielraum bereits anerkannt und enthalten. – Zitat Ende.
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Die Wahrheit ist: Von der Entscheidung der Bundesregierung profitieren einzig und allein die Anteilseigner der Deutschen Post AG. Post-Chef Appel hat ja bereits ganz offen angekündigt: Im Jahr 2020 soll der Gewinn der Deutschen Post so auf über 5 Milliarden Euro ansteigen, und allein in der Post- und Paketsparte in Deutschland soll sich das Betriebsergebnis noch in diesem Jahr auf bis zu 1,3 Milliarden Euro verdoppeln. Deshalb bleibe ich dabei: Das, was hier läuft, ist nichts anderes als billige Abzocke.
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Zur Wahrheit gehört auch – darauf wird sich die FDP gleich wieder stürzen –, dass der Bund noch immer der größte Anteilseigner der Deutschen Post ist, und schon allein deshalb hat dieser Vorgang in der Tat ein zusätzliches Geschmäckle. Aber worüber die FDP dann gerne schweigt, ist: Der Großteil des Gewinns kommt nicht Finanzminister Scholz und dem Bundeshaushalt zugute, sondern privaten Anteilseignern,
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vorneweg mal wieder dem berühmt-berüchtigten Investmentfonds BlackRock, dessen deutscher Aufsichtsrat bekanntlich von einem gewissen Herrn Merz geleitet wird.
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Deswegen sagen wir als Linke auch klipp und klar: Eine weitere Privatisierung bei der Post, wie sie leider auch die Bundesregierung prüft, ist der falsche Weg;
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denn das würde bedeuten: Der Einfluss des Staates in einem sensiblen Bereich wie der Postzustellung schrumpft weiter, während die Monopolgewinne der Deutschen Post dann vollständig an BlackRock und Co fließen.
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Die Bundesregierung muss stattdessen umgehend die Abzocke der Postkunden beenden und dazu in einem ersten Schritt die jüngste Änderung der Post-Entgeltregulierungsverordnung zurücknehmen.
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Und sie muss diese Verordnung dann so umgestalten, dass künftige Portoerhöhungen an verbindliche Vorgaben für die Qualität der Postzustellung und die Arbeitsbedingungen der Postbeschäftigten gekoppelt werden.
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Ich sage Ihnen: Wenn BlackRock und Co da nicht mitmachen wollen – ihre Sache –, weil sie so nicht genügend Profit mit unseren Briefen machen können, dann sollten wir uns davon nicht erpressen lassen, sondern darüber diskutieren, wie wir die Post wieder vollständig in öffentlicher Regie betreiben können.
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Die Kundinnen und Kunden würden es Ihnen danken, und die Briefträger und Briefträger sowieso.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Jan Metzler.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zur Ausschussüberweisung drei Anträge der Opposition. Im Großen und Ganzen geht es bei diesen drei Anträgen erstens um den aus Sicht der Opposition mangelnden Wettbewerb auf dem Briefmarkt, zweitens um die anstehende Portoerhöhung auf dem Briefmarkt, drittens um den harten Wettbewerb auf dem Paketmarkt und viertens um den Anstieg der Zahl der Beschwerden über Postdienstleistungen im Allgemeinen.
Nun erst einmal eine generelle Feststellung: Wir erlebten in den letzten Jahren eine Umwälzung auf dem Postmarkt. Die Anzahl der Briefsendungen geht aufgrund der Digitalisierung seit Jahren kontinuierlich zurück; ich glaube, das haben wir an unserem eigenen Kommunikationsverhalten schon festmachen können.
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Gleichzeitig steigt das Aufkommen an Paketsendungen dramatisch, insbesondere getrieben durch den E-Commerce. Die Paketbranche ist in den vergangenen Jahren regelrecht explodiert. Wir haben seit 2008 bei der Zahl der Zusteller ein Plus von 24 Prozent.
Gleichzeitig erleben wir eine ambivalente Diskussion. Auf der einen Seite nimmt die Öffentlichkeit die Arbeitsbedingungen der Paketzusteller intensiv mit in die Diskussion. Auf der anderen Seite, aus Kundensicht, ist aber oftmals die Sachlage die, dass man an eine enorme Geschwindigkeit gewohnt ist, nämlich an einem Tag zu bestellen, am selben Tag zu bekommen, was man bestellt hat, am selben Tag zurückzusenden, wenn es nicht passt, und nebenbei soll der Zusteller dann auch noch vor der Tür einen Parkplatz finden. Das ist ein enormer Druck, der letztlich auch deutlich wird.
Im Briefmarkt haben wir eine andere Situation: Die Deutsche Post – das ist jetzt auch Gegenstand der Debatte gewesen – ist nicht in entsprechendem Maße durch Wettbewerber flankiert. Andere Anbieter haben seit der Liberalisierung des Postmarktes ihre Anteile nicht ausbauen können. Wenn man das Ganze im Zusammenhang mit dem Postgesetz nimmt: Es ist bei einer marktbeherrschenden Position eines Unternehmens notwendig, dass die Regulierungsbehörde, sprich: die Bundesnetzagentur, die erhobenen Entgelte genehmigen muss. Laut Pressemeldung steht nun beim Standardbrief eine Erhöhung von 70 auf mindestens 80 Cent im Raum. Ein formaler Antrag – das gehört auch dazu – ist aber noch nicht gestellt. Insofern bewegen wir uns, was die Festsetzung dieser Zahl anbelangt, zumindest noch nicht in einem sicheren Bereich.
Die Post-Entgeltregulierungsverordnung steht jetzt erheblich in der Diskussion; das ist in der Rede des Kollegen Meiser auch deutlich geworden. Es gibt unterschiedliche Sichtweisen auf den Istzustand. Bei den Fixkosten sind die Digitalisierung und die dadurch entstandenen Veränderungen mit einzubeziehen; die Sendungsmengen – das habe ich bereits erläutert – haben sich entsprechend verändert. Aber Infrastruktur ist nicht einfach skalierbar, weil die Auslastung beeinträchtigt wird und sich die Fixkostensituation und damit auch die Stückkosten verändern. Deswegen hat das BMWi entschieden, die Vorgaben für die Bestimmung der Briefentgelte anzupassen.
Das ist jetzt nicht ganz neu. Wir haben diese Debatte bereits 2015 intensiv geführt, und seitdem hat sich die Situation im Grunde genommen ein Stück weit verändert; denn in die Betrachtung bei dieser Festlegung werden natürlich auch unterschiedliche Player mit ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene mit einbezogen. Beispielsweise ist es natürlich, was den Skalenertrag angeht, ein Unterschied, ob man einen Postdienstleister aus Malta und Zypern mit einer gesamtheitlich anderen infrastrukturellen Einbindung mit einbezieht oder eben auch Unternehmen, die nicht vom Kapitalmarkt abhängig sind. In Zukunft soll nun die Bundesnetzagentur anhand bestimmter Kriterien entscheiden, welche Unternehmen aus dem europäischen Ausland mit einbezogen werden. Die Vergleichbarkeit soll insofern gemäß diesem Grundsatz der Vergleichbarkeit hergestellt werden.
Wenn ich jetzt den Ansatz der Erhöhung betrach te, dann möchte ich nur darauf hinweisen: Mit 70 Cent sind wir im gesamteuropäischen Vergleich gegenwärtig auf Platz 18. Wenn es zu einer Erhöhung auf 80 Cent käme, wären wir auf Platz 10 von 31 Ländern, die mit einbezogen worden sind. Bei aller Kritik, die sich in diesem Zusammenhang jetzt entlädt: Im Jahr 1997 hat das Porto für einen Standardbrief 56 Cent gekostet. 22 Jahre – fast ein Vierteljahrhundert – später kostet es 14 Cent mehr. Jetzt muss ich in diesem Zusammenhang auch einmal eines erwähnen: Dass man sich jetzt teilweise mit Kritik an der Bundesnetzagentur abarbeitet, kann ich in diesem Zusammenhang nicht verstehen, weil ich glaube: Die haben ihre Hausaufgaben gemacht.
Gleichzeitig wird vonseiten der Opposition eingebracht, dass die Portoerhöhung an Lohnerhöhungen gekoppelt werden soll. Das sind aber zwei Sachstände. Das eine ist letztlich Sache der Tarifparteien, und das andere ist letztlich Sache der Bundesnetzagentur; ich habe den Rahmen ja entsprechend erläutert.
Gleichzeitig dürfen wir aber auch feststellen, dass sich in diesem Zusammenhang bei der Post einiges getan hat. Ab dem 1. Juli gibt es beispielsweise einen Haustarifvertrag bei der Deutschen Post, der die ausgelagerten Regionalgesellschaften und deren Mitarbeiter mit einbezieht. Auch die Nachunternehmerhaftung ist in dieser Woche auf den Weg gebracht worden.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich habe noch 30 Sekunden Redezeit und würde gerne zum Ende kommen. Wenn es ganz wichtig ist, dann können Sie danach gerne eine entsprechende Bemerkung machen.
Alles in allem ist also zu sagen: Es bewegt sich einiges auf diesem gesamten Markt. Wir haben ein Postgesetz, das 20 Jahre alt ist. Wir haben eine völlig veränderte Postlandschaft. Aus dieser ersten Diskussion, die ich intensiver begleiten darf, nehme ich wohlwollend zur Kenntnis, dass wir uns gemeinsam an die Novellierung des Postgesetzes machen. Da kann man diese ganzen Teilaspekte mit einbeziehen. Ich freue mich auf eine engagierte und intensive Debatte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Metzler. – Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Leif-Erik Holm.
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Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier heute über verschiedene Probleme im Postmarkt, die sich aber letzten Endes auf eines zurückführen lassen: Die Liberalisierung des Postmarktes ist gescheitert; leider gescheitert, muss man sagen. In der Telekommunikationsbranche hat es ganz gut funktioniert – wir alle freuen uns über gesunkene Preise –, aber im Briefmarkt sehen wir auch nach 20 Jahren immer noch so gut wie keinen Wettbewerb. Der Marktanteil der Deutschen Post liegt bei weit über 80 Prozent. Das ist ganz klar eine marktbeherrschende Stellung. Das sieht auch die Monopolkommission so.
In dieser Situation und bei steigenden Gewinnerwartungen auch noch eine Anhebung des Portos auf bis zu 90 Cent zu gestatten, halten wir für unnötig und auch für absolut unverantwortlich.
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Das könnte beim Standardbrief gegebenenfalls eine Erhöhung um fast 30 Prozent bedeuten, wenn sie denn dem Privatkunden voll übergeholfen wird. Das wäre natürlich fernab jeder Anpassung an die allgemeine Preisentwicklung. Genau das wollen wir nicht. Was wir brauchen, ist mehr Wettbewerb, was wir brauchen, sind sinkende Preise zum Wohle der Kunden.
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Diese Portoerhöhung würde das Quasimonopol der Post weiter zementieren. Sie ermöglicht auch noch mehr Quersubventionierung in den etwas mehr umkämpften Paketmarkt. Das heißt, die Monopolgewinne aus dem Briefmarkt kann die Post nutzen, um die Preise im Paketmarkt zu drücken.
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– Das stimmt. – Das sind Preise, bei denen die kleineren Anbieter dann schwer mithalten können. Das Geld der Kunden wird also genutzt, um andere Unternehmen hier aus dem Markt zu drängen. Und das führt dazu, dass Konkurrenten versuchen, über Lohndumping und über den Einsatz von Subunternehmern mitzuhalten. Hier müssen wir ansetzen.
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– Die Wahrheit können Sie nicht vertragen. Das ist nichts Neues.
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Der Versuch, jetzt mit Symptombekämpfung, sprich: mit dieser ominösen Nachunternehmerhaftung, der Sache Herr zu werden, ist völlig unsinnig. Es ist ganz klar Aufgabe des Staates, für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen. Wir würden auch die Wirtschaft überfordern, die nämlich gar keine Durchgriffsmöglichkeiten hat. Wir müssen also die Ursachen bekämpfen, und die liegen eben auch in der zu großen Marktmacht der Post im Briefmarkt begründet.
Was ist also zu tun? Wir müssen die Post-Entgeltregulierungsverordnung in der Form, wie sie jetzt besteht, zurücknehmen. Die Bemessung des Erhöhungsspielraums an ausländischen Monopolanbietern geht völlig fehl. Viel besser wäre es zum Beispiel, wenn wir das Maximum für Preiserhöhungen im Briefbereich an durchsetzbare Preissteigerungen im Paketbereich koppeln würden.
Es gibt ein weiteres Problem, einen Vorteil der Post: Sie besitzt das Umsatzsteuerprivileg, hat also einen deutlichen Preisvorteil. Abschaffen können wir das nicht wegen des EU-Rechts, aber es wäre angemessen, diesen Vorteil wenigstens allen Anbietern zugutekommen zu lassen, die Leistungen in der Fläche anbieten.
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Und wir müssen vor allem auch die Bundesnetzagentur stärken. Die ist nämlich im Postmarkt ein zahnloser Tiger. Der wichtige Regulierer des Quasimonopolisten braucht entsprechende Kontroll- und Eingriffsrechte. Dafür müssen wir das Postgesetz entsprechend anpassen.
Es gibt einen großen Interessenkonflikt: Die Deutsche Post ist immer noch zu 20 Prozent ein Staatsbetrieb; 20 Prozent der Anteile gehören dem Bund.
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Er ist damit gleichzeitig Eigentümer und Regulierer. Dass das nicht zusammenpasst, das dürfte eigentlich jedem normalen Menschen klar sein.
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Das führt übrigens auch dazu, dass die Post bessere Finanzierungskonditionen als ihre Konkurrenten bekommt.
All das hat mit fairem Wettbewerb überhaupt nichts zu tun. Der Staat muss sich also endlich aus der Post zurückziehen und seine Anteile verkaufen. Es darf eben nicht um die Maximierung der staatlichen Dividende gehen. Wir sind nicht dafür da, das Scholz-Säckel zu füllen, sondern dafür, einen funktionierenden Markt zu schaffen und damit günstige Preise für unsere Bürger.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Falko Mohrs.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Holm, was nehme ich von Ihrer Rede mit? Vor allem eins: Es gibt eine Gruppe, die Ihnen völlig egal ist – die war Ihnen noch nicht einmal eine Erwähnung wert –, und das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Post, die harte Arbeit leisten und das unter guten tariflichen Bedingungen. Diese Gruppe interessiert Sie offensichtlich überhaupt nicht. Ich würde mir wünschen, dass Sie den Beschäftigten in diesem Land einmal sagen, wer Ihnen wirklich egal ist.
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Aber, meine Damen und Herren, wir sortieren jetzt einfach mal gemeinsam; das hatte ich ja vorhin versprochen. Wir reden einmal über den Punkt Portoerhöhungen, was übrigens überhaupt kein parlamentarisches Verfahren ist; aber dazu kommen wir gleich. Wir kommen zu den Arbeits- und Sozialbedingungen bei der Post und den Wettbewerbern im Brief- und Paketbereich. Natür lich müssen wir auch über die üblichen Privatisierungsfantasien der FDP sprechen, wobei die AfD offensichtlich fleißig mitmacht.
Ich sage an dieser Stelle aber eines vorweg: Für uns als SPD ist völlig klar: Wir wollen eine gute Post, wir wollen gute Postdienstleistungen, und vor allen Dingen wollen wir eine Post, die gute Arbeitsplätze schafft und sichert, die tariflich abgesichert sind. Das ist für uns als SPD in diesem Land wichtig: eine gute Postversorgung in Stadt und Land, meine Damen und Herren.
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Das, was für einige der antragstellenden Oppositionsfraktionen offensichtlich Ausgangspunkt war, ist die Veränderung der Post-Entgeltregulierungsverordnung, also ein Beschluss des Kabinetts. Was ist da eigentlich passiert? Vielleicht müssen wir die Aufregung ein bisschen runterkochen. Das, was dort gemacht wurde, ist, dass der Vergleichsmaßstab angepasst wurde. Das heißt, in den Vergleich „Wie viel Gewinn darf die Post eigentlich machen?“ werden ab sofort nur noch die Postdienstleistungen der Dienstleister aus dem europäischen Ausland einbezogen, die von der Struktur her ähnlich sind wie die Deutsche Post, also nicht hundertprozentige Staatsmonopole. Das, meine Kolleginnen und Kollegen, ist der richtige Vergleichsmaßstab, wenn es darum geht, zu bewerten: Welches Geld braucht die Post für gute Arbeitsplätze und für Investitionen in die Zukunft?
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– Frau Dröge, dass Sie das falsch finden, habe ich Ihrem Antrag entnommen. Sie kritisieren, dass wir viel zu wenig Wettbewerb im Postmarkt haben.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meiser?
Das machen wir, und danach komme ich auf Frau Dröge zurück.
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Vielen Dank, Herr Mohrs. – Sie haben das technisch sehr gut beschrieben. Vielen Dank dafür. Mir hat die Zeit gefehlt, um das aufzudröseln.
Würden Sie mir zustimmen, dass klar war, dass mit den Veränderungen des Vergleichsmaßstabes die Umsatzrendite, die dem Postkonzern für den Briefbereich zugestanden wurde, von etwas über 3 Prozent im vergangenen Jahr auf über 7 Prozent steigen musste? Dafür konnte übrigens auch die Bundesnetzagentur nichts. Von daher trifft unsere Kritik nicht die Bundesnetzagentur, sondern mit voller Wucht die Bundesregierung. Würden Sie mir zustimmen, dass das absehbar war und dass sich die Umsatzrendite von etwas über 3 Prozent durch die Änderung der Bundesregierung mehr als verdoppelt hat?
Das ist genau das, was durch den Vergleich mit den anderen europäischen Postdienstleistern doch Teil des Prüfgegenstandes war, Herr Kollege. Aber vor allem müssen Sie doch eins verstehen: Wenn Sie – es wundert mich, dass Sie das nicht getan haben – sich mit dem Betriebsrat der Post und mit Verdi, die als Gewerkschaft die Post betreut, auseinandergesetzt hätten, dann wüssten Sie, dass sowohl Betriebsrat wie auch Gewerkschaft diese Veränderung aus zwei wichtigen Gründen unterstützt haben, erstens weil die Post deutlich mehr investieren muss, beispielsweise in die Technik in den Zustellbetrieben, in den Sortierbetrieben, und zweitens weil die Post 8 500 neue, tariflich abgesicherte gute Arbeitsplätze geschaffen hat. Das war der Grund, warum sowohl Gewerkschaft als auch Betriebsrat das unterstützt haben. Ich finde es interessant, dass ich Ihnen als Linkem erklären muss, dass Sie mit Betriebsrat und Gewerkschaft reden und nicht nur auf die Bundesnetzagentur hören sollten. Ich würde mir wünschen, dass Sie diese Aspekte mitbetrachten. Ich glaube, dann wäre Ihnen das Ganze auch klarer geworden, Herr Kollege.
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Ich komme auf Sie zurück, Frau Dröge. Mit meiner Antwort gerade habe ich auch Ihnen schon zum größten Teil geantwortet. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass viel zu wenig Wettbewerb herrscht. Schauen wir uns mal an, was dort passiert ist, wo Wettbewerb herrscht, beispielsweise im Paketbereich. Da gab es eine Abwärtsspirale bei der tariflichen Absicherung.
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– Ich habe Ihren Antrag gelesen. Schauen Sie einmal auf Seite 2; dort fordern Sie mehr Wettbewerb, Frau Dröge. – Da gibt es eine Abwärtsspirale bei den Arbeitsbedingungen.
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– Wissen Sie, Frau Dröge, Sie müssen mir schon zuhören, wenn ich hier rede. Sie sind ja gleich dran und können es klarstellen. Eine Sache würde ich mir wünschen: Dass Sie klarstellen, dass Sie mit „mehr Wettbewerb“ nicht meinen, dass es auch einen solchen Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten, wie er in der Paketbranche üblich ist, im Postbereich geben soll.
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Vor allem soll nicht das passieren, was in anderen Unternehmen als Folge der Privatisierung geschehen ist, beispielsweise bei der Deutschen Bahn, nämlich dass es ein Auseinanderfallen der Qualität zwischen Stadt und Land gibt. Frau Kollegin Dröge, erklären Sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Menschen in unserem Land, was Sie mit mehr Wettbewerb meinen.
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Dass Sie offensichtlich die gleichen Privatisierungsfantasien verfolgen wie die FDP, war mir neu. Wenn Sie das allerdings nicht wollen, dann distanzieren Sie sich gleich in aller Klarheit.
Wir erleben doch, was dort passiert, wo gute starke Betriebsräte und Gewerkschaften mit am Werk sind. So ist bei der Post Folgendes passiert: Delivery, die heftig kritisierte Tochtergesellschaft der Post, wird als Ergebnis des letzten Tarifvertrages aufgelöst, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden wieder in den Tarif der Deutschen Post übernommen. Das sorgt übrigens dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen dort ein 13. Monatsgehalt haben, dass sie insgesamt eine bessere Bezahlung haben, dass sie eine betriebliche Altersvorsorge haben und dass sie vom Kündigungsschutz profitieren.
Meine Kolleginnen und Kollegen, was, wenn nicht das, ist eigentlich der beste Beweis dafür, dass gute Mitbestimmung, gute Tarifverträge und starke Gewerkschaften vor allem für gute Arbeitsplätze – in dem Fall bei der Deutschen Post – sorgen? Das ist ein großer gewerkschaftlicher Erfolg, über den wir als SPD uns freuen.
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Wir haben im Paketbereich – ich habe das eben kurz erklärt, Frau Dröge – als Folge des Wettbewerbs erlebt, wie das in einer Abwärtsspirale zu deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen geführt hat. Deswegen ist es wichtig, dass wir der Scheinselbstständigkeit, die man sich dort zunutze gemacht hat, entgegengetreten sind und diese Woche – es wurde von meinem Kollegen erwähnt – im Koalitionsausschuss beschlossen haben, dass es eine Nachunternehmerhaftung geben wird.
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Das ist wichtig, um eine gute Versorgung der Kolleginnen und Kollegen in der Paketbranche – Stichwort: Sozialversicherung – sicherzustellen.
Noch einmal zu der Frage, ob ich Ihren Antrag gelesen habe. Sie sollten ein bisschen besser recherchieren, Frau Dröge. Sie kritisieren dort nämlich, dass auf dem deutschen Markt nicht die gleichen arbeitsrechtlichen Bedingungen für Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland herrschen. Frau Dröge, ich empfehle Ihnen, einfach einmal in die Entsenderichtlinie der Europäischen Union aus dem Mai 2018 zu schauen. Denn dort heißt es: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
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Das, meine Damen und Herren, ist richtig und wichtig und eine gute Absicherung für gute Arbeit in Deutschland.
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Wir müssen also nicht mehr Wettbewerb fordern, sondern wir müssen die Tariftreue stärken. Wir müssen vielleicht sogar darüber nachdenken – ich habe das an anderer Stelle schon erwähnt –, die Unternehmen, die eine gute Mitbestimmung haben, so zu stärken, dass es für alle Unternehmen entsprechend attraktiv ist, gute tarifliche Absicherung für die Kolleginnen und Kollegen zu erbringen.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie fordern die vollständige Privatisierung der Post.
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Wir sind es ja von Ihnen gewohnt, dass Sie alles privatisieren wollen.
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Ich sage Ihnen noch einmal das, was ich eben schon erwähnt habe: Wir erleben beispielsweise bei der Deutschen Bahn, was als Folge der Teilprivatisierung passiert ist.
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Das Ergebnis ist, dass Strecken im ländlichen Raum stillgelegt wurden.
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– Sie melden sich bitte, um eine Zwischenfrage zu stellen, oder der Kollege, der gleich redet, kann es ausführen. – Dort gab es einen stärkeren Wettbewerb auf der Schiene. Das hat zu einem erhöhten Kostendruck geführt. Das führt dazu, dass im ländlichen Raum Strecken stillgelegt werden.
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Die Folge ist, dass beispielsweise der Service im öffentlichen Personenverkehr zwischen Stadt und dem ländlichen Raum auseinanderklafft. Wenn Sie das auch bei der Post wollen, dann bekennen Sie Farbe. Sagen Sie das, wenn das die Folge Ihrer Privatisierungsfantasien sein soll.
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Für uns steht fest: Wir wollen eine flächendeckende Post mit tariflich gut abgesicherten Arbeitsplätzen. Das hat für uns höchste Priorität. Insofern, meine Damen und Herren, freue ich mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Reinhard Houben.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mohrs, ich glaube, Sie sind der Einzige in diesem Hause, der es so wahrgenommen hat, dass die Deutsche Bahn privatisiert worden ist.
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Das ist ein zu 100 Prozent staatliches Unternehmen. All Ihre Kritik, die Sie hier vollkommen zu Recht vortragen, trifft natürlich den Eigentümer, nämlich die Bundesrepublik Deutschland und damit diese Bundesregierung.
({1})
Sie sollten vielleicht einmal mit dem Kollegen Scheuer – er ist der Verkehrsminister – sprechen. An der Stelle könnten Sie die Vorwürfe, was die Deutsche Bahn angeht, vortragen. Wir könnten da bestimmt noch einige Anregungen geben. – Entschuldigung, das musste ich mal loswerden.
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Zweite Bemerkung. Wettbewerb bringt auch Innovation. Günter Rexrodt hat vor 25 Jahren die Postprivatisierung begonnen. Sie ist leider nicht komplett bis zum Ende durchgeführt worden. Was hat denn die Privatisierung der Post gebracht?
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Der sogenannte graue Postmarkt, also die Telekommunikation, ist privatisiert worden. Früher hatten wir Wählscheiben- und Tastentelefone. Die gab es, glaube ich, auch in moosgrün; das war die Innovation.
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Dann sanken die Preise, es wurden neue Produkte angeboten, es wurden mehr Arbeitsplätze geschaffen, es wurden höherwertige Arbeitsplätze geschaffen. Wir haben durch diese Privatisierung einen Aufschwung bekommen. Jeder hat am Ende des Tages davon profitiert,
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nur vielleicht nicht einige Beamte aus dem ehemaligen Postministerium, Herr Mohrs. Deswegen kann ich das, was Sie sagten, nicht verstehen.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?
Ja, Herr Lenkert, bitte.
Herr Kollege Houben, ist Ihnen bekannt, dass in den Jahren 1990/91 eine technische Revolution stattfand, die dazu führte, dass im Prinzip die alten Wähltelefone technisch ganz einfach abgelöst werden konnten durch die neueren Systeme, die deutlich billiger sind in Wartung, Installation und Betrieb? Diese Innovation wurde nicht von dem von Ihnen so hoch gelobten Telekommunikationsunternehmen in Deutschland ausgelöst, sondern von einem Industriekonzern aus Finnland und asiatischen Konzernen, wo diese neue Technologie entwickelt wurde. Ist Ihnen das bekannt? Können Sie nachvollziehen, dass diese technische Innovation die Preissenkung mit sich gebracht hat und nicht die Privatisierung?
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Herr Lenkert, ich bedanke mich ausdrücklich für diese Frage. Denn das zeigt ja offensichtlich, dass es zumindest für diese Branche in Deutschland seinerzeit nicht die richtigen Rahmenbedingungen dafür gab, dass sich technische Innovationen durchsetzen konnten.
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Das lag wahrscheinlich daran, dass wir einen Staatskonzern hatten, der genau einen Lieferanten für Telefone bevorzugt hat. Und Sie durften sich als Privatmensch kein US-amerikanisches Telefonprodukt kaufen und zu Hause anschließen, weil Sie sich damals damit strafbar gemacht haben.
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So werden Innovationen verhindert. Ich bedanke mich in dem Zusammenhang wirklich für Ihre Frage. Ja, die Innovation kam aus Finnland. Das war super. Aber wir haben hier Bedingungen zu schaffen – das ist unsere Aufgabe –, dass sich Innovationen in Deutschland entwickeln können.
Um auf die Post zurückzukommen: Wer sagt uns denn, dass es keine weiteren Innovationen gibt? Warum gibt es nicht zum Beispiel einen Brief, den man wie ein Paket per Sendungsverfolgung tracken kann? Warum ist das nicht im Angebot? Warum sagt man nicht, dass man einen Billigbrief einführt, der irgendwann ankommt und nicht innerhalb eines Tages?
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Dann kommt man auch von den schiefen Preisvergleichen weg, Herr Mohrs oder Herr Metzler. In Dänemark kostet der Standardbrief über 2 Euro. Warum? Weil die dänische Post sagt: Wir stellen innerhalb von zwei Tagen zu. – Die Deutsche Post sagt: Wir innerhalb von 24 Stunden. – Dann wird der dänische Eilbrief mit dem deutschen Normaltarif verglichen. Das ist natürlich ein toller Vergleich.
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So kommt man natürlich auch auf höhere Gebühren. Herzlichen Glückwunsch!
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Man muss sich immer nur die richtige Peergroup aussuchen, dann bekommt man auch das richtige Preisverhältnis, um das durchzusetzen.
Noch eine letzte Bemerkung zur Bundesnetzagentur. Sie ist ja zum Teil gelobt worden. Die Bundesnetzagentur hat eine klare Position bezogen. Sie hat gesagt: 4,8 Prozent Preiserhöhung.
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– Moment. – Dann hat die Post gesagt: Nein, 4,8 Prozent sind uns zu wenig.
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Dann sind die Maßgrößen in der Postentgeltverordnung entsprechend geändert worden. Wie gesagt, ich suche so lange zusammen, bis es passt: Portugal ist drin, aber Schweden nicht. Das sind zwar alles AGs, aber Schweden ist eine staatliche AG, und das andere sind private AGs. – Es ist also so lange gefummelt worden, bis es dann reichte, um die 10 Prozent, die jetzt zur Debatte stehen, durchzusetzen.
Es ist einfach falsch, dass die 4,8 Prozent, die die Bundesnetzagentur ermittelt hatte, nicht reichten. Sie ist im Grunde mit ihren Berechnungen und ihren Aussagen untergebuttert worden. Das sehen wir sehr kritisch; denn man kann das ja wirklich fühlen.
Eine letzte Bemerkung. Es ist gesagt worden: Ja, ein Kabinettsbeschluss ist vollkommen in Ordnung; das muss nicht durchs Parlament. – Ja, das ist richtig; aber wir sind doch in der Lage, das zu ändern. Wir könnten für diese Fragen zum Beispiel in der Diskussion über das neue Gesetz einen Parlamentsvorbehalt einbauen, damit solche Entscheidungen hier zumindest noch mal diskutiert werden würden. Wenn die Oppositionsparteien hier nicht entsprechende Anträge eingebracht hätten, wäre das ja so durchgelaufen, und keiner hätte es gemerkt.
Herr Präsident, eine allerletzte Bemerkung. Herr Meiser, Ihrer Analyse habe ich an vielen Stellen zustimmen können. Auch bei den Grünen habe ich viel Gutes gefunden. Aber am Ende ist es so: Wenn derjenige, der Eigentümer ist, gleichzeitig die Spielregeln festlegt, kommt es immer zu höheren Preisen. Deswegen müssen die Anteile verkauft werden.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Katharina Dröge.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Mohrs, eigentlich wollte ich meine Rede wirklich mit etwas Positivem im Hinblick auf die SPD anfangen. Ich wollte wirklich anerkennen, dass Minister Heil gegen einen völlig unverständlichen Widerstand des Wirtschaftsministers dafür gekämpft hat, dass wir im Bereich des Paketmarktes die Nachunternehmerhaftung bekommen.
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Ich wollte eigentlich mit einer Kritik am Wirtschaftsminister anfangen, der nicht verstanden hat, dass die Schaffung guter Arbeitsbedingungen eben auch ein Job des Wirtschaftsministers ist.
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Nachdem ich aber jetzt Ihren Vortrag hier gehört habe, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir können unterschiedlicher Meinung sein, und es ist unser Job, uns mit guten Argumenten auseinanderzusetzen und gegenseitig zu überzeugen. Aber eines sollten wir doch in dieser Debatte miteinander vereinbaren, nämlich dass wir bei den Fakten bleiben. Ihr Debattenbeitrag war einfach eine unzulässige Verdrehung von Fakten.
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Sie werfen uns vor, dass wir die Zustände auf dem Paketmarkt für etwas Erstrebenswertes halten, und das angesichts der Tatsache, dass wir die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag sind, die heute einen Vorschlag vorlegt, wie die prekären Bedingungen auf dem Paketmarkt gebessert werden können.
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Wir sind da die Einzigen in dieser Debatte, die das adressiert haben. Ziffer 1, Punkte a bis g in unserem Antrag sind Vorschläge zur Regulierung des Paketmarktes. Die haben Sie alle nicht erwähnt. Ich finde, das, was Sie hier gemacht haben, ist eine Unverschämtheit.
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Wenn Sie sagen, es hätte irgendeine Regelung zur Scheinselbstständigkeit gegeben, dann scheinen Sie ja noch nicht einmal verstanden zu haben, welche Vereinbarungen es jetzt zwischen den Regierungsfraktionen gibt. Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie sich um das Thema Nachunternehmerhaftung gekümmert. Und das, was wir in unserem Antrag vorschlagen, beispielsweise klarere Kriterien zur Abgrenzung von Scheinselbstständigkeit, haben Sie überhaupt nicht adressiert. Auch eine bessere Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit haben Sie überhaupt nicht adressiert.
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Diese gesamten Bereiche adressieren Sie überhaupt nicht, obwohl wir Ihnen das alles vorgeschlagen haben.
Sie sagen im Umkehrschluss – ich finde, das ist auch ein interessantes politisches Statement der SPD –: Die Liberalisierung eines Marktes bzw. Wettbewerb auf einem Markt muss automatisch zu solchen Zuständen wie auf dem Postmarkt führen; deswegen kann es keine Liberalisierung geben. – Ich finde, das ist im Umkehrschluss schon eine schwierige wirtschaftspolitische Argumentation.
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Sie können ja mal überlegen, zu welcher Schlussfolgerung Sie dann kommen, wenn man das auf alle anderen Märkte, die schon liberalisiert sind, überträgt. Ich glaube, es ist ein Armutszeugnis, wenn man so herum denkt;
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denn der Job des Gesetzgebers ist es, auf Märkten für so gute Rahmenbedingungen zu sorgen, dass diese zu guten Arbeitsbedingungen und zu einem fairen Wettbewerb führen.
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Das ist der Job, den Sie als SPD in den letzten Jahren, in denen Sie an der Regierung beteiligt waren und sind, auch hatten.
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Beim Paketmarkt sind sie da ganz offensichtlich gescheitert. Sonst hätten wir dort nicht so prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das haben Sie alles gesehen, und erst jetzt fangen Sie an, zu regulieren.
Ich komme zum Thema Postmarkt: Die Portoerhöhung, für die sich der Wirtschaftsminister jetzt starkgemacht hat, ist völlig unverständlich. Ich verstehe auch nicht, warum Sie das verteidigen. Die Deutsche Post steigert ihren Gewinn mit Blick auf 2020 noch einmal um 1 Milliarde Euro. Die Berechnungsmethode, die der Wirtschaftsminister verändert hat, funktioniert jetzt so, dass man sich nicht nur anschaut, welche Unternehmen im Ausland welche Preise nehmen, sondern dass man ganz bewusst die Unternehmen herausstreichen kann, die das niedrigste Porto verlangen,
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um noch höhere Portopreise in Deutschland durchzusetzen. Die Folge davon ist: Die Oma mit ihrem Weihnachtsbrief zahlt am Ende das höhere Porto, während es der Post auf der anderen Seite möglich ist, Großkunden wie Versandhäusern Rabatte für den Versand von Katalogen zu gewähren.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Das ist eine unsoziale Politik, die Sie am Ende auch mittragen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Hansjörg Durz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst, Herr Houben, lassen Sie mich eine Bemerkung voranstellen: Die Privatisierung der Post eingeleitet und übrigens sein eigenes Ministerium abgeschafft hat Wolfgang Bötsch.
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Wir verhandeln heute unter diesem Tagesordnungspunkt verschiedene Aspekte. Es wird versucht, Unterschiedliches unter einen Hut zu bringen. Die Erhöhung des Spielraums für das Briefporto sowie die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten auf dem Postmarkt sind zum Beispiel zwei verschiedene Paar Schuhe.
Zunächst möchte ich mit Blick auf die Lohnentwicklung bei Paketzustellern betonen, dass wir im Grundsatz ja alle das gleiche Ziel verfolgen. Auch unsere Fraktion will vernünftige Löhne in der gesamten Paketbranche. Wir lassen uns dabei jedoch von dem Grundsatz leiten, dass in diesem Land nicht die Bundesregierung festlegt, wer wie viel verdient. Insbesondere mit Blick auf den Antrag der Linken darf ich daran erin nern, dass diese Aufgabe Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusteht. Wir stehen zur Tarifvertragsfreiheit in Deutschland. Staatliche Regelungen für einzelne Branchen über die Bestimmungen des Mindestlohngesetzes hinaus lehnen wir deshalb ab.
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Wir sind jedoch nicht nur Verfechter des freien Marktes, sondern auch der Rechtsstaatlichkeit. Regeln müssen gelten. Das gilt auch für den Paketmarkt. Eine der größten Zolloperationen in der deutschen Wirtschaftsgeschichte hat gezeigt, dass hier tatsächlich Handlungsbedarf besteht. Die bundesweite Razzia im Februar dieses Jahres hat zutage gefördert, dass ein Teil der Arbeitnehmer in der Paketbranche außerhalb der gesetzlichen Standards beschäftigt wird. 12 800 Fahrer bei 648 Unternehmen wurden kontrolliert. Mehr als 60 Strafverfahren und mehr als 100 Ordnungswidrigkeiten wurden bislang eingeleitet bzw. gemeldet. Zahlreiche Verdachtsfälle auf Mindestlohnunterschreitungen wurden festgestellt.
Die Ergebnisse dieser Stichprobe des Zolls sollen nicht ungehört verhallen; denn die Auslagerung von Geschäftsprozessen an Subunternehmer und Subsubunternehmer hat auch schon in anderen Branchen dazu geführt, dass Menschen zu Bedingungen arbeiten, die dazu tendieren, gesetzwidrig zu sein. Verstöße gegen die Versicherungspflicht bei Scheinselbstständigen sowie die Missachtung des Mindestlohns sind Merkmale, die in der Fleisch- und Baubranche ebenfalls Probleme dargestellt haben.
Es ist deshalb naheliegend, diesen Rechtsverletzungen mit ähnlichen Regelungen beizukommen wie in den genannten Branchen. Die Union trägt deshalb die Einführung der Nachunternehmerhaftung mit. Damit ist der Auftraggeber einer Dienstleistung dafür verantwortlich, dass die Arbeitsbedingungen bei Subunternehmen gesetzeskonform sind. Dabei darf der Staat jedoch aus seiner Aufsichtspflicht nicht entbunden werden. Zollkontrollen müssen auch in Zukunft ihren Beitrag dazu leisten, Missstände aufzudecken und ihnen effektiv zu begegnen.
Es darf jedoch nicht vergessen werden: Die Kontrolle hat auch ergeben, dass die deutliche Mehrheit der Paketboten nach Recht und Gesetz angestellt und entlohnt wird. Ein Generalverdacht kann und darf daraus eben auch nicht abgeleitet werden.
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Das Gespenst des unbarmherzigen ausbeuterischen Unternehmens dürfen manche Kollegen zu meiner Linken deshalb dorthin zurückverfrachten, wo sie es rausgekramt haben.
Zur Wahrheit gehört auch: Für all jene Unternehmen, die sich an das Gesetz halten, bedeutet die Nachunternehmerhaftung deutlichen Mehraufwand;
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denn sie müssen ihre Vertragspartner nun permanent überprüfen, ob sie sich wohl an die Spielregeln gehalten haben. Deshalb müssen die bürokratischen Mehraufwendungen an anderer Stelle eingespart werden. Deshalb müssen Unternehmen spürbar und substanziell entlastet werden, und zwar insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen.
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Auch beim Blick auf die Qualitätssteigerungen im Briefmarkt liegen die Positionen von Regierung und Opposition gar nicht allzu weit auseinander; denn noch schneller als das Porto steigt tatsächlich die Anzahl der Beschwerden über die Zustellqualität, insbesondere in Bezug auf den Versand des Standardbriefes. Allein im ersten Quartal dieses Jahres zählte die Bundesnetzagentur rund 4 000 Beschwerden. Damit stehen die Chancen gut, dass die Gesamtzahl der Eingaben aus dem letzten Jahr übertroffen wird. Mit 12 000 Beschwerden hatte sich die Jahresbilanz im Vergleich zu 2017 nahezu verdoppelt. Wir sehen: Die Verbraucher machen ihrem Ärger Luft, und zwar nicht mit stiller Post.
Doch jedem, der in der derzeitigen Debatte nicht nur die Überschriften der Medienbeiträge gelesen hat, dürfte aufgefallen sein, dass die Bundesnetzagentur darauf auch reagiert hat; denn sie hat der Post eben nicht nur eine Erhöhung des Briefportos im Schnitt von mehr als 10 Prozent in Aussicht gestellt, sondern auch die Anforderungen an die Qualität erhöht. So existiert eine vierteljährliche Berichtspflicht, in deren Rahmen der Konzern detaillierte Angaben zur Qualitätsmessung machen muss. Dazu gehören Daten zur Brieflaufzeitmessung, Angaben zur Briefzustellung an Werktagen sowie zur Entwicklung des Briefkasten- und Filialnetzes. Zudem wird der Post oftmals auferlegt, halbjährlich über die Zahl der in der Zustellung tätigen Arbeitskräfte Bericht zu erstatten. Also: mehr Transparenz.
Es ist jedoch kein Geheimnis, dass die Digitalisierung – es ist mehrfach angesprochen worden – auch auf dem Postmarkt disruptiv wirkt. Entsprechend sinkt die Zahl der durch die Deutsche Post ausgetragenen Briefe – nicht so deutlich wie in anderen Ländern, aber sie sinkt.
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12,7 Milliarden Briefe wurden im letzten Jahr in Deutschland über die Post verschickt. Im Jahr 2014 waren es noch 1 Milliarde mehr, 2011 sogar noch 2 Milliarden mehr. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Was sich jedoch nicht ändern wird, ist der berechtigte Anspruch der Verbraucher, dass ein Brief, wenn man dann doch mal auf ihn zurückgreift, innerhalb kürzester Zeit, in der Regel innerhalb eines Tages, an der Zieladresse ankommt. Die Infrastruktur, die bereitgehalten werden muss, um diesen Standard zu gewährleisten, darf also nicht substanziell verringert werden. Es folgt somit logischerweise eine Erhöhung des Portos.
Im europäischen Vergleich sind die Preise auf dem deutschen Briefmarkt noch verhältnismäßig gering. Aber es versteht sich von selbst, dass in Zukunft die Höhe der Portozahlungen nicht im gleichen Maße steigen darf, wie die Anzahl der versendeten Briefe sinkt. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, die bestehenden Regulierungen für den Postmarkt zu überarbeiten; denn diese bestehen seit rund 20 Jahren unverändert. Was sich jedoch grundlegend verändert hat, ist schlicht der Markt. Auf diese Gegebenheiten muss auch der Gesetzgeber reagieren.
Im September letzten Jahres sind wir an den Wirtschaftsminister herangetreten und haben ihn gebeten, einen Vorschlag zur umfassenden Modernisierung der Postmarktregulierung vorzulegen. Damit haben wir auf die Dringlichkeit der im Koalitionsvertrag bereits vereinbarten Novelle des Postgesetzes hingewiesen. Sowohl für die Novellierung des Postgesetzes als auch für die Novellierung der Post-Universaldienstleistungsverordnung werden aktuell Eckpunkte erstellt. Es ist nun an uns Parlamentariern, im Rahmen einer grundlegenden Überarbeitung des Postrechts dafür zu sorgen, dass die Menschen auch in Zukunft bestmögliche Postdienstleistungen erhalten werden.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Sichert.
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Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren! Die Regierung ändert die entsprechende Verordnung, damit die Post das Porto für Briefe von Privatkunden erhöhen kann; das haben wir heute schon an vielen Stellen gehört. Was wir nicht gehört haben, ist, dass die Deutsche Post verkündet hat, den Gewinn dieses Jahr um 1 Milliarde Euro und nächstes Jahr um knapp 2 Milliarden Euro steigern zu wollen. Die Profiteure dieser Portoerhöhung sind die Anteilseigner. Die Leidtragenden sind die einfachen Bürger, die in diesem Land leider keine Lobby haben.
Die zwei größten Anteilseigner der Deutschen Post sind über die KfW der Bund sowie die Fondsgesellschaft BlackRock. Wir haben es heute schon gehört: Der Deutschlandchef von BlackRock ist kein geringerer als der Beinahe-CDU-Chef Friedrich Merz. Das ist die Form des Lobbyismus und des Filzes in Deutschland, der uns als AfD auch in dieses Parlament gebracht hat.
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Denn nicht nur BlackRock profitiert, sondern auch die Regierung schöpft Dividenden der Post ab. Damit wirkt die Portoerhöhung letztlich wie e ine Steuererhöhung. Darin sind Sie groß: in Lobbypolitik und in kreativen Ideen, wie man den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen kann.
Als 2015 13 Milliarden Euro Überschuss da waren, da hieß es: „Das Geld ist für die Asylbewerber reserviert“, und die braven Bürger schauten in die Röhre.
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Jetzt, da 125 Milliarden Euro weniger als geplant eingenommen werden, sucht man kreative Wege wie die Portoerhöhung, um den Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen, und diskutiert darüber, die Grundrente oder die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zu streichen.
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Das Perverse an Ihrer Politik ist, dass für Sie die einfachen Bürger immer nur die Melkkühe sind. Hauptsache, bei Abendessen mit Ihren Lobbyistenkumpels wird Ihnen dann kräftig auf die Schulter geklopft.
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Wir haben eine Menge Parallelgesellschaften in Deutschland,
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aber eine der schlimmsten Parallelgesellschaften, die wir haben, ist die Parallelgesellschaft der Lobbyisten und Speichellecker, in der sich leider viele Politiker in diesem Land bewegen.
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Wenn Sie wissen wollen, warum wir gegen den Bürokratieapparat in der EU sind, dann können wir Ihnen sagen: Wir sehen doch tagtäglich an Herrn Altmaier, was passiert, wenn man einen EU-Beamten in eine verantwortungsvolle Position hievt. In Unternehmenskreisen gilt der Wirtschaftsminister als Totalausfall. Und: Die Unternehmen haben leider recht damit; denn er sieht tatenlos zu, wie sich die Wirtschaft abkühlt, wie beispielsweise die Automobilproduktion in Deutschland allein im letzten Jahr um knapp 10 Prozent gesunken ist,
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während sie weltweit steigt. Stattdessen setzt er sich für eine Portoerhöhung für Privatkunden ein, um seinem Kumpel Friedrich Merz einen Gefallen zu tun und den Bürgern mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. Das ist es, was EU-Beamte am besten können: Lobbyisten bedienen und Bürger und die freie Wirtschaft belasten.
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Es ist vollkommen richtig, wenn die Oppositionsparteien sich gegen die Portoerhöhungen stellen. Dass die Linken und die Grünen das zugleich mit Forderungen für die Arbeitsbedingungen im Postgewerbe zusammenpacken, das passt jedoch nicht zusammen; denn das Hauptproblem liegt nicht bei der Post und den beschäftigten Zustellern, die häufig deutlich über dem Mindestlohn verdienen, sondern es liegt bei den vielen Subunternehmern, die vor allem die Konkurrenz der Post einsetzt.
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Das Subunternehmertum und die Ausbeutung von Arbeitnehmern sind im gesamten Transport- und Logistikbereich ein Problem, und das muss ganzheitlich angegangen werden.
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Wir können es uns auch nicht leisten, immer nur an den Symptomen herumzudoktern, solange wir nicht die Ursachen der Probleme angehen. Eine der Ursachen dieser Probleme ist die Freizügigkeit in der EU,
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mit der jeder deutsche Lkw-Fahrer unter Druck gesetzt werden kann, noch länger und noch härter zu arbeiten und gegebenenfalls die Arbeitszeitregelungen zu reißen, weil er sonst eben durch einen Fahrer aus Rumänien ersetzt wird. Aber statt dieser fatalen Entwicklung entgegenzuwirken, weiten Sie die Freizügigkeit mit Ihrem angeblichen Fachkräftezuwanderungsgesetz gleich weltweit aus, sodass der deutsche Fahrer künftig nicht nur mit den Osteuropäern, sondern auch noch mit den Fahrern aus Afrika konkurrieren muss. Und dann wundern Sie sich, dass immer mehr Menschen in diesem Land auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Da können wir Ihnen nur dringend empfehlen, mal bitte einen Kurs in Volkswirtschaftslehre zu besuchen;
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denn das, woran Sie mit Ihrer Gesetzgebung scheitern, lernen Studenten schon im ersten Semester in Makroökonomie.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort die Kollegin Gabriele Katzmarek.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern – welch Zufall! – erreichte mich eine E-Mail einer katholischen Sozialstation, deren Mitarbeiter sich darüber beschwerten – zu Recht beschwerten –, dass Prüfungsunterlagen, die für die praktische Prüfung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger gebraucht wurden, erst einen Tag vor der Prüfung ankamen, also sehr spät, und es somit etwas schwierig war, die Vorbereitungen zu treffen. Das gilt auch für viele andere Dinge. Ich habe weitere Beschwerden aus meinem Wahlkreis bekommen, in denen es heißt: Die Post kommt nicht rechtzeitig an und ist nicht zuverlässig. – Und das ist schon richtig, ja. Deshalb sind die Menschen auch verärgert, und deshalb ist es wichtig, sich auch dieses Themas anzunehmen. Die entscheidende Frage ist aber: Wie? Ist die Frage des Portos der entscheidende Punkt? Oder ist der entscheidende Punkt, dass die Post nachbessern muss, mehr Personal braucht, damit die Post rechtzeitig zugestellt wird?
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Linken, natürlich ist es sehr schön, einen Zusammenhang herzustellen und ganz populistisch zu sagen: Die Portoerhöhung wird erst dann genehmigt, wenn bessere Serviceleistungen gebracht werden und mehr für die Beschäftigten getan wird. – Ich glaube, das ist der falsche Weg. Ich gebe Ihnen aber recht: Die Post muss nachbessern. Die Post hat seit 2018 8 500 Arbeitskräfte – meine Kollegen haben es bereits erwähnt – zu tariflichen Bedingungen eingestellt. Das war scheinbar nicht ausreichend. Da müssen wir nachbessern. Das ist der entscheidende Punkt, über den wir, finde ich, reden können.
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Was mich aber viel mehr erstaunt bei der Debatte, die wir ja jetzt eine ganze Weile geführt haben und die ja an manchen Ecken sehr formal war, ist, dass es immer wieder hauptsächlich um die Frage ging: Ist die Portoerhöhung rechtens oder nicht? – Die FDP plädiert für Privatisierung, wo wir doch gerade in den letzten Wochen und Monaten erleben und eine verschärfte Debatte darüber führen, was Privatisierung bedeutet und wie es auf dem Paketmarkt zugeht. Die AfD, die sich hier ja immer als Retter der Enterbten in diesem Land aufspielt, redet darüber gar nicht. Aber wir müssen darüber reden, meine sehr geehrten Damen und Herren, welche Zustände wir in dem Bereich der Paketzusteller haben. Das ist nämlich der entscheidende Punkt.
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Das habe ich in der Debatte bisher vermisst; das will ich Ihnen einmal sagen.
Liebe Frau Dröge, jetzt einmal ganz ruhig, Sie haben schon genug dazwischengeredet. Zu Ihren Ausführungen will ich gerne etwas sagen. Sie haben in Ihrem Antrag – das habe ich erfreulicherweise gesehen – geschrieben, dass man mehr Personal zur Vermeidung des Missbrauchs im Paketdienst benötigt. Was Sie gesagt haben, ist richtig.
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Sie haben aber scheinbar vergessen, dass wir am 4. April die erste Lesung eines entsprechenden Gesetzes dazu hatten, oder? Von daher: Wir sind an diesem Thema dran. Aufpas sen hilft!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, worum geht es mir? Wir erleben durch Subsubsubunternehmen, also dadurch, dass der Auftraggeber einen Auftrag annimmt, ihn weitergibt, ihn weitergibt, ihn weitergibt,
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ein Dumping im Arbeitnehmerbereich, das dazu führt, Herr Houben, dass die Menschen keinen Mindestlohn bekommen, dass sie oft illegal beschäftigt werden,
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dass sie weit unter dem, was wir unter guter Arbeit verstehen, behandelt werden und dass systematisch Sozialversicherungsbetrug betrieben wird. Darüber gilt es zu reden, aber nicht nur zu reden. Denn dort ist Handeln gefordert. Normal – auch das ist richtig – machen das Tarifvertragsparteien. Wo es aber keine Tarifbindung gibt und ein Missbrauch sondergleichen stattfindet, ist der Staat gefordert.
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Ich will Ihnen noch eines sagen: Es ist gut – auch wenn es dazu etwas gebraucht hat; ich will es einmal nett formulieren –, dass der Wirtschaftsminister und unsere Koalitionskollegen verstanden haben, dass wir beim Paketdienst etwas verändern müssen. Mit dem Gesetz zur Nachunternehmerhaftung, das Hubertus Heil in den nächsten Wochen einbringen wird, werden Unternehmen dafür haftbar gemacht, wenn sie Subsubsubunternehmen beschäftigen,
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die mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so umgehen, dass die Menschen keine gute Arbeit haben, dass sie nicht richtig bezahlt werden, dass sie durch die Gegend hetzen und nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
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Wir sind also auf einem guten Weg.
Meine lieben Grünen, ich hoffe, dass, wenn wir demnächst ausführlich über dieses Thema reden, Sie sich darüber freuen, dass wir ein Gesetz machen, mit dem zumindest der Teil im Paketdienst, den Sie kritisieren, aufgriffen wird. Wir als Koalition gehen das an, damit wir gerechte Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land schaffen. Ich freue mich jetzt schon darauf.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner für die FDP-Fraktion: der Kollege Carl-Julius Cronenberg.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da, wo wenig Markt und Wettbewerb ist, vertritt der Staat Verbraucherinteressen und greift qua Regulierung in Märkte ein. So auch beim Briefporto. Wie man die politische Absicht – der Anbieter beantragt eine Preiserhöhung, der Staat genehmigt – von den Füßen auf den Kopf stellt, hat uns die Bundesregierung im März eindrucksvoll gezeigt.
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Die Post kündigt an, das Briefporto um sage und schreibe 25 Prozent erhöhen zu wollen. Daraufhin macht sich die Bundesregierung auf die Suche nach erfolgreichen Wettbewerbern in der Welt und ändert die gewünschte Entgeltverordnung dergestalt, dass der Portoantrag genehmigungsfähig wird. Das geht so nicht.
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Der Griff in die Taschen der Verbraucher, insbesondere der älteren, denen oft persönliche Briefe noch besonders am Herzen liegen, juckt Sie nicht. Wenn selbst Die Linke diese Vorgehensweise zu Recht geißelt, ist spätestens klar: Die Bundesregierung hat ihren ordnungspolitischen Kompass verloren.
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Der Antrag der Grünen greift das zweite große Thema in der Logistikbranche auf. Die Arbeitsbedingungen der Paketzusteller sind teilweise skandalös. Für uns Freie Demokraten ist es aber ebenfalls ein Skandal, dass der Staat seit Jahren nicht in der Lage ist, geltendes Recht durchzusetzen.
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Unternehmen, die sich an Regeln halten, dürfen nicht weiter gegenüber denen einen Wettbewerbsnachteil haben, die sich nicht an Mindestlohn oder Sozialversicherungspflicht stören. Effektive Missbrauchsbekämpfung braucht nicht nur mehr Personal,
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sondern auch mehr Digitalisierung und den Einsatz von KI. Liebe Regierung, da fehlt es Ihnen an ordnungspolitischer Weitsicht.
Als Arbeitsminister Heil im März mit dem Thema vorgeprescht ist, hat der Wirtschaftsminister zu Recht darauf hingewiesen, dass die Kontrolle in der Zuständigkeit des Zolls liegt und nicht der Unternehmen. Seit gestern wissen wir: Herr Altmaier hat den Kampf verloren. Er wurde mit vagen Versprechungen zur Bürokratieentlastung abgespeist.
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Übrigens: Große Marktteilnehmer wie die Post klatschen bei der Nachunternehmerhaftung Beifall. Kleine und mittlere Wettbewerber dagegen können weder Haftungsrisiken noch Bürokratielasten schultern und werden vom Markt verdrängt.
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Liebe Kollegen von der Union, da hatte Ihr Wirtschaftsminister einmal eine ordnungspolitisch richtige Intuition, da pfeifen Sie ihn parteiintern zurück. Das lässt nur einen Schluss zu: Die Regierung und die GroKo haben ihren ordnungspolitischen Kompass verloren.
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Meine Damen und Herren, weder der Antrag der Linken noch der Antrag der Grünen packt das Übel bei der Wurzel. Der Bund ist gleichzeitig größter Aktionär bei der Post und ihr Regulierer. Was soll anderes dabei herauskommen als ein permanenter Interessenkonflikt? Als Aktionär will der Bund Dividenden, als Regulierer niedrige Preise im Sinne der Verbraucher. Deshalb gucken Beschäftigte in der Paketbranche beispielsweise bei Löhnen und Sozialstandards in die Röhre. Wettbewerb entsteht so auch nicht.
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Das Festhalten an der Postbeteiligung zeigt deutlich: Die Bundesregierung hat keinen ordnungspolitischen Kompass. Wenn sie den sucht, folgt sie den klugen Anträgen der FDP. Die Forderungen von Linken und Grünen besprechen wir im Ausschuss.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Bisher ging die Debatte vor allem um den Postmarkt. Ich konzentriere mich jetzt ganz auf die Paketbranche; denn hier geht der Wettbewerb voll und ganz zulasten der Beschäftigten.
Die Branche ist ein schwer zu durchschauendes Geflecht aus zahlreichen Sub-Sub-Sub-Unternehmen, geprägt durch Leiharbeit, Werkverträge und Scheinselbstständigkeit. Der Anstand geht häufig ganz verloren, wenn es um entsandte Beschäftigte geht, insbesondere aus den osteuropäischen Staaten. Sie arbeiten teilweise ohne Arbeitsvertrag, ohne Sozialversicherung; das Arbeitszeitgesetz wird missachtet. Die Schwerpunktkontrollen im Februar haben gezeigt: Jedes dritte Subunternehmen bezahlt zu wenig Lohn. Fairer Wettbewerb und faire Arbeitsbedingungen sehen anders aus.
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Deshalb fordern wir schon lange eine Nachunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge, damit sich die großen Paketfirmen nicht mehr länger aus der Verantwortung stehlen können. Herr Kollege Mohrs, das ändert rein gar nichts an der Scheinselbstständigkeit, weil es hier rein um Beschäftigung geht. Dazu hat sich die Bundesregierung zum Glück endlich durchgerungen – nach langem Streit und gegenseitiger Blockade.
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Jetzt wird hoffentlich die Nachunternehmerhaftung in der Paketbranche kommen. Das ist gut. Jetzt müssen Sie aber auch erst einmal liefern.
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Das reicht aber noch nicht aus. Die Arbeitszeit muss wie in der Fleischbranche täglich dokumentiert werden, damit die Finanzkontrolle Schwarzarbeit effektiv kontrollieren kann. Nur so macht im Übrigen die Nachunternehmerhaftung wirklich Sinn.
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Wir brauchen auch mehr Kontrollen. Deshalb braucht die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mehr Personal. Herr Kollege Mohrs, noch einmal: Finanzminister Scholz kündigt zwar immer und immer wieder neue Stellen an. Die kommen aber nicht an. Die 1 600 Stellen von 2014 zur Kontrolle des Mindestlohns sind bei der Finanzkontrolle noch nicht einmal besetzt. Also bleiben Sie bitte endlich bei den Tatsachen.
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Ganz wichtig für uns ist noch – das steht auch im Antrag –: Die Beschäftigten brauchen Unterstützung; denn sie bekommen häufig ihren Lohn nur über den Klageweg. Allein gegen den Arbeitgeber zu klagen, ist ein steiniger Weg. Deshalb fordern wir einen kollektiven Rechtsschutz, ein Verbandsklagerecht. Das nimmt den Druck von den Beschäftigten, und das eröffnet vor allem auch die Chance, die strukturelle Arbeitsausbeutung Schritt für Schritt zu bekämpfen.
Das alles ist dringend notwendig – ich bin gespannt, ob die SPD das auch liefert –; denn alle Beschäftigten haben verdient, dass sie fair bezahlt und gut behandelt werden.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Axel Knoerig.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Viele von Ihnen kennen die Situation: Wenn es spätabends noch an der Tür klingelt und Pakete zugestellt werden, dann fragt man sich automatisch, wie lange der Kurier wohl schon unterwegs ist, und teilweise auch, ob sein Lieferwagen überhaupt noch fahrtauglich ist. Denn die Paketbranche ist in weiten Teilen für ihre misslichen Arbeitsbedingungen bekannt. Das betrifft vor allem die Masse von Subunternehmen. Hier besteht oft der Verdacht auf Scheinselbstständigkeit, fehlende Arbeitsgenehmigungen oder fehlerhafte Arbeitszeitaufzeichnung, Missbrauch von Leih- oder Zeitarbeit oder gar Ladeverstöße.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, daher fand auf Anregung von Karl-Josef Laumann im Februar dieses Jahres eine bundesweite Prüfung statt. Er ist Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender der CDA, der CDU-Sozialausschüsse. Bei der Überprüfung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit wurden über 12 000 Paketzusteller befragt. Das Ergebnis: In über 2 000 Fällen wurde der Mindestlohn nicht eingehalten, oder es lag ein anderer Leistungsmissbrauch vor. Es gab diverse Strafverfahren, weil die Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt wurden.
Deswegen hat unser ehemaliger Kollege Laumann eine Bundesratsinitiative angeregt: Die sogenannte Nachunternehmerhaftung soll auf die Paketbranche ausgeweitet werden. Gerade hat auch der Koalitionsausschuss einen solchen Gesetzentwurf beschlossen, um eine bessere soziale Absicherung der Paketboten zu erzielen.
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Was versteht man genau unter Nachunternehmerhaftung? Diese regelt die gesamtschuldnerische Haftung eines Hauptunternehmers, wenn dessen Subunternehmen gegen arbeitsrechtliche Vorschriften verstoßen. – Die Regelung stammt aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Wir haben sie 2002 bereits auf das Baugewerbe und 2017 auf die Fleischbranche übertragen, weil diese ja am stärksten von Schwarzarbeit betroffen waren.
Meine Damen und Herren, insbesondere die Paketbranche wächst aufgrund des Onlinehandels jedes Jahr kontinuierlich, und dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren weiter verstärken. In 2018 wurden bereits über 3,6 Milliarden Pakete ausgeliefert, und es wird für 2021 eine Steigerung auf 4 Milliarden Pakete prognostiziert. Wir als Union wollen verhindern, dass mit dem Wachstum auch die Verschleierung von Rechtsverstößen weiter zunimmt. Das betrifft vor allem die Subunternehmerketten. Auch der Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste und sehr wohl auch die Firma Hermes haben sich bereits für eine Ausdehnung der Nachunternehmerhaftung ausgesprochen.
Und wie funktioniert das Ganze in der Praxis? Die Rentenversicherungen der Länder kontrollieren die korrekte Abführung der Sozialversicherungsbeiträge. Bei säumigen Beiträgen sind die Krankenkassen dafür zuständig, sie entsprechend einzufordern.
Hier sind aber ausschließlich die Hauptunternehmen bekannt, also nicht die Subunternehmen. Die großen Paketdienste wie DHL, DPD, UPS, GLS und Hermes haften damit zukünftig für die von ihnen beauftragten Subunternehmen.
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Diese Haftung kann aber entfallen – das ist, denke ich, wichtig, auch gerade mit Blick auf die FDP –, wenn das Gewerbeamt eine Unbedenklichkeitsbescheinigung für die Subunternehmen ausstellt. Voraussetzung dafür ist eine gewerbliche Eignungsprüfung, bei der Fachkunde, Zuverlässigkeit und auch Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums, der ja nun ressortintern abgestimmt wird, ist ein deutliches Signal: Die Zustellbranche muss dem Image von Ausbeutung und Sozialmissbrauch schlichtweg entgegenwirken.
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Das ist aber nur möglich, wenn sich alle Beteiligten an einen runden Tisch setzen. Daher brauchen wir für die Paketbranche einen tiefgreifenden Kulturwandel.
Meine Damen und Herren, dabei müssen wir schon die weiteren Entwicklungen im Blick haben. Der Versandriese Amazon baut seine Logistiksparte erheblich aus: In den USA wurden im April 20 000 Sprinter für einen eigenen Zustelldienst bestellt, und die Verteilung soll per Leasing über Kleinunternehmer erfolgen. Auch in Deutschland wurden bereits einige Verteilzentren gebaut, und gefahren wird auch mit einer eigenen Fahrzeugflotte. An den Standorten Bochum und Düsseldorf stehen schon 100 Transporter bereit, wobei auch hier die Zustellung über Subunternehmen erfolgt. Meine Damen und Herren, auch bei solchen Geschäftsmodellen wird zukünftig das neue Gesetz greifen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10150 und 19/10156 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 19/10199 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt dafür? – Das sind die Grünen und die AfD.
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– Dann müssen Sie etwas leiser sein. Dann können Sie mich verstehen. – Also noch mal: Es ist zu entscheiden über den Überweisungsvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen: Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Die Grünen und die AfD. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD, FDP und Linke. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Wir stimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD ab: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Linke und FDP. Und wer stimmt dagegen? – Grüne und AfD. Enthaltunge n? – Keine. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD! In diesem Raum darf sich niemand wundern, wenn die SPD-Jugend – namentlich Kevin Kühnert – nicht mehr so recht zwischen Mein und Dein zu unterscheiden weiß und von Enteignung und Vergesellschaftung fantasiert,
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wenn Sie Ihrer Parteijugend mit Ihrer Politik allenthalben den Griff in die Taschen fremder Leute vormachen.
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Was jetzt über Ihre Finanzierungspläne zur Grundrente zu lesen ist, ist abenteuerlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wir sehen Ihre Krokodilstränen, aber wir wissen auch: Sie werden am Ende wieder umknicken und diesen Fantasien der SPD wieder zu Mehrheiten verhelfen. Das ist nicht in Ordnung. Mittäterschaft ist Täterschaft, und da lassen wir Sie nicht aus der Verantwortung.
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Die Mütterrente aus Beiträgen statt aus Steuermitteln finanzieren: Das haben Sie mitgemacht. Die doppelte Haltelinie auf Kosten der Enkel und Urenkel: Das haben Sie mitgemacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wo ist Ihr Verantwortungsbewusstsein in der Sozialpolitik? Ich bin gespannt, ob Sie da weiter dagegenhalten werden, wie Sie es jetzt angekündigt haben.
Kollege Gröhe, ich habe von Ihnen gelesen, dass Sie gesagt haben: Das ist, als ob man eine Runde mit fremdem Geld ausgibt; das ist unseriös. – Ich will Sie darauf festnageln und beobachten, ob Sie standhalten
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und diesen verfehlten Finanzierungsfantasien der SPD am Ende tatsächlich Einhalt gebieten werden.
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Ihre Politik ist teuer und hilft am Ende keinem wirklich. Gegen Altersarmut ist die Grundrente das falsche Rezept. Im Grunde genommen wollen Sie ja auch nur denjenigen zu einer höheren Rente verhelfen, die 35 Jahre lang Beiträge einbezahlt haben, und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser Personenkreis überhaupt bedürftig ist, ganz unabhängig davon, ob sie überhaupt arm sind.
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Wir wissen doch, dass Menschen im Alter durchaus auch weitere Einnahmen haben: aus Vermietungen, aus Zinsen für das Vermögen und vor allen Dingen natürlich durch den Ehepartner. Es gibt mittlerweile Studien, die sagen: Von den von Ihnen angedachten 4 Millionen Menschen sind am Ende wahrscheinlich nur 130 000 tatsächlich bedürftig.
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Und da wollen Sie das Geld mit der Gießkanne ausschütten, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD! Das ist nicht nur falsch finanziert, das ist vor allen Dingen unsozial; denn es löst nichts im Hinblick auf das Thema Altersarmut, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
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Die traurige Kreativität Ihres Finanzierungsvorschlags, von dem man jetzt überall lesen kann, verursacht größte Verwunderung. Jetzt wollen Sie die Krankenkassen schwächen, um Ihre Grundrente zu finanzieren.
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Sie wollen die Arbeitslosenversicherung schwächen, um Ihre Grundrente zu finanzieren. Diesen Griff in die Taschen der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist unanständig, und das sollten Sie nicht tun.
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Jetzt ist der Herr Kober dran, und Sie sprechen nachher. Jetzt ist hier mal Ruhe! – Herr Kober.
Wie viel sinnvoller wäre es, dem Vorschlag der FDP zu folgen! Wenn man wirklich etwas gegen Altersarmut machen will, dann muss man denjenigen, die Ansprüche aus der Rentenversicherung, am Ende aber zu wenig zum Leben haben und unter die Grundsicherung im Alter fallen, in Zukunft von ihren Rentenansprüchen mehr belassen als bisher.
Heute wird alles angerechnet, und deshalb sagen wir: Gerechter und fairer – auch leistungsgerechter – wäre es, wenn wir diesen Menschen von ihren Rentenansprüchen mehr belassen würden als bisher. Wir schlagen einen Freibetrag in Höhe von 20 Prozent vor. Das wäre gerecht, und vor allen Dingen würde damit effektiv was gegen Altersarmut getan werden.
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Das ist der seriösere Vorschlag – ohne einen Griff in die Taschen der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Ihre Rentenpolitik ist abenteuerlich.
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Sie finanzieren sie mit dem Griff in die Taschen der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Das ist, wie gesagt – ich wiederhole es –, unseriös, das ist unanständig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie dürfen sich deshalb nicht wundern, wenn Ihnen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Wählerinnen und Wähler verloren gehen;
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denn die sind die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen. Da dürfen Sie sich über Ihre Umfragewerte nicht wundern. Ihre Wählerinnen und Wähler haben ein Verständnis für Gerechtigkeit und für Eigentum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wir sind der Anwalt Ihrer Wählerinnen und Wähler.
({3}) – Bernd Rützel [SPD]: So ein Schwachsinn! – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war schlecht für den Berufsstand der Anwälte!)
Vielen Dank, Herr Kober. – Wenn sich die Freude ein bisschen gelegt hat, dann hat Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! So eine Aktuelle Stunde ist was Tolles, vor allen Dingen, wenn kein konkreter Vorschlag – weder ein Gesetzesvorschlag noch ein Finanzierungsvorschlag – vorliegt
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und man mit der langen Stange irgendwo im Nebel herumfuchtelt. Mehr Klarheit haben wir durch diese Rede jetzt auch nicht bekommen.
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Was ich zugunsten der FDP aber mit Freude feststellen will, ist, dass sich die FDP durchgerungen hat, der Garant und der Schutzschild der deutschen Sozialversicherung zu sein.
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Natürlich kann man dafür plädieren, dass große Bestandteile der sozialen Sicherung in Deutschland – auch große Bestandteile der Sozialversicherung – durch Steuermittel abgedeckt werden. Das kann man fordern, und ich finde, dass diese Forderung hervorragend zur ewigen Steuersenkungspartei FDP passt.
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Jetzt ein Wort dazu, worüber wir Klarheit haben. Klarheit haben wir darüber, dass durch die gute wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre – Deutschland hat den höchsten Stand der Beschäftigung, den es je hatte – unsere Sozialversicherungen Rücklagen haben. Ich kann mich an das Jahr 2005 erinnern; da stand die Rentenversicherung vor der Zahlungsunfähigkeit und musste mit Bundeshilfe unterstützt werden. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.
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Es ist, finde ich, eine gute, eine tolle Situation, eine, auf die wir stolz sein können. Unsere Sozialversicherungen stehen solider und besser durchfinanziert da als je zuvor.
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Die Milliardenbeiträge, die da lagern, muss man allerdings in Beziehung setzen zu den Ausgaben, die zu tätigen sind. Man kann sehen: Die Rücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen gerade einmal 1,1 Monatsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Rücklagen in der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechen gerade einmal 1,6 Monatsausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, übrigens mit mittlerweile sinkender Tendenz. Die Rücklagen in der Arbeitslosenversicherung betragen 23,5 Milliarden Euro, umgerechnet 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das erwähne ich deswegen, weil das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, IAB, uns dringend empfohlen hat, in der Arbeitslosenversicherung eine Rücklage in genau dieser Höhe zu haben, also eine Rücklage in Höhe von 0,65 des Bruttoinlandsprodukts,
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weil das der Betrag ist, den man dringend benötigt, um zum Beispiel auf eine Rezession reagieren zu können. Deswegen haben wir bei der Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags darauf geachtet, dass die Rücklage dort bestehen bleibt.
Das heißt auf der einen Seite, unsere Sozialversicherungen sind gut gerüstet für die Zukunft. Das heißt aber auf der anderen Seite, dass das, was wir als Rücklage haben, bei einem nur leisen Hüsteln der Konjunktur relativ schnell in Anspruch genommen werden muss. Deswegen „Vorsicht an der Bahnsteigkante!“ bei der Frage: Kann man die Rücklagen der Sozialversicherungen weiter absenken? Ich finde, unsere Sozialversicherungen haben eine Rücklage, die gut ist; aber an der sollte man auch nicht rütteln, sondern sie man sollte bewahren.
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Ein weiterer Punkt ist: Das, was bei den Sozialversicherungen an Geld eingenommen wird, ist nicht irgendwie eine Spielmasse, mit der man mal so oder so umgehen kann. Das ist in Wahrheit das, was die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die deutschen Unternehmen hart erarbeitet an Beiträgen in diese Kassen gegeben haben. Zuallererst ist deswegen das, was in den Sozialversicherungen an Einnahmen da ist, das Geld der Versichertengemeinschaft und nicht das Geld des Staates.
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– Verehrte Frau Kollegin, zur Finanzierung der Mütterrente – um auf diesen Einwurf einzugehen –: Der Staat hat über Jahrzehnte mehr Steuermittel in die Rentenkasse gezahlt, als Mütterrente ausgezahlt wurde. Deswegen haben wir da ein Plus gehabt.
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Aber unterm Strich, als Schlussfolgerung, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Es ist gut, wenn wir als Parlament mit Vorsicht und Verantwortungsbewusstsein unsere Sozialversicherungen so gestalten, dass sie auch in Zukunft leistungsfähig sind. Unsere Sozialversicherungen sind Gott sei Dank leistungsfähig. Wir als Union und, wie ich hoffe, wir als Koalition wollen diese Leistungsfähigkeit auch für die Zukunft erhalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächste Rednerin: Ulrike Schielke-Ziesing für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Bürger! In der heutigen Aktuellen Stunde debattieren wir über ein Phantom. Keiner weiß, wie die Grundrente letztendlich aussehen wird. Keiner weiß, wie sie finanziert wird, und keiner weiß, wann Minister Heil sie hier im Plenum vorstellen wird. Da aber in den Medien sehr viel zu den Plänen des Ministers Heil zu finden ist, halte ich es für richtig, hier über die Finanzierung zu diskutieren.
Ich möchte zu Beginn den Experten Herrn Gunkel von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände aus einer Anhörung zitieren – mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Viel Geld würde ausgegeben werden, viele Milliarden, vielleicht sogar ein kleiner zweistelliger Milliardenbetrag ausgegeben werden, für die wir bislang keine Finanzierung sehen. Aber tatsächlich würde sich an der Zahl derjenigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, sehr, sehr wenig verändern.
Nach Berechnungen von Experten würden nur rund 1 Prozent der Bezieher von Grundsicherung im Alter von der Grundrente profitieren. 99 Prozent dieser Rentner gehen dabei leer aus. Die Grundrente ist also mitnichten ein Mittel zur Bekämpfung von Altersarmut. Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass eine Grundrente kommen wird. Es ist dort aber keine Rede von einem Aussetzen der Bedürftigkeitsprüfung – so wie Minister Heil es vorhat. Keine Bedürftigkeitsprüfung, das heißt, jeder, auch die halbtagsbeschäftigte Zahnarztgattin, wird einen Anspruch auf diese Grundrente haben.
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Bevor Sie jetzt argumentieren, dass die Zahnarztgattin eher die Ausnahme ist, möchte ich Sie auf eine Aussage der Deutschen Rentenversicherung aufmerksam machen. In einem Berichterstattergespräch wurde uns Haushältern mitgeteilt, dass zumeist Frauen aus den alten Bundesländern von der Grundrente profitieren.
Aber um das Gesetzesvorhaben an sich soll es heute ja eher nicht gehen. Kommen wir daher zu einem der wichtigsten Punkte, wenn Politik mit Fakten und Verstand, statt mit Emotionen, betrieben wird:
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Wie soll nun das Ganze eigentlich finanziert werden? Die Ausgangsbedingungen waren schon schlecht, als die Diskussion um die Grundrente aufkam. Minister Scholz hat im März dieses Jahres seinen Finanzplan für das nächste Jahr vorgestellt – ohne Grundrente. Dort hatte er schon sehr viele Schwierigkeiten mit den einzelnen Ressorts, eine schwarze Null zu erreichen. Nun, nach neuester Steuerschätzung, ist noch viel weniger Geld zu verteilen. In diesem Jahr fehlen dem Bund rund 10 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. Bund, Ländern und Gemeinden werden bis zum Jahr 2023 rund 124 Milliarden Euro an Steuereinnahmen fehlen.
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Es gibt also noch weniger Chancen für die SPD, ihren Plan von einer Grundrente umzusetzen.
Was tut nun Minister Heil? Er versucht mit allerlei Taschenspielertricks, seine Idee doch noch zu retten. Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Nachhaltigkeitsrücklage, nichts ist mehr vor dem Zugriff des Ministers sicher.
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Wie wir der Presse entnehmen konnten, sollten aus der gesetzlichen Krankenversicherung 400 Millionen Euro herausgeholt werden. Schon unmittelbar danach erteilte Minister Spahn den Plänen seines Kollegen eine Absage.
Apropos Senkung des Krankenversicherungsbeitrages. Was sagt Minister Heil eigentlich den Betriebsrentnern, deren hart ersparte Betriebsrenten durch Doppelverbeitragung der Krankenkassenbeiträge – übrigens ein SPD-Grünen-Gesetz – abgeschmolzen werden? Für diese Menschen war rund 15 Jahre kein Geld da; aber für die Grundrente sollen die Krankenversicherungsbeiträge nun gesenkt werden. Ist das Respekt?
Bei all den Wahlkampffantasien der SPD warne ich eindringlich davor, die Nachhaltigkeitsrücklage der gesetzlichen Rentenversicherung zu plündern. Die Rentenversicherung wird voraussichtlich ab dem Jahr 2023 auf Sonderzahlungen des Bundes angewiesen sein, um ihre Liquidität überhaupt aufrechterhalten zu können. Wenn mit der Grundrente die Nachhaltigkeitsrücklage noch weiter belastet wird, dann verliert die Rentenversicherung nicht nur ihre Liquidität, sondern endgültig jeden Rest von Vertrauen und Reputation.
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Wir diskutieren hier wirklich über ein Phantom, das nur einem sehr kleinen Teil der bedürftigen Menschen zugutekommt, das im Verhältnis zum Nutzen extrem teuer wird und Potenzial enthält, die gesetzliche Rentenversicherung nachhaltig zu schädigen.
Liebe Anwesende der Regierungskoalition, ich weiß, es ist Wahlkampfzeit, und einigen von Ihnen sind die Wählerstimmen derzeit wichtiger als das Wählerwohl. Die Rentenversicherung wie auch die gesetzliche Krankenversicherung sind aber zu kostbar, um damit parteipolitische Spielchen zu betreiben.
Vielen Dank.
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Danke, Frau Schielke-Ziesing. – Nächste Rednerin: Katja Mast für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Worum geht es? Wir von der SPD sagen: Wer ein Leben lang gearbeitet hat, muss eine Rente haben, die diese individuelle Lebensleistung anerkennt.
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In der Regierung laufen Gespräche über den Grundrentengesetzentwurf von Minister Hubertus Heil. Eine solche Rente wird solide finanziert sein; allerdings wissen wir alle noch nicht, wie.
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– Wir diskutieren hier ja keinen Gesetzentwurf, sondern haben eine Aktuelle Stunde.
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Dennoch zeigt Ihr Lachen, dass momentan auch viel Unsinn geredet wird,
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häufig in einer Wortwahl, die mich ganz persönlich stutzig macht.
Meine Damen und Herren, ist es eigentlich sinnvoll, über die pure Arithmetik der Mathematik zu reden,
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wenn es darum geht, die Bedürfnisse und Lebensrealitäten der Menschen im Land zu verändern?
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Das ist unser Job als Regierungsfraktion, und es ist vor allen Dingen unser Job als SPD-Bundestagsfraktion.
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Eine klare Mehrheit in diesem Land will, dass die Grundrente kommt. Klar, diese Mehrheit will, dass Lebensleistung honoriert wird; das ist nämlich anständig und respektvoll.
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Deshalb ist die Grundrente auch – das habe ich schon öfters gehört – keine bedingungslose Grundrente, sondern natürlich ist sie an Bedingungen geknüpft. Es ist nämlich so, dass man 35 Jahre gearbeitet,
({8})
Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben muss, um Grundrente zu bekommen. Also haben wir eine Bedingung: 35 Jahre Beiträge; das ist keine bedingungslose Grundrente.
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Wir wollen nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger, die 35 Jahre mit eigenen Beiträgen die Rentenversicherung und die Sozialkassen stabilisiert haben, weniger haben als die Leute, die das nicht getan haben. Deshalb sagen wir: Sie müssen mehr haben als Grundsicherung; sie müssen im Alter mehr haben als Sozialhilfeniveau. Das halten wir in der Tat für anständig und respektvoll.
({10})
Lassen Sie mich bitte noch auf die Falschmeldungen und Verleumdungen eingehen, die wir hören. Da wettern doch heute dieselben Leute gegen die Grundrente, die immer noch blind glauben, der Markt regele alles in dieser Republik.
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Das sind dieselben Leute, die, als wir den Mindestlohn, die Lohnuntergrenze, eingeführt haben, gesagt haben: Millionen von Menschen werden arbeitslos sein. – Und was ist? Wir haben den Mindestlohn eingeführt und die niedrigsten Arbeitslosenzahlen aller Zeiten.
({12})
Es sind dieselben Leute, die gegen jeden sozialpolitischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte waren. Es wird eine fiktive Zahnarztgattin konstruiert, um von der Friseurin abzulenken.
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Es wird von der Einführung einer Einheitsrente geredet, um von den Mechanismen der Rentenversicherung abzulenken. Und es wird von Wahlgeschenken geredet, um zu suggerieren, dass Politik sich nur in Wahlkampfzeiten um die Menschen kümmere. Auch das ist ein Angriff auf uns alle, die hier konstruktiv nach vorne Politik für die Menschen in diesem Land machen.
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Das ist billig und falsch, und es ist für die hart arbeitenden Menschen in unserem Land ein Schlag ins Gesicht.
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Es ist für die Friseurin ein Schlag ins Gesicht, die jahrelang für den Mindestlohn geschuftet hat. Es ist für die Putzfrau ein Schlag ins Gesicht, deren Bandscheibe nach jahrzehntelanger Arbeit kaputt ist. Und es ist für den Paketboten ein Schlag ins Gesicht, der einer Arbeit nachgeht, die an Stress und Belastung ihresgleichen in dieser Republik sucht.
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Sie merken, das sind alles Berufsbilder, die ich aufgezählt habe, bei denen klar ist: Es geht um ein geringes Lebenseinkommen bei schwerster körperlicher Arbeit. Genau für diese Menschen ist die Grundrente da.
Diejenigen, die das kritisieren, sagen: 11 Milliarden, um die Superreichen beim Soli zu entlasten, die sind da; aber für die hart Arbeitenden und Schuftenden ist nichts da.
({17})
Das ist nicht die Haltung der SPD-Bundestagsfraktion. Deshalb finde ich es klasse, dass wir heute hier diskutieren.
Was Sie immer vergessen, ist, Argumente aufzuzeigen, die für die Grundrente sprechen. Sie verschweigen, dass die Grundrente den Konsum stärkt. Sie verschweigen, dass auch die Zahnarztgattin gemeinsam mit ihrem Mann Steuern zahlt und 42 Prozent des Einkommens über die Steuern in die Kasse zurückfließen.
({18})
Und Sie verschweigen, dass die Grundrente auch eine Frage der Gleichstellung ist. Denn sie betrifft 75 Prozent der Frauen; 75 Prozent der Frauen werden von ihr profitieren.
Frau Mast, achten Sie auf Ihre Redezeit.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich komme zum Schluss.
Uns geht es darum, die hart arbeitenden Menschen in diesem Land, die wenig Einkommen hatten, zu entlasten und ihnen das Versprechen zu geben: Wenn du unseren Sozialstaat mit deinen Beiträgen jahrzehntelang stabilisiert hast, sollst du mehr haben als Grundsicherung.
Frau Mast!
Das halten wir für anständig und respektvoll.
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Vielen Dank, Katja Mast. – Ich bitte Sie, sich an die Redezeit von fünf Minuten zu halten, sonst muss ich den Kubicki machen.
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– Ja, sind Sie sicher? Gut, Sie sind gleich dran.
Nächster Redner in der Aktuellen Stunde: Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele Menschen haben Angst vor Armut im Alter. Das Ziel aller konstruktiven Kräfte muss doch klar sein: Menschen, die jahrzehntelang zu niedrigen Löhnen gearbeitet und ihre Rentenversicherungsbeiträge bezahlt haben, müssen im Alter mindestens eine Rente erhalten, die ihnen den Gang zum Sozialamt erspart.
({0})
Deswegen ist es richtig, dass die sogenannte Grundrente kommt. Denn sie sichert wenigstens das Existenzminimum ohne Bedürftigkeitsprüfung, und das sind gerade mal knapp 800 Euro netto.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Das reicht uns Linken nicht.
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Wir wissen: Die Armutsgrenze liegt deutlich höher.
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Zwar wollen wir eine einkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente von derzeit mindestens 1 050 Euro netto; aber die sogenannte Grundrente wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.
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Und wenn es Finanzierungsprobleme gibt, dann mache ich dem ganzen Haus einen einfachen Vorschlag: Führen Sie sofort einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro die Stunde ein; das würde nämlich die Kosten für die Grundrente massiv senken.
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„Grundrente“ ist ein völlig falscher Name – das muss ich einmal sagen –; aber eben ein Schritt in die richtige Richtung. Diesen richtigen Schritt wollen Teile der Union, die AfD, die FDP, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und leider auch der SPD-Finanzminister Olaf Scholz torpedieren. Es gibt eine Koalition der Anbeter der schwarzen Null, wo sie alle auf den Knien vor der schwarzen Null liegen.
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Union, FDP und leider auch den Finanzminister, Sie alle fordere ich auf: Hören Sie sofort auf, aus allen Rohren auf die sogenannte Grundrente zu feuern. Denn Millionen armer Rentnerinnen und Rentner haben eine Rente wenigstens auf Sozialhilfeniveau ohne eine entwürdigende Bedürftigkeitsprüfung richtig verdient; das ist dringend nötig, meine Damen und Herren.
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Ich sage noch etwas: Erweisen Sie Menschen gegenüber, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen oder andere Menschen gepflegt haben und dennoch nur eine mickrige Rente erhalten, endlich den ihnen gebührenden Respekt.
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Die Koalition streitet darüber, wie die Grundrente zu finanzieren ist. Die Medien befeuern das. Ein konkreter Vorschlag liegt noch nicht auf dem Tisch. Ich sage: Das ist ein unwürdi ger Streit. Alle diese Menschen, die von der Grundrente profitieren können, leiden darunter, weil es heute so heißt, morgen so heißt. Beenden Sie diesen Streit!
Und was die Krokodilstränen angeht, Pascal Kober, die können auch Unionskollegen dauernd vergießen, wenn sie sagen: Wir wollen keine Bedürftigkeitsprüfung. – Wie ist das denn bei der sogenannten Mütterrente? Da gibt es auch keine Bedürftigkeitsprüfung. Und womit? Mit Recht! Es gibt keinen Grund für eine Bedürftigkeitsprüfung.
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Diese Menschen haben jahrzehntelang gearbeitet und haben dasselbe Recht auf eine Rente wie Mütter, die nach 1992 Kinder geboren haben.
Ja, es ist richtig: Armutsvermeidung ist grundsätzlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus Steuern finanziert werden muss. Deswegen fordere ich hier Bundesfinanzminister Olaf Scholz auf: Zahlen Sie dieses Geld! Setzen Sie sich mit Hubertus Heil zusammen! Machen Sie ein vernünftiges Finanzierungskonzept aus Steuermitteln!
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Wenn ich in den Zeitungen lese und hier höre, die Steuerschätzung habe ergeben, wir hätten weniger Steuereinnahmen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist falsch. Wenn Sie sich die Zahlen anschauen – ich habe natürlich, wie Sie sich denken können, alles dabei –, dann stellen Sie fest, dass allein der Bund im Jahr 2023 im Vergleich zu 2019 36 Milliarden Euro mehr Steuern einnehmen wird als heute. Und wenn Sie die prognostizierten Steuereinnahmen für 2019 bis 2023 zusammenrechnen, stellen Sie fest, dass der Bund, verglichen mit heute, 83,4 Milliarden Euro mehr Steuern einnehmen wird. Das, was durch die Gazetten geistert, besagt ja nur, dass es einen geringeren Zuwachs an Steuern geben wird. Hören Sie also mit dem Unsinn auf, und nehmen Sie von den 83 Milliarden Euro Geld für die Grundrente.
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Und noch etwas: Sie wollen, dass die reichsten 10 Prozent der Einkommensbeziehenden den Soli nicht mehr zahlen müssen. Wir alle hier gehören dazu. Ich finde, wir können den Soli weiter zahlen. Dann hätten wir schon mal 11 Milliarden Euro. Das reicht schon zweimal für Grundrente.
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Und 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben, das ist das Allerletzte, das wollen wir nicht. No 2 percent!
Letzter Satz, Frau Präsidentin: In Österreich gibt es zwei Mindestrenten. Die eine liegt bei 1 088,57 Euro, steuerfrei. Und wer 30 Jahre gearbeitet hat, bekommt 1 223,33 Euro, steuerfrei. Ich sage: Was in Österreich geht, geht auch in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Matthias W. Birkwald. – Nächster Redner: Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Österreich dient aber nicht in jeder Hinsicht als Vorbild, Matthias Birkwald; das muss ich schon sagen.
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Auch bei der Rente gibt es dort gewisse Besonderheiten.
Ich habe das Gefühl, mit den letzten beiden Beiträgen ist diese Debatte ein bisschen vom Weg abgekommen; denn ich hatte den Titel der Aktuellen Stunde nicht so verstanden, dass wir noch einmal grundsätzlich über die Prinzipien der sogenannten Grundrente reden. Es scheint ja in diesem Hause weithin Konsens zu sein – das finde ich übrigens gut –, dass langjährige Beschäftigung und Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung, aber auch Erziehungszeiten und Pflegezeiten dazu führen müssen, dass man im Alter mehr Geld hat als ohne all dies, also mehr Geld als in der Grundsicherung.
({1})
Das finden wir gut. Wir Grünen haben schon vor Jahren den Vorschlag einer Garantierente gemacht, übrigens niedrigschwelliger als die der SPD, die jetzt im Raume steht. Wir hatten vorgeschlagen, dass man nach 30 Versicherungsjahren einen Anspruch auf einen Betrag von circa 1 000 Euro hat. Ich finde es gut, dass Sie große Teile davon übernommen haben.
Wir haben in den letzten Jahren eine Diskussion darüber geführt – das fing an, als Ursula von der Leyen Arbeits- und Sozialministerin war, und setzte sich mit Andrea Nahles fort –, die jetzt bei diesem Stand angekommen ist. In gewisser Weise sind sogar die Vorschläge der FDP eines Freibetrags in der Grundsicherung, auch wenn sie technisch falsch sind, ein Spiegel dieser gesamtgesellschaftlichen Debatte. Auch die FDP kommt nicht mehr umhin, anzuerkennen, dass wir angesichts des Niedriglohnsektors in absehbarer Zukunft ein Problem im Bereich der Rentenversicherung haben werden.
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Das sehen sogar Sie ein. Darum ist es, finde ich, sehr wichtig, dass wir diesen Paradigmenwechsel, diesen Umstieg, den Einbau des neuen Prinzips jetzt auch hinbekommen. Ich finde es so außerordentlich bedauerlich, dass durch eine komplett dilettantische Finanzierungsdiskussion zwischen zwei Ministern im Stile eines Treffens von zwei Taschenspielern diese Sache beschädigt wird.
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Das ist wirklich bitter.
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Die Finanzierung, Frau Mast, hat natürlich etwas mit Mathematik zu tun. Sie hat da sehr wohl ihre Berechtigung.
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Sie hatten hier angedeutet, man müsse Politik für die Menschen machen und dürfe doch der Mathematik nicht den Vorrang lassen. Es geht hier – Stichwort „Finanzierungslücke“; das ist der Titel der Aktuellen Stunde – um die Finanzierung. Die ist wichtig, damit die Zukunftsversprechen, die wir mit den Rentenvorschlägen für viele Menschen machen und die über Jahrzehnte tragen sollen, auch halten. Das ist für mich Politik für die Menschen.
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Ich war eigentlich sehr froh, dass wir vor zwei Monaten mit dem Vorschlag von Hubertus Heil mal in die inhaltliche Diskussion eingestiegen sind, dass wir die Klabautermänner des politischen Diskurses, Horst Seehofer hier und manchmal Kevin Kühnert dort, endlich unter Deck schicken konnten
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und über Sachfragen diskutiert haben.
({8})
Jetzt stehen wir wieder da und sind in einer für die Bürger völlig unübersichtlichen Debatte angelangt. Das ist sehr betrüblich.
Wir hatten ja gestern die Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Es war eine nichtöffentliche Sitzung; aber ich glaube, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich sage, dass die Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese auf die entscheidenden Fragen leider jede Antwort schuldig geblieben ist. Wir haben in der öffentlichen Debatte von diesen 1,2 Milliarden Euro gehört, die Sie als Falschmeldung darstellen, die sich die Medien aber nicht ausgedacht haben werden. Sie nehmen das Geld aus anderen Sozialkassen und schichten um. Gleichzeitig steht im Konzept von Hubertus Heil eindeutig, dass das einen mittleren einstelligen Milliardenbetrag kosten wird; das hat Frau Griese gestern noch einmal bestätigt. Aber es gibt noch nicht mal eine Andeutung vonseiten der Sozialdemokraten und auch nicht vom Koalitionspartner, wie dieses Finanzierungsdelta zu überbrücken ist, wie man diese Beträge aufbringen will. Ich erwarte nicht, dass Sie ein fertiges Finanzierungskonzept haben; aber zumindest eine Idee davon sollte doch möglich sein. Vor allen Dingen finde ich es wichtig, klarzustellen – das haben leider weder Frau Griese gestern noch die Redner der Koalition heute getan –, dass es sich bei diesem Projekt einer Grundfinanzierung der Rente für langjährig Arbeitende um eine versicherungsfremde Leistung handelt, die aus Steuermitteln zu finanzieren ist. Das ist unsere fe ste Überzeugung als Bündnis 90/Die Grünen. Es wäre wirklich unverantwortlich, wenn Sie jetzt dieselben Fehler, die Sie mit der Mütterrente gemacht haben, noch einmal machten und die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler für eine im Grundsatz durchaus sinnvolle gesamtgesellschaftliche Leistung zahlen ließen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner: Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Union wollen wir die Lebensleistung von Menschen honorieren, die ein Leben lang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben. Menschen, die in ihrem Leben alles richtig gemacht haben, aber im Alter dennoch auf Unterstützung des Staates angewiesen sind, sollen im Alter mehr haben als diejenigen, die nicht gearbeitet und nicht für das Alter vorgesorgt haben. Das ist unser sozialpolitischer Anspruch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union und die SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf eine bedarfsabhängige Aufstockung der Grundsicherung verständigt. Lediglich die verwaltungsmäßige Abwicklung dieser Leistung soll durch die Rentenversicherung erfolgen. Das ist die Vereinbarung. Die SPD plant nun aber eine Aufstockung von Rentenanwartschaften ohne Bedarfsprüfung. Das ist ungerecht. Das ist leistungsfeindlich. Das lehnen wir ab. Die Bedarfsprüfung ist eine zentrale Frage der Gerechtigkeit und ist für uns als Union nicht verhandelbar.
({0})
Das Heil-Konzept ist Rentenpolitik mit der Gießkanne. Es führt zu milliardenschweren Mitnahmeeffekten, weil auch Menschen profitieren, die nicht auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind,
({1})
und zwar entweder weil sie neben der gesetzlichen Rente noch über weitere Einkünfte verfügen oder beispielsweise über ihren Ehepartner abgesichert sind. Wir wollen mit Steuermitteln dort helfen, wo es notwendig ist, nicht aber mit der Gießkanne. Mit der Gießkanne zu arbeiten, ist genau das Gegenteil von einer zielgenauen Bekämpfung von Altersarmut.
({2})
Das ist auch denjenigen gegenüber ungerecht, die mit ihren Steuermitteln diese neue Sozialleistung mitfinanzieren und dafür aufkommen.
Das Heil-Konzept ist leistungsfeindlich, weil es nicht zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung unterscheidet. Eine Kassiererin beispielsweise, die 35 Jahre in Vollzeit gearbeitet hat und eine Rente von knapp oberhalb der Grundsicherung erhält,
({3})
hätte im Alter nahezu dasselbe Einkommen wie die Kassiererin, die ihr Lebtag nur drei Tage die Woche gearbeitet hat. Das Heil-Konzept zeigt: Je niedriger die Lebensleistung, desto höher die Grundrente. Mit anderen Worten: Das Konzept bewirkt genau das Gegenteil von Anerkennung von Lebensleistung, weil Teilzeit mit Vollzeit gleichgestellt wird.
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Die Heil-Grundrente müsste im Übrigen auch ins EU-Ausland exportiert werden. Deutsches Geld müsste zum Beispiel nach Rumänien gezahlt werden, dorthin, wo die Lebenshaltungskosten deutlich geringer sind. Es gibt für den deutschen Staat überhaupt keinen sozialpolitischen Grund, Menschen, die im Alter in ihre Heimatländer zurückkehren, finanziell zu unterstützen. Deshalb setzen wir uns auch dafür ein, dass die Grundrente nur gezahlt wird, wenn man tatsächlich in Deutschland wohnt. Einen Export lehnen wir ab.
Nach der Steuerschätzung von letzter Woche ist der SPD offenbar finanziell die Luft ausgegangen. Es gibt ganz offenbar das Konzept einer steuerfinanzierten Grundrente vor der Steuerschätzung und das Konzept einer jedenfalls in Teilen beitragsfinanzierten Grundrente nach der Steuerschätzung. Weil Herrn Scholz das Geld ausgegangen ist, will Heil nun zur Finanzierung seines Grundrentenkonzepts in die Sozialkassen greifen. Im Klartext: weniger Steuermittel, stattdessen Beitragsmittel für die Grundrente. Diese Querfinanzierung aus verschiedenen Sozialversicherungsbereichen lehnen wir ab. Diese Querfinanzierung ist keine solide Grundlage für eine Grundrente. Ein Griff in die Kassen der Kranken- oder Arbeitslosenversicherung bedeutet letztendlich, dass die Rücklagen, die dort mühsam aufgebaut wurden, schneller verbraucht werden, und führt letztendlich zu Beitragssatzsteigerungen. Solche Beitragssatzsteigerungen belasten gerade diejenigen, die ein geringeres Einkommen haben, die im unteren oder im mittleren Einkommensniveau unterwegs sind. Und: Beitragssatzsteigerungen bedeuten letztendlich auch weitere Belastungen für die künftige Generation. Nein, solche Mehrausgaben für die Grundrente müssen ausschließlich aus Steuermitteln finanziert werden. Das ist etwas, was mit gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in diesem Bereich zu tun hat.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CSU hat vor zwei Monaten ihr Grundkonzept vorgestellt. Wir setzen auf eine Lösung bei der Grundsicherung im Alter. Wir wollen einen Freibetrag für die gesetzliche Rente von bis zu 212 Euro einführen. On top gibt es einen weiteren Freibetrag für die Mütterrente. Wir wollen damit die Erziehungsleistung honorieren. Das bedeutet: Wir haben eine Konzeption. Wir setzen uns für diejenigen ein, die etwas geleistet haben. Dies soll sich auch im Leben auszahlen. Eine Plünderung der Sozialkassen für eine Grundrente mit der Gießkanne wird es mit uns jedenfalls nicht geben.
Herzliches Dankeschön.
({6})
Vielen Dank, Stephan Stracke. – Nächster Redner: Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bei allem Respekt: Früher konnte man der SPD ja noch vorwerfen, dass sie lediglich bis zur nächsten Wahl denkt. Jetzt schaffen Sie es nicht mal mehr ins nächste Jahr. 124 Milliarden Euro fehlen Bund, Ländern und Kommunen bis 2023 – das ergab die neueste Steuerschätzung –, dem Bundeshaushalt übrigens 4 Milliarden Euro im Jahr.
({0})
Das ist auch das Ergebnis der schwächelnden Konjunktur. In diesen Beträgen sind noch nicht einmal die versteckten Milliarden drin, die die 1,5 Millionen illegaler Einwanderer uns tatsächlich kosten.
({1})
Da sind noch nicht die über 40 Milliarden Euro jährlich einkalkuliert, die Sie an die Subventionsschleuder Europäische Union abgeben wollen, und diese Mittel wollen Sie ja erhöhen. Und da sind die Haftungszusagen für die Euro-Pleiteländer auch noch nicht drin.
Just in dieser Situation kommt Bundesminister Heil und fordert eine Respektrente – man könnte sie auch „Klientelrente“ nennen, weil sie nur eine gewisse Klientel bevorzugt – für circa 5 Milliarden Euro. Das ist die Hälfte dessen, was wir für unsere Familien ausgeben. Der halbe Familienetat für eine Respektrente, die respektlos den hart arbeitenden Arbeitnehmern gegenüber ist, respektlos der jungen Generation gegenüber und respektlos auch allen Rentnern gegenüber; denn es ist natürlich klar, dass das letztendlich die Rentenkasse belastet. Das bedeutet wieder: Entweder müssen die Beiträge und die Steuern dann entsprechend steigen, oder die Rentenauszahlungen für alle müssen entsprechend sinken. Und das ist ungerecht.
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Es ist nun wirklich ein ziemlich mieser Taschenspielertrick, wenn vorher verkündet wird: „Wir machen das über Steuern“ usw. und dann darüber sinniert wird, dass man ja die Nachhaltigkeitsrücklage plündern könnte, dass man das über die Krankenversicherung, über die Arbeitslosenversicherung querfinanzieren könnte.
({3})
Am Ende schaut der Rentner in einen leeren Geldbeutel, und der Arbeitnehmer zahlt übermorgen deutlich drauf. Das sagen Sie nämlich nicht. Wo ist da der Respekt?
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Übrigens: Wie lange soll denn das überhaupt funktionieren? Wir gehen heute von circa 5 Milliarden Euro aus. Aber spätestens ab 2025 wird das Rentenniveau weiter sinken, oder die Beiträge werden deutlich steigen müssen, weil die Babyboomer in Rente gehen und kaum Kinder oder Erwerbstätige da sind, um das alles zu finanzieren.
({5})
Wo sind wir dann? Sind wir dann bei 20, 30, 50, 100 Milliarden Euro? Ich habe noch keine belastbare Rechnung aus dem Bundesarbeitsministerium gesehen.
({6})
Das bedeutet: Sie denken nicht an die Zukunft.
({7})
Sie denken auch nicht daran, wie die heute 20- oder 30-Jährigen in diesem Land werden leben müssen.
({8})
Wir jungen Leute erben ein Land voller Staatsschulden und Versprechen für andere
({9})
mit der zweithöchsten Steuer- und Abgabenlast der OECD, die noch weiter steigen wird,
({10})
und den zweitniedrigsten Privatvermögen der Europäischen Union, dazu noch ein Land mit erheblichen Migrations- und Verteilungsproblemen. Wo ist denn da Ihr Respekt, bitte schön?
({11})
Und wo war Ihr Respekt, liebe Abgeordnete von Rot und Grün, als Sie die Agenda 2010 durchgepeitscht haben, den Niedriglohnsektor geschaffen haben, Hartz IV eingeführt haben und alle Leute, die was zu verlieren hatten, in die miesesten Jobs gezwungen haben nach dem Motto „Mach das jetzt, oder du verlierst dein Haus“? Das sind doch die Armutsrentner von heute. Oder wie war das mit den Riester/Rürup-Reformen, mit denen Sie das Rentenniveau bewusst abgesenkt haben und die Leute in überteuerte Riester-Verträge gedrängt haben? 10 Prozent Verwaltungskosten, wo 2 Prozent marktüblich sind – wo gibt es denn das? Am Ende steht heute eine durchschnittliche Rentenauszahlung von 900 Euro. Können Sie überhaupt noch in den Spiegel schauen?
({12})
Werte Abgeordnete der Union und der SPD, wir brauchen keine Illusionen von Respekt, die morgen zerplatzen. Wir erwarten von Ihnen Lösungen, die Jahrzehnte tragen. Sie sind verantwortlich für die Fehlentwicklungen in der Familienpolitik und dafür, dass die Leute kein Vermögen aufbauen konnten, für die Probleme von heute und morgen. Da bitte ich Sie: Sagen Sie doch mal, wie Sie die Rente sichern wollen, wenn wir 2060 doppelt so viele Alte pro Erwerbstätigem versorgen müssen wie heute. Sagen Sie uns, wie das gehen soll, ohne dass wir irgendwann mal zwei Drittel unseres Einkommens – wir sind ja schon bei der Hälfte – an Steuern und Abgaben zahlen.
({13})
Ich sage Ihnen was: Das wird keiner machen. Die gut Qualifizierten werden ihr Heil woanders suchen, und die Zuwanderer werden irgendwann sagen: Was kümmern uns die alten weißen Männer?
Meine Damen und Herren, das ehrlichste Mittel gegen Altersarmut wäre der sofortige Ausstieg aus dem Euro.
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Die Leute sind nämlich arm, weil der Euro nichts mehr wert ist. Seit Jahren macht der Euro Sparer arm, weil sie keine Zinsen bekommen. Seit Jahren druckt die EZB Geld und treibt die Preise für Sachwerte und Immobilien nach oben, und seit Jahren verliert der Euro an Wert.
({15})
Von weniger Wert teurer leben und wohnen müssen – das ist das Grundproblem des Euro. Eine Rückkehr zur guten alten D-Mark wäre die beste Politik gegen Altersarmut.
({16})
Respekt – das ist mein letzter Satz – bedeutet, dass die Menschen von ihrer Arbeit und ihrem Ersparten gut leben können. Diese Regierung und diese EU bewirken das Gegenteil davon.
Herzlichen Dank.
({17})
Danke, Norbert Kleinwächter. – Nächster Redner: Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kleinwächter, ich hatte zwischendurch ein bisschen die Befürchtung, dass Sie vergessen, zu atmen.
({0})
Sie haben es ja geschafft. Ich habe hier im Deutschen Bundestag selten in fünf Minuten so viel Unsinn und Hetze in einem Redebeitrag gehört wie in Ihrem.
({1})
Es lohnt sich fast gar nicht, auf die Inhalte Ihres Vortrages einzugehen.
({2})
Sie sind ja aus Brandenburg. Ich rate Ihnen: Reden Sie mal mit den Menschen vor Ort. Reden Sie mit den Menschen in Brandenburg, in den ostdeutschen Bundesländern. Die Grundrente, wie wir sie vorschlagen, würde allein in den ostdeutschen Bundesländern 750 000 Menschen betreffen, 75 Prozent davon übrigens Frauen. Das sind Menschen, die vielleicht nicht so viel Glück in ihrer Erwerbsbiografie hatten wie wir, die wir hier im Parlament sitzen. Das sind Menschen, die nicht so viel Glück hatten. Um die wollen wir uns kümmern.
({3})
Dafür ist die Grundrente da. Sie reden hier von Klientelpolitik. Sie sollten sich dafür schämen.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin der FDP dankbar, dass wir diese Aktuelle Stunde haben. Das bietet auch die Möglichkeit, mal sehr deutlich über Unterschiede in der Politik zu reden. Das, was vorhin durch Herrn Kober vorgetragen wurde, zeigt die Philosophie der FDP: Sie wollen einen Staat, der Almosen verteilt an Menschen, die bedürftig sind. Diese Koalition aus CDU/CSU und SPD kämpft seit einem Jahr dafür – das setzt sie sehr konkret um –, in den sozialen Zusammenhalt in diesem Land zu investieren und das Land im sozialen Bereich voranzubringen. Das haben wir geschafft mit einer Rentenstabilisierung, die wir im letzten Jahr auf den Weg gebracht haben, mit dem Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, dadurch, dass wir Milliarden in Bildung investiert haben, dadurch, dass wir Familien stärken, dass wir Perspektiven für Langzeitarbeitslose auf den Weg gebracht haben, und zuletzt erst im Koalitionsausschuss durch die Verabredung, Paketzusteller in diesem Land besserzustellen.
({5})
Das zeigt: Wir arbeiten am Zusammenhalt in diesem Land. Das ist der richtige Weg, um Menschen mitzunehmen.
Ich sage Ihnen: Die Grundrente wird das Nächste sein, was diese Koalition auf den Weg bringt. Das ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Es geht darum, die Leistung von Menschen anzuerkennen. Wer 35 Jahre hart gearbeitet hat, wer Kinder großgezogen hat, wer etwas für die Gesellschaft geleistet hat, der braucht ein klares Bekenntnis, dass dieser Staat die Menschen nicht im Stich lässt, dass er sich kümmert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Die Grundrente ist ein Bekenntnis des Staates an die Tüchtigen und Fleißigen, an die, die Verantwortung übernehmen, dass wir sie im Alter, selbst wenn sie nicht so viel haben, nicht alleinlassen, dass wir uns um sie kümmern. Ich wi ll auch deutlich sagen: Lebensleistung kennt keine Bedürftigkeitsprüfung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Dann nehme ich aber wahr – das zeigt auch diese Diskussion –, dass Kollegen von der FDP mit Schnappatmung unterwegs sind, weil es Zeitungsartikel mit entsprechenden Überschriften gibt. Wir führen hier eine Diskussion über einen Gesetzentwurf, den niemand im Raum kennt, weil er noch nicht vorliegt.
({8})
Das ist doch Wahlkampf, was Sie hier machen.
({9})
Sie versuchen, Ihre soziale Kälte ins Parlament zu tragen. Das ist mit der SPD nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Ich will einmal auf die Argumente gegen die Grundrente eingehen, die man von Ihrer Seite immer wieder hört. Das erste Argument ist die mittlerweile berühmte Zahnarztgattin.
({11})
Liebe Kollegen von der FDP, seit wann definieren wir Frauen danach, wen sie geheiratet haben?
({12})
Es geht doch um die Leistung, die man im Leben erbracht hat. Ich habe auf Ihrem Parteitag schon gesehen, dass Sie mit Gleichstellungspolitik Probleme haben. Aber überlegen Sie bitte einmal, was das für ein antiquiertes Frauen- und Familienbild ist, das Sie in die Rentendiskussion tragen.
({13})
Das zweite Argument, das gegen die Grundrente vorgebracht wird, ist von Ihrem Parteivorsitzenden, ein wirklich bemerkenswertes Argument. Christian Lindner stellte sich hin und sagte, die Grundrente sei nicht gerecht. Was ist denn mit der Rentnerin, die nicht viel Rente bekommt, aber dann 5 Millionen Euro erbt? – Ich hatte schon immer die Vermutung, dass Herr Lindner und ich uns in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen bewegen.
({14})
Was ist das denn für eine Lebensrealität, die Sie in die politische Debatte einbringen?
({15})
Das ist doch nicht das, was wir an den Haustüren, auf den Marktplätzen, an den Infoständen, in den Bürgersprechstunden erleben, liebe FDP. Wie abgehoben sind Sie eigentlich, um so zu argumentieren?
({16})
Das letzte Argument, das man von Ihnen hört, ist, dass für die Grundrente kein Geld da ist.
({17})
Es ist kein Geld da für die Anerkennung der Lebensleistung von Menschen, die etwas geleistet haben.
({18})
Das sagt dieselbe FDP, die will, dass wir den Superreichen und Spitzenverdienern in diesem Land den Solidaritätszuschlag streichen.
({19})
Liebe FDP, wenn Sie die eine Gruppe gegen die andere Gruppe ausspielen wollen, dann – das sage ich Ihnen – haben Sie die SPD ganz klar gegen sich. Wir wollen etwas für die Rentner tun und nicht für die Spitzenverdiener in diesem Land. Da sind wir entschlossen.
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Das werden wir so durchsetzen.
Vielen Dank.
({21})
Vielen Dank, Lars Klingbeil. – Bevor ich die Aktuelle Stunde fortsetze, gebe ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der zahlreichen Wahlen bekannt.
Wir beginnen mit der Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten des Deutschen Bundestages, zweiter Wahlgang: Mitgliederzahl 709, abgegebene Stimmzettel 631, ungültige Stimmzettel 1. Mit Ja haben gestimmt 205 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 399 Abgeordnete, enthalten haben sich 26. Der Abgeordnete Gerold Otten hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen damit nicht erreicht. Er ist nicht zum Stellvertreter des Präsidenten gewählt worden.
({0})
Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmzettel 630, ungültige Stimmzettel 3. Mit Ja haben gestimmt 181 Abgeordnete,
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mit Nein haben gestimmt 418 Abgeordnete, Enthaltungen 28. Die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen damit nicht erreicht. Sie ist als Mitglied des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung nicht gewählt.
Ergebnis der Wahl von zwei Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes: abgegebene Stimmzettel 626. Auf den Abgeordneten Marcus Bühl entfielen 189 Jastimmen, 397 Neinstimmen, 37 Enthaltungen und 3 ungültige Stimmen. Auf den Abgeordneten Wolfgang Wiehle entfielen 201 Jastimmen, 387 Neinstimmen, 31 Enthaltungen und 7 ungültige Stimmen. Die Abgeordneten Marcus Bühl und Wolfgang Wiehle haben damit die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Ergebnis über die Wahl eines ordentlichen Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmzettel 627, ungültige Stimmzettel 5. Mit Ja haben gestimmt 139 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 456 Abgeordnete, Enthaltungen 27. Der Abgeordnete Albrecht Glaser hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Er ist als Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. Protokoll über die Wahl eines stellvertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmzettel 627, ungültige Stimmzettel keine. Mit Ja haben gestimmt 197 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 395 Abgeordnete, Enthaltungen 35. Der Abgeordnete Volker Münz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Er ist als stellvertretendes Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes damit nicht gewählt.
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Dann rufe ich als nächsten Redner in der Aktuellen Stunde Dr. Andrew Ullmann für die FDP-Fraktion auf.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss gestehen, dass ich heute bei meiner Rede nicht ohne Kalauer auskommen kann, auch wenn das Thema ernst ist. Ernst ist es vor allem für die jüngeren Generationen, also für meine Kinder, und für jene Generation, für die die Rente noch in weiter Ferne ist. Je länger Sie regieren, desto weiter wird diese Ferne.
Hubertus Heil ist als Heilsbringer angetreten. Seine Heilsversprechen sind blumig, die Aussichten wolkig, und am Ende steht uns ein Sturm bevor. Diesen Sturm hat der Arbeitsminister schon abbekommen. Die Koalitionspartner brodeln und wir erst recht.
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– Richtig.
Meine Damen und Herren, ich habe Herrn Heil vorgestern in den „Tagesthemen“ gesehen. Dort hat er gesagt, dass der Gesetzentwurf solide finanziert sein wird. Dort hat er auch gesagt, dass Herr Söder von seinem Gesetzentwurf sehr überrascht sein wird. Jetzt bin ich nicht sicher, was das hauptsächliche Ziel ist: Söder überraschen oder die Grundrente solide finanzieren? Vielleicht will ihm beides gelingen, aber da habe ich ernsthafte Zweifel.
Was bisher an die Öffentlichkeit gedrungen ist, ist schlichter Blödsinn. Der Minister darf sich nicht wundern, wenn die Presse ihn zum Houdini des Kabinetts macht. Ich zitiere zum Beispiel aus dem „Handelsblatt“ oder der „Süddeutschen Zeitung“. Da ist die Rede von erstaunlichen Überlegungen , Buchungstricks und subtilem Plündern.
Der Koalitionspartner ist ähnlich begeistert wie wir. Jens Spahn muss ich ausnahmsweise zustimmen, wenn er die Vorschläge als „ungerecht und unsolidarisch“ bezeichnet. Das verwundert fraglos kaum; denn ihm halst Minister Heil mit seinem Finanzierungsvorschlag die Probleme auf. Das, was wir gehört haben, geht folgendermaßen: Der Minister will die Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner um 0,6 Prozentpunkte kürzen. Die Rentenversicherung müsste demnach den Krankenkassen etwa 400 Millionen Euro weniger überweisen. Das Geld soll dann in die Grundrente fließen.
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Das wäre eine Ungeheuerlichkeit, meine Damen und Herren.
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– Haben sie nicht.
Der Arbeitsminister muss sich ehrlich machen. Die Finanzierung seiner Grundrente ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und solche Aufgaben müssen auch von der gesamten Gesellschaft finanziert werden, das heißt über Steuern. Aber Olaf Scholz hat da leider nichts Positives vorzuweisen. Ihm fehlen jetzt schon 10,5 Milliarden Euro in der Finanzplanung bis 2023. Und dann kommt noch der Arbeitsminister mit einem Projekt, das in höchstem Maße ungerecht ist. Ungerecht ist es, weil es aus den falschen Töpfen finanziert werden soll. Ungerecht ist es, weil nur die Beitragszahler belangt werden sollen. Ungerecht ist es, weil die Rentner ein überraschendes Geschenk von ihren Kindern und Enkeln bekommen.
({3})
Aber die Leidtragenden, meine Damen und Herren, sind die Berufstätigen; denn ihre Kassenbeiträge werden natürlich steigen.
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Wenn ich jetzt noch einmal an Jens Spahn denke, der ja die Pflegeversicherungsbeiträge immer höher treiben will, dann bin ich bei der nächsten Ungerechtigkeit, meine Damen und Herren. Ungerecht ist nämlich, wenn die Sozialversicherungsbeiträge immer höher werden. Dann haben die Bürgerinnen und Bürger immer weniger in der Tasche.
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Dann wird auch für die Arbeitgeber die Arbeitsstunde teurer.
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All das kommt dann mit einem konjunkturellen Abschwung zusammen, den Sie als Regierung zu verantworten haben. Das heißt dann auch schlicht: Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Das führt dazu, dass weniger Beiträge in die Rentenversicherung und Krankenversicherung fließen.
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Das wiederum würde zur Notwendigkeit höherer Sozialversicherungsbeitragssätze für Arbeitnehmer führen – und immer so weiter. Das ist ein Teufelskreis, in den Sie eintreten wollen. Aber nicht mit uns, meine Damen und Herren!
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Das Allerschlimmste an der ganzen Sache wäre aber, dass Sie mit einer solchen Politik das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig beschädigen. Mit solchen Hütchenspielertricks sorgt Minister Heil für Verdruss auf allen Seiten. Er treibt die Bürgerinnen und Bürger in die Arme der Populisten von rechts und von links.
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Und wofür? Um die SPD zu retten?
Warum sperren Sie als Sozialdemokraten sich so immens gegen eine Bedürftigkeitsprüfung? Warum sperren Sie sich jetzt gegen vernünftige Vorschläge, wie es sie von uns zur Basisrente gibt? Wir zeigen Ihnen doch Wege auf, wie man die Rente enkelfit machen kann.
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Denn wir wollen wirklich diejenigen belohnen, die ihr Leben lang etwas geleistet haben.
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Ich schließe mit einem Zitat von Henrike Roßbach aus der „Süddeutschen Zeitung“ zu Minister Heils Finanzierungsvorschlag:
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Für Magie allerdings hat es erkennbar nicht gereicht; bloß für ein bisschen Simsalabim.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Andrew Ullmann. – Nächste Rednerin: Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mittel der Sozialkassen nicht zweckentfremden“ – als gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion teile ich diesen Ansatz.
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Aber dass wir uns nicht falsch verstehen: Ja, wer lange gearbeitet hat, wer Kinder und Angehörige betreut hat, der soll im Alter nicht von Grundsicherung leben müssen. Und ja, wir haben der Einführung einer Grundrente im Koalitionsvertrag zugestimmt, und zu dieser Zusage stehen wir selbstverständlich. Aber wir haben im Koalitionsvertrag auch, Herr Klingbeil, festgelegt, dass die „Voraussetzung für den Bezug der Grundrente … eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung“ ist.
({1})
Das heißt, eine neue Leistung soll, steuerlich finanziert, schlicht daran geknüpft werden, ob ein Empfänger sie auch wirklich benötigt.
Liebe Frau Griese, ich hätte mich an dieser Stelle gern an Herrn Heil gewendet; aber Sie geben es sicher weiter. Wenn aus seiner Sicht nun anstelle der ursprünglich ins Auge gefassten rund 150 000 Menschen rund 3 bis 4 Millionen Anspruch auf die Grundrente erhalten sollen, aber gleichzeitig die Steuereinnahmen sinken, dann wäre doch jetzt der geeignete Zeitpunkt, das Modell schlicht zu überdenken.
({2})
Sie wollen nun offenbar andere Wege gehen. Wegen dieser nun öffentlich gewordenen Überlegungen zur Finanzierung melde ich mich hier als Gesundheitspolitikerin zu Wort, und zwar rechtzeitig. Um die Rentenversicherung zu entlasten, schlagen Sie vor, den Beitragssatz der Krankenversicherung der Rentner von derzeit 14,6 auf 14 Prozent zu senken.
({3})
Das wäre ein Taschenspielertrick, der dazu führen würde, dass der gesetzlichen Krankenversicherung jährlich 1,6 Milliarden Euro fehlen.
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Dieses Loch in der GKV müsste natürlich gestopft werden. Das heißt: entweder Leistungskürzungen oder Refinanzierung durch Beitragssatzerhöhungen, und zwar für alle Versicherten.
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Diese Beitragssatzerhöhung kann man auch sehr konkret beziffern. Es sind nämlich 0,1 bis 0,2 Beitragssatzpunkte für alle – für die Pflegekraft, für die Erzieherin, für den Paketboten, auch für die Friseurin, Frau Mast. Alle diese Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen müssten höhere Kosten für ihre Krankenversicherung schultern, und das auch zugunsten von künftigen Beziehern einer Grundrente, die sie womöglich gar nicht brauchen, weil sie zum Beispiel tatsächlich über Mieteinnahmen verfügen oder weil der Partner eine hohe Rente hat. Aus meiner Sicht würde dies das Prinzip der solidarischen Finanzierung der GKV schlicht auf den Kopf stellen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Begründung, Rentner bezögen ja kein Krankengeld, also wäre ein geringerer Beitrag für Rentner angemessen, kann nicht ziehen. Heute finanziert sich die Krankenversicherung der Rentner nur noch zu 41 Prozent aus eigenen Beiträgen, und das in Zeiten, in denen die Zahl der Rentner infolge des demografischen Wandels deutlich steigt. Die Jungen zahlen also heute schon einen deutlich höheren Solidarbeitrag für die Älteren als in den vergangenen Jahren. Ich meine, Generationengerechtigkeit sieht anders aus.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ihr könnt das doch besser.
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Gemeinsam haben wir doch tatsächlich im vergangenen Jahr erreicht, dass die Zusatzbeiträge wieder paritätisch finanziert werden.
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Gemeinsam haben wir die Mindestbeitragsbemessungsgrundlage für die geringer Verdienenden, beispielsweise für Tagesmütter, erreicht. Und das soll jetzt alles aufs Spiel gesetzt werden für dieses rechnerische und kalkulatorische Abenteuer?
Ich meine, das Wahlergebnis 2017 muss doch ein Weckruf gewesen sein.
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Wir müssen doch die konkreten Alltagsprobleme lösen, aber nicht mit Taschenspielertricks und einer Politik, die das Vertrauen in den Bestand und in die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme zerstört.
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Wer bei einem solchen Trick erwischt wird, und das quasi, während er noch über Verlässlichkeit, Respekt und Gerechtigkeit spricht, der beschädigt meines Erachtens genau das Vertrauen, das er aufzubauen vorgibt.
Nochmals – ich komme zum Schluss –: Wir stehen zur Grundrente für diejenigen, bei denen ein Bedarf vorhanden ist, seriös finanziert aus Steuermitteln, wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Alles andere ist mit uns nicht zu machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Ralf Kapschack für die Fraktion der SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Ich habe mich zunächst geärgert, dass wir eine Aktuelle Stunde machen, die auf Mutmaßungen und Spekulationen beruht. Mittlerweile bin ich ganz froh. Ich bin der FDP sogar dankbar dafür,
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dass wir diese Aktuelle Stunde machen; denn es ist noch mal sehr deutlich geworden, dass es sehr unterschiedliche Ansätze gibt, wie wir Menschen im Alter absichern sollten.
({1})
Ein Teil des Hauses will, dass Menschen, die lange gearbeitet und wenig verdient haben, in der Grundsicherung bleiben. Das wollen wir nicht.
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Ein Teil des Hauses ist bereit, Milliardenbeträge einzusetzen, um Besserverdienende und Unternehmen zu entlasten. Wir wollen das nicht.
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Wir wollen das Geld lieber investieren, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in diesem Land zu stärken.
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Das ist eben der Unterschied.
Die SPD will eine solide finanzierte Grundrente und kein Almosen. Im Übrigen, Herr Kollege von der FDP, stärken wir damit auch das Ansehen der gesetzlichen Rente.
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Wer lange gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat, soll mehr haben als die Grundsicherung – das ist der entscheidende Unterschied. Wir wollen, dass Menschen im Alter nicht zum Amt gehen müssen, dass sie sich nicht wie Bettler fühlen, wie man im „Spiegel“ vor einiger Zeit sehr eindrucksvoll nachlesen konnte. Wir wollen keine Bedürftigkeitsprüfung wie in der Grundsicherung. FDP und Teile der Union halten das für völlig falsch.
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Deshalb kommen Ihnen die Spekulation und die Presseberichterstattung über vermeintliche Überlegungen im Sozialministerium ganz gelegen. Sie kritisieren auf der Grundlage von Spekulationen und Mutmaßungen, aber eigentlich wollen Sie das ganze Projekt nicht.
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Dabei bemängelt die OECD seit langem, dass das deutsche Rentensystem eine viel zu geringe Absicherung für Geringverdiener bietet. Geringverdiener sind deutlich stärker von Altersarmut bedroht und leben im Schnitt kürzer als Normal- und Besserverdienende. Eine Höherwertung von niedrigen Einkommen und Rentenansprüchen ist deshalb nicht nur sinnvoll, sondern notwendig.
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Eine kurze Erinnerung für die Kollegen von der Union: Die Grundrente orientiert sich an der Rente nach Mindestentgeltpunkten, die ist unter Helmut Kohl eingeführt worden.
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Damals gab es keine Bedürftigkeitsprüfung, aber es gab die gleiche Idee und den gleichen Grundgedanken wie heute, dass nämlich niedrige Löhne nicht automatisch zu mickrigen Renten führen sollen. Wenn auf der einen Seite gefordert wird, den Soli abzuschaffen und damit auf 10 Milliarden Euro zu verzichten, dann scheint ja Geld da zu sein. Wir setzen allerdings andere Prioritäten als manche andere in diesem Haus.
Das Rentensystem ist jetzt schon eines, das sozialen Ausgleich kennt. Das ist wirklich nichts Neues. Ob es um die Berücksichtigung von Erziehungszeiten, Zeiten der Arbeitslosigkeit oder ob es um Invalidität geht: Für solche Risiken wurden oder werden Rentenleistungen gezahlt, ohne dass es zuvor entsprechende individuelle Beitragszahlungen der Betroffenen gab. Das stellt niemand ernsthaft infrage, und das ist auch gut so. Bedürftigkeitsprüfung sei notwendig, nur so würden diejenigen erreicht – das war das zentrale Argument. Aber das ist eben der entscheidende Unterschied zwischen einer Rente und einer Fürsorgeleistung: Die Rente kennt keine Bedürftigkeitsprüfung, und sie kennt auch, um es deutlich zu sagen, keine Zahlungen nach Nationalität.
({10})
Vielmehr ergibt sich Rente aus erworbenen Ansprüchen. Ich sage selbstkritisch – auch wenn ich nicht daran beteiligt bin –: Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag ist in diesem Zusammenhang nicht besonders glücklich,
({11})
weil Rentenversicherung und Fürsorge miteinander verquickt werden. Das funktioniert nicht.
Der Kerngedanke der Grundrente ist: Wer jahrzehntelang erwerbstätig war und immer Beiträge gezahlt hat, soll im Alter nicht in Armut landen; denn sonst wären seine Pflichtbeiträge in das Rentensystem praktisch umsonst gewesen. Vorgeschlagene Freibetragsregelungen mildern das Problem, lösen es aber nicht. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Aspekt eingehen, der in der Debatte genannt worden ist: Dass es Freibeträge geben soll, darin sind wir uns einig. Es wird in diesem Zusammenhang aber nicht zwischen Teilzeit- und Vollzeittätigkeit unterschieden werden können.
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Deutschland ist eines der wenigen Länder ohne Mindestsicherungselement im Rentensystem. Die Grundrente packt dieses Problem endlich an. Der Arbeits- und Sozialminister wird sehr zeitnah ein Konzept mit soliden Finanzierungsvorschlägen vorlegen.
Zum Schluss noch ein Tipp: Wer der Meinung ist, es sei nicht genügend Geld vorhanden, um die dringend notwendigen Projekte wie die Grundrente zu finanzieren, der hat am 26. Mai die Gelegenheit, daran etwas zu ändern.
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Es geht nämlich auch darum, dass multinationale Konzerne endlich dort Steuern zahlen, wo sie Gewinne machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Kai Whittaker für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Wenn man diese rund einstündige Debatte zusammenfassen will, dann kann man sagen: Das war großes Wahlkampfgetöse insbesondere von FDP und SPD im Hinblick auf die Europawahl. Wie Kollege Weiß ganz am Anfang richtigerweise gesagt hat: Es war eher eine Debatte mit Glaskugelcharakter. Genauso gut hätten wir heute darüber debattieren können, ob wir nächstes Jahr den Linksverkehr auf deutschen Straßen einführen. Die Antwort wäre dieselbe gewesen:
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relativ unwahrscheinlich, durchaus möglich, aber nicht sehr clever.
({1})
Die gleiche Antwort kann man auf die Fragestellung in dieser Aktuellen Stunde geben.
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Liebe Kollegen von der FDP, man kann eine Aktuelle Stunde aufsetzen, um auf Schwächen hinzuweisen. Ich habe überlegt: Was habt ihr als FDP eigentlich für rentenpolitische Vorschläge? Ich habe auf eurer Homepage nachgeschaut – ihr seid ja eine digitale Partei – und habe dort 13 Vorschläge gefunden. Davon waren drei in der Summe doppelt, die solltet ihr von eurer Homepage nehmen.
({3})
Dann bleiben noch zehn übrig, aber nur ein einziger Vorschlag befasst sich mit der gesetzlichen Rentenversicherung – die übrigen Vorschläge befassen sich mit privater und betrieblicher Altersvorsorge –, und dieser eine Vorschlag besagt, dass man schon ab 60 in Rente gehen können soll.
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Das ist das Einzige, was euch bisher eingefallen ist.
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Ihr drückt euch in der generellen Rentendebatte um die Frage, ob wir die Beiträge erhöhen sollen oder nicht, ob das Rentenniveau abgesenkt werden soll oder nicht oder ob das Renteneintrittsalter erhöht werden soll oder nicht. Um die Beantwortung all dieser schwierigen Fragen, um die wir ringen, drückt ihr euch.
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Deshalb halte ich die Aufsetzung dieser Aktuelle Stunde für etwas scheinheilig.
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Die zweite Botschaft muss ich an die SPD richten. Erstens. Lieber Kollege Klingbeil, wir haben im Koalitionsvertrag die Einführung der Grundrente vereinbart – das ist richtig –, und auch, dass die Grundrente nach 35 Beitragsjahren gelten soll. Aber auch die Bedürftigkeitsprüfung wurde vereinbart. Nun kann man behaupten: „Die Bedürftigkeitsprüfung in der Rente gibt es nicht“, aber das ist falsch. Die gibt es durchaus. Bei der Witwenrente führen wir eine Bedürftigkeitsprüfung durch.
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Zweitens. Es waren lange Nächte, die wir miteinander verhandelt haben, aber ich gehe schon davon aus, dass ihr als SPD ganz bei Trost wart und sehr genau gewusst habt, als ihr den Koalitionsvertrag unterschrieben habt. Jetzt zu behaupten, die Rente kenne keine Bedürftigkeitsprüfung, das halte ich für arg schwach hinterhergetröpfelt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Frau Kollegin Mast, Markus Kurth hat es richtigerweise gesagt: Es geht hier um die Finanzierung, und Finanzierung hat etwas mit Mathematik zu tun.
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Ich möchte ein Beispiel bringen, das nichts mit einer Zahnarztgattin zu tun hat und auch nicht damit, ob sie verheiratet ist.
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Nehmen wir das Beispiel von zwei Pflegerinnen. Die eine arbeitet 35 Jahre und verdient 40 Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens in Deutschland. Das sind im Jahr 15 400 Euro. Sie bekommt nach 35 Jahren 14 Rentenpunkte und damit 448 Euro Rente. Ihre Kollegin – vielleicht fällt der Tarifvertrag höher aus, vielleicht hat sie einen anderen Arbeitgeber oder sie arbeitet ein paar Stunden mehr – arbeitet in Summe 33 Jahre, verdient aber ein bisschen mehr, nämlich 42,5 Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens. Das sind 16 362 Euro im Jahr. Was bedeutet das? Das bedeutet: Die erste zahlt in ihrem ganzen Leben 93 200 Euro ein, die andere zahlt ein bisschen mehr ein, etwa 700 Euro, bekommt aber nach eurem Modell keine Grundrente, weil sie nur 33 Jahre gearbeitet hat,
({12})
während die andere, die weniger eingezahlt hat, die doppelte Rente bekommt. Was das mit Respekt und mit Gleichheit zu tun hat, das verstehe, wer will. Ich halte das für grob verfassungswidrig. Bei der Rente geht es um den Gleichheitsgrundsatz: Wer mehr einzahlt, der muss auch mehr rausbekommen. Das ist mit uns als Union nicht verhandelbar.
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Liebe SPD, ihr könnt hier herzlich gerne Wahlkampf machen. Ihr solltet euch aber daran erinnern, dass wir im Koalitionsvertrag glasklar beschrieben haben, wie die Grundrente aussehen soll. Ein entsprechender Entwurf ist schnell geschrieben. Frau Kollegin Griese, geben Sie als Staatssekretärin das bitte dem Minister mit. Wir könnten das nächste Woche politisch vereinbaren und in der nächsten Sitzungswoche beschließen. Das wäre überhaupt kein Problem; denn wir brauchen dieses Gesetz für diejenigen, die bedürftig sind.
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Die 100 000 Menschen, die von der Grundrente profitieren würden, brauchen diese Rente und nicht dieses Wahlkampfgeplänkel im Deutschen Bundestag. Dafür setzen wir uns als Union ein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine gute Bildung für alle jungen Menschen ist in einem Hochtechnologieland wie Deutschland existenziell. Wir werden in den nächsten Jahren nur weiterhin erfolgreich sein , wenn wir den Weg der konsequenten Modernisierung Deutschlands in Bezug auf Digitalisierung, Globalisierung und hochwertige Bildung für alle weitergehen.
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Es ist deshalb die vornehmste Aufgabe des Staates, dort, wo junge Menschen Unterstützung brauchen, Unterstützung zu geben. Das tun wir mit unserer Entscheidung, die BAföG-Novelle heute zu verabschieden. Damit erneuern wir das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, jedem jungen Menschen gute Startchancen zu geben. Darum erhöhen wir das BAföG jetzt so deutlich. Darum sorgen wir dafür, dass in Zukunft wieder viele junge Menschen mehr vom BAföG profitieren. Darum investieren wir die stolze Summe von 1,3 Milliarden Euro.
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Jeder junge Mensch soll seine Talente entfalten können und den Weg gehen, der am besten zu ihm passt, unabhängig von der Größe des Geldbeutels der Eltern. Damit stellen wir Bildungschancen für jeden sicher.
Ich will heute gar nicht alle einzelnen Punkte unserer Novelle nennen. Aber ein Punkt ist mir wichtig: Mit zukünftig 861 Euro haben wir den Förderhöchstsatz so gewählt, wie es die Preissteigerungen der letzten Jahre erforderten. Das zeigt auch die überproportionale Anhebung des Wohnzuschlags um 30 Prozent. Wir haben nämlich gerade in den Bereichen, in denen die Kosten überproportional gestiegen sind, auch überproportionale Anhebungen vorgenommen.
Wenn ich jetzt immer noch höre: „Das reicht nicht“, dann kann ich nur sagen: Das BAföG ist das falsche Instrument, um dem Wohnungsmangel in den Großstädten zu begegnen. Was hilft, ist mehr Wohnraum für Studierende, hier sind die Länder in der Pflicht, und da gibt es in der Tat Nachholbedarf.
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Wer in Deutschland ein Studium aufnehmen will und die Voraussetzungen erfüllt, kann das tun, den unterstützen wir, und zwar langfristig. Schon heute ist das Schüler-BAföG ein Vollzuschuss. Beim Studierenden-BAföG übernimmt der Staat die Hälfte. Für die zweite Hälfte der Unterstützung gilt: Jeder Absolvent muss maximal 77 Monatsraten zurückzahlen, und zwar von jeweils höchstens 130 Euro, manchmal auch weniger. Wer das trotz redlichen Bemühens nicht kann, der wird nach 20 Jahren endgültig befreit. Für uns gilt stets das Leistungsfähigkeitsprinzip. Ich will, dass jeder zum gesellschaftlichen Gemeinwohl das beiträgt, was er kann. Wer nach einer Unterstützung im Studium gutes Geld verdient, der kann sich auch mit kleinen Beiträgen erkenntlich zeigen. Wer das nicht kann, weil er nicht so viel verdient, der wird dann auch weiterhin die Solidarität unserer Gesellschaft spüren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass das Parlament bei der BAföG-Reform so engagiert mitgearbeitet hat. Familien stärken, das ist uns allen wichtig. Deswegen begrüße ich die zusätzlichen Vorschläge, die die Koalitionsfraktionen im Laufe des parlamentarischen Verfahrens gemacht haben; denn sich um Kinder oder auch Eltern zu kümmern, muss in jeder Lebenslage selbstverständlich möglich sein. Seinen Weg zu gehen und trotzdem familiäre Verantwortung zu übernehmen, muss in unserer Gesellschaft breiten Rückhalt finden.
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Dem tragen wir nun mit der Verlängerung der Förderungshöchstdauer Rechnung, einerseits für die Pflege von Angehörigen, andererseits für die Erziehung von Kindern, künftig auch für Kinder bis zu 14 Jahren. Deshalb haben wir auch den Kinderbetreuungszuschlag auf 150 Euro erhöht. Das ist ein wichtiges Signal; denn Kinder gehören in die Mitte unserer Gesellschaft. Vereinbarkeit von Familie und Studium, das darf in Deutschland gerne selbstverständlich sein.
Und das gilt nicht nur für Studierende. Auch Schülerinnen und Schüler an berufsbildenden Schulen, die Kinder haben, profitieren von den neuen Regeln; denn ich meine es wirklich ernst, wenn ich sage: Berufliche und akademische Bildungswege sind gleichwertige Bildungswege.
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Jeder junge Mensch muss den Weg gehen können, der am besten zu seinen Talenten passt.
Heute schließen wir die Beratungen zum BAföG ab. Gestern haben wir die Novelle des Berufsbildungsgesetzes im Kabinett auf den Weg gebracht. Wir tun alles dafür, jeden jungen Menschen fit zu machen für einen guten Start ins Berufsleben. Gute Bildung ist und bleibt die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich entfalten können, dass sie teilhaben können. Ich freue mich über jeden, der Erfüllung in seiner Ausbildung, in seinem Studium und dann in seinem Beruf findet. Zusammen werden wir den vor uns liegenden technologischen Wandel gut bewältigen können. Dann werden wir im Wettbewerb die Nase vorn halten und gleichzeitig zeigen, was ein freies und demokratisches Land für seine Bürger und damit für Europa und die Welt leistet.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Dr. Götz Frömming für die Fraktion der AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Karliczek, Sie nehmen Milliarden in die Hand, verteilen viel Geld, und trotz allem reißt die Kritik an Ihnen nicht ab. Die Linke, die SPD, die Grünen, die FDP und die „heute-show“ – alle gemeinsam gegen Karliczek.
({0})
Welches Spiel wird hier eigentlich gespielt? Wer ist denn, meine Damen und Herren, für die Bildungspolitik in den Ländern verantwortlich?
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In den meisten Bundesländern wird die Bildungspolitik seit Jahren von Rot-Grün verantwortet. Wer hat denn erst kürzlich den Rotstift in die Hand genommen und bei Bildung und Forschung angesetzt, obwohl sie im Wahlkampf landauf, landab versprochen haben, mehr für die Bildung zu tun? Das waren die SPD und Herr Scholz. Wer hat denn, meine Damen und Herren, beim DigitalPakt und beim Pakt für die Hochschulen darauf gedrängt, dass der Bund den Ländern Milliarden auch ohne ausreichende Kontroll- und Steuerungsrechte überweist? Der Bundesrechnungshof hat das zu Recht jüngst kritisiert. War das Frau Karliczek alleine? Nein, das waren Sie alle miteinander. Und Sie alle miteinander rufen jetzt: Haltet den Dieb! – Das, meine Damen und Herren, ist mir zu billig, das ist der AfD-Fraktion zu billig.
({2})
Ähnlich ist es beim BAföG. Da beklagen Sie bürokratische Hürden. Aber als Sie selbst in Regierungsverantwortung waren und die Chance hatten, diese abzubauen, haben Sie es da getan? Nein. Das BAföG ist nach wie vor ein Bürokratiemonster, das potenzielle Antragsteller abschreckt mit dem Ergebnis, dass heute nur jeder fünfte anspruchsberechtigte Student überhaupt einen Antrag stellt. Das, meine Damen und Herren, ist ein Armutszeugnis für das BAföG.
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Wären wir nicht der Bundestag, sondern ein Unternehmen, müssten wir uns dann nicht alle miteinander fragen, warum das Produkt BAföG immer weniger nachgefragt wird? Wer den Einundzwanzigsten BAföG-Bericht aus dem Jahr 2017 einmal zur Hand nimmt oder sich bei den Studenten umhört, der stellt fest, dass es neben dem schon genannten bürokratischen Aufwand noch einen weiteren wichtigen Grund gibt, warum das BAföG zum Ladenhüter wurde: Die neue Studentengeneration will sich nicht verschulden, und sie will möglichst unabhängig sein, gerade auch, was die Finanzierung des Studiums betrifft. Ich finde, das ist auch ihr gutes Recht. Das Verwaltungsmonster BAföG nimmt darauf auch in der uns heute vorliegenden Form keine Rücksicht. Frau Karliczek, an dieser Stelle sind Sie leider zu kurz gespru ngen. Wir finden, das BAföG darf eben keine Hürde sein,
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sondern es muss ein Sprungbrett für einen erfolgreichen akademischen Abschluss des Studiums und eben auch der Berufsausbildung sein.
Wir finden auch, dass es durchaus in Ordnung ist, wenn Studenten einem Nebenjob nachgehen. Nur, der Nebenjob darf eben nicht zum Hauptjob werden. Studenten sind Lernende und keine Arbeitnehmer. An dieser Stelle sage ich: Wehret den Anfängen! Liebe FDP, da müssen wir aufpassen.
Wir sehen das BAföG weiterhin als eine Sozialleistung für all diejenigen, die von ihren Familien nicht ausreichend unterstützt werden können.
({5})
Deshalb hält die AfD-Fraktion an einem eltern- und einkommensunabhängigen BAföG fest. Wir können und dürfen es uns nicht leisten, mit dem BAföG Kinder aus wohlhabenden Familien zu finanzieren.
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Das, meine Damen und Herren, wäre auch dem Steuerzahler nur schwer vermittelbar.
Herr Frömming, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röspel?
Nein, ich möchte meine Ausführungen gerne geschlossen zu Ende führen. Vielen Dank. – Es wäre sozial ungerecht, wenn Arbeiter und Angestellte mit ihren Steuerleistungen das Leben von Millionärssöhnen finanzieren sollen.
({0})
Die Solidargemeinschaft der Steuerzahler darf nur da in Anspruch genommen werden, wo die Familie als kleinste gesellschaftliche Grundeinheit ausfällt, meine Damen und Herren.
({1})
Unser Antrag sieht vor, einen zügigen und guten Studienabschluss mit einem Teilerlass des Darlehens zu belohnen. Ferner haben wir vorgeschlagen, die Zwangskopplung von Zuschuss und Darlehen aufzulösen. Nach unserem Modell entscheidet sich der anspruchsberechtigte Student selbst, ob und in welcher Höhe er ein zinsfreies Darlehen in Anspruch nehmen möchte. Damit reagieren wir auf die Berichte vieler Studenten, die durch den Zwang zur Verschuldung davon abgehalten und abgeschreckt werden, BAföG überhaupt zu beantragen.
Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen – dieses Mal ist es wahrscheinlich zu spät –, dass in Zukunft das BAföG nicht mehr als Hürde oder Bürokratiemonster wahrgenommen wird, sondern als Sprungbrett für einen erfolgreichen akademischen Abschluss.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Karl Lauterbach.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Da wir gerade bei Bildung sind, Herr Frömming: 22 Prozent der Studenten bekommen BAföG, ungefähr 66 Prozent sind antragsberechtigt. Somit bekommt jeder Dritte, der einen Antrag stellen kann, tatsächlich BAföG. Wie viele BAföG beantragt haben, wissen wir nicht genau. Aber es muss auf jeden Fall mehr als ein Fünftel oder ein Sechstel sein; denn die Zahl der bewilligten Anträge kann nie höher sein als die Zahl der gestellten Anträge.
Zunächst einmal: Ich bin selbst das Kind aus einer Facharbeiterfamilie und habe als junger Student fürs Medizinstudium tatsächlich BAföG bezogen. Ich kann so viel sagen: Nimmt man ein teures Studium auf, dann ist das BAföG eine sehr wichtige Vergewisserung, dass man das Studium bezahlen kann.
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Daher ist das BAföG nach wie vor für Kinder aus bildungsfernen Schichten der Königsweg in das Studium. Daher müssen wir das BAföG nicht nur schützen, sondern auch erhöhen. Ich komme zu unseren Maßnahmen.
({1})
Da danke ich übrigens den Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. In diesem Punkt haben wir uns wirklich nie gestritten. Die Grundrichtung ist immer die gleiche gewesen. Wir haben über Details gestritten, aber wir haben in der Sache tatsächlich immer Konsens gehabt. Das sage ich übrigens als jemand, der kurz danach von der Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert worden ist. Das ist für die Stiftung sicherlich eine lohnende Investition gewesen.
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Die BAföG-Reform, die wir jetzt beschließen, geht auf drei Probleme ein. Das erste Problem ist im Prinzip, dass der Anteil der Studenten, die BAföG bekommen, zu niedrig ist. Ich hatte es eben schon beschrieben: Der Anteil liegt bei nur 22 Prozent. Das zweite Problem: Diejenigen, die gefördert werden, bekommen zu wenig BAföG. Drittes Problem: Die Sätze, ab denen man BAföG bekommen kann, die Freibeträge beim Einkommen der Eltern, sind zu niedrig. Daher erhöhen wir die Sätze, also das, was ausbezahlt wird, um 15 Prozent. Wir erhöhen die Freibeträge um 16 Prozent.
Gleichzeitig verbessern wir die Informationen darüber, wie man BAföG bekommen kann und wer antragsberechtigt ist, und vereinfachen das Antragsverfahren. Dazu haben wir einen wichtigen Entschließungsantrag in dieser Woche in den Ausschuss eingebracht, sodass wir, sagen wir mal, mit der Reform, die wir heute beschließen werden, nicht am Ende sind. Vielmehr werden wir in den Schulen, in den Universitäten, in den Informationszentren auf das BAföG stärker hinweisen, sodass die Quote derer, die BAföG-berechtigt sind und es dann bei höheren Sätzen auch bekommen, deutlich steigt; denn das ist das eigentliche große Problem.
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Die Grünen fordern, dass wir die Leistungen dynamisieren sollen. Ich sage hier an dieser Stelle: Die Forderung ist absolut richtig. Aber ich weise darauf hin, dass wir in unserem Entschließungsantrag genau das vorsehen. Wir werden auswerten, wie das wird, was wir jetzt beschließen.
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Wenn wir sehen, was wir erreichen, dann wissen wir auch, wohin die Dynamisierung gehen wird. Aber ich kann nicht mehr Geld beschließen, bevor ich weiß, wie sich die Kosten entwickeln und wie sich das entwickelt, was ich zur Verfügung stelle. Das wäre nicht seriös. Daher: Wir werten frühzeitig aus.
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Dann werden wir dynamisieren. Aber die Anregung ist richtig; wir greifen das auf.
Das ist heute ein wichtiger Schritt in Richtung mehr Gleichheit in unserem Bildungssystem. Davon werden Kinder aus bildungsfernen Schichten und Kinder von Eltern, die nicht so privilegiert sind, profitieren. Wir werden Deutschland damit langfristig zukunftssicherer machen, weil wir genau diese Studenten brauchen, um den Lebensstandard in Deutschland halten zu können.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jens Brandenburg für die Fraktion der FDP.
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Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Sie heute beschließen wollen, das ist eine Kapitulation vor dem Status quo. Für den Inflationsausgleich, der längst überfällig ist, mögen Sie sich heute noch feiern.
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Sie werden spätestens morgen merken, dass Ihnen auch mit diesem Inflationsausgleich einmal mehr die Trendumkehr im BAföG nicht gelingen wird.
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Das ist kein verantwortungsvolles Regierungshandeln. Das ist Selbstbetrug in Dauerschleife, meine Damen und Herren.
Als einzige Fraktion haben wir Freie Demokraten einen wirklich strukturellen und finanzierbaren Reformvorschlag vorgelegt. Wir wollen ein elternunabhängiges Baukasten-BAföG, das mit der Antragsbürokratie und mit finanzieller Unsicherheit Schluss macht; ein Modell mit flexiblen Zuschuss- und Darlehensbausteinen, das Studierenden in jeder Situation weiterhilft.
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Erwartungsgemäß hat Ihre Kritik nicht lange auf sich warten lassen:
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„Das haben wir ja noch nie gemacht.“ Man könne doch erwachsene Studierende nicht unabhängig von ihren Eltern betrachten. Überhaupt: Es sei ja unzumutbar, wenn auf einmal dieselben Regeln für alle gelten. – Solche Abwehrreflexe sind ja bei großen Reformvorschlägen nichts Neues. Aber Sie sollten doch zumindest wissen, welche Menschen Sie damit weiterhin im Regen stehen lassen. Fünf Beispiele:
Erstens. Martin bekommt kein BAföG, weil seine Eltern, Facharbeiter, auf dem Papier zu reich sind. Sie müssen ihr Haus noch abbezahlen und schaffen es mit großer Mühe, jeden Monat 300 Euro für ihren Sohn zusammenzukratzen. – Sie sagen: Dann sollen sie doch ihr Haus verkaufen.
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Wir sagen: Martin verdient unsere Unterstützung.
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Zweites Beispiel. Manuela möchte gerne Sozialpädagogik studieren. Ihre Eltern unterstützen das nicht. Sie soll schließlich später die Zahnarztpraxis übernehmen. – Sie sagen: Dann kann sie doch ihre Eltern auf Unterhalt verklagen. Wir sagen: Manuela ist eine eigenständige Persönlichkeit, deren Wahl des Studienfaches nicht von der Unterstützungsbereitschaft ihrer Eltern abhängen darf.
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Drittens. Daniel möchte sein Studium ganz ohne Darlehen finanzieren. Ihm ist egal, dass er dieses BAföG-Darlehen später überhaupt erst als Gutverdiener zurückzahlen müsste.
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– Ich verstehe ja die Aufregung. Es freut mich ja, dass wir endlich was zu diskutieren haben.
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Bei diesem Beispiel mit Daniel sagen Sie ganz konkret: Ohne Darlehensanteil gibt es eben auch kein BAföG. Wir sagen: Lieber Daniel, mit einem überschaubaren Nebenjob und unseren Zuschussbausteinen sollte es möglich sein, dass du dein Studium ganz ohne Darlehensanteil finanzierst.
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Viertens. Auch Tanja erhält kein BAföG. Mit mehreren Nebenjobs hält sie sich gerade so über Wasser. Jetzt werden auf einen Schlag der Semesterbeitrag, die Kosten für das Semesterticket und eine hohe Nachzahlung zu den Nebenkosten fällig. Das wirft Tanja völlig aus der Bahn. – Sie sagen: Pech gehabt! Die SPD will ja kein „Verschuldungsprogramm“.
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Wir sagen: Das erst bei gutem Einkommen rückzahlbare zinsfreie BAföG-Darlehen, das genau als Puffer für solche Situationen zur Verfügung stehen sollte, wollen wir künftig allen Studierenden bereitstellen.
Fünftens. Lara arbeitet neben ihrem Studium mehr als 15 Stunden die Woche, um das Studium zu finanzieren.
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Keine Seltenheit. Jeder vierte Nicht-BAföG-Empfänger macht das heute schon so. Sie sagen: Diese Studierenden sind nicht bedürftig. Wir sagen: Lasst uns doch die unterstützen, die wirklich darauf angewiesen sind,
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und Lara in die Lage versetzen, ihr Studium zu finanzieren und gleichzeitig ihre Nebentätigkeit im Umfang auf den Samstag zu reduzieren.
Sie sehen also: Anders als viele andere hier im Raum fordern und versprechen wir nicht immer mehr Geld für wenige, sondern handfeste Bildungschancen für jeden. Sie können es sich einfach machen und weiter auf formale Unterhaltspflichten verweisen, oder Sie haben heute den Mut, eine echte Reform anzugehen, die die praktischen Probleme vieler junger Menschen löst. Unser Vorschlag für ein elternunabhängiges BAföG liegt bei Ihnen auf dem Tisch.
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Sie brauchen jetzt nur noch zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Nicole Gohlke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das BAföG steht für Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Es ist das Instrument, mit dem junge Menschen, bei denen der Geldbeutel der Eltern nicht ausreicht, doch noch eine Hochschule besuchen können. 79 Prozent der Geförderten sagen, das BAföG sei für sie die Grundvoraussetzung, um überhaupt studieren zu können. Es ist ein echtes Drama, dass sich die Bundesregierung einer echten, einer substanziellen Reform des BAföG wieder und wieder verweigert. Eine solche Reform stünde jetzt ganz dringend an.
({0})
Es sind nur noch 13 oder 14 Prozent der Studierenden, die mit dem BAföG gefördert werden. Jedes Jahr werden es weniger, und jedes Jahr trägt das BAföG weniger dazu bei, die Studien- und Lebenshaltungskosten zu decken. Das darf nicht so bleiben.
({1})
Das, was die Große Koalition heute vorlegt, ist das, was quasi jede Wahlperiode einmal vorliegt: ein zu niedrig angesetzter Ausgleich der Preissteigerungen der letzten Jahre.
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Das hat nichts, aber auch gar nichts zu tun mit einer Trendumkehr. Sie gleichen den Sinkflug des BAföG damit nicht aus.
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Das ist schlimm für die Studierenden, und das ist, ehrlich gesagt, traurig für eine Regierung mit sozialdemokratischer Beteiligung.
({4})
An dieser Stelle muss ich gleich weitermachen. Ich habe gedacht, ich höre nicht richtig, als dann auch noch SPD-Politiker angefangen haben, die geplanten Kürzungen beim Bildungshaushalt schönzureden. Wo sind wir denn, bzw. wo seid ihr denn hingekommen? Wenn irgendwer auf die Idee kommt, beim Bildungshaushalt Einsparungen vorzunehmen, um übrigens im gleichen Atemzug den Rüstungsetat kräftig aufzustocken, dann schreit man doch bitte schön: Nein, auf keinen Fall! Nicht mit uns!
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Das schreit man doch dann und schreibt nicht auch noch Gastbeiträge wie der Hamburger Wissenschaftssenator der SPD, in denen er sagt: Es ist doch kein Problem, wenn die Ausgaben für Bildung sinken. Das Geld sparen wir dann beim BAföG ein. – Das kann doch wirklich nicht wahr sein, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten!
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Da liegt sogar – das muss ich wirklich sagen – der RCDS, der Studierendenverband der CDU, noch richtiger, wenn er schreibt – ich zitiere –: Das BAföG muss regelmäßig an steigende Preise und Einkommen angepasst werden. Die Bundesregierung muss fortwährend die Bedürfnisse der Studenten im Blick haben. – Gut, dass es auch Studentinnen gibt, das muss man dem RCDS noch einmal sagen.
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Das haben offenbar selbst die jungen Konservativen noch nicht so richtig auf dem Schirm. Aber der Rest war inhaltlich tatsächlich richtig.
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– Ihnen ist das sowieso völlig unklar; das ist ja bekannt.
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Die Sachverständigen im Ausschuss haben in der letzten Woche sehr deutlich gemacht, wo der vorliegende Gesetzentwurf nachgebessert werden muss.
Erstens. Die Bedarfsätze sind für eine Sozialleistung viel zu niedrig. Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie zum Beispiel empfiehlt eine Anhebung auf 500 bis 550 Euro. 150 Euro mehr, während die Regierung 20 Euro plant!
Zweitens. Die neue Wohnpauschale von 325 Euro deckt gerade mal so die durchschnittlichen Wohnkosten vom Jahr 2016. Angezeigt wäre aber natürlich eine An hebung auf das, was die Studis wirklich an Miete zu zahlen haben, und zwar im Jahr 2019.
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Angezeigt wäre, dass sich der Bund endlich angemessen in den Bau von studentischen Wohnheimen einbringt.
Drittens. Die Altersgrenzen im BAföG entsprechen weder dem Gedanken des zweistufigen Studiums noch den Realitäten des lebenslangen Lernens. Sie gehören endlich abgeschafft.
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Viertens. Wir wissen, dass gerade junge Menschen aus finanziell schlecht gestellten Familien Angst haben, sich durch ein Studium zu verschulden, und im Zweifel lieber auf ein Studium verzichten. Das BAföG sollte – wie das früher einmal der Fall war – wieder zum Vollzuschuss werden.
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Zu all diesen Punkten haben wir Änderungsanträge vorgelegt. Sie können mithelfen, den Studierenden und ihren Familien wieder zu mehr Planungssicherheit und zu mehr Gerechtigkeit zu verhelfen. Sie können mithelfen, das BAföG als großes Instrument der Gerechtigkeit und des Bildungsaufstiegs zu erhalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! BAföG muss zum Leben reichen, und es muss zur Zeit passen. Frau Karliczek, was Sie heute als Novelle vorlegen, das ist keine Trendwende, sondern das ist eine Mogelpackung. Diese BAföG-Novelle bleibt unter dem Inflationsausgleich.
({0})
Deshalb liegt das BAföG im Koma. Wenn nur noch 13 Prozent aller Studierenden BAföG bekommen, dann reicht Ihre Novelle hinten und vorne nicht.
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Im Zeitraum von 2013 bis 2017 sind über 200 000 junge Menschen aus dem BAföG-Berechtigtenkreis herausgerutscht. Sie selber haben in der Regierungsbefragung auf meine Frage, wie viele nun künftig durch die Novelle in die Förderung reinkommen, 100 000 zusätzliche Antragstellerinnen und Antragsteller genannt. Das heißt, unter dem Strich bleibt ein Minus. Das ist doch keine Reform, meine Damen und Herren.
({2})
Als Grüne im Bundestag stellen wir heute acht Änderungsanträge, um aus einer halbgaren Novelle doch noch einen großen Wurf für Bildungschancen zu machen; denn das BAföG muss Bildungsgerechtigkeitsgesetz Nummer eins in der Republik bleiben. Der erste wichtige Änderungsantrag ist, sofort sowohl die BAföG-Sätze als auch die Freibeträge um mindestens 10 Prozent in einem Wumms zu erhöhen, damit das spürbar ist – und in dieser Legislaturperiode gerne noch einmal. Dann stellen wir zur namentlichen Abstimmung eine automatische, regelmäßige Erhöhung, eine Dynamisierung entlang der Preisentwicklung und der Einkommensentwicklung. Damit Schluss ist mit BAföG-Willkür und BAföG nach Kassenlage, wo der Finanzminister mehr darüber entscheidet als die Bildungspolitiker, wie man Bildungschancen in diesem Land finanziert. Endlich das BAföG regelmäßig erhöhen, das ist wichtig.
({3})
Das hat die SPD auch mal gewollt. Deutsches Studentenwerk und die Gewerkschaften stehen hinter dieser Forderung. Was in einzelnen Sozialgesetzen geht, sollte auch beim BAföG klappen.
Nächster Punkt: Wohnen. Frau Karliczek, Sie haben neulich gesagt, dass Sie Herrn Seehofer einen Brief zum studentischen Wohnen geschrieben haben, um mehr Wohnheimförderung zu ermöglichen. Ja, gerne! Das ist zwar der nächste Tu-nix-Minister. Aber man muss beides zusammendenken: Natürlich brauchen wir den Wohnheimbau. Aber wir brauchen auch eine vernünftige Wohnförderung im Rahmen des BAföG. Wenn Sie einerseits das Wohngeld erhöhen und andererseits den Studis nur eine Pauschale geben, dann reicht das nicht. Wir brauchen eine regionale Staffelung, damit auch das Arbeiterkind aus einem einkommensarmen Elternhaus an der Exzellenzuni und in teuren Unistädten leben und wohnen kann. Wohnen darf auch für Studis kein Luxusgut werden.
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Jetzt versetzen Sie sich mal in einen 17-Jährigen oder eine 17-Jährige, der bzw. die ein kleines Taschengeld aus dem armen Elternhaus bekommen und hören: Wenn man den BAföG-Höchstsatz bekommt, kann man bis zu 10 000 Euro Schulden nach dem Studium haben. – Dann ist doch völlig klar, dass man erst gar kein BAföG beantragt, weil man Verschuldungssorgen hat und sich nicht zutraut, das zu stemmen. Wer will denn 10 000 Euro zurückzahlen müssen? Deshalb muss die Verschuldungsobergrenze runter. Auch das beantragen wir heute, weil wir einen Einstieg in unser Zwei-Säulen-Modell der Studienfinanzierung wollen. Wir sollten zu Vollzuschüssen zurückkehren, wie das in den 70er-Jahren der Fall war, wo das BAföG noch richtig funktionierte und zum Leben reichte.
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Wirklich unverschämt ist, dass Sie einmal mehr die Datenlage manipulieren. Deshalb beantragen wir heute die zweite namentliche Abstimmung: Der BAföG-Bericht wäre 2019 fällig. Wir wollen diese Daten. Diese werden brutal sein. Aber Sie machen in einem Spiegelstrich eine Verschiebung auf 2021. Das heißt, erst nach der nächsten Bundestagswahl sieht man, wie viele Studierende wieder aus dem BAföG-Berechtigtenkreis herausfliegen. Das ist keine seriöse Politik. Der BAföG-Bericht muss im Zwei-Jahres-Turnus erfolgen, damit wir vernünftig reformieren können. Alles andere ist manipulativ.
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Meine Damen und Herren, BAföG muss Bildungsgerechtigkeitsgesetz Nummer eins werden. Tun Sie endlich was für gleiche Bildungschancen im Land, für Einkommensarme, für Arbeiterkids! Es muss endlich einen gleichen Weg zum Campus geben. Deshalb ist diese BAföG-Reform ein kleiner Schritt – aber eben auch nur ein kleiner Schritt.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Stefan Kaufmann.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Diese BAföG-Reform, dieses BAföG, das ist ein Flaggschiff der deutschen Bildungsgerechtigkeit, und das lassen wir uns auch nicht kleinreden, meine Damen und Herren.
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Es ist schon erstaunlich, wie die Redner der Opposition versuchen, hier eine Reform schlechtzureden, die in der Geschichte des BAföG zu den bedeutenden gehört. Aber das überrascht natürlich nicht; denn schon als wir den Koalitionsvertrag vorgelegt haben, der zusätzliche Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro für diese Wahlperiode in Aussicht gestellt hat, hieß es, dies sei zu wenig, es komme zu spät und überhaupt.
Nun hat unsere Ministerin Anfang des Jahres die 26. Novelle mit einer Vielzahl von deutlichen Verbesserungen für BAföG-Empfänger vorgelegt, zum Beispiel bei den Rückzahlungsmöglichkeiten inklusive Schuldenschnitt nach 20 Jahren, lieber Kai Gehring. Wir haben als Koalitionsfraktionen – danke noch mal an die Kollegen von der SPD! – in den vergangenen Wochen auf Grundlage dieses bereits sehr guten Entwurfes einige Aspekte nachgebessert, die für uns bedeutsam waren und die auch von Teilen der Opposition gefordert wurden. Und wir haben in einem Entschließungsantrag gestern im Ausschuss noch einmal die Themen „Öffentlichkeitsarbeit“, „Vereinfachung der Antragsverfahren“ und auch „Intensivierung von Beratungs- und Informationsangeboten“ adressiert, weil es uns natürlich schon zu denken geben muss, dass nur circa 50 bis 60 Prozent der Antragsberechtigten überhaupt einen Antrag stellen.
Tatsach e ist, dass wir das BAföG nur drei Jahre nach der letzten großen Reform mit dieser Novelle deutlich verbessern und ausbauen, und wir werden damit wieder mehr Studierende und mehr Auszubildende erreichen, meine Damen und Herren.
Mit unserem Änderungsantrag, den wir im Ausschuss eingebracht haben, wollen wir das BAföG noch familienfreundlicher gestalten; die Ministerin hat das freundlicherweise nochmals lobend hervorgehoben. Wir heben das Höchstalter der zu berücksichtigenden Kinder von Auszubildenden von 10 auf 14 Jahre an. Wir erhöhen den Kinderbetreuungszuschlag von 130 auf 150 Euro. Und schließlich – das war mir persönlich auch ein wichtiges Anliegen – wird die Förderungsdauer bei der Pflege naher Angehöriger verlängert. Auch das sind Erfolge, die wir als Parlament bei der aktuellen Novelle durchsetzen konnten, meine Damen und Herren.
({1})
Der Opposition sind die 1,3 Milliarden Euro, die es jetzt geworden sind, erwartungsgemäß zu wenig. Die Forderungen nach mehr und vor allem nach einem BAföG für alle haben uns nicht gewundert. Angesichts unserer Novelle – das sage ich ganz selbstbewusst – halten wir solcher Kritik aber stand, zumal wir sicher sind, dass wir deutliche Verbesserungen auf den Weg bringen, die allesamt überzeugender sind als das unausgegorene, unsoziale und nicht finanzierbare Vorschlagswesen der Opposition, meine Damen und Herren.
({2})
An der Stelle möchte ich auch deutlich sagen: Es ist schlicht falsch, was hier dargestellt wurde. Die Entwicklung der BAföG-Sätze lag seit 2001 über dem Preisindex. Das können Sie im BAföG-Bericht nachlesen, meine Damen und Herren.
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Und geradezu lächerlich ist der von der Opposition vorgetragene Vorwurf, wonach es jahrelang einen Stillstand bei der Fortentwicklung des BAföG gegeben habe; von einer – angeblichen – großkoalitionären Untätigkeit war sogar die Rede. Ich darf daran erinnern: Wir haben erst 2016 die Freibeträge und die Bedarfssätze letztmalig deutlich erhöht.
({4})
Zwischenzeitlich – daran darf ich hier schon erinnern – haben eine Bundestagswahl und eine Regierungsbildung stattgefunden. In diesem Punkt betreiben Sie hier wirklich Realitätsverweigerung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({5})
Dann die angeblich große Idee eines Baukasten-BAföG von Ihnen von der FDP-Fraktion. Mit viel Medienaufmerksamkeit und einigen doch sehr konstruierten Beispielen, lieber Kollege Brandenburg, wollen Sie als selbsternannte Serviceopposition das BAföG elternunabhängig machen.
({6})
Im Klartext heißt das, dass Eltern von Studierenden pauschal das Kindergeld gestrichen wird, um es direkt an die Studierenden auszuzahlen.
({7})
Im Grunde genommen agieren Sie, die Freien Demokraten, ganz nach dem Motto „rechte Tasche, linke Tasche“
({8})
und verkaufen das auch noch als großen Wurf, meine Damen und Herren.
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Ich darf auf die Expertenanhörung verweisen, wo vor dem Hintergrund des Artikels 3 Grundgesetz durchaus Bedenken geäußert worden sind, ob das verfassungsrechtlich überhaupt möglich ist, was Sie hier wollen.
({10})
Dann wollen Teile der Opposition allen Studierenden – aktuell immerhin 2,9 Millionen – BAföG-Leistungen zukommen lassen, egal ob sie auf diese Unterstützung angewiesen sind oder nicht. Das, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht nur wirtschaftlicher Humbug, da nicht finanzierbar, sondern es ist auch sozialpolitisch schlicht und ergreifend absurd und ungerecht; denn es ist eine Abkehr vom subsidiären Solidaritätsprinzip.
({11})
Das kommt von der Wirkung her der Abschaffung des BAföG gleich. Das will jedenfalls die Union nicht, und das will auch unser Koalitionspartner nicht.
({12})
Deshalb ist unsere BAföG-Reform das bessere Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Mit der heutigen Verabschiedung des 26. BAföG-Änderungsgesetzes endet unsere Arbeit am BAföG aber nicht. Wir haben der Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag aufgetragen, neben der Änderung des Gesetzes weitere Maßnahmen zu prüfen und zu ergreifen, um wieder mehr Auszubildende über die Fördermöglichkeit zu informieren – es wurde angesprochen –; denn es muss unser Ziel bleiben, die Gefördertenzahlen wieder zu erhöhen. Außerdem treten wir dafür ein – da unterstützen wir die Ministerin ausdrücklich –, dass über das Bundesprogramm für den sozialen Wohnungsbau auch mehr studentischer Wohnraum geschaffen und so die schwierige Situation auf dem Wohnungsmarkt entspannt wird.
({14})
Und schließlich wollen wir die Antragstellung weiter vereinfachen.
Um noch mal auf das Thema BAföG-Bericht zurückzukommen: Wir fordern das Bundesministerium in dem erwähnten Entschließungsantrag auf, dass der Ausschuss für Bildung und Forschung im Herbst kommenden Jahres über die Wirksamkeit dieser Novelle und der in dieser Entschließung geforderten Maßnahmen unterrichtet wird. Damit nehmen wir auch denjenigen die Sorge, die glauben oder jedenfalls glauben machen wollen, wir würden durch die Verschiebung des BAföG-Berichtes etwas verheimlichen wollen.
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Ich fasse zusammen. Die Chancen auf eine BAföG-Förderung werden zum kommenden Wintersemester nochmals deutlich verbessert. Auch gegen die Angst vor Verschuldung und gegen die Sorge vor zu viel Bürokratie werden wir wirksame Maßnahmen ergreifen. All dies soll und wird künftig dazu beitragen, dass niemand mehr davon abgehalten wird, einen BAföG-Antrag zu stellen, meine Damen und Herren. Und ich bin mir sicher: Wenn dann auch noch die Damen und Herren von der Opposition künftig etwas positiver über die Fördermöglichkeiten nach dem BAföG sprechen würden, anstatt es ständig nur schlechtzureden, dann machen gewiss auch noch mehr junge Menschen Gebrauch von ihrer Antragsberechtigung. Darauf sollten wir gemeinsam setzen.
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Ich bitte um Ihre Zustimmung für diese Novelle.
Danke sehr.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Oliver Kaczmarek für die Fraktion der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den teilweise etwas apokalyptisch anmutenden Reden der Opposition über das BAföG kann man, glaube ich, am Ende noch mal versuchen, das eine oder andere ins rechte Licht zu rücken.
Worum geht es uns beim BAföG? Es geht darum: Leistung und Talent müssen darüber entscheiden, welchen Weg ein junger Mensch wählt. Deshalb richtet sich der vorliegende Gesetzentwurf an diejenigen, die gerade überlegen, ein Studium aufzunehmen; im Moment laufen die Abiturprüfungen. Er richtet sich an die Schülerinnen und Schüler, die nicht mehr zu Hause wohnen. Er richtet sich an diejenigen, deren Eltern gerade mit ihnen darüber diskutieren: Wie bekommen wir das mit dem Geld hi n, wenn du studieren gehst? Wer bezahlt Miete, Lebensunterhalt und Krankenversicherung? – Deswegen sage ich an der Stelle bewusst: Nutzt eure Chance! Euer Talent soll entscheiden, nicht der Geldbeutel eurer Eltern, und das BAföG ist das Instrument, das euch dabei unterstützt und hilft und nicht daran hindert, ein Studium aufzunehmen.
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Augenblick mal, Herr Kollege. – Auch wenn jetzt gleich die Abstimmungen stattfinden und offenbar noch viel Diskussionsbedarf besteht, möchte ich alle bitten, den Lärmpegel etwas herunterzufahren und dem Redner die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. – Fahren Sie bitte fort.
Heute, meine Damen und Herren, machen wir dieses BAföG noch besser, noch verlässlicher, noch planbarer und lebensnäher. Unser Ziel ist: mehr Geld für mehr Menschen im BAföG. Deshalb erhöhen wir die Bedarfssätze kräftig, damit das BAföG mehr zum Leben reicht, und deswegen wollen wir in der namentlichen Abstimmung auch wissen, ob die Opposition bei der Erhöhung des Höchstsatzes auf 861 Euro mitgeht.
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Deshalb heben wir die Wohnpauschale um knapp ein Drittel an, und deshalb machen wir bei den Freibeträgen einen großen Schritt nach vorne, damit wieder mehr Menschen BAföG beantragen können.
Herr Gehring, die Kritik der Grünen an der Stelle ist wirklich paradox; denn Sie beantragen eine sofortige Anhebung der Freibeträge um 10 Prozent und danach einen Inflationsausgleich.
({1})
Wir beantragen 16 Prozent in drei Schritten – nachhaltig, damit die Empfängerzahl nicht wieder sinkt.
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Sie fordern weniger, als wir in der Novelle umsetzen, und erzählen den Leuten, dass mehr damit erreicht werden kann.
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Das ist keine Trendumkehr. Unser Entwurf ist nachhaltiger und solider.
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Wir haben im Gesetzgebungsverfahren weitere Verbesserungen erreicht. Wir helfen Menschen, die nahe Angehörige pflegen, indem sie länger BAföG bekommen. Wir helfen BAföG-Empfängern mit Kindern, indem wir bei Kinderbetreuung mehr zahlen und den Bezug verlängern, gemessen am Alter der Kinder. Wir sorgen dafür, dass alle BAföG-Empfänger nach 20 Jahren Bemühen um die Rückzahlung ihres Kreditanteils ihre Schulden erlassen bekommen, und zwar auch diejenigen, die nach altem Recht gefördert worden sind.
Weil wir gerade bei Verschuldung sind – Herr Brandenburg, Sie warten darauf vielleicht schon –, an der Stelle auch ein Satz zum FDP-Antrag, dem großen Modell, das hier so angepriesen worden ist. Sie erhöhen das Verschuldungsrisiko dadurch, dass Sie den Schuldendeckel wegnehmen, für die besonders Bedürftigen um ein Vielfaches. Wenn Sie jetzt behaupten, jeder in dem Modell könne frei auswählen, ob er einen Kredit aufnimmt,
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dann ist das von der Lebensrealität derjenigen Menschen, die auf BAföG angewiesen sind, weit entfernt.
({6})
Die treiben Sie in die Verschuldungsfalle. Das wird nicht geschehen.
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Wir wollen auf einen einfacheren BAföG-Antrag hinwirken. Wir wollen transparente und zielgenaue Informationen – Herr Kollege Lauterbach hat das gerade schon erwähnt –, damit aus BAföG-Berechtigten auch tatsächlich BAföG-Geförderte werden. Wir wollen bei der Erhöhung der Wohnpauschale nicht stehen bleiben. Es ist richtig: Wir müssen mehr Wohnraum schaffen, damit Studierende und Familien nicht um den gleichen Wohnraum konkurrieren.
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Ich möchte an der Stelle noch mal sagen: Chancengleichheit hat großes Gewicht in dieser Koalition. Es haben schon einige darauf hingewiesen: Wir nehmen 1,3 Milliarden Euro für diese BAföG-Novelle in die Hand, ein Drittel mehr, als wir im Koalitionsvertrag versprochen haben.
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An der Stelle geht auch der Dank an den Bundesfinanzminister, der diesen Weg entgegen allen Unkenrufen, die die Opposition betreibt, mitgegangen ist.
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Und wir passen das BAföG regelmäßig an. Nach der Erhöhung in 2017 erhöhen wir das BAföG in 2019 und werden es in 2020 noch einmal erhöhen. Die Freibeträge werden wir in 2021 noch einmal kräftig erhöhen.
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Das zeigt: Das BAföG wird verlässlicher und planbarer. Das ist ein Erfolg, der sich in Regelmäßigkeit fortsetzt.
Zum Schluss. Die Ausbildungs- und Studienfinanzierung ist unserer Partei, der SPD, aber auch der Koalition im Koalitionsvertrag ein wichtiges Anliegen gewesen. Jetzt wird das gemeinsam umgesetzt. Der Arbeitsminister hat einen Entwurf zur Erhöhung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes vorgelegt. Das hilft Auszubildenden in ihrer Situation. Die Tarifparteien haben einen Vorschlag für eine Mindestausbildungsvergütung entwickelt, der uns hier bald auch als Gesetz vorgelegt wird. Heute beschließen wir ein deutlich erhöhtes BAföG. Das zeigt, meine Damen und Herren: Das sind die richtigen Schritte, damit jeder junge Mensch seinen oder ihren Bildungsweg frei wählen kann.
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Das ist ein konkreter Beitrag zur Chancengleichheit.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit heute wissen wir: Das jahrelange Warten hat ein Ende. Ministerin Karliczek hat ihre Unterschrift unter den Digitalpakt gesetzt. Es kann endlich losgehen, und das ist gut.
Im März haben wir mit sehr breiter Mehrheit in diesem Hause das Grundgesetz geändert. Ich freue mich, dass Sie den Vorschlag von FDP und Grünen aufgenommen haben und der Bund künftig nicht nur in Kabel und Beton investieren darf, sondern auch in Personal und Inhalte. Diese Chance wollen und müssen wir nutzen.
({0})
Deshalb dürfen wir jetzt nicht bei diesem Digitalpakt stehen bleiben, sondern wir müssen den nächsten Schritt gehen. Ich nenne Ihnen fünf Punkte, warum wir einen Digitalpakt 2.0 brauchen:
Erstens. Die technische Ausstattung muss nicht nur da sein, sondern muss auch fachmännisch instand gehalten werden. Die Lehrkräfte haben als Pioniere eine super Arbeit geleistet. Wir brauchen jetzt aber IT-Spezialisten; denn Lehrer müssen sich wieder ganz aufs Unterrichten konzentrieren. Im Klassenzimmer, bei unseren Kindern, da brauchen wir ihre ganze Aufmerksamkeit.
({1})
Zwei tens. Wir müssen die Lehrkräfte besser darauf vorbereiten, im digitalen Zeitalter zu unterrichten. Der Bund hätte hier längst mehr machen können. Seit 2015 gibt es die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, aber nur 2 von 59 Hochschulen haben den Schwerpunkt „digitale Bildung“ für die Lehrerausbildung gewählt. Da läuft etwas schief. Wer heute als Lehrer nicht mit digitalen Medien umgehen kann, der wird morgen nicht vor einer Klasse bestehen können. Das ist verantwortungslos. Da hätten Sie, Frau Ministerin Karliczek, viel früher nachsteuern müssen.
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– Die ist nicht da.
Drittens. Ties Rabe, SPD-Schulsenator in meiner Heimatstadt Hamburg, rühmt sich damit, dass er mit den Mitteln aus dem Digitalpakt 45 000 Computer für die Schulen anschaffen will. Gleichzeitig sagt er: Es sind nur zwei Lernprogramme vorhanden. – Für alle Unterrichtsfächer, Jahrgänge und Schulformen zusammen, wohlgemerkt. Nur zwei Lernprogramme! Das ist ein Witz. Das kann gar nicht funktionieren. Die Schulen brauchen eigene Budgets und mehr Freiheit, um digitale Schulbücher anzuschaffen. Die Politik muss hier runter von der Bremse.
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Viertens. Wir brauchen klare Standards für den Schutz sensibler Schüler- und Lerndaten. Will ein Lehrer eine Lernsoftware einsetzen, dann muss ein Schulleiter eine 120-seitige Datenschutzerklärung unterzeichnen – ohne rechtlichen Beistand. Sucht der Schulleiter Hilfe bei der Kommune, dann verweist die ihn ans Land, und das Land verweist wiederum an die Kommune. Ein Lehrer, der die Lernsoftware dann dennoch einsetzt, der steht mit einem Bein im Gefängnis. Das ist ein einziger Albtraum. Die Verantwortung dafür tragen wir als Gesetzgeber. Wir müssen endlich Klarheit schaffen beim Datenschutz.
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Fünftens. Die Nutzungsdaten aus Lernprogrammen ermöglichen eine Revolution in der Bildungsforschung. Zum Vergleich: Die PISA-Studien beruhen auf Stichproben von etwa 5 000 Schülern in Deutschland, die alle drei Jahre erhoben werden. Künftig stehen Lerndaten von über 10 Millionen Schülern zur Verfügung – für jeden Jahrgang, jedes Fach, jeden Tag. Daran lässt sich dann glasklar ablesen, wie Lerninhalte am erfolgreichsten vermittelt werden – als Text, Audio oder Bild. Diesen großen Wissensschatz nicht zu nutzen, das wäre grob fahrlässig. Doch auch dafür braucht es klare Vorgaben zum Schutz sensibler Daten.
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Meine Damen und Herren, der vorliegende Digitalpakt kümmert sich nur um die technische Infrastruktur; aber das reicht nicht. Wir brauchen einen Digitalpakt 2.0; sonst wird technische Infrastruktur im Wert von über 5 Milliarden Euro veraltet sein, bevor sie überhaupt eingesetzt werden kann. Das müssen wir unbedingt verhindern. Frau Karliczek, beginnen Sie jetzt mit den Verhandlungen.
Vielen Dank.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute erneut über den DigitalPakt Schule diskutieren, und heute nicht mehr als Vorhaben, sondern als beschlossenes Projekt. Die Länder haben die Verwaltungsvereinbarung unterzeichnet. Es ist begonnen worden, die Förderkriterien entsprechend auszuarbeiten, und die ersten Gelder können noch in diesem Jahr fließen.
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Die Schulen freuen sich auf die Mittel des Bundes. Und nach langer Vorarbeit sollten wir uns vielleicht auch mal zumindest einen Moment lang freuen, dass es uns gelungen ist, dieses vom Umfang her ja nicht gerade kleine und von der Architektur her auch nicht gerade einfache Projekt auf den Weg zu bringen.
Und was macht die FDP? In Ihrem Antrag reden Sie den gerade erst beschlossenen Digitalpakt schlecht. Noch bevor der erste Euro der 5 Milliarden überhaupt geflossen ist, bevor die erste Evaluierung stattgefunden hat, fordern Sie einen Digitalpakt 2.0. Das ist gerade so, als ob man plant, den Vorgarten zu bepflanzen, obwohl einem das Grundstück noch gar nicht gehört.
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Das zeigt sich schon im er sten Satz Ihres Antrags. Sie schreiben:
Nachdem die Schulen jahrelang auf den angekündigten Digitalpakt warten mussten, haben Bund und Länder ihn nun unterzeichnet.
Ja, es hat leider etwas länger gedauert, als wir sicherlich wollten.
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Aber zur Wahrheit gehört eben dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP und auch der Grünen, dass die ständig neuen Forderungen mit Blick auf die Zustimmung zur Grundgesetzänderung nicht gerade ein Beschleuniger im Prozess gewesen sind.
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Ohne Ihre Blockadepolitik wären wir hier auch deutlich schneller vorangekommen.
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Ähnliches gilt für die Grünen. Mit Blick auf widersprüchliche Haltungen kann man analysieren, dass es ihnen auf der einen Seite im Bund gar nicht weit genug gehen konnte hinsichtlich Einmischung in die Schulpolitik. Von Länderseite hingegen kam der schärfste Widerstand, kam die größte Kritik woher? Genau, aus Baden-Württemberg, namentlich vom Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der von einem Frontalangriff auf die föderale Ordnung sprach.
Als Union haben wir uns von Anfang an, vor allem auch mit Blick auf ein gesamtstaatliches Interesse, das Ziel gesetzt, die Länder hier zu unterstützen, einen Anschub zu leisten mit Blick auf die Digitalisierung der Schulen. Aber auch nach der Grundgesetzänderung ist für uns klar, dass die Hoheit der Länder bei der Verantwortung im Bildungswesen nach wie vor besteht.
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Wenn ich dann Ihren Antrag lese, in dem steht, dass wir weit umfangreicher unterstützen könnten, dann ist schon klar, worauf Sie eigentlich hinauswollen: Sie wollen ein Rundum-sorglos-Paket vonseiten des Bundes zugunsten der Länder. Wir meinen aber, dass der Digitalpakt zielgerichtet unterstützt, aber eben nicht sämtliche Aufgaben, die die Länder nach wie vor erfüllen müssen, übernehmen kann.
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Entscheidend war deswegen für uns das Kriterium der Zusätzlichkeit. Es bringt eben nichts, wenn der Bund seine Ausgaben auf der einen Seite erhöht und die Länder auf der anderen Seite ihre Ausgaben entsprechend zurückfahren.
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Dann haben wir ein Nullsummenspiel. Das hilft weder den Lehrkräften noch den Schülerinnen und Schülern.
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Und dann zieht sich durch Ihren Antrag ein breiter Katalog von Forderungen nach Maßnahmen, die zum größten Teil aber eigentlich schon beschlossen sind. Ich nenne Ihnen drei Beispiele.
Zum Ersten. Sie fordern Anschubfinanzierung für den Einsatz von IT-Administratoren. Dafür brauchen wir keinen Digitalpakt 2.0. Wenn Sie vielleicht mal in die Verwaltungsvereinbarung genau reinschauen und auf Seite 4 lesen, dann stellen Sie fest – dort ist es entsprechend beschrieben –, dass Planung, Beschaffung, Aufbau und Inbetriebnahme von Administration sowie Wartung förderfähig sind.
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Zum Zweiten bemängeln Sie, dass digitale Kompetenzen mit Blick auf die Lehreraus- und -fortbildung bisher nur Randthemen wären und dass diese Kompetenzen auch im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung entsprechend ausgebaut werden sollten. Das ist zunächst einmal gar nicht falsch. Aber auch mit dieser Forderung bleiben Sie hinter dem zurück, was bisher Beschlusslage ist. So hat bereits mit der zweiten Förderphase der Qualitätsoffensive Lehrerbildung eine klare Schwerpunktbildung stattgefunden. Mit Blick auf die Digitalisierung in der Lehrerbildung ist hier für die Jahre 2020 bis 2023 eine entscheidende Basis gelegt worden.
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Übrigens: Die Förderbekanntmachung wurde im November letzten Jahres veröffentlicht; das nur ein kleiner Servicehinweis an die selbsternannte Serviceopposition.
Zum Dritten kritisieren Sie, dass die Nutzung digitaler Hilfsmittel im Unterricht schwerfalle, weil noch keine Medienkonzepte da wären. Aber auch da braucht es keinen Digitalpakt 2.0. Denn beim DigitalPakt Schule ist der klare Grundsatz: Keine Ausstattung ohne entsprechendes Konzept. Dieser Grundsatz war gerade für uns als Union wichtig, weil wir natürlich keine Infrastruktur fördern wollen, die nachher nicht genutzt werden kann.
Übrigens, Kollegin Suding: Natürlich ist ein zentraler Bestandteil des Digitalpakts, dass die Länder zunächst für die Implementierung der Inhalte in die Curricula und auch für die Lehrerfort- und -ausbildung sorgen. Deswegen stimmt es eben nicht, dass sich der Digitalpakt nur um die Frage der Infrastruktur kümmern würde, sondern die Länder leisten hier den entsprechenden Beitrag.
Wenn man noch einmal in die Verwaltungsvereinbarung schaut, gilt auch da ganz klar: Wer Mittel beantragen will, der muss ein pädagogisches Konzept vorlegen. – Also auch hier fordern Sie Dinge, die längst Bestandteil der Beschlusslage sind.
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Ich kann Ihnen abschließend nur empfehlen, dass Sie sich selbst vielleicht noch einmal die Verwaltungsvereinbarung und insgesamt den DigitalPakt Schule erschließen und zu Herzen nehmen. Bevor Sie weiter solche Anträge stellen, wäre das vielleicht der richtige Schritt.
Zu den Anträgen der Grünen und der Linken kann man sicherlich vieles sagen. Ich möchte es so zusammenfassen: Die Grünen wollen wie eh und je, dass sich der Bund im Bereich Bildung weiter einmischt und vor allem entsprechende Gelder zur Verfügung stellt.
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Deren Bereitstellung ist aber ganz klar Aufgabe der Länder, die im Übrigen momentan Rekordsteuereinnahmen verzeichnen.
Bei den Linken ist die größte Sorge, dass der Digitalpakt –
Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
– ich komme zum Schluss – ein Einfallstor für lobbyistische Partikularinteressen wäre. Also das ist sicherlich kein substanzieller Beitrag zur Debatte.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns den Digitalpakt umsetzen! Lassen Sie uns ihn auch zu gegebener Zeit entsprechend evaluieren! Ich denke, wir eröffnen hier gute Chancen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Espendiller für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer im Saal und vor den Bildschirmen! Es gibt so Tage in diesem Parlament, da weiß man nicht, auf welchen Unsinn welcher Fraktion man zuerst draufhauen soll. Heute ist wieder so ein Tag. Wir debattieren jetzt das Thema „Digitalisierung in der Bildung“. Es liegen drei Anträge vor: von der Fraktion der Linken, der Grünen und der FDP.
Fangen wir an bei den ganz Linken. Offenbar waren Sie in Ihrem Fünfjahresplan in Sachen Antragsproduktion etwas unter dem Soll.
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Glückwunsch! Sie haben einen lieblosen zweiseitigen Antrag geschrieben. Das Wort „digital“ kommt da auch irgendwie ein bisschen drin vor. Natürlich kommt diffuse Kapitalismuskritik; Frau Kemmer hat das gerade schon erwähnt. Danke, solche Anträge brauchen wir nicht. Weg damit!
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Die Grünen spielen auch mit. Sie bringen ihre Oldies „Ganztagsschule“, „Inklusion“ und „Integration“ unter. Ihr Antrag ist nichts als Worthülsenkompott,
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und Sie wollen mal eben Mehrausgaben im zweiste lligen Milliardenbereich erreichen. Aber Sie erwähnen in Ihrem Antrag mit keinem Wort, wo das Geld herkommen soll. Sie wollen die Steuern dafür sicherlich erhöhen. Das ist ein billiges Wahlkampfmanöver. Auch damit können wir nichts anfangen.
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Und dann wären da noch unsere Magenta-Sozialisten. Ihr Antrag konnte immerhin zeigen, dass die Bundesregierung weder Ahnung von Bildung noch von Digitalisierung hat. Die Sau, die Sie hier allerdings wieder durchs Dorf treiben, heißt „Digitalisierung first, Bedenken second“. Sie betreiben die Digitalisierung um der Digitalisierung willen. Sie machen in Ihrem Antrag aber einen schweren Fehler: Sie wollen nämlich rennen, bevor Sie überhaupt laufen können.
Was meine ich damit? Immer wieder lesen und hören wir, dass Schulen, Universitäten und Ausbildungsbetriebe digitale Kompetenzen vermitteln müssen. Aber was Sie alle in Ihrem Digitalisierungswahn vollkommen übersehen, sind die Bedürfnisse und Kenntnisse unserer Schüler. Wir haben letzte Woche gehört, dass Schüler sich über eine allzu schwierig empfundene Mathe-Abiturprüfung beschwert und deswegen eine Onlinepetition gestartet haben.
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– Ja, digitale Kompetenz. – Traurig ist, dass in dieser Onlinepetition gegen die angeblich zu schwere Abiturprüfung massenweise Rechtschreibfehler enthalten waren. Einige Tage später wandte sich dann die Deutsche Mathematiker-Vereinigung mit einem Forderungskatalog an die Politik. Wesentlicher Inhalt: Der Mathematikunterricht an deutschen Schulen befähigt nicht mehr zum Studium in einem MINT-Fach oder in den Wirtschaftswissenschaften.
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Merken Sie da was? Auf der einen Seite haben wir überforderte Abiturienten, auf der anderen Seite Studienanfänger, die für die Uni nicht mehr fit sind.
Vorgestern schlug dann noch die Stiftung Handschrift Alarm, dass Kinder nicht mehr richtig schreiben können. 51 Prozent der Jungen und 31 Prozent der Mädchen haben Probleme mit der Handschrift. Zwei Drittel der Schüler bekommen nach 10 bis 15 Minuten sogar einen Schreibkrampf.
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Und dann haben wir die Ausbildungsbetriebe, die seit langem beklagen, dass Lehrlinge weder richtig rechnen können noch fehlerfrei die deutsche Rechtschreibung beherrschen. Werte Kollegen, in Ihren Anträgen lese ich von diesen Problemen rein gar nichts.
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Ja, die Digitalisierung hat Potenzial. Aber, liebe FDP, ich habe hier meine Bedenken. Fakt ist doch: Bevor wir über digitale Kompetenzen reden, sollten wir erst einmal über den sicheren Erwerb von Grundkompetenzen reden.
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Wenn unsere Schüler nicht fehlerfrei rechnen und schreiben können, was wollen sie dann mit Tablets, digitalen Lernmitteln und Plattformen?
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Wir sind in Deutschland lange Zeit dem Humboldt’schen Bildungsideal gefolgt.
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Aus unseren Kindern sollen mündige und aufgeklärte Menschen werden. Durch den Gebrauch der Vernunft sollen sie lernen, eigenständig zu denken und unabhängig zu werden. Und am Ende sollen sie selbstbestimmt und frei über ihren Lebensweg entscheiden können.
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Humboldt war überzeugt, dass die Schule dem Menschen das Rüstzeug hierfür mitgeben muss; aber das machen wir in letzter Zeit immer weniger. Ich befürchte, dass wir mit einer allzu stark betriebenen Digitalisierung blind unsere alten erfolgreichen Bildungsideale über Bord werfen. Wir konzentrieren uns zu sehr auf Tablets und Apps. Am Ende landen wir in einer Gesellschaft, wo das Smartphone smarter ist als der Benutzer.
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Ja, die Digitalisierung findet statt, und das ist auch gut so. Aber wir haben hier Bedenken. Lassen Sie uns zunächst einmal den ersten Digitalpakt mit Leben füllen, bevor wir unter dem Deckmantel der Digitalisierung unser restliches Bildungssystem gänzlich in Schutt und Asche legen. Unsere Kinder sind keine x-beliebigen Experimentiermasse. Bedenken und Vorsicht sind hier durchaus angebracht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Marja-Liisa Völlers.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne, seien auch Sie ganz herzlich gegrüßt! Als ich das letzte Mal hier an diesem Rednerpult zum Digitalpakt gesprochen habe, waren die Umstände deutlich unerfreulicher als heute. Wir hatten mit den Folgen des langjährigen Schäuble-Wanka-Stillstands zu kämpfen.
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Viele Jahre sind deswegen unnötig verstrichen.
Heute ist das anders. Heute liegt diese langjährige Blockade endlich hinter uns. Heute steht fest: Der beharrliche Druck der SPD hat sich gelohnt.
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– Ach, nein.
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Das Kooperationsverbot ist abgeschafft; der DigitalPakt Schule kommt. Mit der heutigen Unterschrift unserer Bundesbildungsministerin tritt er morgen in Kraft; das dürfte auch die Kollegen der Union erfreuen.
Wir, der Bund, können endlich dabei helfen, Kinder und Jugendlich noch besser auf das Leben in der digitalen Welt vorzubereiten. 5 Milliarden Euro werden wir dafür in den DigitalPakt investieren. Die Länder beteiligen sich zusätzlich mit mindestens einer weiteren halben Milliarde Euro. Wir machen das Lernen leichter verständlich und moderner, und zwar gemeinsam, im Schulterschluss von Bund, Ländern und Kommunen.
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Das ist ein starkes Signal für unsere Schülerinnen und Schüler und natürlich auch für unsere Lehrkräfte in Deutschland.
Danken möchte ich an dieser Stelle vor allem unserem SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Er war es, der mit seiner Anschubfinanzierung in Höhe von über 720 Millionen Euro den DigitalPakt überhaupt erst wieder ins Rollen gebracht hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, jetzt kann man sich natürlich hinstellen und sagen: Die 5,5 Milliarden reichen hinten und vorne nicht,
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der Zeitraum ist viel zu kurz, und irgendwie ist eh alles doof. Wir brauchen einen Digitalpakt 2.0.
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Oder aber man hat folgende Haltung, die hier viele andere haben: Wir packen es jetzt zusammen erst mal an und sorgen dafür, dass das Geld, das wir bereitgestellt haben, erfolgreich bei den Schulen ankommt. Wie wäre es denn damit?
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Kleiner Hinweis in Sachen Föderalismus: Es ist wahrlich nicht die Aufgabe des Bundes, unsere Landeslehrkräfte mit dienstlichen E-Mail-Adressen auszustatten.
Sehr geehrte Damen und Herren, im März dieses Jahres war ich mit dem Bildungsausschuss auf Delegationsreise in Estland. Das Land gilt, wie Sie alle wissen, als Vorreiter in der Digitalisierung. Ich möchte gerne von zwei Eindrücken bzw. Erfahrungen berichten.
Die erste Erfahrung habe ich in einer estnischen Schule gemacht. Dort haben wir über die Arbeit von sogenannten Bildungstechnologen gesprochen. Sie halten die Technik am Laufen und unterstützen die Lehrkräfte dabei, diese Technik auch sinnvoll einzusetzen. Ich muss sagen: Ich bin ein Fan dieses Konzepts. Als Lehrerin weiß ich aus eigener Erfahrung, dass Lehrkräfte sich an dieser Stelle häufig ein bisschen alleingelassen fühlen.
Es ist wirklich schade, dass die FDP-Fraktion ihre Teilnahme an dieser Bi ldungsfahrt kurzfristig abgesagt hat;
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denn wenn ich Ihren Antrag richtig interpretiere, denken Sie in eine ganz ähnliche Richtung, auch wenn Sie natürlich nicht von Bildungstechnologen sprechen, sondern auf Neudeutsch bzw. FDP-Deutsch von „EdTech Coaches“. Über ein solches Konzept können wir uns gerne mit den Ländervertretern in den nächsten Wochen und Monaten intensiv austauschen, aber einen zweiten Digitalpakt braucht es deswegen jetzt garantiert nicht.
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Die zweite Erfahrung der Reise habe ich fernab der Schule gemacht, genauer gesagt während einer zweistündigen Busfahrt durch das ländliche Estland. Dabei konnte ich mir nämlich ohne Probleme ein ganzes Musikalbum auf mein Handy herunterladen. So ohne Weiteres kriege ich das in meiner Heimat leider nicht hin. Manchmal klappt es noch nicht einmal mit einem Telefonanruf. Was ich damit sagen will, ist: Die neueste Technik nützt unseren Schulen doch nur dann etwas, wenn sie auch schnelles Internet haben.
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Dass es hier aktuell Handlungsbedarf gibt, zeigt eine aktuelle repräsentative forsa-Umfrage. Ihr zufolge verfügt nur etwa ein Drittel der Schulen in Deutschland über einen leistungsfähigen Internetanschluss. Ich finde, hier sollte das CSU-geführte Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur dringend mal eine Schippe drauflegen.
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Sehr geehrte Damen und Herren, der DigitalPakt Schule kann und muss der Anfang der Erfolgsgeschichte eines neuen kooperativen Bildungsföderalismus werden – da sind wir uns doch in diesem Hause fast alle einig –;
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aber damit das gelingt – ich komme zu meinem wesentlichen Punkt –, müssen wir das auch gemeinsam vorantreiben.
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Gerade erarbeiten die Bundesländer ihre Antragsverfahren, also die Bedingungen zum Abruf der Gelder. Zum nächsten Schuljahr werden voraussichtlich die ersten Mittel fließen können. Jetzt gilt es, mitzuhelfen, dass diese Mittel auch zügig und problemlos in unseren Schulen ankommen.
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Deshalb: Gehen wir in unsere heimischen Landkreise, informieren wir Lehrkräfte, Schulleitungen und Kommunen über diese neuen Möglichkeiten, und werben wir für eine Teilnahme, und zwar positiv! Dieser erste DigitalPakt hat so viel Potenzial. Nutzen wir es! Nutzen wir es gemeinsam!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Birke Bull-Bischoff für die Fraktion Die Linke.
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Meine Damen und Herren! Computer, Laptops und Smartphones gehören zum Alltag von jungen Menschen. Allein deshalb müssen wir alles dafür tun, damit sie mit und über diese Dinge lernen können. Wir müssen alles dafür tun, damit sie lernen, sie als Weltentdeckungsassistenten zu nutzen, hinter die digitalen Kulissen zu schauen und schließlich und endlich auch selbst zu gestalten. Lernen in digitaler Welt, kollaborativ, vernetzt und sicher – das muss die Prämisse sein.
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Wie sieht es an den allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen aus? In viel zu vielen Schulen fehlt es nach wie vor an digitaler Infrastruktur. Die GEW hat ihre Lehrkräfte gefragt und erfahren, dass 54 Prozent von ihnen sagen: Das muss dringend verbessert werden. – Wenn Sie in eine Schule kommen und dort das Gespräch suchen, dann merken Sie sehr schnell, dass sich die Debatte auf technische Parameter reduziert und dass motivierte Lehrkräfte ausgehungert sind und in aller Regel die Basics nicht zur Verfügung haben. Wir, ein Bildungsland, sind an dieser Stelle Entwicklungsland, und das, meine Damen und Herren, ist ein unhaltbarer Zustand.
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Die vorhandenen Mittel reichen nicht aus. Diese Befunde waren allen bereits bei der Verabschiedung des DigitalPakts Schule bekannt. Wenn wir noch mal so lange wie von der Idee der damaligen Bundesministerin Schavan
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bis zur Umsetzung des Digitalpakts brauchen, um etwas zu erreichen, dann ist es höchste Zeit, über die Zukunft zu reden.
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Auch wenn es schwerfällt, muss man hier sagen: Die FDP hat an dieser Stelle recht. Wir müssen mehr investieren, vor allem müssen wir dauerhaft investieren.
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Wir brauchen aber nach unserer Auffassung keinen Digitalpakt 2.0; denn das würde wiederum signalisieren, man müsste etwa den Ausbau des Internets an Schulen nur vorübergehend schultern. Wir brauchen hier aber eine dauerhafte und angemessene Förderung des Bundes. Das wäre im Übrigen eine gute Idee für die Föderalismusreform III, die heute früh eine Rolle gespielt hat, und ein Grund mehr für eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung.
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Meine Damen und Herren, Bildung in digitaler Gesellschaft hat aber nicht nur mit Geld zu tun. Auch und gerade in digitaler Gesellschaft geht es immer noch um Bildung an sich. Bildung hat viel mit Unabhängigkeit und mit Selbstbestimmung zu tun. Deshalb sind uns die Standards offener Bildung sehr viel wert. Das schließt Barrierefreiheit und die Sensibilität für Geschlechterfragen ein. Das schließt quellcodeoffene Bildungsmaterialien, Open Educational Resources, ein. Das klingt in dem Antrag der FDP ja auch an. Was öffentlich gefördert wird, muss öffentlich zugänglich bleiben.
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Es geht um eine Kultur des Tauschens und Teilens und eher nicht um eine Kultur des Kaufens, und – nicht zuletzt – geht es um Datenschutz.
Was wir nicht brauchen, sind sogenannte Lock-in-Effekte. Das heißt, dass große Internetunternehmen Soft- und Hardware finanzieren und sich so zukünftige Kundinnen und Kunden generieren und, wenn es ganz schlimm kommt, auch noch Einfluss auf die Schulbildung nehmen. Schulen landen auf diese Art und Weise in Abhängigkeit; denn eine Neuanschaffung oder Umorientierung wäre dann eben teurer als die Finanzierung von Updates. Schulen bilden keine Kunden, sondern Schulen bilden junge Menschen.
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Mit Digitalisierung darf selbstverständlich gern Geld verdient werden; aber Schulen dienen nicht den Interessen von Medienkonzernen, sondern der Entwicklung von jungen Menschen. Deshalb darf sich die öffentliche Hand hier keinen schlanken Fuß machen und die Tür für Lobbyismus und Abhängigkeiten öffnen. Nach einer GEW-Umfrage befürchtet dies jedoch mehr als die Hälfte der Lehrkräfte. Lassen Sie uns diese kritische und aufmerksame Sicht von Pädagoginnen und Pädagogen auf Bildung in digitaler Gesellschaft unterstützen!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Die von uns mitgetragene Grundgesetzänderung eröffnet der Bundesregierung die Möglichkeit, stärker in die Bildungsinfrastruktur zu investieren und aufgabenbezogen auch Personalkosten zu finanzieren. Eine Bildungsministerin, die endlich allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen und gute Lebensperspektiven ermöglichen will, hat dafür nun die Möglichkeit und müsste diese, so ihr dies wirklich ein Anliegen ist, umgehend nutzen. So die Theorie.
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Doch alle Theorie ist grau und in diesem Fall sogar schwarz. Was geschieht in der Praxis? Nichts. Der DigitalPakt ist zwar endlich auf dem Weg – lange genug hat es ja gedauert –, damit scheint sich die Ministerin aber jetzt zufriedenzugeben. Aber, Frau Karlicze k, damit ist es nicht getan, noch lange nicht.
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Selbst bei dieser ersten kleinen Maßnahme werden die Chancen der mühsam verhandelten Grundgesetzänderung vertan. Sie werden nicht genutzt. Anstatt die Kosten für IT-Fachpersonal an den Schulen für den Projektzeitraum zu übernehmen und damit eine wesentliche Hürde für den Einsatz digitaler Medien zu beseitigen, hat sich der Bund auf seine alte Position der Verantwortungsverweigerung zurückgezogen. Was aber noch schwerer wiegt: Ein Folgeprojekt für einen modernen Bildungsföderalismus ist nicht in Sicht. Das Finanzministerium hat in einem eigenen Papier explizit auf die neuen Möglichkeiten der Kooperation von Bund und Ländern hingewiesen. Aber auch dieser Ruf ist ungehört verhallt.
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Die Frage ist: Ist es Unwille, Unvermögen oder schlicht die Erkenntnis, dass diese Aufgabe über kurz oder lang von jemand anderem gestemmt werden muss? Was davon ist es? Die Spekulation ist müßig. Im Hinblick auf die betroffenen Kinder und Eltern ist es schlicht verantwortungslos, die notwendigen Schritte hin zu mehr Chancengerechtigkeit zu verweigern.
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Die Zeiten, da sich die Bundesregierung hinter dem Kooperationsverbot verstecken konnte, um die Übernahme des notwendigen und solidarischen Anteils an den Bildungsausgaben zu verweigern, sind mit der von uns mitgetragenen Grundgesetzänderung endgültig vorbei. Es darf nicht dabei bleiben, dass diese Regierung bei den Bildungsausgaben kürzt und Deutschland noch weiter hinter der eigenen Zielvorgabe, nämlich 7 Prozent des BIP für Bildung auszugeben, zurückbleibt. Der Ausbau von Ganztagsschulen, die Förderung von Schulen in benachteiligten Quartieren und Regionen und die Gewinnung von Fachkräften im Bildungsbereich dürfen nicht auf die lange Bank geschoben werden.
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Ein inklusives und durchlässiges Bildungssystem stärkt den sozialen Zusammenhalt und ist damit bestes Mittel gegen nationalistischen Populismus und rassistische Ausgrenzung.
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Davon profitiert jedes Kind, aber ganz besonders auch die Gesellschaft. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, umgehend dort zu handeln, wo die Not am größten ist. Schulen in schwierigen sozialen Lagen und mit benachteiligter Schülerschaft sollen gezielt unterstützt werden. Sie brauchen eine moderne und lernfördernde Infrastruktur, mehr und gut ausgebildete Lehrkräfte und ein Team von Fachkräften, das sich in einem ganzheitlichen Ansatz um sozial benachteiligte Kinder und deren Familien kümmert.
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Gute Ganztagsbetreuung schafft räumlich und zeitlich Möglichkeiten für gemeinsames, entdeckendes Lernen und für offene soziale Strukturen. Wir wollen im Gegensatz zu dieser Regierung dort, wo die Not am größten ist, nicht nur zuschauen, sprich: evaluieren, sondern gemeinsam mit den Ländern handeln. Das ist der Kern unseres Antrags. Es ist höchste Zeit.
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Das Wort hat die Kollegin Katrin Staffler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Als ich noch in die Schule gegangen bin, war es in gewisser Weise unvorstellbar, dass es neben Kreide, Tafel und Tageslichtprojektor noch etwas anderes geben könnte. Das Highlight für uns Schüler war es schon, wenn der Kassettenrekorder mal aus dem Schrank raus durfte. Und wenn es darum gegangen ist, ein Video zu zeigen, haben wir oft den Raum wechseln müssen, weil nicht in jedem ein Fernseher war.
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Das klingt jetzt ein bisschen so, als wäre es komplett aus der Zeit gefallen. Das klingt so, als wäre es unglaublich lange her. Ist es nicht. Es sind noch nicht einmal 20 Jahre. Als ich zum ersten Mal ein Smartphone in der Hand hatte, da war ich schon erwachsen.
Wenn wir uns unsere Kinder heute anschauen, dann muss man sagen: Die nutzen jeden einzelnen Tag wie selbstverständlich Tablets und Smartphones. Natürlich haben diese Entwicklungen auch Auswirkungen darauf, wie Kinder heute lernen. Natürlich müssen sie auch Auswirkungen darauf haben, wie unsere Klassenzimmer heute und in Zukunft ausschauen. Deswegen dürfen wir als Politiker nicht müde werden, immer wieder zu betonen, wie wichtig digitale Bildung ist. Das wird ja von dem einen oder anderen hier negiert. Die Digitalisierung verändert nicht nur die Art und Weise, wie unsere Kinder lernen, sondern die Digitalisierung hat auch Auswirkungen auf die Vorbereitung unserer Lehrer auf ihre Aufgabe. Die Aus- und Fortbildung unserer Lehrkräfte im Umgang mit diesen neuen digitalen Medien muss deshalb in der ganzen Diskussion, die wir um digitale Bildung führen, immer mitgedacht werden.
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Ich komme damit eigentlich schon zum gemeinsamen Nenner, der alle Anträge, die die Opposition vorgelegt hat, verbindet, nämlich der Frage: Wie können wir unsere Lehrkräfte bei der digitalen Bildung unterstützen? Bei der Beantwortung dieser Frage drängt sich ein Programm förmlich auf, nämlich die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, ein Programm, das 2013 gemeinsam von Bund und Ländern für insgesamt zehn Jahre mit einem klaren Ziel beschlossen worden ist: dem Ziel, die Lehrerbildung im Ganzen zu stärken und auf die zentralen Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. An der Stelle, meine Damen und Herren, kann man meines Erachtens durchaus auch mal sagen: Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung ist ja nicht nur vom Willen zur Kooperation geprägt – das wird ja immer wieder gefordert –, sondern das Programm ist auch ein voller Erfolg.
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All die Projekte, die bisher gefördert worden sind, sind auf Basis einer Zwischenevaluierung für die Anschlussförderung empfohlen worden. Dass die erste Projektphase so erfolgreich war, zeigt uns ja im Endeffekt auch, dass wir uns an der Stelle auf dem richtigen Weg befinden. Für die zweite Förderphase können wir deswegen aus meiner Sicht nur sagen: Weiter so. – Natürlich können wir immer noch besser werden. In dem Fall heißt besser werden vor allem, dass wir die Lehrerausbildung noch viel stärker, als wir das bisher getan haben, auf die Digitalisierung ausrichten und die Digitalisierung noch viel stärker in den Blick nehmen. Die Anträge der Opposition sprechen das auch richtigerweise an. Deswegen stimme ich den Kolleginnen und Kollegen in gewisser Weise zu, wenn sie sagen: Da muss noch mehr passieren. – Nur: Was soll ich sagen? Hierfür hätten wir die Anträge nicht gebraucht. Schon letztes Jahr hat die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz den Startschuss für eine zusätzliche Förderung der Qualitätsoffensive Lehrerbildung gegeben. Der Schwerpunkt dabei ist Digitalisierung.
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Das umfasst geeignete Maßnahmen. Dazu gehören E-Learning, Medienkompetenz, Entwicklung von innovativen und neuen Lernprozessen. Damit reagiert der Bund gemeinsam mit den Ländern auf das, was die Digitalisierung in unserem täglichen Leben mit sich bringt. Die Lehrkräfte von morgen lernen nicht nur, wie sie mit den neuen Medien umgehen und wie sie diese gewinnbringend einsetzen, sondern sie erfahren auch einen kritisch-reflexiven Umgang mit diesen Medien, den sie später dann im Unterricht an die Schülerinnen und Schüler weitergeben können.
Ich möchte an der Stelle einfach mal an einem Beispiel aufzeigen, was ich gerade beschrieben habe, nämlich wie die ausgebildeten Lehrkräfte das, was sie an den Unis gelernt haben, später mit in die Schule, in den Unterricht nehmen. An der TU München wird ein Projekt gefördert, das sich Teach@TUM nennt. Dort erhalten die Lehramtsstudierenden wichtige Einblicke. Das können sie später im Beruf nutzen. Ich freue mich deshalb sehr, dass das tolle Projekt s owohl in der ersten als auch in der zweiten Runde ausgewählt worden ist, und ich glaube, dass dieses Projekt ein gutes Vorbild ist, wie ähnliche Dinge an deutschen Hochschulen zukünftig noch besser umgesetzt werden können.
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Im Übrigen erinnere ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, an der Stelle sehr gerne daran, dass die Erweiterung der Qualitätsoffensive Lehrerbildung um genau diesen Schwerpunkt Digitalisierung ein ganz zentrales Vorhaben in unserem Koalitionsvertrag war. Ich würde sagen: Haken dahinter, Vorhaben umgesetzt. Da haben wir was Gutes auf den Weg gebracht.
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Natürlich werden wir es dabei nicht belassen. Die Digitalisierung schreitet unaufhörlich voran. Wir sind es den nächsten Generationen schuldig, dass wir mit der Entwicklung, die wir da sehen, Schritt halten, vor allem im Hinblick auf die Schulen. Dabei dürfen wir diejenigen, die schon heute an den Schulen tätig sind, genauso wenig vergessen wie die, die wir gerade erst ausbilden. Auch die müssen wir durch geeignete Fortbildungen mit ins Boot holen und fit für das digitale Zeitalter machen. Nur – das sei an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich gesagt – sind hier vor allem die Länder in der Pflicht, weil grundsätzlich – die Kollegin Ronja Kemmer hat es schon angesprochen – die Länder für die Finanzierung und die Aus- und Fortbildung des Lehrpersonals zuständig sind. Daran ändert auch die beschlossene Verfassungsänderung rein gar nichts.
Deswegen freue ich mich, wenn wir gemeinsam daran arbeiten werden, dass wir unsere Lehrerinnen und Lehrer auf die Digitalisierung, also eine der größten Herausforderungen, vor der unsere Gesellschaft in der heutigen Zeit steht, bestmöglich vorbereiten. Es freut mich, wenn wir das gemeinsam tun.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Kamann.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir reden gerade über den Rohstoff der nächsten 30 Jahre. Wir sollten nicht über den Digitalpakt 2.0 reden, sondern, wie bei Industrie 4.0, über den Digitalpakt 4.0. Der Antrag der FDP enthält viele grundsätzlich gute Sachen, aber die FDP macht den gleichen Fehler, den die Politik immer wieder macht: Sie betrachtet nicht das Ganze. Modul um Modul wird analysiert, es wird gemacht, getan, wir reden über Infrastruktur, wir reden über Internet, aber die Gesamtheit, das gesamte Picture schauen wir uns nicht an, und zum Schluss bleibt ein digitaler Flickenteppich über.
Die Konzentration auf das Ganze ist das Wichtige an der Strategie. Wo wollen wir eigentlich in fünf Jahren mit unserer Digitalpolitik sein? Wo sollen denn unsere jungen Leute in fünf Jahren bleiben? Wo wollen wir im internationalen Vergleich mit anderen Ländern stehen? Was ist denn unser Ziel? Ich habe das nirgendwo gefunden. Daraus leiten sich alle Handlungsoptionen und Maßnahmen am Ende des Tages ab. Welche Architektur habe ich? Soll ich die Schule vernetzen? Will ich ganze Städte oder das Land oder Regionen vernetzen? Nirgendwo finde ich irgendetwas. Welche Anforderungen habe ich an Applikationen? Was ist mein Ziel mit diesen Applikationen? Gibt es möglicherweise einen Transfer von Innovationen, von einer Applikation zur anderen? Nichts ist tatsächlich da.
Zum Schluss. Das Betriebskonzept fehlt vollkommen. Es hilft leider nicht, nur für einen IT-Administrator zu sorgen. Es muss viel mehr sein. Es hilft auch nicht, wenn ich sage: Da kommt ein Server hin. Ich muss das ganzheitlich betrachten, sonst wird es am Ende des Tages nicht funktionieren. Nur mit Geld umherzuwerfen, hilft nicht. Da haben wir dreimal so hohe Kosten für einen tatsächlichen Nutzen von nur 50 Prozent.
Trotzdem möchte ich sagen: Der Antrag der FDP ist aus meiner Sicht zu unterstützen, auch wenn der ganzheitliche Ansatz und der rote Faden am Ende des Tages fehlen, weil er gegenüber dem Antrag der Grünen und dem Antrag der Linken massiv hohen Tiefgang hat.
Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Saskia Esken das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich 2013 ganz frisch im Bundestag die Berichterstattung für digitale Bildung übernommen habe, wusste mit diesen Begriffen noch kaum jemand etwas anzufangen, außer natürlich einer eingeschworenen Gemeinschaft digitalaffiner Lehrkräfte im Twitterlehrerzimmer. Seither sind wir wesentlich weitergekommen. Das freut mich ungemein. Nicht zuletzt waren es unser parlamentarischer Antrag im Jahr 2015 – danke noch einmal an den Kollegen Sven Volmering, der leider nicht mehr hier in unseren Reihen sitzt – und auch die beharrliche Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit einer Community, die die KMK dazu bewogen haben, Handlungsempfehlungen für eine solche Bildungswelt zu erarbeiten. Dann kam die Ankündigung der damaligen Bildungsministerin Wanka eines DigitalPakts in der „BamS“. Jetzt haben wir den DigitalPakt, und zwar mit Brief und Siegel. Das ist großartig. Das ist ein Anlass zur Freude, zum Durchatmen, aber bitte nicht zu lang.
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Wir leben in einer Welt, die niemals stehen bleibt, in der digitale Medien, die Methode digitalen Lernens und Arbeitens immer selbstverständlicher werden. Die Schule muss dazu ermutigen und befähigen. Insofern bin ich der Opposition dankbar, als sie den DigitalPakt weiterdenkt und weiterentwickelt. Das steht heute nicht an, aber es muss weitergehen, ganz klar. Auch ich bin überzeugt: Der DigitalPakt muss dauerhaft finanziert werden. Das ist eine dauerhafte Aufgabe.
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Auch andere Bildungsbereiche müssen irgendwann dazukommen. Den technischen Support können wir den Lehrkräften nicht weiterhin überlassen. Sie sind überfordert. Bei Datenschutz und Datensicherheit haben wir noch Handlungsbedarf, auch wenn, liebe Frau Kollegin Suding, der Fuß nicht im Gefängnis steht. Bußgelder ja, aber Gefängnis nicht.
Nicht zuletzt sollten wir Open Educational Resources unbedingt stärker fördern. Dazu gab es aufgrund unserer Initiative einen kleinen, aber feinen Haushaltstitel im Haushalt des BMBF. Es würde mich riesig freuen, wenn wir damit endlich weiterkommen.
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Was wir aber nicht aus dem Auge verlieren sollten, ist: Der digitale Wandel ist viel mehr kultureller als technologischer Art. Den Wandel der Lernkultur können wir aber nicht von oben verordnen, auch nicht mit Geld initiieren. Die Investitionen in Technik werden nur dann etwas verändern, wenn wir Lehrenden und Lernenden vor Ort die nötige Unterstützung, aber auch den nötigen Freiraum geben, um ihre eigene zeitgemäße Lehr- und Lernkultur zu entwickeln.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10160, 19/10151 und 19/10200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! In Deutschland g ibt es viele stille Heldinnen und Helden, die sich abseits der Öffentlichkeit ehrenamtlich oder nur gegen eine geringe Entschädigung für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger engagieren. Und ganz sicher gehören in Deutschland die Betreuerinnen und Betreuer zu dieser Gruppe, also Menschen, die anderen Menschen helfen, weil diese nicht mehr für sich selber sorgen können. Und für genau diese Gruppe wollen wir mit diesem Gesetz Verbesserungen schaffen. Diese Betreuerinnen und Betreuer müssen wir stärken. Deswegen lassen Sie uns heute den Schritt zu einer höheren Vergütung für die Betreuer und Betreuungsvereine gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es gibt in Deutschland über 1,2 Millionen betreute Menschen, um die sich 700 000 ehrenamtliche Betreuer und 12 000 Berufsbetreuer kümmern. In den etwa 830 Betreuungsvereinen werden ehrenamtliche Betreuer ausgebildet. Dieses wertvolle Betreuungssystem sollten wir erhalten. Der Weg dazu sind höhere Vergütungen für die Betreuerinnen und Betreuer.
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Die Lage hat sich in den letzten Jahren zugespitzt. Es fehlen Betreuer. Die ersten Betreuungsvereine mussten sich auflösen oder stehen kurz davor, weil die heute noch zu niedrige Betreuervergütung die Kosten nicht mehr deckt. Genau das müssen wir ändern. Wenn seit 13 Jahren – vor 13 Jahren war die letzte Erhöhung – die ohnehin schon nicht hohe Vergütung der Betreuer gleich geblieben ist, dann ist es überfällig, dass wir hier etwas tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir als Bundesgesetzgeber werden heute unser Soll für die Vergütungserhöhung leisten, indem wir das parlamentarische Verfahren abschließen. In der letzten Wahlperiode ist die Erhöhung der Betreuungsvergütung leider noch an den Ländern gescheitert. Aber, ehrlich gesagt, so hoch ist diese Erhöhung gar nicht. So erhält zum Beispiel ein Vormund ohne besondere Kenntnisse statt bisher 19,50 Euro pro Stunde jetzt 23 Euro pro Stunde. Da kann man sich die Frage stellen, ob wir nicht noch einen Schritt hätten weiter gehen müssen.
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Viele Sachverständige haben in der Anhörung gesagt, das sei nur ein erster Schritt. Da stimmen wir zu. Es ist ein wichtiger Schritt, aber wir wollen auf lange Sicht eine noch bessere, noch höhere Vergütung.
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Eine grundlegende Änderung gibt es für Betreuer, bei denen wir Fallpauschalen einführen. Das ist bei der Systematik die aus meiner Sicht wichtigste Neuerung. Damit kann die Vergütung dann individuell nach der jeweiligen Fallkonstellation berechnet werden.
Insgesamt erhöhen wir die Betreuervergütung um immerhin 17 Prozent. Das ist dringend notwendig und auch sinnvoll; denn wir wollen, dass die Menschen, die nicht mehr geschäftsfähig sind, die sich nicht mehr um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern können, in Würde betreut werden. Dann muss sich ein Betreuer oder eine Betreuerin eben ausreichend Zeit für eine Tasse Kaffee, für soziale Zuwendungen oder für ein längeres Gespräch nehmen können. Er oder sie soll eben nicht darauf angewiesen sein, schnell die Alltagsgeschäfte abzuhaken und schnell zum nächsten Termin zu eilen, um auch dafür eine Vergütung zu bekommen. Wir glauben also, dass wir mit dieser Vergütungserhöhung auch die Qualität der Betreuung verbessern, indem die Betreuerinnen und Betreuer mehr Zeit für ihre wichtige Aufgabe bekommen.
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Der vorliegende Gesetzentwurf wurde vom Bundesjustizministerium in enger Zusammenarbeit mit den Ländern erarbeitet. Ein herzliches Dankeschön für diese Tätigkeit an das Ministerium und auch an Katarina Barley, die sich in dieser Frage sehr engagiert hat! Dafür wollen wir ausdrücklich danken. – In den Gesprächen mit den Ländern waren die finanziellen Auswirkungen, die von den Ländern in der letzten Wahlperiode noch als zu hoch eingeschätzt wurden, natürlich Thema. Insofern waren wir ein bisschen über die doch deutliche Kritik der Länder in ihrer Stellungnahme überrascht. Ein gutes Zeichen ist es allerdings, dass der Bundesrat jetzt bald dem Gesetz zustimmen will und es keine Anzeichen für eine Anrufung des Vermittlungsausschusses gibt. Es wäre gut, wenn der Bundesrat dem Gesetz noch vor der Sommerpause zustimmen würde, damit die dringend notwendige Erhöhung kommen kann.
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Meine Damen und Herren, dieses Gesetz stellt einen guten Kompromiss dar, der die finanziellen Interessen der Länder berücksichtigt und der vor allem den betroffenen Betreuerinnen und Betreuern und auch den Betreuungsvereinen eine ganz große finanzielle Unterstützung zukommen lässt und damit die Zukunft der Betreuung in Deutschland sichert.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will es gleich vorwegnehmen: Die AfD wird dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen, auch wenn dies nicht leichtfällt. Wir werden nämlich nur deshalb zustimmen, weil die Betreuerinnen und Betreuer nicht noch länger auf eine Erhöhung ihrer Vergütung warten sollen, weil dies nach 14 Jahren Stillstand einfach unzumutbar erscheint.
Die jetzt vorgesehene gesetzliche Lösung, so muss man nüchtern feststellen, ist trotz ihrer Mängel und Unzulänglichkeiten immer noch besser als gar keine Lösung. Man kann nur für die Betreuerinnen und Betreuer hoffen, dass der Bundesrat dies genauso sieht. In der letzten Legislaturperiode ist der Gesetzentwurf nämlich an den Ländern gescheitert, und zwar im Bundesrat, wo er mit 16 : 0 Stimmen abgelehnt wurde. Es wird abzuwarten sein, wie sich die Dinge jetzt entwickeln. Die Bundesregierung versuchte in der gestrigen Ausschusssitzung, Optimismus zu verbreiten – wir werden sehen.
In der Anhörung der Sachverständigen zum Gesetzentwurf wurde überwiegend die Auffassung vertreten, dass die nun gewählte Vergütungsstruktur mit Fallpauschalen in den meisten Fällen nicht dazu führen wird, dass die intendierte Erhöhung um 17 Prozent erreicht wird, sondern darunter bleibt. Bei einer weiteren Verzögerung im Gesetzgebungsverfahren käme noch weniger dabei heraus. Deshalb ist schon Eile geboten, wenn die Erhöhung überhaupt noch spürbar sein soll.
Im Rahmen der Anhörung, aber auch in der gestrigen Ausschusssitzung wurde eines deutlich: Bei einer Anpassung der Vergütung kann man es nicht bewenden lassen. Was wir dringend brauchen, ist eine Reform, die sich nicht nur auf die Vergütungsregelungen beschränken kann, sondern das gesamte Berufsbild eines Betreuers betrifft.
In Deutschland kann jeder, der will, Berufsbetreuer werden, ohne dass er eine Qualifikation nachweisen muss, und das, obwohl mehr als 1,3 Millionen Menschen in Deutschland laut Bundesverband der Berufsbetreuer rechtlich betreut werden, davon etwa ein Drittel von gesetzlich bestellten Berufsbetreuern. Diese Betreuer müssen, anders als in den Bundesstaaten der USA, in Japan oder Frankreich, keine spezielle Ausbildung und kein spezielles Studium nachweisen. Die Pflegeethik Initiative Deutschland e. V. stellt dazu fest: Berufsbetreuer kann jeder erwachsene Bundesbürger werden, der vor Gericht einen vertrauenserweckenden Eindruck macht, sich als ehrenamtlicher Betreuer bewährt hat und keine Vorstrafen aufweist.
Jetzt vergleichen Sie das einmal mit einer Person, die in der Altenpflege tätig ist. Um diesen Beruf ausüben zu dürfen, muss sie eine umfassende Ausbildung durchlaufen. Die Altenpflegerin muss Früh-, Spät- oder Nachtdienste schieben und kann sich freuen, wenn sie im Angestelltenverhältnis über ein Jahresbru tto von 30 000 Euro verfügt. Bei 40 Betreuungen, die freiberuflich tätige Berufsbetreuer im Schnitt führen, kommen diese nach der neuen Vergütungsregelung, Gruppe B, auf Jahreseinkünfte von rund 88 000 Euro. Ob man das jetzt für in Ordnung hält oder nicht, sei dahingestellt. Das ist aber fast das Dreifache dessen, was eine Pflegefachkraft verdient. Das, sage ich, ist nicht nur nicht in Ordnung; es ist ein Skandal, wie im Vergleich hierzu unsere Pflegefachkräfte bezahlt werden. Auch das muss dringend geändert werden.
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Dadurch, dass Berufsbetreuer über keine besonderen Qualifikationen verfügen müssen, ist momentan jede Pflegefachkraft gut beraten, wenn sie von der Pflege hin zur Berufsbetreuung umsattelt. Das kann gesamtgesellschaftlich nicht sinnvoll sein. Darum muss man bei der Anpassung von Vergütungsregelungen nicht nur die Berufsbetreuer, sondern auch die Pflegekräfte und deren Einkommen im Blick behalten. Hier geht die Schere weit auseinander. Das kann so nicht bleiben. Wir brauchen dringend eine Berufsordnung für Berufsbetreuer, um die Qualität der Betreuung abzusichern, wozu auch gehört, den Wechsel von der Pflege hin zur Berufsbetreuung nicht zu leicht zu machen.
Ein Berufsbetreuer ist dann ein guter Betreuer, wenn er sich um den Betreuten auch als Menschen wirklich kümmert. Dazu braucht er Zeit. Darum ist es auch erforderlich, die Anzahl der Betreuungen, die ein Betreuer übernimmt, im Blick zu behalten. In dem Fall des vom Landgericht Trier im Februar 2015 wegen Untreue in 137 Fällen verurteilten Berufsbetreuers hatte dieser vor seiner Verhaftung 98 Betreuungen übernommen. Wie kann so was sein? Warum fällt so was erst auf, wenn es zu spät ist? Hier muss dringend eine Limitierung eingeführt werden.
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Mehr als 40 Betreuungen sollte ein Betreuer nicht übernehmen dürfen. Auch dies ist zur Qualitätsabsicherung dringend erforderlich.
Noch mal zum Schluss: Ja, wir stimmen dem Gesetzentwurf zu, weil es im Moment das Vernünftigste ist, werden aber die Sache im Blick behalten und eigene Lösungskonzepte entwickeln.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Axel Müller das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige, kurz auch Betreuungsgesetz genannt, trat zum 1. Januar 1992 in Kraft. Ich kann mich noch gut an diese Zeit erinnern. Ich habe im Herbst 1992 meinen Dienst als Richter auf Probe für das Land Baden-Württemberg angetreten. Genau in diesem Zeitraum haben die erfahrenen Kollegen, die mit Betreuungssachen und Vormundschaftssachen befasst waren, darüber diskutiert und sinniert, ob denn nun das neue Gesetz mittel- und langfristig zu einem bedeutsamen Anstieg der Fallzahlen führen würde. Sicher konnte keiner von ihnen vorhersehen – und wir alle wussten das nicht –, dass sich einmal die Alterspyramide geradezu auf den Kopf stellen würde, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse so verändern würden, dass die Betreuung von Menschen, die einer Betreuung bedürfen, im familiären Umfeld so nicht mehr stattfinden kann.
Diese Entwicklung hat nun auch das Betreuungsrecht eingeholt, sodass heute die Hälfte der Menschen, die unter Betreuung stehen, von Dritten betreut werden muss. Die Zahlen belegen das: 1992 waren es gerade einmal 70 000 Betreuungsfälle. In den letzten Jahren kamen durchschnittlich pro Jahr circa 200 000 Fälle hinzu; die Zahl wurde mehrfach genannt. Gegenwärtig haben wir circa 1,3 Millionen Menschen, die je nach Einzelfall in unterschiedlichem Umfang Betreuung durch Dritte in Angelegenheiten des täglichen Lebens benötigen.
Da ist es nicht nur ganz normal, sondern geradezu notwendig, dass sich auch die Betreuer professionalisiert haben. Zumindest bei dem Betreuerwesen, das in den circa 800 Vereinen, die sich mit Betreuung befassen, stattfindet, kann man von einem professionellen Betreuerwesen sprechen. Aber auch die 12 000 Berufsbetreuer sind aus meiner Sicht ganz überwiegend durchaus professionell.
Nur eines hat mit dieser ganzen Entwicklung nie mitgehalten, und zwar die Vergütung. Das ist auch schon mehrfach hier genannt worden. Seit 2005 ist die Vergütung unverändert geblieben. Mittlerweile bringt das viele professionelle Betreuer, insbesondere die Betreuungsvereine, an den Rand ihrer wirtschaftlichen Existenz. Aber auch den freiberuflichen Berufsbetreuern geht es nicht besser; denn auch ihre Sachkosten sind gestiegen. Ihre Rechnung, Herr Maier, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Vielleicht haben Sie dabei unterschlagen, dass die Selbstständigen und Freiberufler ihre Beiträge selber entrichten müssen. Dass die Entwicklung negativ verlaufen ist, zeigt beispielsweise die Internetseite des Betreuungsvereins in meinem Wahlkreis. Wenn man sie öffnet, dann schlägt einem als Erstes ein Spendenaufruf entgegen. Das kann nicht der Ausweg für eine auskömmliche Finanzierung einer gesellschaftlich so wichtigen Aufgabe sein. Darüber besteht ja wohl Konsens.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Qualität hat ihren Preis. Insbesondere die von den Vereinen angestellten Betreuer, die beruflich sehr hohe Anforderungen erfüllen müssen, werden nach Tariflohn bezahlt. Das können die Vereine nicht mehr leisten. Allein die Tariflohnsteigerungen der letzten 13 Jahre haben zu erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen geführt. Daher begrüßen wir – das habe ich auch den bisherigen Beiträgen der anderen Redner entnommen – den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung. Er führt allerdings je nach Einzelfall bei neuen Fällen – das muss man der Einschränkung halber sagen – zu Steigerungen um bis zu 17 Prozent.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird hoffentlich die erforderliche Zustimmung der Länder erfahren; denn sie müssen letztendlich die Zeche zahlen. Dazu muss man aber sagen: Die Länder werden in den nächsten Jahren – so die gegenwärtige Steuerprognose – mit erhöhten Steuereinnahmen rechnen können, während der Bund eher mit Steuermindereinnahmen zu rechnen haben wird.
Genauso wichtig wie die Steigerungen bei den Vergütungen ist die Umstellung auf das Pauschalsatzsystem, das in den nächsten vier Jahren einer Evaluierung zugeführt werden muss. Die Sachverständigenanhörung hat allerdings ergeben, dass die Umstellung nicht unbedingt einem Paradigmenwechsel gleichkommt, weil es sich bei den Stundensätzen, aufgrund derer die Vergütungen errechnet wurden, eher um Pauschalsätze handelte. Die Umstellung auf das jetzige neue Vergütungssystem im Betreuerwesen ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Die Forderungen, die von den Interessenverbänden immer wieder an uns herangetragen wurden, man möge die Vergütung gleich dynamisieren, sind zwar verständlich, aber eine Dynamisierung wird nicht notwendig sein. Das zuständige Ministerium – ich habe es bereits ausgeführt – muss innerhalb einer gesetzlich festgelegten Frist bis zum Jahr 2024 einen entsprechenden Bericht vorlegen, und wir werden diesen dann prüfen. So kann in der nächsten Legislaturperiode, falls erforderlich, planmäßig eine Anpassung der Vergütungen erfolgen. Eine Verschiebung dieses Zeitraums, wie von den Ländern gefordert, hätte bedeutet, dass man erst in der übernächsten Legislaturperiode eine entsprechende Anpassung vornehmen kann. Nach den gemachten Erfahrungen mit dem gegenwärtigen System in den letzten 13 Jahren sollte das nicht passieren. Hinzu kommt, dass zum 1. Januar 2020 eine zweite Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft treten wird, deren Auswirkungen für das Betreuerwesen durchaus von Bedeutung sein können. Dies muss bei der Evaluierung in den nächsten vier Jahren Berücksichtigung finden, damit gegebenenfalls eine gebührenrechtliche Konsequenz daraus gezogen werden kann.
Anders als von den Ländern behauptet, stellt das Gesetz in seiner jetzigen Fassung keine haushaltsrechtliche Überraschung dar. Ich habe irgendwann ge lernt, dass eine Überraschung als unvorhersehbares Ereignis definiert wird. Wenn man bedenkt, dass die Diskussionen über die Anpassung schon seit 2017 laufen, dann kann man schon sagen, dass sich die Länder in ihren Haushaltsplanungen in gebührenrechtlicher Hinsicht ausreichend darauf einstellen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf, mit dem wir einen weiteren Punkt aus dem Koalitionsvertrag, den wir uns auf die Agenda gesetzt haben, nunmehr umsetzen, eine gute Sache. Er sollte unser aller Zustimmung finden.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ulla Ihnen für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2005 ist die Vergütung für Vormünder und Berufsbetreuer nicht erhöht worden. Die gerichtlich bestellten Betreuer rechnen bislang auf einer 14 Jahre alten Grundlage ab. Eine Anpassung in der letzten Wahlperiode ist gescheitert; das haben wir gehört. Daher begrüßen wir Freie Demokraten es ausdrücklich, dass es bei der Vergütung der Tausenden Berufsbetreuer in Deutschland endlich Fortschritte geben wird.
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Das ist nicht nur angesichts des Fachkräftemangels ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung der Arbeit der Berufsbetreuer, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Sicherung der Qualität der Betreuung. Aber als Abgeordnete müssen wir uns eben auch mit den Details des vorliegenden Gesetzentwurfs auseinandersetzen. Ich möchte auf drei Punkte eingehen, die wir für mangelhaft halten.
Erstens. § 4 des Regierungsentwurfes unterscheidet zwischen Betreuern mit besonderen Kenntnissen und jenen ohne Kenntnisse. Die Vergütung hängt also von beruflicher und akademischer Ausbildung ab. Bestehende Voraussetzung für die Betreuerbestellung ist die Prüfung des Gerichtes, ob der vorgeschlagene Betreuer geeignet ist, die ihm übertragenen Aufgaben wahrzunehmen. Falls ja, wird die Person als Betreuer bestellt. Doch egal, ob Studienabschluss oder Berufsausbildung: Es werden dieselben Aufgaben wahrgenommen. Im Ergebnis verstößt dies in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise gegen den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.
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Wenn Sie als Große Koalition und Bundesregierung so vorgehen wollen, müsste man überlegen, ob man nicht einen Ausbildungsberuf einführt. Nur dann wäre eine Differenzierung der Vergütung angebracht, so aber nicht.
Zweitens. Der Regierungsentwurf sieht ein System von sukzessiv absinkenden Fallpauschalen vor. Doch in der Realität sinkt der Betreuungsaufwand von Menschen nicht zwingend mit der Zeit. Viele von uns wissen aus dem persönlichen Umfeld, welche Herausforderungen zum Beispiel mit einer Demenz einhergehen. Die Aufgaben nehmen mit der Zeit zu und nicht ab. Wir Freie Demokraten halten deshalb ein generelles Absinken der Pauschalen für nicht sachgerecht.
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Drittens. Eine erneute Wartezeit von 14 Jahren bis zu einer Anpassung der Vergütung ist für die Berufsbetreuer einfach nicht zumutbar. Die lange Zeit, die jetzt vergangen ist, vor Augen wäre es doch naheliegend gewesen, zum Beispiel über eine regelmäßige Überprüfung oder gegebenenfalls sogar über eine Dynamisierung der Vergütung zugunsten der Betreuer und Vormünder nachzudenken. Man hätte auch alternativ zu den Fallpauschalen Rahmengebühren einführen können. Dann hätten Betreuer die Möglichkeit, nach Aufwand und Schwierigkeit abzurechnen und eine angemessene Vergütung zu erlangen. Solche Reformbemühungen gibt es aber nicht.
Unsere Berufsbetreuer machen einen großartigen Job. Mit großer Empathie und exzellenter Fachkenntnis unterstützen sie viele Menschen. Eine bessere Vergütung ist wirklich längst überfällig.
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Der Gesetzentwurf weist aus Sicht der Freien Demokraten so viele Mängel auf, dass den Berufsbetreuern keine verlässliche Grundlage für die Ausübung ihres Berufs in der Zukunft gegeben wird. Wir begrüßen ausdrücklich die Vergütungserhöhung, werden aber aufgrund der vielen dargestellten Mängel bei der Abstimmung mit Enthaltung votieren.
Danke schön.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun Friedrich Straetmanns das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur Beratung liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung der Betreuer- und Vormündervergütung vor, ein wirklich wichtiges Anliegen in einer älter werdenden Gesellschaft. Vorab eines: Wir als Linke werden dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Er ist zwar nicht wirklich überzeugend, wir wollen uns aber der Erhöhung der Vergütung nicht entgegenstellen, auch wenn wir sie für unzureichend halten. Uns ist die Qualität in der gesetzlichen Betreuung und ihre angemessene Vergütung ein wichtiges Anliegen. Wir kommen deshalb nicht umhin, unsere bestehenden Kritikpunkte noch einmal aufzuzeigen.
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In meiner ersten Rede zu diesem Thema habe ich bereits betont, dass gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer weiterhin ein selbstbestimmtes Leben der Betreuten ermöglichen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, den Willen der Betreuten hinreichend zur Kenntnis zu nehmen. Diese in rechtlicher und sozialer Hinsicht anspruchsvolle Tätigkeit braucht Zeit und muss entsprechend honoriert werden.
Im Einzelnen können wir den Ergebnissen einer im Regierungsauftrag erstellten wissenschaftlichen Studie des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik entnehmen, dass den Betreuerinnen und Betreuern nach den Vergütungsvorschriften faktisch nur 22 Prozent der im persönlichen Kontakt anfallenden Stunden vergütet werden. Das ist aus unserer Sicht ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Linke kritisiert das massiv.
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Durch die gesamten gesetzlichen Regelungen für Betreuerinnen und Betreuer zieht sich wie ein roter Faden, dass der reale Aufwand nicht vergütet wird. Stillschweigend setzen Sie von der Regierung auf ein Grundprinzip, das aus Ihrer Sicht offensichtlich für alle Berufe im sozialen Bereich gilt: Selbstausbeutung wird erwartet. – Seit 2005 haben Sie die Vergütung im Bereich der Betreuungen nicht angehoben. Offensichtlich finden Sie diese, für die Gesellschaft enorm bedeutsame Arbeit nicht wirklich wichtig. Das werden wir Ihnen so nicht durchgehen lassen.
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Damit verursachen Sie in diesem wichtigen Berufsstand in vielen Fällen Altersarmut und eine Überalterung der im Betreuungsberuf Tätigen; denn es besteht seit langem ein Nachwuchsproblem. Würden die Mitglieder dieser Bundesregierung ihren eigenen Kindern empfehlen, diesen Beruf zu ergreifen? Wohl kaum.
Dabei liegen die Handlungsempfehlungen doch auf dem Tisch. Wer die von mir erwähnte Studie aufmerksam liest, kommt zu folgenden Erkenntnissen: Es muss nicht nur eine Erhöhung der pauschalen Stundensätze geben, sondern auch die Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung der Betreuten muss honoriert werden. Es sollte den Behörden und den zuständigen Gerichten obliegen, zu kontrollieren, ob ein Mindestkontakt zum betreuten Menschen eingehalten worden ist. Zukünftig wäre auch zu prüfen, ob in Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Betreuerinnen und Betreuer ihre Arbeit als Selbstständige verrichten, eine Betreuerkammer einzurichten wäre. Diese könnte im Hinblick auf die Qualität der Arbeit, auf Ausbildung, Fortbildung und den Zugang zu dieser Tätigkeit berufspraktische Neuerungen einführen.
Wie bereits gesagt werden wir trotz unserer Kritik den Gesetzentwurf nicht ablehnen. Wir fordern aber eine langfristige Planung. Diese sollte Folgendes beinhalten: erstens eine grundsätzliche Strukturreform des Vergütungssystems, zweitens eine Dynamisierung der Vergütung, drittens eine Vergütung der im persönlichen Kontakt anfallenden Stunden zu 100 Pr ozent, viertens die Einrichtung einer Betreuerkammer, damit verbunden – fünftens – den Erlass einer verbindlichen Berufsordnung, damit die Qualität in der Betreuung gehalten und angehoben werden kann und der Zugang zum Beruf vereinheitlicht und qualitativ verbindlich geregelt wird, sechstens eine Evaluierung dieses Gesetzes nach spätestens zwei Jahren. Lassen Sie sich für diese dringenden Anpassungen nicht wieder 14 Jahre Zeit. Werden Sie endlich dieser Verantwortung gerecht.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Dr. Manuela Rottmann das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer alternden Gesellschaft lohnt es sich, ehrlich zu sein: In einer alternden Gesellschaft werden wir mehr Betreuung brauchen. Wir werden mehr professionelle Betreuer brauchen und mehr ehrenamtliche Betreuer.
Die Betreuungsvereine leisten bei der Förderung der ehrenamtlichen Betreuer eine wichtige Querschnittsaufgabe, die von den Ländern leider auf sehr unterschiedliche Weise vergütet wird. Deswegen gehört es zur Realität der Betreuungsvereine, dass viele von ihnen gezwungen sind, die Arbeit für die ehrenamtlichen Betreuer aus den Erträgen der Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer querzufinanzieren. Viele Betreuungsvereine geben mittlerweile auf, weil sie der finanziellen Belastung nicht mehr gewachsen sind.
Wir müssen aber auch ehrlich sagen: Durch die Betreuungsvereine werden nicht nur die Angehörigen entlastet, wenn es denn Angehörige gibt, sondern auch der Staat. Das wurde in den letzten Jahren zu häufig verdrängt.
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Deswegen muss der Staat seine Verantwortung, für angemessene Arbeitsbedingungen für Betreuer zu sorgen, ernst nehmen und wahrnehmen. Das sage ich auch in Richtung aller Länder, egal wer sie regiert; denn daran hat es in den letzten Jahren auch bei den Ländern gemangelt. Es müssten zum Beispiel die Ressorts Soziales und Justiz in den Ländern in dieser Frage viel enger zusammenarbeiten.
Für die Erhöhung der Vergütung der Berufsbetreuer sind wir hier im Bund zuständig. Wir gehen heute voran. In der Anhörung im Rechtsausschuss wurde der Wechsel zu variablen Pauschalen ganz einhellig befürwortet; also machen wir das. Auch die angestrebte Erhöhung um 17 Prozent wurde als notwendig bewertet. Aber die spannende Frage ist: Kommt das Geld dort an, wo es gebraucht wird. Teilweise kritisch gesehen wurde die degressive Ausgestaltung der Pauschalen, die dazu führt, dass die Vergütung mit der Dauer der Betreuung sinkt. Damit – so die Idee – soll erreicht werden, dass langfristige Betreuungsfälle nach Möglichkeit an ehrenamtliche Betreuer abgegeben werden. Das halten wir, ehrlich gesagt, für unrealistisch.
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Zum einen fehlt es an ehrenamtlichem Betreuungspersonal und zum anderen sind eben gerade langfristige Betreuungsfälle oft aufwendig. Diese Fälle werden derzeit häufig von den eben genannten Betreuungsvereinen übernommen, und wenn die geringer vergüteten Fälle, diese langfristigen Fälle, weiterhin überwiegend von den Vereinen betreut werden, dann kommt die Erhöhung eben nicht dort an, wo sie gebraucht wird, bei den Betreuungsvereinen.
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Wir müssen verhindern, dass Betreuungen künftig rein nach Rentabilitätskriterien geführt werden bzw. geführt werden müssen, weil die Betreuer gar nicht anders können. An der Vergütung für die Betreuung zu sparen, würde mittelfristig dazu führen, dass Berufsbetreuer in Altersarmut fallen, dass es immer weniger Betreuungsvereine gibt und dass der Staat selbst deren Aufgaben übernehmen müsste. Und was das Fehlen von kurzfristig erreichbaren Betreuern in Krankenhäusern und Pflegeheimen bedeutet, das kann sich jeder hier selber ausmalen.
Wir verstehen viele Details dieses Gesetzentwurfs nicht. Ich kann und will gar nicht alle Punkte nennen, nur diesen: Dass es keine gesonderte Übernahme von Dolmetscherkosten gibt, sei es im Bereich der Gebärdensprache oder sei es im Bereich der Fremdsprachenübersetzung, das verstehen wir nicht. Das kann man nicht aus der Betreuerpauschale finanzieren. Aber auch Menschen mit Kommunikationsbarrieren haben einen Anspruch auf Betreuung. Das darf nicht an der fehlenden Erstattung von Dolmetscherkosten scheitern.
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Auch wir sind davon überzeugt: Weitere Reformen bei der Qualitätssicherung müssen folgen. Die Leitlinie ist vor allem die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Selbstbestimmung der Betreuten muss im Vordergrund stehen. Die Arbeit für gute Betreuung muss also weitergehen.
Heute werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, vor allem mit dem Ziel, die Zukunft der Betreuungsvereine zu sichern.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir verabschieden heute einen Gesetzentwurf, mit dem wir die Betreuerinnen und Betreuer und vor allen Dingen auch die Betreuungsvereine wirtschaftlich deutlich besserstellen. Wir sorgen dafür, dass endlich – nach vielen, vielen Jahren, nach über einem Jahrzehnt – wieder etwas getan wird, um die Finanzierung der Betreuung zu verbessern.
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Ich bin dem Ministerium sehr dankbar; denn dieser Gesetzentwurf zum Betreuungsrecht hat einen recht langen Vorlauf. Der Prozess begann schon in der letzten Legislaturperiode und ist in dieser Legislaturperiode konsequent fortgesetzt worden. Herr Kollege Müller, vor diesem Hintergrund kann dieser Gesetzentwurf keine Überraschung gewesen sein; denn ein Prozess, der so lange läuft, überrascht am Ende natürlich keinen Haushälter. Das heißt, an dieser Stelle kann es kein haushaltsrechtliches Problem geben.
Ich hoffe sehr, dass dieser Gesetzgebungsprozess, der gut geführt wurde und zu einem strukturierten, guten Gesetzentwurf geführt hat, jetzt auch von den Ländern akzeptiert und goutiert wird. Ich hoffe, dass die Länder dieses Gesetz jetzt auch umsetzen, und zwar schnell, sodass die Betreuerinnen und Betreuer zügig über die neuen Mittel verfügen können.
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Ich will noch etwas sagen zu einer Frage, die hier von vielen angesprochen wurde: Ist das eigentlich das Ende dessen, was wir im Betreuungsrecht machen? Nein, natürlich nicht. Das Gutachten hat ja gezeigt: Da ist viel mehr nötig. Auch diesbezüglich bin ich dem Ministerium dankbar. Wir befinden uns ja längst in einem Reformprozess. In einigen Reden hier klang das so, als sei dies das Ende des Prozesses. Nein, das Ministerium hat einen Reformprozess aufgesetzt.
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Dieser Prozess läuft. Daran beteiligen sich alle, übrigens auch die Ländervertreter. All denjenigen, die dem Gesetzentwurf heute zustimmen wollen – ich stelle das mit Freude fest –, sage ich: Ich hoffe sehr, dass dieses Gesetz von den Vertreterinnen und Vertretern Ihrer Parteien, die in den Ländern Verantwortung tragen, mitgetragen wird. Gerade wenn wir über eine bessere Vergütung reden, gerade wenn wir über bessere Arbeitsbedingungen für die Betreuungsvereine reden, sind die Länder gefragt. Da können Sie alle tätig werden. Unterstützen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen, damit sie unserem Reformprozess folgen und wir insgesamt endlich zu einem besseren Betreuungsrecht kommen. Dieses muss viele der Aspekte umfassen, die hier angesprochen worden sind.
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Ich bin sehr froh, dass Katarina Barley und ihr Ministerium das sehr konsequent angehen. Es ist in der Expertenanhörung deutlich geworden: Es ist auch ein dringender Wunsch der Betreuerinnen und Betreuer, ein dringender Wunsch der Vereine, dass da etwas passiert.
Ich habe mich gewundert: Herr Straetmanns hat ja angedeutet, dass er davon ausgeht, wir würden noch weitere 14 Jahre regieren, sonst könnten wir ja nicht noch 14 Jahre mit der Anpassung warten. Ich gehe davon aus: Wir müssen diesen Prozess viel schneller zu Ende bringen – Herr Staatssekretär, das wäre nett – und müssen auf jeden Fall noch in dieser Legislaturperiode weitere Gesetze für den Betreuungsbereich auf den Weg bringen.
Das ist vor allen Dingen – da bin ich der Kollegin Rottmann dankbar – für die Betreuungsvereine wichtig. Die Betreuungsvereine sind ja unter anderem das Rückgrat für die ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuer. Sie sind es nicht nur dadurch, dass sie zum Beispiel die leider viel zu wenig genutzte Tandemlösung ermöglichen und anbieten, bei der sich ehrenamtliche und hauptamtliche Betreuer die Aufgabe sozusagen teilen können, sondern auch dadurch, dass sie aufgrund der eigenen Mitwirkung in der Betreuung qualifizierte Unterstützung, Beratung und im Zweifel auch die Rückfalloption bieten, die ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer brauchen, wenn sie es vielleicht nicht mehr schaffen, die Aufgabe ganz zu Ende zu führen. Da stehen ihnen die Betreuungsvereine auf jeden Fall zur Seite.
Vor diesem Hintergrund bin ich wirklich ärgerlich darüber – ich bin auch dankbar, dass wir nicht auf einen Reformprozess warten müssen –, wie despektierlich hier in Teilen über die Qualität der Betreuerinnen und Betreuer gesprochen wurde. Gerade in den Betreuungsvereinen haben wir hochqualifizierte, gut ausgebildete, in aller Regel in akademischen Berufen ausgebildete Betreuungsfachkräfte, die eine gute und qualifizierte Arbeit leisten.
Im Übrigen: Deren Gehalt zu vergleichen und dann auch noch brutto und netto zu verwechseln – ich lasse einmal diese Frage und auch andere Dinge außen vor, bei denen wir ohne Zweifel eine Notwendigkeit zum Handeln in der Pflege sehen –, ist unwürdig und wird den Betreuern und deren Arbeit nicht gerecht. Das weise ich daher an dieser Stelle zurück.
Ich freue mich, dass wir heute sehr einig das Gesetz beschließen können. Ich bin dem Ministerium dankbar und hoffe, dass gleich alle die Hand zur Zustimmung heben.
Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte um die Betreuer- und Vormündervergütung hat etwas mit unserem Menschenbild zu tun. Es geht um die Frage, wie wir denjenigen helfen können, die mit ihrer Arbeit für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und für eine würdevolle Mitwirkung an unserer Gesellschaft für andere Menschen Sorge tragen. Es geht um Selbstbestimmung. Es geht darum, dass die Betreuten durch die Arbeit der Betreuer letztlich an dieser Gesellschaft partizipieren können.
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Deswegen gilt mein ganz persönlicher Dank dem Engagement der 12 000 Berufsbetreuer, aber auch den vielen Tausend Ehrenamtlichen in den Betreuungsvereinen.
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Sie leisten nicht nur einen wichtigen Beitrag für die Betreuung, sondern sie nehmen auch dem Staat eine originäre, wichtige Aufgabe ab, weil wir niemanden alleine lassen. Wenn der Staat diese Aufgabe übernehmen würde, wäre das wesentlich teurer; auch daran darf erinnert werden.
Ja, das hat etwas mit dem Menschenbild zu tun. Bis 1992, bis zum Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes, sind Menschen noch entmündigt worden. Das haben wir überwunden. Wir nehmen Menschen an die Hand. Das müssen wir wertschätzen und auch gesetzlich stark verankern.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Bedarf an Betreuung in Deutschland gestiegen ist: Im Jahre 1995 waren es noch etwa 600 000 Betreuungen. Heute ist die Zahl auf über 1,3 Millionen Menschen gestiegen. Die Gründe sind sicherlich vielfältig. Aber klar ist: Eine umsichtige, sorgsame und professionelle Betreuung muss dieser Gesellschaft etwas wert sein. Das ist eine Frage von Anerkennung und Wertschätzung. Aber es ist eben auch eine Frage der Vergütung, meine Damen und Herren.
Es ist nicht akzeptabel – diesen Schuh müssen wir uns selber anziehen –, dass die Vergütung seit 2005 nicht erhöht worden ist.
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Aber ich bitte auch alle, zur Kenntnis zu nehmen, dass dieser Bundestag bereits im Jahr 2017 ein erstes Gesetz zur Erhöhung der Betreuervergütung verabschiedet hat und dass dies leider 16 : 0 im Bundesrat gescheitert ist. Umso begrüßenswerter ist es, dass die Länder jetzt gemeinsam mit dem Bundestag ihrer Verantwortung gerecht werden, um eine deutliche Erhöhung der Betreuervergütung auf den Weg zu bringen. Das sind wir all denjenigen schuldig, die diese wichtige und wertvolle Arbeit machen.
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Ich weiß, dass manche jetzt einwenden werden: Das reicht nicht aus. Es ist zu wenig. Die Erhöhung der Vergütung um 17 Prozent holt nur ein Stück von dem auf, was sich in der Kaufkraft seit 2005 entwickelt hat. – Ich habe für all diese Bedenken Verständnis. Aber auch hier gilt, dass es ein schwieriger Kompromiss zwischen dem Bund und den Ländern war. Die Alternative wäre nicht, die Vergütung um 17, 20 oder 25 Prozent zu erhöhen, sondern die Alternative wäre: Haben wir jetzt bald eine Vergütungserhöhung, oder haben wir keine?
Vor diesem Hintergrund, denke ich, ist es wichtiger, jetzt ein erstes Signal zu setzen und die Betreuungsvergütung sofort zu erhöhen, das Gesetz auch nicht erst zum 1. Januar 2020 in Kraft treten zu lassen, sondern sofort, damit Betreuungsvereine und Berufsbetreuer sofort mehr Geld für ihre Tätigkeit bekommen. Das war uns in diesem Zusammenhang sehr wichtig.
Ebenso ist uns wichtig, dass wir nach dem Inkrafttreten dieser Betreuungsvergütung über weitere wichtige Themen sprechen. Ich glaube, dass wir die Evaluierung nicht erst im Jahr 2024 vornehmen dürfen, weil dann die nächste Effektiverhöhung erst in einem Jahrzehnt fällig wäre.
Wir müssen darüber sprechen, ob wir auch die Betreuungsvergütungen an die Entwicklung der allgemeinen Lebenshaltungskosten knüpfen sollten. Wir müssen auch darüber sprechen, ob wir nicht insgesamt ein stärkeres Augenmerk auf das Berufsbild der Berufsbetreuer legen und über Qualifizierung und über die fachlichen Anforderungen sprechen sollten.
Es geht insgesamt darum, dass wir diese wichtige Aufgabe, mit der immerhin dafür Sorge getragen wird, dass über 1 Million Menschen an dieser Gesellschaft teilnehmen können, fortentwickeln. Wir tun das heute mit der Vergütung. Aber ich rufe allen zu, die sich für dieses Thema interessieren, nicht lockerzulassen, sondern an der Qualifikation der Berufsbetreuer und an deren Stellung in der Gesellschaft weiter zu arbeiten. Für heute bitte ich um Zustimmung und hoffe auch auf eine ebensolche Zustimmung im Bundesrat.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung der Betreuer- und Vormündervergütung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10246, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/8694 und 19/9765 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen de r Koalitionsfraktionen und der AfD-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung bringt heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes ein. Das klingt für manche vielleicht nach Rechtstechnik. Dahinter verbergen sich aber ein dringendes sicherheitspolitisches Anliegen und ein weiterer Baustein im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Wir haben in den letzten Jahren das fürchterliche Wirken des sogenannten „Islamischen Staates“ in Syrien und im Irak erleben müssen, der für Mord, Folter, Vergewaltigungen, sexuelle Versklavungen, erzwungene religiöse Konvertierung, Vernichtung von Kulturgütern und vieles mehr verantwortlich ist.
Der UN-Sicherheitsrat hat den IS bereits 2014 als terroristische Organisation geächtet. Erklärtes Ziel des IS war, ein Kalifat im Nahen Osten zu errichten und dazu staatsähnliche Strukturen aufzubauen. Zahlreiche Islamisten aus Europa, darunter auch viele aus Deutschland, sind nach Syrien und in den Irak gereist, um sich dort dem IS oder anderen terroristischen Gruppierungen anzuschließen. Wer sich aber bewusst ins Ausland zu einer Terrormiliz begibt und Kampfhandlungen unterstützt, sich also in den Dienst einer Terrormiliz stellt, zeigt unmissverständlich, dass er sich von Deutschland und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung abgewandt hat. Er hat sich damit materiell auch gegen seine deutsche Staatsbürgerschaft entschieden. Das muss Konsequenzen haben.
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Das geltende Staatsangehörigkeitsrecht sieht bisher allerdings nur vor, dass ein deutscher Mehrstaater die deutsche Staatsangehörigkeit verliert, wenn er ohne Zustimmung Deutschlands in die regulären Streitkräfte oder in vergleichbare bewaffnete Verbände eines anderen Staats eintritt. Es bedarf hier wohl keiner weiteren Erklärung, dass eine Terrormiliz wie der IS, auch wenn er sich selbst Staat nennt, natürlich nicht unter diese Regelung fällt. Ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit im Falle einer Terrormiliz erfordert daher einen neuen Verlusttatbestand im Staatsangehörigkeitsgesetz. Wenn schon der rein formale Eintritt in fremde Streitkräfte zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit führt, die konkrete Teilnahme an Kampfhandlungen einer ausländischen Terrormiliz hingegen nicht, können wir das selbstverständlich so nicht länger hinnehmen.
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Deshalb beseitigen wir mit der vorgeschlagenen Regelung eine Regelungslücke und beenden einen eklatanten Wertungswiderspruch. Danach verlieren volljährige Deutsche, die sich an Kampfhandlungen einer Terrormiliz im Ausland konkret beteiligen, die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie noch über eine weitere Staatsangehörigkeit verfügen. Allerdings stünde die Einbeziehung von in der Vergangenheit liegenden Handlungen im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 16 des Grundgesetzes. Diese Rechtsprechung mag einem gefallen oder nicht, aber sie ist die Rechtsprechung unseres höchsten Gerichts, unseres Verfassungsgerichts. Danach müssen die Betroffenen im Zeitpunkt ihres Handelns wissen können, dass sie mit ihrem missbilligten Verhalten die Voraussetzung für den Verlust ihrer Staatsangehörigkeit schaffen. Deswegen wäre es wahrscheinlich nicht nur mir lieber gewesen, wir hätten die heute zu debattierende Verlustregelung schon früher vorlegen können.
Immerhin hat mein Ministerium erstmals bereits im September 2016 den Entwurf einer Verlustregelung in eine Ressortabstimmung eingebracht. Uns ging und geht es darum, diese Regelung möglichst rasch in das Bundesgesetzblatt zu bekommen. Wegen dieser Eilbedürftigkeit waren wir bei der Ressortabstimmung zum heutigen Gesetzentwurf denn bereit, weitere aus unserer Sicht ebenfalls wichtige Änderungen des Staatsbürgerschaftsrechts einstweilen zurückzustellen. Das gilt insbesondere für den rechtssicheren Ausschluss jedweder Einbürgerung von Antragstellern, die mit mehreren Ehegatten verheiratet sind.
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Denn auch eine Vielehe beweist den Mangel an Bereitschaft, sich in die deutschen Lebensverhältnisse und unsere Verfassungsordnung einzugliedern. Eine entsprechende Formulierungshilfe ist unsererseits bereits erstellt. Ich gehe davon aus, dass sich auch das Bundeskabinett in Kürze dahinterstellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Staatsbürgerschaft ist das höchste und bedeutendste Recht, das der deutsche Staat verleihen kann. Unsere vornehmste Aufgabe ist daher, Widersprüche dieses Rechts mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung möglichst auszuschließen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Christian Wirth für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Der Unterschied zwischen einem Politiker und einem Staatsmann besteht bekanntlich darin, dass der Politiker in Wahlperioden denkt, der Staatsmann in Generationen. Weitsicht führt deswegen abwechselnd zu dem Vorwurf, man handele unpopulär, oder – paradoxerweise – man sei populistisch. Mit einer gewissen Weitsicht hätte man erkennen können, dass die Erteilung der deutschen Staatsangehörigkeit bei gewissen Gesellschaftsgruppen kontraproduktiv ist, insbesondere wenn das Bekenntnis zu Familienclans oder einer Religion systemimmanent über das Grundgesetz gestellt wird. Meine Damen und Herren, der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft muss wieder ein Privileg werden und darf kein Rechtsanspruch oder sogar ein Automatismus sein.
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Manche unserer Gegner können es sich nicht verkneifen, uns in der Zuwanderungsdiskussion in die rechtsextreme Ecke zu rücken,
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nur weil wir im Zusammenhang mit der Zuwanderung auf die Gefahr von Parallelgesellschaften aufmerksam machen.
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So Frau Merkel im Dezember 2003, zitiert mit Erlaubnis der Präsidentin.
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit für Deutsche mit Doppelpass ist die logische Konsequenz und Korrektur einer falschen Staatsangehörigkeitspolitik. Dieses Gesetz ist zwar ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, kommt aber Jahre zu spät und ist leider handwerklich und rechtsdogmatisch schlecht gemacht. Laut internationalem Zentrum für Terrorismusbekämpfung gibt es diese Ausreisen von Menschen mit EU-Pässen seit Mitte 2012, noch nicht zum IS speziell, aber allgemein dem Mudschahedin-Aufruf der islamischen Milizen in Syrien folgend.
Die Bundesregierung diskutiert schon lange über die Rückholung von IS-Terroristen mit deutschem Pass. Bereits im Jahre 2016 beschäftigte sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mit der Frage, ob den deutschen Kämpfern die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden kann, was nach jetziger Rechtslage nicht möglich ist. Trotzdem braucht die Bundesregierung drei Jahre, um einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dies hat zur Folge, dass die IS-Terroristen durch dieses Gesetz nicht mehr belangt werden können; denn wir haben ein verfassungsmäßiges Rückwirkungsverbot für Gesetze, was auch gut ist. Denn wie schon Jean-Paul Sartre sagte: Wir sind zur Freiheit verdammt. Dies gilt insbesondere, wenn wir erkennen müssen, dass unsere Freiheit auch für Demokratiefeinde und Dschihadisten gilt. 1 000 deutsche Islamisten sollen aus Deutschland nach Syrien gezogen sein. 120 Terroristen mit deutschem Pass sollen die Kurden gefangen haben. Jeder Einzelne für sich ist eine tickende Zeitbombe; denn der IS mag politisch und militärisch besiegt sein, aber die Ideologie, nämlich der Hass und die Aggression gegen Ungläubige, lebt in den Köpfen weiter und wird ja auch in vielen Moscheen in Deutschland zumeist ungestraft gepredigt.
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Auch inhaltlich ist dieser Gesetzentwurf kein großer Wurf. Er leidet unter vielen unscharfen, weit auslegbaren Tatbestandsmerkmalen, so die Formulierung „ein Deutscher, der … sich an Kampfhandlungen einer Terrormiliz im Ausland konkret beteiligt“. Alleine das Tatbestandsmerkmal „an Kampfhandlungen beteiligt“ bedarf der Auslegung, da Sie in der Gesetzesbegründung ausführen, dass der Betreffende „in Kampfhandlungen eingebunden“ sein muss. Sie schreiben: Es genügt jeder Beitrag, der nicht nur passiv ist und in einem – wie auch immer gearteten – Zusammenhang mit einer gewaltsamen Auseinandersetzung steht. – Das alleine sind also drei Tatbestandsmerkmale, die mühevoll durch die Rechtsprechung im Nachhinein zu definieren sind.
Die AfD schlägt vor, statt neue Tatbestandsmerkmale zu erfinden, rechtsdogmatisch den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft an §§ 129a und 129b des Strafgesetzbuches – Bildung und Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung – anzuknüpfen. Dies hätte den Vorteil, dass diese Tatbestandsmerkmale bereits durch die Rechtsprechung definiert sowie Mittäterschaft und Beteiligung im Strafgesetzbuch geregelt sind. Des Weiteren regelt das Strafgesetzbuch die Strafmündigkeit auch von Minderjährigen in §§ 10 und 19 StGB, während Sie minderjährige Täter nicht belangen wollen. Der Vorschlag der AfD beinhaltet auch den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei Terrorakten in Deutschland. Der Bevölkerung ist es schwer vermittelbar, dass bei Terrorakten im Ausland die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wird, bei Terrorakten in Deutschland jedoch nicht.
Die AfD wird ihren Gesetzentwurf einbringen, über den wir in Kürze hier debattieren können.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir hier jetzt über die Frage des Verlustes von Staatsangehörigkeit sprechen und uns um Details streiten – dafür oder dawider – und manchmal auch erleben, dass eine eventuell zu weit gehende oder nicht weit genug gehende Position skandalisiert wird, vergessen wir allzu leicht, dass der eigentliche Skandal, warum wir hier überhaupt darüber reden, die Wirklichkeit ist. Das wurde mir spätestens im Jahr 2014 klar, als ich den ersten jungen Menschen aus dem Irak kennenlernte, der im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise meine Stadt Wuppertal erreichte. Er ist Jeside, war früher Polizist und schilderte mir mit einer erschütternden Sachlichkeit, wie Teile seiner Familie von Daesh, IS, ermordet, versklavt, hingerichtet, verschleppt wurden. Seine Frau wagte es nicht einmal, ihre Wohnung in meiner Stadt zu verlassen, weil sie fürchtete, möglichen Tätern oder auch Täterinnen von damals wiederzubegegnen.
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Es bereitete viel Mühe und brauchte viele Gespräche, um deutlich zu machen, dass mitnichten jeder Mensch muslimischen Glaubens in meiner Stadt eine potenzielle Gefahr darstellte.
Über diesen Hintergrund reden wir, über solche Erfahrungen, die Menschen, die in diesem Land als Geflüchtete leben, gemacht haben. Deshalb ist der Skandal nicht, dass wir Gesetze wie das vorliegende machen, sondern der Skandal ist, dass es überhaupt so etwas wie Daesh, wie IS gibt und dass wir uns mit einer solchen Wirklichkeit, die wir vor Jahren nicht für denkbar gehalten haben, auseinandersetzen müssen.
Daher ist das, was wir jetzt mit der Regelung des Verlustes der Staatsangehörigkeit – und zwar maßvoll – versuchen, eine Reaktion auf die Wirklichkeit, und so muss Gesetzgebung auch funktionieren. Sie ist gewiss nicht anlasslos, aber maßvoll. Es wurde bereits geschildert: Es gibt mit § 28 StAG schon die Grundlage, bezogen auf ausländische Staaten.
Im Zuge dieser – aus der Sicht meiner Fraktion richtigen – Entscheidung werden wir als Fraktionen im parlamentarischen Verfahren durch einen Änderungsantrag selbstverständlich auch noch den Ausschluss der Einbürgerung bei Mehr- und Vielehe normieren.
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Sehr geehrte Damen und Herren, wir machen dies alles heute, am vielzitierten Tag der Erinnerung des Grundgesetzes, fest auf dem Boden desselben. Und wir machen es uns eben nicht leicht und versuchen nicht, das Staatsangehörigkeitsrecht falsch zu instrumentalisieren. Deshalb sind Minderjährige von dieser Regelung auch ausgeschlossen; deshalb respektieren wir selbstverständlich das Rückwirkungsverbot, das es uns nun schwieriger macht, weil wir damit eben nicht diejenigen erreichen, die diese grausamen Taten in der Vergangenheit begangen haben. Aber es ist richtig so, dass wir das nicht tun und nicht tun können, weil wir uns an diese Verfassung halten und zu halten haben. Und wir achten auch ganz genau die Prinzipien der Verlässlichkeit sowie der Gleichberechtigung und Zugehörigkeit. Deshalb wird nur derjenige betroffen sein, der mit eigenen Handlungen dazu beitragen konnte, diesen Zustand zu vermeiden. Wer sich aber wissentlich an einer Terrormiliz beteiligt, der muss künftig auch die Konsequenz tragen können, als Doppelstaatler – und das ist ja eine sehr maßvolle Einschränkung – nicht mehr Bürger oder Bürgerin dieses Landes sein zu können. Ich formuliere es einmal ganz deutlich: Wenn Menschen zu dem beitragen, was ich eben geschildert habe, dann geht mein Mitgefühl mit ihnen, dass sie womöglich den Verlust ihrer Staatsangehörigkeit erleiden müssen, absolut gegen null.
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Ich kann mich noch genau erinnern – das können wir uns nicht deutlich genug vor Augen führen, wenn wir hier darüber sprechen –, wie ich vor ein paar Wochen im Zimmer mit zwei Frauen saß,
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die mir nicht nur berichteten, dass sie selber durch IS-Täter – darunter auch Doppelstaatler mit deutscher Staatsangehörigkeit – serienvergewaltigt wurden, sondern auch, dass ihre elfjährige Schwester sechsmal verkauft, unzählige Male vergewaltigt wurde und niemand weiß, ob sie lebt und wo sie lebt.
Kollege Lindh, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Straetmanns?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben gerade sehr schön ausgeführt, wie wichtig das Staatsangehörigkeitsrecht ist. Wir haben heute 70 Jahre Grundgesetz in der Debatte gewürdigt – ein wirklich wichtiges Datum. Ich komme zurück auf historische Erfahrungen mit der Entziehung der Staatsbürgerschaft. Wie sehen Sie es als Sozialdemokrat, dass es im Nazireich in der Tat Entziehung von Staatsbürgerschaften gab – ein prominentes Opfer war zum Beispiel Willy Brandt – und dass heute wieder über den Entzug von Staa tsangehörigkeitsrechten nachgedacht wird und Ihre Fraktion das mit vertritt?
Vielen Dank für die Frage. Ich kann sie Ihnen ganz einfach beantworten: Erstens ist es eine bewusste Schlussfolgerung unserer Verfassung, die sich ja bescheiden „Grundgesetz“ nennt und die wir in diesem Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen, dass niemand staatenlos wird. Das ist übrigens auch im europäischen Recht berücksichtigt und äußerst sinnvoll. Niemand wird durch diese Entscheidung staatenlos. Das ist eine klare Schlussfolgerung aus der Barbarei des Nationalsozialismus.
Ich sage Ihnen noch etwas: Ich halte es nicht für angemessen, jetzt mit Verweis auf den Nationalsozialismus diesen allzu einfach und wohlfeil zu instrumentalisieren, um diese richtige und maßvolle Entscheidung, die Staatsangehörigkeit in einer überschaubaren Zahl von Fällen – man rechnet mit einer niedrigen zweistelligen Zahl – zu entziehen, totzumachen. Ich halte das nicht für ein angemessenes Argument. Wir bewegen uns sehr wohl auf dem Boden des Grundgesetzes, und wir brauchen uns – das wage ich auch zu sagen – als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die unter dem NS-Terror unheimlich gelitten haben, nicht vorwerfen zu lassen, dass wir keine Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen hätten. Wir waren in erster Linie Kämpfer gegen den Nationalsozialismus.
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Sehr geehrte Damen und Herren, wir machen uns nichts vor: Der Entzug der Staatsangehörigkeit allein ist mitnichten die künftige Generalprävention von jeglicher Form von islamistischem Terrorismus. Aber wenn schon eine oder einer dadurch abgehalten würde, ist es aus meiner Sicht wert, diese Entscheidung zu treffen. Vielmehr ist es aber eine Gesamtleistung. Dazu gehört Repression und Konsequenz, und zwar mit aller Härte, und dazu gehört die vorliegende Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Dazu gehört aber auch umfassende Prävention; denn wir müssen uns auch einmal fragen, wie es sein kann, dass Doppelstaatler, die auch die deutsche Staatsangehörigkeit haben, sich in die Situation begeben, dass sie eine solche Barbarei begehen. Diese Fragen müssen wir uns stellen.
Neben Prävention und Repression, die wir heute angehen, bedarf es auch politischer Bildung. Diese ist nicht auf Prävention zu reduzieren, sondern sie bedeutet letztlich, dass Menschen lernen, frei und demokratisch zu entscheiden. Je mehr vernünftige Demokratiebildung und gute politische Bildung wir haben, desto weniger groß ist die Gefahr, dass Menschen sich verführen lassen und sich dem IS oder vergleichbaren künftigen Terrormilizen anschließen. Dafür zu sorgen, ist unsere Aufgabe, und ich halte es für falsch, das eine gegen das andere auszuspielen. Wir müssen beides tun, und wir müssen es mit aller Konsequenz tun.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe bei Ihrem Beitrag vorhin und bei einigen Diskussionsbeiträgen im Vorfeld erlebt, dass man im Zuge dieser Debatte nun leider wieder versucht, das Gift der Instrumentalisierung zu verwenden. Ich rate dringend davon ab. Die hier vorgesehene Maßnahme, einer bestimmten Zahl von Bürgerinnen und Bürgern zukünftig die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, ist mitnichten ein Instrument, generell gegen Doppelstaatlichkeit und gegen mehrfache Staatsangehörigkeit vorzugehen. Das ist mit der Sozialdemokratie nicht machbar. Diese Vision, diese Alptraumvision, die zum Beispiel Sie von der AfD vorhin hier präsentiert haben, werden wir gewiss nicht mitgehen; denn wir begrüßen es, dass Menschen in diesem Land mehrere Staatsangehörigkeiten haben können.
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Dies ist nicht das Problem, das wir haben. Das Problem ist, dass Menschen sich von der Werteordnung dieses Landes verabschieden, dass sie so weit gehen – und das ist ja einer der Hauptgründe dafür, dass wir diese Gesetzesänderung überhaupt vornehmen –, dass sie sich von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung fundamental verabschieden – dafür gibt es keine Entschuldigung –, und dass sie dies in einer Weise tun, die dem Grundgesetz, das heute so sehr beschworen wird, aber auch jeder Form von Mitgefühl und jeder Form von Respekt zwischen Menschen widerspricht.
Deshalb appelliere ich an Sie alle, in sich zu gehen und zu prüfen, ob Sie nicht diesen Weg, den die Koalition mit den beiden von mir genannten Schritten, dem Gesetzentwurf der Regierung und dem ergänzenden Änderungsantrag, heute einschlagen will, mitgehen können.
Es ist unsere Aufgabe, mit Gesetzgebung auf eine Wirklichkeit zu reagieren, die eben nicht von Humanität, sondern in zu viel Teilen dieser Welt von Barbarei geprägt ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen, die diese Republik und ihr Denken in jeder Hinsicht mit Füßen treten, noch mit der deutschen Staatsangehörigkeit zu belohnen. Deshalb ist das, was wir tun, nicht nur rechtlich geboten, sondern es ist auch moralisch aufrichtig. Wir werden es tun.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ziel, das der von der Koalition vorgelegte Gesetzentwurf verfolgt, ist durchaus nachvollziehbar: Wer eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzt und im Ausland für eine Terrormiliz kämpft, der soll seine Staatsbürgerschaft ebenso verlieren können wie ein Deutscher, der gegen die Interessen Deutschlands für die Streitkräfte eines ausländischen Staates kämpft.
In der Umsetzung hat der Vorschlag allerdings erhebliche Schwächen, vor allem praktischer Art. So ist zum Beispiel völlig unklar, wie die Verhältnismäßigkeit gewahrt und in welchem Umfang Einzelfallprüfungen vorgenommen werden sollen und wie die für eine Aberkennung eigentlich erforderlichen gründlichen Ermittlungen stattfinden sollen. Das Kritischste an dem Vorschlag der Bundesregierung sind aber nicht die großen Schwächen dieses Entwurfes – daran kann man vielleicht noch arbeiten –, sondern kritisch ist, dass der Eindruck erweckt wurde und von einigen weiterhin erweckt wird, als würde mit diesem Gesetz das Problem der IS-Heimkehrer mit deutscher Staatsbürgerschaft auch nur irgendwie gelöst.
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Es ist kritisch, dass dieser Eindruck erweckt wurde; denn ein Drittel der rund 1 000 IS-Kämpfer mit deutscher Staatsbürgerschaft hält sich schon längst wieder in Deutschland auf. Von den Verbleibenden sind nur etwa 90 Kämpfer in Kriegsgefangenschaft. Die übrigen sind auf freiem Fuß und können als Staatsbürger jederzeit zurückkehren. Es wäre daher höchste Zeit, dass sich die Koalition hier ehrlich macht und sich um wirkliche Lösungen des Problems bemüht. Der Parlamentarische Staatssekretär Krings hat gerade immerhin entsprechende Schwierigkeiten eingeräumt.
Das heißt einerseits, dass wir unsere Staatsbürger zurücknehmen müssen, so wie wir vom Irak, von Tunesien oder Russland erwarten, dass sie Extremisten zurücknehmen, die wir aus Deutschland abschieben.
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Andererseits müssen wir uns ernsthaft mit der Frage beschäftigen, wie wir Gefährder mit deutscher Staatsbürgerschaft hier in Deutschland in den Griff bekommen. Das wären notwendige Debatten, die die Große Koalition aber scheut wie der Teufel das Weihwasser.
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Wo wir gerade darüber sprechen, was fehlt: Wie wir aus den Debatten der letzten Wochen wissen, hätte in dem vorliegenden Gesetzentwurf ursprünglich auch das Verbot der Einbürgerung für Ausländer, die eine Mehr- oder Vielehe führen, vorgesehen werden sollen.
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Eine entsprechende Regelung halten wir Freie Demokraten für dringend geboten. Denn der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist mehr als nur eine Formalie. Er sollte auch die Anerkennung einer Werteordnung ausdrücken. Die Mehrehe ist damit nicht vereinbar. Sie ist ein unserer Rechtsordnung fremdes, die Rechte von Frauen missachtendes Ehemodell. Unser Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp, hat dazu einen Vorschlag vorgelegt. Das zeigt: Wenn man die Sache lösen will, dann kann man sie auch lösen, und zwar nicht erst am Jahresende oder 2020, sondern jetzt.
Wenn es die Union und inzwischen auch die SPD mit ihren Beteuerungen, dass sie hier handeln wollen, ernst meinen, dann erwarten wir von den Koalitionsfraktionen, dass sie im Zuge der Gesetzesberatungen liefern.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über das Dritte Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Bereits 1999 hat man mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts die Möglichkeit geschaffen, Personen die Staatsangehörigkeit zu entziehen, die sich an Kampfhandlungen ausländischer Staaten beteiligt haben. Auch damals war das politisch fatal und die falsche Entscheidung, so wie der Gesetzentwurf, der heute vorliegt.
In Bezug auf die Behandlung von IS-Kämpfern darf es keine Unterscheidung zwischen Personen mit einfacher deutscher Staatsangehörigkeit oder doppelter Staatsangehörigkeit geben.
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Egal ob IS-Kämpfer eingebürgert wurden oder von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen: Sie alle sollten ein Strafverfahren bekommen und für ihre Gräueltaten bestraft werden.
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Es darf hierbei keine Deutschen erster und zweiter Klasse geben.
Ausbürgerungen halten wir für geschichtsvergessen, migrationspolitisch katastrophal und verfassungswidrig.
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Erst werden es die IS-Kämpfer mit doppelter Staatsangehörigkeit sein, die Sie ausbürgern. Darauf folgen irgendwann weitere Gruppen, die Sie gerade loswerden wollen. Diese Sonderbehandlung ist menschenrechtlich nicht vertretbar.
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Laut § 28 des Gesetzentwurfs sollen Personen, die außer der deutschen Staatsangehörigkeit noch eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, ausgebürgert werden, wenn sie sich im Ausland an konkreten Kampfhandlungen einer Terrormiliz beteiligen. Dazu wird unter anderem eine Legaldefinition des Begriffs „Terrormiliz“ geschaffen. Eine solche Definition im Staatsangehörigkeitsrecht unterzubringen, halten wir für sehr fragwürdig. Die Definition im Gesetzentwurf bleibt beliebig ausdehnbar und ist viel zu schwammig.
Die zentrale Frage aber ist, wer die Einschätzung einer konkreten Beteiligung von Kampfhandlungen in einer Terrormiliz vornehmen soll. Diese Untersuchungen müssten von einem neutralen Akteur transparent und justiziabel gestaltet werden.
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Was ist Ihre Antwort darauf? Wie soll das funktionieren?
Die Bundesregierung behauptet in ihrem Gesetzentwurf, dass Kämpfer der kurdischen YPG und YPJ, die in Nordsyrien gegen den IS kämpfen, nicht unter die Anwendung des Gesetzes fallen, weil ihre Handlungen völkerrechtlich gerechtfertigt seien. Das begrüßen wir natürlich. Aber ist das nicht absurd? Während in Deutschland, insbesondere in Bayern, weiterhin Symbole der YPG strafrechtlich verfolgt werden und kurdische Organisationen weiterhin kriminalisiert werden, wird der Kampf der Kurdinnen und Kurden in Syrien in der Anti-IS-Allianz begrüßt. Das ist heuchlerisch gegenüber den Kurdinnen und Kurden in Syrien.
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Die Deutungshoheit scheint hier beliebig zu sein und kann sich in Zukunft je nach politischer Lage verändern. Diese Unsicherheit akzeptieren wir Linke nicht. Wir Linke sagen, dass alle deutschen IS-Kämpfer ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen sollen – entweder hier in Deutschland oder, wie die Verbände vor Ort fordern, vor einem internationalen UN-Sondertribunal.
Der Entzug der Staatsangehörigkeit fördert diesen Zweck jedenfalls nicht. Das eröffnet die Möglichkeit, dass es einen Wettlauf der Staaten untereinander gibt, Menschen die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Das kann es doch nicht sein.
Ich weiß ja, Herr Seehofer: Sie schieben gerne ab, besonders an Ihrem Geburtstag. Aber diese Angelegenheit kann man nicht einfach so abschieben. Hier darf sich Deutschland der Verantwortung nicht entziehen. Dieser populistische Gesetzentwurf unterminiert die damals eingeführten Lockerungen im Abstammungsrecht und führt so die Abstammungslehre durch die Hintertür wieder ein. Wir Linke stimmen entschieden dagegen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Staatsangehörigkeit ist das Recht, dazuzugehören, oder, wie Hannah Arendt einst formulierte, das „Recht, Rechte zu haben“. Dem trägt das Grundgesetz Rechnung. Im Bewusstsein unserer deutschen Geschichte stellt das Grundgesetz in Artikel 16 fest, dass die Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf, und stellt den Verlust der Staatsangehörigkeit zu Recht unter strenge verfassungsrechtliche Voraussetzungen.
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Dieses Verständnis ist essenziell für das Funktionieren unseres demokratischen Staatswesens. Leider wird dieser Gesetzentwurf dem nicht gerecht. Sie überfrachten leichtfertig die elementare Institution der Staatsangehörigkeit, um Ihre sicherheitspolitischen Luftschlösser zu rechtfertigen.
Ich mache Ihnen das gerne deutlich. Sie verfolgen das Ziel, deutsche IS-Kämpferinnen und -Kämpfer rechtlich aus der deutschen Gemeinschaft auszuschließen, ignorieren aber, dass der Weg mehr Unsicherheit schafft, als dass er Sicherheit bietet. Sie schaffen damit keine Sicherheit, sondern eine sicherheitspolitische Blackbox im Staatsangehörigkeitsrecht.
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Die größte Gefahr ist aber – Helge Lindh hat es angesprochen –, dass die Bundesregierung Staatenlosigkeit mutwillig in Kauf nehmen wird. Warum? Auch wenn das Gesetz auf Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft abzielt, kann letztendlich nicht garantiert werden, dass andere Staaten nicht gleichzeitig genau denselben Vorgang vorantreiben, der zum Verlust der Staatsangehörigkeit führt. Das wissen wir aus vielen Debatten in anderen Ländern. Ein von Angst getriebenes Ausbürgerungswettrennen kann niemand wollen, nicht aus vorgeschobenen sicherheitspolitischen und schon gar nicht aus staatsangehörigkeitsrechtlichen Gründen.
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Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Person die deutsche Staatsbürgerschaft verliert, wenn er oder sie sich konkret an Kampfhandlungen einer Terrormiliz im Ausland beteiligt – beteiligt, nicht beteiligt hat. Das ist entscheidend; denn diese Kampfhandlungen müssen noch stattfinden, nachdem das Gesetz verabschiedet wurde. Wie viele deutsche IS-Kämpferinnen und -Kämpfer mit doppelter Staatsbürgerschaft sich derzeit noch im Ausland aufhalten und aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen, kann die Bundesregierung nicht beantworten.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf birgt mehr Gefahren, als dass er Lösungen aufzeigt. Denn gefährlicher als die geordnete Rückholung ist die ungeordnete Rückkehr der IS-Kämpferinnen und -Kämpfer.
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Wir müssen uns mit den Herausforderungen im Zusammenhang mit deutschen IS-Kämpferinnen und -Kämpfern auseinandersetzen; das ist richtig. Wenn nun aber die demokratischen Staaten beginnen, ihre Kriminellen und Terroristen auszubürgern, dann stehlen sie sich aus ihrer Verantwortung und schwächen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit weltweit. Deshalb fordern wir Grünen eine verantwortungsvolle Strategie für Rückkehrerinnen und Rückkehrer, vor allem aber für die Kinder. Sie haben in den IS-Gebieten schreckliche traumatische Erfahrungen gemacht; sie sind nicht schuld am Verhalten ihrer Eltern. Wir brauchen keine leeren Versprechungen, keine Schaufenstergesetze. Wir brauchen eine verantwortungsvolle Strategie. Das Entziehen der deutschen Staatsbürgerschaft, sich dieser Menschen einfach zu entledigen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Krings, gehört nicht dazu.
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Beim Umgang mit deutschen IS-Kämpferinnen und -Kämpfern handelt die Bundesregierung nach dem Vogel-Strauß-Prinzip: Sie drücken sich vor einem Problem, für das Deutschland zuständig ist. Nur weil Sie keine Lösungsideen haben, greifen Sie das grundgesetzlich geschützte Recht, dazuzugehören, an, um wenigstens so tun zu können, als hätten Sie mehr als weiße Salbe. Das ist unverantwortlich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Christoph de Vries für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Personen, die sich im Ausland an Kampfhandlungen von Terrormilizen beteiligen, sind Terroristen. Diese Menschen, die gegen die Prinzipien der Menschlichkeit verstoßen, diese Terroristen, die morden, foltern und Terrormilizen wie dem IS oder al-Qaida zur Schreckensherrschaft verhelfen wollen, mit Oppositionellen und Regimekritikern im Nationalsozialismus in Deutschland zu vergleichen, ist ein unsäglicher Vergleich, Frau Akbulut, und dieser Diskussion völlig unwürdig.
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Ich halte das insbesondere am heutigen Tag für eine ziemliche Entgleisung, die Sie sich hier geleistet haben.
Wer macht, was ich eben gesagt habe, wendet sich radikal und endgültig von Deutschland und seinen Grundwerten ab. Diese Abwendung manifestiert sich rechtlich zum einen in der Hinwendung zu einem bewaffneten Verband und zum anderen aber auch in der konkreten Beteiligung an Kampfhandlungen. Die Botschaft unseres Gesetzentwurfs ist doch ganz klar: Wer Deutschland als freies und friedliches Land bewusst verlässt, um in den Heiligen Krieg zu ziehen und die Strukturen eines ausländischen Staates gewaltsam zu beseitigen, hat die deutsche Staatsbürgerschaft nicht verdient und muss sie auch verlieren.
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Unser Sprecher Mathias Middelberg hat es heute richtig gesagt: Man kann nicht im Ausland an der Errichtung eines Kalifats mitwirken und gleichzeitig Staatsbürger unseres Landes sein. – Deshalb darf diese Abwendung von unserem Staat und seinen Prinzipien staatsbürgerschaftsrechtlich auch nicht folgenlos bleiben. Wir wollen mit dem Gesetzentwurf Personen, die sich einer Terrormiliz anschließen und eine weitere Staatsbürgerschaft besitzen, die deutsche Staatsbürgerschaft künftig entziehen.
Es ist schon darüber gesprochen worden, ob der Zeitpunkt nicht zu spät ist. Es gehört zur Wahrheit: Wir handeln spät. Und mit Blick auf die IS-Kämpfer aus Syrien und Irak müssen wir leider feststellen: Wir handeln zu spät; denn durch das Rückwirkungsverbot – das ist angesprochen worden – findet das Gesetz leider keine Anwendung auf diejenigen Terroristen, die sich in der Vergangenheit an den barbarischen Kampfhandlungen des IS in Syrien und Irak beteiligt haben. Hätten wir das Gesetz nicht viel früher haben können? Ja, das hätten wir. Die amtierende Justizministerin hat diesen Gesetzentwurf seit November letzten Jahres vorliegen. Es ist lange nichts passiert. Es gab erst grünes Licht, als öffentlicher Druck entstanden war. Aber ich muss sie in Schutz nehmen: Sie ist damit nicht allein, sondern befindet sich da in guter Gesellschaft mit ihrem Amtsvorgänger Heiko Maas, der bereits 2016 einen entsprechenden Referentenentwurf im Koalitionsausschuss beerdigt hatte.
Die lange Verzögerung hat aus unserer Sicht mit verantwortungsvoller Politik nur sehr bedingt zu tun und stößt auch bei den Bürgern auf großes Unverständnis, im Übrigen auch bei uns in der Union. Deswegen sollte dieses Prozedere – das, glaube ich, kann man zu Recht sagen – in der Zukunft nicht Schule machen. Aber wir werden jetzt im parlamentarischen Verfahren nachziehen, auch was die Mehrehe anbelangt. An dieser Stelle bin ich sehr dankbar – Sie haben es eben noch einmal gesagt, Frau Högl –, dass wir das jetzt gemeinsam angehen. Dass die Vielehe nicht Bestandteil des vorliegenden Gesetzentwurfs ist, ist mit Sicherheit kein Ruhmesblatt für das Ministerium. Für uns ist klar: Vielehen sind mit unserer Kultur, mit unseren Werten nicht vereinbar; sie sind uns fremd. Wer das nicht akzeptieren mag, hat auch kein Interesse an Integration in unserem Land.
Ein weiterer Punkt – er wurde schon angesprochen – ist die zweifelsfreie Klärung der Identität. Wenn man eingebürgert werden will, muss das zum gesetzlichen Standard werden. Auch das ist eine Forderung, die uns wichtig ist. Viele dieser Forderungen, die wir und auch der Parlamentarische Staatssekretär Herr Krings angesprochen haben, sind in der Innenministerkonferenz schon einvernehmlich beschlossen worden, auch mit Zustimmung sozialdemokratischer Innenminister. Insofern haben wir hier große Einigkeit. Es besteht überhaupt kein Grund für weitere Verzögerungen.
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Zum Abschluss will ich sagen: Ich bin der Überzeugung, eine deutsche Bundesregierung sollte das politisch Richtige und das politisch Notwendige und das verfassungsrechtlich Zulässige tun, auch wenn es nicht im Koalitionsvertrag steht. Und politische Vernunft sollte nicht erst einsetzen, wenn öffentlicher Druck entsteht.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist Michael Frieser aus der Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte den Kollegen de Vries gerne weiterreden lassen. Er würde nichts anderes sagen als das, was ich noch einmal betonen kann: Staatsangehörigkeitsrecht ist keine Petitesse; es gehört zu den Grundlagen unseres Staatswesens. Deshalb ist es ganz besonders wichtig, dass man nicht nur in der Praxis des Staatsrechtes, sondern auch in der Umsetzung absolute Vorsicht walten lässt. Ich habe selten ein so wirklich durchsichtiges Argument gehört wie: Das ist doch nur der Anfang, um Volksgruppen oder andere aus Deutschland auszubürgern, wenn es uns in den Kram passt. – Hier geht es um IS-Kämpfer, um Menschen, die foltern und morden im Namen einer anderen Miliz, eines anderen angeblichen Staates. Nur um die geht es. Deshalb schaffen wir einen neuen Entbürgerungstatbestand. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.
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Ja, es ist wahr: Wir sind mit diesem Gesetz und diesem neuen Tatbestand zu spät dran. Es bleibt auch eine Frage des inneren Staatsrechts, warum dieses Minus, einer Miliz beizutreten, in keiner Weise damit vergleichbar ist, sich einer anderen staatlichen Armee anzuschließen. Aber gut, wir haben das jetzt geregelt. Ich darf darauf hinweisen: Die Christlich-Soziale Union hat das im Jahr 2014 zum ersten Mal zum Thema gemacht. Selbst der Antrag im Bundesrat 2017 fand diesbezüglich noch keine Mehrheit. Wir sind froh – lieber spät als nie –, dass auch der Koalitionspartner SPD den Weg in diese Reihen gefunden hat.
Selbstverständlich muss man über Justizministerin Katarina Barley sagen, dass sie beim Thema Mehrfachehen gerade noch die richtige Richtung eingeschlagen hat, obwohl ihr Gesetzentwurf schon auf dem Weg war. Es ist vollkommen klar: Wer dieses Land, seine Grundwerte und auch die ethische Basis derartig mit Füßen tritt, weil er denkt, es verstünde sich von selbst und sei selbstverständlich, dass man in diesem Staat auch leben kann, wenn man eine Mehrfachehe führt, der hat es grundlegend nicht verstanden, und bei dem sind wir der Auffassung, dass er sich hier auf Dauer nicht integrieren will. Das muss ein wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzes sein. Das werden wir im parlamentarischen Verfahren ändern.
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Bei einem anderen Punkt, der mir noch wichtig ist – Kollege de Vries hat es schon angesprochen –, geht es um Personen, die hinsichtlich ihrer Identität getäuscht und sich über falsche Angaben die Staatsbürgerschaft erschlichen haben. Hier gilt eine kurze Frist von fünf Jahren für eine Rückgängigmachung. Wer weiß, was alles an Untersuchungen, Aufdeckungen und Nachverfolgungen dahintersteht, der weiß, dass diese Frist verlängert werden muss; denn es ist vollkommen klar: Die Rücknahme rechtswidriger Einbürgerungen darf nicht nach fünf Jahren ergebnislos im Sande verlaufen. Nein, auch an dieser Stelle müssen wir darauf achten, dass im parlamentarischen Verfahren noch mal deutlich gemacht wird: Identitätstäuscher haben keinen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit.
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Ich glaube, aufgrund des sehr vorsichtigen Umgangs, den wir hier mit dem Staatsangehörigkeitsrecht an den Tag legen, hat der Gesetzentwurf wirklich eine breite Mehrheit dieses Hauses verdient. Wir lösen damit wahrlich nicht alle Probleme, die wir haben. Wir lösen aber zumindest die Probleme, die sich im Augenblick bei uns stellen,
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und deshalb bitten wir um Zustimmung.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/9736 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 74 Jahren leben die Menschen in Europa überwiegend in Frieden. Ehemals erbitterte Feinde sind heute Nachbarn, Partner und Freunde. Das ist kein Geschenk des Himmels, sondern das war harte Arbeit. Der Frieden in Europa ist eine großartige Errungenschaft.
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Das Einigungsprojekt Europa zeigt uns eben auch, wie Konflikte friedlich gelöst werden können. Man muss sich immer wieder hinsetzen und reden und reden und nochmals reden. Ja, das ist anstrengend, und oft dauert es sehr lange. Aber angesichts der Trumps, der Putins und der Bolsonaros dieser Welt, die mit verheerenden Tweets, mit Völkerrechtsbrüchen und mit billigem Populismus unsere Weltordnung gefährden, braucht es als Antwort darauf mehr denn je eine europäische Friedensvision der Vernunft.
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Ja, zu einer weltpolitikfähigen Europäischen Union gehört auch, dass in Europa stärker militärisch zusammengearbeitet wird. Wir müssen gar nicht erst die Phantomdebatte über eine europäische Armee führen. Lassen Sie uns doch wirklich erst einmal damit anfangen, dass militärische Ausstattung effizienter und gemeinsamer beschafft und genutzt wird!
Wir Grüne wollen die Europäische Union in der Sicherheitspolitik aber verantwortungsvoll stärken. Deshalb sagen wir auch ganz klar, wo es in diesem Bereich in die falsche Richtung geht, zum Beispiel wenn eine europäische Kampfdrohne entwickelt wird oder beim Europäischen Verteidigungsfonds. Wir fragen uns schon: Wie kann man nur in einem politisch so sensiblen Bereich eine rechtlich und politisch so hochproblematische Konstruktion auf den Weg bringen? Es braucht doch nicht neue milliardenschwere Subventionstöpfe für die Rüstungsindustrie in Europa, sondern gemeinsame Projekte, die am Ende Geld sparen und die Europäische Union wirklich handlungsfähig machen.
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Die Herren Trump und Putin werden nicht mehr Respekt haben, wenn wir über ein paar Panzer mehr oder über den sinnlosen Vorschlag von Frau Kramp-Karrenbauer, einen europäischen Flugzeugträger zu beschaffen, diskutieren. Was die wirklich beeindrucken würde, wäre eine Europäische Union, die weltpolitikfähig ist. Das Fundament dafür ist eine starke, laute europäische Stimme in der Außenpolitik und eben nicht der dissonante Chor nationaler Egointeressen, den wir leider viel zu oft hören müssen, wenn es um Syrien, Libyen, Russland oder China geht.
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Wer sich in dem nationalen Klein-Klein verliert, der vergibt eben die Chance, auf der Weltbühne mitzureden, und das können wir uns angesichts dieser Weltlage nicht erlauben.
Meine Damen und Herren, alle demokratischen Fraktionen in diesem Haus sind sich doch einig: Konflikte lassen sich nicht mit militärischen Mitteln lösen. Sie früh zu erkennen und die Ursachen mit zivilen Mitteln anzugehen, das ist es doch, was die Europäische Union so besonders macht und was sie anderen Organisationen, wie zum Beispiel der NATO, voraushat. Zivile Expertinnen und Experten, Polizeikräfte, die Entwicklungszusammenarbeit, der Kampf gegen Armut und die Folgen der Klimakrise, der Einsatz für Rechtsstaatlichkeit, für Friedensverhandlungen – das sind unheimlich wichtige Beiträge, die am Ende wirklich mehr Frieden und Sicherheit auf der Welt schaffen können.
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Militär und Rüstung bedeuten doch nicht automatisch mehr Sicherheit. Das sehen wir ganz besonders bei den Rüstungsexporten aus Europa an die blutige Kriegsallianz im Jemen. Es kann mir wirklich niemand erklären, warum es im Sinne der europäischen Sicherheit sein soll, ein Land wie Saudi-Arabien hochzurüsten.
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Im Gegenteil: Das europäische Friedensgebot und die sicherheitspolitische Vernunft müssen doch gebieten, dass es aus Europa keine Rüstungsexporte mehr in Krisengebiete, an Menschenrechtsverletzer und an Diktatoren gibt.
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Meine Damen und Herren, in schwierigen Zeiten muss die Europäische Union ihr ganzes politisches Gewicht geschlossen für Frieden und Sicherheit, für das Völkerrecht und für Menschenrechte in der Welt in die Waagschale werfen. Dafür braucht sie mehr Power – mit mehr Mitteln für zivile Krisenprävention, starken Initiativen für Abrüstung und Rüstungskontrolle, einem Fokus auf feministische Außenpolitik und einer starken gemeinsamen Stimme bei den Vereinten Nationen. Europa als Friedensmacht und als Sicherheitsunion – das muss und sollte unser Anspruch für die Zukunft sein.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unter anderem ist ein Antrag der Grünen Teil der Debatte; die Kollegin Brugger hat dazu gerade gesprochen. Ich finde, es ist Sinn unserer Debatten, dass wir uns auch miteinander unterhalten und aufeinander eingehen, auch auf die unterschiedlichen Positionen. Darum will ich jetzt gar nicht so sehr die Position der CDU/CSU darlegen, sondern mich mit Ihrem Antrag beschäftigen.
Der Antrag ist auch deshalb interessant, weil er aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen besteht, nämlich aus einem beschreibenden, analytischen Teil und aus einem Forderungsteil. Das Interessante an diesem Antrag ist, dass der Forderungsteil und der beschreibend-analytische Teil wenig miteinander zu tun haben.
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Ich glaube, das ist das Ergebnis einer bestimmten Form der Kompromissfindung in Ihrer Fraktion. Man konnte sich nicht einigen und hat dann gesagt, dass die einen die Lage beschreiben – sehr realistisch – und die anderen die Forderungen stellen dürfen, grün-ideologisch. Das ist eine Form von Kompromissbildung, die ich nicht als Beispiel für eine europäische Kompromissbildung heranziehen möchte. Dieser Versuch ist auch ein bisschen billig. Darum mögen Sie nachvollziehen, dass ich mich mit diesem Antrag beschäftigen möchte.
Erstens zum beschreibend-analytischen Teil. Nicht jeden Satz, aber die Beschreibung kann ich unterstreichen. Ich will darum auch ganz kurz daraus zitieren. Sie sagen, Europa müsse mehr für die eigene Sicherheit tun, wir müssten mehr Verantwortung übernehmen, wir müssten handlungsfähiger werden, wir müssten die gesamte Bandbreite der politischen Möglichkeiten nutzen – also präventiv, zivil, politisch –, aber auch die militärische Handlungsfähigkeit Europas müsse gestärkt werden, die Instrumente müssten ineinandergreifen. Militärische Gewaltanwendung löst kein Problem. Aber sie muss eine Möglichkeit, Ultima Ratio in bestimmten Konfliktsituationen sein. Das stimmt, das ist richtig. Ich glaube, von der CDU/CSU bekommen Sie dafür volle Unterstützung. In Ihrer eigenen Fraktion, glaube ich, stimmt auch die Hälfte zu. Das ist ein Erfolg für die Geschichte der Grünen; das möchte ich anerkennen. Der beschreibend-analytische Teil ist also gut. Auch die Herausforderungen werden beschrieben – ich nenne die Stichworte –: China, Russland, Nordafrika, Mittlerer Osten, Iran, Saudi-Arabien und die USA.
Jetzt komme ich zu dem Forderungsteil. 38 Forderungen der Grünen werden aufgelistet. Da kann man nur sagen: Das ist das reine grüne Wunschkonzert; das hat mit der Realität in Europa gar nichts zu tun. Es ist keine neue Idee dabei, es ist auch kein Impuls dabei, sondern es sind die alten grünen Forderungen – was so weit okay wäre. Aber dabei stellt sich ein Problem. Sie haben richtig beschrieben: Europa muss entstehen, muss handlungsfähig werden, und um handlungsfähig zu werden, muss Europa einig werden. Wir müssen kompromissfähig sein, wir müssen aufeinander zugehen. Aber in Ihren Forderungen gehen Sie nicht einen einzigen Millimeter auf irgendjemanden in Europa zu. Darum ist Ihr grüner Forderungskatalog, der das gesamte europäische Umfeld ignoriert, ein Ausdruck genau des Problems, das Sie im ersten Teil beschrieben haben, aber keine Lösung, nicht an einer Stelle. Nicht eine der 38 Forderungen ist geeignet, irgendeines der Probleme, die Sie vorher eindrucksvoll beschrieben haben, zu lösen. Darum ist das leider ein sehr enttäuschendes Papier: Es ist abstrakt richtig, aber im Konkreten unfähig.
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Ich will an zwei Beispielen sagen, wo die Notwendigkeit für Kompromisse besteht. Sie sprechen in dem Papier davon, dass europäische Verteidigungsfähigkeit auch voraussetzt, eine europäische Rüstungsindustrie zu entwickeln, dass wir also zusammenkommen müssen. Das schreiben Sie im analytischen Teil. Im Forderungsteil sagen Sie klipp und klar: Waffenlieferungen an Saudi-Arabien sind unbefristet und kategorisch zu stoppen.
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Das kann man als Position vertreten – das finden Sie richtig –; der Punkt ist nur, dass das nichts mit der Politik von Frankreich und Großbritannien zu tun hat, sondern das glatte Gegenteil dessen ist, wie der Fall in beiden Ländern gesehen wird.
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Staatspräsident Macron erklärt: Der Mord an dem saudischen Journalisten Khashoggi ist die eine Sache; Waffenlieferungen an Saudi-Arabien sind eine ganz andere Sache, die damit nichts zu tun hat.
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Ich teile die Meinung von Staatspräsident Macron nicht. Aber wir müssen uns mit den Realitäten auseinandersetzen.
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Wenn wir Einigkeit wollen, dann setzt das auch in Deutschland Kompromissfähigkeit voraus. Das müssen die Grünen einmal verinnerlichen!
Sie schlagen vor, dass sich Deutschland für ein atomwaffenfreies Europa einsetzen soll.
({6})
Das heißt, sie wollen Frankreich und Großbritannien mitteilen, dass sie ihre Atomwaffen verschrotten, abschaffen sollen. Gleichzeitig gibt es ein Land in Europa, das sowohl europäisch wie asiatisch ist. Also gibt es in Russland weiter Atomwaffen, aber im Rest Europas nicht?
({7})
– Das ist Ihre Position; Sie haben sie aufgeschrieben.
Meine Damen und Herren, wenn dieses Papier irgendwo in Europa gelesen werden sollte – ich glaube, die Aussicht darauf ist relativ bescheiden – oder wenn wir uns nur für einen Moment vorstellen, das wäre deutsche Regierungspolitik, würde das mehr als ein Kopfschütteln in ganz Europa auslösen. Man würde sagen: Deutschland kümmert sich überhaupt nicht mehr um seine europäischen Nachbarn. – Das ist ein nationaler, grüner Sonderweg, und der ist nicht europafähig, meine Damen und Herren. Das haben Sie in diesem Papier zum Ausdruck gebracht – zu meinem großen Bedauern.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Roland Hartwig für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Vertrag von Maastricht wurde 1993 erstmals eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für die Europäische Union geschaffen. Im vorliegenden Antrag der Grünen soll nun ihr zentrales Prinzip der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zugunsten von Mehrheitsentscheidungen aufgeweicht werden. Mit anderen Worten: Andere Staaten können dann mehrheitlich auch über deutsche Außen- und Sicherheitsinteressen entscheiden. Das lehnen wir kategorisch ab.
({0})
Die Grünen wollen weiter die Glaubwürdigkeit der EU für außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen wie derherstellen. Aber wie glaubwürdig ist es denn, wenn Sie dem Bürger auf der einen Seite versprechen, die EU werde wieder näher am Menschen sein, wir in Ihrem Antrag aber gleichzeitig von einer „feministischen Außenpolitik“ und „gender-responsiven“ EU-Interventionen lesen? Glauben Sie denn wirklich, dass Sie den Menschen draußen auf der Straße die EU damit auch nur einen winzigen Schritt näherbringen? Das ist doch nicht Ihr Ernst. Wenn Ihnen Glaubwürdigkeit wirklich am Herzen liegt, müssten Sie sich dann nicht wie die AfD für die Einhaltung der deutschen Zusage an die NATO-Partner einsetzen, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren? Aber genau das tun Sie, soweit erkennbar, überhaupt nicht. Und müssten Sie dann nicht auch wie wir dafür eintreten, dass über Exportverbote gemeinsam produzierter Rüstungsgüter auch nur gemeinsam mit unseren Partnern entschieden wird? Aber auch hier: völlige Fehlanzeige.
({1})
Stattdessen betreiben Sie eine Politik, in der unsere Partner nicht mehr an Produkten „made in Germany“ interessiert sind, sondern an solchen, die möglichst „German-free“ hergestellt wurden – zum Nachteil unserer Industrie und unserer Arbeitsplätze. So weit zu Ihrer Glaubwürdigkeit!
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Und dann wollen Sie mehr Sicherheit für Europa schaffen. Angesichts Ihrer Forderung, die europäischen Grenzen geöffnet zu lassen und illegale Immigration über das Mittelmeer zu vereinfachen, schaffen Sie genau das Gegenteil: Chaos und weitere Zwietracht in Europa.
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Für die Grünen, so der vorliegende Antrag, „bedeutet Europa mehr Souveränität“. Für uns und für die Bürger in unserem Lande bedeutet mehr EU weniger Demokratie und den Verzicht auf Souveränität. Das ist nicht im deutschen Interesse.
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Sie selbst liefern auch gleich die besten Beweise für das Demokratiedefizit in der EU: Gleich mehrfach beklagen Sie in Ihrem Antrag die fehlenden Kontrollrechte und -befugnisse für das Europäische Parlament im Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber anstatt eine umfassende Demokratisierung der EU einzuleiten und damit die Akzeptanz der Bürger für Europa zu stärken, lesen wir bei Ihnen Folgendes: Aufbau eines von den Mitgliedstaaten finanzierten Systems, um die Massenmigration aus Afrika zu fördern. Anstatt Rückführung von Flüchtlingsbooten wollen Sie lieber die libysche Küstenwache zurückschicken. Sie schreiben von einer Ausweitung der Entscheidungsbefugnisse des Rates mit qualifizierter Mehrheit – um Staaten wie Ungarn, Polen und Italien, die ihre eigenen, souveränen Interessen verfolgen, einfacher mit Sanktionen belegen zu können.
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Wir sehen, dass Sie eine weitere Aufblähung der Finanzmittel und des Bürokratenapparates mit zusätzlichen Behörden für Brüssel fordern. Sie befürworten ein 13 Milliarden Euro schweres europäisches Verteidigungsinstitut, neben der NATO. Was soll das?
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Und Sie fordern eine sogenannte einsatzbereite Reserve an Mediatoren und Mediatorinnen und Experten und Expertinnen für Konfliktverhütung und Friedenskonsolidierung. Das ist grüne Außen- und Sicherheitspolitik? Sie verdient diesen Namen nicht.
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Es ist völlig sinnlos, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für Europa durch Zwang schaffen zu wollen. Polen und die baltischen Länder beispielsweise haben völlig andere außen- und sicherheitspolitische Interessen als beispielsweise Staaten des Balkans. Letztlich wird die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an dem scheitern, was Europa seit Jahrhunderten prägt und diesen Kontinent so vielfältig und reich macht: der Verschiedenheit der Kulturen und den Interessen gleichberechtigter Staaten und Völker.
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Die Außenpolitik der AfD erkennt diese realen Gegebenheiten der Staatengemeinschaft an, sie richtet sich nicht nach Wünschen und Utopien, sondern nach Interessen. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass die Außenpolitik von Staaten stets interessengeleitet ist.
Meine Damen und Herren, nicht mehr EU, sondern weniger EU ist das Gebot der Stunde. Interessante Vorschläge zu einer EU-Vertragsreform, die den Mitgliedstaaten wieder mehr Souveränität zurückgibt, kommen derzeit von der österreichischen Regierung. Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen, hat die Zeichen der Zeit hingegen nicht erkannt.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Dr. Hartwig. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir! – Dann geht es weiter mit Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer Zeit des globalen Wandels. Dieser Wandel geschieht unter anderem durch drei wichtige Trends.
Da ist zunächst der Klimawandel. Er wirkt sich auf viele Lebensbereiche aus. Fast alle Menschen auf der Erde sind davon früher oder später betroffen. Lebensmittelversorgung, Wasser sowie Flucht und Migration sind wichtige Themen in diesem Zusammenhang.
Der zweite große Trend ist die Digitalisierung. Die Digitalisierung betrifft in immer stärkerem Maße die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten. Digitale Technologien sind heute schon integraler Bestandteil unserer Infrastruktur. Das ruft neue Verwundbarkeiten unserer Gesellschaft hervor.
({0})
Der digitale Raum ist schon längst Ort zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen. Dabei geht es keineswegs nur um die Beeinflussung von Wahlen.
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– Keine Beeinflussung von Wahlen? Ich rede über Sie!
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Es geht nicht nur um die Beeinflussung von Wahlen im digitalen Raum. Die militärische Nutzung des Cyberraums schreitet voran.
({3})
Trotzdem ist die Verrechtlichung nicht fortgeschritten genug. Wir brauchen dringend die Ausdehnung des internationalen Rechts in den digitalen Raum. Es fehlen Regeln; es fehlen internationale Verträge. Wie wird künstliche Intelligenz im militärischen Bereich eingesetzt werden? Darf eine Drohne bzw. ein Rechner die Entscheidung treffen, einen Menschen zu töten?
Der dritte globale Trend ist die Rivalität zweier Supermächte. Im Osten ist es China; im Westen sind es die Vereinigten Staaten. Mittendrin ist unser Land gemeinsam mit der Europäischen Union. Hinzu kommt Russland, das auf dem europäischen Kontinent mit der Annexion der Krim Grenzen verschoben hat. Auch jenseits davon betreibt Russland eine aggressive, interventionistische Außenpolitik. Russland rüttelt an der Sicherheitsarchitektur unseres Kontinents.
Kolleginnen und Kollegen, angesichts dieser globalen Herausforderungen und der weltpolitischen Lage brauchen wir eine außenpolitisch handlungsfähige Europäische Union. Wir müssen unsere Außenpolitik europäisieren. Außenpolitik europäisieren bedeutet, Mehrheitsentscheidungen einzuführen. Außenpolitik europäisieren bedeutet, nationale Egoismen zu überdenken.
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Um gemeinsame europäische Strategien verfolgen zu können, muss man eben auch die Interessen anderer Mitgliedstaaten mitdenken. Das bedeutet mehr Sensibilität für die Themen und Anliegen unserer europäischen Partner. Bei Nord Stream 2 – das sage ich hier ganz selbstkritisch – ist uns das nicht immer gelungen. Hier müssen wir besser werden. Nur so schaffen wir das notwendige innereuropäische Vertrauen – die innereuropäische Solidarität –, derer es bedarf, um unsere europäischen Partner von Mehrheitsentscheidungen in außenpolitischen Fragen zu überzeugen. Nur wenn unsere europäischen Partner darauf vertrauen, dass wir ihre Anliegen immer – immer! – mitdenken, werden sie bereit sein, das Prinzip von Mehrheitsent scheidungen mitzutragen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Frage eines Kollegen der AfD?
Nein, danke. – Mehrheitsentscheidungen sind das notwendige Fundament einer handlungsfähigen EU, und Handlungsfähigkeit brauchen wir dringend, um uns durch die geopolitischen Turbulenzen der Zukunft zu manövrieren.
Außenpolitik europäisieren bedeutet auch, Wirtschaft und Sicherheit zusammen zu denken. Außenwirtschaftspolitik ist bereits Teil der Sicherheitspolitik. Die Sanktionspolitik der USA gegenüber dem Iran oder unsere Sanktionspolitik gegenüber Russland zeugen davon.
Die Handelspolitik haben wir in der Europäischen Union erfolgreich harmonisiert. In Handelsfragen reden wir mit einer Stimme. Das ist die Grundlage für den erfolgreichsten Wirtschaftsraum der Welt, und das macht uns in Handelsfragen zu einem sehr attraktiven Verhandlungspartner. Auch in außen- und sicherheitspolitischen Fragen werden wir erst dann den durchschlagenden Erfolg haben, wenn wir mit einer Stimme reden.
Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist es an der Zeit, dass wir mit Mehrheitsentscheidungen in außenpolitischen Fragen Handlungsfähigkeit schaffen. Das ist in unserem eigenen nationalen Interesse.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Hakverdi. – Nächster Redner: Michael Georg Link für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre ist es her, dass der Vertrag von Lissabon, also die vertragliche Grundlage für die EU von heute, verabschiedet wurde. Es war damals das Ziel, außenpolitisch möglichst häufig mit einer Stimme zu sprechen. Wir haben das Amt der Hohen Vertreterin – einer De-facto-Außenministerin der EU, die aber leider nicht so heißen darf – und einen Europäischen Auswärtigen Dienst geschaffen.
Unser Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen, ist anders als der Antrag der Grünen, der sehr breit angelegt ist und viele Aspekte umfasst, ganz genau konzentriert auf den Aspekt „Instrumente“; das ist der Punkt, um den es uns heute geht. Sind die Instrumente ausreichend, um das zu erreichen, was wir uns 2009 vorgenommen haben? Wir Freie Demokraten sagen ganz klar: Nein; sie reichen nicht aus. Es ist höchste Zeit, dass wir Europas Handlungsfähigkeit tatsächlich verbessern und das Amt der Hohen Vertreterin endlich stärken.
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Wie sah die Welt 2009 aus? Barack Obama wurde gerade als Präsident der USA vereidigt, und die transatlantischen Beziehungen waren eitel Sonnenschein. 2009 war die Wirtschaft der EU noch dreimal so stark wie die Chinas. Von diesem Vorsprung ist nichts mehr übrig. 2009 flammte gerade mal wieder der Gaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine auf. Heute haben wir einen fast schon heißen Krieg zwischen beiden Ländern mit russischen Truppen in verschiedenen Territorien der Ukraine.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können uns nicht aussuchen, in welcher politischen Zeit wir leben. Aber wir haben die Wahl, die besten Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu geben. Deshalb müssen die außenpolitischen Instrumente der EU auf den Prüfstand.
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Dass jeder einzelne Staat Nein sagen kann, wenn es um die Außenpolitik der EU geht, war ursprünglich einmal schön gedachte Theorie, gedacht als Schutzmechanismus, vielleicht sogar als Anreiz zur Einstimmigkeit. Aber nein, die Praxis zeigt uns doch, dass die Einstimmigkeit genutzt wird, um von innen zu blockieren und von außen zu spalten. Diese Einstimmigkeitsregel in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde regelrecht zur Bedienungsanleitung für Blockierer, Blockierer von innen und Spalter von außen.
Wenn wir allein an den Schwarzen Montag der Außen- und Sicherheitspolitik denken, den wir kürzlich hatten, als Italien die Einstimmigkeit bei Venezuela blockierte,
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Ungarn die Einstimmigkeit bei einer Migrationsdebatte usw. usf., und das alles in einer Sitzung. Das Resultat: Die Europäische Union ist in Fragen der Außenpolitik – bringen wir es auf den Punkt – gelähmt. Das Fazit ist für uns Freie Demokraten: Wenn wir das Ziel des Lissabonner Vertrages erreichen wollen, nämlich nach außen mit einer Stimme zu sprechen, dann müssen wir jetzt tätig werden.
Hier geht die Forderung ganz klar an die Bundesregierung: Nach der Wahl, bei der Schaffung der neuen Kommission, besteht die große Chance – die darf nicht verspielt werden –, endlich die Hohe Vertreterin für alle Bereiche der europäischen Außenpolitik zuständig zu machen, also zum Beispiel auch für die Europäische Nachbarschaftspolitik. Die Hohe Vertreterin sollte endlich von dem Berg der administrativen und politischen Aufgaben befreit werden, die sie heute hat und die sie runterziehen. Wir müssen dann so mutig sein, ihr das zu geben, was ihr 2009 verweigert wurde, nämlich politische Stellvertreter.
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Wie will das Auswärtige Amt seine Arbeit machen ohne die drei Staatsminister? Drei sind es inzwischen; früher waren es zwei.
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Es gibt also viele Gründe, politische Stellvertreter zu haben, und unsere Bundesregierung ist ein guter Beweis dafür, dass das, unabhängig davon, was genau damit gemacht wird, in der Theorie auch sinnvoll ist.
({5})
Jedenfalls hat die Hohe Vertreterin, so wie ihr Amt heute angelegt ist – das ist nicht scherzhaft gemeint –, Beton an den Beinen und kann den Erfolg, den wir von ihr erwarten, gar nicht haben. Also: Wir müssen auch ran an das Einstimmigkeitsprinzip. Das geht; Artikel 31 des EU-Vertrages lässt das zu.
Ich sage es noch mal ausdrücklich, weil wir es gerade von rechts außen gehört haben: Souveränitätsübertragung, gemeinsame Abstimmungen, das ist alles sehr wohl im Grundgesetz angelegt. Von Anfang an waren die Integration und auch die schrittweise Übertragung von Souveränitäten im Grundgesetz angelegt. Daran hat kürzlich Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle in einem wichtigen Aufsatz erinnert.
Also: Wenn wir die EU als Akteur stärken wollen, dann müssen wir jetzt dafür sorgen, dass wir nicht zum Spielball fremder Mächte werden, sondern die EU stärken. Mit diesem Antrag werden wir tätig.
Wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
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Vielen Dank, Michael Link. – Nächster Redner: Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier Anträge von den Grünen und der FDP vorliegen, die eines gemeinsam haben: Beide wollen prinzipiell eine EU, die in der Weltpolitik mitspielt und als Global Player agiert, auch militärisch. Genau da unterscheiden wir als Linke uns von FDP und Grünen.
({0})
Wir wollen ein friedliches und soziales Europa. Wir wollen eine zivile Europäische Union. Was wir nicht wollen, ist eine weitere Großmacht auf der Welt, eine Europäische Union, die Soldatinnen und Soldaten in alle Welt schickt. Das wollen wir nicht, und deshalb sagen wir klar Nein zu diesen vorgelegten Anträgen.
({1})
Der scheidende Kommissionspräsident Juncker hat einen schönen Begriff für diese Europäische Union erfunden: die Weltpolitikfähigkeit. Jetzt habe ich zur Kenntnis genommen, dass sich Grüne und FDP diesen Begriff zu eigen machen. Das klingt nicht nur nach Großmachtpolitik, sondern genau das ist damit gemeint: Die EU will mitmischen im Konkurrenzkampf der Großmächte, und dafür soll sie auch hochgerüstet werden. Genau das wollen wir nicht.
({2})
Übrigens habe ich mit Interesse in dem Grünenantrag gelesen, dass auch die G rünen dafür sind, dass die EU „weltpolitikfähig“ wird, und die Deutsch-Französische Brigade und das Europäische Lufttransportkommando sind für Sie „wertvolle Ansätze gelebter Zusammenarbeit in Europa“.
({3})
Nicht wirklich, oder? Wir sagen dazu Nein.
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Was wird in diesem Bereich gerade nicht alles diskutiert! Wir brauchen keine EU-Armee und auch keinen europäischen Flugzeugträger. Das ist völlig absurd. Wir brauchen auch kein neues europäisches Spezialkampfflugzeug, nein, auch keine europäischen Atomwaffen und natürlich auch keine – im Übrigen bewaffnete – Euro-Drohne. Das sind alles Vorschläge, die gerade herumgeistern. Das ist Aufrüstung, und die wird nicht besser, wenn der EU-Stempel darauf ist.
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Wir lehnen es ab, das Einstimmigkeitsprinzip in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu schleifen. Worauf läuft es denn hinaus? Es läuft darauf hinaus, dass die Regierungen einiger großer EU-Mitgliedstaaten die Außenpolitik unter sich ausmachen. Der Rest, nämlich die schwächeren EU-Mitglieder, und die europäische Öffentlichkeit bleiben außen vor. Wir sind klar gegen die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips der Europäischen Union.
({6})
Sie wollen die EU zum Globalplayer machen und gleichzeitig die Vormachtstellung der großen EU-Mitglieder gegen die kleinen durchsetzen. Eine deutsche Dominanz in Europa ist der völlig falsche Ansatz.
({7})
Herr Röttgen, wenn Sie sagen, Rüstungsexporte wären notwendig, weil man sich mit Frankreich oder Großbritannien abstimmen müsse, dann sage ich Ihnen klipp und klar: Die Rüstungsexporte werden auch nicht besser, wenn sie mit Frankreich oder Großbritannien abgestimmt sind oder wenn der EU-Stempel darauf ist. Rüstungsexporte müssen beendet werden, insbesondere in solche Länder wie Saudi-Arabien.
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In der letzten Sitzung vor der Europawahl hat das Europäische Parlament den Europäischen Verteidigungsfonds in Höhe von 13 Milliarden Euro beschlossen. Im Übrigen waren alle Fraktionen hier außer unserer dafür. Wir sagen:
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Die Formulierung, es handele sich dabei um Industrieförderung, ist nichts anderes als eine Trickserei. Hier wird Artikel 41 Absatz 2 des Lissabon-Vertrags direkt umgangen. Ich sage klipp und klar: Es dürfen keine Gelder des EU-Haushaltes für Militärisches eingesetzt werden. Deshalb ist dieser Europäische Verteidigungsfonds falsch. Wir lehnen ihn ab. Er ist nur etwas Zusätzliches für die Rüstungsindustrie. Das ist falsch, und das wollen wir nicht.
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Es gibt ein Military-Mobility-Programm, Kostenpunkt: 6,5 Milliarden Euro. Damit soll die gesamte Infrastruktur der Europäischen Union, wie es so schön heißt, panzertauglich gemacht werden. Ich kann nur klar sagen: Nein, dieses Military-Mobility-Programm der Europäischen Union wollen wir nicht. Auch das ist Aufrüstung, und auch das lehnen wir ab.
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Denken Sie bitte an die Redezeit!
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Antrag der Grünen und der Antrag der FDP sind im Kern eine Befürwortung der militärischen Komponente der Europäischen Union. Dazu sagen wir Nein. Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Tobias Pflüger. – Die nächste Rednerin, Dr. Katja Leikert, hält ihre Rede nicht, gibt sie aber zu Protokoll, und der nächste Redner, Dr. Nils Schmid, hält seine Rede auch nicht, sondern gibt seine Rede zu Protokoll.
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Der nächste Redner: Mario Mieruch, Sie haben jetzt das Wort.
Es geht ja auch ganz schnell. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Europa ist eine Halbinsel am Rande des asiatischen Kontinents. Ob China, Russland oder die USA, wir können es nicht alleine mit den Großmächten unseres Planeten aufnehmen, wenn wir als Europäer nicht zusammenarbeiten. Die integralen Felder dieser Zusammenarbeit – ich beschränke mich hier auf zwei – sind ökonomische Stärke und Sicherheit. In beiden liegen wir zurück.
Dem Rennen der Supermächte um die Ressourcen schauen wir Europäer vom Rande aus zu. Den Herausforderungen einer multilateralen Welt begegnen wir nur mit wohlmeinenden Friedenshoffnungen. Wir drücken uns beim Verteidigungsetat nicht nur vor unserer NATO-Selbstverpflichtung, nein, wir fürchten paradoxerweise zugleich eine neue russische Expansion in Osteuropa und verprellen zuletzt auch noch die einzige wirksame Militärmacht auf diesem Kontinent, nämlich die Amerikaner.
Entweder stocken wir unser eigenes Militär auf, oder wir verhandeln mit Putin, oder wir kooperieren intensiv mit den USA. Wir können nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Der Versuch macht uns als Partner nur unglaubwürdig. Vorbildfunktion übernehmen wir nur da, wo es uns passt, und dann appellieren wir auch an den europäischen Geist.
Unser ökonomischer Wohlstand hierzulande wie in Europa hängt dabei massiv von der Zukunft der Energieversorgung ab. Hier spielen wir gern den Besserwisser und erwarten, dass das deutsche Modell zum europäischen wird. Dabei wäre hier die Möglichkeit gegeben, insbesondere in Kooperation mit Frankreich und einer Renaissance der Kernenergie echte europäische Projekte zu ermöglichen. Ansonsten müssen wir bald nicht nur Trassen durch Deutschland, sondern quer durch Europa bauen. Auch die Polen starten gerade ihr erstes Kernenergieprojekt, und sie werden es nicht einstellen, nur weil Frau Barley in Europa alle Kernkraftwerke abschalten möchte.
Zugleich importieren wir die Schlüsselrohstoffe für unsere Energiewende aus dem europäischen Ausland. Wir tauschen russisches Erdgas gegen Abhängigkeit von China ein und erschweren durch unseren moralischen Überlegenheitsanspruch insbesondere unserem Mittelstand die globale Wettbewerbsfähigkeit wie kein anderes Land auf der Welt.
Für die Blaue Partei ist somit klar:
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Wir brauchen eine doppelte europäische Sicherheitspolitik – in Verteidigungs- wie in Energiefragen. Absichern, weiterentwickeln, neu absichern, neu weiterentwickeln, das hat sich bewährt.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Mario Mieruch. – Letzter Redner in dieser Debatte: Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über die zukünftige Verteidigung auf unserem Kontinent. Die große Mehrheit in der Mitte ist sich zumindest darin einig, dass wir einen europäischen Ansatz suchen müssen. Die linke Seite ist der Meinung: Wir sind nur dann für Europa, wenn es ein extrem linkes Europa ist; ansonsten sind wir dagegen. – Die AfD ist sowieso der Meinung, die globalen Probleme sollten am besten national gelöst werden; denn gegen China, Russland und Amerika kann man besser allein angehen als in einer Kooperation.
Es wurde schon beschrieben: Die Welt ist im Umbruch. Wir schauen in die Ferne, in den Nahen Osten und – das ist schon näher – in die Ukraine; aber wir müssen auch nach Europa schauen. Wir erleben gerade die Diskussion um den INF-Vertrag. Er ist ausgesetzt, und es stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Das ist eine Entwicklung zulasten Europas. Nun stellt sich die Frage, ob wir auf die Amerikaner und Russland nur einwirken wollen oder ob wir, wenn die Welt sich so verändert, in der Lage sind, selber Lösungsansätze zu bieten.
Frau Brugger, in Ihren einführenden Worten, für die ich sehr viel Sympathie habe, in denen Sie das Friedensmodell Europas, die friedliche Einigung Europas – das ist eine große Errungenschaft –, beschrieben hab en, wird Folgendes komplett ausgeblendet – das ist sicherlich auf die Geschichte der Grünen zurückzuführen –: Bevor die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einigung Europas möglich wurde, war Deutschland ein Ort der Hochrüstung. Es standen sich zwei Blöcke gegenüber. Letztendlich hat es die Politik geschafft, aus dieser Konstellation heraus die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und die friedliche Einigung Europas ohne einen Schuss zu erreichen. Bitte blenden Sie dieses Thema für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht aus. Es reicht nicht, hier einen Konsens zu haben. Vielmehr muss man verschiedene Mittel haben: Das ist die Diplomatie, die Entwicklungshilfe, aber, meine Damen und Herren, das ist auch eine gemeinsame Rüstungspolitik in Europa.
Hier wird regelmäßig der europäische Flugzeugträger angesprochen. Meine Damen und Herren, man muss die Realitäten sehen. Ich warte noch auf den Antrag von Ihnen, Herr Trittin, in dem Sie fordern: Wir müssen für eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa die französischen Flugzeugträger abrüsten und dafür deutsche Steuergelder einsetzen. Dann sind Sie bereit, diesen Weg zu gehen. – Das ist der falsche Weg, Herr Trittin.
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Wir müssen schlicht und ergreifend Stück für Stück hart an der Sache arbeiten. Wir müssen die Probleme und auch Gegensätze auflösen. Wir haben eine Parlamentsarmee, die wir nicht aufgeben wollen, und die Franzosen haben ein anderes Prinzip für ihre Armee. Letztendlich geht es um den gemeinsamen Weg. Es gilt, hier die Voraussetzungen zu schaffen und eben nicht nur zu postulieren, dass man eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik will. Wenn man aber das konkrete Handeln von Ihnen, die hier diese Anträge eingebracht haben, anschaut, dann kommt man schnell zu dem Schluss, dass Sie diese nicht wollen. Das gilt beim Rüstungsverhalten, bei Rüstungskooperationen, das gilt für die entsprechenden Maßnahmen auf europäischer Ebene.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur FDP sagen: Den Appell an die Bundesregierung zu richten, ist schön. Ich gebe den Appell an Sie zurück. Sie sind ja demnächst in einer Koalition mit Macron. Wenn Sie eine gemeinsame Außenpolitik haben wollen – heute Abend debattieren wir ja noch Ihren Antrag zur Situation im Nahen Osten –, dann sorgen Sie bitte dafür, dass Herr Macron auf französischer Seite diesen gemeinsamen Weg geht. In Libyen war er dazu bisher nicht bereit. Das hat sich erst in letzter Zeit gewandelt. Es wird also ein hartes Stück Arbeit, Herr Graf Lambsdorff. Ich hoffe, dass die Koalition mit Macron in diesem Bereich fruchtbar sein wird und dass Sie ihm nicht hinterherrennen werden, was die Aufweichung des Euro und der Stabilitätskriterien betrifft.
Besten Dank.
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Vielen Dank, Alexander Radwan. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10185 und 19/10155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da Sie damit einverstanden sind, sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 12 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Handlungsfähigkeit der europäischen Außenpolitik verbessern – Rolle der Hohen Vertreterin und des Europäischen Auswärtigen Dienstes stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8012, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/822 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, der Linken und der AfD, dagegengestimmt hat die antragstellende Fraktion, die FDP, und enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa wird aus Mut gemacht. Mut haben Deutschland und Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten oft bewiesen, so auch vor 56 Jahren, als sie den Élysée-Vertrag auf den Weg brachten. Nur wenige Jahre nach einem verheerenden Krieg, nach Holocaust, nach Faschismus haben vor allem unsere französischen Freundinnen und Freunde Mut bewiesen, als sie uns die Hand zur Versöhnung gereicht haben.
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Das war, ist und bleibt beispielgebend für ganz Europa. Versöhnung und Frieden und Verständigung sind möglich.
Jetzt gehen wir einen neuen Weg, nicht, indem wir die alten Pfade verlassen, sondern indem wir mit neuem Mut voranschreiten, gerade in einer Zeit, wo viele an Europa zweifeln, verzweifeln, Ängste vorhanden sind gegenüber Europa, vor der Globalisierung. Das, was wir jetzt mit Ihrer Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den Weg bringen, ist der Versuch, den Menschen deutlich zu machen, dass der Abbau von Grenzen und Mauern und Zäunen, dass mehr Integration, mehr Freundschaft, mehr Zusammenarbeit am Ende einen konkreten Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag versprechen. Deshalb ist die Umsetzung dieses Vertrages aller Ehren und aller Mühen wert.
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Aber es geht eben nicht nur um eine noch engere deutsch-französische Zusammenarbeit. Es geht auch darum, dass wir Mut machen für mehr Europa. Ich weiß, dass es auch kritische Fragen gibt. Ist das die neue deutsch-französische Dominanz? Wollt ihr uns sagen, wo es langzugehen hat? Mitnichten. Das, was wir in diesem erneuerten Vertrag jetzt angelegt haben, ist ein Angebot an alle Mitgliedstaaten in Nord und Süd, Ost und West, an die kleinen und die großen. Wir brauchen alle, und wir laden alle dazu ein, an einem stärkeren, solidarischeren, handlungsfähigeren Europa mitzuarbeiten. Dieses Angebot steht.
Ich will nur einige wenige Bereiche benennen, wo es notwendig ist, dass wir noch enger zusammenarbeiten, dass wir Vorurteile und Klischees überwinden und dass wir uns gemeinsam an die Arbeit machen. Klimaschutz ist ein wichtiges Thema. In der vergangenen Woche hat es dazu auch eine kritische Diskussion, nicht zuletzt zwischen Deutschland und Frankreich, gegeben. Am Ende hängt es aber maßgeblich von uns Europäerinnen und Europäern ab. Schaffen wir es, Mut zu machen und zu zeigen, dass der Satz von Donald Trump, dass Klimaschutz ein Jobkiller ist, nicht stimmt?
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Deshalb müssen wir einerseits das Angebot der jungen Leute ernst nehmen, uns kritisch zu unterstützen, aber eben auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen, mitnehmen. Das können Deutschland und Frankreich in enger Zusammenarbeit mit anderen. Das gilt auch für das soziale Europa.
Im Aachener Vertrag haben wir ein klares Bekenntnis dazu abgegeben, dass Europa sozialer werden muss, dass wir unsere Bürgerinnen und Bürger schützen müssen. Es liegt eine Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch: Mindestlöhne überall, soziale Grundsicherung überall, endlich eine gerecht e und faire Besteuerung der international und europaweit agierenden Konzerne.
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Das geht nur, wenn Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten und wenn wir uns alle am Riemen reißen und diese Zusammenarbeit mit Leben erfüllen.
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Ein letzter Punkt – ich weiß, dass es viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die das mit großem Engagement verfolgen – ist die Zusammenarbeit in den sogenannten Grenzregionen. Am Ende geht es vor allem darum: Gelingt es uns, dass die Grenze im Alltag der Menschen gänzlich unsichtbar wird? In den Bereichen Gesundheit, Brandschutz, Sicherheit, Bildung, Qualifizierung wollen wir als Bundesländer, als Kommunen, als Kreise, als Regionen und Departements deutlich machen: Es gelingt, und Europa wird besser, wenn Grenzen verschwinden.
Deshalb bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre engagierte Debatte – die kommt ja gleich noch – und um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Roth. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Alexander Gauland.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über den Aachener Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich zur deutsch-französischen Zusammenarbeit und Integration. Er enthält viel diplomatisches Wortgeklingel und manche guten Vorsätze. Beides ist nicht mein Thema.
Unser aller Thema muss allerdings die in Artikel 4 festgelegte Beistandsverpflichtung sein, in der sich beide Vertragspartner verpflichten, im Falle eines Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete einander jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, einschließlich militärischer Mittel, zu leisten. Dies, meine Damen und Herren, ist ein Novum gegenüber dem als Vorbild gepriesenen Élysée-Vertrag von 1963, und es schafft eine neue, über die Beistandsklausel in Artikel 5 des NATO-Vertrages hinausgehende Verpflichtung. Das Ganze ist also nicht nur mehr als Symbolpolitik und Grenzüberschreitung, sondern es reicht auch territorial weiter als die NATO-Verpflichtung. Diese ist bekanntlich nach Artikel 6 des NATO-Vertrages auf die Gebiete nördlich des Wendekreises des Krebses beschränkt, während die neue Verpflichtung sich auch auf die französischen Überseedepartements südlich dieser Linie erstreckt.
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Nun könnte man dies als eine Bagatelle abtun,
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als einen Fall, der niemals eintreten wird, wäre da nicht eine weitere Unsicherheit, nämlich die Einbeziehung französischer Nuklearwaffen. Sie werden nicht erwähnt, was darauf hindeutet, dass sie in die Beistandsverpflichtung nicht einbezogen sind. Es ist aber schwer vorstellbar, dass Frankreich zu seiner eigenen Verteidigung auf die ihm so teure Force de frappe verzichtet.
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Was bedeutet das aber für Deutschland und seinen Verzicht auf Atomwaffen? Alles ungeklärt!
Meine Damen und Herren, militärischer Beistand berührt das Existenzrecht eines Staates. Umfang und territoriale Erstreckung müssen deshalb zweifelsfrei definiert und Interpretationslücken auf jeden Fall vermieden werden,
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sonst besteht die Gefahr eines schlafwandlerischen Hineingleitens in militärische Abenteuer.
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Die europäische Geschichte liefert dafür leider genügend schlechte Beispiele.
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Aber, meine Damen und Herren, noch etwas anderes muss uns besorgen. Jedes neue bilaterale Beistandsversprechen schwächt das multilaterale NATO-Bündnis, das allein durch den amerikanischen Anker die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands garantiert.
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Die privilegierte Partnerschaft mit Frankreich, die EU der zwei Geschwindigkeiten, ist leider ein Symptom diplomatischen Versagens.
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Außer Macron hat die Bundeskanzlerin für ihre politischen Ziele offensichtlich keine Verbündeten mehr. Die Entfremdung zu Amerika ist nach drei Jahren Trump-Bashing durch deutsche Politiker und Medien komplett. Mit den Briten sind wir wegen des Brexits zerstritten. Die Osteuropäer haben es satt, von Deutschland geschulmeistert zu werden. Die Beziehungen zu Russland sind denkbar schlecht. Was für eine traurige Bilanz.
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Meine Damen und Herren, ausgerechnet eine Bundesregierung, die gern von der regelbasierten Multilateralität schwärmt, schwächt diese da, wo sie 70 Jahre funktioniert hat. Schon deswegen, meine Damen und Herren, halten wir dieses deutsch-französische Abkommen für keine gute Idee und werden ihm nicht zustimmen. Ich würde mich freuen, wenn der Herr Staatsminister auf die Frage der Verteidigung eingehen würde und nicht nur davon schwärmen würde, dass jetzt Grenzen überschritten werden können.
Danke, meine Damen und Herren.
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Danke schön, Dr. Gauland. – Nächste Rednerin in der Debatte: Ursula Groden-Kranich für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich freue mich, dass ich den Minister für Europaangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen in dieser Debatte zu dieser späten Stunde begrüßen darf. Herzlich willkommen!
Der Vertrag von Aachen – vielleicht ist er deswegen hier – und das Parlamentsabkommen, das ihn ergänzt und unsere gemeinsame deutsch-französische parlamentarische Arbeit komplett neu definiert, haben hohe Erwartungen geschürt. Nun befinden wir uns in den Niederungen der politischen Arbeit und in der Detailausarbeitung. Zwei vollkommen unterschiedliche politische Systeme stoßen aufeinander und müssen und werden sich finden. Während der französische Präsident mit einer Fülle an Macht ausgestattet ist und seinem Parlament seine Wünsche zur Beschlussfassung vorlegt, ist dies der deutschen Bundeskanzlerin nicht möglich. Der Deutsche Bundestag möchte und muss gefragt werden. Auch die Beteiligung der Länder führt zu Kompromissen in der Beschlussfassung. Dies kennen unsere französischen Freunde so noch nicht.
Ich bin begeisterte Europäerin und lebe dies auch mit meiner Familie und meinen Freunden. Ich finde es großartig, dass meine Tochter die Möglichkeit hat, in einem freien Europa aufzuwachsen. Und dieses freie Europa gilt es insbesondere in den aktuellen Zeiten zu beschützen: gegen rechts und gegen links.
Unsere französischen Freunde sind starke Partner an unserer Seite. Gemeinsam sollten wir den Mut haben, erst die Chancen zu sehen, bevor wir die Risiken bewerten,
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den Mut, dass wir unsere Entscheidung auch mit den Augen unserer französischen Freunde sehen und umgekehrt. Ich wünsche uns mehr Offenheit, Fragen direkt an die Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde zu stellen, bevor wir öffentlich darüber diskutieren. Aber das betrifft nicht nur die deutsch-französische Zusammenarbeit. Das kennen wir alle aus parteiinternen Debatten.
Ich selbst habe im vergangenen Jahr an diesen Verträgen mitarbeiten dürfen,
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habe die Gemeinsamkeiten, aber auch die Differenzen miterlebt, nicht nur zwischen Franzosen und Deutschen, sondern auch zwischen unseren Parteien. Zusammenarbeit bei Verteidigung und Energieversorgung gemeinsam zu intensivieren, ist aber genauso schwer, wie gemeinsam die Freizügigkeit umzusetzen vor dem Hintergrund der Mindestlohndebatte und der Tätigkeit südosteuropäischer Unternehmen in Frankreich und Deutschland, die die jeweiligen nationalen Standards unterlaufen.
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Lassen Sie uns gemeinsam in und für Euro pa arbeiten, und stimmen Sie deshalb der Ratifizierung des Aachener Vertrages zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Groden-Kranich. – Nächster Redner: Michael Georg Link für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion ist froh, dass wir es mit diesem Vertrag, den wir gemeinsam nach langer, langer Arbeit, auch unter Mitwirkung der Parlamentarier, vorlegen, geschafft haben, unsere Zusammenarbeit auf eine neue Stufe zu heben. Wir sind natürlich sehr dafür.
Lassen Sie mich doch einige Dinge sagen, weil wir zwischen Deutschland und Frankreich aktuell politisch einige Probleme haben. Der französische Präsident hat in seiner Pressekonferenz vorletzte Woche seiner Enttäuschung über Deutschland Luft gemacht.
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Dort hat er eine neue, wenig wünschenswerte Beschreibung für unsere Zusammenarbeit gefunden. Er hat sie wörtlich genannt „eine fruchtbare Konfrontation“. Wir brauchen zwischen Frankreich und Deutschland aber keine fruchtbare Konfrontation; wir brauchen eine fruchtbare Kooperation.
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Die erreichen wir nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Union und SPD, wenn diese Bundesregierung in Sachen deutsch-französische Beziehungen jenseits der großen Verträge und Töne endlich ernsthaft an die Arbeit geht.
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Zweimal hat Macron einen Ideenkatalog für die Zukunft Europas vorgestellt, wobei man nicht mit allem einverstanden sein muss. Die Inhalte – das weiß Macron selbst – werden immer umstritten sein. Das erste Mal wurde er von der deutschen Regierung lange gar nicht beantwortet. Das zweite Mal hat sich eine merkwürdige Sache ereignet. Die neue CDU-Vorsitzende, die es als Saarländerin eigentlich besser wissen müsste, antwortete dem Präsidenten mit der Überschrift „Europa richtig machen“ auf eine Art und Weise, die aus französischer Sicht eine Maßregelung war, die völlig danebenging.
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Diese Überheblichkeit kam bei den Franzosen nicht gut an. Das haben wir in der ersten Sitzung unserer Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung gemerkt, bei der alle Fraktionen durch die Bank das angesprochen haben. Das ist schon interessant. So kann es eben nicht gehen.
Als Partner, liebe Freunde, muss man nicht immer einer Meinung sein. Das ist klar. Aber Frankreich ist nun mal der wichtigste europäische Verbündete. Deshalb kann man nicht oft genug betonen, wie wichtig solche Verbündete sind. Sich auf sie einzulassen, ist das Mindeste, was wir von der Vorsitzenden einer Regierungspartei erwarten können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was macht die SPD? Anstatt den Fauxpas des Koalitionspartners zu beheben, belastet sie die deutsch-französische Zusammenarbeit – ich muss es so deutlich sagen – durch parteipolitische Spielchen. Da blockieren die Sozialdemokraten gemeinsame Projekte, gerade im militärischen Bereich, zum Beispiel das Projekt des neuen Kampfflugzeuges oder das des neuen Kampfpanzers. Die Franzosen werden in einer Warteschleife gehalten. Das frustriert die Franzosen verständlicherweise. So wird dann aus Kooperation Konfrontation.
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Also: Es ist kein Grund nur für Feierstimmung. Wir freuen uns sehr über den Vertrag, aber es zeigt, wie weit wir in der Praxis von dem entfernt sind, was eigentlich zwischen Deutschland und Frankreich möglich wäre. Deshalb: Ja, wir werden der Ratifizierung zustimmen, und wir freuen uns auch auf die Beratungen im Ausschuss. Aber wir als Parlamente haben mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung auch vorgelegt. Wir haben ein Abkommen zwischen Assemblée nationale und Bundestag verhandelt. Es gibt ein einzigartiges Forum, das es so kein zweites Mal gibt, das in der Lage sein soll, über konkrete Probleme und Sorgen der Menschen zu sprechen. Es ist enttäuschend, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sowohl der Bundestag – er wird am Rande erwähnt – als auch die französische Versammlung – sie wird sehr am Rande erwähnt – eine absolut stiefmütterliche Rolle in diesem Aachener Vertrag spielen.
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Sie hätten sehr viel deutlicher eingebunden werden können und müssen.
Deshalb: Jeder kann einmal Opposition oder Regierung sein. Das trifft alle. Das ist mein Appell besonders an die Regierungsfraktionen. Das kann Sie bald genauso treffen, wie es jetzt andere trifft. Wenn wir die Ratifizierung des Aachener Vertrages machen, dann lassen Sie uns als Parlament gleichzeitig versuchen, eine Erklärung zu verabschieden des Inhalts, dass die Vorhabenliste des Aachener Vertrages, die so wichtig ist, nicht nur dem Parlament berichtet wird, sondern dass sie gemeinsam mit dem Parlament erarbeitet und bearbeitet wird. Das ist wichtig, damit wir aus der reinen Politik der Konferenzsäle herauskommen in die Öffentlichkeit der Parlamente.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Michael Link. – Nächste Rednerin: Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst mal möchte ich sagen: Es ist eigentlich nicht angebracht, so einen wichtigen Vertrag hier zu so später Stunde zu debattieren. Da frage ich mich, warum dieser Tagesordnungspunkt so spät aufgesetzt wurde. Zudem ist es eigentlich inakzeptabel, dass wir ihn jetzt erst debattieren, nachdem Angela Merkel und Macron ihn ja bereits unterzeichnet haben.
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Auch diese Reihenfolge stimmt nicht.
Der Aachener Vertrag als Nachfolger des Élysée-Vertrags von 1963 ist nur auf den ersten Blick ein Freundschaftsvertrag wie sein Vorläufer;
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denn beim Aachener Vertrag geht es zentral um einen binationalen Aufrüstungsvertrag. Das Kernstück des Vertragswerks ist die Aufrüstung im Rahmen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Stärkung der jeweiligen Rüstungsindustrie, insbesondere durch noch schwammigere Rüstungsexportrichtlinien als die bisher geltenden. Ich frage Sie: Braucht die deutsch-französische Freundschaft wirklich gemeinsame Aufrüstungsanstrengungen? Ist dies denn die Lehre aus Verdun, gemeinsam Rüstungsgüter zu produzieren und in Zukunft leichter in Diktaturen wie Saudi-Arabien exportieren zu können? Das ist doch wirklich völlig verantwortungslos,
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und es führt die großartige Erfahrung der Versöhnung völlig ad absurdum. Deshalb lehnt meine Fraktion diesen Aufrüstungsvertrag ab.
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Es ist ein Armutszeugnis – das muss ich schon sagen –, dass Kanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Macron kein anderes Feld zentraler Zusammenarbeit eingefallen ist als das der Militarisierung. Welche Chancen wurden da versäumt, gemeinsam soziale Standards zu schützen und Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte auszubauen oder Großkonzerne wirksam zu besteuern,
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was übrigens – möchte ich mal sagen – Herr Scholz auf europäischer Ebene verhindert hat! Stattdessen soll die deutsch-französische Freundschaft an mehr Militär und Rüstung genesen. Das ist doch ein absoluter Irrweg.
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Gleich die ersten acht Artikel in den beiden ersten Kapiteln handeln ausschließlich von starker Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Dann erst kommen Bildung, Kultur, Forschung und Mobilität. Das zeigt doch schon die Gewic htung. Es gibt eine Willenserklärung zu gemeinsamen militärischen Interventionen und zur Einrichtung eines Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats. Wer braucht den eigentlich?
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Wer glaubt, dass die Schaffung eines imperialen Kerneuropas
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die Antwort auf die Krise der EU ist, der ist entweder naiv oder völlig verantwortungslos.
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Denn dies ist nichts weiter als ein Schritt zur Zerstörung der Europäischen Union. Sie missachten damit nämlich nicht nur die anderen EU-Mitgliedstaaten, sondern auch die Parlamente. Deswegen kritisieren wir diesen Vertrag und lehnen ihn ab.
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Ich möchte noch mal sagen: Es war wirklich ein ungeheuerlicher Vorgang, dass der Bundestag nach der Unterzeichnung des Vertrags und der Ausarbeitung des dazugehörigen Parlamentsabkommens
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erst durch die Medien erfuhr, dass es ein Geheimabkommen zum Aachener Vertrag gibt, das deutsch-französische Rüstungsexporte erleichtern soll. Damit können Rüstungsgüter, die mit deutscher Beteiligung entwickelt worden sind, an den deutschen Rüstungsexportrichtlinien und -exportkontrollen vorbei an kriegführende Drittstaaten wie zum Beispiel Saudi-Arabien verkauft werden – und das trotz gegenteiliger Aussagen im Koalitionsvertrag.
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Damit tricksen Sie ja eigentlich die eigenen Kollegen und Kolleginnen und auch Ihre Wähler und Wählerinnen aus. Das ist keine deutsch-französische Freundschaft; das ist Geschäftemacherei mit dem Tod.
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Und es passt zur Ignoranz der Parlamente, dass im Vertrag selbst eine parlamentarische Kontrolle für die enge deutsch-französische Kooperation bei Militär und Rüstung nicht einmal erwähnt wird. Es ist wirklich beschämend, dass selbst der wilhelminische Reichstag hier mehr Rechte hatte.
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Das Europa von Merkel und Macron à la Aachener Vertrag ist eine bizarre Mischung aus Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie neoliberaler und autoritärer Orientierung – und das auch noch im Namen der Völkerfreundschaft.
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Denken Sie an die Redezeit.
Genau. – Dieses Europa verdient jeden Widerstand, ganz im Sinne von Liberté, Egalité, Fraternité – für wirklichen Frieden, soziale Gerechtigkeit und Internationalismus.
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Vielen Dank, Heike Hänsel. – Nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Franziska Brantner für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Der Aachener Vertrag, den wir heute diskutieren, kann das reale Zerwürfnis zwischen deutscher und französischer Regierung nicht übertünchen. Es gibt gerade keinen deutsch-französischen Schulterschluss in und für Europa.
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Diese Bundesregierung zeigt Frankreich nur noch die kalte Schulter. Das ist angesichts des aktuellen Stresstests für Europa einfach nur verantwortungslos.
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Ich nenne Ihnen drei Beispiele.
Erstens: Klima. Macron initiiert eine europaweite Klimainitiative zum EU-Gipfel letzte Woche.
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Schweden, Dänemark, Spanien, Portugal, Belgien, Luxemburg und die Niederlande – sie sind alle mit an Bord.
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Und Deutschland? Fehlanzeige.
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– Niederlande nicht, Schweden nicht.
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– Die anderen, die dabei sind, machen echten Klimaschutz. Dann soll Deutschland dazukommen und echten Klimaschutz machen. Es ist keine Ausrede, um einfach nichts zu tun, liebe Kollegen von der SPD.
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Genauso ist es beim Artensterben. 1 Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Frankreich macht einen Plan, bietet Deutschland Kooperation an. Was macht Deutschland? Nada, nichts!
Zweites Beispiel: Steuern. Wenn ich momentan vor Ort unterwegs bin, ist Fairness ein großes Thema: Frau Brantner, wie kann es sein, dass sich Betrüger und Internetgiganten die Taschen vollmachen, während wir Bürgerinnen und Bürger unseren fairen Anteil zahlen? – Diese Frage ist absolut berechtigt. Mehr als 50 Milliarden Euro wurden dem Staat durch Umsatzsteuerbetrug geklaut. Vorschläge von der Europäischen Kommission liegen auf dem Tisch. Wer blockiert? Diese Regierung!
Google, Amazon und Co zahlen weniger Steuern als jeder Bäcker an der Ecke. Es gab Vorschläge von der Kommission zur Digitalsteuer. Herr Schäuble war noch dafür. Wer hat es kleingehäckselt und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben? Die Kanzlerin und der Finanzminister dieser Regierung, Olaf Scholz!
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Ich gebe Ihnen heute ein weiteres, ganz konkretes Beispiel. Im Aachener Vertrag und in seiner Vorhabenliste steht zum Beispiel der Wiederaufbau der Eisenbahnbrücke auf der Strecke Colmar–Freiburg – die letzte Brücke, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.
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Es handelt sich um ein gemeinsames Projekt aus dem Anhang zum Aachener Vertrag. Andi Scheuer sagt heute: Dafür haben wir auf Bundesebene kein Geld; das ist keine Priorität für uns; das muss Baden-Württemberg alleine stemmen. – Auch das ist die kalte Schulter in Richtung Frankreich: ein Vorzeigeprojekt und kein Geld aus Deutschland!
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Nichts kommt da. Das Einzige, was kommt, ist ein emotionsloser Gastbeitrag der CDU-Chefin, um Straßburg als Sitz des Europaparlaments zu beseitigen.
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Das ist einfach nur verantwortungslos. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann Europa auch durch Nichtstun zerstören, und das ist das, was diese Regierung gerade tut.
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Und sind wir doch mal ehrlich: Die Aufgaben sind riesig – Klimaschutz, Digitalisierung, Zukunft der Arbeit, China, USA, die großen Herausforderungen –, und wir wissen doch, dass wir in dieser Welt nur gemeinsam mehr erreichen können, dass wir es nur gemeinsam besser machen können. Es gibt in Europa zwei Arten von Ländern: die kleinen Länder und die, die noch nicht verstanden haben, dass sie klein sind. Zu Letzteren gehören insbesondere wir. Diese Bundesregierung muss endlich aufwachen, handeln.
Frau Merkel sagt heute in der „Süddeutschen Zeitung“ – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –, sie habe jetzt ein „gesteigertes Gefühl der Verantwortung“ für Europa. Ich habe heute gedacht: Das darf doch eigentlich gar nicht wahr sein. – Es ist doch der Hammer, dass Frau Merkel nach diesen Jahren der Kanzlerschaft sagt, sie habe jetzt ein gesteigertes Gefühl der Verantwortung für Europa. Da frage ich mich nur: Ja was hat sie denn die ganzen letzten Jahre getan? Was macht sie denn jetzt als Kanzlerin? Vielleicht wäre das ja mal ein Zeichen, dass sie endlich aufwacht und was tut, und zwar hier in diesem Land. Ich wünsche mir, dass sie endlich handelt.
Danke schön.
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Vielen Dank, Franziska Brantner. – Gehe ich recht in der Annahme, dass der nächste Redner, Jürgen Hardt, zwar anwesend ist, aber die Rede zu Protokoll gibt? – Vielen herzlichen Dank. Dann ist der nächste leibhaftige Redner
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– jetzt wusste ich auch nicht, was ich sagen sollte – Christian Petry für die SPD-Fraktion.
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Das heißt nicht, dass Herr Hardt nicht leibhaftig ist.
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Jetzt rede ich mich um Kopf und Kragen.
Der nächste Redner in der Debatte: Christian Petry für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hardt, okay – –
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– Nein, ich gehe nicht auf die Rede von Herrn Hardt ein.
Fangen wir mit dem an, worum es eigentlich geht, nämlich um den Vertrag von Aachen, die Fortschreibung des Élysée-Vertrages. In der Ursprungsfassung von 1963 standen die Konsultationen im Mittelpunkt. Das hat der verstorbene Herbert Wehner gesagt, Adenauer hat ihn unterstützt und ergänzt: Es geht nicht nur um Konsultationen, sondern auch um das Finden einer gemeinsamen Handlung. Das steht im Mittelpunkt. – Adenauer und de Gaulle haben den Vertrag geschlossen. Von den beiden ist damals ein Bild gezeichnet worden, das heute noch gilt, auch für den Folgevertrag: Es ist wie ein Rosengarten. Ein Rosengarten ist winterfest, er hält Stürme und auch Trockenheit aus, aber er muss gepflegt werden, damit die Rosenstöcke Blüten tragen. Er hält viel aus. – Das Verhältnis kann auch viel aushalten, aber es muss gepflegt werden.
Adenauer und de Gaulle haben den Vertrag geschlossen, gepflegt haben ihn andere: Pompidou und Brandt, Giscard d’Estaing und Schmidt, Mitterrand und Kohl und Chirac und Schröder. Es gab immer wieder Ruhephasen, dann wieder die Pflege und neue Blüten in den Hochphasen. Ich wünsche mir, dass auch Macron und Frau Merkel – oder wer auch immer künftig regiert – den Vertrag pflegen, damit neue Blüten treiben. Wir haben es schon gehört: Frau Kramp-Karrenbauer hat keinen guten Aufschlag gemacht – Michael Link hat es angesprochen –; das kann nicht zu neuer Blüte führen, sondern eher wieder zu Trockenheit.
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Die Freiheiten, die wir mit dem Vertrag gewonnen haben und jetzt weiterentwickeln, sind sehr wichtig. Die Freiheiten haben auf die Europäische Union bis hin zu den Freiheiten auf dem Binnenmarkt gewirkt. Die Ursprünge waren Kohle, Stahl und Atom. Aber schon im Élysée-Vertrag waren der Austausch der Jugend, die Anerkennung von Abschlüssen, gemeinsame Ausbildung und gemeinsame Sprachschulungen enthalten. All dies finden wir selbstverständlich auch im Aachener Vertrag.
Frau Hänsel, das Geheimabkommen, das Sie angesprochen haben, hatte nicht die Bestandteile, die Sie genannt haben. Die Verteidigungs- und Rüstungspolitik ist ein Bestandteil. Der Élysée-Vertrag 2.0, der Aachener Vertrag, sieht die Angleichung der Rechtssysteme vor, damit EU-Recht leichter umgesetzt werden kann. Er sieht Verteidigungspolitik, eine gemeinsame internationale Vertretung vor, Sicherheits- und polizeiliche Zusammenarbeit, eine gemeinsame Afrika-Strategie, den Austausch der Jugend, die Förderung der Partnersprache, die Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen, die Einrichtung von Bürgerfonds, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Eurodistrikten, Mobilität, Sprache, den Umweltschutz und Zusammenarbeit in den Bereichen Industrie und Energie. Das ist ein großes Paket. Ihn auf Verteidigung zu reduzieren, ist nicht zulässig. Es geht um viel, viel mehr, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der Vertrag ist ein Meilenstein. Die Bundesregierung trägt dazu bei, dass das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ein Motor für Europa ist. Geschichte wiederholt sich. Auch 1963 hatte man Angst, dass es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten gibt. Man fragte sich, ob der Vertrag eine Konkurrenz zur NATO sein sollte. Das wurde damals genauso beantwortet wie heute: Nein, es geht um Unterstützung, es geht um Mobilität und um neuen Schwung. Daraus sollen sich neue Impulse für andere ergeben, damit Europa sozialer und den Menschen näher wird. Das brauchen wir auch.
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– Herr Nachtwächter, Sie rufen dazwischen, aber am besten sind Sie still.
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Der deutsch-französische Wirtschaftsraum wird weiterentwickelt. Es gibt einen Rat von Wirtschaftsexperten, einen Forschungsrat, ein Zukunftswerk und einen gemeinsamen Ministerrat. Wir treffen uns viermal im Jahr. Die Parlamente flankieren diese Arbeit und kontrollieren sie. Das ist eine große Sache. Das ist ein guter Tag für die Freiheit, ein guter Tag für Frankreich und Deutschland und ein sehr guter Tag für Europa.
Glück auf!
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Ich darf bemerken, dass Herr Kleinwächter „Kleinwächter“ heißt und nicht „Nachtwächter“. So.
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– Es ist meine Entscheidung, was und wie ich kommentiere, und nicht Ihre. Ich habe die Zustimmung von Herrn Kleinwächter dazu körpersprachlich bekommen. Vielen Dank!
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Jetzt kommt Christian Schmidt als letzter Redner in dieser Debatte.
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Frau Präsidentin, noch einer ist leibhaftig hier. – Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Vertrag von Aachen ist die Fortsetzung des Élysée-Vertrages. Er ist eine Übersetzung und Verdichtung angesichts der heutigen Herausforderungen. Von der Emotionalität her mag er nicht so groß sein, es mag keine große Symbolik dahinterstehen, aber in ihm steckt sehr viel mehr, als in manchen Beiträgen aufgeschienen ist.
Ich möchte mich nicht nur, aber insbesondere mit Artikel 4 des Vertrages auseinandersetzen. Natürlich ist die gemeinsame Politik in Europa, alleine schon im Bereich Klimaschutz – ich erinnere an COP 21, das Pariser Abkommen, den Pariser Vertrag, an die Zusammenarbeit in diesem Bereich –, aber auch in der Außenpolitik, nicht nur, aber im Wesentlichen durch den deutsch-französischen Motor inspiriert. Das soll auch so sein. Deswegen hat die Vereinbarung gemäß Artikel 4, eine besondere bilaterale Beistandspflicht zu haben, eine neue Qualität. Herr Kollege Gauland, aber das ist exakt das, was die territoriale Zuständigkeit und darüber hinaus die Verpflichtung des Artikels 42 Absatz 7 des EU-Vertrages und die des alten Brüsseler Paktes, der Westeuropäischen Union, beinhaltet. Es hat sich überhaupt nichts geändert.
Herr Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Kleinwächter?
Ich erlaube mal.
Vielen Dank, Herr Schmidt. – Ihre Aussage, dass Artikel 4 keine deutliche Relevanz hätte oder nicht mit einer Zunahme an Verpflichtungen verbunden sei, verwundert mich nun doch. Es gibt ein wissenschaftliches Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes genau zu diesem Thema, das besagt, dass die Bündnisverpflichtung in Artikel 4 des Aachener Vertrages deutlich über die Reichweite des Artikels 5 des NATO-Vertrages und auch über die des von Ihnen erwähnten Artikels 42 Absatz 7 der EU-Verträge hinausgeht.
Es ist nämlich so, dass die Bündnisverpflichtung nach Artikel 4 des Aachener Vertrages explizit militärische Mittel einschließt. Genau das ist im EU-Vertrag nicht gegeben. Im EU-Vertrag gibt es nur eine Beistandsverpflichtung. Bei terroristischen Anschlägen gilt die Beistandsverpflichtung nur als Hilfeleistung. Das regelt Artikel 222 AEUV. Auch die NATO-Bündnisverpflichtung ist nicht unbedingt auf direkte militärische Hilfeleistung gemünzt.
Würden Sie mir also zustimmen, dass es, wie der Wissenschaftliche Dienst herausgefunden hat, selbst bei einem Terroranschlag oder einem Cyberangriff möglich wäre, dass Frankreich von uns völkerrechtlich den Kriegseinsatz for dert und dass wir deswegen in einen Krieg eingebunden werden könnten? Haben Sie das in Ihrer Fraktion besprochen, geprüft, und sind Sie sicher, dass Sie das beschließen wollen?
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Herr Kollege, wenn Sie mich gefragt hätten, ob ich Ihnen zustimme, dass Sie sich in den verschiedenen Vorstufen etwas verloren haben, dann würde ich sagen: Ja.
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Ich empfehle Ihnen, den Blick darauf zu richten, was die Westeuropäische Union seit 1952 in Bezug auf eine stärkere Verpflichtung als das, was in Artikel 5 des NATO-Vertrages drinsteht, vorsieht. Nichts anderes ist im Aachener Vertrag enthalten. Ich habe, Frau Präsidentin, höchsten Respekt vor dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, aber ich habe noch mehr Respekt vor der Denkschrift der Bundesregierung zum vorliegenden Vertragswerk. Ich empfehle, es zu lesen. Da steht nämlich exakt drin, dass Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrages die Grundlage hierfür ist.
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Machen Sie in Ihrer Fraktion eine Diskussionsrunde. Ich bin gerne zu einem Sachvortrag bereit, für Sie ohne Honorar.
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Es gibt Fragen, die wir hier zu stellen haben. In diesem Zusammenhang will ich sagen: Ja, der bilaterale Aspekt des Artikels 4 ist interessant, und es geht um mehr als die bisherige Verpflichtung aus dem Élysée-Vertrag. Er hat eine politisch verstärkende Wirkung für Zusammenarbeit. Ich muss schon sagen, dass wir in diesen Bereichen auch stärker zusammenarbeiten müssen; Kollege Link hat da dankenswerterweise einiges angedeutet.
Im Zusammenhang mit der Überschrift „Geheimabkommen“ ist mir eigentlich nur das berühmte Schmidt-Debré-Abkommen aus dem Jahr 1972 bekannt.
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Aber gerade dieses – das muss der Korrektheit wegen dazu gesagt werden; das ist eine politische Notwendigkeit – steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem, was im Jahr 2000 als Rüstungsexportrichtlinie von uns einseitig national festgelegt worden ist. Ich empfehle uns allen, dass wir im Hinblick auf das Gebot, die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu verstärken, das auch in diesem Vertrag steht, die Dinge wieder zusammenführen. Nur wer in allen Bereichen Verlässlichkeit signalisiert, wird in der Lage sein, eine Vertiefung der Integration und vor allem der Zusammenarbeit der beiden Länder auch im Bereich der Diplomatie, im Bereich der Entwicklungspolitik und im Bereich der Sicherheitspolitik zu erreichen.
Mir fällt noch ein Punkt ein – danach haben Sie nicht gefragt; aber dazu möchte ich auch gerne eine Antwort geben –, und zwar zum Flugzeugträger. Jede Diskussion dazu würde ich gerne aufnehmen.
Aber nicht zu lang. Die Redezeit ist nämlich rum.
Frau Präsidentin, das nehme ich gerne zur Kenntnis. Ich biete die Diskussion an.
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– Nicht Ihnen, Frau Präsidentin. Und ich kann auch nicht durch alle Fraktionen gehen; das geht auch nicht.
Was Annegret Kramp-Karrenbauer mit dem Flugzeugträger gemeint hat, ist eine symbolische Notwendigkeit, also dass sich die europäische Sicherheitspolitik strategisch gemeinsam ausrichten muss. Dazu braucht sie auch gemeinsame Blickwinkel und Strukturen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Christian Schmidt. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10051 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Es gibt keine weiteren Vorschläge. – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Das Internet ist ein Ort der Freiheit, ein Ort, an dem jeder zu Wort kommen kann. Es ist lebendig, innovativ, unbequem, grenzüberschreitend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte sogar fest, dass das Internet eines der wichtigsten Mittel ist, mit denen wir unsere Rechte ausüben, insbesondere die Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit. Das Internet hat die öffentliche Debatte demokratisiert. Die Netzgemeinde bestimmt, über was diskutiert wird, keine Gatekeeper in Rundfunkräten, Redaktionen oder Regierungsbüros.
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Genau das ist mehr und mehr Staaten ein Dorn im Auge. Die Politik muss zusehen, wie sich die Diskussion und die Meinungsbildung ins Netz verlagern und wie sie die Deutungshoheit verliert, jeden Tag ein Stück mehr. Das macht Angst. Daher müssen sie handeln, die Mächtigen, und sie tun es auch, auch die deutsche Regierung und die EU. Gemeinsam bekämpfen sie das freie Netz.
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Und an ihrer Seite die etablierten Medien, die gerade mit ihrem Erziehungs- und Haltungsjournalismus völlig zu Recht baden gehen und verzweifelt versuchen, die Konkurrenz im Internet auszuschalten.
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Sie sprechen über die „Rückgewinnung des politischen Raumes“, wie Bundespräsident Steinmeier bei der Eröffnung der re:publica. Sie rufen nach Regulierungen und geben vor, die Menschen beschützen zu wollen. Nur fühlte sich die Mehrheit der Bürger bis dato gar nicht bedroht. Also mussten Bedrohungen aufgebaut werden, die Geburtsstunde von Fake News und Hate Speech.
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Falschmeldungen gab es zu jeder Zeit, auch in den etablierten Medien; Relotius, der hauseigene Fake-News-Verfasser des „Spiegels“ lässt grüßen. Aber im Internet sind Fake News angeblich besonders gefährlich.
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Und nur die Regierung kann uns durch ordentliche Kontrollen davor bewahren. – Das will man uns tatsächlich glauben machen. Beschneidung von Freiheitsrechten wurde den Bürgern schon immer als Schutz vor Gefahren verkauft. Der antifaschistische Schutzwall schützte die DDR-Bürger damals vor dem bösen Westen, und das NetzDG schützt uns heute vor Hate Speech.
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Roland Baader sagte einmal:
Das Märchen vom Retter Staat ist das Trojanische Pferd, mit dessen Hilfe die Herrschaftseliten die letzten Mauern um die Bürgerfreiheit schleifen werden.
Recht hatte er.
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Doch das Zensurgesetz war nur der Anfang. Warum etwas löschen, wenn man verhindern kann, dass es überhaupt im Internet hochgeladen werden kann? Und schon waren die Uploadfilter verabschiedet. Overblocking, eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, die Zerstörung des freien Internets – genau das ist von der EU gewollt.
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Aber auch das ist nicht das Ende. Die One-Size-DSGVO war ein weiterer kleiner Schritt zur Verunsicherung. Man legt den kleinen Anbietern die gleichen Pflichten auf wie den großen Konzernen. Wer überfordert ist, hat eben Pech gehabt. Die aktuell auf EU-Ebene diskutierte Ein-Stunden-Löschfrist bei terroristischen Inhalten setzt dem ganzen Irrsinn dann die Krone auf. Welcher Forenbetreiber, welcher Blogger kann schon 24 Stunden online sein? Keiner. Um Strafen zu entgegen, werden viele ihre Seite lieber vom Netz nehmen.
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Wer glaubt, man könne auf Anonymisierungssoftware zurückgreifen, um sich dieser staatlichen Regulierungen zu entziehen, liegt falsch; denn auch daran hat die Politik natürlich schon gedacht. Sie will mit der Einführung des neuen § 126a Strafgesetzbuch Betreiber von Tor- und VPN-Diensten unter Generalverdacht stellen.
Aber nur regulieren und verbieten reicht der Regierung noch nicht. Man muss die Bürger auch besser überwachen. Und so kommen Sicherheitslücken, Backdoors, Quellen-TKÜ wie gerufen. Die Begründung auch hier: Man muss die Menschen schützen, diesmal vor den bösen Terroristen. Dumm nur: Auch ein Anis Amri wurde überwacht und konnte trotzdem mit einem Lastwagen über den Weihnachtsmarkt rasen. Wieso wurde er nicht einfach festgenommen? Es fehlt nicht an Überwachung. Es fehlt am Willen, zu handeln, bevor es nötig ist.
({9})
Bevor man weitere Sicherheitsgesetze beschließt, sollte man die bestehenden Defizite beheben. Das empfiehlt übrigens auch unser Bundesdatenschutzbeauftragter.
Wir von der AfD, wir stehen für ein freies Internet, ein Internet der Chancen und der Möglichkeiten.
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Meinungsfreiheit ist eine der wichtigsten Grundlagen unserer Demokratie.
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Nicht alle Meinungen sind bequem, aber sie auszuhalten, macht ein wirklich freies Land aus.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
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Daher fordern wir von der AfD in unserem Antrag unter anderem ein Ja der Bundesregierung zur Netzneutralität, zur Anonymisierungssoftware, zur durchgehenden Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, ein Ja zum lizenzfreien Streamen und zu einer Datenschutz-Grundverordnung, die differenziert und nicht überreguliert.
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Und wir fordern die Bundesregierung auf, Nein zu sagen: Nein zur Rundumüberwachung und Nein zum NetzDG, zu Uploadfiltern, zur Ein-Stunden-Löschfrist, zum Nachschlüsseln in Internetprotokollen und zur immer weiter gehenden Regulierung der sozialen Netzwerke. Dann müssen Sie sich auch nicht mehr über die häufigen Sperren Ihrer Kollegen auf Twitter beschweren, liebe Kollegen von der SPD. Wobei ein Heiko Maas, der sich über Zensur im Internet beschwert, mein persönlicher Lacher des Jahres war, meine Damen und Herren.
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Die AfD will kein zügelloses Netz. Das Recht muss auch in der virtuellen Welt durchgesetzt werden. Aber wir wollen den freien Austausch und den unabhängigen Charakter des Internets bewahren. Wir setzen auf Freiheit und Bürgerrechte. Helfen Sie uns dabei!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Carsten Müller.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der sogenannten AfD
({0})
enthält überwiegend relativ krude Ideen, die wir hier alle schon mal gehört haben. Ich will zu Anfang nur eine einzige davon aufgreifen: die Übertragung des Medienprivilegs auf Meinungsäußerungen von Privatpersonen. Wie in verschiedenen Debatten auch, so bleiben Sie auch heute mit Ihrem Antrag dafür eine stabile, tragfähige rechtliche Grundlage schuldig. Deswegen lohnt es sich einfach nicht, sich damit zu beschäftigen.
Es ist ja geradezu ein Treppenwitz, dass ausgerechnet die Fraktion, die die größten Schwierigkeiten damit hat, andere Meinungen zu akzeptieren
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und sich nicht in Kenntnisarmut und schlechter Erziehung zu ergehen, hier heute vorgibt, sich um die Freiheit im Internet und um Bürgerrechte scheren zu wollen.
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Ich will mich in der verbleibenden Zeit dem NetzDG – –
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– Schreien Sie mal nicht so, Sie hören gleich noch etwas Zielführendes. – Ich will mich in der verbleibenden Zeit mit dem NetzDG beschäftigen. Meine Damen und Herren, das bietet sich an, weil der Rechtsausschuss dazu gestern eine Anhörung durchgeführt hat. Eingangs ist festzustellen: Die Aufregung von vor zwei Jahren hat sich, von einigen Ausnahmen abgesehen, weitgehend gelegt. Woran kann man das erkennen? Das kann man zum Beispiel daran erkennen, dass wir darüber gestern eine ganz sachliche Auseinandersetzung gehabt haben. Das kann man auch daran erkennen, dass beispielsweise – ich will es heute durchaus noch mal ansprechen – drei der insgesamt vier Oppositionsfraktionen zum Teil zu Beginn und zum Teil auch während der Anhörung gar nicht anwesend waren bzw. daran teilgenommen haben.
Aber woran liegt es, dass die Diskussionssituation viel sachlicher geworden ist? Das liegt daran, dass die Meinungsfreiheit überhaupt nicht eingeschränkt worden ist, dass es kein Overblocking gibt und dass das NetzDG –
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– „Lüge“ ist nicht parlamentarisch –
Dazu sage ich gleich etwas.
– einfach gut funktioniert.
Meine Damen und Herren, gestern waren sich bis auf den von der AfD benannten sogenannten Sachverständigen, der im Übrigen eher mit Selbstmarketing beschäftigt war,
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alle übrigen durchweg einig, dass das NetzDG materiell weiter fortgeführt werden muss und dass es eben auch besonders zielführend war. Meine Damen und Herren, es wurde als mutig, zielführend und weitgehend funktional beschrieben.
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Wir als Union sagen: Etwas Gutes kann durchaus noch besser werden.
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Deswegen werden wir uns mit dem Thema der regulierten Selbstregulierung beschäftigen, diese etablieren und stärken. Das ist ein denkbar freiheitlicher Ansatz. Wir wollen das Beschwerdemanagement der Plattformen klarer und verständlicher gestaltet sehen. Und – ich will ein weiteres Beispiel nennen – das Put-back-Verfahren muss geregelt werden, und zwar so – ganz einfach für jedermann –, dass unrechtmäßig gelöschte Inhalte möglichst schnell wieder eingestellt werden. Das gilt natürlich auch für Transparenzberichte, die abgeliefert werden und untereinander gut vergleichbar sein müssen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich damit schließen: Wirkliche Freiheit braucht Spielregeln. Wer Spielregeln abschaffen will, der liebt das Foulspiel. Die CDU/CSU will wirkliche Freiheit im Internet.
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Deswegen stehen wir zum NetzDG und machen es besser und sind für zielführende Hinweise stets aufgeschlossen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carsten Müller. – Frau Cotar, damit, jemandem „Lüge“ vorzuwerfen, wäre ich ein bisschen vorsichtiger. Das ist nicht besonders parlamentarisch.
Der nächste Redner, Konstantin Kuhle, redet morgen. Die heutige Rede hat er uns zu Protokoll gegeben.
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Die nächste Rednerin, Saskia Esken, hat ihre Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben. Das heißt, die nächste Rednerin, die jetzt hier ans Redepult kommt, ist Anke Domscheit-Berg für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Herr Braun, wir sind übrigens gerade in einer Debatte. Hier redet gerade eine Kollegin. Wenn Sie Ihre Quergespräche führen wollen, möchte ich Sie bitten, das draußen zu tun. Jetzt hat das Wort Frau Domscheit-Berg für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Liest man den Antrag der AfD ohne Kontext, findet man durchaus einige sinnvolle Forderungen, die auch die Linksfraktion schon sehr lange aufstellt.
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Wir haben uns im Bundestag schon gegen Vorratsdatenspeicherung eingesetzt, da gab es noch gar keine AfD-Fraktion. Gleiches gilt für die Forderung nach verbindlichen Sicherheitsstandards, nach Netzneutralität, mehr IT-Sicherheitsforschung, mehr Verschlüsselung und für ein modernes Urheberrecht, das ohne Uploadfilter auskommt – um nur ein paar Punkte zu nennen.
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Bei Sicherheitslücken fordern wir allerdings nicht nur, dass der Staat sie nicht auf dem grauen Markt kauft, um sie später auszunutzen. Die Linksfraktion fordert auch eine generelle Meldepflicht; denn nur wenn Sicherheitslücken bekannt werden, können Hersteller dafür sorgen, dass sie schnell geschlossen werden, und damit die IT-Sicherheit für uns alle erhöhen.
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Anders als die AfD sind wir auch gegen jegliche Formen von Staatstrojanern; denn auch für einen einmaligen Einsatz von Staatstrojanern müssen diverse Sicherheitslücken auf Halde und geheim gehalten werden. Sicherheitslücken gibt es aber nicht nur auf den IT-Geräten von irgendwelchen Terroristen, sondern auch auf den gleichen IT-Geräten von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern. Wer deshalb wissentlich Sicherheitslücken geheim hält, gefährdet unser aller Sicherheit, gerade in einer digitalen Gesellschaft, in der vom Krankenhaus über Behörden bis zu Unternehmen alles von der Integrität informationstechnischer Systeme abhängt.
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Ich warne aber davor, den Antrag der AfD ohne Kontext zu lesen. Darin wird zum Beispiel behauptet – das haben wir auch gerade in der Rede gehört –, dass es der AfD-Fraktion vor allem um die Presse- und die Meinungsfreiheit geht. Was die AfD allerdings unter diesen beiden Begriffen versteht, weicht doch sehr stark von dem ab, was Konsens in der Gesellschaft ist.
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Sie will faktisch einen Freifahrtschein für die eigene rassistische Hetze.
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Seriöse Medien diskreditiert sie systematisch als „Lügenpresse“, sperrt unliebsame Journalistinnen und Journalisten von Parteitagen aus, toleriert seelenruhig, dass ihre Anhänger Pressevertreter auch tätlich angreifen und bei der Arbeit behelligen.
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Bei einer Demonstration der AfD in Magdeburg wurden Journalisten aus der Demo heraus mit Pfefferspray angegriffen, darunter auch ein Kameramann des ZDF. So sieht Pressefreiheit also aus, wenn die AfD sie definiert.
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Fake News werden am liebsten von ihr selbst verbreitet, zum Beispiel die Behauptung, Mohammed sei der am häufigsten vergebene Name für männliche Neugeborene in Berlin.
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Es ist der Faktenfinder der ARD-„Tagesschau“,
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der solche Fake News regelmäßig entlarvt. Leider verbreiten sich solche Desinformationen aufgrund des profitorientierten Geschäftsmodells sozialer Netzwerke besonders breit und richten Schaden an. Sie sind zwar nicht strafbar, aber perfide und demokratiefeindlich.
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Mit Meinungsfreiheit meint die AfD natürlich auch nicht die Freiheit Andersdenkender, die zum Beispiel ihre Hassreden als rassistisch und rechtsextrem bezeichnen. So klagte die AfD, empfindsam wie sie ist, gegen die Meinungsäußerung, sie sei eine rechtsextreme Partei – und hat leider verloren.
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Nicht die AfD, sondern Gerichte haben die Meinungsfreiheit verteidigt.
Selbst die wenigen Grenzen, die die Meinungsfreiheit in Deutschland hat, möchte die AfD aufweichen. AfD-Politiker wurden bereits wegen Volksverhetzung verurteilt. Auch Bundestagsabgeordnete wie Weidel und von Storch reizen aus, wie weit sie gehen können, ohne wegen Volksverhetzung verurteilt zu werden, mit Äußerungen, die so abstoßend sind, dass ich sie hier nicht wiederholen möchte.
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Gleichzeitig beschwert sich die empfindsame Frau von Storch über ungerechtfertigte Twitter-Meldungen durch Dritte und fordert – ich zitiere –:
Warum sperrt Twitter die nicht einfach … Ratzfatz wäre dieser totalitäre Sumpf trockengelegt.
Meinungsfreiheit à la AfD!
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Diese einseitige Version hat mit unserem Verständnis von demokratischen Grundrechten einfach gar nichts zu tun. Zum Glück sehen das viele auch so. Es gilt der schlichte Fakt: Wir sind mehr.
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Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren haben. § 219a gehört abgeschafft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Anke Domscheit-Berg. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen erst haben wir hier im Hohen Hause über das 70-jährige Jubiläum unseres Grundgesetzes debattiert, der Ort, wo Freiheit und Bürgerrechte – die Begriffe, die Sie in Ihrem Antrag führen – bei uns verankert sind.
Vor dem Hintergrund des Menschheitsverbrechens der Shoah und der verheerenden Folgen des schuldhaft von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Unantastbarkeit der Menschenwürde, den humanistischen Grundsatz „Nie wieder Auschwitz“ zum höchsten Wert unserer Verfassung gemacht.
Man muss es einfach mal in aller Klarheit hier auch abends um 22 Uhr sagen, wenn Sie von der AfD einen Antrag vorlegen, der das Wort „Bürgerrechte“ im Titel trägt: Bürgerrechte und die universellen Grund- und Menschenrechte, die eben für jeden Menschen gelten, sind unteilbar. Und Ihre Politik, die insgesamt auf Ab- und Ausgrenzung setzt, ist in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil einer an Freiheit und Bürgerrechten orientierten Politik, meine Damen und Herren.
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Es ist richtig: Es gibt derzeit massive Herausforderungen im Digitalen, denen wir uns als Gesetzgeber entschlossen stellen müssen, und der Schutzverantwortung des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern müssen wir zweifelsohne gerecht werden. Der Antrag Ihrer Fraktion, Kollegin Cotar – das wurde heute schon mehrfach gesagt –, ist ein wildes Potpourri an mal richtigeren, mal weniger richtigeren und teils absurden Forderungen, die vor allem eines zeigen, nämlich die Überforderung Ihrer Fraktion, sich endlich angemessen und gut mit digitalen Themen zu beschäftigen.
Ihre Forderungen stehen übrigens häufig – das wird Ihre Fraktion interessieren; vielleicht ist es Ihnen selbst gar nicht aufgefallen – in direktem Widerspruch zu Ihren Wahlprogrammen. Ein Beispiel: Während Sie in Ihrem Antrag die Datenschutz-Grundverordnung sogar erweitern wollen,
({1})
wettern Sie in Ihrem aktuellen EU-Wahlprogramm gegen die Datenschutz-Grundverordnung und wollen sie – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen – abschaffen. Das wichtigste Instrument zum Bürgerrechtsschutz, das gerade weltweit kopiert wird, wollen Sie abschaffen!
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Und dann? Zurück auf die nationale Scholle?
Während Sie in den sozialen Netzwerken gegen das NetzDG wettern und Trollarmeen und Bots Ihre Programme verbreiten und Diskurse vergiften, wollen Sie mit Ihrem Antrag, über den wir heute Abend diskutieren, plötzlich den inländischen Zustellungsbevollmächtigten, der ein wesentlicher Teil des NetzDG ist, doch beibehalten. Das alles ist hoch widersprüchlich und peinlich. Das ist genau das Gegenteil einer guten Bürgerrechtspolitik.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage der AfD?
Nein, vielen Dank.
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Noch ein Beispiel. Eine Digitalsteuer lehnen Sie rundherum ab. Scheinbar finden Sie es gut, wenn die Googles, Apples und Facebooks dieser Welt sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entziehen
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und keine oder minimale Steuern zahlen. Wohin soll das führen? Wo ist da die Logik Ihres Antrags?
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Zu guter Letzt: Ihr Antrag ist eine Falschetikettierung. Es steht „Freiheit“ drauf. Aber inhaltlich ist widersprüchliche Suppe drin. Das machen wir nicht mit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Ich entschuldige mich bei meinem Kollegen. Er war regelrecht erschrocken wegen der Glocke. Aber das war nötig.
Die Kollegin Ronja Kemmer und Alexander Hoffmann von der CDU/CSU geben ihre Reden zu Protokoll.
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Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10172 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
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Die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktion der AfD und die Fraktion Die Linke. Dagegengestimmt haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von AfD und der Linken.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz geben wir wichtige Impulse, um Ausländerinnen und Ausländer möglichst schnell und gut an unseren Arbeitsmarkt heranzuführen; denn es gibt kaum eine bessere Form der Integration in unsere Gesellschaft als eine Beschäftigung mit möglichst guter Qualifikation. Die Neuregelungen wirken sich insbesondere auf Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Geduldete, aber auch auf Bürgerinnen und Bürger aus EU-Mitgliedstaaten positiv aus. Das Gesetz soll die Menschen in ihren Bemühungen um die Verbesserung ihrer Beschäftigungsfähigkeit stärker unterstützen und soll ihnen damit helfen, Fuß zu fassen und dadurch die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu reduzieren oder zu vermeiden. Das ist ein wichtiges Ziel.
Als wichtigste Instrumente öffnen wir daher die Ausbildungsförderung, und wir verbessern den Zugang zu Spracherwerb für Geflüchtete. Das ist das A und O der Integration.
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Denn wir dürfen Menschen, die voraussichtlich längere Zeit in Deutschland leben, nicht zu Untätigkeit und Perspektivlosigkeit verdammen. Sonst schaffen wir uns neue soziale Probleme. Personen, die Zugang zum Arbeitsmarkt haben, sollen diesen auch nutzen können und nicht etwa an fehlenden Deutschkenntnissen scheitern. Wir haben uns vier konkrete Verbesserungen vorgenommen.
Erstens: die Ausbildungsförderung. Die in Deutschland sehr stark differenzierten und unübersichtlichen Zugangsregelungen für Ausländerinnen und Ausländer zur Förderung der Berufsausbildung bedürfen dringend einer Reform. Deshalb regeln wir in diesem Gesetz den Zugang zur Förderung der Berufsausbildung einschließlich der Berufsvorbereitung nach SGB II und III grundlegend neu. Mit dieser Neukonzeption wird ein Systemwechsel erreicht, indem die Zugangsregelungen nicht nur deutlich ausgeweitet, sondern auch stark vereinfacht werden. Damit können wir Gestattete und Geduldete während der Berufsausbildung, aber auch bei der Ausbildungsvorbereitung künftig passgenau unterstützen. Auch das fördert Integration durch Bildung.
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Die Neukonzeption ermöglicht außerdem, dass künftig auch EU-Bürgerinnen und -Bürger während ihrer Berufsausbildung in einem Betrieb in Deutschland mit begleitenden Hilfen bei der Lebensunterhaltssicherung unterstützt werden. Zudem sollen Drittstaatsangehörige generell künftig besser unterstützt werden können. Auch das ist ein Beitrag zur Fachkräftesicherung. Ziel ist, die bestehenden Regelungen deutlich zu entschlacken und stattdessen einfache und klare Zugänge zu schaffen.
Zum Zweiten. Wir verbessern die Sprachförderung, ein ganz zentraler Punkt. Wir wollen den Zugang von gestatteten und geduldeten Flüchtlingen zur Sprachförderung ausweiten. Asylbewerberinnen und -bewerber mit unklarer Bleibeperspektive, die sich seit mindestens neun Monaten in Deutschland aufhalten und bereits arbeitsmarktnah sind, bekommen Zugang zu Integrationskursen sowie bei Bedarf im Anschluss zu Berufssprachkursen. Geduldete sollen nach sechs Monaten in der Duldung, in denen keine freiwillige oder erzwungene Ausreise erfolgt ist, eine Teilnahmeberechtigung für die berufsbezogene Sprachförderung erhalten können. Damit wird für große Teile dieser Personengruppen, die noch einige Jahre bei uns bleiben werden, eine frühere Deutschsprachförderung ermöglicht. Personen aus sicheren Herkunftsländern bleiben dabei ausgeschlossen.
Wir entsprechen damit auch den Wünschen vieler Arbeitgeber, die immer wieder gesagt haben, dass mangelnde Deutschsprachkenntnisse ein Hindernis für die Beschäftigung sind, obwohl sie gerne mehr Leute einstellen würden. Wir bekommen auch viele Klagen von Unternehmen, die Geflüchtete ausgebildet, angelernt oder eingearbeitet haben und nun feststellen, dass ein Teil der Auszubildenden in der Berufsschule an der berufsbezogenen Deutschsprachförderung teilnehmen darf und ein anderer Teil nicht, obwohl alle zusammen die gleiche Ausbildung machen und in derselben Berufsschulklasse sitzen. Das wollen wir in Zukunft ändern. Also Sprachkurse für alle, die hier bleiben und hier arbeiten können.
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Drittens: Arbeitslosengeld während eines Integrationskurses oder berufsbezogener Deutschsprachförderung. Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem Integrationskurs oder an einem Kurs der Deutschsprachförderung, der für die dauerhafte berufliche Eingliederung notwendig ist, sollen künftig Arbeitslosengeld weiterbeziehen können, wenn sie bereits einen solchen Anspruch erworben haben.
Viertens: frühzeitige Unterstützung zur Heranführung an den Arbeitsmarkt. Wir wollen die Regelung entfristen, die es ermöglicht, Asylbewerberinnen und Asylbewerber mit sogenannter guter Bleibeperspektive bereits vor dem Arbeitsmarktzugang an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
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Das heißt ganz praktisch, dass sie Leistungen der aktiven Arbeitsförderung aus dem Vermittlungsbudget oder Maßnahmen zur Aktivierung der beruflichen Eingliederung bereits frühzeitig erhalten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel ist, dass das Gesetz am 1. August 2019 in Kraft tritt. Dann gelten nämlich – und das sollte uns besonders wichtig sein – alle diese Regelungen für das kommende Ausbildungsjahr. Integration durch Sprache, Integration in den Arbeitsmarkt – das ist der richtige Weg. Ich würde mich freuen, wenn wir das gemeinsam zügig erreichen können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kerstin Griese. – Nächster Redner: Sebastian Münzenmaier für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wäre die Bundesregierung ihrer Namensgebung für Gesetze treu geblieben, dann wäre dieser Gesetzentwurf nach dem Gute-Kita-Gesetz und dem Starke-Familien-Gesetz jetzt das Alles-für-die-Ausländer-Gesetz.
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Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf wirft munter die unterschiedlichen ausländerrechtlichen Aufenthaltsbestimmungen durcheinander und möchte möglichst vielen Ausländern Sprachkurse bezahlen,
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ganz unabhängig davon, ob diese Menschen in Deutschland bleiben dürfen oder nicht. Duldung ist nach der Definition des deutschen Aufenthaltsrechts eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung von ausreisepflichtigen Ausländern. Unserer Meinung nach brauchen ausreisepflichtige Ausländer keine Sprachkurse, sondern ein Flugticket in die Heimat, meine Damen und Herren.
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Hätte sich diese Regierung an ihren Amtseid gehalten und den hunderttausendfachen Straftaten des illegalen Grenzübertritts nicht mit einem milden Lächeln zugeschaut,
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dann müssten wir über so etwas wie einen Gesetzentwurf gar nicht reden.
Aber statt aus Ihren Fehlern zu lernen, setzen Sie jetzt ja noch einen drauf: Sie sprechen schon wieder neue Verlockungen und Segnungen aus, um noch mehr Menschen zu einer gefährlichen Reise übers Mittelmeer zu bewegen und sich von gewissen- und seelenlosen Schleppern ausnehmen zu lassen.
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Sie schaffen weiterhin Anreize, und Sie suggerieren eine angebliche Willkommenskultur, die auch noch den letzten Analphabeten aus Afrika zur Reise nach Deutschland motivieren soll.
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Mit § 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hat das nichts mehr zu tun. Es hat durchaus gute Gründe, warum das Ausländerrecht Unterschiede nach Aufenthaltsstatus macht. Und nur weil Sie in Ihren One-World-Fantasien gefangen sind, sollten Sie nicht ein ganzes Land in Sippenhaft nehmen, meine Damen und Herren.
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In Ihrem Gesetzentwurf schaffen Sie für nahezu jeden, der irgendwie deutschen Boden betritt, die Voraussetzung für staatlich finanzierte Deutschkurse. In Ihren Augen ist das die Grundlage für den Eintritt in den Arbeitsmarkt,
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und beim ersten Blick darauf könnte man meinen: Ja klar, ohne Sprachkenntnisse wird das schwierig. – Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass heute schon über 50 Prozent der Teilnehmer dieser Sprachkurse entweder überhaupt nicht auftauchen oder schon nach kürzester Zeit den Kurs abbrechen. Bei Teilnehmern, die zum wiederholten Mal an so einem Kurs teilnehmen, liegt die Quote der Abbrecher sogar bei knapp 75 Prozent; das sind die Zahlen der Bundesregierung.
Sie verkaufen uns diesen Entwurf hier als Teil Ihrer tollen Fachkräftestrategie, die dafür sorgen soll, dass der Fachkräftemangel in Deutschland, der tatsächlich in bestimmten Berufsbildern besteht, gelindert werden soll. Ich bin gerne bereit, über sinnvolle Maßnahmen zur Bekämpfung eines Fachkräftemangels mit Ihnen zu diskutieren, aber vorher sollten wir doch mal klarstellen: Die sogenannten Fachkräfte, die Sie mit Ihren Methoden und Anreizen anwerben, die wandern doch nicht in unseren Arbeitsmarkt ein, sondern nahezu alle in unser Sozialsystem.
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Sie holen eben nicht den vietnamesischen Arzt hierher, sondern den Glücksritter vom Balkan, der sich hier in Deutschland die schiefen Zähne richten lässt, meine Damen und Herren.
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Ihre 2 Millionen Raketentechniker, Ingenieure und sonstigen Fachkräfte, die Sie seit 2015 importiert haben, sind doch größtenteils schon im Sozialsystem gelandet. Und eines ist doch auch klar: Der kriminelle Messerstecher wird doch kein besserer Mensch, wenn er in Zukunft dank Sprachkurs die Polizei dann auf Deutsch beleidigen kann, meine Damen und Herren.
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Aber lassen Sie uns noch kurz über die Finanzierung Ihrer Träumereien sprechen. Sie geben doch schon allein in diesem Jahr 667 Millionen Euro für Integrationskurse aus. Dazu kommen weitere 470 Millionen Euro für berufsbezogene Deutschsprachförderung.
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– Hören Sie doch mal auf, so zu schreien.
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Bis 2024 möchten Sie zusätzlich noch mal 118 Millionen Euro ausgeben. 118 Millionen! Das wären beispielsweise 235 000 neue PCs für Schüler an deutschen Schulen. Das wären knapp 500 brandneue Sportplätze, wo man sich den Frust über Ihre Politik abtrainieren könnte.
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Sie könnten mit 118 Millionen Euro Kitaplätze schaffen, Sie könnten den Naturschutz fördern oder die Infrastruktur im ländlichen Raum verbessern. Alles sinnvolle Investitionen, für die nach Ihrer Lesart ja grundsätzlich nie Geld da ist. Aber ich sage Ihnen was: Selbst wenn Sie jedem deutschen Bürger von diesem Geld ein Hanuta und eine Capri-Sonne kaufen würden, wäre das immer noch eine bessere Investition als dieser Gesetzentwurf.
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Aber es ist ja mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass Ihnen die Menschen, die schon länger hier leben, nicht so sehr am Herzen liegen. Aber wenn Sie das Geld schon unbedingt für Fremde ausgeben wollen, wie wäre es dann damit, dass Sie dieses hart erarbeitete Geld der Steuerzahler für die Menschen ausgeben, die tatsächlich zu Recht hier sind, die Menschen, die wirklich vor Krieg und Terror geflohen sind oder die wegen ihres Glaubens oder ihrer politischen Einstellung verfolgt wurden? Wir als AfD-Fraktion stehen an der Seite dieser Menschen. Aber die Glücksritter, die Ausreisepflichtigen, die IS-Kämpfer und die Sozialhilfetouristen, für die gibt es eine Lösung, und das ist: abschieben, abschieben, abschieben.
Wie Sie sich vorstellen können, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf natürlich ab.
Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an die Debatte des heutigen Vormittags zu 70 Jahren Grundgesetz erinnern, an Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
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– Es gibt keine Zwischenfragen.
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Ich bin sehr sicher, dass die Rednerinnen und Redner, die ihre Reden jetzt zu Protokoll geben, wissen, was man menschenwürdige Sprache nennt. Bei manch anderen habe ich erhebliche Zweifel, dass sie wissen, was Entgrenzung von Sprache anrichten kann.
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Die Rede des Kollegen Marc Biadacz wird zu Protokoll gegeben. Pascal Kober für die FDP gibt seine Rede zu Protokoll,
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Jessica Tatti gibt ihre Rede zu Protokoll, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn gibt seine Rede zu Protokoll, Daniela Kolbe gibt ihre Rede zu Protokoll,
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Antje Lezius gibt ihre Rede zu Protokoll,
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und Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll.
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Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt dazu keine anderweitigen Vorschläge. Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat ungewöhnlich, dass die antragstellende Fraktion hier den Antrag nicht begründet.
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Das ist deshalb umso bedauerlicher, weil ich der FDP-Fraktion für diesen Antrag danken wollte. Er stellt zwar ein riesiges Sammelsurium dar, ist aber dennoch wert, debattiert zu werden. Er ist zugegebenermaßen überfrachtet, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, aber uns Demokratinnen und Demokraten kann keine Gelegenheit zu schade sein und keine Stunde zu spät, um über den Frieden zu debattieren.
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Der Nahe Osten steht nämlich vor einer ganz gefährlichen Eskalation, und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir im Hause darüber debattieren.
Ich greife deshalb nur einen einzigen Punkt auf, liebe Herren und Damen von der FDP-Fraktion,
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nämlich den JCPoA, das Nuklearabkommen mit dem Iran. Darüber haben wir allerdings in der Tat schon gestern debattiert. Heiko Maas hat ja auch schon sehr deutlich gemacht, was seine Position dazu ist, und auch erläutert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es um den Erhalt dieses Abkommens geht, wofür sich die E3-Außenminister, also die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands, wiederholt starkgemacht haben. Und auch die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, hat diese E3-Haltung noch mal deutlich gemacht, auch bei dem überraschenden Besuch des US-Außenministers Mike Pompeo in Brüssel, der den Europäern seine Hardlinerhaltung aufzwingen wollte. Es ist richtig, dass die Europäische Union durch die E3-Vertreter deutlich gemacht hat, dass sie dem nicht folgen will.
Wir sagen deshalb – und alle Demokratinnen und Demokraten in diesem Saal sollten dem folgen –: Schluss mit dem Säbelgerassel!
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Das muss nicht nur an die Adresse des US-amerikanischen Außenministers gehen, sondern das muss vor allem an den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump genauso wie an seinen Berater John Bolton adressiert sein. Und seien wir ehrlich: Auch das Regime unter der Führung von Hassan Rohani im Iran können wir dabei nicht aussparen.
Erinnern Sie sich noch, als George W. Bush 2003 den dritten Golfkrieg für beendet erklärte? Da ahnten wir hier doch längst, dass das keinesfalls ein Präventivkrieg zur Vernichtung von Massenvernichtungswaffen war; im Gegenteil. Er hat zwar den Despoten Saddam Hussein, wenn ich das so sagen darf, vernichtet, aber Frieden im Nahen Osten hat er keineswegs geschaffen. Im Gegenteil: Die Folgen waren vielmehr Bürgerkrieg, Terroranschläge, Kriegshandlungen und Gewaltkriminalität. Und schlimmer noch: Die Ausdehnung des IS in der Irak-Krise 2014 ist vermutlich eine der langlebigsten Folgen dieses Krieges.
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Ich bin immer noch stolz, liebe Freundinnen und Freunde des Friedens, dass die rot-grüne Regierung damals Nein zu diesem Krieg gesagt hat.
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Das sollte die Bundesregierung auch heute wieder tun, wenn sie aufgefordert wird, eine Hardlinerposition zu unterstützen. Wir hatten damals allerdings auch Russland, Frankreich und China an der Seite. Dieser Teil der Geschichte darf sich jedoch gerne wiederholen.
Ich bin etwas überrascht gewesen, dass der FDP-Antrag INSTEX als Instrument der Stabilität für die wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran ausgespart hat. Das zeigt aber, dass wir das Thema durchaus noch mal aufnehmen sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann aber in der gebührenden Breite und Intensität.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Daniela De Ridder. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion : Dr. Roland Hartwig.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein ganz besonderes Armutszeugnis für die FDP: Sie stellt einen Antrag und hält es dann nicht einmal wert, diesen Antrag hier selbst zu begründen.
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Das muss man festhalten. Das ist schon sehr beschämend für dieses Haus.
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Wir waren uns gestern in der Aktuellen Stunde ja alle einig, dass eine militärische Eskalation im Nahen Osten verhindert werden muss. Das ist sehr erfreulich, aber leider nicht selbstverständlich. Wir erinnern uns an den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Er wurde von der rot-grünen Regierung gegen den Willen der deutschen Bevölkerung geführt. Joschka Fischer sprach damals euphemistisch von einer „humanitären Intervention“
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und gehörte damit zu denen, die die Büchse der Pandora öffneten, nämlich Angriffskriege ohne UN-Mandat.
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2003 stellte sich Frau Merkel – damals noch als Oppositionsführerin – gegen die deutsche Regierung und wieder gegen den Willen der Mehrheit des deutschen Volkes und unterstützte den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak.
Als dann 2011 auch noch Libyen ohne völkerrechtliche Grundlage angegriffen werden sollte, konnte sich die Regierung immerhin zu einer Enthaltung bei der Abstimmung im Sicherheitsrat durchringen. Die Russen hatten uns damals noch gewarnt, dass wir mit der Zerstörung des libyschen Staates eine Migrationswelle lostreten würden – und sie haben recht behalten.
Ebenfalls 2011 wurden im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings – ein weiterer Euphemismus – mit ausländischer Unterstützung bewaffnete Gruppen gegen die syrische Regierung in Stellung gebracht. In der Konsequenz wurde eine ganze Region ins Elend gestürzt, wurden unzählige Menschen getötet und viele mehr heimat- und perspektivlos gemacht.
Auch vor dem Hintergrund dieser Kriege wurde das Atomabkommen mit dem Iran 2015 als Sternstunde der Diplomatie bewertet. Die Vereinbarung wurde vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angenommen und vom Iran eingehalten. US-Präsident Trump – und das ist ihm hoch anzurechnen – hat im Gegensatz zu seinen Vorgängern keine neuen Kriege begonnen. Bei seiner Entscheidung, aus dem Iran-Abkommen auszusteigen, ist er aber ganz offensichtlich sehr schlecht beraten worden.
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Trumps wesentliche Kritikpunkte sind, dass es dem Iran mit dem Atomabkommen nicht verboten ist, ballistische Flugkörper zu entwickeln, und dass der Iran in den Konflikten in Nachbarstaaten bewaffnete Gruppen unterstützt. Wir sollten in der Tat einen Beitrag dazu leisten, dass der Iran beides nicht tut. Aber der FDP-Antrag ist dazu völlig ungeeignet; denn er ist einseitig und berücksichtigt in keiner Weise die Interessen des Iran.
Mein Kollege Professor Maier hat gestern in der Debatte bereits auf die iranische Sicht verwiesen. Die amerikanische Mitwirkung beim Sturz der demokratisch gewählten iranischen Regierung 1953, die ausländische Unterstützung für den iranischen Schah bis zur Revolution 1979, der unmittelbar darauf folgende Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988, die langjährigen Wirtschaftssanktionen gegen das Land – wenn Sie dies in den Kontext der von mir gerade erwähnten Destabilisierung der gesamten Region einordnen und auch noch den seit 1979 andauernden Konflikt im Nachbarland Afghanistan sowie den gewaltsamen Tod Gaddafis, nachdem dieser sein Chemiewaffenprogramm aufgegeben hatte, berücksichtigen, dann werden die legitimen Sicherheitsinteressen des Iran deutlich. Und dann wird auch klar, dass wir mit neuen Sanktionen und weiteren militärischen Aufrüstungen zu keiner dauerhaften Friedenslösung kommen werden.
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Wir dürfen uns nicht weiter in militärische Abenteuer verwickeln lassen. Das Säbelrasseln der letzten Wochen hat die Kriegsgefahr erhöht. Es hat die Lunte an ein Pulverfass gelegt, und wir sind gut beraten, sie wieder zu entfernen, bevor eine weitere Hochkultur und mit ihr eine gesamte Region ins Verderben gestürzt wird.
In einer Welt zunehmender militärischer Aufrüstung ist das Format des Atomabkommens vielleicht die hoffnungsvollste Perspektive, die wir derzeit haben. Eine Koalition der Willigen ist gefragt – nicht der Kriegswilligen, sondern derjenigen, die bereit sind, gemeinsam und verantwortungsvoll eine neue, stabile, internationale Ordnung aufzubauen. Dies könnte mit Blick auf den Nahen Osten in Form einer umfassenden Friedenskonferenz geschehen.
Das setzt aber zunächst voraus, dass wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Erfolgreiche Außenpolitik ist nur auf Basis souveräner Staaten möglich, die dann in unterschiedlichen Konstellationen ihre Interessen bündeln, um global an Gewicht zu gewinnen. Jedes Zwangskorsett – damit meine ich auch die heute beschworene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU – ist dabei eher hinderlich.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Hartwig. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: Heike Hänsel.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich hätte es auch gut gefunden, die Auseinandersetzung mit der FDP live zu führen;
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denn die Situation im Nahen Osten ist sehr ernst. Es ist mehr als wichtig, dass wir das hier diskutieren.
Die Demokraten in den USA sind ebenfalls sehr beunruhigt und sehen die Entwicklung mit großer Sorge. Senator Bob Menendez, führender Demokrat im Senatsausschuss für Auswärtige Beziehungen, nannte das Verhalten der Trump-Regierung „zutiefst beunruhigend“. Ich möchte ihn zitieren; er sagte – oder besser gesagt: warnte –:
Ich will nicht wieder so etwas erleben wie die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak. Das hat uns zu einer der schlimmsten Entscheidungen in unserer Geschichte geführt.
Und er hat recht;
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denn es sind dieselben Kriegstreiber, wie John Bolton, wieder am Werk, die bereits den völkerrechtswidrigen Irakkrieg vorangetrieben haben. Ihnen muss man in die Hände fallen.
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Allerdings sehe ich, muss ich sagen, bei der Bundesregierung bisher deutlich weniger Beunruhigung. Wieso ergreift Herr Maas denn eigentlich so wenige eigene Initiativen – zum Beispiel, wie von den eigenen SPD-Kollegen vorgeschlagen, angesichts der Kriegsandrohungen und Vorbereitungen der USA eine Initiative im UN-Sicherheitsrat,
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eine Sitzung zum Iran –, um die Androhung militärischer Gewalt ganz klar zu verurteilen? Weshalb sitzt Deutschland im UN-Sicherheitsrat, wenn dann in den entscheidenden Situationen überhaupt nichts passiert? Und warum erklärt der Außenminister nicht öffentlich ganz klar, dass Deutschland sich nicht an einem Krieg gegen den Iran beteiligen wird? Das ist doch überfällig.
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Die Bundesregierung hält es aber nicht einmal für nötig, das Parlament über die Gründe der doch sehr plötzlichen Entscheidung, die Irak-Ausbildungsmission der Bundeswehr vorläufig zu stoppen, überhaupt zu informieren. Wir haben es nur aus den Medien erfahren. Wir erwarten hier endlich konkrete Antworten;
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denn der britische Generalmajor Chris Ghika zum Beispiel, ein leitender Offizier in der Koalition im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“, widerspricht der Behauptung der USA, der Iran stelle eine wachsende Bedrohung im Persischen Golf dar. Die USA wiederum berufen sich nur auf Geheimdienstinformationen. Der Angriff auf den Irak 2003 beruhte auch auf Fake News der Geheimdienste. Das darf sich nicht wiederholen!
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Die Vorfälle im Persischen Golf – es wird von Sabotageakten und Drohnenangriffen gesprochen – dürfen auf keinen Fall für einen Militärschlag instrumentalisiert werden. Nun hat Saudi-Arabien den Iran für die Drohnenattacke auf eine saudi-arabische Ölpipeline verantwortlich gemacht. Beweise gibt es dafür bisher nicht. Der Iran selbst bestreitet jede Verwicklung in die Sabotagefälle. Hier braucht es Aufklärung und Deeskalation und ist nicht weiteres Öl ins Feuer zu gießen.
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Wir fordern, dass die Bundesregierung mit eigenen Initiativen aktiv gegen Krieg oder eine herbeigeführte militärische Eskalation im Persischen Golf vorgeht und den Kriegstreibern in der US-Administration klar und deutlich macht: Es gibt keine Unterstützung in Form von militärischer Infrastruktur in Deutschland und keinerlei Überflugrechte bei einem möglichen US-Militärangriff auf den Iran.
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Und: Die Bundeswehr muss, auch im Hinblick auf die Sicherheit der Bundeswehrsoldaten, dringend aus dem Irak, Jordanien und der Türkei abgezogen werden.
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Das wäre ein überfälliger Schritt.
Einen Satz noch zum Antrag der FDP: Die Überschrift ist sehr gut und richtig. Dann allerdings hat man eher den Eindruck, dass Sie eigentlich auch nach einer Legitimation für einen Angriff auf den Iran suchen. Und ansonsten scheint Sie lediglich die Sorge umzutreiben, dass durch einen Krieg neue Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten. Da muss ich sagen: Wie weit entfernt ist doch die heutige FDP mit ihrem Falken Graf Lambsdorff von den Zeiten eines Guido Westerwelle, der sich der Argumentation für die Legitimation eines Regime-Change in Libyen verweigerte.
Frau Hänsel, die Redezeit.
Wir setzen uns dafür ein, dass der Krieg gegen den Iran auf alle Fälle verhindert wird.
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Vielen Dank, Heike Hänsel. – Nächster Redner in der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Iran ist kein Partner, sondern ein ganz schwieriger Akteur im Nahen Osten: Die Menschenrechtslage im Land ist verheerend, das Raketenprogramm ist besorgniserregend, die aggressive Regionalpolitik zerstörerisch und die Drohungen in Richtung Israel sind absolut inakzeptabel.
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All das beschreibt der vorliegende Antrag der FDP relativ akkurat. Das Problem ist das, was fehlt. Wenn ich den ersten Teil der Überschrift des Antrags lese – „Militärische Eskalation im Nahen Osten aufhalten“ –, dann macht das Fehlen von vielen relevanten Dingen, die dafür notwendig wären, diesen Antrag nahezu grotesk.
Wie kann man einen Antrag über eine militärische Deeskalation im Nahen Osten schreiben und auf dreieinhalb Seiten nicht ein einziges Mal Saudi-Arabien erwähnen?
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Wie kann man einen Antrag schreiben, in dem auf dreieinhalb Seiten das Wort „Jemen“ nur einmal vorkommt? Es werden nur die Milizen erwähnt, die von den Iranern unterstützt werden, aber dass die Saudis eine Hauptverantwortung für diese humanitäre Katastrophe und die Blockade des Landes tragen, wird schlicht weggelassen. Wie kann man einen Antrag schreiben, ohne darüber zu sprechen, dass Saudi-Arabien Salafisten überall finanziert – im Übrigen auch in unseren Fußgängerzonen –, um unsere Kinder zum Dschihad zu verführen?
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Der Kollege Lambsdorff hat ja gestern zum selben Thema gesprochen und gesagt, die Wurzel des Übels im Nahen Osten sei die iranische Politik. Er hat über Saudi-Arabien kein Wort verloren. Wie kann man einen Antrag über das Retten des JCPoA schreiben und dann fordern, dass neue Sanktionen gegen den Iran verhängt werden, in einer Zeit, in der die Amerikaner wöchentlich neue Sanktionen gegen lebenswichtige ökonomische Bereiche, in denen Millionen von Menschen arbeiten, verhängen?
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Wie kann man einen solchen Antrag schreiben und so einseitig sein, wie es nicht einmal Pompeo ist. Pompeo sagt: Wenn der Iran sein Verhalten ändert, dann geht es zurück in die Weltgemeinschaft. – Der Antrag der FDP beinhaltet nicht einmal diesen Punkt. Mit Verlaub: Das ist Beihilfe zu Kriegstreiberei, was Sie hier vorlegen.
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Und dann wird es noch schlimmer. Die zweite Hälfte der Überschrift lautet „Neue Fluchtbewegung nach Europa verhindern“. Sie sagen, die Iraner wollten tatsächlich Flüchtlinge schicken, und deshalb sei es wichtig, dass wir jetzt mit Erdogan sprechen.
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Ich fürchte, Sie haben in den letzten Jahren an bestimmten Stellen nicht aufgepasst. Unsere Hauptkritik an der Außenpolitik der Bundesregierung der letzten Jahre ist, dass sie nur noch Außenpolitik macht unter der Überschrift „Flüchtlingshypnose“. Das führt dazu, dass Eritrea, der Sudan, Ägypten und viele, viele andere Staaten hanebüchene Forderungen stellen, die sie von dieser Bundesregierung aber erfüllt bekommen, weil sie immer drohen: Wir werden Flüchtlinge schicken. – Das ist das, was die Iraner gelernt haben.
Das sieht man im Übrigen am allerdeutlichsten am Fall der Türkei. Wir haben in dieser Woche von Deniz Yücel seine Foltererlebnisse vorgetragen bekommen. Dagegen hat die Bundesregierung bisher nicht laut genug die Stimme erhoben, wegen des Türkei-Deals.
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Die Türkei erpresst uns, und Sie schreiben, wir sollen uns noch mehr erpressen lassen, wir sollen da noch mehr reinbuttern. Es tut mir leid: Ich komme da einfach nicht mit. Das ist absoluter Wahnsinn.
Dieser schlechte Antrag wird von uns selbstverständlich abgelehnt werden.
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Dieser schlechte Antrag sollte jetzt aber nicht als Ausrede für die Bundesregierung dienen, diese Sprachlosigkeit, wie sie derzeit existiert, einfach weiter hinzunehmen.
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Diese Sprachlosigkeit zwischen dem Iran und den USA kann dazu führen, dass es durch wirklich banale Fehler – beispielsweise dadurch, dass ein Kommandeur der Revolutionsgarden des Irans aggressiv wird gegenüber amerikanischen Soldaten in seiner Nähe, die es im Persischen Golf, im Libanon, in Syrien, in Afghanistan und im Irak gibt –, zu einem großen Krieg kommt. Ich glaube, diese Sprachlosigkeit zu bekämpfen, sie aufzuheben, darauf zu drängen, dass es wenigstens ein Rotes Telefon gibt zwischen Teheran und Washington, ist zurzeit die Kernaufgabe und nicht die Sanktionen, die Sie in Ihrem Antrag fordern, und auch nicht die Verschärfung der Pompeo-Strategie.
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Deshalb wäre es notwendig, dass die Bundesregierung an dieser Stelle aktiver wird. Ich wünschte mir, der Außenminister würde, am besten mit seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen, eine Mission in den Iran starten und darauf hinwirken, dass es nicht zufällig zu einer verheerenden Eskalation der Gewalt im Iran kommt. Der nächste Krieg, der hier droht, wird schlimmer sein als der Krieg 2003 im Irak; denn an dessen Ende steht die Nuklearisierung unserer Nachbarschaft. Es geht darum, das zu verhindern,
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und nicht darum, dass wir mit Erdogan in der Flüchtlingspolitik noch mehr zusammenarbeiten und uns noch mehr erpressen lassen.
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Vielen Dank, Omid Nouripour. – Die Reden von den Kollegen Roderich Kiesewetter, Dietmar Nietan, der Kollegin Elisabeth Motschmann und von Alexander Radwan gehen zu Protokoll.
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Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/10161 mit dem Titel „Militärische Eskalation im Nahen Osten aufhalten – Neue Fluchtbewegung nach Europa verhindern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Fraktion der FDP. Dagegen waren die Fraktion Die Linke, die Fraktion der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und die AfD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Ihnen hier vorliegende Entwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes dient der verfassungsrechtlich notwendigen Neufestsetzung der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Außerdem enthält er die von vielen schon seit langem geforderte Schließung der sogenannten Förderlücke bei Studium und Ausbildung und einen Ehrenamtsfreibetrag. Damit unterstützen wir die Integration durch Ausbildung und Studium sowie durch das ehrenamtliche Engagement.
Der Gesetzentwurf wurde am 17. April 2019 vom Bundeskabinett beschlossen und soll nach heutigem Stand zum 1. August 2019 in Kraft treten.
Auf drei Kernpunkte möchte ich kurz eingehen.
Erstens. Die Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz sollen durch dieses Änderungsgesetz ausgewogen und für die Länder kostenneutral angepasst werden. Damit werden im Wesentlichen die Regelungsinhalte des Gesetzentwurfes aus der letzten Legislaturperiode übernommen. Die Regelbedarfe werden weiterentwickelt, und zugleich wird die verfassungsrechtlich gebotene Anpassung der Leistungen vorgenommen.
Das bedeutet: Die Grundleistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes werden auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 2013 neu ermittelt und mit dem Mischindex bis 2019 fortgeschrieben. Damit erfüllt die Bundesregierung ihren verfassungsrechtlichen Auftrag zur regelmäßigen gesetzlichen Anpassung der Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Zukünftig werden die Bedarfe für Strom und Wohnungsinstandhaltung aus dem Leistungssatz ausgegliedert und als Sachleistung gewährt. Die Geldleistungssätze werden hierdurch gesenkt, der Leistungsumfang wird dabei aber nicht verringert.
Gleichzeitig werden die Bedarfsstufen im Asylbewerberleistungsgesetz neu geregelt. Alleinstehende Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften sollen der Bedarfsstufe 2 zugeordnet werden, unter 25-Jährige, die im Haushalt der Eltern leben, werden der Bedarfsstufe 3 zugeordnet.
Der zweite Punkt, der mir besonders wichtig ist, ist, dass durch den Gesetzentwurf die sogenannte Förderlücke bei Ausbildung und Studium für Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie für Geduldete geschlossen werden soll; denn Asylbewerberinnen und -bewerber sowie Geduldete, die sich in einer förderungsfähigen betrieblichen oder schulischen Ausbildung oder in einem Studium befinden – oder eines aufnehmen wollen –, fallen nach jetzigem Recht häufig unter einen Leistungsausschluss und damit aus der sozialen Sicherung heraus. Das hieß bisher: Wer keine Ausbildung beginnt oder eine abbricht, der erhält die vollen Leistungen, wer sich aber anstrengt und etwas leistet, der bekommt nichts. Diese Schieflage wird nun beendet; und das ist gut so.
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Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit dieses Hauses – und übrigens auch der Bundesrat – genau das will: Engagement bei der Integration, gerade in Ausbildung oder Studium. Gerade durch Bildung gelingt Integration.
Zukünftig können Leistungsberechtigte in einer Ausbildung oder in einem Studium nach dem 15. Monat des Aufenthalts Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen. Damit stärken wir die Motivation zur Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums und beseitigen die beschriebenen Fehlanreize.
Der dritte Punkt ist die Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit. Der Gesetzentwurf sieht die Einführung eines neuen Ehrenamtsfreibetrags genauso wie in der Sozialhilfe vor. Wenn sich also Asylbewerber ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel in Vereinen oder Initiativen, und dafür eine Ehrenamtspauschale erhalten, sollen sie davon künftig bis zu 200 Euro im Monat anrechnungsfrei behalten können.
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Denn auch und gerade für Geflüchtete oder Geduldete ist es wichtig, klar zu zeigen, dass ehrenamtliches bürgerschaftliches Engagement in Deutschland wertgeschätzt wird. Wir wollen sie dazu ermutigen und sie nicht davon abhalten.
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Ich fasse zusammen: Wir werden mit diesem Gesetz die Leistungen im Asylbewerberleistungsgesetz, wie verfassungsrechtlich geboten, anpassen, einen Ehrenamtsfreibetrag einführen und die Unterstützung für Geflüchtete in Ausbildung oder Studium sichern. Damit soll dieses Gesetz einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Versorgung geflüchteter Menschen in Deutschland leisten und ihr Engagement und ihre Integration unterstützen.
Ich bitte um gute Beratungen und um Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Für die AfD hat das Wort der Kollege René Springer.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Willkommen zum parlamentarischen Tiefpunkt um 23.03 Uhr. Das ist der Punkt, der eintritt, wenn die Parlamentarische Staatssekretärin spricht und alle anderen Fraktionen, bis auf die AfD, die Reden zu Protokoll geben. Das dürfte wohl einmalig sein hier im Deutschen Bundestag.
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Vor uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Man sollte annehmen, dass es angesichts des Kontrollverlustes seit 2015 das politische Ziel sein muss, Arbeitsmigration und Asyl klar zu trennen und Fehlanreize zur Einwanderung in unsere Sozialsysteme auf null zu reduzieren. Doch der vorliegende Gesetzentwurf bewirkt exakt das Gegenteil.
Warum ist das so? Die Bundesregierung möchte eine Förderlücke für Gestattete und Geduldete schließen, die während einer Berufsausbildung oder eines Studiums auftreten könnte. Nur zur Erinnerung: Gestattete sind Menschen, die sich in einem laufenden Asylverfahren befinden, dessen Ausgang ungewiss ist. Geduldete – mein Kollege Münzenmaier erzählte es schon – sind grundsätzlich ausreisepflichtige Ausländer, deren Abschiebung nur vorübergehend ausgesetzt wurde.
Fast allen Gestatteten und Geduldeten wird schon heute neben einer steuerfinanzierten Rundumversorgung die Möglichkeit gegeben, eine staatlich geförderte Berufsausbildung oder ein Studium aufzunehmen. Letzte Förderlücken, die die Bundesregierung erkannt hat, will sie jetzt schließen. Dem Gesetzentwurf zufolge soll dadurch eine spätere Integration in den Arbeitsmarkt „wesentlich gefördert“ werden.
Kurzum: Das Asylsystem soll nicht mehr nur Schutz für politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge gewährleisten, sondern auch die Integration abgelehnter Asylbewerber in den Arbeitsmarkt vorantreiben. Diese Vermengung von Asylpolitik und Arbeitsmigration lehnen wir als AfD-Fraktion strikt ab.
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Der Gesetzentwurf steht auch im völligen Widerspruch zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das wir gerade erst letzte Woche hier im Bundestag debattiert haben.
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Darin will man zukünftig nämlich die Möglichkeit eines sechsmonatigen Aufenthaltes zur Suche eines Ausbildungsplatzes schaffen.
Mal ganz abgesehen davon, dass Ausbildungssuchende keine Fachkräfte sind, soll die Suche an Bedingungen geknüpft werden: Suchende sollen nicht älter als 25 Jahre sein, gute Deutsch-Sprachkenntnisse und einen adäquaten Schulabschluss haben, und sie müssen ihren Lebensunterhalt für die sechs Monate der Ausbildungssuche sichern können.
Oder aber man umgeht das Fachkräfteeinwanderungsgesetz einfach, indem man die immer noch ungesicherte deutsche Außengrenze passiert und einfach das Zauberwort „Asyl“ ruft; dann ist das Alter egal, die Sprachkenntnisse interessieren nicht, und der Schulabschluss ist unerheblich. Sicherung des eigenen Lebensunterhalts? Fehlanzeige! Den darf dann der Steuerzahler finanzieren, inklusive der Wohnkosten, der Kranken- und Pflegeversicherungsleistungen, der oftmals erfolglosen Sprach- und Integrationskurse und zukünftig auch der lückenlosen Förderung von Berufsausbildung und Studium.
Die Botschaft dieses Gesetzes ist fatal: Kommt alle nach Deutschland, um den Rest kümmern wir uns, selbst wenn euer Asylantrag abgelehnt wird.
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Mehr Anreiz, unser Asylsystem zu missbrauchen, geht fast nicht mehr.
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Fast! Denn im Windschatten dieser Regelung schiebt uns die SPD noch ein dickes Kuckucksei unter: die Anhebung des Taschengeldes für Asylbewerber auf 150 Euro.
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– Nehmen Sie doch Ihre Redezeit wahr! Stellen Sie sich hierhin, erklären Sie das! Aber Sie haben Ihre Rede ja zu Protokoll gegeben.
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Was für ein katastrophales Signal! Selbst der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion, Thorsten Frei, sagte dazu jüngst:
Deutschland zahlt bereits heute mit die höchsten Sozialleistungen in Europa. Sie sind ein wesentlicher Anreiz für eine Antragstellung in Deutschland, und wir müssen deshalb vorhandene Möglichkeiten für ihre Absenkung nutzen.
Klare Worte! Aber offenbar besitzt das Wort des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der größten Bundestagsfraktion null Autorität am Kabinettstisch.
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Anders ist es nicht zu erklären, warum wir den Gesetzentwurf debattieren, der nicht weniger, sondern mehr Fehlanreize setzt, der nicht weniger, sondern mehr Geldleistungen an Asylbewerber verspricht. Diesen Irrsinn lehnen wir ab.
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Wir fordern eine grundsätzliche Wende in der Asylpolitik, eine klare Trennung von Arbeitsmigration und Asyl, null Fehlanreize zur Einwanderung in unsere Sozialsysteme. Das muss das Ziel sein.
Vielen Dank.
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Die Reden der Kollegen Thomas Heilmann, Pascal Kober, Ulla Jelpke, Sven Lehmann, Daniela Kolbe, Frank Heinrich und Peter Aumer gehen zu Protokoll,
({0})
sodass ich an dieser Stelle die Aussprache schließen kann.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10052 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir feiern diesen Monat das 70-jährige Bestehen des Grundgesetzes. Das Grundgesetz ist eine große Errungenschaft in Bezug auf die Menschenrechte und den Rechtsstaat, gerade im Hinblick auf die davorliegende NS-Zeit.
Das Grundgesetz hat uns die Grundrechte – Artikel 1 bis Artikel 19 – gebracht, die Freiheits- und Gleichheitsrechte gewährleisten, die der Staat schützen und wahren muss. Es reicht aber nicht, sich auf den bestehenden Errungenschaften auszuruhen. Wir müssen das Recht auch fortentwickeln und an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen.
({0})
Schließlich sind es über 10 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die ihren Lebensmittelpunkt hier in Deutschland und in unserer Gesellschaft haben.
({1})
Eine Anpassung ist daher zeitgemäß und auch angebracht.
Die deutschen Grundrechte müssen in Menschenrechte umgewandelt werden. Rechte wie die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, die Berufsfreiheit und das Recht auf Freizügigkeit wurden damals nur deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zuerkannt. Beispielsweise steht in Artikel 8 des Grundgesetzes, dass „alle Deutschen“ das Recht haben, sich zu versammeln. Dort wird explizit nur auf deutsche Staatsbürger Bezug genommen, anders als zum Beispiel in der UN-Menschenrechtscharta, in der Europäischen Menschenrechtskonvention oder in der Europäischen Grundrechtecharta. Dort werden beispielsweise die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit ausdrücklich allen Menschen bzw. jeder Person zuerkannt. Das muss im Grundgesetz angepasst werden.
Die historische Begründung, warum dort nur „Deutschen“ steht, ist aus heutiger Sicht nicht mehr tragbar. Sachfremde Erwägungen haben damals dominiert und dazu geführt, dass man anders als noch im ersten Entwurf für das Grundgesetz, dem Chiemseer Entwurf, nicht „alle Menschen“ formuliert hat. Das wurde unter anderem im Hinblick auf die Gefahr, die von bolschewistischen Vereinigungen ausgehe, begründet.
Einer der vehementesten Gegner der Formulierung „alle Menschen“ war damals übrigens der CDU-Abgeordnete Hermann von Mangoldt, der zur NS-Zeit ein Befürworter der Rassengesetze war und sie durch juristische Schriften auch legitimierte.
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In seinem späteren Kommentar zum Grundgesetz wurde noch argumentiert, dass eine Ausdehnung der deutschen Grundrechte auf Nichtdeutsche die Gefahr der Überfremdung bedeuten würde.
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Wir denken, dass gerade in dieser Zeit, in der Menschen mit Migrationshintergrund und Schutzsuchende vermehrt Anfeindungen und Angriffen durch die Rechten und Neonazis in Deutschland und ganz Europa ausgesetzt sind, mit der entsprechenden Änderung ein wichtiges Zeichen von Weltoffenheit, Antirassismus und Teilhabe gesetzt werden würde.
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Diese gleichen Rechte sollten ausdrücklich in die speziellen Grundrechtsparagrafen aufgenommen werden, um einmal mehr zu zeigen, dass der Deutsche Bundestag an der Seite aller Menschen steht, die hier in Deutschland leben.
Denjenigen, die sagen, dass diese Änderung nicht nötig sei, weil Nichtdeutsche über einfache Gesetze, über das Auffanggrundrecht oder über die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt sind, möchte ich entgegenhalten, dass so aber nicht dasselbe Schutzn iveau erreicht wird. Das hat das Bundesverfassungsgericht selbst in seiner heute noch gültigen Entscheidung von 1978 klargestellt.
Eigentlich dürfte auch Herr Seehofer nichts dagegen haben; schließlich ist die Bayerische Verfassung da ja vorbildlich: Sie spricht bei allen genannten Grundrechten explizit von allen Bewohnerinnen und Bewohnern Bayerns, ohne eine Unterscheidung im Hinblick auf die Staatsbürgerschaft zu machen.
Menschenrechte sind unteilbar und sollten für alle Menschen in unserer Gesellschaft gelten. Dies muss auch auf unsere Verfassungswirklichkeit übertragen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ingmar Jung.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat diskutieren wir diese Woche des Öfteren über das 70-jährige Jubiläum unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung, die uns inzwischen Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gebracht hat, worauf wir wirklich stolz sein können. Deswegen führen wir solche Debatten auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und aus unserer Sicht auch mit dem Willen, das Grundgesetz in seinen Grundfesten so zu belassen, wie es ist. Die Grundrechte haben in den letzten 70 Jahren fast gar keine Veränderung erfahren, eben weil sie sich so bewährt haben. Damit sind wir auch sehr gut gefahren.
Was haben damals die Mütter und Väter des Grundgesetzes beschlossen? In der Tat, sie haben die Artikel 8, 9, 11, 12 als sogenannte Deutschen-Grundrechte ausgestaltet und sie formal somit zunächst mal nur deutschen Staatsbürgern gewähren wollen.
Was bedeutet das heute tatsächlich in der Praxis? Wir haben einmal allgemeine Grundrechte – Handlungsfreiheit, Menschenwürde –; die gelten zweifellos für alle. Dann haben wir Spezialgrundrechte, die als Jedermann-Grundrechte ausgestaltet sind – Meinungsfreiheit beispielsweise. Auch sie gelten für alle. Dann haben wir einige Spezialgrundrechte, die als sogenannte Deutschen-Grundrechte ausgestaltet sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie in ihrem gesamten Gehalt nicht für alle gelten, also nicht für Nichtdeutsche gelten; vielmehr bedeutet es, dass auch sie in ihrem Kerngehalt, also soweit sie Menschenrechte betreffen, vollständig für Nichtdeutsche gelten, auch wenn sie nicht EU-Bürger sind, und dass sie darüber hinaus ein besonderes Schutzniveau für deutsche Staatsangehörige beinhalten.
Deshalb, Frau Akbulut, kann ich Ihnen sogar zurufen: Was Sie gesagt haben – Menschenrechte müssten für alle gelten –, teilen wir; denn im Kerngehalt – wenn die Deutschen-Grundrechte Menschenrechte sind – gelten sie heute schon für alle, und bitte suggerieren Sie deshalb nichts anderes. Das bringt unser Grundgesetz mit sich, und das hat sich wunderbar bewährt.
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Wenn man Ihren Gedanken zu Ende denkt, dass auch das Recht, das über das Menschenrecht hinausgeht, immer und für jeden gelten soll, der sich gerade im Geltungsbereich des Grundgesetzes befindet, dann müsste man das machen, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf sogar andeuten: Dann müsste das allgemeine Wahlrecht auch für jeden gelten, der gerade mal zufällig während der Bundestagswahl in Deutschland ist. – Das geht aus unserer Sicht dann doch ein bisschen zu weit.
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Deswegen sind wir schon der Auffassung, dass es richtig ist, dass dieser kleine Bereich, nämlich die sogenannten Deutschen-Grundrechte, dort, wo sie über die Menschenrechte hinausgehen, an die Staatsangehörigkeit geknüpft wird.
Was bedeutet denn „Staatsangehörigkeit“? Das bedeutet ein bestimmtes Bekenntnis zu diesem Staat und seiner Verfassung, das bedeutet staatsbürgerliche Rechte und auch Pflichten, und das bedeutet auch einen unmittelbaren Bezug und eine unmittelbare Beziehung zur Geltung dieses Grundgesetzes, die nicht enden kann durch Ausreise oder durch anderes. Das ist eben eine besondere Beziehung, die deutsche Staatsbürger zu diesem Grundgesetz haben, und das macht diese kleine Unterscheidung, diesen kleinen Bereich der Grundrechte, zulässig, und wir halten sie auch für richtig.
Das, was Sie jetzt hier behaupten und suggerieren, meine Damen und Herren von der Linkspartei
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– ja; dann halt „Die Linke“; „Linksfraktion“, so wurde ich schon berichtigt –, ist doch schlicht und ergreifend nicht richtig. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, nach Artikel 3 Grundgesetz hätten wir hier einen Verstoß gegen die Verfassung. Dazu finden Sie selbst als Beleg nur noch einen Kommentar aus dem Jahr 1967. Ansonsten habe ich außer der Linksfraktion niemanden gefunden, der das heute auch noch vertritt.
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Dann schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf: Die Grundrechte müssen ausgeweitet werden, damit Geflüchtete auch Vereine gründen können. – Was versuchen Sie uns denn hier vorzumachen? Ich habe doch eben versucht, Ihnen darzulegen – das wissen Sie auch –: Die Vereinigungsfreiheit gilt selbstverständlich in ihrem Kerngehalt ohnehin für jeden, auch für jeden, der nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Dass sich ein Geflüchteter nicht an einer Vereinsgründung beteiligen darf, ist einfach nicht richtig. Es sind Falschbehauptungen, die Sie hier aufstellen. Deswegen: Hören Sie auf, so etwas zu suggerieren. Dafür ist unser Grundgesetz an der Stelle zu schade.
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Eine kleine Unterscheidung, die übrig bleibt, ist beispielsweise die Drei-Stufen-Theorie auf Grundlage der in Artikel 12 Grundgesetz verankerten Berufsfreiheit. Ich finde es schon richtig, dass da ein bestimmtes dauerhaftes Bekenntnis zu diesem Grundgesetz und zu diesem Staat gehört, um diesen ganz besonderen Schutz – diese ganz besondere Ausgestaltung des Artikels 12 Grundgesetz – am Ende genießen zu können. Deswegen möchten wir diese Regelung auch so lassen.
Ich hätte eine Bitte: Ihr Kampf gegen Rassismus, gegen Diskriminierung ist ehrenwert; er ist in vielen Bereichen auch unterstützenswert. Aber lassen Sie an der Stelle doch bitte unser Grundgesetz in Ruhe.
Wir haben hier vor ein paar Wochen schon mal über Grundrechte diskutiert. Da war sich die Linksfraktion über den Antrag der AfD sehr einig: Man solle alle Grundrechte so lassen, wie sie sind, und man solle sie nicht für politische Schaufensterdebatten nutzen. – Das sollten wir uns alle hier zugutehalten. Führen Sie Ihren Kampf gegen Rassismus, gegen Diskriminierung überall, an jeder Stelle, aber lassen Sie unsere Grundrechte so, wie sie sind! Sie haben sich 70 Jahre bewährt.
Herzlichen Dank.
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Für die AfD hat das Wort der Kollege Fabian Jacobi.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Linken zur Änderung des Grundgesetzes hat seine charmanten Seiten.
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Er praktiziert nämlich, zumal gegen Ende hin, eine bemerkenswerte Offenherzigkeit, was ja durchaus als charmante Eigenschaft begriffen werden kann.
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Doch dazu später.
Weniger charmant ist der Inhalt des Antrags. Er wurde in fast identischer Form bereits in der letzten Wahlperiode hier gestellt und behandelt. Aus der damaligen Debatte haben die Antragsteller also offenbar nichts gelernt.
Die Linke möchte ein bisschen an der Verfassung herumschrauben und die dort verankerten Bürgerrechte, namentlich die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, zu Menschenrechten umschreiben, also die in diesem Bereich vom Grundgesetz getroffene Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Ausländern einebnen. So weit, so typisch. Die letztliche Auflösung der Republik durch die Abschaffung jeglicher Unterscheidung zwischen den eigenen Staatsbürgern und de m Rest der Menschheit ist ja ein Fixstern linker Ideologie.
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Man verweist auf völkerrechtliche Abkommen und Verträge, auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auf den Zivilpakt der Vereinten Nationen. In diesen seien die genannten Rechte als Menschenrechte enthalten. Und damit offenbart sich auch schon die ganze Überflüssigkeit dieses Antrags; denn diese internationalen Regelwerke sind in Deutschland geltendes Recht. Jeder kann sich auf sie berufen, und das Recht darauf, bei Verletzungen solcher Rechte vor deutschen Gerichten Rechtsschutz zu erhalten, das gilt in Deutschland ebenfalls ganz unabhängig von der Staatsangehörigkeit.
Ein praktisches Bedürfnis oder einen ernsthaften Missstand, dem es durch eine Verfassungsänderung abzuhelfen gölte, zeigt der Antrag nicht auf.
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Er enthält sich jeglicher konkreten Darlegung oder Beschreibung irgendeiner tatsächlich vorkommenden Situation, in der – und sei es auch nur aus Sicht der Antragsteller – irgendjemandem in Deutschland aufgrund der bestehenden Rechtslage ein grobes Unrecht geschähe.
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Und das hat sich auch zwischen der Erstfassung des Antrags aus dem Jahr 2015 und der neuen Version von 2018 nicht geändert. Obwohl sie seit der erstmaligen Behandlung hier im Bundestag noch mal drei Jahre Zeit hatten, irgendetwas Greifbares aufzutreiben, das sich als Beleg für ein existierendes Problem anführen ließe, ist da nichts.
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Es bleibt – damals wie heute – alles im Wolkigen, im Abstrakten.
Und das zeigt ganz deutlich, dass es diesem Antrag auch gar nicht darum geht, irgendeinem konkreten gesellschaftlichen Problem abzuhelfen. Nein, hier sollen frivole Spielchen mit der Verfassung getrieben werden als Vorwand für ganz andere Zwecke.
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Welche das sind? Da komme ich auf den Anfang zurück, als ich sagte, dass dieser Antrag so charmant offenherzig sei. Liest man sich nämlich die Antragsbegründung durch, findet man ziemlich am Ende die Passage, in der der Antragsverfasser – bildlich gesprochen – die Hosen herunterlässt. Das ist auch eine der wenigen Stellen, an denen der Antrag nicht ganz wortwörtlich dem alten Antrag von vor drei Jahren entspricht, sondern kleine Änderungen vorgenommen wurden. Da hieß es 2015 noch:
... auch Geflüchtete müssen das gleiche Recht ... haben ... die inhumane Asylpolitik der Bundesregierung durch Versammlungen und Organisierung in Vereinigungen anzuprangern.
In der jetzigen Fassung ist da noch eine Ergänzung hinzugekommen. Jetzt heißt es nicht mehr nur, dass Geflüchtete sich versammeln und organisieren sollen gegen die „Asylpolitik der Bundesregierung“; nein, jetzt sollen sie in Marsch gesetzt werden gegen die „Asylpolitik der Bundesregierung sowie die Hetze durch rechte Kräfte“.
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Und nach der alten, totalitären Freund-Feind-Logik der Linken sind rechte Kräfte ja bekanntlich alle, die keine Linken sind.
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Hier offenbart sich die Geisteshaltung, die hinter diesem Antrag steht. Sie geht darauf aus, in Deutschland lebende Ausländer, speziell Asylsuchende, aufzuhetzen: in der älteren Version des Antrags nur – nur! – gegen die deutsche Regierung und den deutschen Staat, in der jetzigen Fassung des Antrags zusätzlich auch noch gegen die Teile des deutschen Staatsvolkes, die von der Linken als Feind, nämlich als rechts, markiert werden.
Man muss sich das deutlich vor Augen führen: Die Linke sitzt hier in diesem Parlament als Teil des Staatsorgans Bundestag, als Teil der Volksvertretung des deutschen Volkes,
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und nutzt diese Bühne, um Ausländer – Geflüchtete, wie sie sagen –
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gegen diesen Staat und gegen dieses Volk zu agitieren. Dazu erübrigt sich dann jede weitere Debatte.
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Wir stimmen der erneuten Überweisung dieses Recyclingantrags in den Rechtsausschuss zu.
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Einen besonderen Erkenntnisgewinn erwarten wir uns davon allerdings nicht.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen haben wir in diesem Haus eine Debatte über „70 Jahre Grundgesetz“ geführt. Es war richtig und gut, dieses deutschen Versprechen gegenüber den Deutschen und der Welt – das Grundgesetz ist zumindest nach meiner Auffassung das Beste, was dem deutschen Volk in seiner langen und nicht immer glücklichen Geschichte jemals gelungen ist – zu gedenken. Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte.
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Das Grundgesetz ist eine Verfassung, die es ermöglicht, die Wunden zu schließen, eine Verfassung, die es ermöglicht, Perspektiven zu eröffnen, die es ermöglicht, die europäische Integration zu vollziehen, kollektive Sicherheit zu gewährleisten und Menschen, gleich welcher Herkunft, zu integrieren. Quasi als Kern dieser Verfassung manifestiert sie den Schutz der Würde des Menschen.
Gerade deshalb haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Gründung unseres Staates in Artikel 25 Grundgesetz, von dem diejenigen, die den Gesetzentwurf eingebracht haben, nicht sprechen, den Vorrang des Völkerrechts manifestiert. Denn natürlich gehört die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte untrennbar zu diesem Grundgesetz, und untrennbar gehört zu diesem Grundgesetz auch die Verpflichtung, dass wir in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen auf die allgemeine Achtung und Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten hinwirken und damit die Europäische Menschenrechtskonvention und die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen quasi zum Inhalt unserer Verfassung machen.
Deshalb habe ich mich, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Linken, gefragt: Was soll dies – „Grundrechte für alle“, die allen Menschen als Menschenrechte zustehen – jetzt an dieser Stelle? Denn gerade, um dieser Pflicht gerecht zu werden, die Menschenrechte und die entsprechenden Erklärungen der Menschenrechtskonvention zu implementieren, hat unser Grundgesetz einen weiten Grundrechtskatalog gefasst und eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit vorgesehen.
Aus gutem Grunde hat der Parlamentarische Rat damals sehr differenziert nicht alles über einen Kamm geschoren und Unterschiede zwischen einerseits den Jedermann-Grundrechten, andererseits den sogenannten Deutschengrundrechten und drittens den grundrechtsgleichen Rechten vorgenommen. Die Unterscheidung ist der Fraktion Die Linke sehr wohl bewusst gewesen, da sie ja lediglich die Versammlungsfreiheit, also Artikel 8 Grundgesetz, die Koalitionsfreiheit, Artikel 9 Grundgesetz, die Freizügigkeit, Artikel 11 Grundgesetz, und die Berufsfreiheit, Artikel 12, ins Visier genommen hat. Leider sind Sie – dies sage ich aus Sicht der SPD – zu einem falschen Ergebnis gekommen.
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Betrachten wir deshalb diese vier Artikel etwas genauer:
Blicken wir auf die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit. Wo ist sie eingeschränkt für Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit? Die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, das Recht, Vereine zu gründen, sich in Vereinen und Verbänden zu organisieren, Mitglied in einer Gewerkschaft zu sein, steht jedem, der in Deutschland ist, schon aus der Gestaltung des Artikels 1 Grundgesetz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und des Artikels 2 Grundgesetz heraus unverbrüchlich zu. Auch die Versammlungsfreiheit in diesem Land ist nur dann eingeschränkt und auf die Nationalität und die Staatsangehörigkeit begrenzt, wenn es sich um staatsgefährdende Bereiche handelt.
Nehmen wir als Nächstes die Berufsfreiheit. Keiner in diesem Hohen Haus käme auf die Idee, die Berufsfreiheit als solche allein auf die deutsche Staatsangehörigkeit und nicht auf die Qualifikation abzustellen. Die Qualifikation der Menschen ist die Grundlage, und niemand in diesem Hohen Hause käme auf die Idee, zu sagen: Jedermann, der nach Deutschland einreist, hat sofort einen Anspruch auf einen Beruf.
Verehrte Antragsteller, Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf weder Artikel 33, die Gleichstellung der Deutschen in den Ländern, berücksichtigt – wo von Deutschen die Rede ist – noch Artikel 20, wo das Widerstandsrecht der Deutschen manifestiert ist, ebenfalls an die Staatsangehörigkeit geknüpft –
Herr Kollege Brunner, kommen Sie bitte zum Ende.
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– Herr Präsident, ich komme sofort zum Schluss –, und auch nicht Artikel 16, der die Staatsangehörigkeit schützt, und Artikel 12, der unsere Wehrpflicht beinhaltet.
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Deshalb, liebe Antragstellerinnen und Antragsteller: Es ist eine gute Idee, die Menschenrechte zu manifestieren; sie sind aber bereits manifestiert. Wir brauchen keine Änderungen. Wir haben ein gutes Grundgesetz. Dies sollten wir fortführen.
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Der Kollege Buschmann ebenso wie die Kollegen Alexander Hoffmann und Esther Dilcher geben ihre Reden zu Protokoll,
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sodass die letzte Rednerin die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Grüne, ist.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr, in dem das 70. Jahr des Grundgesetzes gefeiert wird,
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haben wir heute früh eine Rederunde zu dem Thema gehabt, und man fragt sich, wie hilfreich die Rederunde jetzt hier kurz vor Mitternacht ist. Jeder kann sich über die Beiträge sein eigenes Urteil bilden.
Ich will dennoch nicht versäumen, zu erwähnen, dass insbesondere der Rechtsausschussvorsitzende hier rechts sitzt und nur pöbelt, statt einen sinnvollen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten.
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Zumindest sollte das, finde ich, in dem Protokoll dieser Rederunde stehen.
Aber ich will auch dazusagen, liebe Kollegin von der Linksfraktion: Üblicherweise ist es so, dass, wenn man wirklich ernsthaft vorhat, die Verfassung zu ändern, man sich mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen ins Benehmen setzt. Solche Beispiele gab es ja schon.
Es ist tatsächlich eine spannende Debatte, zu sagen: Ist es nach 70 Jahren vielleicht Zeit, dass wir mal den Mut haben – den ja die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten –, uns zu fragen: Ist das genau das, was wir brauchen, oder braucht es hier weitere Entwicklungen? Aber ich glaube nicht, dass in der Sache auch nur einem damit geholfen ist, dass wir diese Debatte hier heute führen, insbesondere wie sie hier heute geführt wurde. Das will ich noch mal feststellen.
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Wir können den Gesetzentwurf an den Rechtsausschuss überweisen.
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Wir können dort auch eine Anhörung durchführen, und wir können die Argumente für und wider austauschen.
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Aber ich denke, dass wir insbesondere bei der Vereinigungs- oder Versammlungsfreiheit oder bei den Grundrechten für alle Menschen im Ergebnis nicht dazu kommen werden, dass es durch eine Änderung der Verfassung eine Änderung der Rechte geben wird.
Was vielmehr als Thema beleuchtet wird und was auch eine Rolle spielt, ist: Fühlen sich alle Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, gleichberechtigt in ihren Grundrechten? Das ist aber eine gesellschaftspolitische Debatte, und ich glaube, dass wir mit einer Abkürzung über eine Grundgesetzänderung es uns nicht ersparen werden können, dass wir uns täglich – und das ist doch das Wesen der Demokratie und der Gesellschaft – miteinander auseinandersetzen, wie wir unser Zusammenleben organisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Insoweit kann ich natürlich nicht unerwähnt lassen, dass der Redner der AfD, der Herr Jacobi, den ich übrigens auch aus dem Rechtsausschuss kenne,
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wieder mal eine sehr wirre Rede gehalten hat
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und am Ende behauptet hat, dass hier irgendwer irgendwen gegen Rechtsextremisten aufhetzen würde.
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Nein, meine Damen und Herren: Der Verfassungsschutz verfolgt diese Extremisten auf der einen Seite. Und wegen der Spendenaffäre haben Sie auch noch andere Verfolgungen an der Backe.
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Aber das haben Sie sich selber zuzuschreiben. Da braucht es keine Anträge der Linken,
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um das auszulösen.
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Damit muss man dann auch leben, und da hilft es auch nicht, wenn der Rest der Truppe hier vom rechten Rand her pöbelt.
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In diesem Sinne weiterhin gute Beratungen!
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Ich schließe die Aussprache zu Zusatzpunkt 8.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/5860 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für die Inklusion, und zwar insbesondere für die Teilhabe der Menschen an demokratischen Wahlen. Denn wir beschließen heute das inklusive Wahlrecht
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und die dazu erforderlichen Änderungen in den entsprechenden Gesetzen und Wahlordnungen. Heute wird ein Gesetz beschlossen, auf das viele Menschen schon hoffnungsvoll warten.
Ein ige Anläufe hat es bereits gegeben. Auch in der letzten Legislaturperiode stand dieses Thema schon auf der Tagesordnung. Aber aufgrund der Tatsache, dass es dabei um das große Wahlrechtsreformgesetz ging, bei dem keine Einigung gelang, konnte man da kein Ergebnis erzielen.
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Deswegen haben wir in den Koalitionsvertrag aufgenommen, dass dieses Thema separat behandelt wird, sodass wir dieses Thema auskoppeln konnten. Wir verfolgen seit Beginn der Koalition das Ansinnen, das inklusive Wahlrecht einzuführen. Heute ist es so weit, dass wir die Wahlrechtsausschlüsse streichen; das sind im Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz die Nummern 2 und 3 in den entsprechenden Paragrafen.
Darüber hinaus werden entsprechende Konkretisierungen auch im Rahmen der Wahlassistenz vorgenommen und die entsprechenden Regelungen im Rahmen der Wahlordnungen und im Strafgesetzbuch angepasst. Das dient insbesondere dazu, mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in diesem Bereich zu erlangen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat gerade dies dem Gesetzgeber ins Aufgabenbuch geschrieben, indem es in der Pressemitteilung vom 21. Februar 2019 zu seiner Entscheidung gerade auf die Integrität des Wahlrechtes – insbesondere auch auf die Tatsache, dass es korrekt und missbrauchsfrei ausgeübt wird – hingewiesen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit ausdrücklich erwähnt, dass diese Regelungen bzw. Konkretisierungen auch im Rahmen des Strafrechts erfolgen können. So werden diese Regelungen entsprechend angepasst.
Mit diesen Regelungen setzen wir auch die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts um, dass die Entscheidung eines jeden Wählers selbstbestimmt erfolgen muss – und damit nicht fremdbestimmt erfolgen darf – und die Wählerinnen und Wähler, um ihr Wahlrecht selbstbestimmt auszuüben, notwendigerweise auch eine Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit haben müssen.
Daher ist es nur konsequent, dass wir das Gesetz heute in dieser Fassung vorlegen; dies entspricht nämlich den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Jeder, der dies nun kritisiert, muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass er vielleicht entsprechende Vorschläge vorlegt, die nicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entsprechen. Hier waren die Anträge der Opposition in der jüngsten Vergangenheit abzulehnen, da ihnen zufolge nur die entsprechenden Wahlrechtsausschlüsse gestrichen werden sollten, aber keine flankierenden Regelungen zur Wahlassistenz vorgesehen waren.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass dieses Gesetz schon zur Europawahl in Kraft treten kann.
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Das haben wir leider nicht erreicht.
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Aber auch hier ist es so, dass wir die entsprechenden Regelungen der Venedig-Kommission zu berücksichtigen hatten, wonach innerhalb eines Jahres vor der Wahl keine Wahlrechtsänderungen mehr vorgenommen werden sollen.
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Das ist eine Empfehlung. Heute ist trotzdem ein guter Tag, weil wir das inklusive Wahlrecht einführen.
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Denn damit ermöglichen wir den Menschen, an dem teilzunehmen, was absolut wichtig ist: an demokratischen Verfahren, und zwar durch Abgabe einer Stimme bei demokratischen und freien Wahlen.
Danke schön.
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Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Thomas Seitz das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Die alternde Gesellschaft stellt uns vor große soziale und menschliche Herausforderungen, insbesondere durch die Volkskrankheit Demenz. Auch vor diesem Hintergrund ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar zu sehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich betont, dass ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht.
Das ist auch richtig so. Denn nach Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Wer aber nicht in der Lage ist, für sich selbst einen Willen zu bilden, der kann nicht an der Willensbildung des Volkes teilhaben.
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Völlig zutreffend hat unser höchstes Gericht jedoch das Bestehen einer Vollbetreuung als maßgebliches Kriterium für den Ausschluss vom Wahlrecht verworfen. Denn zum einen prüft das Betreuungsgericht eben nicht, ob der Betroffene die Möglichkeit zur Teilnahme am genannten Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen hat, und zum anderen hängt es oft nur vom Zufall ab, ob in einem Fall, in dem die Voraussetzungen für eine Vollbetreuung vorliegen, auch eine Anrufung des Betreuungsgerichts erfolgt.
Wenn bisher das Bestehen des Wahlrechts oder der Ausschluss vom Wahlrecht davon abhing, ob die Einrichtung einer Vollbetreuung zum Beispiel aufgrund einer Vorsorgevollmacht überflüssig war, dann war dies eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung. Ein Strafgericht prüft nicht, ob der Angeklagte die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen hat, wenn es die Schuldunfähigkeit des Angeklagten feststellt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnet, weshalb auch eine solche Anordnung nicht den Entzug des Wahlrechts mit sich bringen kann.
Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts sowohl zu § 13 Nummer 2 wie auch zu Nummer 3 Bundeswahlgesetz ist auch für einen juristischen Laien klar nachvollziehbar. Eine Neuregelung ist nicht nur wegen der Bindungswirkung der ergangenen Entscheidung unabdingbar.
Wir als AfD-Fraktion tragen die Gesetzesänderung deshalb mit, auch wenn man durchaus über praktikable Alternativen hätte nachdenken können.
Mit der Neuregelung wird der Anwendungsbereich zulässiger Assistenz in erheblichem Umfang ausgeweitet. Es ist deshalb geboten, auch die Gefahr eines Missbrauchs zu diskutieren. Um die Dimension zu verdeutlichen: Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft gab Mitte 2018 die Zahl der in Deutschland lebenden Demenzkranken mit rund 1,7 Millionen Menschen an. Mit fortschreitendem Krankheitsverlauf ist bei einer großen Zahl dieser Erkrankten nicht mehr davon auszugehen, dass sie noch in der Lage sind, selbst eine bewusste Wahlentscheidung zu treffen. Die Gesamtzahl der betroffenen Menschen steigt angesichts von über 300 000 Neuerkrankungen pro Jahr deutlich an. Zum Vergleich: Seit der letzten EU-Wahl 2014 sind in Deutschland jedes Jahr im Durchschnitt nur etwa 1 Million Erstwähler hinzugekommen.
Zum Schutz der Legitimität der in Deutschland durchgeführten Wahlen muss es deshalb eine wirksame Vorsorge geben, damit der Verdacht, in erheblichem Umfang würden Briefwahlunterlagen von nicht mehr selbst entscheidungsfähigen Menschen von Dritten nach deren eigenem Willen ausgefüllt und damit das Wahlergebnis manipuliert, erst überhaupt nicht entstehen kann.
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Umgekehrt dürfen weder Angehörige von betroffenen Menschen noch die Mitarbeiter entsprechender Einrichtungen einem Generalverdacht ausgesetzt werden. Beide Gruppen – egal ob beruflich oder familiär tätig – leisten tagtäglich mit großer Empathie und oftmals sogar sich selbst aufopfernd einen unverzichtbaren Dienst an diesen Menschen und an unserer Gesellschaft.
Es ist unverzichtbar, dass mit der Neuregelung auch eine eindeutige Festlegung der Grenzen zulässiger Assistenz erfolgt, damit klar ist, wer als Hilfsperson handelt und wer einen in seinen Fähigkeiten beeinträchtigten Menschen nur schäbig für seine eigenen Interessen ausnutzt.
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Unverzichtbar ist deshalb, dass der vorsätzliche Missbrauch zulässiger Wahlassistenz unter Strafe gestellt wird.
Den Entschließungsantrag von FDP, Linken und Grünen müssen wir ablehnen; denn der von Ihnen geforderte Verzicht auf die vorgesehene Strafbarkeit würde jedenfalls dem Verdacht einer Wahlmanipulation in erheblichem Umfang Tür und Tor öffnen. Wahlbetrug ist aber kein Kavaliersdelikt, meine Damen und Herren, auch wenn einige von Ihnen es in Bezug auf die AfD gerne so hätten.
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Der Kollege Jens Beeck hat das Wort für die FDP-Fraktion.
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir schon zweimal über 70 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Welcher Höhepunkt hätte es sein können, unter dem jetzt folgenden Tagesordnungspunkt das inklusive Wahlrecht so zu schaffen, dass es die Menschen mit Behinderungen ohne weitere – neue – stigmatisierende Dinge erreicht!
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Diese Sternstunde im Parlament, die möglich gewesen ist, fällt leider aus. Heute ist kein guter Tag für Menschen mit Behinderungen und kein guter Tag für die Menschen, die von den Wahlrechtsausschlüssen betroffen gewesen sind. Die GroKo wird heute einem Gesetzentwurf zustimmen, der in Wirklichkeit von niemandem gewollt ist – nicht mal von ihr selbst.
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Die SPD will ihn im Grunde nicht – weil Sie eigentlich schon lange für eine einfache Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse stehen, ohne die ergänzenden Regelungen. Die Union will ihn im Grunde nicht – weil Sie immer noch Vorbehalte gegen das Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen haben.
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Das CSU-geführte Bundesinnenministerium hat sich sogar dazu verstiegen, vor dem Bundesverfassungsgericht – Frau Kollegin Haßelmann und Frau Kollegin Rüffer waren dabei – bei der letzten Entscheidung in einer Weise vorzutragen, die vom Gericht als merkwürdig tituliert worden ist.
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Als Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht aufgefordert zu werden, gesetzgeberisch tätig zu werden, ist im Grundsatz kein unnormaler Vorgang; das kann vorkommen. Es erstaunt allerdings, wenn jemand dazu aufgefordert werden muss, der im eigenen Koalitionsvertrag geregelt hatte, dieses Ziel erreichen zu wollen; darauf konnten Sie sich aber nicht verständigen. Deswegen ist relativ unverständlich, weshalb Sie abwarten mussten, bis Ihnen das Bundesverfassungsgericht zweimal gesagt hat, dass Sie diese Dinge machen können.
Das wäre nicht nötig gewesen.
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Sie hätten dem Gesetzentwurf der FDP zustimmen können,
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Sie hätten dem Gesetzentwurf von Grünen und Linken zustimmen können, und das Ziel Ihres Koalitionsvertrages wäre friktionslos erreicht worden. Sie stimmten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse – das ist hier mehrfach dokumentiert –; Sie haben mit Nein gestimmt. Deswegen sind Sie nicht glaubwürdig, wenn Sie sich heute die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse auf die Fahnen schreiben wollen.
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Die Willenserklärung zur Abschaffung hatten Sie angebracht. Aber Sie wollen – mit dem jetzigen Gesetzentwurf immer noch – die Europawahl 2019 nicht einbeziehen, Sie haben das nicht geändert.
Sie wollen ergänzend Assistenzregelungen einführen, die vor unbestimmten Rechtsbegriffen strotzen und weitere Strafrechtsverschärfungen mit sich bringen – wohl wissend, dass eine Verfälschung der Wahl bereits strafbar ist. Dazu brauchen wir keine neuen Regelungen; denn das galt immer schon.
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Sie haben vorgetragen, dass das von uns beantragte einfache Abschaffen der stigmatisierenden Wahlrechtsausschlüsse in der Praxis gar nicht umsetzbar sei, in dem Brief des Bundesministeriums des Innern an das Bundesverfassungsgericht, sich beziehend auf den bayerischen Landeswahlleiter, der dem Bundesverfassungsgericht vor Ort etwas ganz anderes mitgeteilt hat.
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– „Das war peinlich!“, sagt die Kollegin Rüffer, und sie hat nicht unrecht.
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Das würdigte das Bundesverfassungsgericht am Ende, indem es weitgehend antragsgemäß entschieden hat – mit der Folge, dass die Menschen, die vorher vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, jetzt doch an der Europawahl teilnehmen dürfen. Das ist die gute Nachricht des Tages, und es ist die einzig gute Nachricht im Zusammenhang mit der Beratung dieses Gesetzentwurfes.
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Die Maßnahmen, die Sie nach wie vor vorsehen, um im Grunde doch wieder zu einem Minus gegenüber dem Zustand zu kommen, die Wahlrechtsausschlüsse ersatzlos abzuschaffen, stehen heute in dem Gesetzentwurf. Deswegen kann man ihm nicht vorbehaltlos zustimmen. Deswegen ist die Freude – die wir alle teilen – darüber, dass die stigmatisierenden Wahlrechtsausschlüsse aufgehoben werden, heute begrenzt. Schade eigentlich – aber Ihre Entscheidung.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Sören Pellmann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist zehn vor zwölf. Zur Primetime im Deutschen Bundestag verhandeln wir ein Gesetz, das schon viel länger hätte auf den Weg gebracht sein sollen. Es ist also fast fünf vor zwölf. Die Europawahl steht nächste Woche an. Ich begrüße insbesondere, dass wir es Wählerinnen und Wählern durch unseren Gang zum Bundesverfassungsgericht ermöglicht haben, schon an der Europawahl am 26. Mai dieses Jahres teilzunehmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir würden heute nicht hier stehen und über diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Beratung entscheiden, wenn das Bundesverfassungsgericht Ihnen nicht mit zwei Entscheidungen ins Stammbuch geschrieben hätte, dass genau das, was bisher gesetzliche Regelung ist, verfassungswidrig ist.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte, nachdem wir aus Karlsruhe zurückgefahren waren, eine Begebenheit mit einem älteren Mann, 65 Jahre alt, der sich bei mir bedankt hat – über seinen Betreuer –, dass er jetzt erstmals in seinem Leben wählen darf. Bei genau diesem Gedanken läuft es mir heute noch kalt den Rücken herunter: dass ein Mensch, 65 Jahre alt, das erste Mal wählen darf. Dazu bedurfte es einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Die Koalitionsfraktionen waren leider nicht in der Lage, einen entsprechenden Gesetzentwurf rechtzeitig vorzulegen.
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Die Frage war – ich habe an dieser Stelle schon zweimal darüber gesprochen –: Woran hat es denn gelegen? Im Koalitionsvertrag gibt es ja eine klare Aussage. Die Sozialdemokraten haben sich auf die Schulter geklopft und gesagt: Jawohl, wir machen das; es steht im Koalitionsvertrag. – Wir waren verhandlungsreif; kurz vor Weihnachten gab es eine Einigung. Und dann gab es – wahrscheinlich für die meisten überraschend, zumindest für mich – einen Wechsel in der Führung der Unionsfraktion. Der neue Vorsitzende sa gte: Nein, nein, wir drehen das jetzt mal alles zurück, und ich schaue mir das selber noch mal an. – Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört zur Wahrheit dazu.
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Herr Oellers, Sie haben ausgeführt, dass heute ein großer Tag für Inklusion und Teilhabe sei. Offensichtlich gibt es unterschiedliche Definitionen der Begriffe „Inklusion“ und „Teilhabe“. Ich habe mal in meine alten Lehrbücher geschaut, wie denn in der Wissenschaft „Inklusion“ definiert wird. Frau Fornefeld sagt:
Inklusion lässt sich nicht einfach verordnen. Sie hängt wesentlich auch von den Einstellungen, Erfahrungen und Vorurteilen ab. Es muss in den Köpfen noch viel passieren, bis wir die Andersheit von Menschen als Gleichheit erleben.
Genau diese Einstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Groko, zeigen Sie derzeit noch nicht.
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Herr Oellers, ich habe Ihren, wie ich finde, sehr lustlosen Vortrag zu diesem Thema heute hier verfolgt
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und muss feststellen: Sie wollen es eigentlich gar nicht. Und ohne das Urteil des Bundesverfassungsgerichts würde es diesen Gesetzentwurf heute so auch nicht geben.
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– Nein, nein, Herr Oellers, das ist die Wahrheit; das müssen Sie sich einfach mal gefallen lassen!
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– Herr Oellers, wir waren ja in Karlsruhe. Ich habe Sie gar nicht gesehen. Aber es ist eigentlich auch egal.
Ich empfehle den Menschen draußen, die nächste Woche das erste Mal wählen gehen dürfen: Gehen Sie, liebe Wählerinnen und Wähler, erstmals zur Wahl, und entscheiden Sie sich für genau die Parteien, die auch Ihre Interessen vertreten!
Vielen Dank.
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Die Kollegin Britta Haßelmann hat das Wort für Bündnis 90/Grüne.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich will erst mal eines sagen, weil hier gerade von rechter Seite über das Thema „Wahlbetrug und Wahltäuschung“ geredet wurde und die Sorgen, die man sich darüber macht: Die mache ich mir auch, meine Damen und Herren. Wenn ich sehe, was in Bezug auf Platz 10 der Europaliste der AfD gerade los ist,
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dann muss man doch sagen: Es gibt eine Fraktion hier im Saal, die uns weder mit Belehrungen über das Grundgesetz und die Grundrechte noch über die Frage von Wahlbetrug zu kommen hat, und das sind Sie, meine Damen und Herren von der AfD.
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Denn wenn man den Presseberichten folgt, dann ist Herr Beck, der auf Platz 10 Ihrer Liste für die Europawahl steht, weder Professor noch Fachanwalt für irgendwas. Setzen Sie sich mal damit auseinander, was auf den Wahllisten steht und was es für die Wählerinnen und Wähler in der Kabine bedeutet, wenn Sie sie glauben machen wollen, es handle sich bei Ihrem Kandidaten um einen Professor oder um einen Fachanwalt! Also, halten Sie sich lieber zurück mit solchen Begründungen!
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Meine Damen und Herren, nun zum Wahlrecht für Menschen mit Beeinträchtigungen und für Menschen, die im Maßregelvollzug sind. 80 000 Menschen werden am 26. Mai zum ersten Mal an der Europawahl teilnehmen können. Mich freut es für jede einzelne Person,
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die jetzt endlich ihr Grundrecht und Bürgerrecht wahrnehmen kann. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD, ich hätte erwartet, dass Sie heute hier die Größe haben, zu sagen: Es tut uns leid,
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dass wir das nicht rechtzeitig geregelt haben, dass wir euch so lange im Stich gelassen haben, dass wir euch hängen gelassen haben.
Wenn Grüne, FDP und Linke nicht gemeinsam vor das Bundesverfassungsgericht gezogen wären, hätten diese Menschen am 26. Mai kein Wahlrecht. Die Große Koalition hat alles unternommen, das zu verhindern, indem Sie dort auch noch erschienen sind, Herr Bartke, Herr Heveling, und Ihren Prozessbevollmächtigten beauftragt haben, zu sagen, dass das alles nicht geht.
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Und die Spitze, meine Damen und Herren, war der Auftritt des Bundesinnenministeriums. Die Stellungnahme des Bundesinnenministeriums war so tendenziös, dass nur die Vorbehalte der Länder vorgetragen wurden, aber keine einzige Stellungnahme von einem Bundesland – die es auch gab –, in der es hieß: Ja, das ist leistbar, ja, das ist schaffbar; auch wir wollen das anpacken, dass die Menschen am 26. Mai wählen können.
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Damit sollten Sie sich mal auseinandersetzen!
Herr Oellers, und dann kommen Sie heute Abend auch noch mit der Venedig-Kommission! Wissen Sie was, das Bundesverfassungsgericht hat darüber gelacht, dass Sie eine solche Argumentation präsentiert haben.
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Ich bin froh, meine Damen und Herren. Zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hat es gebraucht. Am 21. Februar hat das Bundesverfassungsgericht für das Bundeswahlgesetz mitgeteilt, dass klar ist, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in Vollbetreuung und Menschen im Maßregelvollzug wählen dürfen. Das verdanken diese Menschen nicht Ihren beiden Fraktionen, sondern dem Bundesverfassungsgericht. Die zweite Entscheidung war das Urteil vom 15. April – und zwar, weil wir zum Bundesverfassungsgericht gegangen sind –, dass dieser Wahlrechtsausschluss diskriminierend und verfassungswidrig ist.
Wenn Sie heute mit der Wahlassistenz kommen und damit für eine Rechtsverunsicherung sorgen – sowohl für die Betroffenen als auch für die Betreuerinnen und Betreuer –, kommen Sie damit dem Ziel der UN-Konvention nicht nach; darauf haben mein Kollege Beeck und mein Kollege Pellmann schon verwiesen. Deshalb können wir Ihren Gesetzentwurf heute allenfalls mit Enthaltung quittieren.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Die Kollegen Ansgar Heveling, Mahmut Özdemir und Michael Frieser geben ihre Reden zu Protokoll, sodass der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion ist.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Haßelmann, ob Sie es wollen oder nicht: Heute ist ein großer Tag für Menschen mit Behinderung. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf führen wir das inklusive Wahlrecht ein. Die damit verbundene Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse ist ein riesiger Erfolg.
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Es ist vor allem ein Erfolg der Menschen mit Behinderung und ihrer Verbände, die jahrelang dafür gekämpft haben.
Die Opposition hat Alarm geschlagen, dass wir mit unserem Gesetz die Europawahl nicht mehr erreichen. Offen gestanden: Ich habe das auch bedauert. Frau Haßelmann, ich sage Ihnen ganz offen: Es tut mir leid. Aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass das inklusive Wahlrecht mit unserem Gesetz kommt und dass es für alle künftigen Wahlen gelten wird, auch für alle künftigen Europawahlen.
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Wenn Sie das Nichterreichen der Europawahl kritisieren und deswegen sogar das Bundesverfassungsgericht angerufen haben, so will ich dazu ausdrücklich sagen: Das ist legitim, Sie sind Opposition. Herr Beeck, Sie müssen, auch wenn das Glas zu 95 Prozent voll ist, sagen: Alarm, Alarm, Alarm, es ist zu 5 Prozent leer!
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Das ist nun einmal die Aufgabe der Opposition in einer parlamentarischen Demokratie.
Es kann aber über eines nicht hinwegtäuschen, liebe Opposition: Sie haben mit der Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse nicht das Geringste zu tun.
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Es gibt drei Organisationen und Institutionen, auf die die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse zurückgeht: Das ist zum einen, ganz klar, das Bundesverfassungsgericht. Das ist zum anderen die Lebenshilfe, die die Klagen möglich gemacht hat.
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Und das ist zum Dritten, in aller Bescheidenheit, die SPD.
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Die SPD hat die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt.
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Und dann hat sie dafür gesorgt, dass der Auftrag mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf auch umgesetzt wird.
Und nun zu Ihrem famosen Entschließungsantrag. Für die von uns vorgesehene Wahlrechtsassistenz sehen Sie keine Notwendigkeit. Begründung: Es habe bislang keine gravierenden Probleme gegeben. Ich frage Sie: Ja, geht’s denn noch? Kennen Sie denn die UN-Behindertenrechtskonvention nicht? Diese Konvention fordert in ihrem Artikel 29 genau das Wahlassistenzsystem, das wir jetzt einführen. Wir haben den Text der Konvention teilweise sogar wörtlich übernommen.
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Und wenn es dabei angeblich Unklarheiten gibt, warum in aller Welt haben Sie dann keine Sachverständigenanhörung beantragt?
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Ich kann Ihnen das sagen: Da hätte man die angeblich unklaren Regelungen vielleicht aufklären können.
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Aber Sie haben aus einem guten Grund keine Sachverständigenanhörung beantragt: Denn dann wäre deutlich geworden, dass Wahlassistenz natürlich dringend notwendig ist – so, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention auch fordert.
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Ähnlich ist es mit Ihrer Kritik an der notwendig gewordenen Ergänzung des Strafparagrafen zur Wahlfälschung. In der Ausschussberatung haben Sie die Ergänzung als Ausdruck des Misstrauens bezeichnet. Ich sage Ihnen einmal was: Das gesamte Strafgesetzbuch ist ein Ausdruck des Misstrauens. Das Strafrecht gibt es nämlich, weil nicht alle Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten sollten. Ich frage Sie: Wollen Sie wirklich, dass der Missbrauch von Wahlassistenz straffrei bleibt? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!
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Meine Damen und Herren, ich habe es bereits eingangs gesagt: Heute ist ein wichtiger Tag für Menschen mit Behinderungen. Der Bundestag schafft die Wahlrechtsausschlüsse ab. Es hat viele Sitzungen, Treffen und Diskussionen gegeben, um dieses Ziel zu erreichen. Daher gibt es viele Väter und vor allem auch Mütter dieses wichtigen Gesetzentwurfes.
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Bedanken möchte ich mich ausdrücklich bei einigen von ihnen: bei Staatssekretärin Kerstin Griese, bei dem Behindertenbeauftragten Jürgen Dusel, bei unserer sozialpolitischen Sprecherin Kerstin Tack und natürlich bei Ulla Schmidt, die als Vorsitzende der Lebenshilfe unermüdliche Kämpferin für diese Sache war.
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Bedanken möchte ich mich aber auch bei Herrn Heveling, der deutlich gemacht hat, dass zumindest die CDU-Rechtspolitiker zum inklusiven Wahlrecht stehen. Und, meine Damen und Herren, bedanken möchte ich mich auch bei Ihnen allen für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10114, den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/9228 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalition und die AfD. Gegenprobe! – Enthaltungen? – FDP, Grüne und Linke und eine Enthaltung bei der AfD. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalition und die AfD. Gegenprobe! – Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? – Wieder Linke, Grüne und FDP sowie eine Enthaltung bei der AfD – zwei; Entschuldigung, Frau Gminder. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
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Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen FDP, Linke und Bündnis 90/Grüne auf Drucksache 19/10245. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Antragsteller FDP, Grüne und Linke. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD und AfD. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Lieber Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist natürlich um diese Zeit ein Thema, das immerhin doch den ein oder anderen noch interessiert. Ich freue mich, dass Sie noch da sind.
Es gibt keine Digitalisierungsstrategie mehr, nur eine Strategie in einer digitalen Welt. Dieses Zitat von Bud Caddell passt gut zu der unaufhaltsamen Entwicklung der Digitalisierung in der Landwirtschaft. Wir müssen die Digitalisierung als Chance sehen und sie zu unserem Vorteil nutzen. Die Agriculture-Technology-Branche wächst viermal schneller als die konventionelle Landwirtschaft. Während die konventionelle Landwirtschaft mit 3 Prozent Wachstum zum deutschen Stellenmarkt beiträgt, sind es im Agrarsektor satte 12 Prozent allein im Jahr 2017.
Wenn Sie überlegen: Noch 1930 hat ein Landwirt rund 10 Menschen ernährt – mittlerweile sind es 155, und bis zum Jahr 2050 werden es bald 250 sein. Wie wird das für die weitere Zukunft überhaupt möglich sein, wenn wir nicht die neuen technologischen Fortschritte nutzen?
Für mich als ökologisch arbeitenden Landwirt ist die Digitalisier ung längst zum Alltag geworden. Wir sind sehr dankbar, dass wir diese Technik bis zu einem gewissen Grade haben, wenngleich ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die diese Technologie mit großer Sorge betrachten. Aber wenn wir diese Sorgen ernst nehmen, wenn wir tatsächlich sagen, dass wir Landwirte dafür zuständig sind – mit den Möglichkeiten, die wir haben –, deutlich zu machen, was wir zulassen – was von unseren Daten wir der öffentlichen Hand anvertrauen bzw. einem größeren Netz und was nicht –, dann sind wir doch diejenigen, die letztlich darüber auch bestimmen.
Lieber Rainer Spiering, du hast dich für dieses Thema starkgemacht, von Anfang an. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin dem sehr gerne gefolgt. Ich stehe der Digitalisierung nicht nur offen gegenüber, sondern fördere sie, wo immer es geht. Insofern glaube ich, dass wir Landwirte klug beraten sind, wenn wir diese Chance in einer Art und Weise nutzen, die uns weiter nach vorne bringt.
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Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich könnte jetzt noch sehr lange reden. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir es mittlerweile – wie spät ist es? – zehn nach zwölf haben und die meisten zu dieser Zeit eigentlich lieber ins Bett gehen möchten, danke ich Ihnen, dass Sie mir überhaupt zugehört haben, und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Ich freue mich auf ein Wiedersehen.
Danke, tschüs!
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Vielen Dank, Herr Kollege von der Marwitz; eine gute Entscheidung, die Sie da getroffen haben. – Für die AfD hat das Wort der Kollege Peter Felser.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Und vor allem: Liebe Bauern, die Sie jetzt hoffentlich schon im wohlverdienten Schlaf sind und diesen Antrag nicht mit ertragen müssen!
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Denn es ist schon symptomatisch, Herr Kollege von der Marwitz, wie lustlos Sie an dieses Thema rangehen. In anderen Ländern ist die Digitalisierung das Thema Nummer eins, in anderen Ländern hat dieses Thema Priorität eins – und hier wird das zu mitternächtlicher Stunde mal kurz angerissen.
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In Ihrer Lageanalyse haben Sie viele richtige Dinge geschrieben. Ein Ziel, so heißt es hier, müsse es sein, dass wir die Landwirte flächendeckend mit präzisen Informationen versorgen, ein anderes Ziel, dass wir die Landwirte nicht abhängig machen dürfen von Großkonzernen.
Ja, natürlich, wir brauchen standardisierte Datenformate, offene Datenmanagementsysteme, unabhängig von den großen Playern, den Agrarkonzernen. Aber, Herr von der Marwitz, es ist doch leider schon so, dass die Großkonzerne die Daten der Landwirte haben, da hinken wir doch hinterher.
Und dann reden Sie von einer Ackerbaustrategie der Bundesregierung – da warten wir ja drauf –, die jetzt bald vorliegen soll und in der ebenfalls eine umfassende Digitalisierungsstrategie gefordert wird.
Aber das Kernstück in Ihrem Antrag ist ja ein reines Forschungsprojekt. Sie wollen jetzt, tatsächlich im Jahr 2019, damit beginnen, zu forschen. Na, herzlichen Glückwunsch!
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Herauskommen soll dann eine Klärung, wie und ob man eine Agrarmasterplattform einrichten könnte – alles im Konjunktiv, alles im Ungewissen, alles in eine ferne Zukunft verschoben. Warum? Kein Wort darüber in Ihrem Antrag, wie Sie später überhaupt an die Landwirte andocken wollen. Kein Wort darüber, wer das Ganze später entwickeln soll. Wer wird diese Plattform eigentlich betreiben? Und das Wichtigste: In welchem zeitlichen Rahmen soll denn diese Agrarplattform kommen? Kein Wort davon in Ihrem Antrag.
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Liebe Kollegen von der Koalition, kümmern Sie sich doch erst einmal um eine ordentliche Netzabdeckung im ländlichen Raum! Da sind wir weltweit auf Platz 33, weit hinter Ländern wie Polen oder Mexiko. Das kann doch nicht wahr sein!
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Sie sprechen in Ihrem Antrag von der Landwirtschaft 4.0. Wir sind in Deutschland nicht einmal auf dem Stand 2.0. Das ist doch lächerlich im internationalen Vergleich, das sollte heute, im Jahre 2019, doch längst umgesetzt sein. Schon Helmut Schmidt hat vom Breitbandausbau gesprochen.
Was Sie hier heute wieder vorlegen, ist Ihr altes Muster, leider. Das Höfesterben in Deutschland geht weiter. Sie bezeichnen es euphemistisch als „Strukturwandel“. Die kleinen und mittleren Betriebe werden von dieser Digitalisierungsstrategie gar nichts haben. Mit dem Ansatz, erst einmal zu forschen – mit dem Forschen zu beginnen –, verspielen wir für die Zukunft der deutschen Landwirtschaft wichtige Jahre.
Liebe Kollegen, die Digitalisierung ist so wichtig, wir sollten sie nicht um Mitternacht anreißen, sondern dieses Thema wirklich anpacken. Da sind wir gerne dabei – aber so nicht.
Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst einmal großen Dank an das Haus, dass zu dieser Zeit noch so viele sehr dynamisch und lebendig dabei sind. Ich finde, das macht das Haus ganz toll.
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Herr Felser, Sie liegen in der Analyse Gott sei Dank völlig falsch. Der Grundsatz, über den wir bei der Digitalisierung der Landwirtschaft sprechen, trägt dem Rechnung, dass wir in der Grundlagenforschung – das wird mir im Ausland immer wieder bestätigt – extrem weit sind, wir aber gelegentlich, man würde bei mir zu Hause sagen, ein paar PS mehr auf die Straße bringen müssen. Aber wir sind dazu in der Lage, das zu tun.
Wir haben in den Antrag geschrieben, dass wir eine Überprüfungsphase haben wollen. Es dürfte Ihnen auch bekannt sein, dass bereits eine Ausschreibung erfolgt ist für die Machbarkeit einer Masterplattform. In dieser Machbarkeit, Herr Felser, ist das komplette Konzept schon enthalten. Das bedeutet, in dem Moment, wo wir diesen Auftrag erteilt haben, geht es los.
Wo ist das Problem? Landwirtschaft – das habe ich an dieser Stelle schon häufig vorgetragen – unterliegt anders als Fertigungsprozesse einer unglaublichen Vielzahl von Paradigmen, die eingehalten werden müssen. Um auf dem Acker ordentlich zu wirtschaften oder im Kuhstall ordentliche Roboteranlagen einzusetzen oder auch in zukünftigen Schweineställen Digitalisierung voranzutreiben, müssen wir Basiswissen zusammentragen. Genau das ist der Auftrag.
Jetzt will ich Ihnen auch mal sagen, wie eine Zukunftsperspektive für eine Masterplattform aussieht, und ich will Ihnen auch mal deutlich machen, warum es so wichtig ist, dass wir das nicht, wie das in anderen Ländern der Fall ist, den großindustriellen IT-Konzernen überlassen.
Ich bin jüngst aus Israel wiedergekommen. Der weltweit größte Hersteller von Bewässerungsanlagen, der über eine unglaubliche Hightechanlage verfügt, hat als Provider Amazon. Das heißt, Amazon verfügt über sämtliche Daten, die weltweit in Bewässerungsanlagen verwendet werden. Genau das ist der Ansatz, den wir nicht wollen.
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Wir wollen den souveränen Landwirt, den souveränen Verbraucher,
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und wir wollen den souveränen Staat. Das geht nur, wenn eine Einrichtung dazu in der Lage ist, die Big Data zu erfassen. Welches sind die Big Data? Das sind beispielsweise die Daten der Katasterämter.
Baden-Württemberg hat hier jetzt einen guten Vorstoß gemacht, und zwar im Rahmen der Steuergesetzgebung. Um die Grundsteuer ordentlich erfassen zu können, braucht man natürlich Daten des Katasteramtes. Das hat man gegengespiegelt, und gleichzeitig hat man die Daten des Katasteramtes frei ins Ne tz gestellt. Jetzt kann in Baden-Württemberg bestens Precision Farming betrieben werden, mit all dem, was dazugehört.
Unsere erste Aufgabe wird es sein, diese Daten der Bundesländer in eine gemeinsame Plattform einzuspeichern.
Unsere zweite Aufgabe. Wir haben heute noch die gleichen Bodenpunkte wie vor 110 Jahren. Sie spiegeln die Wahrheit bezogen auf den Boden nicht wider. Das heißt, wir müssen wissen, wie die Geophysik des Bodens aussieht – ob wir Sand, Löss, Lehm oder Stein haben –, weil wir dadurch wissen, wie viel Wasser wie schnell dort durchgeht. Das heißt, diese Angaben müssen präzise erfolgen. Daneben müssen wir auch über den Nährstoffbestand des Bodens Bescheid wissen.
All diese Angaben müssen in eine zentrale Plattform fließen, die nur einer liefern kann: der Staat. Das ist unsere große Aufgabe hier in diesem Zusammenspiel.
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Wenn wir diese Masterplattform gut gestalten, dann werden wir die staatlichen Daten, die zur Verfügung gestellt werden, dem Landwirt, der dann die Datenhoheit hat, überlassen. Wir werden ein System erschaffen, das Schnittstellen technischer Art zur Verfügung stellt, damit die Vielzahl der Interessierten daran teilhaben kann. Hier geht es um sehr viele gute Start-ups, die etwas liefern können.
Wir haben es jetzt mit der Düngeverordnung zu tun, und ich höre immer wieder den Mumpitz, dass das ein Bürokratiemonster ist. Das ist nur so lange ein Bürokratiemonster, bis wir dazu in der Lage sind, die Daten über eine ordentliche Datenerfassung einzuspeisen. Dann ist das nämlich „easygoing“.
Auf dieser Datenplattform können wir die großen Landmaschinenhersteller dem Landwirt ihre Angebote machen lassen. Und der einzelne Landwirt ist dazu in der Lage, zu entscheiden.
Wir können dem Landwirt ein Angebot machen, sodass er sagen kann: Ich wähle mir für zwei Jahre einen Steuerberater aus. Ich wähle mir für zwei Jahre einen aus, der mir eine Stoffstrombilanz erstellt. Ich wähle mir für zwei Jahre einen aus, der mir meine Düngebedarfsberechnung macht. Ich suche mir die aus, die mir mein Saatgut liefern. Ich suche mir die aus, die bestimmte Pflanzengifte oder Pflanzenschutzmittel aufbringen. – Alles das ist über eine entsprechende Masterplattform möglich.
Herr Felser, damit Sie unseren Antrag richtig verstehen: Das ist das Ziel dahinter. Wir wollen eine Masterplattform installieren, die uns freimacht von Google, Amazon, SAP und all den großen IT-Anbietern, die mittlerweile wie eine Datenkrake über dieses Land herfallen. Das ist die große Aufgabe, die wir hier haben und mit diesem Antrag zum Thema Digitalisierung bewältigen wollen.
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Ich will noch auf eine weitere Schnittstelle hinweisen: Natürlich gibt es im Interesse aller Wirtschaftenden, die sich an dieser großen Cloud abarbeiten können, den freien Austausch der Daten unter ökonomischen Bedingungen, und es gibt natürlich auch die Interessen der öffentlichen Hand. Wir werden natürlich auch in Absprache eine Schnittstelle installieren müssen, durch die die Interessen der öffentlichen Hand definiert werden. Das werden wir auch hinbekommen.
Ich glaube, dass diese Digitalisierung und die Nutzung dieser Digitalisierungschance ein kleiner Schritt in diesem Parlament, aber ein Riesenschritt für eine nachhaltige, ökonomisch und ökologisch wertvolle Landwirtschaft ist.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Die Kolleginnen und Kollegen Carina Konrad, Dr. Kirsten Tackmann, Harald Ebner und Maik Beermann geben ihre Reden zu Protokoll.
Ich schließe damit die Aussprache zu Top 20.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10147 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was ist das Problem? Es gibt ein Problem in der digitalen Wirtschaft, weil sie keine physische Präsenz hat, die einen Zugriff auf die wirtschaftliche Wertschöpfung zulässt. Zuweilen haben solche Unternehmen – es geht um die Googles und die Facebooks dieser Welt – zusätzliche Unternehmenssitze in Niedrigsteuerländern oder in Steuerparadiesen. Dies führt dazu, dass wir eine durchaus zu beklagende illegale Steuervermeidung und Wettbewerbsstörungen haben, woraus sich auch illegitime Kapitalallokationen ergeben.
Was ist die Lösung? Die EU hat eine Lösung versucht, indem sie im März 2018 ein Gesetzespaket vorgelegt hat, mit dem die Digitalwirtschaft zu einem speziellen Steuergegenstand werden soll. In der EU haben Dänemark, Finnland, Irland und Schweden diese Form des steuerlichen Zugriffs grundsätzlich abgelehnt, und das hat gute Gründe. Es stellt sich nämlich die Frage: Was ist eine digitale Betriebsstätte? Eine Definition dazu gibt es nicht. Wir leben alle davon, dass Betriebsstätten und körperlich wahrnehmbare Aktivitäten Gegenstände von Ertragsbesteuerungen sind, und mit der digitalen Welt ist das so nicht ohne Weiteres möglich.
Es gibt dort große immaterielle Wirtschaftsgüter. Beispielsweise ist die Interaktion zwischen dem Publikum und den Unternehmen ein Teil des Unternehmensgeschehens, was in anderen Formen der Wirtschaft, wie wir sie kennen, so nicht abbildbar ist.
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Dadurch ergibt sich wiederum folgendes Problem: Wenn mehrere Länder damit anfangen, immaterielle Wirtschaftsgüter und damit die digitale Wirtschaft so zu definieren, dass darauf zugegriffen werden kann, dann sind diese Definitionen unterschiedlich. Deshalb greifen sie dann konkurrierend in die Steuersubstrate ein, und zwar jeweils in die Steuersubstrate des Nachbarn oder eines anderen Players weltweit.
Weiterhin ergibt sich das Problem – das ist in vielen Diskussionen immer wieder aufgetaucht –, dass eine Exportwirtschaft, wie wir sie in Deutschland haben, von denen, wohin wir exportieren – also etwa von den Chinesen –, in ähnlicher Weise definiert werden könnte, weil digitale Dienstleistungen in Autos und in Geräten angeboten werden, durch die eine Kommunikation zwischen dem Endverbraucher und dem Unternehmen stattfindet, was einen Teil des Unternehmenswertes ausmacht. – Das ist eine komplizierte „Kiste“.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der EU ist die Unklarheit darüber, worum es geht, sehr groß, was sich bei der Frage gezeigt hat, über welchen Artikel sich unsere Zuständigkeit für die Besteuerung ergibt. Es gibt hier den Konflikt darüber, ob Artikel 113 AEUV, der die Umsatzsteuer betrifft und mit dem man arbeiten könnte, richtig ist. Das würde aber voraussetzen, dass es bei der Besteuerung um eine Umsatzsteuer geht. Das wird aber kaum der Fall sein, sondern als Steuer wird tatsächlich die Ertragsteuer in Betracht zu ziehen sein, und das würde über den Artikel 115 AEUV laufen. Danach ist die Einst immigkeit erforderlich, und weil sie erforderlich ist, Schweden und die anderen genannten Länder aber nicht mitmachen, funktioniert das Ganze nicht. Still ruht also der See.
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Warum die ganze Aktivität? Bei einem geschätzten Umsatz von 132 Milliarden Euro für ganz Europa, den man bezogen auf die adressierten Unternehmen annimmt, läge das Aufkommen aus der Digitalsteuer – da wird das Problem deutlich kleiner – europaweit bei 4 Milliarden Euro. Das sind 0,1 Prozent der gesamten Steuereinnahmen der Mitgliedstaaten. Den ganzen „Tanz“ machen wir also wegen 0,1 Prozent.
Weil hier keine Einigung in der EU abzusehen ist, gibt es neuerdings eine Reihe nationaler Maßnahmen, die abgespeckt irgendwelche nationalen Definitionen der Digitalwirtschaft als Steuergegenstand betreiben. Österreich hat das gemacht und erwartet ein Steueraufkommen von 200 Millionen Euro. Die Spanier erwarten etwa eine 1 Milliarde Euro, bei den Franzosen sind es 500 Millionen Euro, und bei den Italienern sind es 600 Millionen Euro. Das Vereinigte Königreich hat das soeben auch gemacht. Für Deutschland wurde ein Aufkommen von 500 bis 800 Millionen Euro pro Jahr geschätzt – bei einem Gesamtsteueraufkommen in Europa von circa 800 Milliarden Euro in diesem Jahr.
Auf das grundsätzliche Problem der digitalen Wertschöpfung gibt es im deutschen Steuerrecht und wahrscheinlich auch im europäischen Steuerrecht keine angemessene und systematische Antwort.
Es geht jetzt um die Frage, ob wir eine Übergangslösung in Betracht ziehen, wie das jetzt geschieht. – Herr Präsident, ich komme damit auch zum Schluss. – Wir teilen die Meinung nicht, dass solche Übergangsdefinitionen eine Lösung darstellen, und deshalb glauben wir: Nur die OECD kann das Problem durch einen Kampf gegen Steueroasen und Niedrigsteuerländer lösen.
Der jetzige Weg ist falsch. Wir lehnen deshalb den Antrag der Grünen ab. Dem Antrag der FDP, der das, was ich gerade zum Schluss formuliert habe, tendenziell als richtiges Vorgehen ansieht, stimmen wir aber zu.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Lothar Binding.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tut mir wirklich leid, dass ich alle noch mal richtig anstrengen muss, aber das, was wir gerade gehört haben, ist ungefähr so,
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wie wenn Sie ein 2-Meter-Problem haben und dann einen Vortrag im Parlament hören und merken, dass der Lösungsansatz nicht 2 Meter,
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nicht 1 Meter und auch nicht einen halben Meter lang ist, sondern dass ein viel kleinerer Zollstock genügen würde.
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Sie sehen: Es ist mit der AfD einfach kein Blumentopf zu gewinnen.
Es gibt Anträge, denen wir jetzt aber natürlich nicht zustimmen werden. CDU/CSU, Grüne, Linke, FDP und wir strengen uns richtig an, dieses komplizierte Thema zu bearbeiten. Klar sind dafür Mehrheiten in Europa notwendig; das ist richtig kompliziert. Die Staaten haben einen gewissen Wettbewerb untereinander, was es noch komplizierter macht.
Bisher war alles ganz einfach: Es gibt eine Betriebsstätte, die man anfassen kann; sie ist dinglich, physisch vorhanden. Da fällt die Steuer an. – Ein digitales Unternehmen kann aber eben ohne jede physische Präsenz am Markt aktiv sein, praktisch ubiquitär in der Welt, überall in der Welt.
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Es verursacht natürlich ein großes Problem, wenn sich keine Betriebsstätte mehr finden lässt. Deshalb ist es auch gar nicht so leicht, da eine Steuer festzusetzen, weil sie natürlich immer dort erhoben werden soll, wo der Gewinn gerade nicht mehr anfällt. Das ist also ein gewisses großes Problem.
Deshalb müssen wir unser Steuersystem fortentwickeln. Jeder kennt die Projekte der OECD. Dort wird ein Riesensteuerkomplex mit 15 großen Kapiteln angegangen. Hier sind wir auch schon sehr weit gekommen.
Die Kommission hat jetzt gemerkt, dass man mit diesem komplexen System nicht schnell genug fertig wird, weshalb sie eine Zwischenlösung erarbeitet hat, nämlich die Digitalsteuer. Sie ist richtig klug, weil sie bei den Erträgen im Onlinewerbehandel, bei Vermittlungsgeschäften und beim Verkauf von Daten ansetzt, und das ist das, was wir eigentlich wollen. Das ist eigentlich sehr klug.
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Dies fand aber keine Mehrheit.
Ich mache jetzt eine kleine Bemerkung zu einer Rede von Franziska Brantner um 21.47 Uhr.
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Sie hat nämlich gesagt, diese Steuer hätte Olaf Scholz blockiert.
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Leider war das verkehrt, und ich will daran erinnern, dass die Einstimmigkeit tatsächlich durch Schweden, Irland, Finnland und Dänemark und nicht durch Deutschland nicht gegeben war. Also, so viel gehört zur Gesamtwahrheit dazu.
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Wir wissen auch, dass die Probleme in dem Maße größer werden, in dem die Digitalisierung zunimmt; denn wir haben nicht nur digitale Unternehmen – die US-Unternehmen Google usw. –, sondern es gibt auch viele Unternehmen in der klassischen Industrie, von denen man gar nicht mehr genau wissen kann, ob sie schon digitale Unternehmen sind. Ist das ein Rechner auf Rädern oder immer noch ein Auto? Das ist also schon eine ganz komplizierte Angelegenheit. Hier muss man schon eine kluge Idee haben.
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Es gab jetzt auch die kluge Idee von Frankreich und Deutschland, sich noch mal um die Mindestbesteuerung zu kümmern. Die Mindestbesteuerung ist ein erster Ansatz. Dadurch werden noch nicht alle, aber doch viele Probleme gelöst. 129 Staaten beteiligen sich an diesem Prozess. Das ist natürlich eine Riesenhilfe.
Dieser Prozess hat zwei Komponenten:
Erstens. Der Betriebsausgabenabzug wird dann versagt, wenn Unternehmen ihre Gewinne in ein Niedrigsteuerland verlagern. Das passiert ja ganz oft durch Lizenzen. Man meldet ein Patent im Nachbarland an und überweist dann den gesamten Gewinn als Lizenzgebühr in das Nachbarland. In dem Land, in dem man seinen Sitz hat, hat man dann keinen Gewinn mehr, und auf diesen Gewinn von null zahlt man korrekt Steuern in Höhe von 30 Prozent. Damit ist relativ wenig im Steuertopf.
Zweitens. Die zweite Komponente ist ganz raffiniert: Wenn ein IT-Unternehmen zum Beispiel an einer ausländischen Tochter beteiligt ist, die nur 2 Prozent Steuern zahlt, dann ergibt sich Folgendes: Man schaut im eigenen Land, wie hoch der Durchschnittssteuersatz ist. Nehmen wir mal an, er liegt bei 15 Prozent. Die Gewinne im Nachbarland – bei der Tochter – werden aber mit nur 2 Prozent versteuert. Im Ergebnis werden dann im eigenen Land nicht 15 Prozent versteuert, weil bereits 2 Prozent im Nachbarland anfallen. Somit werden 15 minus 2 Prozent im eigenen Land versteuert. – Das ist sehr klug, weil man damit die absolute Minimierung der Steuer von internationalen Konzernen verhindert hat.
Hier ergibt sich aber ein riesengroßes Problem: Man kann jetzt zwar verhindern, dass ein Konzern seinen Gewinn auf null rechnet, aber wenn dieser Konzern im eigenen Land keine Betriebsstätte hat, dann geht dieses Land leer aus. Dieses Problem haben wir noch nicht gelöst.
Wir wissen: Die Welt ist komplex. Deshalb müssen wir erneut über einen neuen Wertschöpfungsbegri ff und einen neuen Betriebsstättenbegriff nachdenken.
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Man muss jetzt vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gehen. Bisher haben wir gesagt: Am Ort der Wertschöpfung fällt die Steuer an. – Wenn Sie aber ein Datum bei Google abgeben – vielleicht Ihre Stammdaten, also zum Beispiel Ihren Namen, Ihre Schuhgröße, Ihr Alter, aber auch Ihr Kaufverhalten –, dann sind Sie als bisher gedachter Kunde plötzlich derjenige, der die Wertschöpfung gewissermaßen erzeugt, und zwar dort, wo Sie sind. Das erfordert ein völlig neues Regime.
Jetzt ahnt schon jeder die Schwierigkeit, dass nämlich ein Exportland wie Deutschland dabei möglicherweise nicht immer nur gut aussieht. Genau in diesem Spannungsfeld befinden wir uns. Deshalb ist schnell zu erkennen, dass die Welt komplexer ist, als das im Bierzelt möglicherweise dahergeredet wird.
Wir erkennen auch den Eigenwert der beiden Anträge. Sie sind nämlich gar nicht so schlecht, weil wir uns dadurch mit diesem Thema befassen. Bezogen auf die Entwicklung eines zukünftigen Steuerregimes muss man aber sagen: Sie sind unterkomplex. – Trotzdem befassen wir uns damit. Zustimmen können wir aber natürlich leider nicht; denn unterkomplexe Lösungen sind keine guten Lösungen.
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Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Florian Toncar.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann nicht sein, dass der Mittelständler vor Ort seine Steuern ordnungsgemäß abführt, während es große, international operierende Unternehmen – einige mit dem einen oder anderen Trick und mit entsprechenden Gestaltungen – schaffen, auf teilweise winzige Steuersätze und Steuerbeträge zu kommen.
Die Freien Demokraten haben schon 2017 – ganz zu Beginn der Wahlperiode – einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt.
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Unsere Ausschussvorsitzende, Bettina Stark-Watzinger, war maßgeblich daran beteiligt; sie kann das bestätigen.
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Und ganz aktuell: Unsere liberale Kommissarin Margrethe Vestager geht in Europa ganz konkret und sehr konsequent gegen solche Tricks vor, wie beispielsweise gegenüber Apple.
Diese Formen von Steuervermeidung sind aber nicht nur ein Thema der Digitalwirtschaft. Viele bekannte Fälle, wie die von Starbucks oder IKEA, betreffen ganz klassische Unternehmen, die im Hauptgeschäft überhaupt keine digitale Dienstleistung anbieten. Lieber Lothar Binding, die Firmen, die man mit so einer Digitalsteuer treffen will – Google, Amazon, Apple, Facebook werden hier immer genannt –, haben zweifelsohne Betriebsstätten. Die findet man also auch in Wirklichkeit, und da sitzen Mitarbeiter. Das Argument, man finde da keine Betriebsstätten, trifft also gerade auf die Hauptbeispiele für die Digitalsteuer nicht zu. Insofern überzeugt das an der Stelle, glaube ich, nicht vollends.
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Wir haben den BEPS-Prozess bei der OECD, der versuchen soll, grenzüberschreitende Steuergestaltungen in den Griff zu bekommen. Den finden wir Freien Demokraten auch gut und richtig. Natürlich muss man bei BEPS auch auf die Besonderheiten der Digitalwirtschaft eingehen. Das sind Geschäftsmodelle, bei denen sehr viel – wahrscheinlich mehr als in anderen Branchen – mit geistigen Eigentumsrechten operiert wird, Lizenzgebühren bezahlt werden und andere Dinge. Das muss bei BEPS berücksichtigt werden. Natürlich gibt es Besonderheiten bei den digitalen Geschäftsmodellen, die man da mit einbeziehen muss. Neue Sondersteuern für Digitalunternehmen sind aber definitiv der falsche Weg. Wir brauchen eine faire und gleiche Besteuerung für alle Unternehmen – ob groß, ob klein, ob analog, ob digital.
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Kollege Binding, da Sie jetzt die Onlinewerbung über eine neue Digitalsteuer besteuern wollen, will ich Sie schon fragen: Wo liegt denn gerade bei der Onlinewerbung eigentlich der Unterschied zur konventionellen Werbung in einem ausgedruckten Printmedium? Beides ist Werbung, beides richtet sich an einen gewissen Nutzer, beides kann auch in einem Land stattfinden, das ein anderes ist als das, wo die Firma sitzt, die die Werbung schaltet. Ich sehe gerade bei dem Beispiel, bei dem Sie besteuern wollen, überhaupt keine Unterschiede zwischen analog und digital, und insofern müssen wir da, glaube ich, auch noch mal nacharbeiten.
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Einseitig verhängte Digitalsteuern führen jedenfalls zu einer Zersplitterung und dazu, dass sich alle Länder überlegen, wie sie das Ganze so gestalten können, dass für sie das Maximum an Aufkommen herauskommt. Das führt aber doch nicht dazu, dass es auf der Welt insgesamt leichter wird, digitale Services, digitale Leistungen zu erbringen.
Einseitige Besteuerungen – das gilt auch für etwas, was die EU einseitig macht, und erst recht für etwas, was Deutschland einseitig macht – führen nur zu Gegenreaktionen. Man kann sich doch nicht vorstellen, dass beispielsweise ein großes Land wie China, mit 1,3 Milliarden Menschen, es einfach so passieren lässt, dass man digitale Leistungen, die, vielleicht aus China kommend, in Europa erbracht werden, hier besteuert, ohne dass das Gegenreaktionen gegen unsere eigenen Unternehmen dort zur Folge hat. Man möge das also bitte auch zu Ende denken.
Nicht zuletzt droht natürlich auch der Abfluss von Steuersubstrat aus Deutschland. Es kann sehr gut sein, dass wir, wenn wir Deutschen diese Diskussion bis zum Ende treiben und den Betriebsstättenbegriff umdefinieren und stärker daran ausrichten, wo die Nutzung einer Leistung stattfindet, als Exportland, das sehr viel hier produziert, aber im Ausland verkauft, am Ende weniger Steuern in Deutschland haben werden, weil andere sagen werden: Besteuert wird da, wo es genutzt wird.
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Mich erinnert dieses Prinzip – besteuern da, wo die Nutzer sitzen und wohnen – eigentlich an den Gedanken des Zolls. Das ist eigentlich das, was Donald Trump in den USA proklamiert. Er sagt: Wer den amerikanischen Verbrauchern etwas verkaufen will, der muss dafür ein Eintrittsgeld zahlen. – Das sagt er beim Güter- und beim Warenverkehr. Wir sollten das bei den digitalen Dienstleistungen nicht in gleicher Weise sagen.
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Stattdessen brauchen wir eine umfassende und faire Unternehmensteuerreform in Deutschland, die für alle Unternehmen eine faire, angemessene und international wettbewerbsfähige Besteuerung schafft.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Jetzt haben wir etwas für juristische Feinschmecker zu beraten: ein sehr wichtiges Gesetz, das wir unbedingt beschließen müssen, wenn wir schlimme Zustände in den Justizvollzugsanstalten verhindern wollen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2018 das bayerische Unterbringungsgesetz und das baden-württembergische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten für verfassungswidrig erklärt. Wie ich finde, hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht bemängelt, dass es in diesen Gesetzen keine ausreichende Grundlage für die Anordnung von Fixierungen gibt und insbesondere keine richterliche Überprüfung vorgesehen ist.
Es geht dabei um Fälle, in denen die Bewegungsfreiheit – etwa von Patienten oder von Strafgefangenen – vollständig aufgehoben wird. Darin sah das Verfassungsgericht einen so großen Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Fixierten, dass es für diese Maßnahmen eine richterliche Anordnung fordert. Dieser Forderung des Verfassungsgerichtes kommen wir mit diesem Gesetz nach, und wir regeln die Voraussetzungen für das Verfahren zur Anordnung einer solchen Fixierung.
Im Einvernehmen mit den Ländern schaffen wir hierfür im Strafvollzug eine bundeseinheitliche Regelung, die ansonsten die Länder schaffen müssen. Dabei machen wir, wie ich finde, drei wichtige Dinge:
Erstens. Wir sichern die Grundrechte der Fixierten.
Zweitens. Wir schaffen klare Vorgaben für die Ärzte, für die Ärztinnen und auch für die Richter zur Anordnung und zur Vornahme dieser Fixierungen.
Drittens. Durch klare Regelungen machen wir diese Fixierungen möglich, und das dient dem Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Fall der Fälle in den Gefängnissen oder auch in den psychiatrischen Anstalten.
Das sind drei ganz wichtige Aspekte.
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Konkret regeln wir mit diesem Gesetz, dass für eine nicht nur kurzfristige Fixierung eine Anordnung durch ein Gericht erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat für eine nicht nur kurzfristige Fixierung einen Zeitraum von 30 Minuten als Faustregel angesetzt. Das haben wir nicht explizit ins Gesetz geschrieben, aber doch ausdrücklich in die Gesetzesbegründung, sodass für die Praxis eine ganz klare Orientierung gegeben ist. Ich vermute sowieso, dass es kaum Fixierungen für diesen relativ kurzen Zeitraum geben wird; denn in der Regel sind Menschen, die gegen sich selber oder gegen andere aggressiv sind, nicht innerhalb von 30 Minuten zu beruhigen.
Viel wichtiger ist deshalb die Frage – gerade für die Praxis –: Wann liegt denn überhaupt eine Fixierung vor, bei der eine richterliche Anordnung beantragt werden muss? Auch das definieren wir im Gesetz ganz genau, nämlich bei einer „Fesselung, durch die die Bewegungsfreiheit des Gefangenen vollständig aufgehoben wird“ – so unsere Legaldefinition.
Wir haben nach intensiven Beratungen also darauf verzichtet, die Anzahl der fixierten Körperpunkte im Gesetz zu benennen. Das Verfassungsgericht hat ja eine 5-Punkt-Fixierung und eine 7-Punkt-Fixierung beurteilt. Wir finden aber, dass durchaus auch eine 4-Punkt-Fixierung die Bewegungsfreiheit vollständig aufheben kann, und deswegen haben wir die Regelung so ausgestaltet, dass eben auch diese Fixierung im Einzelfall zu einer vollständigen Aufhebung der Bewegungsfreiheit führen kann und deswegen eine richterliche Anordnung erfordert.
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Was die Gerichtszuständigkeiten angeht, kommen wir dem Vorschlag der Länder nach, alle Zuständigkeiten bei den Amtsgerichten zu bündeln. Sie sind nahe dran, sie haben die entsprechenden Erfahrungen, und deshalb ist es eine wichtige Regelung.
Wichtig ist uns, dass wir nach fünf Jahren eine Evaluation dieser Regelungen im Hinblick auf die Aspekte, auf die ich bereits eingegangen bin, durchführen und dass wir auch weitere Evaluationen durchführen, insbesondere bezogen darauf, wie dieses Gesetz in den Ländern auf Jugendliche Anwendung gefunden hat – wir raten da zur Zurückhaltung –; auch das wollen wir in der Evaluation überprüfen.
Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir mit diesem Gesetz dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes also nach, und das auch noch fristgerecht. Wir müssen es heute nur noch beschließen.
Wie ich schon sagte, regeln wir drei ganz wichtige Dinge: Wir schützen die Grundrechte der Betroffenen, die fixiert werden. Wir schützen das Personal durch klare, in der Praxis handhabbare Regelungen. Außerdem schaffen wir Rechtssicherheit für die Ärzte und für die Richter, die mit diesen Regelungen umgehen müssen.
Es ist also ein ausgewogenes Gesetz. Stimmen wir dem zu!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Fechner. – Der Kollege Thomas Seitz hat das Wort für die AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten heute die rechtlichen Voraussetzungen für die Fixierung von Menschen. Eine 5- oder 7-Punkt-Fixierung, also die vollständige Fesselung der Gliedmaßen eines Menschen und gegebenenfalls auch noch des Kopfes, wird sehr häufig und gerade in psychischen Ausnahmesituationen als deutlich entwürdigender und traumatischer wahrgenommen als eine körperliche Züchtigung. Wie kann es da sein, dass körperliche Züchtigungen in jeder Form verboten sind, während Fixierungen flächendeckend zum deutschen Alltag gehören? Und wie kann es sein, dass dieses sensible Gesetz zu einem so späten Zeitpunkt verabschiedet werden soll, an dem nur noch so wenige Abgeordnete hier ausharren, dass die Beschlussfähigkeit des Bundestages nicht mehr gegeben ist?
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Das, meine Damen und Herren, ist eine Schande für das Hohe Haus, und es sagt viel aus. Es zeigt, dass dies niemanden von Ihnen so richtig interessiert – ganz im Gegensatz zum gestrigen Debattenbeginn, als ein Kollege einem selbstgerechten Bundespräsidenten den Spiegel vorgehalten hat.
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Mit seinem Urteil vom letzten Jahr hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber beauftragt, den rechtlichen Rahmen für Fixierungen grundrechtskonform auszugestalten. Leider lautete das Motto der Regierungskoalition „Schnelligkeit vor Gründlichkeit“; denn unmittelbar waren von diesem Urteil nur die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern betroffen, weshalb auch nur für diese die vom Gericht gesetzte Frist gilt.
Trotz guter Ansätze bedeutet der vorliegende Gesetzentwurf deshalb keine entscheidende Verbesserung für die Betroffenen.
Der Gesetzentwurf wäre eine Gelegenheit gewesen, die Voraussetzungen, die Höchstdauer und die Umstände einer Fixierung deutlich konkreter zu regeln und klarzustellen, dass eine Fixierung nur die Ultima Ratio sein darf und stets hinter anderen Möglichkeiten zurückstehen muss, auch wenn dies aus justizökonomischer oder betriebswirtschaftlicher Sicht weniger attraktiv erscheinen mag oder wenn es etwa einen baulichen, organisatorischen oder personellen Zusatzaufwand bedeutet. Es gibt übrigens durchaus Unterbringungseinrichtungen, die es schaffen, komplett auf Fixierungen zu verzichten.
Um zu verstehen, warum der Aufwand zur Schaffung von Alternativen unbedingt geboten ist, müssen wir uns klarmachen, was wir den Betroffenen antun. Ich selbst kenne in meinem weiteren Umfeld eine Person Anfang 40, die aufgrund einer einzigen Fixierungserfahrung vor über 30 Jahren im Rahmen einer Krankenhausbehandlung als Kind bis heute nicht in der Lage ist, Aufzüge, U-Bahnen oder Flugzeuge zu nutzen.
Die AfD-Fraktion lehnt de n Gesetzentwurf der Regierungskoalition auch mit den jetzt noch vorgenommenen Änderungen ab.
Vielen Dank.
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Der Kollege Alexander Hoffmann hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Danke. – Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Vorbemerkung an Sie von der AfD: Wenn Sie wollen, dass wir ein solch wichtiges Thema – da haben Sie recht – zu einer anderen Uhrzeit beraten können, dann würde ich Ihnen empfehlen, weniger inhaltsleere Anträge in diesem Haus zu stellen
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und mal konstruktiv mit uns zusammenzuarbeiten. Ich glaube, dann ist die Tagesordnung an einem solchen Tag eine ganz andere.
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Meine Damen, meine Herren, die Fixierung einer Person gehört in unserem Rechtsstaat zu einem der schwerwiegendsten Eingriffe, was die Grundrechte angeht. Deswegen unterliegt dieser Eingriff sehr, sehr hohen Anforderungen. Er ist nur dann machbar, wenn eine erhebliche Gefahr der Gewaltausübung von einer Person ausgeht, und zwar gegen die Person selbst oder gegen andere.
Kollege Fechner hat es skizziert: Wir setzen hier ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 um, das besagt, dass eine Fixierung von nicht nur kurzfristiger Dauer – in der Regel von mehr als 30 Minuten – des Richtervorbehalts nach Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz bedarf, und dafür haben wir eine Umsetzungsfrist bis zum 30. Juni 2019.
Wir bringen mit diesem Gesetz ein ganzes Paket – verzeihen Sie mir den Begriff – an Verbesserungen in diesem schwierigen Feld mit auf den Weg. Wir verlagern und konzentrieren die Zuständigkeiten auf Amtsgerichte, weil wir wollen, dass sich Spruchkörper, die im Laufe der Zeit eine gewisse Sachkompetenz anreichern können, mit dieser schwierigen Frage befassen.
Neben dem Richtervorbehalt erhöhen wir auch die Anforderungen an eine Fixierung; ich habe es vorhin schon gesagt. Eine erhebliche Gefahr der Gewaltausübung muss von einer Person ausgehen.
Wir bringen mit dem Gesetzentwurf auch die Selbstverpflichtung zu einer Evaluation mit auf den Weg, weil wir uns sehr wohl der Sensibilität bewusst sind, und wir wollen die nächsten fünf Jahre ganz genau im Blick halten: Wie bewährt sich diese gesetzliche Regelung, die wir auf den Weg bringen, und was bringt das in der Praxis an Sachfragen und vielleicht Schwierigkeiten mit sich?
Wir wollen ferner ein einheitliches Verfahren etablieren. Das schafft Rechtssicherheit. Wir wollen, dass mit der Frage der Fixierung in Einrichtungen nicht irgendwelche Mitarbeiter befasst sind, sondern zuständige Mitarbeiter. Auch hier ist die Idee, dass eine erhöhte Sachkunde bei dieser schwierigen Fragestellung gegeben ist.
Am Ende will ich uns allen noch mal vergegenwärtigen, dass es auch um den Schutz der Bediensteten in diesen Einrichtungen und schließlich auch um den Schutz der Betroffenen selbst geht. Deswegen ist es richtig, dass wir diese Regelung jetzt nicht nur für den Bereich der Zivilhaft formulieren, sondern von unserem Recht im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch machen. Wir wollen auch die Strafhaft, den Maßregelvollzug, die Untersuchungshaft, die vorläufige Unterbringung und den Jugendarrest mitregeln, weil es in der Sache keinen Sinn macht, all diese Bereiche auszusparen.
Ich glaube, dass es auch richtig ist, dass wir im Verfahren jetzt nicht noch die Erforderlichkeit eines umfassenden ärztlichen Gutachtens aufgenommen haben.
Meine Damen, meine Herren, als jemand, der tatsächlich mal erlebt hat, dass ein Mensch komplett die Fassung verliert, auf all diejenigen einschlägt, die mit ihm in einem Raum sind, und dann am Schluss mit dem Kopf gegen eine Betonwand haut, sage ich Ihnen ganz ehrlich, dass Sie in dem Moment wirklich versuchen, akut – und zwar im Interesse des Betroffenen – für Ruhe zu sorgen. Jetzt noch zu sagen: „Wir brauchen neben dem Richtervorbehalt, den wir richtigerweise haben, noch ein umfassendes ärztliches Gutachten“, ist in diesen schwierigen Fällen so weit weg von der Praxis, dass es in dem Moment einfach nicht sinnvoll gewesen wäre, das mit ins Gesetz aufzunehmen, und deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
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