Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer
Systeme ({0})
Drucksache 18/4096
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält als erster Redner das Wort Dr. Thomas de
Maizière, Bundesminister des Innern.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der kluge Mann und die
kluge Frau bauen vor. Das gilt schon seit Menschengedenken. Wir errichten Deiche, um uns bestmöglich vor
den Gefahren eines Hochwassers zu schützen, in den
Bergen befestigen wir Abhänge, damit sie nicht auf Straßen rutschen, wir legen Vorräte an und legen einen Notgroschen für den Ernstfall zurück. Kurz: Es liegt in der
Natur des Menschen, Vorsorge zu treffen. In der digitalen Welt sollte es nicht anders sein. Digitale Infrastrukturen und IT-Systeme sind das Rückgrat unserer modernen
Gesellschaft. Durch sie entstehen in nahezu allen Lebensbereichen neue Potenziale, Freiräume und Synergien. Gleichzeitig wächst aber die Abhängigkeit von diesen Systemen und damit auch die Bedeutung der
Verfügbarkeit und Sicherheit der Systeme. Der technische Fortschritt hat uns also ein Stück weit verwundbar
oder verwundbarer gemacht, auch durch die digitale
Welt.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik geht davon aus, dass allein in Deutschland mehr
als 1 Million Internetrechner Teil eines sogenannten
Botnetzes ist. Das bedeutet, dass sie jederzeit für ITAngriffe missbrauchbar sind, ohne dass das der Betreiber bemerkt. Mehr als 250 Millionen Varianten von
Schadprogrammen sollen heute schon in Umlauf sein,
und täglich kommen über 300 000 neue Varianten hinzu.
Erfolgreiche technische Dienste und zuverlässige Anwendungen im Internet brauchen Vertrauen in die Sicherheit der IT-Systeme.
Wir beraten heute in erster Lesung über einen Gesetzentwurf, der diesem Ziel dient und zwei wichtige Bestandteile enthält. Erstens. Wir ergreifen Maßnahmen
zum Schutz unserer kritischen Infrastrukturen. Das sind
die Teile unserer Netze, die für unser Leben von zentraler Bedeutung sind, wie die Energieversorgung, die Wasserversorgung, die Geldversorgung, der Verkehr, die
Gesundheitsversorgung und viele andere Bereiche. Sicherheit bedeutet hier, dass die Netze verfügbar sind,
dass sie schlicht funktionieren, dass sie ohne Störungen
betrieben werden können. Deshalb werden wir die Betreiber solcher kritischen Infrastrukturen mit dem Gesetz
verpflichten, Mindeststandards an IT-Sicherheit einzuhalten und erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle an das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zu melden. Diese Informationen werden ausgewertet und
anschließend anderen, ähnlichen Betreibern kritischer
Infrastrukturen zur Verfügung gestellt, damit diese sich
wappnen oder eingetretene Schäden beseitigen können.
Sie können dann ihrerseits zielgerichtete Maßnahmen
zum Schutz der Infrastruktur ergreifen, noch bevor sie
selbst zum Opfer eines entsprechenden Angriffs werden,
oder, wenn sie es bereits geworden sind, gemeinsam mit
anderen den Schaden beheben.
Der zweite wichtige Baustein betrifft Maßnahmen,
die auch andere in Deutschland betriebene IT-Systeme
sicherer machen. Ich will drei dieser Maßnahmen nennen:
Erstens. Wir verpflichten die Betreiber von Webseiten, zum Beispiel von Onlineshops, ihre IT-Systeme
durch wirksame und zeitgemäße Vorkehrungen vor dem
unerlaubten Zugriff zu schützen. Damit wollen wir verhindern, dass über unzureichend geschützte Webserver
Viren, Trojaner und andere Schadprogramme verbreitet
werden.
Zweitens. Wir werden Telekommunikationsunternehmen verpflichten, ihre Kunden zu warnen, wenn sie bemerken, dass der Anschluss des Kunden für Angriffe
missbraucht wird. Gleichzeitig sollen sie ihre Kunden
auf mögliche Wege zu deren Abwehr hinweisen. Viele
Telekommunikationsunternehmen machen das schon
heute, aber eben nicht alle.
Drittens. Wir wollen dem Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik die Erlaubnis geben, bestimmte
IT-Produkte auf ihre IT-Sicherheit zu überprüfen und die
Ergebnisse bei Bedarf auch zu veröffentlichen. Das wird
die Transparenz der Sicherheit von IT-Produkten erhöhen und zu mehr Akzeptanz der IT-Sicherheit als eigenständigem Wert eines IT-Produktes führen.
({0})
Meine Damen und Herren, was wir mit diesen Maßnahmen machen, ist nichts anderes, als dass wir etablierte und bewährte Maßnahmen aus der sogenannten
analogen Welt in die sogenannte digitale Welt übertragen. Wir stellen in der analogen Welt Mindestanforderungen für Lebensmittel und Haushaltsgeräte auf. Wir
machen das genauso bei Banken und Finanzdienstleistern im Bereich des Risikomanagements. Wir verlangen
sogar von Lebensmittelbetrieben, dass sie bei Gefahren
für die Gesundheit die Bevölkerung gegebenenfalls öffentlich warnen und ihre Lebensmittel aus den Regalen
zurückziehen. Im Flugverkehr schreiben wir Meldungen
über sicherheitsrelevante Vorfälle an das Luftfahrt-Bundesamt vor. Seit langer Zeit verpflichten wir Grundstückseigentümer, im Winter auf ihren Gehwegen zu
streuen, um Unfälle von Personen zu vermeiden. Nichts
anderes machen wir jetzt im Bereich der IT.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Einhaltung und Durchsetzung von Recht und Ordnung in der
digitalen Welt unerreichbar seien. Die Digitalisierung sei
zu dynamisch, der Cyberraum zu global, die Amerikaner
seien zu stark; da könne man halt nichts machen. Ich
sehe das anders. Auch wenn man im Internet in einer
Millisekunde scheinbar jeden Ort der Welt erreichen
kann: Es gibt ein physisches Netz in Deutschland, es gibt
IT-Systeme, die hier in Deutschland betrieben und angeboten werden. Sie unterliegen dem deutschen Recht, und
damit können wir auch Regeln für diese Systeme aufstellen.
({1})
Gleichzeitig handeln wir auch international. In Europa arbeiten wir parallel zu dem Gesetzentwurf, den wir
ab jetzt beraten, an dem Zustandekommen einer Richtlinie für die Netzwerk- und Informationssicherheit in der
Europäischen Union, an der sogenannten NIS-Richtlinie.
({2})
Auch hier sollen unter anderem EU-weite Mindestanforderungen für Betreiber kritischer Infrastrukturen aufgestellt werden. Auch hier sind Meldeverfahren hinsichtlich kritischer Sicherheitsvorfälle vorgesehen.
Was wir in diesem Fall also machen, ist nicht, zu warten, dass Europa uns eine Vorgabe macht, und diese dann
irgendwie zögerlich und auf Druck der EU mit Fristversäumung usw. umzusetzen. Diese Zeit haben wir in der
schnellen Welt des Internets nicht. Was wir heute machen, ist, wenn Sie so wollen, eine vorweggenommene
Umsetzung einer künftigen Richtlinie. Damit das klappt,
sind wir in engstem Kontakt mit der EU-Kommission
und natürlich mit dem Rat, damit das Ganze so kompatibel ist, dass es nachher auch zusammenpasst.
Trotzdem geht das alles nur gemeinsam - in Europa
und in Deutschland. Der Gesetzentwurf sieht ein Wechselspiel zwischen Unternehmen und Behörden vor: Melden und Warnen, Standards und Sicherungsmaßnahmen
entwickeln. Das alles funktioniert nämlich nur, wenn
man zusammenarbeitet. Auch das ist ein Prinzip, das
hinter den hier vorgelegten Regelungen steckt. Wir wollen auch bei der IT-Sicherheit eine neue Form der Kooperation mit der Wirtschaft; denn wir als Aufsichtsbehörde wollen nicht nur Vorschriften machen.
({3})
Ein letzter Gedanke. Die Sicherheit unserer IT-Systeme soll auch ökonomisch dem Standort Deutschland
und dem Standort Europa dienen. Das haben wir zum
Beispiel von Standards in der Umweltpolitik gelernt. ITSicherheit made in Germany soll nicht nur unsere Netze
sicherer, sondern auch unsere Wirtschaft erfolgreicher
machen.
Meine Damen und Herren, wir wollen die deutschen
IT-Systeme zu den sichersten in der Welt machen. Der
vorgelegte Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes, den wir
ab heute beraten, ist dazu ein erster und wichtiger
Schritt.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan Korte von
der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Bemerkung vorweg, weil alle bedeutenden Innenpolitiker des Bundestages hier versammelt sind: Ich
freue mich darüber, dass heute die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen das V-Leute-Unwesen abgeschaltet hat.
({0})
Das ist ein guter Tag für den Rechtsstaat, die Demokratie
und die öffentliche Sicherheit.
({1})
- Ich wollte die Freude mit Ihnen teilen. Geteilte Freude
ist doppelte Freude.
({2})
Aber nun zum Thema. Das IT-Sicherheitsgesetz wird
auch von der Fraktion Die Linke als grundsätzlich sinnvoll erachtet,
({3})
um die kritischen Infrastrukturen in den Bereichen Energie, Wasser, Verkehr und in anderen Bereichen zu schützen. Das wird von uns durchaus anerkannt. Allerdings
kommen jetzt die Probleme, und deswegen will ich an
Ihrer Vorlage Folgendes engagiert kritisieren:
Erstens. Wir bräuchten, bevor wir in diese Beratung
einsteigen, eigentlich eine detaillierte Bestandsaufnahme:
({4})
Welche digitalen Infrastrukturen sind eigentlich gegebenenfalls wann betroffen? Denn man muss es sich kaskadenartig vorstellen - nehmen Sie ein Energieversorgungsunternehmen, das angegriffen wird -: Was hat das
im Detail dann für Folgen für die untergeordneten Bereiche? Das wäre eine erste Frage, die wir angehen müssen.
Das Grundproblem bei Ihrer Vorlage und bei Ihrem
Denken insgesamt im Bereich von IT-Sicherheit und anderem ist aber, dass das Ganze zu sehr aus der Perspektive des staatlichen Sicherheitsapparates gesehen wird;
das ist der Kern auch Ihres Gesetzentwurfs. Ein Grundproblem bei Ihrer Vorlage ist, dass dort die Frage von
Datenschutz und anderem zu untergeordnet ist, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Zweitens. Bei einem Gesetzentwurf und all dem, was
daraus folgt, ist die entscheidende Frage, die zu betrachten ist, natürlich die Personalfrage. Was in diesem
Gesetzentwurf zum Personal vorgesehen wird, ist nun
wirklich der Kracher. Bei Ihrem IT-Sicherheitsgesetz
profitieren, was den Aufwuchs an Stellen angeht, insbesondere diejenigen, die seit Snowden beim Datenschutz
und bei der IT-Sicherheit grandios versagt haben bzw.
grandios versagen wollten. Ausgerechnet die profitieren
davon.
Ich will es konkret machen. Beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI - ich komme
darauf später noch zu sprechen -, soll es einen Aufwuchs von 115 bis 216 Stellen geben. Beim Bundeskriminalamt soll es einen Aufwuchs von 48 bis 78 Stellen
geben. Jetzt wird es selbst für Ihre Verhältnisse wirklich
sehr schräg: Beim Bundesamt für Verfassungsschutz soll
es einen Aufwuchs von 26 bis 48 Stellen geben, und
- genauso gut - beim BND sollen bis zu 30 Stellen entstehen. Ausgerechnet bei den Geheimdiensten, die in
Teilen eher für IT-Unsicherheit und nicht für IT-Sicherheit stehen, gibt es massive Aufwüchse. Das kann doch
nicht wahr sein, wenn wir über so etwas reden.
({6})
Ich fand diese Argumente schon überzeugend.
({7})
- Ganz ruhig bleiben! - Es gibt noch überzeugendere. Es
wird noch viel obskurer. Das werden Sie feststellen,
wenn Sie sich jetzt einmal anschauen, was demgegenüber eigentlich bei der Bundesbeauftragten für den Datenschutz an Stellenaufwuchs vorgesehen ist. Das sind
gerade mal lächerliche zwei bis sieben Stellen. Das ist
zunächst einmal eine Frechheit gegenüber der Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Ihrer Exkollegin
Andrea Voßhoff, und das ist in der Tat ein materielles
Symbol dafür, dass Sie die Zeichen der Zeit schlicht
nicht erkannt haben. So einfach ist das.
({8})
Man muss mir wirklich einmal erklären, welche
Schutzfunktion für die informationelle Selbstbestimmung eigentlich die Geheimdienste haben - spätestens
in den letzten zwei Jahren, nach Snowden. Das müsste
mir einmal jemand erklären, am besten der Bundesinnenminister.
Wenn wir das zusammenfassen - zwei bis sieben Stellen für den Datenschutz bei der Datenschutzbehörde gegenüber Dutzenden von Stellen bei den Sicherheitsbehörden -, dann ist das das ganze Sinnbild für Ihre
verfehlte Politik. An dem Stellenplan kann man erkennen: Die Wahrheit ist immer konkret. Deswegen ist Ihr
Entwurf nicht sinnvoll.
({9})
Nach diesen eigentlich schon bemerkenswert einleuchtenden Argumenten noch ein drittes Argument.
({10})
Schauen wir uns das BSI an, das zu einer Zentralstelle
weiterentwickelt werden soll. Richtig wäre doch, hier
zunächst einmal eine grundsätzliche Debatte über die
Frage zu führen: Was ist denn eigentlich die Rolle des
BSI, und was sind seine Aufgaben? Darüber müssten wir
doch hier erst einmal ganz grundsätzlich diskutieren.
Einen Hinweis will ich dann doch geben: Dankenswerterweise hat netzpolitik.org gerade veröffentlicht,
dass das BSI angeblich - es wird wohl so sein - an der
Entwicklung des Staatstrojaners beteiligt war. Das ist natürlich ein ganz dolles Ding und führt nicht dazu, dass es
bei den Bürgerinnen und Bürgern auch nur ansatzweise
Vertrauen in das BSI geben kann; denn - da muss man
historisch einen Schritt zurückgehen - das BSI ist be9040
kanntermaßen eine Ausgründung aus dem BND gewesen. Deswegen sagt die Linke: Wir brauchen hier eine
Generalüberprüfung der Rolle des BSI, wir brauchen vor
allem eine Offenlegung des Tätigkeitsberichts - der
sollte nicht eingestuft sein -, und wir brauchen hier eine
grundsätzliche Debatte darüber, was wir mit dem BSI eigentlich anfangen wollen.
({11})
In diesem Zusammenhang will ich - durchaus im
Sinne des BSI, wie ich glaube - etwas anmerken. Das
BSI ist dem Bundesinnenministerium untergeordnet,
was zu Recht immer kritisiert wird, aber natürlich eine
bestimmte Linie in der inneren Sicherheit hat. Insofern
wäre es doch, glaube ich, im Zuge der Beratung über das
IT-Sicherheitsgesetz eine hervorragende Idee, darüber
nachzudenken, wie wir zunächst einmal die Unabhängigkeit des BSI herstellen können. Wir haben das gerade
erst vor kurzem bei der Bundesbeauftragten für den Datenschutz gelöst, indem wir das BfDI zu einer obersten
Bundesbehörde gemacht haben. Es wäre doch wirklich
ein Fortschritt, das BSI dem Zugriff des Innenministeriums zu entziehen, was grundsätzlich sinnvoll ist, und
es zu einer obersten Bundesbehörde zu machen, um eine
wirkliche Unabhängigkeit herzustellen. Das wäre etwas,
was wirklich sinnvoll wäre.
({12})
Ich fasse zusammen: Ein IT-Sicherheitsgesetz ist eine
grundsätzlich gute Idee; das ist anzuerkennen. Die Ausführung, so wie Sie sie angehen, ist leider mangelhaft.
Wenn Sie allerdings jetzt im Zuge der Beratung auf die
Hinweise der Opposition hören würden und könnten,
dann könnte es ein fortschrittliches IT-Sicherheitsgesetz
geben, und wir hätten im Bereich der Innenpolitik einmal etwas Richtiges im Falschen erreicht.
({13})
Solange aber die Bundesregierung bei der staatlichen
Ausspähung und Kompromittierung von IT-Systemen
mitmacht oder sie zumindest hinnimmt, ohne etwas dagegen zu tun, so lange befindet sie sich auf der Seite der
Gefährder von IT-Sicherheit. Wenn Ihnen IT-Sicherheit
also so doll am Herzen liegt, wie Sie es gerade engagiert
vorgetragen haben, dann fordere ich Sie auf, die Seiten
zu wechseln und unsere Vorschläge aufzunehmen. Dann
würden wir ein ganzes Stück weiterkommen.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Gerold
Reichenbach von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die
Digitalisierung und die digitale Vernetzung immer weitere Lebensbereiche durchdringen, ist inzwischen ein
Allgemeinplatz geworden; aber das ist keine Banalität.
Während der heutigen Debatte werden wir erleben, dass
es dunkel wird. Das hat eine natürliche Ursache, nämlich
die Sonnenfinsternis, die im Laufe des Vormittags eintritt. Es könnte aber auch andere Gründe haben. Im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema „Vernetzung und
IT-Sicherheit“ erzählte neulich ein Professor, dass man
sich unter Kollegen darüber unterhielt, wie man von
Wien aus die Jalousien beim Deutschen Bundestag herauf- und herunterfährt. Das hört sich zunächst sehr lustig an, Herr Korte,
({0})
aber das ist eine neue Qualität, mit der wir es zu tun haben: dass unsere Systeme nämlich vom Ausland aus angreifbar sind, weil immer mehr unserer Lebenssysteme
von Rechneranlagen digital gesteuert werden und international vernetzt sind. Das erklärt dann vielleicht auch
für Sie, warum wir auch die präventive Seite gegenüber
solchen Angriffen stärken müssen. Damit haben Sie die
Erklärung, warum wir auch die Dienste in diesem Bereich und hinsichtlich dieser Fähigkeiten stärken müssen.
({1})
Unsere Kraftwerksbetreiber bereiten sich seit Monaten darauf vor, einen Blackout zu verhindern, der aufgrund der Stromschwankungen, induziert durch die Sonnenfinsternis, bei den Solaranlagen auftreten könnte.
Aber was wäre, wenn solche Schwankungen nicht durch
ein vorhersehbares Ereignis, sondern durch eine Cyberattacke ausgelöst würden? Ein Blackout wäre vermutlich
nicht mehr zu vermeiden, und es drohten für die Bürger
der Bundesrepublik Deutschland drastische Folgen, wie
wir sie gemeinsam im Grünbuch über die „Risiken und
Herausforderungen für die Öffentliche Sicherheit in
Deutschland“ beschrieben haben und wie es auch in der
TAB-Studie im Auftrag des Deutschen Bundestages dargelegt wurde.
Wir sind zunehmend von Datenverarbeitung und
funktionierenden, sicheren Infrastrukturen und Kommunikationsinfrastrukturen abhängig. Ob Lebensmittelversorgung, Wasser-, Strom- und Energieversorgung, Logistik und Entsorgung, Gesundheitswesen oder öffentliche
Sicherheit, aber auch Behörden und Verwaltung: Alle
sind sie heute von funktionierenden IT-Strukturen und
Kommunikationssystemen abhängig. Und diese sind in
Bezug auf kriminelle oder staatliche Angriffe von außen
in hohem Maße gefährdet.
Gleiches gilt übrigens für die Unternehmen und selbst
für private Haushalte. Wir bewegen uns auch privat immer mehr in einer digital vernetzten Welt. Zukünftig
werden immer mehr Funktionen davon abhängig sein:
unser Auto, unsere Heizung, unsere Geld- und WarengeGerold Reichenbach
schäfte, nicht zuletzt unsere Brandsicherheit, wenn Toaster und Herd über IT-Kommunikation gesteuert werden.
Darum müssen wir uns verstärkt der IT-Sicherheit
widmen, und dazu gehören mehr Kapazitäten zur Bekämpfung von Cyberkriminalität, ein besserer Schutz
kritischer Infrastrukturen, einschließlich - das sage ich
ausdrücklich - staatlicher Einrichtungen,
({2})
und mehr Investitionen in IT-Sicherheit sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt deshalb hat die Koalition vereinbart - ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin -, „ein IT-Sicherheitsgesetz mit verbindlichen Mindestanforderungen an die IT-Sicherheit
für die kritischen Infrastrukturen und der Verpflichtung
zur Meldung erheblicher IT-Sicherheitsvorfälle“ zu schaffen. Wir haben geliefert. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt nun vor.
Wir wollen mit dem Gesetz für mehr Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Netz sorgen. Deswegen werden
wir die Ermittlungszuständigkeiten und Ermittlungsfähigkeiten des Bundeskriminalamtes im Bereich Cybercrime stärken und ausbauen; denn Gelegenheit macht
Diebe.
({4})
Deswegen werden wir das BSI stärken und ausbauen
und ihm die Möglichkeit bieten, Marktprodukte zu analysieren und auf ihre Sicherheit zu überprüfen. Diese
verstärkten Befugnisse binden wir ausdrücklich und klar
an den Zweck, den Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen und Behörden Hilfestellungen sowie Hinweise für ihre IT-Sicherheit zu geben. Wir tun das nicht,
wie Sie gerade unterstellt haben, um Lücken auszuforschen und diese zu nutzen.
Wir wollen mit dem Gesetz den Schutz der Informationstechnik des Bundes weiter vorantreiben und für das
Funktionieren einer zunehmend digitalisierten öffentlichen Verwaltung Sicherheitsstandards setzen.
Damit einhergehend - last, but not least - wollen wir
die IT-Sicherheit bei Unternehmen und vor allem bei kritischen Infrastrukturen stärken. Kritische Infrastrukturen
sind im Wandel. Im 19. Jahrhundert waren Postkutschenstationen kritische Infrastrukturen. Heute sind es
Flughäfen, die man damals nicht kannte und vermutlich
nicht einmal erahnte. Während sich dieser Wandel in der
Vergangenheit in längeren Zeiträumen vollzog, sind es
heute nur noch wenige Jahre. Gleichzeitig schreitet die
Vernetzung rasant voran.
Bleiben wir beim Beispiel der Verkehrs- und Logistikbranche. Der Flughafen Frankfurt ist mit einem Cargoaufkommen von 2,2 Millionen Tonnen der führende
Cargoflughafen in Europa. In Frankfurt werden fast
50 Prozent des gesamten Luftfrachtvolumens abgewickelt. Frankfurt verfügt aber auch über hochspezialisierte Einrichtungen für das Handling von Pharma. Zahlreiche Spediteure verfügen am und um den Flughafen
über eigene Pharmabereiche. Ein Ausfall dieser kritischen Infrastruktur hätte kaum absehbare Folgen, nicht
nur für den Güter- und Personenverkehr, sondern auch
für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in der
Bundesrepublik Deutschland.
Die Logistikketten sind nämlich über ITK-Systeme
und intelligente Steuerung längst eng miteinander verknüpft. Auch wenn die Spediteure, die die Produkte zu
den Flug- und Seehäfen bringen, nach wie vor überwiegend kleine und mittlere Unternehmen sind und damit
selbst wohl keine kritische Infrastruktur sind: Die dahinter stehenden vernetzten ITK-Systeme sind es sehr wohl.
Wenn die IT-Steuerung der Seehäfen durch eine Cyberattacke lahmgelegt würde, dann litte Deutschland ganz
schnell im wahrsten Sinne des Wortes unter Speiseröhrenverengung und Darmverschluss. Darum ist der Gesetzentwurf gerade in Bezug auf die kritischen Infrastrukturen bewusst so gestaltet, dass er mit der rasanten
technischen Entwicklung Schritt halten kann.
Im Gesetzesvorschlag werden die kritischen Infrastrukturen in ihrer Sektorenzugehörigkeit und Funktionalität für die öffentliche Sicherheit und die Versorgung
sowie die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens definiert. Herr Korte, ich kenne kein Gesetz - von der Seveso-Richtlinie bis zu anderen Gesetzen -, bei dem der
Gesetzgeber vorher bis zum kleinsten Unternehmen gewusst hätte, wer letztendlich davon betroffen sein würde.
({5})
- Die haben wir ja. Ich habe es gerade eben beschrieben.
Die Definition dessen, was nach dem gegenwärtigen
Entwicklungsstand - das ist die entscheidende Frage;
wir als Gesetzgeber haben uns nicht nur nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand zu richten - im Einzelnen unter kritischer Infrastruktur zu verstehen ist, wollen
wir bewusst dem Instrument der Rechtsverordnung überlassen, um die nötige Flexibilität zu haben, auf die
schnellen technologischen Entwicklungen reagieren zu
können. Dazu werden wir einen Identifikationsprozess
aufsetzen, in den wir die Betreiber und Branchen mit
einbeziehen werden.
Ein wesentliches Element des Gesetzes sind die Meldepflichten. Meldungen können anonym erfolgen, wenn
es um ein Lagebild über die Cybersicherheitslage geht.
Bei bestimmten Vorfällen machen anonyme Meldungen
allerdings keinen Sinn mehr. Man stelle sich vor, beim
Kraftfahrzeugbundesamt ginge die anonyme Meldung
ein, dass es Fahrzeuge mit nicht funktionierenden Bremsen gebe, aber es würde nicht gesagt, welche Fahrzeuge
und welche Hersteller es sind. Genauso wie im Automobilverkehr und bei der Sicherheit im Straßenverkehr
können von der Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen Menschenleben abhängen. Diese sind höherrangig
zu bewerten als die Interessen der Wirtschaft. Darum
dürfen Meldungen nicht mehr anonym erfolgen, wenn es
zu Ausfällen oder Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit kritischer Infrastruktur kommt.
({6})
Ich finde, wir sollten den jetzt aufgesetzten Mechanismus auch auf seine Wirksamkeit hin überprüfen und für
das Gesetz eine Evaluierung nach einem angemessenen
Zeitraum vorsehen.
IT-Sicherheit und Schutz von kritischen Infrastrukturen ist nicht nur eine Frage der Sicherheit der Bürger
heute, sie wird immer mehr zur entscheidenden Frage
für die Wachstumsmöglichkeiten und die Chancen der
Digitalisierung selbst. Denn die Menschen würden es
nicht akzeptieren, in immer mehr wichtigen Lebensbereichen von unsicheren IT-Infrastrukturen abhängig zu
sein. Als Staat und Gesellschaft können wir es nicht einfach hinnehmen, für Angriffe und Bedrohungen von außen immer anfälliger zu werden. Vertrauen und Sicherheit werden die entscheidenden Faktoren für die weitere
digitale Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft sein. Natürlich ist zuvörderst die Wirtschaft in der
Pflicht, in die Sicherheit von IT-Strukturen zu investieren. Dort aber, wo die Schadenswirkung über das eigene
Unternehmen oder die eigene Branche hinausgeht, wo
Sicherheitslücken auch Dritte in erheblichem Umfang
schädigen oder gefährden können, ist der Gesetzgeber in
der Pflicht, die notwendigen Sicherheitsrahmenbedingungen vorzugeben.
({7})
So haben wir es übrigens - der Minister hat es erwähnt in der alten industriellen Welt völlig selbstverständlich
immer wieder getan und tun es auch heute noch. Dies
gilt es auch für die digitale und vernetzte Welt zu gestalten.
IT-Sicherheit und Vertrauen in kritische Infrastrukturen werden zu immer wesentlicheren Standortfaktoren.
Ich habe viele Gespräche mit Betreibern kritischer Infrastrukturen geführt, mit Vertretern der Wirtschaft und
auch mit Vertretern von ausländischen Unternehmen, die
dies bestätigten. Gerade auch Vertreter aus dem Ausland
sahen - aus ihrer Sicht manchmal etwas neidisch - die
Chance, dass dieses weltweit eines der ersten IT-Sicherheitsgesetze zu einem echten Standortvorteil für die
Bundesrepublik Deutschland werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz
wird die Koalition nicht nur für mehr Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger sorgen. Mit diesem Gesetz wird
der Standort Deutschland fit für die digitale Zukunft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Konstantin
von Notz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das zentrale
Thema der CeBIT in diesem Jahr ist die massive Gefährdung unserer digitalen Infrastruktur durch Massenausspähung und IT-Angriffe. Ohne Edward Snowden hätten
wir heute nicht ansatzweise den Überblick über die tatsächliche Bedrohungslage.
({0})
IT-Sicherheit war immer wichtig. Aber spätestens seit
Stuxnet, Regin, dem Heartbleed Bug und dem überwachten Handy der Kanzlerin ist völlig klar: Im Bereich
der IT-Sicherheit brennt in Deutschland die Hütte lichterloh. Ein zentrales Risikoszenario für Betriebs- und
Geschäftsgeheimnisse, für Kommunikation und Privatheit ist nicht nur die organisierte Kriminalität, es sind
auch die sich verselbstständigenden Geheimdienste und
ihnen gefällig zuarbeitende Unternehmen.
({1})
Das ist die Ausgangslage auch nach zehn Jahren Bundesinnenministerium unter CDU/CSU-Führung, meine
Damen und Herren.
Jeder weiß: Wir brauchen einen verbesserten Grundrechtsschutz der Menschen und eine Erhöhung der IT-Sicherheit für Unternehmen und Behörden. Das sind zwei
Themen, die man heute nicht mehr trennen kann. Und
sosehr Ihr Ministerium, Herr de Maizière, in den letzten
Jahren für die grundrechtsfeindliche Vorratsdatenspeicherung gekämpft hat, so wenig Substanzielles haben
Sie im letzten Jahrzehnt für den Bereich der IT-Sicherheit vorzuweisen.
({2})
Zur CeBIT 2015 legen Sie jetzt Ihren übereilten, unreifen Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes vor, der völlig zu Recht von allen Seiten kritisiert wird. Weder bringt
er mehr IT-Sicherheit für Deutschland, noch schafft er
das notwendige Vertrauen in die Nutzung der Kommunikationsinfrastruktur unserer Zeit, das Internet. Wer ITStrukturen schützen will, braucht zunächst eine differenzierte Einschätzung der Gefährdungslage; Kollege Korte
hat es angesprochen. Diese haben Sie bis heute nicht
vorgenommen.
({3})
Es ist deshalb vielleicht konsequent, aber eben inhaltlich falsch, hier lediglich mit weitgehend unbestimmten
Verfahrensregelungen um die Ecke zu kommen.
({4})
Sie denken IT-Sicherheit eben nicht ganzheitlich, sondern stellen hier nur auf den Bereich kritischer Infrastrukturen ab. Selbst bei diesen Regelungen springen Sie
zu kurz: Vor der eigenen behördlichen Haustüre wird
nicht gekehrt,
({5})
nur Unternehmen müssen nach Ihrem Gesetzentwurf
Meldungen machen, Behörden aber nicht. Wie soll denn
auf diese Weise das gewünschte Gesamtlagebild der
IT-Angriffe entstehen und analysiert werden? Das ist
schlicht unschlüssig, meine Damen und Herren!
({6})
Es gibt weitere massive Unklarheiten und Widersprüche:
Niemand weiß derzeit, welche Unternehmen wegen
kritischer Infrastruktur meldepflichtig werden und welche eben nicht. Sie wollen das später festlegen. Zu Recht
will die Wirtschaft aber jetzt wissen, was auf sie zukommt.
Niemand weiß, was mit den beim BSI anlandenden
Daten geschehen soll, also was das BSI mit den Daten
anfängt und wem es diese Daten eventuell übermittelt.
Schon alleine die Rechtssicherheit der Unternehmen erfordert hier eine klare gesetzliche Regelung, meine Damen und Herren.
({7})
Und auch die Gelegenheit zur Harmonisierung, Herr
Reichenbach, mit der auf EU-Ebene parallel in Verhandlung befindlichen Richtlinie genau zu diesem Thema
warten Sie nicht ab, sondern Sie schaffen einen nicht
abgestimmten deutschen Sonderweg. Der Minister lobt
sich hier auch noch für dieses Vorgehen. Das ist aber angesichts der Internationalität des Internets und der grenzüberschreitenden Vernetzung von IT-Systemen ein schlicht
abwegiger Ansatz, meine Damen und Herren!
({8})
Schließlich schaffen Sie mit Ihrem rein reaktiven Gesetz überhaupt keine wirksamen proaktiven Anreize, um
die Wirtschaft mitzunehmen. Weder gibt es positive Anreize, wie beispielsweise Privilegierungen für diejenigen, die aufgrund praktischer IT-Schutzmaßnahmen tatsächlich etwas vorzeigen können, noch wagen Sie es,
den umgekehrten Weg zu gehen und beispielsweise
durch steuernde Maßnahmen wie Haftungsregelungen
mehr Sicherheit zu fördern. Der Entwurf zeigt hier leider
ein halbgares Weder-noch, und er wird sein Ziel verfehlen. Das ist für das Jahr 2015, für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland und für einen sensiblen Bereich
wie den der kritischen Infrastrukturen einfach skandalös
wenig, meine Damen und Herren!
({9})
Netzwirtschaft und IT-Kommunikation brauchen vor
allem Vertrauen in die Sicherheit der Infrastruktur. Diese
Erkenntnis ist richtig. Doch statt endlich dafür zu sorgen,
geht seit Jahren in Ihrer Verantwortung Vertrauen weiter
verloren. Das liegt auch daran, dass Sie hier im Entwurf
das dem Innenministerium unterworfene BSI ins Zentrum des Meldesystems stellen; dies hat der Kollege
Korte ja angesprochen.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ist eben nicht unabhängig, sondern abhängig von
einem Innenministerium, das die Vorratsdatenspeicherung fordert, den Ankauf von Sicherheitslücken billigt,
eine zumindest unklare Haltung zum Thema Verschlüsselung hat und ihm, also dem BSI, aufgibt, Bundestrojanersoftware zu basteln. Das kann so nicht weitergehen.
Das BSI muss endlich in zentralen Aufgabenbereichen
unabhängig werden.
({10})
Und diese Bundesregierung muss sich endlich effektiven inhaltlichen Maßnahmen für mehr IT-Sicherheit zuwenden. Die Vorschläge dafür liegen längst auf dem
Tisch, und namhafte deutsche Staatsrechtler haben Ihnen
die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers zum umfassenden Schutz unserer digitalen Infrastrukturen in einer denkwürdigen Anhörung im Ausschuss ins Stammbuch geschrieben: Wir brauchen eine
Abkehr von der globalen Massenüberwachung und von
weltweiten IT-Eingriffen durch Geheimdienste, auch
durch deutsche.
Sie wollten doch Deutschland zum Verschlüsselungsland Nummer eins machen. Ja, dann sorgen Sie dafür,
dass durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen
endlich Standard werden!
({11})
Fördern Sie konsequent Open-Source-Technologien,
und sorgen Sie dafür, dass zentrale Softwarekomponenten eine grundlegende Prüfung der Quellcodes durchlaufen, Herr de Maizière! Statt Blackboxsystemen brauchen
wir inhaltlich geprüfte Sicherheit wenigstens in den zentralen Komponenten der Webinfrastruktur.
Und: Der Staat darf eben nicht, wie von Ihnen geplant, zum Hehler von Sicherheitslücken werden.
({12})
Dieser Markt gehört international geächtet und nicht
durch Staatsknete gefördert.
({13})
Schließlich: Hören Sie endlich auf, die EU-Datenschutzrechtsreform weiter zu behindern und zu verwässern! Sie ist ein elementarer Baustein für die IT-Sicherheit.
Sie haben aus Ihrem Gesetzentwurf die Regelung zur
„Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür“ nach
massiver Kritik wieder herausgenommen. Aber wer bürgerrechtliche Einsicht dieser Großen Koalition erwartet
hat, wird wieder einmal enttäuscht; denn Sie von Union
und SPD haben gemeinsam und unbelehrbar die Vorratsdatenspeicherung durch die Vordertür des Bundestages
nun wieder hereingetragen. Sigmar Gabriel hat sich in
den letzten Tagen nicht nur als irrlichtender Vizekanzler
gegen Bürgerrechte einen Namen gemacht
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, er hat
nicht nur die Glaubwürdigkeit seines eigenen Ministerkollegen beschädigt, er hat als Wirtschaftsminister offenbar auch nicht verstanden, welchen fundamentalen
Stellenwert Vertrauen in die digitale Welt heute hat Vertrauen, das Ihr ungenügender Gesetzentwurf leider
nicht wiederherzustellen vermag. Das ist ungenügend.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Mayer
von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Erlauben Sie mir, bevor
ich auf das IT-Sicherheitsgesetz eingehe, eine kurze Antwort an den Kollegen Korte,
({0})
der ja eben darauf hingewiesen hat, heute wäre ein guter
Tag für Deutschland,
({1})
weil die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen die
V-Leute abgeschaltet habe.
({2})
Heute ist ein schlechter Tag für Thüringen, um es klar zu
sagen.
({3})
Und ich sage Ihnen auch, warum, und das ohne jeglichen
Zynismus und ohne Sarkasmus. Ich hoffe wirklich, dass
diese heutige prekäre Entscheidung, die die Landesregierung vorgenommen hat, sich im Nachhinein nicht negativ auf die Sicherheitslage in Thüringen auswirkt
({4})
und dass es nicht aufgrund dieser Entscheidung und
möglicher Folgeentscheidungen, die jetzt die anderen
Bundesländer im Verfassungsverbund vornehmen, zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage und einer höheren Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger in Thüringen kommt.
({5})
Ich halte die Entscheidung, die heute vorgenommen
wird, für hochbedenklich,
({6})
und es bleibt abzuwarten, wie die anderen Landesverfassungsschutzämter darauf reagieren.
Nun komme ich zum Thema des heutigen Vormittags;
das hat durchaus auch etwas mit dem Thema Sicherheit
zu tun. Es geht bei dem Schutz kritischer Infrastrukturen
und unserer IT-Kommunikation natürlich darum, dass
wir einen kooperativen Ansatz wählen, genauso wie im
Verfassungsschutzverbund. Man meint vielleicht, wenn
wir über Sicherheit unserer Informationstechnik sprechen, auf den ersten Blick, rein technisch betrachtet,
dass es nur um den Schutz elektronisch gespeicherter Informationen sowie um deren Systeme geht. Es geht aber,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen - das
haben auch die Diskussionen über Überwachungs- und
Spionagemaßnahmen anderer Staaten oder anderer Unternehmen eindrucksvoll gezeigt -, auch um die Grundwerte unseres Staates. Es geht um wichtige Grundrechte
unserer Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirtschaft.
Was oft mit den Schlagworten „Schutz der Vertraulichkeit“, „Integrität“ und „Verfügbarkeit“ unserer ITSysteme umschrieben wird, meint im Grunde auch den
Schutz der Privatheit und von all dem, was die Menschen dem Netz anvertrauen. Es geht um unsere vertrauliche Kommunikation, um unsere Einkäufe im Netz, um
Gesundheitsdaten, um unsere Urlaubserinnerungen und
um vieles mehr.
Für Unternehmen geht es um ihre Funktionsfähigkeit
und den Schutz ihres Know-hows, ihres geistigen Eigentums. Es geht um die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle entwickeln zu können, ohne einer Ausspähung
ausgesetzt zu sein oder Opfer einer kriminellen Machenschaft zu werden.
Für unsere Gesellschaft, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, geht es insgesamt darum, dass
IT-Sicherheit mittlerweile das Gerüst ist, ohne das das
öffentliche Leben und unsere Wirtschaft und letztendlich
wohl auch unser Gemeinwesen insgesamt nur schwerlich existieren könnten.
Wie sehr die Sicherheit unserer IT-Systeme tagtäglich
bedroht wird, belegen eindrucksvoll die Zahlen aus dem
letzten Lagebericht des Bundesamtes für Sicherheit in
der Informationstechnik aus dem Jahr 2014 - der InnenStephan Mayer ({7})
minister hat schon darauf hingewiesen -: Es gibt derzeit
weltweit über 250 Millionen verschiedene Varianten von
Schadprogrammen, tagtäglich kommen etwa 300 000
neue hinzu. Das BSI geht davon aus, dass allein in
Deutschland bereits heute mehr als 1 Million Internetrechner Teil eines Botnetzes sind, das heißt, ohne das
Wissen des Besitzers des Internetrechners Teil eines kriminellen Netzwerkes sind,
({8})
und von der Tendenz her nimmt das bedauerlicherweise
stark zu.
({9})
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat festgestellt, dass im Vergleich von 2013 zu
2014 die Zahl der Spam-E-Mails um 80 Prozent zugenommen hat,
({10})
dass die Zahl der E-Mails, die Schadsoftware aufweisen,
innerhalb nur eines Jahres um 36 Prozent zugenommen
hat. Wir alle kennen Stuxnet, aber auch viele weitere
spektakuläre IT-Sicherheitsvorfälle aus den letzten Jahren, die diese Gefährdungssituation weltweit, aber auch
in Deutschland, belegen. Das BSI hat im Frühjahr letzten
Jahres zwei Sicherheitsvorfälle offenkundig gemacht,
bei denen insgesamt etwa 34 Millionen digitale Identitäten, E-Mail-Konten oder Passwörter, gestohlen wurden.
Dennoch glaube ich - und das ist das Bemerkenswerte -, dass immer noch viele Firmen, aber auch private Nutzer den Ernst der Lage häufig deutlich unterschätzen. So müssen wir immer noch feststellen, dass in
der Praxis häufig nur geringe Schutzmaßnahmen getroffen werden. Einfache, aber notwendige Schutzmaßnahmen unterbleiben, sei es aus Kostengründen, sei es
schlicht aus Bequemlichkeit oder auch aus Ahnungslosigkeit. Aus diesem Grunde können wir auf staatliche
Mindestvorgaben in bestimmten Bereichen letztlich
nicht verzichten.
({11})
Das alles zeigt, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen, die große Bedeutung, die die IT-Sicherheit
mittlerweile für uns und unser gesamtes Leben hat, aber
auch den großen Handlungsbedarf, vor dem wir stehen.
Mit dem nun vorliegenden Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes bringen wir eines der ersten größeren Vorhaben der Digitalen Agenda in dieser Legislaturperiode
auf den Weg. Mit diesem IT-Sicherheitsgesetz wird die
Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung aus dem
Jahr 2011 konsequent fortgesetzt und erweitert.
Herr Kollege von Notz, ich möchte Ihnen klar erwidern,
({12})
weil Sie insinuiert haben, dass das Bundesinnenministerium eine unklare Haltung zur Verschlüsselungstechnik
habe:
({13})
Der Bundesinnenminister und auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben eine eindeutige und klare Haltung
zur Verschlüsselungstechnik.
({14})
Wir machen uns, mit Verlaub, auch nicht zu Hehlern von
Sicherheitslücken.
({15})
Das ist eine infame Unterstellung, die Sie hier vorgenommen haben, die so einfach nicht zutrifft. Dem
möchte ich in aller Deutlichkeit entgegnen.
({16})
Eine Sicherheitslücke in der IT ist natürlich umso gravierender für das Allgemeinwohl, je stärker sogenannte
kritische Infrastrukturen betroffen sind.
Herr Kollege Mayer, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen von Notz zu?
Selbstverständlich. Sehr gerne.
({0})
Ja, der Stehler ist kein Hehler. - Tut mir leid, dass ich
Sie jetzt direkt unterbreche, und danke, dass Sie die
Frage zugelassen haben. Ich will kurz auf die Vorwürfe
antworten.
Sagen Sie, Herr Mayer, für das Innenministerium
- vielleicht kann der Minister kurz nicken -, dass der
BND von seinen Plänen, in Zukunft Sicherheitslücken
anzukaufen, Abstand nimmt? Wenn das nicht der Fall
ist, wie würden Sie das denn nennen, wenn jemand illegale Sicherheitslücken ankauft, und zwar nicht, um sie
zu schließen, sondern um sie zu nutzen? Also entweder
distanzieren Sie sich davon, oder Sie können diesen Vorwurf leider nicht entkräften, Herr Mayer.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, ich distanziere
mich von der Behauptung, die Sie vorgenommen haben,
weil sie einfach nicht zutrifft. Es stimmt nicht, dass das
Bundesinnenministerium Sicherheitslücken ankauft.
({0})
Es stimmt auch nicht, dass der Bundesinnenminister hier
irgendwelchen Sicherheitslücken oder Backdoors das
Wort geredet hat.
({1})
Es gibt eine klare Position des Bundesinnenministers,
und diese wird zu 100 Prozent von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geteilt.
({2})
Die Vertraulichkeit und die Integrität der Kommunikation sind für uns außerordentlich wichtige Grundwerte. Gerade die von Ihnen genannte Verschlüsselungstechnik wird derzeit von der Bundesregierung und auch
vom BSI finanziell unterstützt und vorangetrieben.
({3})
Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist für uns ein ganz
wichtiges und essenzielles Sicherungsinstrument.
({4})
Dabei bleibt es auch. Die Behauptung wird auch nicht
wahrer, wenn Sie sie häufiger wiederholen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Sicherheitslücke in der IT ist natürlich umso gravierender, je
stärker die kritischen Infrastrukturen betroffen sind. Wir
alle kennen Horrorszenarien und auch entsprechende
Science-Fiction-Filme; aber die Gefahr ist real. Die Gefahr, dass es auch in Deutschland zu einer massiven Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung kommt, droht
durchaus, beispielsweise wenn sich ein länger andauernder Stromausfall ereignet, wenn die Lebensmittelversorgung ausfällt, wenn die Wasserversorgung ausfällt oder
wenn es zeitweise zum Zusammenbruch des Telekommunikationsnetzes kommt.
Das IT-Sicherheitsgesetz, das wir heute in der ersten
Lesung debattieren, regelt daher konsequenterweise die
Bereiche, in denen wir uns als moderne Gesellschaft
Ausfälle der IT weder leisten können noch wollen. Bei
unseren kritischen Infrastrukturen muss daher künftig
ein Mindeststandard an IT-Sicherheit vorgehalten werden. Die Betreiber der kritischen Infrastrukturen werden
gehalten, erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle zu melden.
Ich empfinde es schon als erheblichen Fortschritt, dass
es in Zukunft möglich sein wird, diese Meldungen bis zu
einer gewissen Erheblichkeitsschwelle anonym zu machen. Also erst wenn eine erhebliche Beeinträchtigung
oder wenn ein Ausfall der kritischen Infrastruktur droht,
muss diese Meldung mit Klarnamen vollzogen werden.
Bis diese Erheblichkeitsschwelle erreicht wird, ist die
Meldung auch anonym möglich. Ich glaube, dass dies
ein erheblicher Fortschritt ist, um auszuschließen, dass
es zu der von der Wirtschaft befürchteten Prangerwirkung kommt.
Mir ist auch sehr wichtig, dass wir mit diesem IT-Sicherheitsgesetz einen kooperativen Ansatz verfolgen.
Die Befürchtungen und die Zweifel, die teilweise in der
IT-Wirtschaft vorhanden sind, dass es letzten Endes eine
Einbahnstraße ist, dass also nur die Betreiber kritischer
Infrastrukturen an die neue zentrale Meldestelle des BSI
melden und es keine Rückkopplung gibt, werden dadurch ausgehebelt und ausgeräumt, dass es sehr wohl der
Ansatz dieses Gesetzes ist, dass die Betreiber kritischer
Infrastrukturen natürlich gleichermaßen durch das BSI
informiert werden und möglicherweise im Vorfeld, noch
vor dem Eintritt von Schadensereignissen, vor dem Eintritt von Cyberangriffen, entsprechend alarmiert werden
und sich so besser vorbereiten und rüsten können.
({5})
Dieser kooperative Ansatz, der mit diesem Gesetzentwurf verfolgt wird, ist aus meiner Sicht ein erheblicher
Fortschritt.
({6})
Wir werden parallel zu dem Schutz kritischer Infrastrukturen die Kompetenzen des BSI ausbauen. Die
Warnbefugnisse des BSI werden gestärkt. Ferner wird
die Möglichkeit geschaffen, dass die Öffentlichkeit genauso wie auch die deutsche Wirtschaft stärker beraten
wird.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
gehen jetzt in das parlamentarische Verfahren. Wir werden am 20. April eine Anhörung zu diesem Thema
durchführen. Ich sage hier für die Unionsfraktion ganz
klar: Wir sind offen für Hinweise, für Verbesserungsvorschläge von allen Seiten. Ich habe schon den Eindruck
- auch nach den ersten Rückmeldungen aus der Wirtschaft -: Der Grundansatz dieses Gesetzes wird vollumfänglich geteilt. Im Detail kann man mit Sicherheit noch
über das eine oder andere sprechen.
Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es uns mit
diesem IT-Sicherheitsgesetz gelingt
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- ich komme sehr gerne zum Ende -, Schrittmacher
innerhalb der Europäischen Union zu sein und die Verhandlungen bezüglich der NIS-Richtlinie auf europäischer Ebene voranzutreiben. Das IT-Sicherheitsgesetz
- davon bin ich fest überzeugt - wird für die kommende
NIS-Richtlinie Vorbild sein. Insoweit ist das kein rein
nationaler Ansatz,
Herr Kollege, ich muss Sie noch einmal bitten, zum
Schluss zu kommen!
- sondern ein Vorbild für die europäische Ebene. Mit
einem entsprechend konstruktiven Ansatz, denke ich,
sollten wir auch die parlamentarischen Verhandlungen
führen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Halina
Wawzyniak von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Was wir grundsätzlich vom IT-Sicherheitsgesetz halten, hat mein Kollege Jan Korte schon gesagt. Prinzipiell ist das Anliegen komplett richtig. Aber
es hilft nicht, etwas richtig zu meinen, man muss es auch
richtig machen.
({0})
Ich werde jetzt versuchen, ein wenig in die Details zu
gehen. Ich fange damit an, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz bis zu 50 Stellen bekommen soll. Das
macht 3,3 Millionen Euro aus. Jetzt ist die Frage: Wofür
eigentlich? Ganz am Ende des Gesetzentwurfs schreibt
der Normenkontrollrat: Der Stellenaufwuchs
resultiert aus der Auswertung der vom BSI
- dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zur Verfügung gestellten Informationen und sich
daraus … ergebenden Handlungserfordernissen.
Abgesehen davon, dass ich es politisch falsch finde,
dass das BSI offensichtlich Daten an das Bundesamt für
Verfassungsschutz weitergibt, stellt sich jetzt die spannende Frage: Auf welcher Rechtsgrundlage passiert das
überhaupt?
({1})
Sie verweisen in Ihrem Gesetzentwurf auf den § 8 b
des BSI-Gesetzes. Da werden aber nur Unterrichtungspflichten geregelt, kein Recht zur Datenübermittlung.
Das Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein
hat richtig festgestellt: Auch im Bundesverfassungsschutzgesetz findet sich keine Regelung bezüglich einer
Pflicht des BSI, Daten an das BfV zu übermitteln. Das
BSI-Gesetz regelt in § 3 Nummer 13 b Folgendes: Es besteht eine Unterstützungspflicht des BSI
… bei der Auswertung und Bewertung von Informationen, die … im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse nach den Verfassungsschutzgesetzen des
Bundes und der Länder anfallen …
Auch dort steht nichts davon, dass das BSI Informationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergeben darf.
({2})
Sie begründen also einen Stellenaufwuchs beim Bundesamt für Verfassungsschutz mit einer Datenweitergabe
durch das BSI an das Bundesamt für Verfassungsschutz,
für die es keine Rechtsgrundlage gibt. Sie merken doch
selbst, dass das irgendwie nicht geht, oder?
({3})
Da ich viele wertvolle Stunden meines Lebens in der
Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ verbracht
habe, ärgert mich noch etwas. Offensichtlich werden
nämlich die Berichte dieser Enquete bei der Erstellung
von Gesetzentwürfen einfach nicht berücksichtigt. Da
muss man sich die Frage stellen: Wozu machen wir eine
solche Enquete dann überhaupt?
({4})
Die Projektgruppe „Zugang, Struktur und Sicherheit
im Netz“ hat beispielsweise kritische Infrastrukturen definiert. Ihr Gesetzentwurf nennt Sektoren kritischer Infrastrukturen. Aber die Sektoren „Staat und Verwaltung“
sowie „Medien und Kultur“ tauchen im Gesetzentwurf
nicht auf. Wenn Sie mir jetzt mit Länderhoheit kommen,
dann sage ich: Nehmen Sie wenigstens die Bundesverwaltung mit hinein, und reden Sie mit den Ländern, damit auch diese zwei Sektoren noch aufgenommen werden!
({5})
Auch vom sogenannten Kerckhoff-Prinzip ist bei Ihnen nichts zu lesen, obwohl die Enquete empfohlen hat,
auf dieses Prinzip zu setzen. Das Prinzip besagt, dass
kritische Infrastrukturen Systeme benötigen, deren
Funktionsweise prinzipiell vollständig offengelegt werden kann. Die Enquete urteilte - ich zitiere -:
Der Open-Source-Weg, also das Kerckhoff-Prinzip,
ist daher für Kritische Infrastrukturen ein geeigneter Weg.
Auch davon steht nichts in Ihrem Gesetzentwurf, obwohl das in der Enquete einstimmig so gesehen worden
ist.
Sie hätten den Gesetzentwurf auch nutzen können
- das ist der letzte Punkt -, um Regelungen zu schaffen,
die Sicherheitsforscher und Entdecker von Sicherheits9048
lücken vor straf- und zivilrechtlicher Verfolgung schützen, wenn sie damit verantwortlich umgehen. Das hatten
Linke, Grüne und SPD in einem Sondervotum in der
Enquete gefordert.
({6})
Kurz und gut: Sie machen mit dem Gesetzentwurf ein
wichtiges Anliegen durch einen komplett falschen Ansatz kaputt. Ich kann nur hoffen, dass wir in der weiteren
Debatte dem eigentlich sinnvollen Anliegen noch sinnvoll Rechnung tragen.
({7})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christina
Kampmann von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
gibt ein paar Dinge, ohne die diese Digitalisierung, von
der jetzt alle sprechen, nicht funktionieren kann: Sicherheit zum Beispiel. Ohne Sicherheit kein Vertrauen, ohne
Vertrauen keine Nutzung, ohne Nutzung keine Angebote.
Aber welche Verantwortung hat eigentlich der Staat,
wenn es um die Sicherheit im Netz geht? Schauen wir
uns dazu ein Zitat von Günther Oettinger, seines Zeichens Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft in der Europäischen Union, an.
({0})
- Nein, ich meine nicht das aktuellste, Herr von Notz, in
dem er die Verfechter der Netzneutralität als talibanartig
bezeichnet.
({1})
Das habe ich weder verstanden noch konnte ich talibanartige Züge bei mir oder bei Ihnen feststellen.
({2})
Ich meine das Zitat, mit dem Günther Oettinger quasi
seine Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament
gehalten hat. Nach dem Skandal um Nacktfotos aus gehackten Apple-Benutzerkonten gefragt, antwortete
Oettinger:
Wenn jemand so blöd ist und als Promi ein Nacktfoto von sich selbst macht und ins Netz stellt, hat er
doch nicht von uns zu erwarten, dass wir ihn schützen.
Hat er das wirklich nicht? Und was ist mit denjenigen,
die so blöd sind und über das Internet sogar Informationen verschicken oder einkaufen? Sind sie Opfer oder Täter? Haben sie eine Schuld, oder haben sie eine Mitschuld? Wer ist eigentlich zuständig für Sicherheit im
Netz? Und wie gehen wir damit um, wenn es dabei nicht
um Fotos, sondern um Infrastrukturen wie Verkehr, Gesundheit, Wasser oder Energie geht, also solche kritischen Infrastrukturen, die maßgeblich für das Funktionieren unseres Gemeinwesens, die öffentliche Sicherheit
und Ordnung sind? Das IT-Sicherheitsgesetz, über das
wir heute diskutieren, gibt Antworten und formuliert
eine staatliche Verantwortung, von der ich zutiefst überzeugt bin, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Aber brauchen wir denn überhaupt ein IT-Sicherheitsgesetz? Ich sage eindeutig Ja. Denn die Gefahr, Opfer eines Cyberangriffs zu werden, ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Cybercrime ist heute die fünftteuerste
Verbrechensart der Welt. Angriffe sind von nahezu jedem Ort der Welt zu jeder Zeit und auf die unterschiedlichsten Ziele möglich. Gleichzeitig sind immer mehr
technische Systeme mit dem Internet verbunden und
auch untereinander vernetzt.
Es ist eine Sache, ob sich Rihanna und Co. mit plötzlich auftauchenden Nacktfotos im Netz rumschlagen
müssen. Eine andere Sache ist es, ob es einen gezielten
Angriff auf eine kritische Infrastruktur gibt; denn dieser
kann eine Bedrohung für unsere ganze Gesellschaft sein.
Hier hat der Staat eine klare Verantwortung. Die Frage,
die wir uns heute stellen, ist: Kann er dieser Verantwortung mit dem IT-Sicherheitsgesetz gerecht werden? Um
die Antwort gleich vorwegzunehmen: Ja, das IT-Sicherheitsgesetz findet Antworten auf die wesentlichen Herausforderungen, denen wir politisch begegnen müssen.
Herrn von Notz sage ich: Das ist kein deutscher Sonderweg, wie Sie das nennen, sondern das ist ein gutes Beispiel, mit dem wir international vorangehen und auch international Standards setzen werden,
({4})
nicht für alle und nicht immer so umfassend, wie ich mir
das gewünscht hätte - dazu sage ich gleich noch etwas -;
aber es bildet sehr wohl eine Grundlage, auf der man
aufbauen kann und die in einer funktionierenden Sicherheitsarchitektur eine zuverlässige Basis bilden wird.
Aber schauen wir uns einmal die Inhalte an: Worum
geht es in diesem Gesetz eigentlich, und welche Ziele
können damit tatsächlich erreicht werden? Ich möchte
vor allem auf zwei Punkte eingehen, die in der öffentlichen Diskussion besonders im Fokus standen.
Zum ersten Mal gibt es für Betreiber kritischer Infrastrukturen eine gesetzliche Verpflichtung, einen Mindeststandard an IT-Sicherheit zu schaffen und einzuhalten. Das ist den einen zu wenig, weil die
Branchenverbände selbst Vorschläge für Sicherheitsstandards machen können; den anderen ist der bürokratische
Aufwand zu hoch, insbesondere was die Meldepflicht an
das BSI angeht. Was sie damit verkennen, ist die Tatsache, das IT-Sicherheit zwar teuer ist, aber ein Mangel an
Sicherheit um so vieles teurer ist, dass sich heute niemand mehr der Illusion hingeben darf, man könne darauf
wirklich ernsthaft verzichten, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit der
Möglichkeit zur grundsätzlich anonymen Meldung einen
guten Kompromiss für alle Akteure gefunden haben, der
die Arbeit des BSI in wesentlichen Punkten erleichtern
wird und gleichzeitig die Widerstandsfähigkeit der
Netze im Bereich kritischer Infrastrukturen erhöht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zweitens auch noch ein paar Punkte zum Thema BSI sagen. Ich finde es richtig und wichtig, dass das BSI im
Rahmen des IT-Sicherheitsgesetzes gestärkt wird. Die
Zuständigkeit des BSI geht inzwischen weit über die Abwehr von Gefahren für die IT des Bundes hinaus: Es
dient zunehmend auch Unternehmen, Verwaltungen und
der Politik als Ansprechpartner in Fragen von Cybersicherheit. Herr Korte, es für diese Aufgabe mit zusätzlichen Stellen zu stärken, ist die richtige Entscheidung.
Dazu gibt es keine Alternative.
({5})
- Das haben auch Sie in diesem Kontext erwähnt. Ich
habe bei Ihrer Rede sehr genau zugehört; davon können
Sie ausgehen.
({6})
Was aber nicht geht - das sage ich in aller Deutlichkeit auch im Hinblick auf die Berichterstattung der vergangenen Tage -, ist eine Doppelfunktion des BSI, die
zwei Dinge in sich vereint, die quasi genauso unvereinbar sind wie die rechtliche Gleichstellung von Mann und
Frau und die faktische Entgeltungleichheit im 21. Jahrhundert von immer noch 22 Prozent.
Das BSI hat eine klare Rolle in der Cybersicherheitsarchitektur des Bundes und eine eindeutige Zuständigkeit für die defensive Sicherheit in unserem Land. Eine
Doppelfunktion, mit der auf der einen Seite die Bürger
und die Unternehmen geschützt werden sollen, auf der
anderen Seite aber aktiv dazu beigetragen würde, Sicherheitslücken erst zu ermöglichen, würde nicht nur der
Glaubwürdigkeit des BSI, sondern auch der Politik insgesamt schaden. Deshalb wollen wir IT-Sicherheit für
und nicht gegen die Menschen in unserem Land schaffen. Um diesen Konflikt grundsätzlich zu vermeiden,
setzt sich die SPD auch weiterhin für eine größere Unabhängigkeit des BSI ein.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, tatsächlich
gibt es weitere Punkte, auf die wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben, die aber in diesem Entwurf des ITSicherheitsgesetzes noch nicht auftauchen, obwohl ich
sagen würde: Sie passen da eigentlich ziemlich gut hinein.
Ich denke zum Beispiel an die Aussage, dass Deutschland Verschlüsselungsstandort Nummer eins werden
soll. In meinen Ohren klingt das jedes Mal richtig gut.
Fakt ist aber: Verschlüsselung geschieht nur selten von
selbst. So etwas wie eine marktgetriebene Verschlüsselung ist zwar zu finden, sie kommt aber ungefähr genauso häufig vor wie eine Niederlage von Arminia Bielefeld im DFB-Pokal, nämlich quasi nie.
({8})
Warum sollte man also nicht eine Verpflichtung zur
Transportverschlüsselung für Telekommunikationsunternehmen aufnehmen?
({9})
Dass IT-Hersteller und -Diensteanbieter für Datenschutz- und Sicherheitsmängel ihrer Produkte haften sollen, steht ebenfalls im Koalitionsvertrag, und auch diese
Regelung hätte ihren Platz in diesem Gesetzentwurf,
weil damit ein deutlicher Gewinn an IT-Sicherheit erreicht werden könnte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, IT-Sicherheit ist die unverzichtbare Bedingung für die Digitalisierung. Ich glaube, das ist heute mehr als deutlich geworden. Ohne Sicherheit im Netz, ohne ein Maximum
dessen, was wir tun können, um unsere Systeme zu
schützen, ist all das, was uns in Zukunft ausmachen
wird, hinfällig.
({10})
Industrie 4.0 ist ohne IT-Sicherheit null und nichtig,
und die Cloud-Technologie wäre ohne Cybersicherheit
komplett sinnlos. Weitere Beispiele sind E-Government,
Smart Meter, autonomes Fahren, intelligentes Wohnen
und digitales Arbeiten. Selbst das Spielen wird in Zukunft zur sicherheitstechnologischen Herausforderung
werden, wenn die just angekündigte WLAN-Barbie in
deutschen Kinderzimmern ihr Unwesen treibt; denn ab
Herbst soll es ein Modell geben, das Gespräche der
Kleinsten in unseren Kinderzimmern aufzeichnen wird.
Es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn die erste
Barbie gehackt wird.
({11})
- Genau, darin sind wir uns einig.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann so viele
Beispiele aufzählen, die zeigen: Vieles von dem, was
heute bereits Realität ist und in Zukunft noch viel stärker
auf uns zukommt, wird schlichtweg nicht möglich sein,
wenn wir nicht ein Maximum an Cybersicherheit gewährleisten. Deshalb ist es gut, dass wir mit dem Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes einen Anfang gemacht
haben, der für entscheidende Bereiche des öffentlichen
Lebens die Schaffung und Einhaltung von Mindeststandards vorschreibt.
Klar ist aber: Das kann tatsächlich nur ein Anfang
sein. Denn die Gefährdungslage wird eher zu- als abnehmen, und nicht nur die technischen, sondern auch die
politischen Herausforderungen werden mit der weiteren
digitalen Durchdringung aller Lebenswelten zunehmend
größer. Lasst uns deshalb nicht auf dem ausruhen, was
wir erreicht haben, sondern die Digitalisierung politisch
so gestalten, dass sie zu dem wird, was sie verdient hat:
zu einem positiven Zukunftsversprechen.
Danke schön.
({13})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Dieter Janecek von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Kampmann,
der Vergleich mit Arminia Bielefelds Rolle im DFBPokal reizt mich nun schon ein bisschen. Sie wollen die
IT-Sicherheit international voranbringen, wie das auch
Kollege Mayer gesagt hat. Aber Champions League ist
das noch lange nicht.
({0})
Das, was Sie hier vorlegen, ist im Gegenteil eher Kreisklasse.
({1})
Kommen wir zum Schutz unserer digitalen Infrastruktur. Die SPD ist bei diesem Thema noch nicht so
lange dabei, aber die Union beschäftigt sich damit schon
seit zehn Jahren.
Sie sind mit diesem Thema in der Tat überfordert. Es
hat zwei Jahre vom ersten Referentenentwurf - damals
noch unter Innenminister Friedrich - bis heute gedauert.
Wie bei der digitalen Agenda insgesamt, kann man auch
hier feststellen: Es ist wahrlich kein großer Wurf. Es ist
eine konsequente Fortsetzung Ihres Klein-Kleins der digitalen Agenda.
({2})
Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Gesetzentwurf zur
Simulation von IT-Sicherheit.
({3})
Das, was wir aber brauchen, ist ein wirkungsvolles Regelwerk, ja sogar ein dynamisches Regelwerk, auf dem
Sie aufbauen und die IT-Sicherheit tatsächlich verbessern können.
({4})
Ihr Ziel ist es doch, die kritische Infrastruktur zu
schützen. Sie nehmen die Wirtschaft in die Pflicht - dabei unterstützen wir Sie -, stellen aber an die eigene kritische Infrastruktur des Bundes nur sehr geringe Anforderungen. Da kann ich die Kritik aus der Wirtschaft
schon verstehen, die da lautet: Das, was ihr von uns verlangt, würden wir gerne auch bei euch sehen. - Das aber
liefern Sie nicht.
({5})
Bei 50 Milliarden Euro liegt nach Schätzungen der
Schaden der deutschen Volkswirtschaft durch Cyberattacken. Der Bundeswirtschaftsminister stellt zu Recht fest,
dass gerade in Kleinbetrieben Bedenken bei der Datensicherheit die Digitalisierung hemmen. Jetzt frage ich Sie
allerdings: Welchen Beitrag also leistet Ihr vorgelegter
Gesetzentwurf? Wird mit diesem Gesetzentwurf der
Wirtschaft geholfen, mit der Gefahr von Cyberangriffen
besser umzugehen? Die Antwort ist eindeutig Nein. Enthält der Gesetzentwurf wirksame Instrumente, die die
Unternehmen zur Verbesserung der IT-Sicherheit benötigen? Auch das ist nicht der Fall. Hilft der Gesetzentwurf
insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen
bei der Digitalisierung? Auch das ist noch weniger der
Fall.
({6})
Sie verlieren sich in Ihrem Gesetzentwurf in Unklarheiten. Das geplante IT-Sicherheitsgesetz wird in dieser
Form keinen Beitrag zur Steigerung der IT-Sicherheit in
Deutschland leisten. Ich sage Ihnen auch, warum. Ihr
Gesetzentwurf schreibt zwar eine Meldepflicht bei ITSicherheitsvorfällen vor. Es bleibt aber völlig unklar,
was mit diesen Meldungen passiert. Das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik kann sich durch
die Dokumentationspflicht ein Lagebild über die IT-Sicherheit verschaffen. Das ist vorgesehen. Die Frage ist
allerdings: Was passiert mit diesen Daten? Die Frage ist
auch: Welche Planungs- und Rechtssicherheit geben Sie
den Unternehmen?
({7})
Schauen wir uns einmal die Begrifflichkeiten an: Der
„Stand der Technik“ solle berücksichtigt werden, heißt
es in § 8 a Absatz 1 Ihres Gesetzentwurfes. „Erhebliche
Störungen“ sollen gemeldet werden, so § 8 b Absatz 4.
Von „kritischer Infrastruktur“ ist in § 1 die Rede. All
diese Begriffe sind unklar definiert. An diesem Gesetzentwurf lässt sich überhaupt nicht erkennen, welche Unternehmen von der Meldepflicht überhaupt betroffen
sind.
({8})
Alles in allem - die Liste ließe sich noch lange fortsetzen -: So viel Unklarheit hilft Unternehmen bei der
IT-Sicherheit nicht weiter. Dass Unternehmen und ihre
Verbände Meldepflichten kritisieren, ist natürlich wenig
überraschend. Dennoch stellt sich hier schon die SinnDieter Janecek
frage: Wo ist denn hier der direkte Beitrag zur Verbesserung der IT-Sicherheit? Tragen die vorgesehenen verschärften Berichtspflichten tatsächlich dazu bei, das ITSicherheitsniveau von Unternehmen zu verbessern? Der
Schwerpunkt Ihres Gesetzentwurfes müsste doch vielmehr auf der Behebung von und dem vertrauensvollen
Austausch über IT-Sicherheitslücken und -Schwachstellen liegen. Das tut er eben nicht.
({9})
Sie bieten auch keinen Anreiz, Angriffe möglichst früh
zu identifizieren und dadurch Schaden abzuwenden. Im
Gegenteil: Sie schaffen eine Meldebürokratie, deren Verwertung, Analyse und Bereitstellung unklar bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuelle Bundesregierung und die Vorgängerregierung waren beim
Thema IT-Sicherheit jahrelang im Dämmermodus. Jetzt
sind Sie endlich aufgewacht. Das ist gut so; da stimme
ich auch Herrn Korte zu, da gehen wir in eine Richtung.
Die Herausforderungen sind komplex; das ist keine
Frage. Der vorgelegte Gesetzentwurf überzeugt aber
nicht, weder inhaltlich noch konzeptionell; denn er hilft
nicht, die Herausforderungen in der IT-Sicherheit zu bewältigen. Der Schutz kleiner und mittelständischer Unternehmen und der Privatuser vor Cyberangriffen bleibt
dabei außen vor. Das kann uns nicht zufriedenstellen.
Deshalb: Wenn Sie Champions League sein wollen,
dann machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben. Auf unsere
konstruktive Begleitung dabei können Sie sich verlassen.
({10})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Clemens
Binninger von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Industrie 4.0, Internet der Dinge, Cloud Computing
und Smart Meter sind nur einige wenige Begriffe, die
zeigen, wie sehr sich auch unsere Wirtschaft verändert
und dass immer mehr vom Austausch von Informationen
und Daten abhängt. Darüber sollten wir uns klar sein,
Herr Kollege von Notz. Denn Sie erwecken immer wieder den Eindruck, man könnte mit staatlicher Regulierung alles lösen.
({0})
Das wird nicht gehen.
Die Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben,
sind meiner Ansicht nach von drei Punkten bestimmt:
von Innovationen - auf sie haben wir nicht immer direkt
Einfluss -, von Geschäftsmodellen - dabei geht es um
die Frage, womit man Geld verdienen kann; das ist einer
der größten Treiber -, und vom Verhalten der Kunden,
egal ob es Unternehmen sind, die immer mehr auf Technik setzen müssen, oder ob es der Privatnutzer ist, der
sich dazu entschließt, künftig alles online und mithilfe
von Apps und Ähnlichem zu machen.
Das sind die drei entscheidenden Punkte. Sie haben
eine so starke Dynamik, dass es keine Regierung und
keine Partei geben wird, die sagt: Wir können alle Gefahren sofort erkennen und schaffen vorneweg entsprechende Regelungen. - Das ist schlicht und einfach nicht
möglich. Der Gesetzgeber muss diese Entwicklungen im
Blick behalten und dann - er wird aber immer einen
Schritt hinterher sein - richtig reagieren und eine gesetzliche Regelung schaffen. Das tun wir heute.
Wir reden heute über ein sehr spezielles Segment. Es
geht um kritische Infrastrukturen. Ich verstehe nicht, warum kaum ein Debattenbeitrag ohne die üblichen Warnungen vor dem Verfassungsschutz und der Vorratsdatenspeicherung auskommt. Das geht am Thema vorbei.
({1})
Ich würde gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wir
kritische Infrastrukturen schützen können. Aber dann
müssen wir uns von solchen Aussagen lösen und bereit
sein, in der Sache zu diskutieren.
({2})
Dazu war bislang eher wenig zu hören.
Es mag parteipolitisch nett klingen, wenn Sie sagen
- darauf haben Sie ein paarmal abgehoben -, wir seien
aufgewacht, würden aber immer noch zu wenig machen.
Das sind doch die üblichen rhetorischen Floskeln, mit
denen man in der politischen Debatte, finde ich, eher für
Langeweile als für einen konstruktiven Dialog sorgt.
({3})
- Ja, wir regieren seit zehn Jahren.
({4})
Das ist gut für dieses Land, wie ich finde.
({5})
- Es ist natürlich ganz toll, wenn die SPD mit dabei ist.
Das habe ich vergessen. Aber es stimmt schon.
({6})
Übrigens hat die Netzpartei Die Grünen in dieser Zeit
keinen Gesetzentwurf vorgelegt. Auch in den Ländern
haben Sie sich nicht mit Maßnahmen zur IT-Sicherheit
hervorgetan. Wir haben in dieser Zeit das BSI gestärkt.
Wir haben eine Anti-Botnet-Initiative und die Allianz
für Cyber-Sicherheit auf den Weg gebracht. Was das
Thema De-Mail angeht, ist zu sagen, dass eine Komplettverschlüsselung vorgesehen ist.
({7})
Sie mögen alles als zu langsam und zu wenig kritisieren.
Aber wir haben mehr gemacht als Sie alle, Grüne und
Linke in der Opposition, in den ganzen Jahren zusammen. Sie haben das Thema auch nicht entdeckt, und Sie
haben bislang auch keine konstruktiven Vorschläge vorgelegt.
({8})
Trotzdem - deswegen habe ich meine Ausführungen
so eingeleitet - kann man beim Thema IT-Sicherheit nie
den Punkt definieren, an dem man feststellen kann: Nun
haben wir alles gemacht; es bleibt nichts mehr zu tun. Das wird nicht möglich sein, weil die starke Dynamik
bleibt und von uns verlangt, dass wir immer wieder etwas tun müssen.
Zu den Herausforderungen bei den kritischen Infrastrukturen haben Sie kaum ein Wort verloren, obwohl
die Linken und die Grünen sonst immer sagen, der Staat
tue zu wenig bei der Spionageabwehr. Aber wenn die
Behörde, die für Spionageabwehr zuständig ist, der Verfassungsschutz, mehr Stellen bekommt, dann ist das
auch wieder nicht recht. Das ist unglaubwürdig und
überzeugt in keinem einzigen Punkt. So widersprüchlich
kann nur die Linke argumentieren.
({9})
Vor welchen Herausforderungen stehen wir eigentlich? Herr Kollege von Notz, Sie haben vorhin ein sehr
dramatisches Bild gewählt: In Deutschland brennt die
Hütte, was die IT-Sicherheit angeht. - Das könnten Sie
sicherlich weiter ausdehnen, aber ich würde es nicht so
dramatisch formulieren.
({10})
- Jetzt wird es gleich dunkel, aber erst nach meiner
Rede.
({11})
Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht, Herr Kollege
von Notz. Ich gebe Ihnen recht, dass wir überhaupt nicht
wissen, wo kritische Infrastrukturen heute angegriffen
werden, weil die Betreiber, privatwirtschaftliche Unternehmen, kein Interesse daran haben, das öffentlich zu
machen, aus Angst vor Rufschädigung oder was auch
immer.
({12})
Wir haben überhaupt kein Lagebild, aus dem hervorgeht, woher Angriffe kommen, wie sie aussehen und
welche Sektoren - Energieversorgung, Finanzwirtschaft,
Gesundheitsversorgung oder Logistik - hauptsächlich
angegriffen werden. Wir wissen schlicht und einfach zu
wenig. Es ist unsere Herausforderung, das zu ändern und
zu lösen. Deshalb machen wir dieses Gesetz.
Das Gesetz beinhaltet eine Reihe von Komponenten.
Wir stärken die Rolle des BSI. Man kann sicherlich darüber diskutieren, wie groß die Unabhängigkeit des BSI
sein sollte. Aber dass wir eine Stelle brauchen, die die
Kompetenzen bündelt und der Wirtschaft als Ansprechpartner zur Verfügung steht, kann niemand bestreiten.
Wie gesagt, wir stärken das BSI, wenn es um Produktuntersuchungen, die Warnfunktion und die Rolle als Ansprechpartner für die Wirtschaft geht. Das ist ein guter
und wichtiger Schritt für die Cybersicherheit in diesem
Land.
({13})
Des Weiteren geht es um eine Regelung der Meldepflicht. Unternehmen und Verbände wie BITKOM hatten am Anfang Sorge: Was wird da von uns verlangt?
Können wir uns den damit verbundenen bürokratischen
Aufwand überhaupt leisten? Ist es geschäftsschädigend,
wenn ein großes Unternehmen aus der Finanzwirtschaft
melden muss, dass sein Rechenzentrum gehackt wurde?
- Mittlerweile bekommen wir überwiegend positive
Rückmeldungen. Die Unternehmen sagen: So wie es gesetzlich geregelt ist, ist es gut. Bis zu einem bestimmten
Grad wird die Anonymität gewahrt.
Kleine Unternehmen können eine gemeinsame Meldestelle bei ihrem Verband einrichten, die sich dann an
das BSI wendet. Wir garantieren die Anonymität. Alle
Unternehmen aus dieser Branche profitieren davon, weil
sie gewarnt werden: Bank XY oder Logistiker XY
wurde mit diesem oder jenem Modus Operandi oder diesem oder jenem Trojaner angegriffen. Achtung! Wappnet euch, und setzt entsprechende Maßnahmen um! Dieser Schritt geht mehr als nur in die richtige Richtung.
Er schafft die Grundlage dafür, dass wir unsere kritischen Infrastrukturen für die Bevölkerung und die Versorgung sicherer machen. Hier gehen wir einen wichtigen Schritt nach vorne.
Nun zum Punkt, den Sie ein paarmal kritisiert haben.
Sie haben gesagt, im Gesetz sei zu wenig geregelt und es
enthalte zu viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Auch darüber haben wir uns Gedanken gemacht. Aber ich garantiere Ihnen: Wer sich mit diesem Thema seriös auseinandersetzt, wird erkennen, dass sich in einem statischen
Gesetz nie alle denkbaren Begrifflichkeiten für alle Zeiten regeln lassen: Was ist ein Cyberzwischenfall? Wann
ist er meldepflichtig? Welche Unternehmen und welche
Branchen sind einzubeziehen? Es handelt sich vielmehr
um einen dynamischen Prozess, wie Sie selber gesagt
haben, Herr Kollege von Notz. Deshalb wählen wir den
Verordnungsweg, um es Exekutive, Parlament und Wirtschaft zu ermöglichen, diese Fragen gemeinsam zu beantworten.
Wer gehört zu den Betreibern kritischer Infrastrukturen? Dazu gehört sicherlich nicht jedes Stadtwerk. Vielleicht gehören aber Stadtwerke ab einer bestimmten
Größe dazu. Wir gehen von etwa maximal 2 000 Betreibern kritischer Infrastrukturen aus, die am Ende unter
die Meldepflicht fallen können. Auf jeden Fall werden
wir auch in Zukunft immer wieder überprüfen müssen,
ob wir alle Betreiber kritischer Infrastrukturen erfasst
haben oder ob es neue Sektoren gibt, die es aufgrund bestimmter Geschäftsmodelle zu berücksichtigen gilt.
Diese Dynamik lässt sich nicht im Gesetzgebungsverfahren auflösen. Dazu braucht man den Verordnungsweg.
Herr Kollege, es tut mir leid, aber ich muss Sie in Ihrer Dynamik unterbrechen. Sie müssen zum Schluss
kommen.
Ich überziehe selten, aber noch habe ich Licht.
Einen Punkt möchte ich noch ankündigen. Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sind durchaus offen für konstruktive Vorschläge. Wir selber haben einige
Ideen, wie wir nachjustieren können. Das gilt insbesondere für die Standards in der Verwaltung. Wir werden in
jedem Fall über die Frage der Evaluierung reden müssen. Die Unternehmen bekommen zwei Jahre Zeit für
die Umsetzung. Wir müssen dann nach einer bestimmten
Zeit erneut prüfen.
Dieses Gesetz schafft auf einem wichtigen Feld eine
gute Grundlage, um die IT-Sicherheit in unserem Land
zu verbessern. Ich kann Sie nur dazu einladen, daran
konstruktiv mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Lars Klingbeil
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Binninger für die Tonlage, die er
in diese Diskussion hineingebracht hat, sehr dankbar. Ich
finde, diese Tonlage ist der Diskussion, die wir heute
führen, angemessen.
({0})
Ich erinnere mich noch daran, dass ich gegen Ende
der letzten Legislatur als Sprecher der SPD in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
beim damaligen Innenminister Friedrich eingeladen war;
Konstantin von Notz war auch dabei.
({1})
Wir haben über wegweisende Empfehlungen der Enquete-Kommission geredet.
Eine der Hauptbotschaften des damaligen Innenministers war: Wir müssen im Bereich des IT-Sicherheitsgesetzes endlich vorankommen. - Diese Botschaft
hat sich, glaube ich, vor allem an den damaligen Koalitionspartner gerichtet. Es zeigt aber auch, wie lange wir
die notwendige Diskussion hier im Parlament führen.
Wenn heute der Vorwurf im Raum steht, dass wir zu
lange gebraucht haben, kann ich für diese Koalition nur
sagen: Ich finde es gar nicht schlecht, dass wir nach einem Jahr ein solch wichtiges, ein solch wegweisendes
Gesetz hier auf den Weg bringen. Ich halte es für dringend notwendig, dass wir im Bereich der IT-Sicherheit
endlich vorankommen.
({2})
Ich glaube, dass wir heute einen Paradigmenwechsel
einleiten, den wir nicht zu kleinreden sollten. Wir definieren die Rolle des Staates im Bereich der IT-Sicherheit
heute anders. Wir machen heute mit diesem Gesetz deutlich, dass der Staat eine Aufgabe im Bereich der Kontrolle, des Lagebildes und auch der Informationseinholung hat und dass er dort ganz andere Rechte hat. Wir
alle wissen doch, wie notwendig es ist, dass der Staat
eine andere Rolle bekommt. Das erkennen wir, wenn wir
uns die Verletzlichkeit einer modernen Gesellschaft anschauen, wenn wir sehen, wie verletzlich öffentliche Daseinsvorsorge, der Energiebereich, der Verkehrsbereich,
der Gesundheitsbereich sind. Wir erkennen, der Staat
muss eine andere Rolle bekommen, und die bekommt er
mit diesem Gesetz.
Ich warne aber auch davor - der Kollege von Notz hat
das vorhin angesprochen -, dass wir hier den Eindruck
erwecken, das IT-Sicherheitsgesetz sei die Antwort auf
Snowden und alle Bedrohungen, die sonst irgendwie im
Raum stehen.
({3})
- Konstantin, darum geht es gar nicht, sondern es geht
darum, dass wir heute einen Teil definieren.
Viele andere Aufgaben liegen politisch noch vor uns,
wenn es darum geht, Vertrauen in die IT-Infrastruktur,
Vertrauen in Kommunikation, Vertrauen auch in Geheimdienste wiederherzustellen. Da müssen wir noch
eine ganze Palette von Aufgaben erledigen. Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein kleiner Teil. Andere Punkte sind
genannt worden. Da geht es um IT-Sicherheitsforschung.
Da geht es um die Herstellung von digitaler Souveränität. Da geht es um Verschlüsselungs- und Kryptotechnologien. All das ist auch im Koalitionsvertrag angelegt.
Auch wir Sozialdemokraten werden Druck machen, dass
hier in den nächsten Jahren etwas passiert, wenn es darum geht, Vertrauen in Kommunikation wiederherzustellen.
({4})
Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns im parlamentarischen Verfahren sehr wichtig sein werden, und
dem Kollegen Janecek ausdrücklich anbieten: Wenn es
Ideen gibt, wie man in die Champions League aufsteigen
kann, dann werden wir sie uns im parlamentarischen
Verfahren genau anschauen.
Ein Punkt, den wir sicherlich diskutieren werden - einiges ist angesprochen worden -, ist die Frage: Hat der
Staat für das Lagebild eigentlich auch die Angriffe abzuliefern, die auf ihn ausgeübt werden? Da gab es gestern
noch die Kritik, dass das Gesetz, was diesen Punkt angeht, verfassungswidrig sei. Ich glaube nicht, dass es
verfassungswidrig ist. Aber wir bieten schon an, dass wir
uns das noch einmal anschauen. Es ist auch in unserem
Interesse, dass klar ist, was der Staat melden muss.
Ein Weiteres hat die Kollegin Kampmann angesprochen: die Rolle des BSI. Wir halten es für richtig, dass
das BSI aufwächst, dass es eine neue Verantwortung bekommt. Aber wir wollen auch noch einmal über die Unabhängigkeit des BSI und über die Frage, wie sie gestärkt werden kann, reden. Die Kritik aus der Wirtschaft,
das BSI sei Diener zweier Herren, müssen wir im parlamentarischen Verfahren sehr ernst nehmen.
Was die Meldepflicht angeht, kann ich den Vorwurf
der Rechts- und Planungsunsicherheit nicht verstehen.
Wir alle wissen, dass es eine entsprechende Verordnung
geben wird. Wir alle wissen auch, wie schwierig und wie
sensibel die Definition von „kritische Infrastruktur“ ist.
Es geht um die Frage: Welche Angriffe sind es eigentlich, die anonym oder namentlich gemeldet werden müssen? Wenn wir diesen Paradigmenwechsel vollziehen
wollen, dann muss dem eine sensible Debatte vorausgehen. Diese Debatte muss die Politik auch mit der
Wirtschaft sehr sensibel führen. Da hat sich der Innenminister auf den Weg gemacht; da hat sich die Bundesregierung auf den Weg gemacht. Ich halte das für richtig.
Man kann von der Politik nicht immer sofort hundertprozentige Antworten erwarten. Deswegen ist der Weg über
eine Rechtsverordnung hier genau richtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will für uns
noch einmal ausdrücklich sagen: Das ist heute die erste
Lesung. Wir gehen jetzt in ein parlamentarisches Verfahren mit Anhörungen, in denen wir uns viele Punkte sicherlich noch einmal genau anschauen werden. Aber
das, was hier grundsätzlich passiert - dass der Staat eine
andere Verantwortung im Bereich der IT-Sicherheit bekommt -, das ist der richtige Weg. Es wurde Zeit, dass
hier endlich etwas passiert. Wir sind froh, dass es uns
nach einem Jahr Große Koalition gelungen ist, das IT-Sicherheitsgesetz auf den Weg zu bringen. Ich würde mich
freuen, wenn sich die Opposition konstruktiv in die Debatte einbrächte, vielleicht nicht ganz so krawallig, wie
es heute an der einen oder anderen Stelle der Fall war.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Big Data, Internet der Dinge, Industrie 4.0, Smart Grids,
Smart Meter - das sind die Schlagworte, die in dieser
Woche die Diskussionen um die Digitalisierung bestimmen; denn diese Woche ist CeBIT-Woche. Darum geht
es bei der größten IT-Messe der Welt und nicht, lieber
Kollege Konstantin von Notz, um die Snowden-Enthüllungen. Ich habe auf der CeBIT vor allem erlebt, dass
man sich damit beschäftigt, wie sich die Welt verändert,
wenn sie zunehmend vernetzt ist, wenn alles intelligenter, vernetzter und auch smarter wird.
({0})
Wir wissen um die Potenziale dieser Vernetzung für
die Wirtschaft und die Gesellschaft. Wenn man sich nur
den Bereich Landwirtschaft anschaut: Es gibt heute
schon Möglichkeiten, mittels Knopfdruck zu sehen, wie
weit die Pflanzen in ihrer Entwicklung sind, ob Regen
kommt und man das Feld nicht bewässern muss. Maschinen korrespondieren untereinander, setzen sich selbst in
Gang. Das ist Landwirtschaft 4.0. Hier sieht man, wie
vernetzt das alles ist.
Das Gleiche gilt auch bei der Energieversorgung.
Windräder, PV-Kollektoren werden anhand von ITStrukturen gesteuert. Man kann sehen, wie das Wetter
sich entwickelt, wann man viel Strom braucht. Er wird
intelligent gesteuert ins Netz eingespeist. Da wird in den
nächsten Jahren viel passieren.
Es gibt viele Szenarien, die uns guter Hoffnung sein
lassen, dass wir die Chancen der Digitalisierung in
Deutschland nutzen können und alle davon einen Mehrwert haben im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, auf Effizienz und auf Ressourcensparsamkeit.
Dies sind gute Szenarien, aber es gibt auch die Horrorszenarien. Horrorszenarien kann man sich vorstellen,
wenn man einmal darüber nachdenkt, was denn passiert,
wenn genau diese Netze, diese Infrastrukturen nicht
mehr funktionieren oder - schlimmer noch - wenn sie
von außen manipuliert werden. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass die Infrastrukturen, die die Versorgung der Menschen in unserem Land sicherstellen, auch
funktionieren. Diese müssen wir besonders schützen.
Deshalb legen wir heute das IT-Sicherheitsgesetz vor,
das zum einen darauf abzielt, vor allem die kritischen Infrastrukturen wirkungsvoll zu schützen: mit Mindeststandards, mit Meldepflichten; der Minister hat das im
Einzelnen ausgeführt.
({1})
Die zweite Zielrichtung des Gesetzes ist, das Sicherheitsniveau der informationstechnischen Systeme in
Deutschland insgesamt zu heben; denn wir beobachten
immer noch eine gewisse Sorglosigkeit bei UnternehNadine Schön ({2})
men, bei kleinen und mittleren Unternehmen, auch bei
der Bevölkerung. Wir haben die Diskussion etwa um
Snowden, um Hackerangriffe, um Datendiebstahl in großem Umfang, aber das spiegelt sich nicht unbedingt im
Nutzerverhalten wider. Noch heute werden die angemessenen Sicherheitsmaßnahmen, die man ergreifen könnte,
nicht ergriffen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass die
User informiert werden, wenn etwa Angriffe von außen
auf das Netz erfolgen. Deswegen werden wir die Provider dazu verpflichten, das an die Nutzer zu melden. Das
war uns schon bei den Koalitionsverhandlungen ein ganz
wichtiges Anliegen; deshalb haben wir es aufgenommen. Wir werden dafür sorgen, dass die Grundsicherheit
sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Privatpersonen erhöht wird.
Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein Maßnahmenpaket.
Der Minister hat die einzelnen Punkte ausführlich dargestellt. Wir werden in den nächsten Wochen ausführlich
über die einzelnen Punkte sprechen und überlegen, wie
effizient oder effektiv die einzelnen Maßnahmen sind,
welche Wechselwirkungen es aber auch gibt, um dann
möglichst viel Sicherheit für die Menschen in unserem
Land zu gewährleisten.
Ich will der Diskussion nicht vorgreifen, aber zu zwei,
drei Punkten, die schon kritisch angemerkt wurden, etwas sagen.
Das Erste ist: europäische Lösung. Natürlich haben
wir in Europa einen großen Binnenmarkt, aber derzeit
noch mit 28 fragmentierten digitalen Märkten. Das kann
so nicht bleiben. Deshalb begrüßen wir auch sehr, dass
Günther Oettinger die Digitalunion ausgerufen hat. Wir
brauchen natürlich einheitliche Standards in ganz Europa. Was Deutschland jetzt macht, ist, wie die Kanzlerin gesagt hat, die Blaupause für diese Diskussionen auf
europäischer Ebene. Wir bringen das, was wir hier ins
Gesetz schreiben, natürlich auch auf der europäischen
Ebene ein.
({3})
Man erwartet von Deutschland als dem Land, das im Bereich IT-Security unbestritten Vorreiter in Europa ist,
dass wir vorangehen, dass wir unsere Vorschläge einbringen.
({4})
Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir zum einen
mit unserem Gesetz eine Vorreiterrolle einnehmen und
uns zum anderen parallel dazu bei den Diskussionen auf
europäischer Ebene einbringen. Wir können jetzt nicht
warten, bis das in Europa ausdiskutiert ist, bis es eine
Richtlinie gibt, bis diese umgesetzt wird. Wir brauchen
das Gesetz jetzt; denn wir brauchen jetzt mehr Sicherheit. Deshalb machen wir das zweigleisig, und das ist genau der richtige Weg.
({5})
Der zweite Punkt ist die Diskussion über die unbestimmten Rechtsbegriffe. Natürlich muss man als Unternehmen wissen, ob man von einem Gesetz betroffen ist
oder nicht. Insofern muss man sich die Begriffe „kritische Infrastruktur“, „bedeutende Störungen“, „Stand der
Technik“ alle noch einmal anschauen. Aber Digitalisierung ist eben schnelllebig. Deshalb muss das Gesetz so
gestaltet sein, dass wir nicht bei jeder technischen Neuerung im Bundestag ein neues Gesetzgebungsverfahren in
Gang setzen müssen, um auf diese Neuerung zu reagieren. Wir brauchen ein Gesetz, das flexibel ist, mit dem
wir flexibel auf Neuerungen, auf Entwicklungen eingehen können. Wir müssen es so offen gestalten, dass das
möglich ist. Wir müssen Rechtssicherheit auf der einen
Seite, aber eben auch die Schnelllebigkeit auf der anderen Seite im Auge behalten. Das werden wir uns jetzt bei
den Beratungen noch einmal genau anschauen. Das ist
unser Ziel, und das sind die Kriterien, an denen wir unser Gesetz ausrichten.
({6})
Der dritte Punkt betrifft folgende Fragen: Was passiert mit den Daten? Wie viele Daten werden überhaupt
erhoben? Was hat die Wirtschaft denn selbst davon? Das
sind sehr wichtige Fragestellungen, die Sie auch heute
zu Recht angesprochen haben. Es ist eben so, dass es für
die Unternehmen sensible Daten sind; denn es geht um
Geschäftsprozesse. Deshalb ist es wichtig, dass gewährleistet ist, dass die Daten sicher und vertraulich behandelt werden. Es ist wichtig, dass das nicht ein Einfallstor
für Wirtschaftsspionage wird. Aber das werden wir sicherstellen. Das ist elementar für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb werden wir den Schutz der Daten, die hier erhoben werden, sicherstellen. Es werden
natürlich auch nur die Daten erhoben, die elementar
sind, um beurteilen zu können, ob ein Angriff stattfindet,
um die Angriffsmuster zu erkennen.
Natürlich werden auch die Unternehmen etwas davon
haben. Uns geht es doch nicht nur darum, zu sehen, was
in Deutschland zurzeit an Angriffen da ist. Das Gesetz
hat zum Ziel, mit den Unternehmen zu korrespondieren,
zu warnen und auf diese Angriffe reagieren zu können,
sonst würde das Ganze ja gar keinen Sinn machen. Insofern sind so manche Vorwürfe, die heute hier in den
Raum gestellt wurden, wirklich abstrus. Natürlich wird
das Gesetz so ausgestaltet, dass die Unternehmen etwas
davon haben. IT-Sicherheit ist etwas, was uns als Staat
angeht, was aber auch die Unternehmen selbst angeht;
denn IT-Sicherheit ist auch ein Wirtschaftsfaktor für die
Unternehmen.
Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb werden wir darauf großes Augenmerk legen.
Liebe Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, IT-Sicherheit ist maßgeblich für den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Deshalb werden wir
Nadine Schön ({0})
das Gesetz schnell und zügig beraten, zusammen mit den
Unternehmen, die es betrifft. Ich freue mich schon sehr
auf die Beratungen. Die AG Digitale Agenda wird sich
hier genauso einbringen wie die Innenpolitiker.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Hansjörg
Durz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Vernetzung, insbesondere die Vernetzung der Wirtschaft, ist das zentrale Thema der heute zu Ende gehenden CeBIT in Hannover; Nadine Schön hat bereits
darauf hingewiesen. In der vernetzten Wirtschaft kommuniziert - was sich viele nicht vorstellen können, aber
heute schon sehr real ist - alles mit allem. Das in diesem
Zusammenhang in jüngster Zeit am häufigsten genannte
Schlagwort lautet Industrie 4.0.
Neben dem industriellen Bereich ist eine weitere
praktische Anwendung in dieser vernetzten Welt, die besonders im Fokus der Öffentlichkeit steht, das vernetzte,
auch autonom genannte Fahren. Kaum eine Vision beflügelt die Fantasie der Menschen so wie die Vorstellung
selbstfahrender Autos - im Positiven, aber auch im Negativen. Diese Ambivalenz dem selbstfahrenden Auto
gegenüber lässt sich auf die Digitalisierung insgesamt
übertragen.
In der Erfassung und Analyse riesiger Datenmengen
liegen enorme Potenziale für die Wissenschaft, für die
Wirtschaft, für die Verbrauer, für die Gesellschaft insgesamt. Bei aller Euphorie dürfen wir aber nicht vergessen:
Zunehmende Vernetzung macht Systeme insgesamt auch
anfälliger. Wenn auf immer mehr Systeme über das Internet zugegriffen werden kann, bedeutet dies auch immer mehr potenzielle Einfallstore. Deshalb ist Vernetzung ohne Cybersicherheit nicht denkbar. Vernetzung
und Sicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille.
Die Informationsgesellschaft ist verwundbar - wie
sehr, darauf haben meine Vorredner heute bereits mehrfach hingewiesen. Auch ich möchte noch einmal die
Zahl nennen, dass etwa 40 Prozent der deutschen Firmen
in den vergangenen zwei Jahren das Ziel von Computerkriminalität waren. Die Schadenssumme beläuft sich auf
geschätzte 54 Milliarden Euro. Diese Zahlen zeigen,
dass die Bedrohung nicht abstrakt, sondern real ist. Anzahl und Qualität der Angriffe auf IT-Systeme nehmen
zu.
Dennoch klingen diese Zahlen immer sehr weit entfernt. Um es ein Stück konkreter und fassbarer zu machen, möchte ich ein praktisches Beispiel heranziehen,
das Mitte vergangenen Jahres durch die Medien ging
und zeigt, wie ein solcher Angriff aussehen kann und mit
welchen Folgen zu rechnen ist.
Ein Krimineller auf der Flucht ist möglicherweise auf
freie Straßen angewiesen. Wie er das erreichen kann, haben Wissenschaftler in Michigan demonstriert. Mit der
Erlaubnis der örtlichen Straßenverkehrsbehörde haben
IT-Spezialisten fast 100 drahtlos miteinander vernetzte
Ampeln übernommen und konnten in der Folge die Rotphasen der jeweiligen Ampeln nach Belieben steuern.
Wie konnte das passieren? Die Angreifer haben sich
simpler, aber gleichzeitig signifikanter Sicherheitslücken
bedient.
({0})
Die Drahtlosverbindung war unverschlüsselt, und die
Zugangsdaten waren noch auf die Standardeinstellung
programmiert. Dabei war es den Forschern möglich, lediglich mit einem Laptop und einem Funksender auf das
gesamte System zuzugreifen.
({1})
Als Ergebnis des Feldversuchs hielten die Forscher ein
systemimmanentes Fehlen von Sicherheitsbewusstsein
fest. Es fehlen also nicht die notwendigen IT-Systeme,
sondern es fehlt am Sicherheitsbewusstsein.
Genau hier setzt das IT-Sicherheitsgesetz an.
({2})
Der zentrale Punkt, auf den Politik reagieren muss und
auf den wir mit dem heutigen Gesetzesvorschlag reagieren, ist, Bewusstsein zu schaffen. Ein Leben ohne digitale Vernetzung können und wollen wir uns in der heutigen Gesellschaft nicht mehr vorstellen. Wir leben in
einer vernetzten Welt. Wir erleben diese Vernetzung tagtäglich: in der Kommunikation untereinander, im Büro,
beim Onlineeinkauf, bei der Kommunikation mit Behörden, Unternehmen und Banken. Experten gehen davon
aus, dass im Jahr 2020 weltweit 50 Milliarden Geräte
miteinander vernetzt sein werden, von der Industrieanlage bis zur Uhr, von der PV-Anlage auf dem Dach bis
zur Heizung im Keller. Daraus ergeben sich enorme
Chancen.
Wir müssen aber auch ein Bewusstsein für die Gefahren schaffen, die durch Vernetzung entstehen. Dies gilt
umso mehr, wenn mit dem Einsatz von IT Risiken für
andere geschaffen werden. Das gilt also zuallererst für
den Bereich der kritischen Infrastrukturen, sprich: für
jene Zweige, die für das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft essenziell sind: Energie, Wasser,
Transport, Verkehr und Gesundheit. Angriffe auf kritische Infrastrukturen stellen eine besondere Bedrohung
dar, da ein Ausfall weitreichende Folgen für das Gemeinwohl hätte. Sie gehören daher verstärkt unter
Schutz gestellt.
Der vom Bundesminister vorgelegte Entwurf eines
IT-Sicherheitsgesetzes begegnet diesen Herausforderungen, die sich durch die zunehmende Vernetzung stellen.
Denn erstens schafft er ein Bewusstsein für die Gefahren
und Risiken, die mit der Digitalisierung einhergehen. Es
werden jene Bereiche adressiert, deren Infrastrukturen
als kritisch anzusehen sind, und diesen Bereichen wird
ein gewisses Maß an IT-Sicherheit verbindlich vorgeschrieben.
Zweitens ist im Gesetzentwurf die Zusammenarbeit
der staatlichen Institutionen mit der Wirtschaft, mit den
betroffenen Branchen angelegt. Dies gilt sowohl für die
Festlegung der Einzelsegmente der betroffenen Branchen als auch für die Definition der branchenweiten
Standards. Damit werden die Erfahrung und das Wissen
aus der Wirtschaft genutzt. Der Staat alleine kann und
wird diese Herausforderung nicht in den Griff bekommen. Der Weg führt nur über die Zusammenarbeit von
Staat und Wirtschaft. Dieser Denkansatz liegt diesem
Gesetzentwurf zugrunde und ist vollkommen richtig.
({3})
Drittens bleibt der Gesetzentwurf nicht bei der Definition eines bestimmten Status quo stehen, sondern
nimmt die Dynamik der Digitalisierung auf. Er etabliert
einen fortlaufenden Informationsaustausch zwischen
Wirtschaft und Behörden und sorgt damit dafür, dass Erfahrungen und Erkenntnisse weitergegeben werden. Dies
ist dringend geboten; denn sobald Verwundbarkeiten von
IT-Strukturen bekannt sind, können diese branchenübergreifend genutzt werden. Im weltweiten Netz sind
Lücken in kürzester Zeit gescannt. Umso wichtiger ist
die Kommunikation und Zusammenarbeit untereinander.
Dabei ist es für die Wirtschaft absolut sinnvoll, dass die
Meldungen in aller Regel anonym erfolgen können. Ich
denke, dass damit ein vernünftiger Ausgleich zwischen
privatwirtschaftlichem Interesse und Schutzbedürftigkeit
der Allgemeinheit erreicht werden konnte.
Dieser Ausgleich, dieses Augenmaß ist auch im weiteren Verfahren notwendig, wenn definiert wird, welche
Unternehmen von dem Gesetz konkret betroffen sind. Es
gilt aber auch, den administrativen und organisatorischen Aufwand insgesamt möglichst gering zu halten,
indem zum Beispiel das Gesetz mit bereits existierenden
Anforderungen bestimmter Branchen synchronisiert
wird.
Vernetzung und Sicherheit sind zwei Seiten derselben
Medaille. Die Chancen, die sich aus der Digitalisierung
gerade für die deutsche Wirtschaft bieten, sind überragend. Die Potenziale werden aber nur dann zu heben
sein, wenn bei der Vernetzung auch den Risiken begegnet wird. Bundesminister de Maizière hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird. Er schafft Bewusstsein und geht die
Herausforderungen in einem kooperativen Ansatz zwischen Staat und Wirtschaft an. Der Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes ist ein erster und ein sehr guter Schritt
der Digitalen Agenda der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/4096 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention ({0})
Drucksache 18/4282
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Wöllert, Sabine Zimmermann ({2}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Gesundheitsförderung und Prävention konse-
quent auf die Verminderung sozial bedingter
gesundheitlicher Ungleichheit ausrichten
Drucksache 18/4322
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheit für alle ermöglichen - Gerechtigkeit und Teilhabe durch ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz
Drucksache 18/4327
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. - Wenn
die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen
haben, können wir mit der Debatte beginnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort in der Debatte
hat für die Bundesregierung der Bundesminister Gröhe.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich
mit einigen Schlagzeilen dieser Woche beginnen. Der
Spiegel eröffnet die Woche mit dem Demografietitel
„Deutschland, deine Zukunft 2030“. Vorgestern veröffentlicht die DAK eine Studie über Stress und Doping
am Arbeitsplatz. Und wir stellen fest, dass in Deutschland seit dieser Woche 1 000 Menschen an Masern erkrankt sind. Das alles sind Schlagzeilen dieser Woche,
alles Themen, die damit zu tun haben, was wir jetzt beraten, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung
der Gesundheitsförderung und der Prävention, kurz: den
Entwurf eines Präventionsgesetzes. Ich bin froh, dass
wir nach einer Reihe von Anläufen in der Vergangenheit
jetzt darüber reden. Deshalb stehen wir jetzt an der Wegmarke, um ein solches Gesetz gemeinsam zu erarbeiten
und auf den Weg zu bringen.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in einer Gesellschaft des längeren Lebens, die zugleich durch einen
Wandel der Lebensstile und der Arbeitswelt gekennzeichnet ist, sind gezielte Gesundheitsförderung und
Prävention von entscheidender Bedeutung. Sie tragen
dazu bei, dass Krankheiten erst gar nicht entstehen oder
der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden kann,
dass Menschen gesund älter werden und die Lebensqualität steigt. Wir haben dank guter Lebens- und Arbeitsbedingungen, dank einer sehr guten gesundheitlichen Versorgung in diesem Land und dank des medizinischtechnischen Fortschritts heute gute Chancen, ein höheres
Lebensalter zu erreichen als die Generationen vor uns.
81 Jahre ist aktuell die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland, mit der guten Tendenz: weiter steigend. Jeder von uns wünscht sich auch im hohen Lebensalter gute Gesundheit. Die erfreuliche Nachricht ist:
Wir selbst können dazu beitragen, dass aus der Hoffnung
auf ein gesundes Leben auch Wirklichkeit werden kann.
Damit bin ich bei den Vorteilen einer umfassenden
Gesundheitsförderung. Drei Punkte möchte ich benennen: Prävention unterstützt die Gesundheit, steigert die
Lebensqualität und spart Gesundheitskosten. Es ist also
eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.
Nun kann man gesundheitsbewusste Lebensstile nicht
einfach anordnen, wie man vielleicht Alkoholgrenzen
oder Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr
anordnen kann. Wir können aber einen Rahmen schaffen, der es den Menschen erleichtert, sich dieses Themas
anzunehmen, der sie motiviert, etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Genau diesen Weg schlagen wir mit
dem Präventionsgesetz ein.
Prävention ist keine Frage des Alters. Sie beginnt im
wahrsten Sinne des Wortes in den Kinderschuhen und
sollte auf dem ganzen Lebensweg ernst genommen und
als Anliegen betrachtet werden. Ich erwähnte bereits eingangs den aktuellen Masernausbruch. Von Windpocken
und Grippewelle will ich in diesem Zusammenhang gar
nicht sprechen. Allein dieser Masernausbruch muss für
uns ein Aufbruchsignal sein, die Impfquoten in Deutschland wieder zu erhöhen, meine Damen, meine Herren.
({1})
Deshalb werden wir die Überprüfung und Beratung im
Hinblick auf den Impfstatus, den eigenen und den der
Kinder, zu einer wesentlichen Maßnahme dieses Gesetzes machen. Denn Schutzimpfungen gehören zu den
wirksamsten präventiven Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten.
Es besteht außerdem Handlungsbedarf im Bereich der
Kleinkinderimpfungen, die eben, anders als vom RobertKoch-Institut empfohlen, häufig nicht bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres erfolgen. Vor der erstmaligen Aufnahme in eine Kita sollen Sorgeberechtigte
deshalb in Zukunft umfassend über den Impfstatus beraten werden. Dies stärkt Kinder und Eltern im Sinne einer
guten Gesundheitsvorsorge. Ich sage sehr deutlich: Ich
bin dazu bereit, auch im Rahmen des anstehenden parlamentarischen Verfahrens über die Frage zu diskutieren,
ob die hier vorgesehenen Schritte ausreichen oder wir
weitere Schritte zur Durchimpfung unserer Bevölkerung
gehen müssen. Wir sind es unserer Bevölkerung, die wir
schützen wollen, schuldig, dies sachlich und vorbehaltlos zu diskutieren.
({2})
Prävention und Gesundheitsförderung tragen dazu
bei, Wohlbefinden, Mobilität und Lebensqualität für
Menschen jeden Alters und aller sozialen Schichten zu
erhalten und zu verbessern. Sie dürfen sich also nicht nur
an diejenigen richten, die bereits fit sind; alle müssen
mitgenommen werden.
({3})
Ich möchte das Thema Gesundheitsvorsorge wahrlich
nicht primär unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Aber in einer großen Volkswirtschaft wie der
unsrigen, die zudem unter einem wachsenden Fachkräftemangel leidet und in der länger und flexibler gearbeitet
wird, ist auch unter ökonomischen Gesichtspunkten eine
Verstärkung der Anstrengungen zur Gesunderhaltung
der Erwerbstätigen bis zum Erreichen des Rentenalters
gefragt.
Die in dieser Woche präsentierte Studie der DAK hat
noch einmal unterstrichen, wie wichtig Gesundheit am
Arbeitsplatz ist. Es ist weder im Interesse der Arbeitnehmer noch im Interesse der Arbeitgeber noch im Interesse
des Gesundheitswesens, dass sich die Belegschaft bis
zum Äußersten dopt, um durchzuhalten oder neue
Höchstleistungen am Arbeitsplatz zu erbringen. Dies hat
nur Verlierer zur Folge. Dem wollen wir entgegenwirken.
({4})
Prävention ist gerade in einer alternden Gesellschaft
mit vielen Mehrfacherkrankungen oder chronischen Erkrankungen von besonderer Bedeutung; denn viele der
in diesem Zusammenhang zu nennenden Krankheiten
- Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Erkrankungen des Bewegungsapparats - hängen
eben auch mit Fragen des Lebensstils, einer ausreichenden Bewegung, einer angemessenen, gesunden Ernährung zusammen. Deswegen ist es wichtig, hier die Weichen dafür zu stellen, dass Menschen ihnen rechtzeitig
entgegenwirken.
Wir wissen aus Erhebungen der Berliner Altersstudie,
dass deutschlandweit ungefähr 46 Prozent der Menschen
über 70 unter Bluthochdruck leiden. Wir wissen zugleich, dass eine gesunde Ernährung und ausreichend
Bewegung dem entgegenwirken können.
Was bedeuten dieses klare Bekenntnis und der Aufruf
zu wirksamer Prävention, der sich an alle richtet, nun für
unseren Gesetzentwurf? Mit dem Gesetzentwurf sollen
die Gesundheitsförderung und Prävention insbesondere
in Lebenswelten wie Kita, Schule, Arbeitsplatz oder
Pflegeheim gestärkt und durch gemeinsame Anstrengungen aller Beteiligten gefördert werden. Da, wo Menschen leben, lernen, arbeiten, sollen sie erreicht werden.
Deswegen werden wir die Angebote in den Lebenswelten stärken, indem das entsprechende finanzielle Engagement der Krankenkassen deutlich erhöht wird.
({5})
Zudem erhalten erstmals die Pflegekassen einen ausdrücklichen spezifischen Präventionsauftrag für die Bereiche der stationären Altenpflege, die aber beispielsweise auch Tagespflegeeinrichtungen umfassen. Über
500 Millionen Euro werden damit zukünftig aus den
Krankenversicherungen und den Pflegekassen zur Verfügung stehen. Wir wollen, dass diese Aktivitäten besser
koordiniert werden, auch mit dem, was andere, beispielsweise die Kommunen, in diesen Bereichen tun,
und wir wollen diese Maßnahmen weiter qualifizieren.
Deshalb soll die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung die Krankenkassen mit der Entwicklung von
kassenübergreifenden Konzepten, gerade im Hinblick
auf Chancengleichheit, Verfahren zur Qualitätssicherung
sowie zur Evaluation, unterstützen.
Wir werden bei den Jugenduntersuchungen wie bei den
Vorsorgeuntersuchungen insgesamt den Präventionsaspekt verstärken, indem diese nicht allein krankheitsbezogen ausgerichtet sind, sondern auch risikobezogen und
daher rechtzeitig auf die Gefahren etwa durch Übergewicht, Bewegungsmangel, übermäßigen Alkoholkonsum, zu starken Stress und anderes eingegangen wird.
Ein besonderes Anliegen ist es mir, in der betrieblichen Gesundheitsförderung deutlich voranzukommen
und dabei auch die kleinen und mittelständischen Betriebe mitzunehmen. Wir wissen aus einer Fülle von Beispielen auch von dem betriebswirtschaftlichen Nutzen
kluger Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung,
die den Arbeitsalltag, gerade auch in größeren Betrieben,
prägen.
Wir wollen es den kleinen und mittleren Betrieben
durch die Bündelung von Beratungstätigkeit, aber auch
durch die Zusammenarbeit mit Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern erleichtern, dass betriebliche
Gesundheitsförderung auch in kleinen und mittelständischen Betrieben zu einem wichtigen Merkmal der Arbeitsplatzgestaltung wird. Dies dient dem Vermeiden
von Fehlzeiten und schafft attraktive Arbeitsplätze in
Zeiten von Fachkräftemangel. Deshalb soll dies weiter
gefördert werden.
Dabei führen wir nicht nur das zusammen, was die
gesetzlichen Krankenversicherungen in diesem Bereich
tun, sondern auch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der gesetzlichen Unfallversicherung
werden einbezogen. Ebenso ist es uns wichtig, in der
Umsetzung der nationalen Präventionsstrategie in eine
Landesrahmenvereinbarung - Kernstück ist die Ermittlung regionaler Präventionsbedarfe und eine angemessene Beantwortung - auch alle weiteren Akteure einzubeziehen: Land, kommunale Spitzenverbände usw. Dem
guten Beispiel der UPD folgend, wollen wir in diesem
Zusammenhang einladen, und ich erwarte eine entsprechende Bereitschaft zur Mitwirkung - auch der privaten
Kranken- und Pflegeversicherung.
Mit dem Ihnen heute vorliegenden Präventionsgesetz
mit seinen vielfältigen Maßnahmen schaffen wir einen
wichtigen Baustein, wenn es darum geht, die Gesundheitschancen für alle Menschen in diesem Land zu erhöhen. Deshalb freue ich mich auf die vor uns liegenden
parlamentarischen Beratungen.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Sabine
Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jeder von Ihnen hier möchte, denke ich, gesund durchs Leben kommen. Für uns alle mag das vielleicht weniger ein Problem sein; denn wir haben Einfluss
auf unsere Lebensumstände und sind gesundheitlich gut
versorgt.
Aber das gilt für viele Menschen in diesem Land
nicht. Dabei denke ich an meinen Kollegen aus Zwickau,
der Leiharbeitnehmer ist, drei Kinder hat, alleinerziehend ist und drei Jobs braucht, um überleben zu können:
Er arbeitet erstens im Schichtsystem bei einem Automobilzulieferer, dort fährt er Stapler. Zweitens hat er einen
Minijob in einem Einkaufszentrum, und drittens arbeitet
er am Wochenende zusätzlich bei einem Fußballklub im
Securitybereich mit. Er hat deutlich schlechtere Lebensbedingungen als alle hier in diesem Haus. Menschen, die
wenig verdienen, haben in jedem Lebensalter - von der
Kindheit bis zum Tod - ein doppelt so hohes Risiko,
ernsthaft krank oder zum Pflegefall zu werden oder vorzeitig zu sterben, wie die Menschen, die gut verdienen.
Sabine Zimmermann ({0})
Die Linke sagt: Das ist ein Unding in so einem reichen Land.
({1})
Es kann doch nicht sein, dass sich arme Menschen einige
Untersuchungen beim Arzt nicht leisten können, weil ihnen das Geld fehlt. Schwere Erkrankungen zeigen sich
in der Gruppe der Gutverdiener rund vier Jahre später.
Wer arm ist, stirbt früher, und schon zu Lebzeiten wirkt
sich Armut negativ auf Gesundheit und Lebensqualität
aus.
Die Schere zwischen Arm und Reich ist nach zehn
Jahren Hartz IV und Sozialstaatsabbau deutlich auseinandergegangen. Dass Sie dabei zusehen und das noch
gutheißen können, liebe Genossinnen und Genossen der
SPD, ist unerträglich.
({2})
Sie haben keine Antworten auf dieses sozialpolitische
Problem. Mich wundert schon, wie man die Augen so
vor der Realität verschließen kann.
Der Entwurf der Bundesregierung zum Präventionsgesetz bleibt weit hinter den internationalen Standards
zurück. Der UN-Sozialpakt von 1973, den die Bundesrepublik ratifiziert hat, schreibt das Recht eines jeden
Menschen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit
fest. Gesundheit meint dabei das vollständige geistige,
soziale und körperliche Wohlergehen der Menschen. Um
dieses Ziel zu erreichen, muss die wirksame Verringerung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit in
den Mittelpunkt gerückt werden.
({3})
Schon Heinrich Zille hat gesagt:
Man kann einen Menschen mit einer Axt erschlagen, man kann ihn aber auch mit einer Wohnung erschlagen.
Soll heißen: Wohnbedingungen, das gesellschaftliche
Umfeld, aber auch die Arbeitsbedingungen bestimmen
entscheidend, ob Menschen gesund bleiben oder nicht.
Was heißt das nun? Ich sage, dass Menschen nur gesund
leben können, wenn bestehende sozial-, geschlechts-,
behinderungs- und migrationsbedingte Unterschiede abgebaut werden.
({4})
Die Linke ist fest davon überzeugt, dass Gesundheitsversorgung und Prävention als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe verstanden werden müssen.
({5})
Daher helfen zum Beispiel Ihre Kampagnen zum individuellen Gesundheitsverhalten, Herr Spahn, überhaupt
nicht. Gesunde Lebensbedingungen müssen in allen Bereichen - Betrieb, Stadtteil, Schule, Wohnen oder wo
auch immer - geschaffen werden.
({6})
Es braucht für alle Menschen Rahmenbedingungen, und
diese Rahmenbedingungen müssen allen Menschen gleichermaßen ein gesundes Leben ermöglichen.
({7})
Fakt ist: Die Menschen mit dem größten Risiko, zu
erkranken, behindert zu sein oder vorzeitig zu sterben,
sind zugleich die mit dem geringsten Einkommen, dem
geringsten Bildungsstand, der schwächsten sozialen Unterstützung und mit dem geringsten politischen Einfluss.
Hier muss die Politik ansetzen: Arbeitslosigkeit bekämpfen, Rahmenbedingungen für gute Arbeit schaffen, Bildungschancen eröffnen und Ausgrenzungen beenden.
({8})
Aber Ihre bisherige Politik setzt den unsozialen Weg der
Vorgängerregierungen weiter fort, und der ist für viele
Menschen in unserem Land eine Sackgasse und führt
aufs gesellschaftliche Abstellgleis. Aber was ist auch anderes von einer Regierung zu erwarten, in der der kleinere Partner, die SPD, die Agenda-2010-Politik und die
Hartz-Reformen als Grundstein für ein vermeintliches
Jobwunder feiert und der größere Partner, die Union,
Europa seit Jahren mit Spardiktaten malträtiert.
In Griechenland erleben wir, was Ihre Sparpolitik angerichtet hat. Sehr viele Menschen haben keine Krankenversicherung mehr, damit keinen Zugang zur Krankenversorgung, Operationen gibt es nur mit Vorkasse,
Frauen finden keinen Platz mehr für eine sichere Geburt,
({9})
weil sie die Kosten der Entbindung selbst tragen müssen,
die Zahl der Totgeburten ist um ein Viertel angestiegen,
und es gibt keine Versorgung mehr mit wichtigen Krebsmedikamenten. Was können wir da wohl anderes erwarten?
Spätestens bei diesen drastischen Beispielen, meine
Damen und Herren der Regierungsfraktionen, müssten
Sie eigentlich vor Scham rot anlaufen.
({10})
Es gibt eine Lösung, und die heißt: Die Schere zwischen
Arm und Reich muss endlich geschlossen werden.
({11})
Die Umverteilung von oben nach unten - Herr
Lauterbach, das sagen Sie auch - muss ganz oben auf
der Tagesordnung stehen. Nur so können wir etwas in
Deutschland verändern.
Danke schön.
({12})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Helga KühnMengel von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Frau Kollegin Zimmermann, Sie hätten erwähnen müssen, dass die
Senkung der Arbeitslosigkeit und der Mindestlohn, der
den Status von wenigstens 3,7 Millionen Menschen verbessert hat, ganz wesentliche Beiträge zur Gesundheitsförderung und zur Prävention sind,
({0})
nicht nur wegen der verbesserten Einnahmesituation der
Menschen, sondern auch, weil Arbeit Teilhabe ist. Das
ist nämlich auch ein gesundheitsfördernder Aspekt.
Mit Blick auf die Gruppen, die Sie angesprochen haben, ist viel getan worden, nicht nur durch erhebliche
Anstrengungen im Bildungsbereich, durch die Verstetigung der Frühen Hilfen und deren Ausbau, sondern auch
in der Arbeitsmarktpolitik; den Mindestlohn habe ich bereits erwähnt.
Frau Kühn-Mengel, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Frau Zimmermann zu?
Bitte, Frau Zimmermann.
({0})
Vielen Dank, liebe Kollegin Kühn-Mengel, dass Sie
die Frage zulassen. - Sind Sie meiner Meinung, dass der
Mindestlohn von 8,50 Euro nicht aus der Bedürftigkeit
herausführt, dass wir 10,36 Euro bräuchten?
({0})
- Eigentlich 12 Euro, richtig; es kommt darauf an, welches statistische Amt Sie befragen.
({1})
Auf jeden Fall liegt die Niedriglohnschwelle bei
10,36 Euro. Das heißt, Sie müssten Ihr Leben lang
10,36 Euro pro Stunde verdienen, damit Sie später nicht
in Altersarmut kommen.
Meine zweite Frage ist: Sind Sie auch meiner Meinung, dass die Arbeit anders verteilt worden ist, dass wir
Millionen von Minijobs haben, dass wir Millionen Menschen in Teilzeit haben, dass wir Millionen Menschen im
Niedriglohnbereich haben, die nicht von den Arbeitsmarktreformen, die Sie immer so hochhalten, profitieren?
({2})
Frau Kollegin, ich bin der Meinung, dass der Mindestlohn ein Einstieg in eine Verbesserung der Lebenssituation von Menschen ist. Ich bin der Meinung, dass
knapp 4 Millionen Menschen fast eine Verdoppelung des
Einkommens erleben. Ich bin der Meinung, dass wir auf
diesem Felde weiterarbeiten müssen. Aber es hat größere Erfolge gegeben - die man auch benennen muss -,
die die Lebenssituation der Menschen deutlich verbessern.
({0})
Es ist richtig: Prävention und Gesundheitsförderung
- der Herr Minister hat es bereits gesagt - sind eine Antwort auf den demografischen Wandel, auf längere Lebensarbeitszeiten, auf veränderte Arbeitsbedingungen,
auf die Zunahme chronischer Erkrankungen und auf ungleiche Gesundheitschancen.
Umgekehrt können wir sagen: Wirkungsvolle Prävention und Gesundheitsförderung sind geeignet, Lebensqualität zu erhöhen, die Lebenserwartung zu steigern,
die Zahl der gesunden Jahre zu vermehren und auch
volkswirtschaftlichen Schaden zu verringern. Denken
Sie allein an die große Zahl der Menschen, die durch
psychische Erkrankungen erwerbsunfähig werden.
Um zu sehen, wo wir stehen, ist es manchmal wichtig,
auch einen Blick zurück zu werfen. Seit 1989 gibt es den
Präventionsparagrafen im SGB V. Der Gesetzgeber hat
damals die Krankenkassen mit der Möglichkeit ausgestattet, Angebote für die primäre Prävention zu machen,
im Übrigen ohne nähere Begründungen und Aufträge
und auch ohne Deckelung. Einige große Krankenkassen,
zum Beispiel die AOK Nordrhein, die AOK Niedersachsen und einige Betriebskrankenkassen, haben damals begonnen, betriebliche Gesundheitsförderung zu etablieren, und damit gezeigt, dass auch große Tanker, die oft
als schwerfällig eingestuft werden, innovativ sein können.
Das alles hatte mit einer Enquete-Kommission, die es
damals zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung gab, zu tun. In diese Kommission hatte übrigens Minister Blüm einen in seinen Augen hoffnungsvollen Menschen geschickt, der Horst Seehofer hieß und
der 1996 als Gesundheitsminister nichts Besseres zu tun
hatte, als diese Möglichkeiten der Primärprävention wieder abzuschaffen.
Rot-Grün hat das 1999 dann korrigiert und die Prävention mit einem wichtigen Zusatzauftrag versehen,
dass sie nämlich ungleiche Gesundheitschancen verringern soll.
({1})
Danach gab es noch eine Reihe von Anläufen zu einem
Präventionsgesetz, und zwar 2005, 2007 und 2011. Jetzt
haben wir einen Gesetzentwurf, der es schaffen wird.
({2})
Warum kommen wir immer auf die ungleichen Gesundheitschancen zu sprechen? In den reichen Ländern
ergeben sich etwa drei Viertel der Krankheitslast aus einer bestimmten Gruppe von Erkrankungen. Das sind
- sie sind bereits genannt worden - die Herz-KreislaufErkrankungen, die muskuloskelettalen Erkrankungen,
der Krebs und - mit der größten Steigerung - die psychischen Erkrankungen. Aber diese Erkrankungen - das haben die Sachverständigen immer gesagt, damals auch
der Sachverständige Lauterbach - sind einer primären
Prävention besonders zugänglich. Von daher ist es ganz
wichtig, dass wir auf diesem Gebiet große Anstrengungen unternehmen. Hinzu kommt: Die unteren sozialen
Schichten sind hier überrepräsentiert. Diese erreichen
wir nicht mit Broschüren, Flyern und Vorträgen, sondern
nur da - das gilt für die Erwachsenen und für die Kinder -, wo sie leben, arbeiten, gemeinsam lernen und
spielen: im Setting, in der Lebenswelt.
({3})
Genau da setzt das Gesetz an. Die Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken und
die Förderung der gesundheitlichen Kompetenz werden
zu Pflichtleistungen der Krankenkassen. Die Lebenswelten werden gestärkt. Ab 2016 stehen für jeden Versicherten 7 Euro zur Verfügung, mindestens 2 Euro für die betriebliche Gesundheitsförderung, mindestens 2 Euro für
die anderen Lebenswelten. Insofern kann dort, wo die
Menschen leben, ein Angebot gemacht und verstetigt
werden.
Die Kommune ist der Ort des Präventionsgeschehens.
({4})
Dazu gehört auch das Quartier. Das müssen wir im Gesetzentwurf, Herr Minister, unbedingt noch nachtragen.
({5})
Das Quartier umfasst Kindergärten, Schulen, Betriebe,
Wohnheime, Werkstätten für Menschen mit Behinderung,
({6})
Seniorenzentren, die ambulante und die stationäre
Pflege, das Ehrenamt, die Selbsthilfe und einen hoffentlich starken öffentlichen Gesundheitsdienst, den wir in
diesen Zeiten ganz besonders brauchen.
({7})
Warum gibt es im Setting, in der Lebenswelt, nicht
endlich auch betriebliche Gesundheitsförderung in
Werkstätten für Menschen mit Behinderung? Das vermissen wir.
({8})
Warum keine Präventionsangebote für Ältere in der
Pflege? Wir wissen, dass es auch hier Potenziale gibt,
die - im wahrsten und im übertragenen Sinne des Wortes - zu mobilisieren sind. Warum greifen wir nicht ein
gutes Beispiel, das es in Berlin gibt, auf, dass nämlich
ein Sozialarbeiter der Kommune in die kinder- und jugendärztlichen Praxen kommt - der Kinderarzt hat ja
demnächst die besondere Aufgabe, auch Präventionsangebote und Empfehlungen auszusprechen - und dann die
Angebote, die es in der Region gibt, aufgreift, vermittelt
und dabei mit für den Zugang sorgt?
Idealerweise könnte, so meinen wir, ein kommunaler
Präventionsrat der Frage nachgehen: Welche Bedarfe
gibt es in der Region und im Quartier?
({9})
Alle Betroffenen, alle Akteure sollten mitmachen und
mitgestalten. Ich sage es noch einmal: Teilhabe und Partizipation - das gilt gerade für benachteiligte Gruppen haben per se einen gesundheitsfördernden Effekt. Insofern ist die Einbeziehung der Menschen ganz wichtig.
Wir fangen ja nicht bei null an. Es gibt schon gute Arbeitsansätze. Wir haben eine gemeinsam erarbeitete Arbeitsschutzstrategie. Wir haben eine betriebliche Gesundheitsförderung, die über gute Daten verfügt, die auch
deutlich machen, dass sich gesundheitsfördernde Angebote rechnen. Nacharbeiten müssen wir bei den kleinen
und mittleren Unternehmen; das ist ganz klar.
Und wir haben die Angebote der gesetzlichen Krankenversicherung im Setting schon seit einer Reihe von
Jahren, qualitätsgestützte Angebote für Kinder in Kindertagestätten und Schulen - es geht um Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung -, also vieles, worauf wir
aufsetzen können.
Übrigens: In den Kindergärten werden dann auch die
privat versicherten Kinder mit durchgezogen; die PKV
engagiert sich ja an dieser Stelle nicht, vielleicht noch
nicht. Das ist ein Angebot für alle Kinder, da wird nicht
gefragt: Wie bist du versichert?
Was wir uns wünschen, ist Prävention und Gesundheitsförderung, die auch mit Qualität versehen sind. Da
sieht das Gesetz Modellprojekte vor. Das ist auch ganz
wichtig. Wir haben natürlich unter Freunden auch die
Kritik gehört, dass es falsch ist, die wichtige und gute
Arbeit der BZgA aus Beitragsgeldern zu finanzieren.
Hier müssen zur Finanzierung auch Steuermittel herangezogen werden; das halten wir für wichtig.
({10})
Wir würden den Betrag anheben, der jetzt in die Lebenswelten geht, aber das abhängig machen von den Ergebnissen des Präventionsberichtes. Wir wünschen uns
auch eine Verbindung zu den großen Programmen, die es
noch gibt, etwa „Soziale Stadt“ im Kernbereich der
Menschen; auch das muss Erwähnung finden.
({11})
Schließlich wünschen wir uns eine Förderung der Selbsthilfe; die ist im Präventionsgeschehen ganz wichtig.
Vielen Dank.
({12})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Bürgerinnen und Bürger! Liebe Frau Kühn-Mengel, ich
möchte Ihnen an dieser Stelle bereits sagen, dass Sie für
viele der Vorschläge, die Sie hier gerade gemacht haben,
auf unsere volle Unterstützung zählen können.
({0})
Das ist genau der Ansatz von Gesundheitsförderung und
Prävention, den wir für längst überfällig halten.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Ich möchte meine
Rede damit beginnen, dass ich eine Schülerin einer Förderschule zitiere. Sie hat gesagt: Wir haben keine
Chance, und wir kriegen auch keine. - Meine Damen
und Herren, das ist die Realität: 10 bis 15 Prozent der
Kinder und Jugendlichen in Deutschland befinden sich,
wie die Langzeitstudie des renommierten Robert-KochInstituts darstellt, in keinem guten gesundheitlichen Zustand.
In dieser Woche wurde eine Studie der Bertelsmann
Stiftung zum Einfluss von Armut auf die Entwicklung
von Kindern vorgestellt. Da konnten Sie zur Kenntnis
nehmen, dass in Deutschland jedes sechste Kind in Armut lebt, davon die Hälfte dauerhaft, also nicht nur für
kurze Zeit. Arme Kinder wachsen in der Regel ohne Vater oder mit Eltern auf, die nur geringe schulische und
berufliche Abschlüsse haben. Diese Kinder - das zeigt
die Bertelsmann-Studie - haben bei allen schulrelevanten Entwicklungsmerkmalen Defizite, und das meistens
schon im zweiten oder dritten Lebensjahr, also wenn sie
noch sehr klein sind. Sie haben Probleme bei der Motorik, sie haben Probleme beim Gleichgewicht, bei der
Konzentration, beim Sprechen und beim Verstehen.
Und, meine Damen und Herren, auch das stellt die
Bertelsmann-Studie fest: Diese Kinder werden von fast
allen existierenden Präventionsangeboten nicht erreicht.
Sie werden nicht erreicht durch eine gute Betreuung in
der Kita. Sie werden nicht erreicht von Vorsorgeuntersuchungen. Sie werden zum Beispiel auch im Bereich der
Kariesprophylaxe nicht erreicht. Es sind immer die gleichen Kinder, die von diesen Präventionsmaßnahmen
nicht erreicht werden.
Der bedenkliche Anstieg der Zahl derer, die von zum
Teil extremem Übergewicht und Diabeteserkrankungen
im Kindesalter betroffen sind, ist ein Zeichen von unzureichendem Zugang zu gesunder Ernährung. Hinzu kommen schlechte Wohnverhältnisse, Umweltbelastungen
wie Lärm und Luftverschmutzung. Die Freizeitangebote
sind gering, wenn man sich nicht einmal die Mitgliedschaft in einem Verein leisten kann. So zieht sich ein direkter Zusammenhang von Armut und Krankheit durch
das ganze Leben hindurch bis zum Tod.
In Deutschland sterben ärmere Männer fast elf Jahre
früher als wohlhabende, und bei den Frauen beträgt der
Unterschied fast achteinhalb Jahre.
({1})
Auch in Deutschland gilt: Wer weniger hat, stirbt früher.
Darf das in Deutschland, einem der reichsten Länder der
Welt, im 21. Jahrhundert sein?
({2})
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
daher finde ich die Frage berechtigt, ob Ihr Entwurf eines Präventionsgesetzes, den Sie hier vorlegen, ein großer Wurf ist. Ich sage: Nein. Denn Sozialprosa allein
reicht nicht aus. Wir müssen auch an die Umsetzung gehen. Hier bleiben Sie leider bei dem schwarz-gelben
Vorgängermodell.
({3})
Unsere Umwelt, unser Alltag - das ist unserer Gesundheit Schmied. Dies hat diese Bundesregierung noch
nicht verstanden. Wenn wir die Gesundheit aller dauerhaft fördern wollen, müssen wir in langfristige Maßnahmen an den Orten investieren, an denen die Menschen
ihr Leben, ihren Alltag verbringen: in der Kindertagesstätte, in der Schule, im Betrieb, in Krankenhäusern, in
Heimen und vor allem auch im Stadtteil, wo sie wohnen.
({4})
Das sind die Orte, an denen Gesundheitsförderung erlernt, gemeinsam organisiert und vor allem auch tatsächlich gelebt werden kann. Ziel muss es sein, jede Einzelne
und jeden Einzelnen zu stärken, Gesundheitsrisiken zu
reduzieren und damit am Ende auch Krankheiten zu vermeiden.
({5})
Wir müssen endlich umdenken! Die Aufklärung über
gesunde Ernährung und gesundes Leben führt häufig
nicht zu einer Verbesserung. Oft scheitert es an der Umsetzung, an der Realität: an Billigpamps, an zu hohen
Kosten für gesundes Essen in der Kita, in der Schule und
im Betrieb, an mangelnden Sportmöglichkeiten oder an
einer miesen Arbeitskultur in Unternehmen mit hoher
psychischer Belastung.
Bei älteren Menschen führen Einsamkeit und das
Wohnen in einem Umfeld voller Barrieren zu Pflegebedürftigkeit. Lassen Sie mich dies sagen: Nicht erst im
Pflegeheim müssen wir mit Gesundheitsförderung und
Prävention beginnen, sondern schon im Stadtteil, wo die
Menschen leben; denn hier kann man ansetzen und Pflegebedürftigkeit tatsächlich vermeiden. Deswegen ist die
Arbeit im Stadtteil von besonderer Bedeutung.
({6})
Meine Damen und Herren, wir müssen umdenken!
Wir setzen bei der Gesundheitsförderung auf Chancengerechtigkeit, auf einen konkreten Bezug zu den Alltagswelten der Menschen, auf die Beteiligung aller, auf
Langfristigkeit statt der heute vorherrschenden Projektitis
({7})
und auf die Einbeziehung wesentlicher Akteure und vor
allem auch der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.
({8})
Wir wollen das in den Kitas, wir wollen das in den Schulen, wir wollen das in den Betrieben - nicht nur in den
großen, wofür es schon gute Beispiele gibt, sondern auch
in den kleinen -, und wir wollen das besonders im Stadtteil. Wir wollen kein naturwissenschaftlich-medizinisches Konzept, sondern wir brauchen ein breites sozialpolitisches Projekt für mehr Gerechtigkeit und mehr
Gesundheit.
({9})
Dafür setzen wir auf eine breite Finanzierung, an der
sich alle Sozialversicherungsträger, natürlich die gesetzlichen und die privaten Kranken- und Pflegeversicherungen,
zu beteiligen haben, aber auch die Rentenversicherung, die
Unfallversicherung und die Berufsgenossenschaften.
Alle haben ein Interesse daran, dass ihre Mitglieder nicht
erkranken,
({10})
und natürlich gehören auch der Bund, die Länder und die
Kommunen dazu.
({11})
Frau Kühn-Mengel hat die Bedeutung der Kommunen zu Recht hervorgehoben; denn die Kommunen und
die Kreise sind der Dreh- und Angelpunkt gelingender
Gesundheitsförderung. Keine Ärztin, kein Arzt, keine
Krankenkasse, auch keine Politikerin und kein Politiker
weiß, wie in einer Kita, in einer Schule, in einem Betrieb
und in einem Stadtteil Gesundheitsförderung am besten
gestaltet und gelebt werden kann. Das wissen die Menschen vor Ort am besten; denn sie sind die Experten ihres Stadtteils und ihres Alltags. Deshalb ist uns die Beteiligung aller an diesem Prozess so wichtig.
In den Kommunen laufen diese Fäden zusammen,
und die Konzepte werden dort gemeinsam mit den Menschen entwickelt. Auch das fehlt im Gesetzentwurf der
Großen Koalition bisher leider völlig.
({12})
Individuelle, zeitlich begrenzte Kursangebote führen
nicht zu besserer Gesundheit; das ist bewiesen. Auf
diese wird in Ihrem Gesetzentwurf aber weiter geschworen. Nicht das Werben der Krankenkassen um Versicherte aus der Mittelschicht kann das Leitbild von Prävention sein, sondern das Wissen und die Kompetenz für
alle, gesund zu leben, und vor allem die Möglichkeit, das
auch zu tun, wenn man möchte.
({13})
Das gilt auch für die Schülerin, die ich eingangs zitiert habe. Wir sind davon leider in Deutschland noch
sehr weit entfernt. Daran ändert auch der vorgelegte Entwurf eines Präventionsgesetzes der Bundesregierung
bisher leider nichts. Der Bundesrat hingegen - das
möchte ich ausdrücklich loben - hat eine ganze Reihe
wichtiger Hinweise gegeben und hätte sicher auch noch
mehr zu sagen, vor allem wenn es um die Beteiligung
der Kommunen geht. Von daher bin ich auch nach der
Rede von Frau Kühn-Mengel auf die weiteren Beratungen dieses Gesetzentwurfs gespannt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wenn man über
Prävention spricht, muss man das nicht mit einer Leichenbittermiene tun
({0})
und darf dabei nicht den Eindruck erwecken, als sei das
eine traurige Angelegenheit. Vielmehr sollte man zunächst einmal sagen, dass man sich richtig darüber
freuen kann, welche großen Möglichkeiten die Medizin,
die Sozialwissenschaften und der Wandel hin zu einer
auf Beteiligung gerichteten Demokratie mit viel Freiheit
und mit vielen Einflussmöglichkeiten geschaffen haben.
Auf dem Gebiet der früheren DDR hat sich durch die
friedliche Revolution und ihre Folgen die Lebenserwartung um acht Jahre erhöht. Das war durch Politik bewirkte Prävention.
({1})
Natürlich haben sich auch dadurch, dass es gelungen ist,
Menschen aus der Arbeitslosigkeit und aus der beklagten
und bei viel zu vielen immer noch anzutreffenden Armut
herauszuholen, die gesundheitlichen Chancen verbessert. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik bedeutet, dass
sich als Nebeneffekt auch die gesundheitliche Situation
der Menschen verbessert. Darüber darf man sich auch
mal freuen, finde ich.
({2})
Sie alle haben schon recht, wenn Sie sagen: „Vorbeugen ist besser als heilen!“ Dieses Zitat stammt von dem
Arzt, der Goethe, Schiller und Herder behandelt hat,
Christoph Wilhelm Hufeland.
({3})
- Ja, sie sind alle tot, Frau Kühn-Mengel. Am Ende sind
auch wir alle tot.
({4})
Das ist auch eines der Probleme: Wir sollten nicht der Illusion unterliegen, als könnten wir mit Prävention der
Sterblichkeit entgehen. Wir haben leider - Frau KühnMengel, das ist wichtig - ein Verständnis von Gesundheit, das gewissermaßen mit der Assoziation des ewigen
Lebens verbunden ist.
Wir müssen bei der Prävention achtgeben, so glaube
ich jedenfalls, dass wir nicht diejenigen diskriminieren,
die unter einer Behinderung leiden, krank werden oder
Leistungseinschränkungen durch das Alter erleben. Wir
müssen achtgeben, dass unser Bemühen um Prävention
nicht in eine Art von Gesundheitswahn umschlägt, weil
die Sterblichkeit uns Menschen weiterhin miteinander
verbinden wird. Wir werden auch bei einer erfolgreichen
Prävention Sterbliche bleiben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einmal
als Beispiel für soziale Intervention Rudolf Virchow
nennen. Rudolf Virchow hat hier in Berlin gewirkt. Von
ihm stammt der Satz:
Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die
Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.
Dieser Rudolf Virchow, der an der Charité über Jahrzehnte hinweg einen Lehrstuhl für Pathologie gehabt
hat, hat hier in Berlin die Kanalisation eingeführt. Er hat
hier in Berlin Schlachthöfe eingeführt.
({6})
Er hat zum Schutz armer Menschen die Infektionskrankheiten bekämpft. Deswegen stimmt es: Es ist nicht eine
Leistung allein der Medizin, wenn Prävention gelingt
oder misslingt, sondern es ist eine Frage aller Felder der
Politik.
Ich habe hier schon gesagt, dass wahrscheinlich auch
die Vermeidung einer inadäquaten Energieproduktion
und die Vermeidung von Risiken durch Atomstrom Prävention ist. Das ist das größte gesundheitliche Präventionsprojekt,
({7})
das wir jemals gestemmt haben und in dessen Umsetzung wir uns befinden.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt gibt es die
Frage: Reichen die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Mittel?
({9})
Man kann lange darüber philosophieren, ob die Mittel
reichen. Wir verdoppeln die Mittel. Wir verpflichten die
Krankenkassen, in Zukunft mehr auszugeben. Wir verpflichten die Pflegekassen zum ersten Mal überhaupt, eigene Mittel einzusetzen, um bei den von ihnen Versicherten Prävention zu fördern. Das ist alles gut.
Wahr ist aber auch - das muss man ehrlicherweise sagen -: Der Gesamtbetrag von etwas mehr als 500 Millionen Euro, der dadurch zustande kommt, entspricht ungefähr den Ausgaben, die an einem einzigen Tag in
Deutschland für Behandlungen anfallen. An jedem Tag,
den Gott geschaffen hat, geben die Krankenkassen
500 Millionen Euro für Behandlungen aus.
({10})
Insofern ist das nur ein Schritt auf einem Weg.
({11})
Er ist aber bei weitem nicht der einzige Schritt. Ich
nenne nur das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz. Wir haben auch in früheren Zeiten im Bereich Prävention Schritte unternommen, die sehr wirksam sind.
Egal wie man über einzelne Aspekte diskutiert: Wir
haben bei der Darmkrebsprophylaxe Riesenerfolge erzielt. Wir haben einen Riesenerfolg mit dem Hörscreening bei den ganz kleinen Kindern. Früher musste man
bis zum zweiten Lebensjahr warten, bis man Hörstörungen feststellen konnte. Heute sind schon in den ersten
drei Monaten Interventionen möglich.
Wir haben einen Riesenerfolg beim Screening von
Schwangeren auf Diabetes. Heute tritt der Schwangerschaftsdiabetes nicht mehr als plötzliches Unglück auf,
sondern man kann ihn früh erkennen und etwas dagegen
tun.
Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen dafür, dass
auch ärztliche Primärberatung beispielsweise zu Nikotin
und Alkohol schon in kurzer Zeit Wirkungen erzielt und
dass durch Bewegungsaktivierung viel erreicht wird.
Aber es ist auch richtig, dass weder die Individualmedizin noch eine über Kurse der Krankenkassen vermittelte
Medizin alleine reichen. Vielmehr besteht die Herausforderung für uns darin, die Gestaltung der Gesellschaft als
Ganzes im Blick zu behalten.
Deswegen ist es richtig, von dem eingesetzten Geld
2 Euro pro Tag in die betriebliche Gesundheitsförderung
zu investieren, weil wir damit ein Gesamtkonzept schaffen, mit dem wir die Menschen in den Betrieben, an ihren Arbeitsplätzen, ansprechen können. Das ist enorm
wichtig, weil wir damit die Leistungen von Betriebsärzten, arbeitsmedizinischen Diensten, verantwortlichen
Unternehmen, den dort tätigen betrieblichen Interessenvertretungen und den Gewerkschaften zusammenbringen können. Mit der Arbeitsschutzkonzeption, dem Tätigwerden der arbeitsmedizinischen Dienste in den
Betrieben und der Beratung der Versicherten in den Betrieben können wir ein Gesamtgefüge erreichen, das
dazu beiträgt, dass der Betrieb ein Ort wird, in dem Gesundheitsförderung vorangebracht wird.
Ich glaube, darauf hat die Arbeitnehmerschaft in
Deutschland lange gewartet. Dass das jetzt endlich in
diesem Umfang in Gang kommt, ist ein großer Schritt
nach vorne. Das ist sehr zu begrüßen.
({12})
Herr Abgeordneter, die Kollegin Schulz-Asche hat
den Wunsch zu einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie zulassen?
Ja.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade zu Recht von den positiven Erfahrungen mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement gesprochen. Es gibt in großen Unternehmen schon sehr
viele gute Beispiele. Die Frage ist eher, wie man die
90 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen erreichen kann. Welche Vorstellungen haben Sie, um gerade
die kleinen Unternehmen, zum Beispiel eine Kraftfahrzeugwerkstatt oder einen kleinen Laden, zu erreichen?
Ich glaube, dass es klug ist, wenn man die Handwerkskammern und die Industrie- und Handelskammern
daran beteiligt. Dabei geht es beispielsweise darum, den
Unternehmen deutlich zu machen, dass es schon jetzt
Steuervorteile in erheblicher Höhe gibt. Für jeden Arbeitnehmer können bis zu 500 Euro pro Jahr eingesetzt
werden, ohne als geldwerter Vorteil versteuert werden zu
müssen. Wenn wir es schaffen, die betriebliche Gesundheitsförderung, die in den großen Betrieben schon stattfindet - sie sind in diesem Bereich sehr weit -, mithilfe
der Gewerkschaften, der Unternehmensverbände und
auch der Politik in andere Betriebe zu transportieren,
dorthin, wo ebenfalls ein Interesse daran besteht, dass
die Fachkräfte, auf die man angewiesen ist, möglichst
lange gesund bleiben, dann haben wir dort eine exzellente Chance. Die Bedingungen dafür, dass das gelingt,
werden durch das Präventionsgesetz erheblich verbessert.
Das ist nicht der einzige Schritt. Es muss ein Bewusstsein für die verschiedenen Möglichkeiten geschaffen werden. Ich glaube, damit habe ich Ihre Frage zutreffend und gut beantwortet.
({0})
Ich möchte gerne auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Es wurde kritisiert, dass der ärztlichen
Präventionsempfehlung zu viel Bedeutung beigemessen
wird. Es gibt Kritiker, die fragen: Welche Rolle spielen
die Medizin und insbesondere der ärztliche Beruf im Zusammenhang mit der Prävention? Nehmen wir als Beispiel die Förderung unseres Bewegungsverhaltens. Es
gibt Metaanalysen, die zeigen, dass sich bereits bei einer
moderaten, regelmäßigen Bewegung eine Senkung der
Sterblichkeit um 20 bis 34 Prozent erreichen lässt. Selbst
bei leichter Aktivität von 15 Minuten am Tag lässt sich
das Sterberisiko um etwa 14 Prozent reduzieren. Wir
wissen aus Studien, dass eine ärztliche Beratung, selbst
wenn sie nur kurze Zeit dauert, sowohl beim Ernährungsverhalten als auch beim Genussmittelkonsum - ob
nun Nikotin oder Alkohol - und auch beim Bewegungsverhalten nachhaltige Veränderungen auslösen kann.
Wir können Menschen - genauso wie 90 bis 95 Prozent der gesamten Bevölkerung -, die keine Präventionskurse besuchen und keinen Zugang zur betrieblichen Gesundheitsförderung haben, weil sie arbeitslos sind,
zumindest in der ärztlichen Praxis erreichen und auf
diese Weise durch Gesundheitsförderung und Prävention
eine Wirkung zu erzeugen, für deren Existenz es wissenschaftliche Belege gibt. Niemand muss ein schlechtes
Gewissen haben, wenn er Maßnahmen der ärztlich empfohlenen Prävention in Anspruch nimmt. Mir ist lieber,
dass die ärztliche Präventionsempfehlung Realität wird,
als dass wir uns darüber streiten, wer Mitglied der Nationalen Präventionskonferenz sein soll. Sicherlich ist es
diskussionswürdig, ob hier die professionelle Kompetenz noch mehr gestärkt werden soll. Aber das ist eine
andere Frage.
Der heutige Tag hat uns zu Beginn unserer Debatte
eine Abnahme der Helligkeit beschert. Nun bringt er uns
wieder die Helligkeit der vollen Sonneneinstrahlung.
Das erinnert an bestimmte festliche Tage. In Pennsylvania gibt es eine Stadt namens Punxsutawney. Dort wird
am 2. Februar der Groundhog Day gefeiert. An diesem
Tag grüßt das Murmeltier. Ein bisschen verhält es sich
mit dem Gesetzgebungsprozess zum Präventionsgesetz
wie mit dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Es
fängt immer wieder von vorne an. Irgendwann kommt
ein zeitlicher Schnitt, und dann wird man wieder an den
Anfang der Geschichte zurückversetzt. Ich bin aber fest
davon überzeugt, dass nun der Punkt gekommen ist, an
dem der Start des neuen Tages bedeutet, dass er im
Happy End eines gelungenen und verabschiedeten Präventionsgesetzes enden wird. Lassen Sie uns gut diskuRudolf Henke
tieren und vielleicht noch Verbesserungen an dem Gesetzentwurf vornehmen, wo es möglich ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Wir gehen mit Optimismus in die nun anstehenden Beratungen.
Herzlichen Dank.
({1})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf
der Tribüne! Herr Henke, Sie haben darauf verwiesen,
wie lange schon der Anlauf zu diesem Präventionsgesetz
währt. Es handelt sich nun um den vierten Anlauf. Ich
beginne meine Rede genauso wie der Minister mit einer
Schlagzeile. Nach dem Kabinettsbeschluss im Dezember
titelte die Stuttgarter Zeitung: „Nur Gröhe findet seinen
Entwurf richtig gut“.
({0})
Auch der vierte Anlauf wird wahrscheinlich etwas
schwierig. Damit bin ich wieder bei Ihnen, Herr Henke.
Offenbar sind wir uns darüber einig, dass noch viele
Punkte des Präventionsgesetzes verbesserungswürdig
sind.
Was wurde vor allem kritisiert? Erstens: Nicht geeignet ist dieser Entwurf für die Reduzierung sozialer Ungleichheiten. Zweitens: Nicht alle Sozialversicherungsträger wurden beteiligt. Drittens: die vorrangige
Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Viertens: ein überholtes Verständnis von Prävention.
Dass die Reduzierung sozialer Ungleichheit nicht genügend im Blick ist, hat meine Kollegin Zimmermann
schon gesagt. Frau Schulz-Asche wies darauf hin, und
auch bei Frau Kühn-Mengel kamen einige dieser Punkte
zur Sprache.
Allerdings sind auch andere Kritikpunkte nach wie
vor aktuell. Ich war 33 Jahre Lehrerin, bevor ich in die
Politik ging. Ich bleibe dabei: Ich fange beim Positiven
in diesem Gesetzentwurf an. Dazu findet sich tatsächlich
auch einiges. Ich beschränke mich hier auf vier Punkte:
Erstens: eine größere Hinwendung zum Ansatz der Gesundheitsförderung in Lebenswelten. Zweitens: deutliche Erhöhung der Finanzierungsmittel. Drittens: Einbeziehung der Pflege in die Prävention. Viertens:
Ausweitung der Leistungen für Hebammen.
Trotz dieser positiven Ansätze gibt es grundsätzliche
Kritik von meiner Fraktion, Die Linke, an diesem Gesetzentwurf. Deshalb haben wir einen eigenen Antrag
vorgelegt. Dieser folgt mehr einem modernen, internationalen Ansatz von Gesundheitsförderung.
({1})
Für uns ist Gesundheit Menschen- und Grundrecht an
sich im Sinne der UNO und der WHO, ein Höchstmaß
- das kann man, glaube ich, nicht oft genug wiederholen - an körperlichem, geistigem und sozialem Wohlbefinden.
({2})
Das ist mehr als die Sicherung von Beschäftigungsfähigkeit und die Senkung der Krankheitskosten, die im vorgelegten Gesetzentwurf immer noch im Vordergrund stehen. Es braucht also noch viele Nachbesserungen, damit
ein künftiges Präventionsgesetz internationalen Standards genügt. Einige Vorschläge dazu wurden vom Bundesrat schon eingebracht, und die sollten wir sehr ernst
nehmen.
Was bedeutet Gesundheitsförderung? Es ist ein Prozess, in dem die Menschen lernen, mehr Kontrolle über
ihr eigenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden zu erlangen und es selbst in die Hand zu nehmen,
die Bedingungen dafür, also die Verhältnisse, in denen
sie leben, zu ihren Gunsten zu ändern und zu verbessern.
Das jedoch bedeutet, die Menschen als Expertinnen und
Experten in eigener Sache zu akzeptieren und auch einzubeziehen. Beteiligung der Menschen ist der Schlüssel
für erfolgreiche Gesundheitsförderung.
({3})
Dieser wirkliche Paradigmenwechsel - dass Gesundheit
eben mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit - ist
auch mit diesem Gesetzentwurf nicht gelungen.
Professor Rosenbrock, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, weist in einem Interview im Februar dieses Jahres darauf hin, dass
die steigende Lebenserwartung zu zwei Dritteln durch
freundlichere Lebensverhältnisse, bessere Bildung und,
daraus resultierend, auch weniger belastendes Gesundheitsverhalten begründet ist. Maximal ein Drittel der
Steigerungen geht auf verbesserte medizinische Gesundheitsversorgung zurück. Dennoch glaubten Politiker und
die Bevölkerung, so Rosenbrock, die Gesundheit komme
vom Arzt.
Wo aber können wir körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden positiv beeinflussen? Wir müssen die
tatsächlichen Lebensverhältnisse in den Blick nehmen.
Das können in den Lebenswelten zum Beispiel sein:
Baumindeststandards für Kitas und Schulen, die das natürliche Bewegungsbedürfnis von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Altersgruppen berücksichtigen. Das kann sich aber auch in Schulwegsicherung und
Verkürzung langer Schulwege für Kinder manifestieren.
({4})
- Warten Sie. Zur GKV komme ich in diesem Zusammenhang gleich. - Nicht zu vergessen ist, dass auch die
Gestaltung des Tagesablaufs und das pädagogische
Klima in Kita und Schule das Wohlbefinden der dort
Lernenden, aber auch der dort Arbeitenden positiv oder
negativ beeinflussen können.
Erst vergangene Woche war ich in meinem Wohnort
Spremberg in einer Kita. Ein altes Gebäude ist abgerissen worden, und am gleichen Standort ist ein neues
Gebäude errichtet worden. Zwischenzeitlich waren die
Kinder in einer ehemaligen, viel größeren Kita untergebracht. Sie hatten da viel Platz zum Toben. Die Leiterin
erzählte, wie genussvoll die Kinder sich dort auf den
großen Fluren und freien Flächen - ohne zusätzlichen
Sportunterricht - bewegt haben.
Die neue Kita ist nun barrierefrei, auf die Bedürfnisse
der Kinder ausgerichtet, hat an diesem Standort das
höchstmögliche Maß an Bewegungsräumen innen und
außen, eine Kinderküche, die gute Ernährung erlebbar
und erfahrbar macht.
({5})
Die Türen sind klemmsicher. Der Wickeltisch ist mit
ausziehbarer Treppe. Die Stühle für Erzieherinnen und
Erzieher sind verstellbar. Selbstverständlich hat jedes
Kind im Waschraum seinen eigenen Zahnputzbecher
und seine eigene Zahnbürste. - Da hat die GKV, die gesetzliche Krankenversicherung, keinen Cent reingesteckt.
({6})
- Das ist der Mangel Ihres Gesetzes. Zuhören hilft.
({7})
Das leistet der Gesetzentwurf in keiner Weise. Deshalb sagen wir: Gesamtgesellschaftliche Anliegen müssen auch gesamtgesellschaftlich finanziert werden und
nicht nur durch die gesetzliche Krankenversicherung.
({8})
Frau Kollegin.
Ich komme sofort zum Schluss. - Deshalb schlagen
wir einen Fonds vor, in den alle Sozialversicherungsträger, die Länder und der Bund einzahlen. Von den Gesamtmitteln des Fonds sollen 75 Prozent von den Kommunen abgerufen werden können. Ihnen sollen keine
zusätzlichen Kosten entstehen. So findet Gesundheitsförderung dort statt, wo die Menschen leben und ihre Lebensumwelt selbst mitgestalten können.
Danke.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Edgar Franke, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gesundheitspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Das wussten Sozialdemokraten, Frau Zimmermann,
schon immer.
({0})
Wir wissen: Soziale Faktoren wie niedriges Einkommen,
geringer Bildungsstand und Arbeitslosigkeit haben Auswirkungen auf Gesundheitschancen. Natürlich hängt
auch die Lebenserwartung davon ab. Sozialer Status und
Gesundheit hängen zusammen.
Wir haben 1999 in § 20 SGB V hineingeschrieben
- gerade Sozialdemokraten waren das -: Prävention
muss sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen vermindern.
({1})
Das ist so etwas wie ein sozialdemokratischer Programmsatz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wir müssen mit Präventionsmaßnahmen die gesamte
Gesellschaft erreichen. Aber es ist in der Praxis oftmals
so, dass Präventionsmaßnahmen als Marketingaktionen
der Krankenkassen missbraucht werden, dass vor allen
Dingen junge, gesunde Menschen geworben werden sollen, dass Angebote gemacht werden für Menschen, die
ohnehin auf ihre Gesundheit achten. Das ist ein faktisches Problem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Prävention muss
mehr sein als Aufklärung und Sportkurse. Es kann nicht
darum gehen, dass wir gesunden und fitten Menschen
zusätzlich Gymnastik-, Yoga-, Qigong-Kurse oder was
auch immer anbieten. Wir müssen diejenigen Menschen
erreichen, die aufgrund ihrer Lebensumstände Gesundheit und Vorsorge nicht in den Mittelpunkt stellen.
Natürlich wissen wir alle: Das geht nur in den Lebenswelten. Wir müssen bei den Kitas, in den Schulen,
in den Betrieben, eben in der Lebensgestaltung anfangen. Frau Schulz-Asche, als Kommunalpolitikerin, als
Kommunalpolitiker - ich bin ehemaliger Bürgermeister weiß man, wo gesellschaftliche Veränderungen sich
vollziehen: in der Kommune, in den Quartieren, natürlich in den Sozialräumen.
({3})
Aber Familie ist auch wichtig.
({4})
Die Menschen müssen wir dort erreichen.
Meine hochgeschätzte Kollegin Helga Kühn-Mengel
hat viele Themen angesprochen. Ich möchte ein paar
Schwerpunkte nennen, die für mich wichtig sind:
Erstens. Wir brauchen vor allen Dingen, meine sehr
verehrten Damen und Herren, eine zielgerichtete und
bessere Zusammenarbeit aller Präventionsakteure. Das
ist ganz wichtig. Das sind nicht nur Krankenkassen,
Schulen, Bildungsträger und Kommunen. Ich habe früher bei der Berufsgenossenschaft gearbeitet. Da hatte
man eine Doppelstruktur, einen staatlichen Arbeitsschutz und einen der Berufsgenossenschaften, die in der
Selbstverwaltung organisiert sind. Das sind Themen, die
wir wirklich praktisch, handwerklich angehen müssen.
({5})
Zweitens. Wir brauchen eine nationale Präventionskonferenz, um Ansätze in der Prävention und in der Gesundheitsförderung zu bündeln.
Drittens. Wir brauchen Arbeitsschutz und gesundheitliche Prävention in den Betrieben - mit den Sozialpartnern. Auch das ist ein Thema, das wir uns wirklich im
Detail anschauen müssen.
({6})
Wir müssen viertens den Zugang zu Präventionsangeboten für Personen mit besonderen beruflichen und
familiären Belastungen erleichtern. Ich denke an Alleinerziehende, Schichtarbeiter oder pflegende Familienangehörige. Auch das ist ein Thema, wie wir alle wissen.
Ich war früher einmal Chef einer kommunalen Krankenpflegestation. Da hatten fast alle, die dort gearbeitet haben, Rückenprobleme. Aber das bedeutet natürlich auch,
dass wir, gerade wenn wir Gesundheitspolitik machen,
so etwas erkennen müssen.
Wir müssen fünftens Früherkennungsuntersuchungen
für Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiterentwickeln.
Es gibt noch viele Details, die man nennen könnte.
Der Herr Minister hat beispielsweise den Impfschutz
bzw. die verpflichtende Impfberatung vor Aufnahme in
der Kita angesprochen. Das sind, sagen wir einmal, hilfreiche Beispiele, die man nennen kann. Das ist, Frau
Schulz-Asche, mehr als Sozialprosa. Das hat wirklich
materielle Substanz. Im Übrigen darf ich Ihnen auch
noch sagen: Alleine dass wir 2016 die Leistungen auf bis
zu 7 Euro pro Versichertem und Jahr verdoppeln, wie es
in diesem Gesetz steht, ist eine große Leistung, und das
können Sie ruhig anerkennen, liebe Frau Schulz-Asche.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir besonders am Herzen
liegt. Das ist der Diabetes, mit dem ich mich in letzter
Zeit auch als Ausschussvorsitzender in der einen oder
anderen Veranstaltung beschäftigt habe. Sie wissen, mit
über 6 Millionen erkrankten Menschen ist der Diabetes,
wenn man so will, die häufigste nichtübertragbare
Krankheit in Deutschland. Sie betrifft nicht nur ältere
Menschen, sondern immer häufiger auch Kinder. Wir
wissen, dass Diabetes erhebliche Kosten in zweistelliger
Milliardenhöhe verursacht, dass er die Volkswirtschaft
belastet, und wir wissen auch, dass falsche Ernährung,
extremes Übergewicht und zu wenig Bewegung Risikofaktoren sind. Mit diesen Risikofaktoren haben natürlich
auch wir als Abgeordnete zu kämpfen.
Wir müssen und wollen aber das Erkrankungsrisiko
senken. Damit beugen wir nicht nur Krankheiten vor,
sondern entlasten letztlich auch das Gemeinwesen von
erheblichen Kosten. Man sagt immer: Krankheit verhüten ist besser als Krankheiten vergüten. - Dieser Programmsatz ist im Grunde genommen wichtig. Es wird ja
eine nationale Diabetesstrategie diskutiert. Auf Bundesratsebene ist ein Diabetesplan in die Diskussion gebracht
worden. Aus meiner Sicht ist, glaube ich, wichtig, dass
wir auch und gerade im Rahmen der Diskussion des Präventionsgesetzes diese Probleme in die Beratung einbeziehen; denn hier geht es um Lebenswelten. Beim Diabetes steht das Gesundheitsziel „Erkrankungsrisiko
senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln“ ausdrücklich so im Gesetz. Diese Themen haben eine besondere Bedeutung und müssen ressortübergreifend beraten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Präventionsgesetz sorgen wir dafür, dass Arbeit nicht krank
macht. Wir sorgen dafür, dass gesundes Aufwachsen und
Gesundheitschancen von Menschen nicht länger von ihrem Lebensumfeld abhängen. Der vorliegende Entwurf
bietet alle Chancen, dass diese Ziele im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens umgesetzt, gegebenenfalls auch
noch präzisiert werden und dass, lieber Herr Henke, das
Murmeltier der Präventionsgesetzgebung uns nicht jedes
Jahr aufs Neue grüßt. Das wäre mein politischer
Wunsch.
Ich danke Ihnen.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter
Herr Präsident! Ich glaube, an dieser Stelle zu Recht sagen zu können: Mit diesem Gesetzentwurf dokumentiert
der Bundestag, dass er kein Erkenntnisproblem hat, auch
kein Bekenntnisproblem. Alle führen das Wort einer
Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention
im Munde. Aber wir müssen uns doch fragen: Werden
wir diesem Anspruch, diesem Bekenntnis und diesen Erkenntnissen mit diesem Gesetzentwurf eigentlich gerecht? Ich sage, wir sagen ganz deutlich: Das genau geschieht an dieser Stelle noch nicht.
({0})
Der erste große Fehler: Es fehlt so etwas wie eine Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung. Gesundheits9070
förderung heißt nämlich mehr als Verhindern von Erkrankungen. Gesundheitsförderung heißt, dass wir
gesellschaftlich in allen Lebensbereichen Strukturen
schaffen, die es ermöglichen, gesund zu leben und die eigenen Lebensverhältnisse gesund zu gestalten. Davon
sind wir an ganz vielen Stellen weit entfernt. - Das ist
der erste Punkt.
Zweitens lassen Sie in diesem Gesetzentwurf jegliche
Strategie, jegliche Initiative vermissen, alle anderen Politikfelder in eine Gesamtstrategie einzubeziehen, die
diesem Anspruch gerecht werden könnte.
({1})
Das haben Sie sogar selber in einigen Reden deutlich
gemacht. Natürlich muss es um den gesamten Bereich
der Kinder und Jugendlichen, der Familien gehen. Es
muss um den gesamten Bereich des Wohnens gehen und
um den Bereich des Sports. Es muss um gesunde Arbeitsbedingungen gehen, um die Reinhaltung von Luft
und um Umweltbedingungen insgesamt. Das sind die
Faktoren, die gemeinsam berücksichtigt werden müssen.
Dazu gehören nicht zuletzt viele Maßnahmen, die eine
gesunde Ernährung ermöglichen.
({2})
Mit Blick auf eine Gesamtstrategie fehlt all das bei der
Herangehensweise in diesem Gesetzentwurf.
Es ist nicht so, dass wir sagen, das könne allein die
Krankenversicherung stemmen; natürlich nicht. Vielmehr geht es darum, daraus eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe zu machen, die jeden Bereich in die Pflicht
nimmt.
({3})
Das ist das Erste, und wir drängen darauf, dass Sie da
nachsteuern.
Das Zweite ist: Sie haben zu Recht in vielen Reden
hervorgehoben, welche Rolle die soziale Benachteiligung auch in Bezug auf die gesundheitlichen Risiken
spielt. Wenn wir da wirklich tätig werden wollen, wie
kann es dann sein, dass Sie ausgerechnet den Bereich der
Arbeitslosenversicherung, das SGB II, außen vor lassen
bei den wesentlichen Akteuren, die zusammenwirken
müssen und vor Ort vernünftige Maßnahmen in Angriff
nehmen müssen? Da müssen Sie dringend nachbessern.
({4})
Zu Recht ist auch gesagt worden, es muss um Maßnahmen vor Ort gehen. Es muss um die Alltagswelten
gehen; denn nur so können wir viele Menschen erreichen, die nicht ohnehin schon gesundheitsbewusst leben.
Wenn das so ist, dann müssen wir doch schauen: Wie
machen wir das vor Ort? Wie schaffen wir es, vor Ort
- statt immer nur ein Projektchen nach dem anderen einzurichten, eine Maßnahme, die nur ein halbes Jahr läuft
und dann wieder ausläuft; drei Jahre später kommt dann
eine andere Krankenkasse mit einer anderen Maßnahme konzertierte, stetige Maßnahmen zu installieren, bei denen sich alle Akteure verbindlich mit gemeinsamen Zielen zusammentun? Auch da lassen Sie bisher jegliche
Antwort vermissen.
({5})
Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sozusagen
als reisende Agentur für örtliche Vernetzung durch die
Gegend ziehen soll, um zu schauen, wie verbindliche
Arbeitsstrukturen, Vernetzungsstrukturen für Gesundheitsförderung vor Ort geschaffen werden können.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, dass
das der wesentliche Ansatz ist. Da müssen Sie nachsteuern. Da brauchen wir etwas anderes. Wir brauchen Möglichkeiten, die Mittel von Krankenkassen regional zu
bündeln, gemeinsam über Gesundheitskonferenzen oder
andere Steuerungsmechanismen, und es muss vor Ort
verabredet werden können, wie diese Mittel eingesetzt
werden. So herum muss es gehen.
Darum müssen Sie dringend umsteuern. Dieser Gesetzentwurf hat noch sehr viel Potenzial. Wenn Sie dahin
kommen wollen, dass wir Gesundheitsförderung und
Prävention erstmalig wirklich ernst nehmen, dann muss
noch viel passieren.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Reiner Meier, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Gleich getan ist
viel erspart.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, was Prävention im Gesundheitsbereich meint: nicht warten, bis
der Körper und die Gesundheit Schaden nehmen, sondern versuchen, es möglichst gar nicht so weit kommen
zu lassen.
Wenn wir heute in erster Lesung den Entwurf des Präventionsgesetzes beraten, dann sollten wir uns Folgendes klarmachen: Weltweit leiden immer mehr Menschen
an Zivilisationskrankheiten. Deutschland ist da leider
keine Ausnahme. Etwa 350 000 Bundesbürger sterben
jedes Jahr an den Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das entspricht etwa 40 Prozent aller Todesfälle in
Deutschland. Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahr
hatten wir bundesweit 3 368 Opfer im Straßenverkehr zu
beklagen. Angesichts dieser Fakten fragt man sich: Warum tun wir uns so schwer, hier und da weniger zu essen,
gesünder zu leben, uns besser zu bewegen, mehr Sport
zu betreiben oder die Vorsorgeuntersuchungen nicht zu
vernachlässigen?
({0})
Die Antwort ist einfach: Der Mensch ist nun einmal ein
Gewohnheitstier und ändert nur dann seine ungesunden
Gewohnheiten, wenn er gute Anreize dafür hat und
wenn man es ihm möglichst leicht macht, gesünder zu
leben.
({1})
Bei der Umsetzung der Ziele stellt das Präventionsgesetz auf den Lebensweltenansatz ab. Das heißt, wir holen
die Menschen dort ab und bieten die Leistungen dort an,
wo sie einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen.
Besonders für jene, die bislang weniger auf Präventionsangebote zurückgegriffen haben, sind einfach erreichbare Angebote ein guter Weg, um ihre Gesundheitschancen deutlich zu verbessern.
Wenn wir auf Dauer etwas bewegen wollen, müssen
wir aber auch zulassen, dass jeder von sich aus die freie
Entscheidung trifft, Präventionsangebote anzunehmen.
Da ist es weniger erfolgreich, mit Bevormundung oder
mit Verboten anzukommen. Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen erinnern sich sicherlich noch an den
Veggie-Day und daran, welche Diskussionen das hervorgerufen hat.
({2})
Übrigens ist er eine Erfindung der katholischen Kirche
und nicht Ihrer Partei, meine Damen und Herren.
({3})
Ich sehe Impfen als Prävention ersten Ranges an.
({4})
Schutzimpfungen sind die wirksamsten Präventionsinstrumente der Medizin, die uns heute zur Verfügung stehen.
({5})
Jedes Jahr sterben 1,5 Millionen Kinder an Krankheiten,
für die es eigentlich wirksame Impfungen gäbe. Auch in
Deutschland bestehen erhebliche Impflücken, gerade bei
Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen, die gar keine
bewusste Entscheidung gegen Impfungen treffen, sondern es spielen schlichtweg Vergesslichkeit, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit eine Rolle. Unbestritten ist
aber die Erforderlichkeit einer hohen Durchimpfungsrate.
Das Präventionsgesetz enthält drei wichtige Maßnahmen zur Steigerung dieser Impfquoten: Erstens. Im Rahmen der nationalen Präventionsstrategie fließen die
Empfehlungen der Ständigen Impfkommission in die
Zielvereinbarung ein. Wir schaffen dadurch einen verlässlichen Rechtsrahmen für eine trägerübergreifende
Umsetzung dieses wichtigen Ziels. Zweitens. Die verpflichtende Prüfung des Impfstatus bei Früherkennungsuntersuchungen, besonders bei Kindern und Jugendlichen, halte ich für dringend geboten. Drittens. Die
Pflicht zur ärztlichen Impfberatung bei Erstaufnahme in
Kindertageseinrichtungen ist sehr zu begrüßen.
Die aktuelle Masernsituation - der Minister hat es angesprochen - in Deutschland zeigt: Wir verzeichnen
2015 bundesweit bereits über 1 000 Masernfälle, davon
rund 800 allein in Berlin - mit steigender Tendenz. Allein in Berlin sind es mehr Fälle, als in manchen Jahren
bundesweit festgestellt wurden. Eine Schule musste wegen Masern zeitweise geschlossen werden oder sogar
Schüler ohne Impfstatus vom Unterricht ausgeschlossen
werden, obwohl sie kurz vor der Abiturprüfung standen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Ereignisse zeigen, die Entscheidung, sich impfen zu lassen,
kann erhebliche Konsequenzen haben, weil sie auch andere betrifft. Dabei scheinen mir drei Aspekte besonders
wichtig.
Erstens. Unsere Verfassung schützt das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit. Beides
wird durch Impfungen berührt. Ohne gesetzliche Grundlage darf hier nicht eingegriffen werden. Andererseits ist
der Staat aber verpflichtet, die körperliche Unversehrtheit nicht nur des Einzelnen, sondern die Unversehrtheit
aller Bürger dieses Staates zu gewährleisten.
Zweitens. Unsere Rechtsordnung schützt das elterliche Sorgerecht als tragenden Pfeiler der Familie. Eltern
bestimmen über die Impfung ihrer Kinder. Sie tragen
aber auch die Verantwortung für ihr Wohlergehen und
ihre Gesundheit. Eltern brauchen deshalb ein Angebot
qualifizierter, seriöser Beratungen zu den Impfungen,
damit sie sich nicht auf Gerüchte vom Hörensagen verlassen müssen. Ich denke dabei insbesondere an die Behauptung, dass eine Masernimpfung Autismus auslöst eine Behauptung, die nachweislich falsch ist und sich
dennoch hartnäckig hält.
({6})
Drittens. Wenn man nun den Nutzen der empfohlenen
Impfungen mit den potenziellen Nebenwirkungen vergleicht, überwiegt ganz klar der Nutzen. Moderne Impfstoffe sind allgemein gut verträglich. Zudem erspart jede
nicht ausgebrochene Krankheit den Menschen eine akute
Behandlung mit Medikamenten, die deutlich stärkere
Nebenwirkungen haben als die Impfung selbst.
Wir wissen heute mehr über Infektionskrankheiten als
je zuvor, und wir haben die Mittel, um gefährliche
Krankheiten endgültig auszurotten. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir dürfen deshalb nichts unversucht lassen, um die Bevölkerung endgültig von diesen Krankheiten zu befreien. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält gute Ansätze zur Verbesserung der Impfquoten. Wir
werden im parlamentarischen Verfahren eingehend erörtern und diskutieren, welche Wege wir hier gehen. Lassen Sie mich abschließend klar sagen: Sollten unsere
Anstrengungen -
Wenn der Abschluss kurz ist, ja.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Sollten
alle Anstrengungen, mit Anreizsystemen zum Ziel zu
kommen, in der Praxis fruchtlos bleiben, werden wir in
einem zweiten Schritt auch verbindliche Maßnahmen
prüfen müssen.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne wünsche
ich uns allen eine konstruktive Beratung zu diesem
wichtigen Gesetz. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich habe eine Bitte an alle Redner. Wir haben es jetzt
ein paarmal erlebt, dass der zentrale Gedanke immer
nach Ablauf der Redezeit kommt.
({0})
Es wäre an und für sich schön, wenn man ihn an den Anfang stellte und dann die Redezeit einhielte.
({1})
- Das war eine überparteiliche Bemerkung; es betraf alle
Redner, die eben gesprochen haben.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Marina Kermer, SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Prävention heißt
Vorbeugung, meint aber auch Vorsorge. Ich finde, wir
müssen genauso an Fürsorge denken, weil Erkrankungen
manchmal Abwärtsspiralen in Gang setzen, die nur noch
von Außenstehenden zu stoppen sind, weil der oder die
Betroffene sich selbst nicht mehr helfen kann.
Das trifft vor allem auf psychische Erkrankungen zu.
Immer häufiger treten sie als Folgen beruflicher Belastungen auf. Ja, unsere komplexe Arbeitswelt bietet vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Chancen zur
Selbstverwirklichung; man kann persönliche Anerkennung und materiellen Wohlstand gewinnen, wenn man
gut aufgestellt ist. Wenn man nicht so gut aufgestellt ist,
weil man gesundheitliche Einschränkungen hat, dann erlebt man die komplexe Arbeitswelt oft als Überforderung und Dauerüberlastung.
In der Folge treten somatische und psychosomatische
Erkrankungen auf, also Erkrankungen des Körpers und
der Seele, ausgelöst durch - erstens - die Arbeit selbst,
die krank machen kann. Es ist immer weniger die körperlich harte Arbeit, die zu Erkrankungen führt, zum
Beispiel zu Erkrankungen des Skeletts wie Rückenschmerzen oder Knieverschleiß. Die steigenden Zahlen
psychischer Erkrankungen sind alarmierend: Burn-outSyndrom, Depressionen und Suchterkrankungen führen
immer häufiger in die Frühverrentung. Laut GKV-Spitzenverband hat die Zahl der Krankheitstage aufgrund
psychischer Erkrankungen zwischen 2002 und 2012 um
nahezu 67 Prozent zugenommen.
Zweitens kann ein Arbeitsplatzverlust, oft unverschuldet, den Beginn einer Erkrankung auslösen. Denn
wer auf Dauer ohne tägliche Aufgabe und Anerkennung
lebt, der verliert seine Tagesstruktur. Am Ende verharrt
man im schlimmsten Fall in hilfloser Resignation. Auch
darunter leidet langfristig die körperliche und seelische
Verfassung. Wer durch Arbeitslosigkeit krank wird und
aufgrund der Krankheit nicht vermittelt werden kann,
der sitzt in einem Teufelskreis. Deshalb sollten die Krankenkassen gemeinsam mit den kommunalen Trägern der
Grundsicherung und der Bundesagentur für Arbeit daran
arbeiten, gesundheitliche Vermittlungshemmnisse zu beseitigen;
({0})
denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, für das Erwerbspersonenpotenzial muss der Zugang zum Arbeitsmarkt
mit geeigneten Maßnahmen wieder ermöglicht werden.
Das Arbeitsleben ist dominant im Alltag, deshalb ist
es so wichtig und richtig, die betriebliche Gesundheitsvorsorge zu stärken. Für die Beschäftigten in den Betrieben sind die Betriebsärzte erste Ansprechpartner. Deshalb ist die Stärkung ihrer Aufgabe richtig; denn den
Medizinerinnen und Medizinern sollte es als Erstes auffallen, wenn in einem Betrieb bestimmte Erkrankungen
gehäuft auftreten.
Dabei nehmen wir die Bedenken der Gewerkschaften
ernst. Die Betriebsärzte stehen in einem sensiblen Vertrauensverhältnis. Das darf zu keinem Zeitpunkt infrage
gestellt werden, ganz besonders nicht, wenn es um seelische Erkrankungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geht.
Richtig ist auch die Feststellung des DGB, dass
grundsätzlich der Arbeitgeber für das Arbeitsumfeld verantwortlich ist und niemand sonst. Man nennt es Fürsorgepflicht. Viele große Unternehmen haben bereits gute
und zeitgemäße Präventionskonzepte. Einige große
Konzerne halten eigene Gesundheitsangebote vor und
sorgen im Vorfeld durch Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsorganisation für gute Bedingungen.
Natürlich können kleine und mittelständische Unternehmen nicht mit Großkonzernen mithalten. Deshalb
wollen wir die Kooperation vor Ort stärken. Zum Teil
geht fehlende Prävention auf mangelnde Kenntnisse von
Präventionsangeboten zurück. Aus diesem Grund werden die Krankenkassen den Unternehmen Beratungsmöglichkeiten anbieten. Ja, es werden insgesamt 7 Euro
pro Versichertem für Prävention zur Verfügung gestellt,
davon werden 2 Euro für die betriebliche Prävention eingesetzt. Mit diesen zusätzlichen Mitteln wird es vor Ort
besser gelingen, passgenaue Prävention im Betrieb anzubieten.
An dieser Stelle möchte ich auf die besondere Situation der Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eingehen.
({1})
Denn dort haben wir besonders häufig körperlich und
seelisch belastende Arbeitsbedingungen bei knappen
Personaldecken.
Es ist absurd, dass ausgerechnet in den Gesundheitsberufen zu wenig Wert auf die Gesundheit der Beschäftigten
gelegt wird. Deshalb werden wir mit dem Pflegestellenförderprogramm im Rahmen der Krankenhausreform
einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Personalsituation gehen. Auch das ist Prävention für Pflegekräfte
und für Patientinnen und Patienten.
Insofern kann ich zu dem Antrag der Kolleginnen und
Kollegen von der Linken sagen: Wir entlassen die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwortung, stärken aber die
Hilfe für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
({2})
Denn was für die Gesellschaft nur Verlust an Arbeitskraft ist, bedeutet für den Einzelnen Verlust an Lebensqualität.
({3})
Deshalb ist uns Prävention so wichtig. Es geht uns um
die Menschen. Weil das so ist, geben wir mehr Mittel für
Prävention aus. Ich finde, das sind gut angelegte Mittel.
Natürlich kann man leicht immer noch mehr Geld fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Zimmermann.
Aber „Mehr, mehr!“ rief auch der kleine Häwelmann in
Theodor Storms Märchen, und wohin hat es ihn gebracht? Er ist am Ende ins Wasser gefallen. Das wollen
wir nicht. Besser wäre, wir bringen das Präventionsgesetz gemeinsam in trockene Tücher.
Danke.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Heiko Schmelzle, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Dass die Menschen in Deutschland ein immer höheres Lebensalter erreichen, liegt sicherlich auch daran, dass unser Gesundheitssystem im
weltweiten Vergleich ein sehr, sehr gutes ist.
Das heute eingebrachte Präventionsgesetz ist ein weiterer Baustein der Bundesregierung bei der Umsetzung
ihres Versprechens, unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen.
({0})
Durch den Dreiklang aus Präventionsgesetz, Versorgungsstärkungsgesetz und Pflegestärkungsgesetz greifen
wir drei grundlegende Bereiche auf. Das Versorgungsstärkungsgesetz soll hochwertige medizinische Versorgung, unabhängig vom Wohnort, sichern. Das erste Pflegestärkungsgesetz hat Leistungen für Pflegebedürftige
und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige ausgeweitet. Das Präventionsgesetz soll gesundheitsfördernde Maßnahmen stärken, um Krankheiten zu vermeiden.
CDU und CSU wollen dabei nicht bevormunden. Wir
wollen die Menschen stattdessen davon überzeugen, dass
ihr Handeln die Lebensqualität erhöhen und das Leben
selbst verlängern kann. Denn nur wenn die Lebenswirklichkeit der Menschen in Kita oder Schule, am Arbeitsplatz oder im Pflegeheim im Sinne eines gesünderen
Lebens verbessert wird, kann die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig verbessert werden.
({1})
Weil Prävention auf längere Frist die Kosten für nicht
mehr notwendige Krankenbehandlungen erspart, sind
finanzielle Mittel hier gut investiert. Die von den Krankenkassen in diesem Bereich einsetzbaren Mittel werden
wir darum auf 490 Millionen Euro mehr als verdoppeln.
Diesmal sind auch die Pflegekassen mit dabei.
({2})
Zwei Themen liegen mir besonders am Herzen: die
betriebliche Gesundheitsvorsorge und das Impfen.
Die berufliche Tätigkeit dominiert einen Großteil unseres Lebens. In Zeiten eines zunehmenden Fachkräftemangels hat die Erhaltung der Gesundheit der Arbeitnehmer
für die CDU/CSU allerhöchste Priorität. Ein gesünderes
Arbeitsumfeld stärkt die Arbeitsplatzzufriedenheit und
damit die Identifikation und Verbundenheit der Arbeitnehmer mit ihrem Unternehmen. Gerade kleinere Betriebe sind aufgrund der geringen Mitarbeiterzahl häufig
nicht in der Lage, in Eigenregie sinnvolle Maßnahmen
zur Vermeidung arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken zu
ergreifen. Wir stellen für diesen Bereich 140 Millionen
Euro bereit, um gerade den Mittelstand bei der wichtigen
Aufgabe der betrieblichen Gesundheitsvorsorge zu unterstützen.
({3})
Das Impfen ist für mich eine weitere wesentliche
Säule der Prävention. Impfen ist die effektivste medizinische Präventionsmaßnahme. Impfen schützt weltweit
Millionen von Menschen vor Krankheiten, Behinderung
und Tod, und vor allem: Impfen liefert im Bereich der
Prävention messbare Ergebnisse.
Die Debatte um das Impfen ist allzu häufig ideologisch geprägt und wird leider von den wenigen Impfgegnern bestimmt. Wir müssen der Bevölkerung immer wieder die Erfolge des Impfens bei der Bekämpfung und
Ausrottung von Krankheiten ins Bewusstsein rufen.
Pocken, Tollwut, Pest, Diphtherie, Tuberkulose, Wundstarrkrampf, Gelbfieber, Kinderlähmung, Masern, Mumps,
Röteln: Das Impfen ist eine einzige Erfolgsgeschichte.
({4})
Wir leben in einer mobilen Welt, in der wir binnen weniger Stunden auf andere Kontinente reisen können. Güter
werden weltweit transportiert. Krankheiten und Epide9074
mien können uns jedoch genauso schnell erreichen. Hier
gilt es, auch für unsere Bevölkerung die Impfquote zu
erhöhen, um dadurch vorzusorgen.
In der Mehrzahl der Fälle ist die Ursache für fehlende
Impfungen nicht die offene Ablehnung des Impfens,
sondern ist der Unwissenheit, der Nachlässigkeit und einem mangelnden Problembewusstsein geschuldet. Gerade junge Menschen gehen selten zum Arzt, und wenn
sie einen Mediziner aufsuchen, haben sie in den seltensten Fällen ihren Impfpass dabei. Eine Impfberatung erfolgt dann höchstens, wenn eine Fernreise ansteht. Für
die Erhöhung der Impfquoten benötigen wir daher ein
strukturiertes, bundeseinheitliches Impfkonzept für alle
Lebensphasen, welches die Menschen im wiederkehrenden Rhythmus auf das Impfen hinweist.
Wichtig ist der einfache und niedrigschwellige
Zugang zu den notwendigen Impfungen. Reine Informationsangebote reichen hier nicht aus. Dabei muss der
Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei
Impfungen um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
handelt.
({5})
Ich appelliere an alle, die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber jenen, die nicht geimpft werden können,
ernst zu nehmen; denn für einen wirksamen „Herdenschutz“ benötigen wir eine Impfquote von circa 95 Prozent. Genau hier setzen die vorgesehenen Maßnahmen an,
die meine Vorredner schon genannt haben. Ich möchte
aber noch ergänzen, dass die Krankenkassen künftig mit
Fachärzten für Arbeitsmedizin oder mit Betriebsmedizinern Verträge zur Durchführung von Schutzimpfungen
schließen können.
Erlauben Sie mir einen persönlichen Hinweis zum
Gesetzentwurf. Gemeinsam mit meinen CSU-Kollegen
Reiner Meier und Erich Irlstorfer aus dem Gesundheitsausschuss habe ich im Herbst 2014 ein Konzept zur Verbesserung der Impfsituation in Deutschland vorgelegt.
Viele Erwägungen finden sich bereits heute im Regierungsentwurf wieder. Dennoch halten wir einen weiteren
Punkt für absolut bedenkenswert. Derzeit wird von den
17 Kassenärztlichen Vereinigungen das Modellprojekt
KV-Impfsurveillance durchgeführt. Dieses Projekt dokumentiert Impfquoten, die Häufigkeit der Inanspruchnahme
von Vorsorgeuntersuchungen und Erkrankungszahlen repräsentativ für alle Bundesländer und ermöglicht die
Aufschlüsselung dieser Zahlen bis auf Kreisebene für
die verschiedenen Altersgruppen. Genau dies fordern
Sachverständige doch seit langem, zuletzt Professor
Dr. Gerd Antes vom Deutschen Cochrane Zentrum bei
seinem Besuch im Gesundheitsausschuss. Nur mit solch
belastbaren Daten können wissenschaftlich fundiert
Impflücken geschlossen und drohende Epidemien zielgenau bekämpft werden.
Wir können uns vorstellen, aus diesem Modellprojekt
ab 2016 eine regelhafte, bundeseinheitliche und anonymisierte Impfdatenerhebung beim Robert-Koch-Institut
zu entwickeln, die dann verbindliche Grundlage der Arbeit der Ständigen Impfkommission wird. Die Ergebnisse und die hieraus resultierenden Vorschläge sollten
jährlich im Rahmen eines Impfberichts des BMG veröffentlicht werden.
Lassen Sie mich mit Blick auf den Frühlingsanfang
mit einer lyrischen Note schließen. Die Herausforderung
ist die Knospe des Handelns. Lassen Sie uns im parlamentarischen Verfahren gemeinsam daran arbeiten, dass
die Knospe zur Blüte wird und dann Frucht trägt. Denn
die Stärkung der Gesundheit beginnt mit der Prävention.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Martina Stamm-Fibich, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Gröhe!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen
und Herren! Es ist schon viel gesagt worden; das macht
es gegen Ende der Debatte immer ein bisschen schwierig. Ich versuche es jetzt mit ein bisschen Handfestem.
Wie bei der Bildung - das haben wir heute schon oft
gehört - hängen auch die Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland von ihrer sozialen
Herkunft ab. Zuletzt - auch das wurde heute schon
mehrfach erwähnt - hat dies die KiGGS-Studie des
Robert-Koch-Instituts bestätigt. Die KiGGS-Studie
kommt zu dem Ergebnis, dass bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien Risikofaktoren wie Bewegungsmangel oder Übergewicht stärker verbreitet sind und
dass ein Drittel der Kinder aus diesen Familien von Verhaltensproblemen, Hyperaktivität oder Problemen mit
Gleichaltrigen betroffen sind. Kinder aus armen Familien hinken in ihrer Entwicklung hinterher. Schon vor
dem Schuleintritt sind sie massiv benachteiligt. Das geht
aus einer weiteren Studie, die uns diese Woche vorgelegt
wurde, einer Studie der Bertelsmann Stiftung, hervor.
Die Studien zeigen: Zusätzlich zum Präventionsgesetz sind langfristig weitere Investitionen in Bildung notwendig, aber auch in benachteiligte Quartiere und in Institutionen. Nur so können wir die Gesundheitschancen
für unsere Kinder verbessern. Mögliche Ansätze sehe
ich hier bei dem Programm „Soziale Stadt“ oder bei der
Förderung von Kitas. Für mich ist klar, dass Ressourcen
nicht nach dem sogenannten Gießkannenprinzip verteilt
werden dürfen. Kitas und andere Einrichtungen brauchen mehr Geld, mehr Personal und andere Förderangebote. Dem muss das Präventionsgesetz Rechnung tragen.
({0})
Die Basis für eine gesundheitsbewusste Lebensweise
im Erwachsenenalter wird in der frühen Kindheit gelegt.
Daher hat die Umsetzung primärpräventiver und früher
sekundärpräventiver Elemente im Kindesalter große Effekte. Beim Thema Kinder- und Jugendgesundheit verfolgt die SPD-Bundestagsfraktion ein klares Ziel: Wir
wollen gleiche Gesundheitschancen für alle Kinder erreichen.
({1})
Das ist eine weitreichende Forderung, die viele Einzelschritte erfordert. Einen ersten Schritt haben wir mit dem
Entwurf eines Präventionsgesetzes getan.
Wer kleine Kinder hat, kennt dieses gelbe Heft.
({2})
Es hilft Eltern, den Überblick über die vielen Vorsorgetermine zwischen Geburt und Einschulung, also über die
sogenannten Us, zu behalten. Bisher allerdings enden die
Us - und damit auch das berühmte gelbe Vorsorgeheft mit dem Moment, in dem es richtig schwierig werden
kann, wenn nämlich aus dem Kindergartenkind ein
Schulkind wird, wenn Entwicklungsstörungen, Essprobleme oder Ängste auftauchen können. Ich begrüße deshalb den Änderungsvorschlag zu § 26 SGB V. Ich freue
mich über die Anhebung der Altersgrenze für die Us. Ich
freue mich vor allem über die Änderungen, die auf eine
qualitative Verbesserung der bestehenden Früherkennungsuntersuchungen hoffen lassen.
({3})
Ich begrüße vor allem die Erweiterung der Früherkennung um die psychosoziale Entwicklung sowie die präventionsorientierte Beratung mit Überprüfung des Impfstatus.
Auch dass Informationen zu regionalen Unterstützungsangeboten für Eltern und Kind Teil dieser Beratung sein
sollen, findet meine ausgesprochene Anerkennung. Die
letzte Entscheidung - die über das Wie - soll, wie so oft,
der Gemeinsame Bundesausschuss fällen. Ich würde es
sehr begrüßen, wenn alle drei Untersuchungen, die U10,
die U11 und auch die J2, zu Regelleistungen werden
würden.
Von der Geburt bis zum fünften Lebensjahr sind Kinder in Deutschland auch jetzt schon gut betreut. Seit inzwischen sieben Jahren bieten die Kinderärzte zudem
drei weitere Untersuchungen an, die U10 und die U11
für Grundschüler und die J2 für 17-Jährige. Hier gibt es
für vorsorgewillige Eltern allerdings einen Haken: Nicht
alle Krankenkassen übernehmen die Kosten von rund
50 Euro pro Untersuchung, weil die drei Vorsorgetermine nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Kassen
verankert sind. Eltern müssen also selbst in die Tasche
greifen oder auf diese Vorsorge verzichten. Durch die
flächendeckende Einführung einer zusätzlichen U- oder
J-Untersuchung entstehen für die Krankenkassen jährlich voraussichtlich Mehraufwendungen im niedrigen
einstelligen Millionenbereich. Dem gegenüber steht aber
ein enormes Einsparpotenzial
({4})
durch die Vermeidung oder frühzeitige Erkennung von
Störungen der gesundheitlichen Entwicklung. Kurzum
- wir haben es schon oft gehört -: Vorbeugen ist besser
als Heilen.
Durch diese Stärkung des Untersuchungsprogramms
hoffe ich auch auf eine Verbesserung der Impfquoten
von Kindern im Schulalter. Ich bin überzeugt davon,
dass Impfungen, wenn sie mit Vorsorgeuntersuchungen
zusammenfallen, auch durchgeführt werden. Deshalb
begrüße ich auch die in Artikel 8 des Gesetzentwurfes
geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Schutzimpfungen gehören zu den wichtigsten Maßnahmen im
Rahmen der primären Prävention von Infektionskrankheiten.
({5})
Der Gesetzentwurf legt fest, dass die Überprüfung des
Impfstatus und eine Impfberatung zum Bestandteil der
Gesundheitsuntersuchung bei Erwachsenen und bei Kindern und Jugendlichen werden. Der Gesetzentwurf setzt
- sehr zu Recht - bei den Kleinsten an. Die Eltern von
Kindern, die in eine Kindertagesstätte aufgenommen
werden sollen, müssen künftig nachweisen, dass eine
ärztliche Impfschutzberatung erfolgt ist. Damit soll eine
höhere Beteiligung an den Schutzimpfungen, die die
Ständige Impfkommission empfiehlt, erreicht werden.
Wie wichtig Impfungen sind - wir haben auch das schon
einige Male gehört -, haben wir beim dramatischen Ausbruch der Masern gemerkt.
Frau Kollegin, wenn Sie auf Sachen hinweisen, die
schon mehrfach gesagt worden sind, ist das in Ordnung.
Aber wenn die Redezeit überzogen ist, finde ich, könnte
man das weglassen; sie ist nämlich schon überzogen.
({0})
Ich komme zum Ende. - Mit dem Gesetzentwurf hat
der Gesundheitsminister ein erstes Etappenziel erreicht;
das begrüße und unterstütze ich ausdrücklich. Aber ein
Etappenziel ist eben ein Etappenziel. Das übergeordnete
Ziel der SPD-Bundestagsfraktion habe ich genannt - ich
wiederhole es zum Schluss -: Wir wollen gleiche Gesundheitschancen für alle Kinder. Dieses Ziel ist erst erreicht, wenn uns Studien bessere Ergebnisse liefern.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Dietrich Monstadt, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Gesundheit erflehen die Menschen von den Göttern; dass es aber in ihrer Hand liegt, diese zu erhalten, daran denken sie nicht.
Dieses bekannte Zitat stammt von dem griechischen Philosophen Demokrit, der zwischen 460 und 371 vor
Christus lebte.
({0})
- Ich denke man darf das zitieren, weil das richtig ist. Prävention ist also nicht nur heute im Rahmen der ersten
Lesung zum vorliegenden Gesetzentwurf von wesentlicher Bedeutung, sondern bereits seit 2 400 Jahren ein
Thema.
Meine Damen und Herren, wie ist die Situation
heute? Wir wissen, der demografische Wandel ist die gesellschaftliche Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Bis 2060 wird jeder zweite Deutsche mindestens
51 Jahre alt sein. Während es zurzeit 650 000 Deutsche
gibt, die über 90 Jahre alt sind, werden es 2060 rund
3,3 Millionen sein.
({1})
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft, die
zusätzlich gekennzeichnet ist durch einen Wandel der
Lebensstile: Fahrstuhl statt Treppe, Auto statt Fahrrad
oder zu Fuß gehen, Computer statt körperlicher Betätigung in der Freizeit, FastFood statt gesunder Ernährung.
Allein aufgrund dieser Entwicklung ist von einer weiteren Zunahme der bedeutsamen nichtübertragbaren Erkrankungen, insbesondere von Diabetes Typ 2 und Adipositas, auszugehen.
Meine Damen und Herren, ich weiß persönlich, worüber ich spreche: Ich bin insulinpflichtiger Typ-2-Diabetiker, und von meinen adipösen Ansätzen können Sie
sich selbst überzeugen. Ich möchte daher zum Schluss
dieser Debatte hier die Chance nutzen, gerade bei diesen
beiden Erkrankungen einen Schwerpunkt zu setzen. Parallel zum stattfindenden Naturereignis, meine Damen
und Herren, müssen Sie sich Diabetes wie eine nicht endende Sonnenfinsternis vorstellen: Er schiebt, schleicht
sich langsam ins Leben, und der Schatten bleibt auf
Dauer.
Gerade vor meinem persönlichen Hintergrund freue
ich mich, dass Prävention und Früherkennung, aber auch
die Versorgung der Erkrankung Diabetes als primäres
nationales Gesundheitsziel im Gesetzentwurf verankert
sind.
({2})
Das zeigt: Das Thema Diabetes ist in der Politik angekommen. Meine Damen und Herren, Prävention und
Früherkennung sind eine wichtige Säule der Diabetesbekämpfung. Mit einem krankheitsübergreifenden Ansatz
sollen lebensstilbedingte chronische Erkrankungen vermindert oder zumindest in ihrem Verlauf positiv beeinflusst werden.
Sehr geehrter Herr Minister, an dieser Stelle meinen
ganz herzlichen Dank dafür, dass unter Umsetzung des
Koalitionsvertrages mit diesem Gesetz nach zehn Jahren
Debatte und vier Anläufen Prävention und Gesundheitsförderung in den Vordergrund der Gesundheitsversorgung gerückt sind.
({3})
Die dafür angedachten Mittel von circa 500 Millionen
Euro pro Jahr sind ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Meine Damen und Herren, als Unionspolitiker und
Betroffener ist es mir ein persönliches Ziel, aufzuklären,
anzuleiten und die Eigenverantwortung eines jeden so zu
stärken, dass Volkskrankheiten wie Diabetes oder Adipositas verhindert werden können. Die Zahlen sind dramatisch: In der Gesellschaft eher als Altersdiabetes
bekannt, nimmt auch die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die an Typ-2-Diabetes erkranken, erschreckend
zu. Von aktuell insgesamt 10 Millionen Diabeteserkrankungen - unter Einbeziehung einer nicht quantifizierbaren Dunkelziffer - wird die Zahl der Betroffenen bis
zum Jahr 2025 auf circa 20 Millionen ansteigen. Der Anteil der Menschen in Deutschland mit extremer Adipositas hat sich zwischen 1999 und 2009 fast verdoppelt.
Diabetes wie auch Adipositas zählen damit zu den
häufigsten lebensstilbedingten Erkrankungen, mit oftmals dramatischen Konsequenzen: Dazu gehören Herzinfarkte, Schlaganfälle, Amputationen, Erblindung,
Nierenversagen und eine deutlich geringere Lebenserwartung. Das ist, wie ich finde, eine erschütternde Erkenntnis für die Gesundheitspolitik, aber auch für unsere
Gesellschaft.
Jüngste Schlagzeilen wie „Volkskrankheiten verursachen Millionen Tote“ oder „Sitzen ist das neue Rauchen“
brauchen wir nicht. Wir wissen, dass die Erkrankung bei
vielen Patienten vermeidbar gewesen wäre. Falsche Ernährung, lebensstilbedingte Gewichtszunahme und zu
wenig Bewegung schon im Kindesalter sind dafür eine
Ursache. Das bedeutet: Wir müssen die Menschen noch
besser aufklären. Prävention und Aufklärung schon in
jungen Jahren halte ich für den Schlüssel, um den explodierenden Kosten, dem Tsunami, der auf uns zurollt, entgegenwirken zu können.
({4})
Wenn man den jungen Menschen richtiges und gesundes Ernährungsverhalten von vornherein anerzieht, dann
werden sie ihr Leben lang einen Fundus an Wissen haben. Und wenn sie später selbst Verantwortung tragen,
dann erinnern sie sich vielleicht und versuchen, richtiges
Körperverhalten zu leben. Das heißt konkret: Wir müssen schon bei den ganz Jungen in Kitas und Schulen ansetzen.
Nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen
kann bereits ein ungesunder Lebensstil während der
Schwangerschaft - falsche Ernährung, zu wenig Bewegung - ein erhöhtes Diabetesrisiko für das ungeborene
Kind bedeuten. Es gilt daher, auch hier anzusetzen.
Ausgehend von der Initiative der norddeutschen Bundesländer - darunter auch mein eigenes, MecklenburgVorpommern -, ist es wichtig, dass wir die präventiven
Ansätze, die in dem vorliegenden Gesetzentwurf Niederschlag gefunden haben, gerade für die beiden Erkrankungen Diabetes und Adipositas weiterführen. In diesem
Sinne haben wir als Union einen Antrag mit der Forderung nach einer nationalen Diabetesstrategie auf den
Weg gebracht, in der Hoffnung, dass wir diesen zeitnah
in der Koalition umsetzen können.
Dr. Franke, von daher bin ich Ihnen dankbar und
freue ich mich sehr darüber, dass Sie dies angesprochen
haben und auch unterstützen wollen. Auch Herr
Dr. Lauterbach hat in der Öffentlichkeit vielfach betont,
dass er sich nachhaltig für die Bekämpfung von Diabetes
einsetzt. - Er nickt jetzt zustimmend. - Von daher nochmals mein Appell an die Fraktion der SPD: Bringen Sie
sich ein! Begleiten Sie diesen Antrag positiv!
({5})
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich weg
von den vielzähligen Einzelmaßnahmen und hin zu zielgerichteten und weitverbreiteten Aufklärungsmaßnahmen, die nachhaltige Wirkungen entfalten. In Anlehnung
an die Antiraucherkampagne können die hier jährlich
vorgesehenen 35 Millionen Euro für bundesweite Kampagnen durch die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung der Schlüssel zum Erfolg sein. Auch hier
setzt der Gesetzentwurf die richtigen Akzente.
({6})
Auf die Gesundheit zu achten und sich gesund zu verhalten, erfordert Wissen, Befähigung und Eigenverantwortung. Aufgabe von Prävention ist es, dies zu entwickeln und zu stärken. Jeder Einzelne ist gefordert, durch
eine gesundheitsbewusste Lebensweise Krankheiten
vorzubeugen und die Erhaltung bzw. Wiederherstellung
seiner Gesundheit zu fördern. Dafür muss dieser Einzelne angesprochen, gewonnen und unterstützt werden.
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung deutlich
zu machen, genauso, wie gezielte Unterstützung dort zu
leisten, wo der Einzelne von sich aus zu gesundheitsbewusstem Verhalten nicht in der Lage ist.
Diese Aufgabe muss ressortübergreifend angegangen
und umgesetzt werden. Das Bundesgesundheitsministerium, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz und auch die Länder mit ihrer Verantwortung für die Schulen und Kindertagesstätten sind hier
gemeinsam gefragt. Deshalb von mir ein deutliches Ja
zur Prävention und zum Entwurf des Präventionsgesetzes. Ich freue mich auf eine lebendige Diskussion.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4282, 18/4322 und 18/4327 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Lisa Paus, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Cannabiskontrollgesetzes ({0})
Drucksache 18/4204
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Katja Dörner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Verbotspolitik beim Thema Cannabis der letzten Jahre und Jahrzehnte ist gescheitert. Wir
müssen bei diesem Thema endlich neue Wege gehen,
und wir Grüne wollen das tun.
({0})
Die Zahlen und Fakten sprechen eine ganz klare Sprache: Rund 2,3 Millionen deutsche Erwachsene gebrauchen Cannabis, rund 22 Prozent der 15- und 16-jährigen
Schülerinnen und Schüler haben schon einmal Cannabis
konsumiert. Trotz des Verbots ist der Konsum in den
letzten Jahren gestiegen. Cannabis ist eine Alltagsdroge.
Das ist die Realität!
({1})
Deshalb gibt es aus unserer Sicht dringenden Handlungsbedarf. Wir brauchen eine neue, vernünftige
Grundlage für den Umgang mit Cannabis.
({2})
Wir legen Ihnen heute - das werden Sie sicherlich
schon bemerkt haben - einen sehr fundierten und gut
ausgearbeiteten Gesetzentwurf vor, mit dem wir vorrangig zwei Ziele verfolgen: Wir wollen die Kriminalisierung erwachsener Konsumentinnen und Konsumenten
beenden. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, mündige
Erwachsene vor sich selbst zu schützen. Hierzu bestünde
gerade beim Cannabiskonsum auch gar kein Anlass. Erwachsene sollen zukünftig 30 Gramm Cannabis oder
drei Hanfpflanzen für den Eigenbedarf besitzen können.
Ich habe schon heute Morgen den Tickermeldungen
entnommen, wie hier gegen unseren Gesetzentwurf argumentiert wird. Ich will ganz klar in Richtung von
Herrn Spahn sagen: Die 30-Gramm-Grenze in unserem
Gesetzentwurf hat nichts mit dem kurzfristigen Eigenbedarf zu tun. Wer einen dermaßen verquasten und an den
Haaren herbeigezogenen Zusammenhang herstellt, der
zeigt einfach, dass er keine rationalen Argumente gegen
unseren Gesetzentwurf hat.
({3})
Die derzeitige Kriminalisierung von Konsumentinnen
und Konsumenten muss beendet werden. Kiffen ist kein
Verbrechen.
Es ist aber auch klar, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen: Wir wollen die schützen, die wirklich Schutz brauchen: Das sind die Kinder und Jugendlichen. Es stimmt
ja: Wenn Jugendliche Cannabis konsumieren, insbesondere wenn sie das in größeren Mengen tun, dann kann
der Konsum schädlich sein und sehr negative Folgen haben. Das darf nicht verharmlost werden.
({4})
Deshalb wollen wir mit unserem Gesetzentwurf endlich
die Grundlage für einen funktionierenden Jugendschutz
schaffen. Wir werden wirksamen Jugendschutz erst dann
gewährleisten können, wenn wir ein reguliertes und kontrolliertes System der Cannabisabgabe haben.
({5})
Klar ist: Eine Abgabe an Kinder und Jugendliche
muss ausgeschlossen sein. In unserem Gesetzentwurf ist
eine Altersgrenze von 18 Jahren vorgesehen. Wer Cannabis an unter 18-Jährige abgibt oder verkauft, macht
sich selbstverständlich weiterhin strafbar.
({6})
Aber Fakt ist doch auch: Heute fragt der Dealer auf dem
Schwarzmarkt nicht nach dem Ausweis. In dem Cannabisfachgeschäft, das in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist, wird der Verkäufer das zukünftig tun. Das macht
doch den entscheidenden Unterschied, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen.
({7})
Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Kinder und Jugendliche Cannabisfachgeschäfte nicht betreten dürfen.
Die Geschäfte müssen einen bestimmten Abstand zu
Schulen und zu Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe einhalten. Cannabis darf nicht in Automaten oder
im Versandhandel angeboten werden. Auch ist in unserem Gesetzentwurf ein striktes Werbeverbot vorgesehen.
All das sind deutlich strengere Regelungen, als wir sie
heute für Alkohol vorsehen. Das zeigt, wie ernst es uns
ist, Kinder und Jugendliche mit unserem Gesetzentwurf
zu schützen.
({8})
Mit unserem Gesetzentwurf verfolgen wir aber auch
weitere Ziele. Wir ermöglichen beim Cannabiskonsum
überhaupt erst Verbraucherschutz; denn nur der kontrollierte Anbau und eine kontrollierte Abgabe stellen sicher, dass die heute fast schon üblichen und gefährlichen
Beimischungen von Giftstoffen ausgeschlossen werden
und auch der THC-Gehalt endlich dokumentiert und
transparent gemacht wird.
({9})
Mit unserem Gesetzentwurf bekämpfen wir die organisierte Kriminalität, weil damit dem Schwarzmarkt und
der Dealerei endlich die Grundlage entzogen würde. Das
ist übrigens sehr wichtig, um den Zugang zu Cannabis
für Jugendliche deutlich zu erschweren.
({10})
Wir entlasten die Strafverfolgungsbehörden. Zurzeit
werden jährlich rund 100 000 konsumnahe Delikte verfolgt. Die meisten Verfahren werden zwar eingestellt,
aber es werden viel Zeit und viele Ressourcen in die
Strafverfolgung investiert. Das kostet die Steuerzahler
im Jahr rund 1,8 Milliarden Euro. Das ist doch Geld, das
wir viel besser für die Suchtprävention einsetzen könnten.
({11})
Deshalb wundert es uns nicht - das freut uns auch -,
dass wir für unseren Vorschlag sehr viel Zuspruch aus
den Reihen der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden erfahren.
Ich will noch kurz auf einen anderen wichtigen Aspekt eingehen. Wir wollen für den Straßenverkehr einen
Grenzwert für den Konsum von THC-Produkten schafKatja Dörner
fen. Wir sehen hier 5,0 Nanogramm pro Milliliter vor.
Das ist der Wert, oberhalb dessen nach rechtsmedizinischer Forschung eine Beeinträchtigung der Fahrleistung
nicht ausgeschlossen werden kann. Einen derartigen
Grenzwert gibt es in fast allen anderen europäischen
Ländern schon lange. Es ist völlig unsinnig, dass einem
Konsumenten der Führerschein entzogen werden kann,
obwohl er unter Cannabiseinfluss überhaupt nicht am
Straßenverkehr teilgenommen hat. Auch diese Art von
Kriminalisierung muss ein Ende haben.
({12})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Zeit ist reif für
eine vernünftige Cannabispolitik. Die Erfahrungen mit
der Entkriminalisierung in anderen Ländern sind positiv.
Diese Erfahrungen zeigen auch, dass viele Befürchtungen, beispielsweise dass der Konsum von Cannabis dann
ansteigt, sich nicht bewahrheiten.
Vor diesem Hintergrund erwarte ich von den Regierungsfraktionen, dass wir darüber endlich eine sachliche
Debatte führen können. Das Wiederkäuen längst widerlegter Vorwürfe beim Thema Cannabis muss aufhören.
({13})
Wir brauchen endlich eine vernünftige Regelung, die
die sinnlose und teure Kriminalisierung beendet und vor
allem Kinder und Jugendliche endlich wirksam vor Cannabiskonsum schützt. Ich bin sehr gespannt auf die Beratungen, und ich freue mich auf die nächsten Wochen, in
denen wir das näher erläutern werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Marlene Mortler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
reden heute über einen Gesetzentwurf, der in erster Linie
das Strafrecht im Blick hat. Wir reden aber auch über
eine Lobby, die ich als die brutalste Lobby in meiner bisherigen politischen Arbeit erlebt habe.
({0})
Wir reden über eine Lobby, die mir den Tod wünscht.
Höhepunkt war die Eröffnung eine Facebook-Seite mit
dem Aufruf zur Hinrichtung von Marlene Mortler.
Meine Tochter hat mich einmal gefragt: Mutter, wie
hältst du das überhaupt aus? - Ganz einfach, habe ich ihr
geantwortet, wenn ich das nicht aushalte, dann bin ich
fehl am Platz. Ich habe eine Motivation. Meine Motivation ist meine Aufgabe als Drogenbeauftragte. Das heißt,
ich habe die Gesundheit der Menschen in unserem Land
im Blick, und dafür setze ich mich ein.
({1})
Ihr Gesetzentwurf hat die rechtlichen Auswirkungen
für die Gruppe der Freizeitkonsumenten im Blick. Damit
das klar ist: Konsum wird in unserem Land nicht bestraft; das ist eine sogenannte straffreie Selbstschädigung. Aber bei der rechtlichen Einstufung müssen wir
die gesundheitlichen Risiken und Langzeitfolgen des
Konsums aller Gruppen beobachten. Das muss der Maßstab sein. Das heißt, wir müssen abhängige Konsumenten und Jugendliche und die für sie bestehenden Risiken
besonders im Blick haben.
Viele erinnern sich vielleicht noch an die Feldzüge
von Bündnis 90/Die Grünen gegen das Rauchen und für
Rauchverbote in Gaststätten. Damals konnten die Gesetze nicht streng genug sein. Und heute?
({2})
Sicherlich erinnern sich noch alle an ihren Beitrag zur
Ernährungswende. Der Veggie-Day und Verbote sollten
es richten.
({3})
Erst Harmloses verbieten und jetzt Gesundheitsschädigendes erlauben: Das ist eine absolute Kehrtwende.
({4})
Ihre Drogenwende kann ich daher nicht akzeptieren.
Denn die Legalisierung - und Ihr Gesetzentwurf bedeutet faktisch eine Legalisierung - steht in direktem Widerspruch zu den Zielen des Verbraucherschutzes sowie zu
Ihren bisherigen eigenen Zielen, und sie beeinträchtigt
die Glaubwürdigkeit unserer Präventionspolitik. Wir haben vorhin die Debatte darüber aufmerksam verfolgt.
({5})
Wenn wir in unserem Land mit legalen Suchtmitteln
wie Alkohol und Tabak schon genug Probleme haben,
dann müssen wir keine zusätzliche Einladung für die illegale Droge Cannabis aussprechen.
({6})
Das bricht Tabus und verharmlost.
Sicherlich, junge Menschen wollen Grenzen ausloten.
Junge Menschen brauchen aber auch Grenzen. Wir wis9080
sen: Je jünger ein Cannabiskonsument ist, desto größer
sind die Risiken für ihn:
({7})
belastete Atemwege, Entwicklungsverzögerungen sowie psychische und körperliche Abhängigkeit. Das Auslösen bzw. das Verschlimmern von psychischen Erkrankungen gehört zu den Risiken. Die Denk- und
Merkfähigkeit leiden. Dauerhafte Schäden des Gehirns
sind nicht auszuschließen, auch nicht nach einer Abstinenz.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen?
Das können wir gerne zum Schluss machen.
({0}): Oh!)
Ich habe auf die Schädigung bei jungen Menschen
hingewiesen. Diese dürfen wir nicht verharmlosen. Erst
gestern habe ich dazu ein fünfstündiges Expertengespräch im Gesundheitsministerium geführt. Ehrlich gesagt, die Daten und Problemfälle aus den Behandlungseinrichtungen, die mir gestern einmal mehr geschildert
wurden, sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Wir brauchen weitere Daten über die sozialen Folgen eines frühen Cannabiskonsums, zum Beispiel über Schul- und
Ausbildungsabbrüche, über Jugendliche, die Jahre auf
ihrem Lebensweg verlieren und in ihrer Entwicklung
schwer und dauerhaft beeinträchtigt sind.
({1})
Es gibt also drängende Gesundheitsfragen, die durch
Ihren Gesetzentwurf trotz detaillierter Regelungen nicht
beantwortet werden.
({2})
Unsere Drogenpolitik in Deutschland fußt auf vier
Säulen: erstens Prävention, zweitens Beratung und Hilfe,
drittens Schadensminimierung bzw. -reduzierung und
viertens Strafverfolgung. Wir dürfen unser eigenes
Suchthilfesystem und unsere Drogenpolitik im eigenen
Land nicht schlechtreden. Aber wir müssen selbstverständlich immer wieder nachbessern. Auch ich hinterfrage immer wieder mein eigenes Handeln und Denken:
Gehe ich noch in die richtige Richtung? Ich befinde
mich laufend im Gespräch mit Suchthilfeeinrichtungen
und der Polizei und frage, ob eine Lockerung in Richtung Legalisierung geboten erscheint. Ich habe noch
keine Stimme gefunden, die Ja gesagt hat.
({3})
Frau Kollegin, der Abgeordnete Ströbele wünscht,
eine Zwischenfrage zu stellen. Mögen Sie sie zulassen?
International genießt unsere ausgewogene Drogenpolitik eine hohe Anerkennung. Zuletzt konnte ich das bei
der Tagung der CND, der Commission on Narcotic Drugs,
der internationalen Suchtstoffkommission, in Wien erleben.
({0})
Dort habe ich mit Drogenexperten und Gesundheitsministern aus der ganzen Welt gesprochen. Auf dieser
Konferenz haben sich Europa und selbst die USA für die
unveränderte Aufrechterhaltung der sogenannten UNDrogenkonventionen ausgesprochen.
({1})
Deutschland und 183 andere Nationen haben diese Konventionen 1961, 1971 und 1988 unterschrieben. Sie wollen nun, dass wir aus diesen Einheitsabkommen austreten. In der Opposition kann man sicherlich alles fordern.
Aber unsere Regierung trägt Verantwortung. Wir werden
unseren internationalen Ruf, unsere Verlässlichkeit und
unsere Glaubwürdigkeit mit Sicherheit nicht aufs Spiel
setzen, nach dem Motto „kurz raus, dann wieder rein“.
Das ist unseriös.
({2})
In der Konvention von 1961 steht ganz klar: Cannabis
für den Freizeitkonsum ist illegal. - Für medizinische
und wissenschaftliche Zwecke gibt es Spielraum. Diesen
Spielraum nutzen wir. Wir werden demnächst den Entwurf eines Gesetzes vorlegen, das mehr und schwer
chronisch erkrankten Patienten den Zugang zu Cannabisarzneimitteln erleichtern soll.
Zur Erinnerung: Es war die unionsgeführte Bundesregierung, die zum ersten Mal überhaupt in diesem Land
ein Cannabisfertigarzneimittel zugelassen hat.
({3})
Es wird wieder die unionsgeführte Bundesregierung
sein, die in unserem Land die Verkehrs- und Erstattungsfähigkeit von Cannabis als Medizin aus der Apotheke erweitern wird. Dafür danke ich auch unserem Koalitionspartner. Wir sind hier auf einer Linie; wir sind uns hier
komplett einig.
({4})
Wir sind uns aber auch darin einig, dass wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Er ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang und nicht einschätzbarem Risiko:
Hanfanbau für jeden, 30 Gramm pro Einkauf; im Gesetzentwurf steht nichts von einer Limitierung auf einen
Tag, einen Monat oder ein Jahr. Mein Kollege Jens
Spahn hat ausgerechnet: Diese 30 Gramm reichen für bis
zu 120 Joints. Er hat treffend geschlussfolgert: DerjeMarlene Mortler
nige, für den das der „kurzfristige Eigenbedarf“ ist, ist
abhängig und braucht eher einen Arzt.
({5})
- Ich zitiere den zuständigen Experten in Uruguay, lieber
Kollege, der vor Ort der Oberexperte ist. Er sagt: Bereits
der regelmäßige Konsum von 1 Gramm Marihuana am
Tag bedeutet, dass man zur Risikogruppe gehört und damit ein gesundheitliches Problem hat.
({6})
Unsere Gesundheit zählt. Es darf hier nicht um das
große Geschäft gehen. Mit diesem Gesetzentwurf forcieren Sie ein Geschäft, eine Industrie, die Sie gestern noch
massiv bekämpft haben.
({7})
Deshalb fordere ich Sie auf - ich werde gleich einen persönlichen Beitrag dazu leisten -: Kümmern Sie sich besser um natürliche geistige Energie, die Sie frisch hält.
({8})
Ich danke dem Präsidenten für die Geduld.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin Mortler,
der Grund, warum die Patienten in Deutschland heute
noch damit rechnen müssen, dass Cannabis als Medizin
so schlecht verfügbar ist, ist das Verhalten der CDU/
CSU-Fraktion. Die Schuld liegt bei ihr, weil sie die Legalisierung von Cannabis seit Jahren und Jahrzehnten
behindert hat, und zwar mit genau den gleichen Argumenten, die Kollege Spahn jetzt auch wieder bemüht,
um unseren Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes in
Misskredit zu bringen.
({0})
Es verwundert mich gar nicht, wenn Sie immer nur
diejenigen hören, die davor warnen, so ein Gesetz zu
machen. Es hängt immer davon ab, welche Gesprächspartner man sich sucht. Man kann sich in unserer Gesellschaft auch Gesprächspartner suchen, die Ihnen genau
sagen werden, dass die Politik, die Sie bisher verfolgt
haben, in Deutschland gescheitert ist.
Wenn Sie jetzt sagen: „Unsere Drogenpolitik basiert
auf vier Säulen: Prävention, Schadensminderung, Behandlung, Repression“ - Sie kommen erst am Ende zur
Repression -, dann muss ich Ihnen entgegnen: Es ist
doch genau umgekehrt. Es werden 70 bis 80 Prozent der
Mittel für Repression ausgegeben, und die restlichen
Mittel werden für Prävention, Schadensminderung und
Behandlung ausgegeben.
({1})
Wenn Sie an die Basis gehen, in Behandlungseinrichtungen, dann wird man Ihnen genau das sagen: dass die
Ausstattung der Behandlungseinrichtungen und der Beratungseinrichtungen mit Mitteln bei uns viel zu kurz
kommt. Deswegen ist dieser Ansatz in Deutschland natürlich gescheitert.
Sie haben nicht ein Wort darüber verloren, dass unser
Gesetz - ich möchte Sie auffordern, dazu noch einmal
Stellung zu nehmen - einen starken Akzent auf Jugendschutz setzt. Sie haben richtigerweise argumentiert, dass
Cannabis in der Entwicklung von Jugendlichen einen
Schaden anrichten kann.
({2})
Das haben wir bisher auch nie infrage gestellt. Vor allen
Dingen wird es in unserem Gesetzentwurf überhaupt
nicht infrage gestellt.
Ganz im Gegenteil: Wir stärken den Jugendschutz,
weil wir etwas dagegen tun, dass die potenziellen Konsumenten auf dem Schwarzmarkt einkaufen, wo alles
Mögliche verkauft wird.
Im Übrigen haben Sie auch nicht ein Wort darüber
verloren, welche negativen Folgen sozusagen die Aufrechterhaltung des Schwarzmarkts in Deutschland für
das gesamte Geschehen hat, was die Konsummittel betrifft.
Ich möchte Sie zu noch etwas auffordern.
({3})
Es ist ja nett, dass Sie uns da offensichtlich eine Pflanze
hingestellt haben.
({4})
- Nüsse.
({5})
Es gibt auch andere Bilder von Ihnen.
Sie haben auch die folgende Frage nicht beantwortet:
({6})
Was tun Sie eigentlich dafür, dass die negativen Folgen
des Alkoholismus in Deutschland angegangen werden?
({7})
Diese Vorwürfe gegenüber einem seriösen Gesetzentwurf kann ich so nicht stehen lassen.
({8})
Frau Mortler, mögen Sie darauf antworten?
Ja.
Bitte.
Herr Präsident! Herr Kollege Terpe, man merkt, dass
Ihnen das Herz voll ist; mir auch.
Die symbolischen Nüsse, die ich hier überreicht habe,
sind wirklich für die geistige Gesundheit, um das noch
einmal klarzustellen.
({0})
Statt Hanf.
({1})
- Ich habe Zeit.
({2})
- Ich habe Zeit, Herr Präsident.
Ich würde gern einen Kommentar aus der SZ vom
5. März zitieren, der das ziemlich auf den Punkt bringt:
Der Gesetzentwurf der Grünen versucht sich nun in
einer Art Entspannungspolitik: Erwachsene sollen
({3}) Cannabis in geringen
Mengen und unter strengen Auflagen besitzen und
konsumieren dürfen, der Schwarzmarkt soll verschwinden, die Staatskasse gefüllt, die Jugend geschützt werden.
({4})
Wenn das so funktionierte und nebenbei der Krieg
zwischen den Anhängern der „Verbietet alles!“-Religion und den „Erlaubt alles!“-Gläubigen endete,
dann wäre das schön.
({5})
Wenn darüber in Vergessenheit geriete, dass Hasch
gefährlich ist und bleibt, wäre das schlecht. Ein
Cannabiskontrollgesetz kann regeln, was nicht abzuschaffen ist. Dass mit ihm die große Bürgerfreiheit verwirklicht werden soll, ist Mumpitz.
Die Überschrift lautet „Im Rausch der Illusion“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Frank Tempel, Fraktion Die Linke.
({0})
Ich habe übrigens keine Angst vor Zwischenfragen. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Besitz und Erwerb von Cannabisprodukten sind
in Deutschland strafbar. Auch der Anbau ist strafbar. Das
ist die konkrete aktuelle Rechtslage in Deutschland.
({0})
Von straffreiem Konsum zu reden, ist reichlich inkompetent.
({1})
Als Kriminalbeamter in Thüringen habe ich im
dienstlichen Auftrag Strafanzeigen schreiben müssen,
weil Tüten mit Restanhaftungen von Cannabis den Anfangsverdacht begründeten, dass der Betroffene im Besitz von Cannabis war. Bereits das führte zur Strafanzeige. Wer diese Kriminalisierung von Menschen mit
dem Argument abtut, dass diese Verfahren wieder eingestellt werden, den muss ich fragen: Wie rechtfertigt man,
dass Hunderte von Polizeibeamten diese Anzeigen erst
einmal schreiben müssen, dass Hunderte von Polizeibeamten unterwegs sind, um Kontrollen durchzuführen
und Wohnungen zu durchsuchen, wenn die Verfahren
von der Staatsanwaltschaft dann in der Regel wieder eingestellt werden? Welchen Sinn macht das?
({2})
Sie haben von vier Säulen der Drogenpolitik gesprochen. 86 Prozent der Mittel entfallen allein auf die Säule
der Repression. Wer das damit begründet, dass der
Schutz von Kindern und Jugendlichen beabsichtigt ist,
dem muss ich sagen: Der Schwarzmarkt ist so ziemlich
der schlechteste Jugendschutz.
({3})
Die Strafbarkeit gilt aber auch für 40-, 50- und 60Jährige. Sie gilt im Übrigen auch völlig unabhängig davon, ob der Cannabiskonsument tatsächlich einen gesundheitsgefährdenden Umgang damit pflegt oder ob er
ein Gelegenheitskonsument ist, der die festgestellte
Menge lediglich dazu hat, um eine Weile damit auszukommen. Auch er wird kriminalisiert. Hier wird ein Verhalten bestraft, das bei unsachgemäßem Umgang möglicherweise zu einer Selbstschädigung führt. Das ist
einmalig im deutschen Strafrecht.
Ja, der missbräuchliche Konsum - das wird nicht ignoriert; auch nicht im Antrag der Grünen - ist riskant, ist
gefährlich, und das besonders, wenn im sehr frühen AlFrank Tempel
ter damit begonnen wird. Deswegen muss man natürlich
klare Jugendschutzregeln schaffen. Während wir aber
hier darüber diskutieren, wie wir das machen können,
schaffen wir es beim Alkohol noch nicht einmal, über
konkrete Werbeverbote zu reden.
({4})
Sie, liebe Kollegen von der Union, lehnen die Legalisierung von Cannabis ab, damit nicht, wie man ja hört,
neben Tabak und Alkohol eine weitere gefährliche
Droge auf den Markt kommt. Ich weiß nicht, in welcher
Welt Sie leben. Wir haben circa 2,5 bis 4 Millionen Cannabiskonsumenten in Deutschland. Diese Droge ist da,
und der Versuch der Durchsetzung des Verbots kostet
eben sehr viel Geld, das an anderen Stellen für Prävention fehlt.
({5})
Stattdessen haben wir einen Schwarzmarkt, Streckmittel
und keinen Einfluss auf den Wirkstoffgehalt, keinen Jugendschutz. Deswegen muss es einfach legitim sein, Alternativen zu diskutieren.
Die Linken haben in der letzten Legislatur den Vorschlag gemacht, eine nichtkommerzielle Lösung, angelehnt an die Cannabis Social Clubs in Spanien, anzubieten. Das heißt, sowohl legal als auch illegal kann
niemand mit diesem Produkt Geld verdienen. Das wäre
präventiv durchaus eine interessante Lösung. Die Grünen haben jetzt einen anderen Vorschlag eingebracht, der
auch kommerzielle Lösungen beinhaltet, aber ebenfalls
Lösungsansätze in den Bereichen Jugendschutz, Verbraucherschutz und Prävention bietet. Das ist vielfach
ganz klar eine bessere Lösung als Schwarzmarkt, Streckmittel und Stigmatisierung von 4 Millionen Menschen in
diesem Land.
({6})
Wir haben natürlich überlegt, ob auch wir schnell
noch einen Antrag vorlegen. Nein, das machen wir ganz
bewusst nicht. Wir reden heute über den Antrag der Grünen. Den werden Sie eventuell wieder ablehnen. Das
wurde ja in Ihrer nicht sehr sachlichen Rede eben deutlich. Für diesen Fall verspreche ich Ihnen, dass wir hier
wiederum einen Antrag vorlegen werden. Dieses Thema
werden Sie aus dem Bundestag nicht mehr herausbekommen. Das ist übrigens ein Versprechen.
({7})
In dieser Debatte zur Legalisierung müssen Sie einfach einmal Ihre zwei, drei Experten, die Ihnen noch geblieben sind, beiseitelassen und auf die wirklichen
Experten hören. Ich rede da von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, einem relativ breiten Sammelbecken. Alle drei Polizeigewerkschaften haben sich mittlerweile zu dem Thema geäußert. Die Hälfte aller
Strafrechtsprofessoren hat sich zu diesem Thema geäußert. Sie stellen sich hier allen Ernstes hin und behaupten, Sie finden keine Experten, die etwas anderes sagen.
Das ist reichlich ignorant.
({8})
Liebe Kollegen von der Union und auch von der SPD,
Sie haben noch eine zweite Chance: Es befindet sich
nach wie vor im Beratungsprozess des Bundestages ein
Antrag zur Evaluierung des Drogenstrafrechts. Sie haben da eine Chance. Stellen Sie die richtigen Fragen. Sie
glauben, Nachfrage und Angebot durch ein Verbot zu reduzieren. Dann überprüfen Sie es. Es gibt viele Länder,
die andere Wege gehen. Sie zweifeln die Zahlen an.
Überprüfen Sie es. Wir sagen, dass die fehlende Kontrolle Produkte auf dem Schwarzmarkt noch gefährlicher
werden lässt durch fehlende Wirkstoffgehaltangaben,
durch Streckmittel; Sie ignorieren das. Dann überprüfen
Sie es! Stellen Sie die richtigen Fragen. Dieser Antrag ist
noch in der Pipeline und soll hier beraten werden. Alle
Zahlen, Tendenzen und Fakten können auf den Prüfstand; aber die Diskussion zu verweigern, ist einfach unakzeptabel.
({9})
Ich möchte aber trotzdem ganz zum Schluss - die Zeit
ist abgelaufen - anerkennen, dass es zumindest die Ansage gibt, im Bereich der medizinischen Verwendung etwas zu machen. Ich hoffe sehr, dass es nicht nur darum
geht, den wenigen Erlaubnisinhabern jetzt Kosten zu erstatten, sondern dass es hier auch darum geht, zum Beispiel den Zugang zur Anwendung von Medizinalhanf zu
erleichtern. Jeder Zehnte, der einen Antrag auf Erlaubnis
zur Verwendung von Medizinalhanf stellt, stirbt, bevor
sein Antrag überhaupt entschieden ist. Jeder Zehnte
stirbt, bevor der Antrag - Frau Mortler, ich rede auch mit
Ihnen - überhaupt bearbeitet ist. Das ist unterlassene
Hilfeleistung durch die Bundesregierung.
Danke schön.
({10})
Für die SPD hat jetzt der Kollege Burkhard Blienert
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Tagesordnung will es so, dass wir direkt im Anschluss an
die Debatte um ein Präventionsgesetz, in dem es um
Vorsorge und Krankheitsvermeidung geht, über eine
Droge diskutieren. Das passt gut zusammen. Bezogen
auf den Bereich Drogen und Sucht stellt die WHO ja
fest, dass 40 Prozent aller Erkrankungen und frühzeitiger
Todesfälle auf insgesamt drei Faktoren zurückzuführen
sind: Rauchen, Alkohol und unter Alkoholeinfluss verursachte Verkehrsunfälle. Das macht nur allzu deutlich,
wie wichtig ein lebensweltbezogener Ansatz einer erfolgreichen Prävention ist.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf behandelt die Freigabe der illegalen Droge Cannabis. Da ergibt sich erst
einmal ein Widerspruch. Aber es hat sich gezeigt, dass
wir auf vielen Ebenen letztendlich über ein wesentliches
Ziel unserer Politik diskutieren müssen. Ich zitiere: Gerade Cannabis
verlangt … nach umfassender, kontinuierlicher gesundheitspolitischer Beachtung. Es gilt, seinen
Konsum nachhaltig zu begrenzen und seine gesundheitlichen und sozialen Folgen effektiv zu mindern.
Das war ein Zitat aus dem Vorstandsbeschluss der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen aus dem Jahr 2004.
Ich finde, dieses Ziel ist für Cannabis nach wie vor richtig und wichtig. Es ist auch nach weiteren elf Jahren
bundesdeutscher Drogen- und Suchtpolitik noch nicht
erreicht. Wir sind vielleicht sogar noch weiter davon entfernt als 2004.
Es muss um die Frage gehen, einen möglichst umfassenden Gesundheitsschutz sicherzustellen und gleichzeitig die sozialen und wirtschaftlichen Folgen im Auge zu
behalten. Deshalb kann es eben nicht einfach um die
Fragestellung „Legal oder illegal?“ gehen. Rund ein
Viertel der Altersgruppe zwischen 18 und 64 Jahren haben Cannabis schon einmal konsumiert. Laut Suchtsurvey 2012 konsumierten knapp 3 Millionen Personen
Cannabis in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung.
({1})
Die Prävalenz hat eben trotz Illegalität der Droge nicht
abgenommen.
({2})
Mit Ihrem Gesetzentwurf versuchen Sie nun einen gewagten Spagat: den Konsum der illegalen Droge Cannabis in den Griff zu bekommen, sie als Genussmittel für
Erwachsene hoffähig zu machen und gleichzeitig Jugendliche vor dem Konsum zu schützen. Wörtlich heißt
es hierzu in der Begründung:
Notwendig ist ein gesundheitspolitischer Ansatz,
der Prävention und Intervention bei Jugendlichen
und einen möglichst risikoarmen Konsum bei Erwachsenen fördert.
Ursache dieses Gesetzes ist natürlich die unbestrittene
Einschätzung, dass die Prohibitionspolitik nicht dazu geführt hat, dass Cannabiskonsum verhindert wurde, sondern, wie im Gesetzestext dargelegt ist, noch anstieg.
Für mich ist es daher politisch durchaus gerechtfertigt,
sich die Frage zu stellen, ob nicht andere Wege im Umgang mit Cannabis sinnvoller wären,
({3})
ob nicht über neue Wege der Staat in die wichtige kontrollierende und präventive Rolle gelangen würde. Ich
warne aber eindringlich davor, die Gefahren von Cannabis zu bagatellisieren und zu meinen, dass nur Jugendliche vor dem Konsum zu schützen seien.
({4})
Grundsätzlich sollte die Einschätzung gelten: Cannabis
ist eine Droge. Sie birgt Suchtpotenzial, und sie ist gesundheitsschädlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch im Sommer
des letzten Jahres wollten Sie in einem gemeinsamen
Antrag mit den Linken die Wirkungen des Betäubungsmittelrechts evaluieren lassen. Diesen Ansatz lassen Sie
jetzt erst einmal fallen.
({5})
Sie wischen das Ziel der Erkenntnisgewinnung weg und
stellen einen Gesetzentwurf vor, der medienwirksam von
Ihrem Parteivorsitzenden angekündigt wurde. Das ist für
mich aber keine vertrauensbildende und vorsorgende
Gesundheitspolitik.
({6})
Die Idee eines regulierten Marktes für die Cannabisabgabe will ich gar nicht per se verdammen. Es lohnt sich
mit Sicherheit, gerade weil die Verbotspolitik nicht die
erhoffte Wirkung hatte, den Blick zu weiten, in Länder
jenseits von Deutschland zu schauen, auch in andere europäische Länder wie Portugal, Niederlande und die
Schweiz.
({7})
Aber die Inhalte und Regelungen müssen zweckdienlich
sein; sie dürfen nicht ideologisch sein. Zweckdienlich
heißt für mich: Nicht der Genuss eines Suchtmittels hat
Vorrang, sondern die Prävention und ein sicherer Konsum.
Unabhängig vom vorliegenden Gesetzentwurf muss
daher sichergestellt sein: Sollte sich eine regulierte Freigabe von Cannabis als sinnhaft herausstellen, so darf
dies kein Einfallstor im Umgang mit anderen Drogen
werden. Wir dürfen nicht in eine Öffnungsschiene geraten, die wir nicht beherrschen können. Deshalb gilt: Aufgabe unserer Gesundheitspolitik muss weiterhin die Abwehr und die Vorbeugung von Suchterkrankung bleiben;
es darf nicht um die grundsätzliche Freigabe von Suchtstoffen unter dem Deckmantel des „Rechts auf Selbstschädigung“ gehen.
Herr Kollege Blienert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Ja. Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident! Vielen Dank, Herr Kollege Blienert, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Zunächst: Ich bin in dem Thema dieser Debatte emotional
engagiert, weil ich vor 40 Jahren meinen ersten Artikel
dazu veröffentlicht habe, damals in der Schülerzeitung
mit dem schönen Namen Pegel; er trug den Titel: „Legalize it“. Die Legalisierung von Haschisch und Marihuana
ist also ein Thema, das mir persönlich schon lange am
Herzen liegt; denn es gibt keinen Grund, diese anders zu
behandeln als Alkohol.
Aber nun zu meiner konkreten Frage. Ich habe in Ihrer Rede nicht so richtig erkennen können, dass Sie dagegen sind, Haschisch und Marihuana zu legalisieren.
Ich habe zumindest keine Argumente gehört. Sie haben
sehr sachlich abgewogen. So frage ich Sie: Sind Sie gegen den Gesetzentwurf der Grünen, oder sind Sie dafür?
Ich möchte Sie bitten, auch etwas zu der Bewertung
zu sagen, die Ihr SPD-Kollege Thomas Isenberg, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, vorgenommen hat, und dazu, wie Sie zu der Differenz in den Auffassungen stehen. Er hat nämlich erst kürzlich erklärt:
„Das Verbot von Cannabis ist gescheitert“, und er hat gefordert, Modellprojekte für eine legale Abgabe von Cannabis einzuführen. Meine Frage ist: Wie stehen Sie
dazu? Wann kommt die SPD zu einer einheitlichen Position in Sachen Cannabislegalisierung?
Letzte Bemerkung: Wir haben heute nicht nur den
Equal Pay Day und die Sonnenfinsternis. Nein, wir haben auch Frühlingsanfang. Vor allen Dingen haben wir
heute aber den internationalen Tag des Glücks.
({0})
Machen Sie uns doch alle glücklich, und sagen Sie an
dieser Stelle, dass die SPD auch einmal einem vernünftigen Gesetzentwurf der Opposition zustimmen kann.
({1})
Sehr geehrter Herr Kollege, ich freue mich zunächst
sehr über Ihr Zutrauen, dass die SPD das Glück tatsächlich bringen kann.
({0})
Ich finde, das haben wir heute schon gerechtfertigt.
Zum ersten Punkt Ihrer Frage. Wir reden heute über
einen gerade eingebrachten Gesetzentwurf. Wir werden
ihn dann ja auch im Ausschuss beraten. Ich glaube, zur
gesamten Bandbreite beim Umgang mit dem Thema
Cannabis - Cannabis als Medizin, Cannabis als Genussmittel, Cannabis als Risikofaktor, insbesondere für Jugendliche, einer möglichen Drogenkarriere - gehört tatsächlich auch, Abwägungen zu treffen und ideologiefrei
darüber zu reden. Ich glaube, die Zeit für diesen Prozess
sollten wir uns auch nehmen,
({1})
sonst geraten wir viel zu schnell in Widersprüche.
Zum zweiten Punkt. Dass der Kollege Isenberg aus
Berlin notwendigerweise und richtigerweise darauf hingewiesen hat, was für Berlin richtig und wichtig sein
kann, will ich gar nicht bewerten. Ich glaube, er hat
wichtige Sätze für Berlin gesprochen. Er hat auch deutlich gemacht, wie intensiv sich die SPD in den Ländern,
in den großen Städten und Kommunen des Themas annimmt.
({2})
Wir sind dabei, diese Meinungen zusammenzubringen
und ergebnisbezogen zu diskutieren.
Ich denke, da wir in den letzten Jahren wenige Fortschritte verzeichnen konnten, müssen wir uns jetzt wenigstens die Zeit nehmen, die wir notwendigerweise
brauchen, um die richtigen Antworten zu finden. Die
richtigen Antworten können nur gefunden werden, wenn
wir uns danach richten, dass es nicht von oben, vom
Bund aus, verordnet werden kann,
({3})
sondern in den Ländern und Kommunen gleichzeitig
eine Debatte geführt werden muss, und so dafür sorgen,
dass wir eine gesellschaftliche Akzeptanz bekommen,
um über Drogen im Allgemeinen und natürlich Cannabis
im Besonderen zu diskutieren.
({4})
Ich komme zum Schluss. Vor diesem konkreteren
Hintergrund bin ich bereit zu einer Debatte, auch über
einen regulierten Markt für die Abgabe von Cannabis.
Der regulierte Markt darf aber nicht einem suchtmäßigen
Konsum dienen. Eine Regulierung soll den Schwarzmarkt austrocknen und Kriminelle von den Konsumenten fernhalten, Konsumenten entkriminalisieren,
({5})
und gleichzeitig starke präventive Maßnahmen vorsehen.
({6})
Hierzu reicht es nicht aus, lediglich den Jugendschutz zu
gewährleisten. Der Konsum kann auch für Erwachsene
allenfalls in klaren Grenzen stattfinden. Freimengengrößen, Anbauregelungen, Vertriebsstrukturen und steuerrechtliche Maßnahmen müssen hierzu genauestens überlegt und diskutiert werden.
Mein Ziel wird es nicht sein, einen Rausch für alle zu
gewährleisten. Mein Ziel wird es sein, gesundheitliche
Prävention zu stärken und Lebensstile unter nachdrücklichem Verweis auf Risiken und Nebenwirkungen bestimmter Konsumverhalten nicht zu kriminalisieren, damit der Staat wieder die Kontrolle über diesen Bereich
erhält, die er benötigt.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Rudolf
Henke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will erst einmal sagen:
Ich glaube, dass ein solcher Antrag in den Deutschen
Bundestag gehört, wenn - wie der Deutsche Hanfverband über Emnid hat ermitteln lassen - 19 Prozent Zustimmung dafür vorhanden ist - die anderen stimmen
nicht zu -, einen kontrollierten Zugang zu einem nichtmedizinischen Cannabisnutzen zu ermöglichen. Der Ort
der Debatte ist also in Ordnung.
({0})
- Ja, wo soll man es sonst machen, wenn nicht im Parlament? Ich finde das schon völlig normal.
({1})
Ich erinnere mich auch, dass man bei solchen Debatten und Auseinandersetzungen sehr individuelle Meinungen haben kann. Ich habe mich als Mitglied der
CDU-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, als
es um die Frage ging, ob man die bayerische Lösung eines Tabakverbots in Gaststätten in Nordrhein Westfalen
einführt, gegen die Haltung der damaligen CDU-geführten Regierung dafür ausgesprochen. Ich wollte die bayerische Lösung in Nordrhein-Westfalen haben, was den
Tabakkonsum anging.
({2})
Damals waren die Grünen der Meinung, dass es so, wie
es in Bayern im Rahmen einer Volksabstimmung beschlossen und dann gemacht wurde, richtig sei. Ich habe
es, wenn man so will, als eine Art kleinen Nichtverbreitungspakt für Suchtmittel verstanden, den der kleine Abgeordnete Rudolf Henke mit einer späteren grünen Gesundheitsministerin geschlossen hat.
({3})
Ich staune jetzt ein bisschen, wie man - auch in Bezug auf den heutigen Internationalen Tag des Glücks zu dem Schluss kommen kann, dass das, was wir in Bezug auf Suchtstoffe, auf süchtig machende Substanzen,
auf Abhängigkeit erzeugende Substanzen, brauchen,
nicht ein Nichtverbreitungspakt, sondern ein Verbreitungspakt sei. Was wir brauchen, ist doch ein Nichtverbreitungspakt für süchtig und abhängig machende Substanzen, und der muss auf gesellschaftlicher Ebene
geschaffen werden.
({4})
Deswegen müssen verantwortliche Politiker mit der illusionären Verbreitung der Hypothese aufhören, dass Cannabis glücklich macht.
({5})
Denn das ist doch die Frage, die dahintersteckt. Die SPD
soll ja nicht Sie glücklich machen, sondern die SPD soll
Sie dadurch glücklich machen,
({6})
dass der Zugang zu Cannabis ermöglicht wird. Genau
das ist die falsche Botschaft an Kinder und Jugendliche
({7})
und an Menschen, die vor der Frage stehen: Wie gehen
wir mit einer solchen Substanz um?
Ich würde von verantwortlichen Politikern erwarten,
dass sie sagen: Der Substanzorientierung, die in dieser
Gesellschaft in der Tat fälschlicherweise verbreitet ist
- wir assoziieren mit materiellen Dingen Glück -, müssen wir mannhaft und frauhaft entgegenstehen. Dazu
müssen wir sagen: Weder das Nikotin noch der Alkohol
noch das Cannabis noch andere illegale Drogen machen
glücklich. Wenn dieses Signal von der Debatte ausgehen
würde, dann wäre das eine Botschaft an die Kinder und
Jugendlichen in unserem Land.
({8})
Insofern geht es hier eigentlich um die Frage: Wie bekommen wir Generalprävention möglichst gut hin?
Herr Kollege Henke, gestatten Sie zwei Zwischenfragen? Der Kollege Dr. Terpe und der Kollege Ströbele
möchten diese stellen.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Henke,
lieber Rudolf, ich weiß nicht, ob die Rede nach dem
Satz, der jetzt kam, eine ganz andere Richtung nimmt.
Ich möchte aber fragen, wo du unserem Gesetzentwurf
entnommen hast, dass wir die glückseligmachende Bedeutung von Cannabis in den Vordergrund stellen. Ich
weiß nicht, woher du das nimmst.
({0})
Nein.
Genau das Gegenteil ist der Fall.
Ich hoffe, dass die folgenden Ausführungen zeigen
werden, dass der repressive Ansatz an den Problemen,
die wir natürlich in der Gesellschaft mit Cannabis haben,
überhaupt nichts geändert hat, sondern sie - im Gegenteil - sogar befördert hat.
({0})
Diese Einschätzung teile ich nicht. Meine Überzeugung ist, dass der repressive Ansatz, den wir verfolgen
- auch das, was Sie, Herr Tempel, und Ihre Kollegen als
Polizeibeamte in Thüringen gewissermaßen als fruchtlose Arbeit empfunden haben -, nicht fruchtlos ist, sondern zur generalpräventiven Wirkung beiträgt, die dazu
führt, dass laut der erwähnten Befragung eben nur
19 Prozent dafür sind, einen kontrollierten Zugang zu einem nichtmedizinischen Cannabiskonsum zu ermöglichen.
Ich glaube, wir müssen daran arbeiten, einen gesellschaftlichen Konsens aufrechtzuerhalten, dass auch Cannabis zu den Stoffen gehört, die man nicht nutzt, genauso wie ich einen solchen Konsens für das Nikotin
will, und ich will ihn auch gegen übermäßigen Alkoholkonsum. Ich bin gern bereit, darüber zu diskutieren, auch
mit jedem aus jeder grünen Fraktion in Deutschland:
Was können wir zusätzlich tun, um den missbräuchlichen Alkoholkonsum einzuschränken? Und was können
wir tun, um den Tabakkonsum noch mehr zurückzudrängen? Aber das kann ich doch nicht mit Menschen tun,
die gleichzeitig propagieren, dass man jetzt mit einem
Kontrollgesetz den Leuten den Eindruck verschafft, als
gäbe es einen quasi risikofreien Konsum von Cannabis.
Das ist das Problem.
Was die Frage mit der Glückseligkeit betrifft, also ob
die bei euch im Antrag steht: Es stimmt, Harald, sie steht
da nicht. Sie stand aber bei der Frage im Raum, die der
Kollege von der Linken gestellt hat.
({0})
Nun hat der Kollege Ströbele die Möglichkeit, seine
Zwischenfrage zu stellen.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. - Sind Sie mit mir als Nicht-User der Meinung,
({0})
dass man Drogen überhaupt nicht nehmen soll, dass man
keine Drogen nehmen soll und dass man, wenn man
schon Drogen zulassen will oder muss, diese nach ihrer
Gefährlichkeit für die Gesellschaft behandeln sollte, und
dass vor dem Hintergrund dieses Grundsatzes der Genuss von Alkohol, und zwar nicht nur der übermäßige,
sondern überhaupt der Genuss von Alkohol, weil auch
dieser dazu führen kann,
({1})
dass er übermäßig wird, sowie der Genuss von Zigaretten bzw. Tabak um ein Vielfaches gefährlicher sind als
der Genuss von Cannabis?
Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass man als
ein billig und gerecht denkender Mensch, der die Drogen
nach ihrer Gefährlichkeit behandelt, zu dem Ergebnis
kommen muss, dass, wenn Alkohol und Zigaretten nicht
verboten sind - ich bin auch in diesen Fällen gegen ein
Verbot -, auch Cannabis schon aus Gründen der Gerechtigkeit gleichbehandelt werden muss, weil an Alkohol
und Zigaretten jedes Jahr in Deutschland Zehntausende
von Menschen sterben, am Genuss von Cannabis kein
einziger Mensch stirbt,
({2})
und - ich möchte Cannabis nicht bagatellisieren; es ist
gefährlich; ich rate auch allen davon ab, es zu nehmen das Mittel des Strafrechts ein ungerechtes Mittel im
Gleichklang dieser Drogen ist?
Deshalb bitte ich Sie: Schließen Sie sich mir an. Setzen Sie sich für ein Werbeverbot für Alkohol ein. Setzen
Sie sich dafür ein - das ist ein dringendes Gebot -, dass
vom Konsum von Cannabis, Alkohol und Zigaretten Abstand genommen wird. Setzen Sie sich aber auch für eine
Gleichbehandlung der Drogen ein und dafür, dass man
Unterschiede nur anhand des Grades der Gefährlichkeit
machen darf.
({3})
Vielen Dank, Herr Ströbele, für diese Frage. - Nach
meiner Einschätzung und ärztlichen Kenntnis möchte
ich zunächst einmal sagen: In der Tat gibt es in Deutschland jährlich 40 000 Alkoholtote und 100 000 Nikotinbzw. Tabaktote. Deshalb haben wir allen Grund dazu, die
Bemühungen, die wir in Gang gebracht haben, mit dem
Entwurf eines Präventionsgesetzes so erfolgreich wie
möglich voranzutreiben.
Was nun die Behandlung auf gleicher Ebene und die
genannte Konstruktion von Gerechtigkeit betrifft, so
finde ich, dass dies einfach der historischen Ausgangslage nicht gerecht wird, denn die historische Situation ist
so: Tabak, im Rückgang befindlich, hat eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz.
({0})
Das ist ein historischer Sachverhalt. Wir kämpfen dagegen. Wir setzen zum Beispiel Steuerpolitik ein, um den
Tabakkonsum zu disincentivieren. Das ist eine kluge
Maßnahme angesichts des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses beim Tabak.
Beim Alkohol ist das Kräfteverhältnis noch einmal
anders und komplizierter, weil es natürlich auch Daten
zu einem in bestimmten Grenzen und in bestimmten Fällen gesundheitsverträglichen Alkoholkonsum gibt.
({1})
- Die Daten sind halt so, dass er in bestimmten Fällen
auch eine kreislaufprotektive Wirkung entfalten kann.
Insofern sind Sie in einer rechtlich viel komplexeren Situation.
Jetzt zur Cannabisproblematik: Ich würde der großen
Gesundheitsgefahr, die von Tabak und Alkohol ausgeht
- dem Argument, das Sie gebracht haben, stimme ich zu -,
keine weitere Gesundheitsgefahr addieren. Dies ist ja gerade der Widerspruch, den ich Ihnen vorwerfe und mit
dem Sie in meiner Wahrnehmung ein Stück weit unglaubwürdig werden. Ich bitte dafür herzlich um Verständnis.
({2})
In Bezug auf die Gefahren möchte ich auf Folgendes
aufmerksam machen: Ob Sie Cannabis rauchen oder Tabak rauchen, Sie kommen, was die Gefährdung der
Atemwege und der Lunge angeht, was das Provozieren
von Bronchialerkrankungen und von Lungenkrebs angeht, natürlich zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Hinzu
kommen die psychischen und sozialen Risiken. Deswegen sage ich: Es handelt sich nicht um ein vermeintlich
harmloses Betäubungsmittel, sondern es ist eine Gefahr,
die wir nicht unterschätzen sollten.
({3})
Die kognitive Leistungsfähigkeit von Dauerkonsumenten kann stark beeinträchtigt werden. Die Aufmerksamkeit kann genauso leiden wie die Konzentration, das
Kurzzeitgedächtnis und die Lernfähigkeit.
Wahr ist - das gestehe ich auch zu -, dass die Frage
nach Befunden, die körperliche Veränderungen zeigen,
nicht einheitlich beantwortet werden kann, aber es gibt,
kernspintomografisch geführt, Belege dafür, dass der
dauerhafte Einfluss von Cannabis im Bereich von
Hippocampus und Amygdala, also bestimmter Hirnregionen, eine Volumenminderung zur Folge hat. Also
platt gesagt: Sie kriegen Löcher im Hirn, wenn Sie Cannabis dauerhaft in höherer Dosis konsumieren. Jedenfalls kommt es zu einer Volumenminderung in diesen
Hirnarealen. Dass das einen nützlichen Effekt haben
soll, das würde ich erst einmal bestreiten.
Ich würde auch vermuten: Wenn es um Landwirtschaftspolitik ginge, würden Sie wahrscheinlich jedem
Landwirt, der anfängt, seine Hühner oder Hähnchen mit
Hanf zu füttern, dies verbieten und fordern, dass sofort
ein Verbot her muss. Auch das darf natürlich keineswegs
erfolgen. Dem würde ich auch zustimmen.
({4})
Ich halte also fest: Aus meiner Sicht brauchen wir uns
nicht für die generalpräventive Wirkung zu schämen, die
durch den repressiven Umgang mit Cannabisbesitz, -anbau und -handel ausgelöst wird. Wir als Parlament haben
allen Grund, Herr Tempel, Ihnen und Ihren Kollegen, die
aufseiten der Polizei an der Aufrechterhaltung dieser Generalprävention mitwirken, an dieser Stelle Danke zu sagen. Das ist keine vergebliche Arbeit.
Wir haben allen Grund dazu, neben dieser repressiven
Arbeit eine präventive Arbeit zu leisten, die die Auseinandersetzung über die psychischen Gefahren, die psychischen Defekte, die Abhängigkeitspotenziale und auch
die körperlichen Schäden, die ausgelöst werden können,
in den Mittelpunkt nimmt.
Kollege Henke, gestatten Sie wenige Sekunden vor
Ablauf Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Tempel?
Bitte. Ja.
Danke schön, dass Sie meine Frage noch zulassen. Sie haben mehrfach auf eine generalpräventive Wirkung
des Verbots verwiesen. Ich würde gerne wissen, woher
Sie die Annahme haben, dass das Verbot eine generalpräventive Wirkung hat. Ich verweise auf die Zahlen der
Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon - das sind Zahlen von 2011 -: Die
Lebenszeitprävalenz von Cannabiskonsum ist in Holland
fast auf das Zehntel genau so hoch wie in Deutschland.
In Holland wird aber der Cannabiserwerb in Coffeeshops toleriert; er ist nicht legal, wird aber toleriert. Dort
droht keine Strafanzeige. In keinem Land, das von dem
Cannabisverbot abgerückt ist, ist die Zahl der Konsumenten gestiegen. Das beobachten wir langfristig in Portugal, das beobachten wir kurzfristig in amerikanischen
Bundesstaaten, selbst in der Schweiz und in anderen
Ländern. Überall dort, wo man das Mittel der Strafverfolgung abmildert, wo die Gefahr einer Strafanzeige abnimmt, steigt die Zahl der Konsumenten nicht an.
Sie reden hier aber trotzdem von einer generalpräventiven Wirkung. Sie reden auch von einem Signal, das
von einer Legalisierung ausgehen würde. Sie wissen
aber schon, dass ein Verbot immer ein Eingriff in Grundrechte der Bürger ist, manchmal legitim, manchmal nicht
legitim. Auf alle Fälle gibt es dafür einen verfassungsmäßigen Grundsatz, nämlich den der VerhältnismäßigFrank Tempel
keit. Es geht also nicht darum, dass von der Abschaffung
eines Verbotes ein Signal ausgehen könnte. Vielmehr
geht es darum, dass ein Verbot funktionieren muss: geeignet, erforderlich und angemessen.
Die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren - über 120 in
Deutschland - hat festgestellt, dass genau diese Verhältnismäßigkeit in allen drei Punkten - geeignet, erforderlich, angemessen - nicht gewährleistet ist. Deshalb haben sie sich mit einer Resolution an den Deutschen
Bundestag gewandt. Übrigens, nur sieben Strafrechtsprofessoren haben deutlich geäußert, dass sie sich
dieser Resolution nicht anschließen wollen; die anderen
haben sich einfach nicht beteiligt. Aber mehr als die
Hälfte aller Strafrechtsprofessoren in Deutschland hat
aktiv gesagt, dass die verfassungsgemäße Verhältnismäßigkeit dieses Verbots nicht gegeben ist; es ist weder geeignet noch erforderlich oder angemessen.
Sie reden trotzdem von einer generalpräventiven Wirkung. Haben Sie dazu entsprechende Zahlen? Wie ist das
belegt? Sagen Sie das hier einfach aus Ihrem Bauchgefühl heraus, oder gibt es da belegbare Zahlen? Diese
würde ich mir natürlich ganz gerne ansehen.
({0})
Vielen Dank für die Frage. - Zunächst einmal, Herr
Kollege, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Akzeptanz von Nikotin und von Alkohol - beide sind erlaubt natürlich viel verbreiteter ist als die von Cannabis.
({0})
Durch die Tatsache, dass wir es mit einer Substanz zu
tun haben, deren Besitz, Handel und Herstellung bzw.
Anbau strafbar ist, haben Sie jedenfalls schon einmal
eine andere Relation in der Wahrnehmung dieses Risikos
als bei anderen Suchtstoffen, jedenfalls bei den von den
Grünen beklagten. Ich finde es jedenfalls hoch widersprüchlich, zu sagen: Der Beleg dafür, dass es keine generalpräventive Wirkung des Verbotes gibt, liegt darin,
dass der Konsum niedriger als bei anderen Suchtstoffen
ist. Deswegen glaube ich, dass man schon davon ausgehen kann, dass diese Wirkung existiert.
Sie fragen zu Recht nach der Verhältnismäßigkeit.
Wenn Sie die Verhältnismäßigkeit betrachten - das
würde ja im Zweifel verfassungsrechtlich geprüft werden müssen -, kann man feststellen, dass wir wissenschaftliche Befunde in Hülle und Fülle haben, die die
diagnostizierte Substanzabhängigkeit für Cannabiskonsumenten nachweisen. Rund 20 Prozent der regelmäßig
konsumierenden Personen erfüllen die Kriterien eines
schädlichen Gebrauchs nach F 10.1 der internationalen
Diagnosen-Klassifikation. Bei 10 Prozent dieser Personen sehen wir eine Abhängigkeit. Nach den Daten von
Petersen und Thomasius aus 2007 finden wir bei etwa
zwei von drei Cannabisabhängigen eine körperliche Abhängigkeitssymptomatik mit und ohne Toleranzbildung.
Zudem sehen wir, dass die Entwicklung einer Psychose
durch Cannabiskonsum um das Zwei- bis Dreifache
wahrscheinlicher wird als in der Normalbevölkerung. Je
jünger die Konsumenten sind, umso größer ist das Risiko.
Ich glaube, man würde sich mit solchen Argumenten
- im Gesetzentwurf der Grünen werden diese übrigens in
einer, ich sage mal, homöopathischen Dosis angesprochen - dann im Zusammenhang mit der Frage der Verhältnismäßigkeit auseinandersetzen müssen. Wenn es
diese Frage der Verhältnismäßigkeit gar nicht gäbe, dann
würden die Grünen ja auch nicht schreiben, dass man
verhindern muss, dass Kinder und Jugendliche an diese
Stoffe herankommen. Das ist natürlich auch ihr Ziel. Insofern haben wir an dieser Stelle möglicherweise eine
politische Kontroverse über die Bewertung der Verhältnismäßigkeit. Meine Prognose ist, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber an dieser Stelle eine
große Einschätzungsprärogative zubilligen würde, sodass wir das dann zu beurteilen hätten. Ich habe Ihnen ja
bereits gesagt, welche Einschätzung wir da haben.
Ich will mit dem Hinweis darauf schließen - das ist
wichtig, damit es niemand missversteht -, dass die Bundesregierung bekräftigt hat, schwer chronisch erkrankten
Patientinnen und Patienten den Zugang zu Cannabisarzneimitteln erleichtern zu wollen, hierzu die betäubungsmittelrechtliche Verkehrs- und Verschreibungsfähigkeit
zu erweitern und Regelungen über einen Erstattungsanspruch in der gesetzlichen Krankenkasse zu schaffen.
Das heißt, dass ein legaler Gebrauch von THC-reichem
Cannabis nur für medizinische Zwecke und nur im Rahmen einer ärztlichen Therapie vertretbar wäre. Das ist
eine Position, die wir als Union nicht beanstanden, nicht
kritisieren, sondern stützen. Insofern, glaube ich, werden
wir an dieser Stelle eine Veränderung erleben. Aber wir
werden keine Veränderung in dem Sinne Ihres Gesetzentwurfs erleben.
Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.
({1})
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Bettina Müller, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Über den Umgang mit Drogenhandel und Drogenkonsum wird schon seit Jahrzehnten sehr ideologisch und
auch sehr emotional diskutiert. Inzwischen sind diese
Debatten schon an vielen Punkten von den gesellschaftlichen Realitäten überholt worden, insbesondere was den
Cannabiskonsum anbelangt. Entwicklungen wie die
Freigabe in Teilen der USA, die Situation in den liberalen Niederlanden, aktuelle Pläne zur Eröffnung von Coffeeshops in Berlin oder die Forderung nach Cannabis für
Schmerzpatienten zwingen uns als Gesetzgeber, uns mit
diesem Thema auseinanderzusetzen.
({0})
Es ist überfällig, die geltenden rechtlichen Normen an
die gesellschaftliche Realität anzupassen.
Der von den Grünen vorgelegte Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes greift eine Vielzahl von Aspekten
auf, bei denen auch die SPD Handlungsbedarf sieht, insbesondere im Bereich der repressiven Kontrollpolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns alle einig, dass gerade Jugendliche durch den regelmäßigen
Konsum von Cannabis Schaden nehmen. Aber wir haben es durch die Mittel des Strafrechts und andere rechtliche Sanktionen nicht geschafft, den Konsum einzudämmen und den Handel in den Griff zu bekommen.
({1})
Die Konsumenten werden weiterhin kriminalisiert und
stigmatisiert. Sie weigern sich daher auch, offen zu sprechen und Hilfe anzunehmen. Wer würde gegenüber Eltern und Lehrern schon zugeben, dass er Cannabis konsumiert, wenn permanent das Damoklesschwert des
Strafrechts über ihm schwebt? Wir erreichen die jungen
Leute mit dem generalpräventiven Ansatz auch deshalb
nicht mehr, weil die Sanktionen zum Teil grotesk überzogen sind.
({2})
Nehmen Sie zum Beispiel das Straßenverkehrsrecht.
Für Cannabis im Straßenverkehr gibt es keinen Grenzwert, wie wir ihn beim Konsum von Alkohol kennen.
Der Stand der Wissenschaft ist hier aber längst so weit,
dass eine genaue Bestimmung der Fahruntüchtigkeit unter THC-Einfluss möglich ist. Deshalb ist es unhaltbar,
wenn von einem positiven THC-Befund ausgegangen
wird - der auch noch Tage nach dem Konsum vorhanden
ist - und dann pauschal auf die Fahruntüchtigkeit geschlossen wird.
({3})
Dann ist es im Grunde völlig egal, ob jemand tatsächlich
akut bekifft Auto fährt oder seit Tagen nichts geraucht
hat: Der THC-Wert ist positiv, und somit wird bestraft.
Das hat mit strafrechtlicher Prävention nichts mehr zu
tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Noch unsinniger ist es, dass allein das Mitführen von
Cannabis - egal in welcher Lebenslage, auch unabhängig vom Straßenverkehr - zu einer Strafanzeige führt
und der Betroffene auch noch bei der Führerscheinbehörde gemeldet wird. Das führt in der Konsequenz nicht
selten dazu, dass der Führerschein entzogen wird. Ist der
Führerschein für Mofa oder Auto weg, muss durch eine
teure MPU nachgewiesen werden, dass sich der Konsument in der Zukunft rechtstreu verhalten wird. Der Führerscheinentzug führt nicht selten zum Verlust von Job
oder Ausbildungsplatz; das ist insbesondere für Jugendliche im ländlichen Raum ein großes Problem. Ich
komme aus dem ländlichen Raum und kenne einige
Fälle, in denen das passiert ist. Das sind die sozialen
Konsequenzen, die diese Politik auch mit sich bringt.
({5})
Die Rechtslage, die wir jetzt haben, führt zu einer Art
Sanktions-Flatrate; so will ich das einmal nennen. Es ist
kein Wunder, dass die Konsumenten mit so etwas wie
Flatrate-Rauchen reagieren; denn es ist ja egal. Wenn
man raucht - egal wann und wie -, droht Strafe. Man
darf sich halt nur nicht erwischen lassen. Das ist die
Konsequenz, die die Jugendlichen daraus ziehen. Das
hat mit der strafrechtlichen Prävention, wie gesagt,
nichts mehr zu tun. Daher sind die im Gesetzentwurf der
Grünen enthaltenen Vorschläge im Hinblick auf Änderungen im Straßenverkehrsgesetz und in der Fahrerlaubnis-Verordnung aus meiner Sicht durchaus sachgerecht.
Wenn ich mir aber zum Beispiel die im Gesetzentwurf
vorgesehene aufwendige Regulierung der gesamten
Handelskette anschaue - vom Anbau über den Großhandel bis zum Einzelhandel -, dann habe ich doch Zweifel
an der Realisierbarkeit. Denn wichtige Aspekte wie die
Überwachung und Erteilung von Genehmigungen sowie
die Kontrolle der Vorschriften werden nur in Abstimmung mit den verschiedenen Ebenen - mit Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen - sinnvoll umgesetzt werden können.
Ein kontrollierter Cannabismarkt muss auch funktionieren. Für die Kontrolle müssen die zuständigen Stellen
finanziell und personell gut ausgestattet sein. Es muss
vermieden werden, dass die Behörden vor Ort von diesen Aufgaben entweder überfordert sind oder gar über
das Ziel hinausschießen und Cannabiskonsumenten
- statt wie bisher mit den Mitteln des Strafrechts - künftig beispielsweise mit den Mitteln des Gewerberechts
mit großem Aufwand und in unverhältnismäßiger Weise
verfolgen.
An dieser Stelle ist in dem Gesetzentwurf noch einiges unausgegoren, noch nicht zu Ende gedacht; dazu gehört auch die vorgeschlagene Cannabissteuer, gegen die
als solche - mit Blick auf Alkohol- und Tabaksteuer systemisch nichts zu sagen ist. Aber würde das dadurch
eingenommene Geld für die Finanzierung dieses riesigen
Aufklärungs- und Kontrollapparates, der insbesondere
bei uns in Deutschland dann ja nötig wäre, ausreichen?
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns der
Frage einer grundsätzlichen Neuausrichtung im Umgang
mit Cannabiskonsumenten stellen. Der Entwurf der Grünen ist ein Einstieg. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen.
Vielen Dank.
({7})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
sehe ich keine anderweitigen Vorschläge; deshalb gehe
ich von Ihrem Einverständnis aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den letzten Tagesordnungspunkt am
heutigen Tag auf:
20. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige
Arbeit für Frauen und Männer durchsetzen
Drucksache 18/4321
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Widerspruch sehe ich keinen. Dann ist auch das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Cornelia Möhring
für die Fraktion Die Linke.
({1})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute finden mehr als 1 000 Aktionen im
ganzen Land statt wie eben am Brandenburger Tor: Weil
heute der Equal Pay Day ist. Vielleicht sagt er nicht allen, die die Debatte verfolgen, etwas. Ich will deswegen
kurz sagen, was er eigentlich bedeutet: Der Equal Pay
Day markiert den Tag, bis zu dem Frauen über den Jahreswechsel hinaus arbeiten müssen, um rechnerisch auf
das gleiche Jahresgehalt wie männliche Beschäftigte zu
kommen. Das sind auch in diesem Jahr wieder 79 Tage
zu viel. Ich finde das völlig inakzeptabel.
({0})
Um es mal anders zu zeigen: Bei jedem Euro Lohn fehlt
Frauen eigentlich eine ganz schöne Ecke.
Dass es diese Lohnungerechtigkeit gibt, ist mittlerweile unstrittig, jedenfalls bei den meisten, auch hier im
Haus. Was die Ursachen sind und auf welchem Wege
mehr Gerechtigkeit erreicht werden kann, daran scheiden sich die Geister. Dabei geht es nicht um Kleckerbeträge, sondern um reichlich Geld: 7,9 Prozent beträgt
der Lohnunterschied bei gleicher Tätigkeit mit völlig
vergleichbaren Qualifikationen. 22 Prozent beträgt die
Lohnlücke, wenn die Gehälter über alle Branchen und
Berufe verglichen werden. Im Finanz- und Versicherungsbereich erhalten Frauen sogar 30 Prozent weniger
Lohn. Im Gesundheits- und Sozialwesen sind es immerhin auch 25 Prozent; auch das liegt über dem Durchschnitt.
Die Ursachen - da stimmen Studien und Verbände
auch überein - liegen in Folgendem: in der Abwertung
bzw. schlechteren Bewertung typisch weiblicher Berufe,
in Erwerbsunterbrechungen zum Beispiel wegen
Schwangerschaften - das trifft bei dem jetzigen Stand
der menschlichen Entwicklung auch nur auf Frauen zu -,
und in der zunehmenden Teilzeitbeschäftigung von
Frauen und der Minijobfalle. Ich erinnere: Beides ist
nicht immer freiwillig. - Oder Frauen erhalten einfach
weniger, weil sie Frauen sind; zu so einem Beispiel
komme ich später noch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die öffentliche
Debatte im Vorfeld des Equal Pay Day hat uns wieder einen Einblick in die unglückliche Ehe der GroKo geliefert: Kaum hat Ministerin Schwesig eine bessere Transparenz gefordert, geht das Geheule - zumindest bei
einigen CDU-Männern - los. Ich glaube wirklich, in
Gleichstellungsfragen ist diese Ehe auch nicht mehr zu
retten und führt vielleicht eher zur Ankurbelung der Papiertaschentücherproduktion.
({1})
Nun halte ich auch die angekündigte Transparenzinitiative für nicht ausreichend; deshalb auch der hier vorliegende Antrag der Linken, der vor allem auf die
Durchsetzung von Entgeltgleichheit zielt.
Es ist sicherlich hilfreich, wenn eine Frau in Gehaltsverhandlungen über das Gehaltsgefüge Bescheid weiß.
Allerdings kommen gar nicht so viele Frauen überhaupt
erst in die Situation, über ihr Gehalt zu verhandeln. Die
Information über ungleiche Bezahlung ist aber hilfreich
und notwendig, vor allem dann, wenn die einzelne Frau
nicht alleine dagegen vorgehen muss, sondern wenn die
betriebliche Interessenvertretung und auch Verbände und
Gewerkschaften etwas durchsetzen können. Es muss
jetzt Schluss sein mit der Vereinzelung. Ich finde, wir
brauchen endlich das Recht der Verbände, zu klagen.
({2})
Ja, wir brauchen auch Transparenz darüber, wie die
sogenannten Entgeltstrukturen aussehen. Jüngst ging ein
Fall durch die Presse, der deutlich macht, wie wichtig
dieses Wissen ist. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zitiere ich jetzt auszugsweise aus einem Artikel zum von
mir bereits angedeuteten Beispiel:
Sie
- die Mitarbeiterin eines bekannten Schuhherstellers hatte geklagt, nachdem sie auf einer Betriebsversammlung im Herbst 2012 von der schlechteren Bezahlung für Mitarbeiterinnen erfahren hatte …
Immerhin ging es um einen Bruttostundenlohn, der um
über 1 Euro geringer war. - Weiter heißt es dort:
Auch bei Sonderzahlungen hatten Frauen das Nachsehen: Da Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie eine
Anwesenheitsprämie an den Stundenlohn gekoppelt
waren, fielen die Beträge für Mitarbeiterinnen entsprechend niedriger aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Gericht war unstrittig, dass der geringere Lohn nur mit dem Geschlecht
der Frau zusammenhing. Der Klägerin wurden die Nachzahlung und eine Entschädigung zugesprochen. Mittlerweile sind 103 weitere Verfahren gegen dieses Unternehmen auf dem Weg; und das ist auch gut so.
({3})
Dieses Beispiel zeigt Verschiedenes:
Erstens. Transparenz ist wichtig und kann übrigens
auch durch die Einsicht von Betriebsräten in Lohn- und
Gehaltslisten erreicht werden.
Zweitens. Damit nicht jede einzelne Frau in komplizierten und langwierigen Gerichtsverfahren klagen
muss, müssen die Mitbestimmungsrechte ausgebaut und
das Verbandsklagerecht eingeführt werden.
({4})
Drittens. Solche Vergütungsstrukturen dürfen gar
nicht erst entstehen und angewendet werden. Aus diesem Grund sollten alle Betriebe und die Tarifpartner verpflichtet werden, die Vergütungsstrukturen diskriminierungsfrei und gerecht zu gestalten.
Ich will Ihnen dazu noch ein Beispiel anführen: Nach
den neuesten Zahlen haben Frauen, die in Betrieben mit
Tarifbindung arbeiten, einen deutlichen Gehaltsvorteil.
Frauen, die in Betrieben des Einzelhandels arbeiten, in
denen es einen Tarifvertrag gibt, erhalten 17,3 Prozent
mehr Lohn als diejenigen, die in Betrieben ohne Tarifvertrag arbeiten. Wir sehen also, dass die Organisation in
der Gewerkschaft und natürlich auch der Abschluss von
Tarifvereinbarungen außerordentlich wichtig sind.
({5})
Für mehr Lohngerechtigkeit brauchen wir aber auch
eine Aufwertung der Tätigkeiten im Sorgebereich und
eine Umverteilung von Arbeit und Zeit. Das ist aber leider noch ein längerer Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können das alles jetzt schon mit uns auf den Weg bringen, wenn der
Antrag der Linken in das angekündigte Gesetz zur Entgeltgleichheit eingeht.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Ursula
Groden-Kranich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucherinnen und Besucher! Vor ziemlich genau
zwei Wochen durfte ich hier zu Ihnen sprechen. Es ging
um die Beschäftigungssituation von Frauen. Schon in
dieser Debatte fiel mehr als einmal der Begriff „Entgeltungleichheit“. In der letzten Woche konnte ich mit einer
Delegation des Familienausschusses die 59. UN-Women-Konferenz in New York besuchen. Auch dort war
das Thema Equal Pay in aller Munde.
Der Unterschied zwischen den Gehältern von Männern und Frauen ist ein weltweites Phänomen, und es tun
sich auch die Länder schwer, die wir sonst zu Recht als
Vorbilder in Sachen Geschlechtergerechtigkeit betrachten. In Schweden liegt der Gender Pay Gap aktuell zum
Beispiel bei 16 Prozent und bereinigt bei 6 Prozent.
Auch dort bekommt man diesen unerklärten Rest nicht
so einfach in den Griff.
Wir wissen, dass ein Teil der Lohnlücke auf die Berufswahl von Frauen und auf deren häufige Teilzeittätigkeit zurückzuführen ist. Die Linke spricht in ihrem
Antrag von einer mittelbaren Form der Geschlechterdiskriminierung. Hier sollten wir aber doch etwas genauer
hinsehen und Frauen nicht pauschal als Opfer ihrer Teilzeittätigkeit oder Berufswahl betrachten. Grundsätzlich
sollten wir Männer und Frauen eine echte Wahlfreiheit
in ihrem Berufs- wie im Familienleben zugestehen und
auch zutrauen.
({0})
Doch egal ob wir von bereinigter oder unbereinigter
Lohnlücke, von mittelbarer oder direkter Diskriminierung reden: Es bleibt in jedem Fall ein hässlicher Rest an
Ungleichheit, den wir so nicht akzeptieren dürfen. Darum ist Equal Pay nicht nur bei der Oscar-Verleihung,
sondern auch in unserem Koalitionsvertrag ein wichtiges
Thema, dem wir uns nun gemeinsam widmen. Daher
hätte es Ihres Antrags gar nicht bedurft; denn Sie wissen,
dass die Koalition bereits daran arbeitet.
({1})
Es ist absolut richtig, dass wir konkrete Maßnahmen
ergreifen und über Selbstverpflichtungen von Unternehmen hinausgehen. Hier sind jedoch alle Beteiligten gefragt, nicht nur der Gesetzgeber und nicht nur die Arbeitgeber. Auch die Tarifpartner müssen hier massiv
nacharbeiten. Die Gewerkschaften, die gerade eben zusammen mit vielen anderen am Brandenburger Tor für
Equal Pay demonstriert haben, haben in den letzten
20 Jahren mit Sicherheit nicht alles Mögliche oder Nötige getan, um Diskriminierung zu überwinden, geschweige denn Frauenberufe aufzuwerten. Allerdings
stellt sich mir die Frage: Was sind denn Frauenberufe?
Die einzigen Aufgaben, die Männer nicht genauso gut
erledigen könnten, sind Kinder zu gebären und diese zu
stillen. Ansonsten dürfen sich auch Männer engagieren.
({2})
Richtig ist auch, dass wir Entgeltungleichheit nur
überwinden können, wenn wir nicht nur Symptome, sondern auch die Ursachen bekämpfen. In Rheinland-Pfalz
werden beispielsweise Lehrkräfte nach zwei verschiedenen Tarifen eingestellt - dies betrifft leider auch und insbesondere Frauen -: Angestellte Lehrerinnen und Lehrer
werden deutlich schlechter bezahlt als verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer. Diese ungleiche Behandlung ließe
sich leicht vermeiden, ohne dass wir dazu ein neues Gesetz bräuchten.
Auch mehr Transparenz bei den Lohnstrukturen ist sicherlich ein guter Schritt, darf aber nicht in Gleichmacherei oder fehlenden Anreizsystemen enden. Transparenz alleine löst das Problem nicht. Das haben die
Erfahrungen, beispielsweise in Österreich, gezeigt.
Wichtig wäre zudem, gerade weil das Problem so
komplex ist und viele Lösungsansätze benötigt, dass bereits vorhandene Instrumente genutzt werden und das
Rad nicht immer wieder neu erfunden wird. Die damaligen CDU-Familienministerinnen hatten zum Beispiel
bereits im Jahr 2009 das Bewertungsverfahren Logib-D
eingeführt. Dies steht für „Lohngleichheit im Betrieb Deutschland“ und ist eine Anwendung, mit der Unternehmen freiwillig, kostenlos und anonym ihre Entgeltstrukturen unter Geschlechtergesichtspunkten analysieren können.
({3})
Dieses Angebot findet sich auch heute noch auf der
Website des Familienministeriums.
({4})
Da all das aber offensichtlich nicht ausreicht, ist das
Projekt Entgeltgleichheit in der Tat eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Unsere Töchter müssen in Kita,
Schule und Familie von klein auf zu beruflicher und
finanzieller Selbstständigkeit erzogen werden. Junge
Frauen müssen schon bei der Berufsorientierung und vor
den Familienpausen über alle Konsequenzen bis hin zur
Rente umfassend informiert werden.
Und vor allem: Männer müssen mit ins Boot. Das ElterngeldPlus war ein erster Schritt in die richtige Richtung; denn längere Erziehungsauszeiten von Männern
führen automatisch zum Abbau der Lohnungleichheit,
ganz zu schweigen von den positiven Nebeneffekten:
mehr Anerkennung für bisher typisch frauenorientierte
Familienarbeit, mehr Verständnis und Flexibilität von
Arbeitgebern und Kollegen, eine immense Stärkung des
Vater-Kind-Verhältnisses und natürlich die unschätzbare
Vorbildfunktion für nachfolgende Generationen von Vätern, Söhnen und Töchtern.
({5})
Auch die Aufwertung dieser Familienarbeit ist eine
gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Es genügt nicht,
immer nur nach einer besseren Ausstattung der Sozialkassen zu rufen. Wir alle müssen diese Kosten ein Stück
weit mittragen und uns fragen, was wir selbst bereit sind
für mehr Qualität in Pflege und Erziehung zu zahlen.
Wenn wir Frauen für eine Vollzeittätigkeit mehr externe
Kinderbetreuung wünschen, müssen wir auch bereit
sein, einen Teil unseres Gehaltes in ebendiese Kinderbetreuung zu investieren, vor allem diejenigen, die das
auch könnten. Alles andere ist verlogen und trägt für die
Erzieherinnen ganz sicher nicht zu einer Aufwertung ihrer Arbeit bei.
Wir brauchen also einen Dreiklang von Lösungsansätzen. Wenn wir erstens schlechtbezahlte Familienarbeit aufwerten, zweitens für mehr weibliche Teilhabe
am Berufsleben sorgen und drittens die partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit fördern, dann bewirken wir damit automatisch mehr Entgeltgleichheit.
Danke schön.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste! Die Schauspielerin Patricia
Arquette, die diesjährige Oscarpreisträgerin für die beste
Nebenrolle, nutzte ihre Dankesrede in Los Angeles - Sie
haben sie vielleicht im Fernsehen verfolgt - für einen
flammenden Aufruf zur Gleichberechtigung und Lohngleichheit von Frauen in den USA. Ich erwähne das, weil
diese Schauspielerin und die Frauen hier eines gemeinsam haben: die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Darum geht es am heutigen Equal Pay Day.
({0})
Lohngleichheit sollte bei uns laut Gleichbehandlungsgebot im Grundgesetz eine Selbstverständlichkeit sein.
Das ist sie aber nicht. Der Gender Pay Gap zwischen
Frauen und Männern liegt seit zwei Dekaden wie einbetoniert bei 22 Prozent. Frauen arbeiten, umgerechnet auf
das Arbeitsjahr, bis zum 20. März ohne Lohn. Damit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in Europa.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass Frauen häufiger
in Teilzeit arbeiten, Erwerbsunterbrechungen wegen einer Babypause haben oder seltener in den Hochlohnbranchen der Industrie tätig sind, so verdienen Frauen
auf den gleichen Positionen wie Männer durchschnittlich
immer noch rund 7 Prozent weniger. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Skandal. Damit wollen
Frauen sich nicht länger abfinden.
({1})
Hinzu kommt, dass Frauen die Konsequenzen der Unterbezahlung ein Leben lang tragen. Sie haben nicht nur
heute weniger im Portemonnaie; sie bekommen letzten
Endes auch weniger Rente, weil sie weniger eingezahlt
haben. Aus dem Gender Pay Gap von 22 Prozent wird so
ein Gender Pension Gap von 40 Prozent. Die Tendenz ist
steigend. Das bedeutet am Ende für viele Frauen die Altersarmut. Das kann nicht so weitergehen. Deshalb, liebe
Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir dringend ein
Gesetz, um den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche
und gleichwertige Arbeit“ umzusetzen. Denn nur das ist
gerecht.
({2})
Meine Fraktion hat bereits zum Equal Pay Day 2014
einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht, und ich freue mich, dass die Fraktion Die Linke
nun einen weiteren guten Antrag vorgelegt hat.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Lohnungleichheit
entsteht einerseits durch mittelbare Diskriminierung.
Das heißt, in den klassischen Industrieberufen mit mehr
männlichen Arbeitnehmern liegen die Gehälter weit über
denen der Dienstleistungs- und Sozialberufe, in denen
viel mehr Frauen arbeiten. Es kann doch nicht sein, dass
beispielsweise ein Müllmann einen relativ hohen Lohn
erhält, weil er schwere Lasten trägt, aber das gleiche Argument für eine Altenpflegerin, die ebenso schwer heben muss, nicht gilt. Das geht nicht.
({4})
Deshalb fordern wir eine gerechte Bewertung von Arbeit
durch allgemeingültige geschlechtsneutrale Kriterien
und eine gesellschaftliche Aufwertung von Berufen mit
hohem Frauenanteil.
Lohndiskriminierung entsteht andererseits durch unmittelbare Diskriminierung. Frauen erhalten bei gleicher
Qualifikation und gleicher Berufserfahrung weniger
Geld.
Frau Ministerin Schwesig, Sie wollen nun ein Entgeltgleichheitsgesetz auf den Weg bringen. Das begrüße
ich natürlich. Ich wünsche Ihnen gute Gespräche mit
dem Kollegen Kauder. Er hat nämlich als bekennender
Gleichstellungsbremser in der Großen Koalition direkt
die Parole ausgegeben: „In diesem Jahr wird das nichts
mehr.“
Wir wollen keine Bremsmanöver. Wir erwarten von
Ihnen gemeinsam ein wirkungsvolles und faires Gesetz
für Frauen.
({5})
Dabei zeichnet sich ab, dass Sie zu kurz springen. Ihre
angekündigte Transparenzoffensive bei den Gehältern
kann nur ein erster Schritt sein.
Wir brauchen ein Entgeltgleichheitsgesetz, das diesen
Namen auch verdient. Wir brauchen verbindliche Regelungen. Entgeltregelungen müssen mit einem Arbeitsbewertungssystem überprüft werden, und zwar anhand von
Kriterien, die für alle gleich sind. Diskriminierungen
müssen innerhalb einer bestimmten Frist beseitigt werden. Da finde ich es völlig absurd, wenn Unternehmen
schon jetzt bei den Transparenzvorschlägen der Bundesregierung Unfrieden im Unternehmen befürchten.
({6})
Unfrieden entsteht doch dort, wo tatsächlich unfair bezahlt wird, und nicht dadurch, dass das sichtbar wird.
({7})
Ich sage Ihnen: Wer diese Firmenpolitik zuungunsten
von Frauen fortsetzen will, verspielt Vertrauen und Ansehen.
Noch eines: Was die Kollegin Kristina Schröder über
den Pay Gap denkt, lesen Sie besser selber auf Twitter
nach. Dafür ist mir meine Redezeit zu schade.
({8})
Wir wollen auch ein Verbandsklagerecht. Wir wollen
Frauen stärken, damit sie bei Klagen um gleichen Lohn
nicht mehr alleine mit dem finanziellen Risiko und der
Furcht um ihren Arbeitsplatz dastehen; denn Entgeltdiskriminierung ist ein gesellschaftliches und kein individuelles Problem der Frauen. Wer das bestreitet, schiebt
die Verantwortung von sich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, Sie sind politisch gefordert, effiziente Lösungen
für alle Facetten der Lohnlücke auf den Weg zu bringen.
Nur so kann der Gender Pay Gap endlich geschlossen
werden. Frauen verdienen das.
Danke.
({9})
Als nächste Rednerin erhält das Wort für die SPD die
Kollegin Petra Crone.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Einige von uns haben noch
ein bisschen rote Wangen, weil sie eben von der Kundgebung zum Equal Pay Day am Brandenburger Tor zurückgekommen sind. Nun können wir durch diese Debatte ein Stück weit diese Stimmung in den Plenarsaal
tragen; das finde ich gut. Aber ich frage mich manchmal:
Haben wir jetzt rote Wangen von der schönen Sonne
oder auch aus Scham, weil Deutschland noch immer an
der traurigen viertletzten Stelle beim Gender Pay Gap
dümpelt,
({0})
oder haben wir rote Wangen aus Wut? Denn wie oft haben wir gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit für Männer und Frauen gefordert, nicht nur auf der
Straße, sondern auch hier im Plenarsaal?
({1})
Seit Jahren diskutieren wir darüber, nicht so sehr darüber, wohin wir wollen, sondern eher darüber, welcher
Weg der richtige ist. Ich glaube genau wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dass Selbstverpflichtungen nichts bringen. Wir brauchen ein Gesetz,
und das ist auf dem Weg. Die SPD-Bundestagsfraktion
hat in der letzten Legislaturperiode schon eine gute
Grundlage erarbeitet. Die Zeit ist reif für soziale Gerechtigkeit, für ein faires Verhältnis zwischen Männern und
Frauen auch auf dem Arbeitsmarkt.
({2})
Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, haben
es im Koalitionsvertrag verabredet und versprochen: Wir
wollen ein Mehr an Lohngerechtigkeit herstellen und
dauerhaft sichern. Es ist höchste Zeit dafür, für uns
Frauen in unserem Land und auch für die Männer. Denn
welcher Mann wünscht sich für seine Frau oder Partnerin, welcher Vater für seine Tochter einen geringeren
Lohn, als sie verdient?
({3})
Ohne Vorgaben geht es nicht. Wir brauchen endlich eine
verbindliche gesetzliche Regelung, auf die sich Frauen
berufen können, wenn sie von Lohndiskriminierung betroffen sind.
Die Zeit titelt provokant in ihrer aktuellen Ausgabe:
„Ist Genie männlich?“. Sicherlich nicht!
({4})
Es kann ja sein, dass die meisten Frauen nicht von einer
Karriere in der Neurowissenschaft träumen, sondern lieber in der Pflege oder in einem Erziehungsberuf arbeiten. Sollte das wirklich unser Problem sein? Ist ein repariertes Auto wertvoller als ein gut betreutes Kitakind?
Gerade die sogenannten weiblichen Berufe zeichnen
sich doch oft durch eine ganz besondere Verantwortung
am Menschen aus. Diejenigen, die in solchen Berufen
arbeiten, haben allerdings viel mehr Hochachtung und
Wertschätzung verdient.
({5})
Und wie zeigt sich das handfester als durch höhere
Löhne? Hier ist die Politik gefragt; hier können wir handeln. Mir ist es ein ganz persönliches Anliegen, die Reform der Pflegeberufe auf den Weg zu bringen; denn gerade in der Altenpflege sind es vor allem Frauen, die
erfahrungsgemäß in die Teilzeitfalle geraten, Schichtdienste übernehmen, dabei auch seelischen Belastungen
ausgesetzt sind und im Alter keine ausreichende finanzielle Sicherung haben. Es ist also nicht nur eine Berufsgruppe, die deutlich aufgewertet werden muss. Das Gleiche gilt natürlich auch für Erzieherinnen und Erzieher
und viele andere mehr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neulich sah ich einen Comic - ich glaube, es war in der New York Times -:
zwei Kinder im Sandkasten, ein Junge und ein Mädchen.
Beide hatten eine völlig identische, wunderschöne Sandburg gebaut. Zwei Hände reichten ihnen Eistüten. Der
Junge bekam eine Eistüte mit drei Kugeln, und das Mädchen bekam eine Eistüte mit - raten Sie einmal - einer
einzigen Kugel. - Das ist ein ganz eindrucksvolles Bild,
das zeigt, dass auch bei gleicher Qualifikation und
gleichwertiger Arbeit der Lohnunterschied noch da ist.
Ich frage Sie: Ist es gerecht, dass Kinder und Familie
vor allem für Frauen zum Karriereknick werden, während Männer ihr Berufsleben ungerührt fortsetzen? Ist es
gerecht, dass Kinder nach wie vor das größte Armutsrisiko in unserem Land sind, vor allem für Alleinerziehende? Dazu kommt, dass eine ungerechte Entlohnung
im Arbeitsleben auch eine ungerechte Rente nach sich
zieht. Insofern ist Entgeltgleichheit gemeinsam mit unseren anderen Projekten auch eine Chance, Frauen im
Alter vor Armut zu schützen.
Wir haben in dieser Wahlperiode in der Großen Koalition schon einiges gemeinsam geregelt: den Mindestlohn eingeführt, mehr Geld für Kitas ausgegeben, das
Elterngeld Plus eingeführt, die Familienpflegezeit verabschiedet, die Quote in ein Gesetz gegossen. Und jetzt
kommt die Entgeltgleichheit als ein ganz wichtiger Baustein in der Frage der sozialen Gerechtigkeit an die
Reihe.
({6})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, danken wir unseren Mitstreitern, den Gewerkschaften, dem Sozialverband, den Landfrauen und vielen
mehr, dass sie wirklich auch in der Sache praktikable
Lösungen anbieten und mit uns diskutieren. Mit großer
Freude habe ich gestern gelesen, dass auch die FrauenUnion unsere Ministerin Manuela Schwesig unterstützen
will. In diesem Sinne glaube ich, es wird ein gutes Gesetz.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Pahlmann
für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es
nun schon vielfach gehört: Frauen verdienen auch heute
noch in viel zu vielen Fällen weniger als ihre männlichen
Kollegen.
({0})
Der eigentliche Skandal sind aber nicht die durchschnittlich 22 Prozent Lohnunterschied, die sich zum
großen Teil daraus ergeben, dass Frauen in schlechter
bezahlten Berufen, in Teilzeit arbeiten oder eine durch
Kindererziehung oder durch Pflegezeit unterbrochene
Erwerbsbiografie haben, worauf wir heute am Brandenburger Tor noch einmal aufmerksam gemacht haben.
Nein, der eigentliche Skandal, das sind die verbleibenden circa 7 Prozent Lohnunterschied, die bei gleicher
Qualifikation zwischen den Einkommen weiblicher und
männlicher Arbeitnehmer bestehen.
({1})
Dabei ist der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche
und gleichwertige Arbeit“ bereits seit langem im deutschen Recht verankert. Der Gleichberechtigungsgrundsatz in Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz verbietet, Frauen
bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein geringeres
Entgelt zu zahlen als Männern.
Benachteiligungen wegen des Geschlechts in Bezug
auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts sind nach § 2 Absatz 1 Nummer 2 und nach § 7 Absatz 1 des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes unzulässig. Tja, da müssen wir aber
zur Kenntnis nehmen, dass das, was wir bereits haben,
eben nicht ausreicht. Deshalb müssen und werden wir
handeln.
Die Frauen-Union der CDU fordert in diesem Zusammenhang schon lange und nicht erst seit neuestem die
Überprüfung der circa 60 000 Tarifverträge mit Blick
auf strukturelle Lohndiskriminierung. Schade, dass unsere Bundesarbeitsministerin nicht da ist. Ich denke, es
wäre einmal eine schöne und wahrscheinlich lohnende
Aufgabe für ihr Ministerium, diese Verträge zu durchforsten.
Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag
die Instrumente klar benannt, mit denen sie die Entgeltgleichheit erreichen will. Wir wollen einmal die
Feststellung des Wertes von Berufsfeldern, von Arbeitsbewertungen und die Bewertung von Fähigkeiten,
Kompetenzen und Erfahrungen gemeinsam mit den Tarifpartnern voranbringen.
Doch wie erfährt Frau Meyer, Müller oder Schultze,
ob sie gerecht entlohnt wird? Das erfordert Transparenz.
Arbeitnehmer sollen einen individuellen Auskunftsanspruch erhalten, und Transparenz soll auch dadurch erreicht werden, dass Unternehmen ab 500 Beschäftigte
verpflichtet werden, zur Frauenförderung und zur Entgeltgleichheit Stellung zu beziehen und dies dann bitte
schön auch im Lagebericht zu veröffentlichen.
Die Einführung des Mindestlohns war zum Beispiel
in der Pflege ein wichtiger Schritt hin zu mehr Lohngleichheit in einem gerade von Frauen häufig gewählten
Berufsfeld. Unser Ziel bleibt es darüber hinaus, die Arbeit in der Pflege, Betreuung und frühkindlichen Bildung auch durch bessere Bezahlung weiter aufzuwerten.
Ich denke, es muss unser Ziel sein, dass wir diese Bereiche stärken.
Ein Verbandsklagerecht, wie Sie es fordern, lehnen
wir dagegen nach wie vor ab. Werden Frauen oder Männer diskriminiert, erhalten sie Unterstützung durch die
Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder können den
Rechtsweg beschreiten. Wir sind der Meinung, Diskriminierungen sind immer noch sehr individuelle Fälle.
Das Verbandsklagerecht würde unseres Erachtens hier
keine Verbesserung des Rechtsschutzes ergeben.
({2})
Zum Abbau der sogenannten mittelbaren Diskriminierung, die durch vermehrte Teilzeit- und teilweise prekäre Beschäftigung in schlechter bezahlten, eben typisch
weiblichen Branchen gekennzeichnet ist, ist in den vergangenen Wochen in vielen Debatten zu diesem Thema
schon vieles und viel Richtiges gesagt worden. Ziel unserer Politik kann aber meiner Meinung nach nicht sein,
dass wir Frauen dazu drängen, mindestens eine vollzeitnahe Beschäftigung auszuüben, wie es von vielen Stellen gefordert wird, nur weil es heute immer noch
schwierig ist, nach einer Familienzeit wieder voll ins Berufsleben zurückzukehren.
Ziel unserer Politik muss es sein, dass Frauen und
auch Männer eben die Wahl haben, ob sie Vollzeit, Teilzeit oder vollzeitnah arbeiten oder auch eventuell erst
nach einer Phase der Vollfamilienzeit wieder in den Beruf einsteigen, dann aber eben ohne größere finanzielle
Nachteile und mit Anerkennung der Familienleistungen.
({3})
Dass diese Anerkennung sich für viele Frauen wenigstens teilweise bei den erworbenen Rentenansprüchen
niederschlägt, haben wir mit der Mütterrente bereits
durchgesetzt.
({4})
Ich möchte Frauen, die sich aus welchen Gründen
auch immer für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden,
nicht vorschreiben, ihre Stundenzahl zulasten anderer
Lebensbereiche zu erhöhen. Wer aber nach einer Erziehungs- oder Pflegephase die Rückkehr in die Vollzeit
wünscht, der sollte diese Möglichkeit auch unkompliziert erhalten. Dazu können und müssen wir mit einem
Rechtsanspruch beitragen.
({5})
Hier möchte ich noch eines sagen: Ich bin dagegen,
dass insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen durch zusätzliche Berichtspflichten und ausufernde Bürokratie zusätzlich belastet werden. Wenn
aber die Wirtschaft und Betriebe über Fachkräftemangel
klagen, dann erwarte ich von diesen Unternehmen und
Betrieben auch größere Anstrengungen in Sachen Arbeitszeitflexibilität und Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Das müssen wir von dieser Seite fordern.
({6})
Ich möchte nämlich nicht in einer Gesellschaft leben,
in der der Staat unser Leben bis ins kleinste Detail gesetzlich durchreguliert. Gesellschaft muss sich auch immer selbst gestalten können und darf nicht als Erstes
nach der Politik rufen, wenn sich etwas bewegen soll.
Ich bin auch der Überzeugung, dass die Gesellschaft das
kann, und sie wird es auch tun.
Ich möchte weiterhin niemandem vorschreiben, welchen Beruf er ergreifen soll. Mal abgesehen davon, dass
es den vom Fachkräftemangel besonders betroffenen
technischen Unternehmen und Betrieben selbst ein großes Anliegen sein muss, Frauen für ihre Branche zu gewinnen, sehe ich es überhaupt nicht ein, Frauen von der
Ausübung sozialer Berufe abzuraten, weil sie schlechter
bezahlt sind. Nein, die Forderung ist eine ganz andere:
Die sozialen Berufe, ohne die unsere Gesellschaft - machen wir uns doch nichts vor! - überhaupt nicht funktionsfähig wäre, müssen endlich angemessen entlohnt
werden. Ich denke, da stehen wir alle Seite an Seite.
({7})
Ich kann leider auch nicht einsehen, dass ein Lagerarbeiter für körperlich schwere Arbeit Zuschläge erhält,
aber Menschen in der Pflege ihre körperliche Schwerstarbeit nicht gesondert entlohnt bekommen.
({8})
Da müssen wir genau hinschauen und dann auch gezielt
nachsteuern.
({9})
Die dazu erforderliche Transparenz in den Tarifverträgen
müssen wir einfordern. Wenn dann vom Arbeitsministerium auch noch Missstände und Ungleichbehandlungen
in den Tarifverträgen aufgedeckt und vielleicht sogar
sanktioniert werden, ja, dann sehe ich endlich so etwas
wie Licht am Ende des Tunnels. Dann fordern wir, liebe
Frau Crone, die zurückbehaltenen zwei Eiskugeln für die
Mädels ein. Wir sind auf der richtigen Seite. Lassen Sie
uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Entgeltungleichheit endlich beseitigen und nächstes Jahr wesentlich früher am Brandenburger Tor stehen als in diesem
Jahr.
({10})
Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Gabriele
Hiller-Ohm für die SPD das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute
zum Equal Pay Day nicht nur vor dem Brandenburger
Tor, sondern auch hier im Bundestag über gleichen Lohn
für gleiche Arbeit für Männer und Frauen sprechen.
Denn hier in diesem Haus können wir tatsächlich etwas
ändern. Hier haben wir die gesetzgeberische Kraft, und
die, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir auch
nutzen. Es kann doch wohl nicht angehen, dass ausgerechnet, wenn es um uns Frauen geht, das Grundgesetz
keine Anwendung findet - und das seit über 66 Jahren.
({0})
Warum, so frage ich, verdient eine Versicherungskauffrau bei gleicher Ausbildung und gleicher Arbeit im
Schnitt 3 000 Euro, während ein Versicherungskaufmann
mehr als 4 000 Euro im Monat erhält? Versicherungskauffrauen bekommen also über 1 000 Euro weniger als
ihre männlichen Kollegen. In ihren Portemonnaies klafft
deshalb Monat für Monat eine riesige Ungerechtigkeitslücke, und das nur, weil sie Frauen sind.
({1})
Schlimmer geht’s nimmer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,
ich danke Ihnen, dass Sie das Thema mit Ihrem Antrag
heute auf die Tagesordnung gebracht haben und wir über
Lohndiskriminierung sprechen können. Sie haben vieles
aufgeschrieben, was gut und richtig ist. Ihr Problem ist
aber: Sie haben keine Mehrheit im Bundestag.
({2})
Vielleicht tröstet es Sie: Auch wir als SPD-Fraktion haben uns in der letzten Legislaturperiode viel Arbeit gemacht und sind dann als Opposition an der damaligen
schwarz-gelben Regierungsmehrheit gescheitert. Im Gegensatz zu Ihnen hatten wir statt eines Antrages sogar einen kompletten, bis ins letzte Detail ausformulierten und
juristisch abgesicherten Gesetzentwurf zur Durchsetzung von Entgeltgleichheit vorgelegt.
({3})
Das war im Mai 2012. Die Grünen hatten unsere Initiative unterstützt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion, hatten nicht die Größe, unserem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung zu geben
({4})
und so ein deutliches Signal der damaligen Opposition
für die Frauen in unserem Land zu setzen.
({5})
Parteipolitische Scheingefechte waren Ihnen wichtiger, als gemeinsam mit SPD und Grünen gegen die Ungerechtigkeit gegenüber knapp 18 Millionen Frauen
Flagge zu zeigen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linksfraktion, können Sie heute mit Ihrem populistischen Papierkorbantrag auch nicht wiedergutmachen.
({6})
Aber zum Glück ist die SPD jetzt in Regierungsverantwortung. Mit unserem Koalitionspartner werden wir
die Welt zwar nicht aus den Angeln heben, aber wir werden die Situation der Frauen in unserem Land doch deutlich verbessern. Das haben wir im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, und das setzen wir jetzt Stück für Stück
um.
({7})
Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt. Er wird sich
vor allem für die vielen Frauen in schlecht bezahlten
Jobs positiv auswirken und ihnen mehr Lebensqualität
bringen.
({8})
Wir haben die Quote durchgeboxt. Endlich werden mehr
Frauen in Führungspositionen kommen und unserer
Wirtschaft neuen Schwung verleihen.
({9})
Wir werden auch der größten Ungerechtigkeit in unserem Land die Rote Karte zeigen: Gleiche und gleichwertige Arbeit darf nicht länger unterschiedlich bezahlt
werden, nur weil sie von einem Mann oder von einer
Frau erledigt wird.
({10})
Wir brauchen endlich ein neues Bewusstsein vom Wert
der Arbeit in unserer Gesellschaft. Ungerechtigkeit und
Ausbeutung dürfen nicht länger toleriert werden. Sie gehören an den Pranger gestellt.
({11})
Wir werden noch in diesem Jahr das im Koalitionsvertrag vereinbarte Entgeltgleichheitsgesetz umsetzen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Das Motto des heutigen Equal Pay Day ist gut gewählt: „Transparenz - Spiel mit offenen Karten“. Das ist
genau richtig; denn ein wichtiger Schritt, um unterschiedliche Bezahlung zwischen Männern und Frauen
aufzudecken, ist Transparenz. Man muss in den Betrieben wissen, was die Kolleginnen und Kollegen verdienen. Löhne und Zuschläge gehören offengelegt.
({13})
Ich bin mir sicher: Schon das würde eine Menge bewirken. Viele Frauen und natürlich auch Männer würden
dann überhaupt erst erkennen, dass gleiche Arbeit im
selben Betrieb sehr oft sehr unterschiedlich bezahlt wird.
Beschäftigte hätten mit diesem Wissen eine viel bessere
Ausgangssituation bei Gehaltsverhandlungen. Wir fordern deshalb: Lasst bei den Löhnen endlich die Hosen
runter!
({14})
Unser Ruf stößt in der Wirtschaft seit Jahren leider
auf taube Ohren. Wirksame Instrumente, um ungleiche
Bezahlung aufzudecken, gibt es schon lange, zum Beispiel Logib-D oder eg-check. Sie werden nur nicht angewandt. Deshalb muss ein Gesetz her. Wir packen es an.
Danke schön.
({15})
Der abschließende Redebeitrag in dieser Debatte erfolgt durch den einzigen Redner, was aber nicht heißt,
dass die Männer das letzte Wort haben in dieser Debatte.
- Ich erteile jetzt dem Kollegen Matthäus Strebl das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion
Die Linke „Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige
Arbeit für Frauen und Männer durchsetzen“. Dass Sie
diesen Antrag gewissermaßen als Begleitmusik zum
heutigen Equal Pay Day bringen, spricht für die bekannte gute Dramaturgie der Linken.
Das Anliegen des Antrags hört sich erst einmal gut
an, und es dürfte hier im Bundestag keine Fraktion geben, die der Zielsetzung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widerspricht. Schließlich ist das Ziel im Koalitionsvertrag festgeschrieben und sollte entsprechend
verwirklicht werden. Wie die Kollegin Hiller-Ohm
schon gesagt hat: Wir werden es auch verwirklichen.
({0})
Aber wie so oft steckt auch hier der Teufel nicht nur
im Detail. Der vorliegende Antrag ist meines Erachtens
schon deshalb mit äußerster Skepsis zu betrachten, weil
er neue und teure Bürokratien mit sich bringen würde.
Das würde vielleicht Arbeitsplätze im öffentlichen
Dienst schaffen; es würde aber den Frauen wenig helfen.
Die Antragsteller verlangen unter anderem ein Gesetz
zur Verbesserung der individuellen und kollektiven Klagemöglichkeiten bei direkter und indirekter Lohndiskriminierung,
({1})
außerdem Gesetze zur Erweiterung der kollektiven Mitbestimmungsrechte von Betriebs- und Personalräten und
dann noch ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Das sind nur einige Punkte. Erwähnen möchte ich
noch das geforderte Verbandsklagerecht, die Einsetzung
einer Entgeltgleichheitskommission und die Ausstattung
der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit Klagerecht.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit solchen
Vorstellungen kann ich persönlich mich nicht anfreunden.
({3})
Nachdem wir mit dem an sich begrüßenswerten Mindestlohngesetz - ich betone: begrüßenswerten Mindestlohngesetz - schon ein Stück neue Bürokratie geschaffen
haben, würde mit den Vorstellungen der Linken ein wahres Bürokratiemonster auf uns zurollen.
({4})
Immerhin: Wenigstens an einer Stelle werden die Tarifvertragsparteien erwähnt, die aber durch Gesetz zum
Abbau von Ungleichheiten verpflichtet werden sollen.
Der Antrag ist Ausdruck eines Denkens, dem der Begriff „mündiger Bürger“ völlig fremd ist.
({5})
Wenn es nach den Antragstellern geht, muss der Staat alles bis ins Detail regeln. Dass er das nicht kann und auch
nicht können muss, hat die jüngere deutsche Geschichte
hinlänglich bewiesen.
({6})
In der Bundesrepublik Deutschland sind wir seit jeher
gut damit gefahren, die Tarifpartner mit einem gehörigen
Maß an Kompetenz und Verantwortung auszustatten.
({7})
In gewisser Weise haben wir mit dem Mindestlohngesetz, zu dem ich uneingeschränkt stehe, schon einen ersten Sündenfall begangen. Das heißt aber nicht, dass wir
nun einen zweiten begehen und die Tarifpartner aus der
Verantwortung entlassen. Darum geht es mir.
Ohne Wenn und Aber bekenne ich mich zu dem Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Aber ich
möchte nicht, dass immer und bei jeder Gelegenheit
nach dem Staat gerufen wird.
Schaffen wir gemeinsam ein gesellschaftliches
Klima, in dem es selbstverständlich ist, dass weder
Frauen noch Männer diskriminiert und in irgendeiner
Weise benachteiligt werden.
({8})
Dann müssen wir auch nicht die Schleusen für eine neue
Gesetzesflut öffnen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag
ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4321 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend liegen soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. März 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut und
wohlbehalten am Montag wieder hierher nach Berlin.