Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen; ich
begrüße Sie herzlich.
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung teile ich Ihnen
mit, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Pläne der Bundesregierung für einen nationalen Alleingang bei der Vorratsdatenspeicherung
({0})
ZP 2 Vereinbarte Debatte
zu den Vorkommnissen in Frankfurt anlässlich der Einweihung der EZB-Zentrale
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Reiches Land - Arme Kinder
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Männliche Eintagsküken leben lassen
Drucksache 18/4328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Tagesordnungspunkt 12 - hier geht es um die Beratung des Antrags zur flächendeckenden Milchviehhaltung - wird abgesetzt. Stattdessen soll der Antrag auf
Drucksache 18/4328 mit dem Titel „Männliche Eintagsküken leben lassen“ mit einer Beratungszeit von 25 Minuten aufgerufen werden.
({2})
- Es kommt nicht häufig vor, dass schlichte Änderungen
der Tagesordnung zu spontanen Begeisterungsstürmen
bei einzelnen Fraktionen führen; aber das haben die
Schriftführer natürlich festgehalten.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 27. Februar 2015 ({3}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni
2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie
2006/43/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des
Rates ({5})
Drucksache 18/4050
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ich frage Sie: Sind Sie mit diesen Vereinbarungen
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Also
können wir so verfahren.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 19./20. März 2015
in Brüssel
Präsident Dr. Norbert Lammert
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Europäische Rat im
Frühjahr ist traditionell der wirtschaftlichen Lage in Europa gewidmet. Dazu können wir zunächst feststellen,
dass es aller Voraussicht nach in diesem Jahr erstmals
seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder in
allen europäischen Mitgliedstaaten Wachstum geben
wird. Das ist eine gute Nachricht.
Sogar die Arbeitslosigkeit, die vor allem unter jungen
Menschen nach wie vor ohne Zweifel viel zu hoch ist,
geht insgesamt zwar langsam, aber Schritt für Schritt zurück. Dies gilt übrigens gerade für zwei Länder, die besonders von der europäischen Staatsschuldenkrise betroffen waren, die ihre Hilfsprogramme inzwischen aber
erfolgreich abgeschlossen haben: Spanien und Irland. In
diesen beiden Ländern sank die Arbeitslosenquote im
letzten Jahr jeweils um über zwei Prozentpunkte. Die Erfolge Irlands und Spaniens sind nur zwei Beispiele dafür,
was entschlossenes Handeln einzelner Länder und solidarische europäische Unterstützung gemeinsam bewirken können.
Insgesamt wird also deutlich, dass wir bei der Überwindung der europäischen Staatsschuldenkrise unter
schwierigen Bedingungen schon einiges erreicht haben;
dauerhaft und nachhaltig überwunden haben wir diese
aber noch nicht. Dafür müssen wir uns weiter anstrengen. Drei Elemente sind und bleiben dabei wichtig.
Erstens. Die wachstumsfreundliche Konsolidierung
muss fortgesetzt werden; denn nachhaltiges Wachstum
und solide Haushalte bedingen einander. Es ist entscheidend, den gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspakt
glaubwürdig anzuwenden. Nur dann kann der Pakt seine
Funktion erfüllen und das Vertrauen in einen dauerhaft
stabilen Euro-Raum wiederherstellen.
({0})
Zweitens: Strukturreformen. Sie sind eine Daueraufgabe, wenn wir Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung nachhaltig stärken wollen. Dabei muss
unser Maßstab nicht Europa sein, sondern die Welt; denn
nur dann wird es uns gelingen, unser europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell im globalen Wettbewerb dauerhaft zum Erfolg zu führen.
Drittens: Investitionen, die Wachstum und Beschäftigung unterstützen. Dabei bleibt entscheidend, dass die
Rahmenbedingungen für private Investitionen stimmen.
Auch dafür sind solide Finanz- und Strukturreformen
notwendig. Der Europäische Fonds für Strategische Investitionen, den der Europäische Rat im Dezember letzten Jahres beschlossen hat, kann und, ich hoffe, wird
auch einen wichtigen Beitrag leisten, private Investitionen zu mobilisieren.
Die Arbeiten an diesem Fonds kommen gut voran.
Die Finanzminister haben sich letzte Woche auf einen
Verordnungsentwurf für den Fonds geeinigt, der nun in
die Beratungen mit dem Europäischen Parlament geht.
Ich wünsche mir, dass die Verhandlungen zügig abgeschlossen werden, damit der Fonds wie geplant Mitte
des Jahres seine Arbeit aufnehmen kann.
Durch seine Verankerung in der Europäischen Investitionsbank soll sichergestellt werden, dass solche Projekte ausgewählt werden, die wirtschaftlich sinnvoll sind
und die unsere Wachstumskraft und Wettbewerbsfähigkeit auch nachhaltig stärken. Deutschland wird im G-7Vorsitz in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern und Institutionen auch gegenüber außereuropäischen Partnern deutlich machen, wie wichtig nachhaltige
Haushaltspolitik, umfassende Strukturreformen und gezielte Investitionen sind, um das globale Wachstum zu
stärken.
Gleichzeitig werden wir uns mit allem Nachdruck dafür einsetzen, wichtige europäische Vorhaben entschlossen voranzutreiben. Dazu gehört auch das Abkommen
zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika.
({1})
Dieses Freihandelsabkommen bietet große Chancen, und
es ist notwendig für das Wachstum in Europa und die
Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Ohne Zölle und unnötige Bürokratie wird es
für unsere Unternehmen erheblich leichter, das enorme
Potenzial des amerikanischen Marktes zu erschließen.
({2})
Meine Damen und Herren, Deutschlands Wirtschaftsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten sind wichtig
und auch von wachsender Bedeutung für unseren Wohlstand. Allein im vergangenen Jahr sind die deutschen
Exporte in die USA um gut 7 Prozent auf 96 Milliarden
Euro gestiegen. Ich unterstütze deshalb sehr, dass der
heute beginnende Europäische Rat mit einer Diskussion
zum Transatlantischen Freihandelsabkommen noch einmal unterstreicht, welch große Bedeutung er diesem Abkommen beimisst. Wir hatten bereits im Dezember das
Ziel vorgegeben, die Verhandlungen für das Abkommen
noch in diesem Jahr abzuschließen, und wir sollten alles
daransetzen, dieses Ziel auch zu erreichen.
({3})
Ein weiteres wichtiges europäisches Vorhaben ist die
Schaffung einer Energieunion. Sie soll zukünftig den
Rahmen für unsere europäische Energiepolitik bieten
und auch die Umsetzung unserer europäischen Klimaund Energieziele für 2030 befördern. Im Zentrum des
Konzepts einer Energieunion steht eine sichere, bezahlbare, umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversorgung. Aus unserer Sicht muss der Schwerpunkt
dabei primär auf der Stärkung des Energiebinnenmarktes
und der Umsetzung der Klima- und Energieziele für
2030 liegen.
Durch die Ukraine ist das Thema Energieversorgungssicherheit wieder stärker ins Bewusstsein gerückt.
Auch dies wird ein zentraler Aspekt der Energieunion
sein. Wir werden auch in den kommenden Jahren unsere
Anstrengungen verstärken müssen, die Energieversorgung in allen Mitgliedstaaten langfristig zu sichern.
Schlüsselelemente sind dabei für uns der weitere Ausbau
der erneuerbaren Energien, mehr Energieeffizienz, die
Diversifizierung der Energiequellen und ein funktionierender Energiebinnenmarkt.
Die Bundesregierung tritt dafür ein, dass bei der Umsetzung der Energieunion marktwirtschaftliche und wettbewerbliche Ansätze im Vordergrund stehen. Deshalb
muss etwa ein gebündelter Gaseinkauf für Mitgliedstaaten freiwillig und auf Ausnahmen begrenzt bleiben.
Wichtig ist weiter, dass ein glaubwürdiger und verlässlicher Rahmen geschaffen wird, um die Klima- und
Energieziele 2030 auch tatsächlich zu erreichen. Dafür
brauchen wir einen konkreten Vorschlag der Europäischen Kommission für eine verlässliche GovernanceStruktur, das heißt: klare Regeln für die Umsetzung der
Ziele und auch entsprechende Konsequenzen, wenn das
nicht erfolgt. Das ist deshalb so wichtig, weil wir Ende
des Jahres bei der Klimakonferenz in Paris endlich ein
neues und ambitioniertes weltweites Klimaabkommen
verabschieden wollen, das alle Staaten zu Klimaschutzaktivitäten verpflichtet und das spätestens 2020 in Kraft
tritt.
Wir brauchen zum Wohle kommender Generationen
einen klaren und für alle verbindlichen Rahmen, der uns
auf einen Entwicklungspfad führt, mit dem wir das ökologisch so wichtige 2-Grad-Ziel auch einhalten können.
({4})
Die Bundesregierung wird die französische Regierung
und ich werde den französischen Präsidenten François
Hollande nach Kräften darin unterstützen, die Klimakonferenz in Paris erfolgreich abzuschließen, unter anderem durch einen starken Impuls auch der G-7-Staaten
und durch den diesjährigen Petersberger Klimadialog.
Mit dem geplanten Minderungsbeitrag der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten für das neue Klimaabkommen sendet die EU ein kraftvolles Signal an
die Staatengemeinschaft. Wir wollen bis 2030 eine
Treibhausgasreduktion um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 erreichen. Der Europäische Rat wird diesen Beschluss noch einmal bekräftigen. Damit wollen
wir auch einen Anreiz für andere große Volkswirtschaften schaffen, ihre möglichst ambitionierten Klimaschutzbeiträge für Paris rechtzeitig und vor allen Dingen auch
in transparenter Art und Weise vorzulegen.
Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche, soziale
und ökologische Stärke Europas dient ohne Zweifel dem
Wohl der Bürgerinnen und Bürger unserer Europäischen
Union, und das erwarten die Menschen auch zu Recht.
Sie ist aber auch notwendige Grundlage, um die großen
geopolitischen Herausforderungen bewältigen zu können, denen sich Europa 70 Jahre nach Ende des Zweiten
Weltkrieges und 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges
ausgesetzt sieht - vorneweg durch die Lage in der
Ukraine.
Als vor 25 Jahren der Kalte Krieg zu Ende ging, ermöglichte dies den Staaten Mittel- und Osteuropas, endlich selbstbestimmt ihren Weg zu gehen. Das Denken in
Blöcken und Einflusssphären schien ein für alle Mal
überwunden. Aber wenn sich der Europäische Rat heute
Abend mit der Lage in der Ukraine befasst, dann tut er
das fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem verfassungswidrigen Referendum auf der Krim. Wir wussten
damals wie heute: Die Gründe, die für dieses Referendum genannt wurden, waren Vorwände. Dieses Referendum hatte einen einzigen Zweck: Es war das Werkzeug,
einem russischen Plan folgend, die Krim der Ukraine zu
entreißen. Russland sollte die Krim dann als Teil bekommen, und so ist es auch geschehen.
Die Annexion der Krim war und bleibt ein Akt gegen
das internationale Recht, gegen die Verträge, in denen
sich Russland verpflichtet hatte, die Souveränität und Integrität der Ukraine zu achten. Mit dieser Annexion hat
Russland das Fundament unserer europäischen Friedensordnung infrage gestellt. Ich bin froh, dass Europa darauf von Anfang an und bis heute eine klare Antwort gegeben hat.
({5})
Russlands Griff nach der Krim genauso wie seine
Handlungen in der Ostukraine fordern uns Europäer heraus. Ja, die Interessen innerhalb der Europäischen
Union sind unterschiedlich, auch unsere Abhängigkeit
von Energieimporten oder Handelsverbindungen ist unterschiedlich. Aber ich sage: Die Europäische Union hat
diese Herausforderung bis heute bestanden. Wir haben
uns nicht spalten lassen. Wir haben in der Diskussion,
wie es unsere Art ist, zu gemeinsamen Entscheidungen
gefunden und diese auch nach außen vertreten - mit einer europäischen Stimme und gemeinsam mit unseren
transatlantischen Partnern. Ich möchte - und das gilt für
die ganze Bundesregierung -, dass das so bleibt. Darauf
werden wir hinarbeiten.
({6})
Präsident Hollande und ich haben in Abstimmung mit
anderen europäischen Partnern im Februar eine Initiative
ergriffen, um das Blutvergießen und das tägliche Leid
der Menschen in der Ostukraine zu beenden. Die
Ukraine, Russland und die Separatisten haben sich in
Minsk auf ein Maßnahmenpaket verpflichtet, das erst einen Waffenstillstand und den Abzug schwerer Waffen
und dann weitere Schritte zu einer politischen Lösung
vorsieht. Uns musste immer klar sein, dass dieser Prozess nicht ohne Verzögerungen und Rückschläge ablau8884
fen würde, dass er nur ein Hoffnungsschimmer sein
konnte - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Doch
auch wenn der Waffenstillstand noch zerbrechlich und
der Waffenabzug noch nicht ausreichend überwacht ist,
so sind doch Anfänge gemacht. Auf diesem Weg müssen
alle Beteiligten weitergehen, bis hin zu dem letzten
Schritt, den das Maßnahmenpaket von Minsk vorsieht:
wenn nämlich die Ukraine wieder die Kontrolle über
ihre eigene Grenze zu Russland übernimmt.
Wir Europäer haben im vergangenen Jahr in mehreren
Entscheidungsrunden Sanktionen verhängt. Diese Sanktionen, die im Juli bzw. September auslaufen werden,
wollen und können wir nicht aufheben, wenn nur erste
Forderungen der Minsker Vereinbarungen erfüllt sind;
das wäre falsch. Deshalb werde ich mich heute Abend
dafür einsetzen, dass sich die Dauer der Sanktionen am
Paket von Minsk und seiner Erfüllung orientiert.
({7})
Ich bin überzeugt: Damit handeln wir im Sinne der europäischen Werte, die uns einen, und im Interesse der
Menschen, die in den betroffenen Gebieten leben. Außerdem machen wir deutlich, dass wir auf der Umsetzung des gesamten Paketes von Minsk bestehen.
Meine Damen und Herren, nicht nur die sicherheitspolitischen, sondern auch die wirtschaftlichen Herausforderungen für die Ukraine bleiben groß. Deutschland
hat deshalb unter anderem bilateral einen zusätzlichen
Kreditrahmen in Höhe von 500 Millionen Euro zugesagt.
Im Rahmen unseres G-7-Vorsitzes haben wir das Engagement der internationalen Gemeinschaft zur finanziellen
Unterstützung der Ukraine koordiniert. Die Entscheidung
des Internationalen Währungsfonds, Kredithilfen in Höhe
von 17,5 Milliarden US-Dollar zu gewähren, und der
Vorschlag der Europäischen Kommission für weitere
Kredite in Höhe von 1,8 Milliarden Euro sind dabei
wichtige Beiträge, um die Lage in der Ukraine zu stabilisieren. Die Europäische Union hat mit Unterstützung der
Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschlands darüber
hinaus ihre humanitären Hilfsleistungen in den besonders betroffenen Gebieten im Osten der Ukraine deutlich
verstärkt.
Meine Damen und Herren, die Ukraine-Krise berührt
natürlich auch das Verhältnis zu unseren anderen östlichen Nachbarn. Im Mai findet der nächste Gipfel zur
Östlichen Partnerschaft in Riga statt. Die Ukraine, Georgien und Moldau haben Assoziierungsabkommen mit
der Europäischen Union geschlossen. Ziel dieser Abkommen ist die europäische Unterstützung beim Aufbau
eines funktionierenden Rechtsstaates, einer erfolgreichen Marktwirtschaft, um den Menschen in diesen Ländern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ziel ist nicht
der Beitritt zur Europäischen Union oder zur NATO.
Die Östliche Partnerschaft - das gilt unverändert richtet sich gegen niemanden, auch nicht gegen Russland. Ich bedaure sehr, dass Präsident Putin dennoch
Entscheidungen einzelner Länder für ein EU-Assoziierungsabkommen zu einer Frage von Entweder-oder, für
oder gegen Russland gemacht hat. Das Gegenteil bleibt
richtig: Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern es
geht um ein Sowohl-als-auch, von dem alle nur profitieren können.
({8})
Deshalb wird die Europäische Union in genau diesem
Geist ihr Angebot der Östlichen Partnerschaft beim
heute beginnenden Europäischen Rat in Brüssel und
beim Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga im Mai
bekräftigen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres außenpolitisches Thema des Europäischen Rates wird die Lage in
Libyen sein. Nur ein paar hundert Kilometer vor den Toren Europas taumelt Libyen am Rande eines Bürgerkriegs. Terrorgruppen und organisierte Kriminalität machen sich das Chaos zunutze und nisten sich dort ein.
Mit welchen Konsequenzen das verbunden ist, führt uns
die Terrororganisation IS immer wieder mit der barbarischen Ermordung unschuldiger Menschen vor Augen.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, der Opfer zu
gedenken, die gestern in Tunesien im Rahmen eines terroristischen Anschlags ums Leben kamen. Den Angehörigen gilt unser tief empfundenes Mitgefühl. Wir werden
alles tun, was in unserer Kraft steht, um Tunesien zu helfen.
({9})
Die Lage in Libyen hat massive Auswirkungen nicht
nur auf Nordafrika und die Sahelzone, sondern eben
auch auf uns in Europa. Bereits jetzt gehört Libyen zu
den wichtigsten Transitländern für Flüchtlinge aus
Afrika und Nahost. Die Vereinten Nationen bemühen
sich um eine politische Lösung. Diese Bemühungen
richten sich auf das Ziel, in Libyen eine Regierung der
nationalen Einheit bilden zu können; denn nur auf diesem Weg werden dauerhafter Frieden, Stabilität und
Wohlstand möglich sein. Wir unterstützen diese Bemühungen gemeinsam mit der EU und anderen Partnern mit
aller Kraft.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, eigentlich
sah die offizielle Tagesordnung des Europäischen Rates
keine Beratung zur Lage in Griechenland vor. Nun aber
werden wir heute Abend in einer kleinen Gruppe mit
Ministerpräsident Tsipras doch darüber sprechen; denn
natürlich drehen sich zurzeit wieder viele unserer Gedanken um dieses Land. Griechenland gelten wieder verstärkt die Bemühungen der Finanzminister wie der europäischen Institutionen.
Griechenland, das Land, in dem vor fünf Jahren die
europäische Staatsschuldenkrise ihren Ausgang nahm,
hat diese Krise noch lange nicht hinter sich. Es bleibt ein
sehr schwerer Weg zu gehen. Dabei ist heute so klar wie
2010, als die europäischen Partner in einem erheblichen
politischen wie finanziellen Kraftakt das erste europäische Hilfsprogramm für Griechenland auflegten: Nur
mit einem solchen Kraftakt wird es gehen, nur in diesem
Zusammenspiel von Solidarität und griechischer Eigenanstrengung, nur indem die einen helfen und die anderen
die Hilfe als Verpflichtung verstehen, als Verpflichtung,
den Haushalt in Ordnung zu bringen, zu reformieren und
daraufhin zu arbeiten, eines Tages keine Hilfe mehr zu
brauchen.
({10})
Nur so wird es gehen, indem man Vereinbarungen trifft
und sich alle an Vereinbarungen halten.
({11})
Ich habe den griechischen Ministerpräsidenten Alexis
Tsipras für Montag nach Berlin eingeladen. Ich freue
mich auf seinen Besuch. Wir werden Zeit haben, ausführlich miteinander zu reden, vielleicht auch zu diskutieren.
({12})
Es ist natürlich völlig klar, dass niemand eine Lösung für
Griechenlands Probleme schon heute Abend in Brüssel
oder am Montagabend erwarten kann. Eine Lösung der
Probleme kann es auch nur auf der Basis dessen geben,
was in der Euro-Gruppe miteinander vereinbart worden
ist. Kein Treffen im kleinen Kreis kann oder wird die Einigung auf Vorschlag der Institutionen - Internationaler
Währungsfonds, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission - in der Euro-Gruppe ersetzen. Doch
ich führe alle meine Gespräche heute, Montag und viele
andere mehr in dem Verständnis, dass aus Meinungsverschiedenheiten Gemeinsamkeit wird, so wie es auf dem
Weg zur europäischen Einigung immer wieder gelungen
ist. Deutschland ist dazu bereit; denn ich bin mir sehr
wohl bewusst: Die Welt schaut auf uns, wie wir in der
Euro-Zone mit Problemen und Krisen in einzelnen Mitgliedstaaten umgehen. Die Welt misst uns daran, und sie
wird Europa umso mehr respektieren, wenn wir zeigen,
dass wir gemeinsam handeln und gemeinsam die Probleme lösen können.
Ich habe immer wieder gesagt: Scheitert der Euro,
scheitert Europa. Das fanden und finden manche zu dramatisch. Aber ich bleibe dabei; denn der Euro ist weit
mehr als eine Währung. Er ist neben den europäischen
Institutionen, die wir geschaffen haben, der stärkste Ausdruck unseres Willens, die Völker Europas wirklich im
Guten und Friedlichen zu vereinen.
({13})
Er ist der Ausdruck des völkerverbindenden Miteinanders, mit dem wir unwiderruflich die Lehre aus Jahrhunderten der Kriege und der Feindschaften gezogen haben.
Wenn ich bedenke, was wir auf diesem Weg der europäischen Einigung geschafft haben, dann sehe ich keinen
Grund, vor den heutigen Aufgaben zu verzagen - im Gegenteil.
({14})
Vielleicht ist es wieder an der Zeit, dass wir es uns
selber laut sagen: Die Europäische Union ist die Gemeinschaft des Friedens, sie ist die Gemeinschaft der
Stabilität, sie ist die Gemeinschaft der Freiheit. Viele
europäische Mitgliedstaaten haben in den vergangenen
Jahrzehnten Diktaturen überwunden und sich die Demokratie erkämpft: Spanien, Portugal, auch Griechenland
und natürlich die Staaten dessen, was man einmal den
Ostblock nannte, ein Teil Deutschlands auch. Die Blöcke
gibt es nicht mehr. Stattdessen gibt es eine erweiterte
Europäische Union. Auch das haben wir geschafft, und
darauf können wir Europäer stolz sein.
({15})
Vielleicht ist es auch an der Zeit, dass wir uns wieder
daran erinnern, wie wir diese wunderbare Wandlung
vom Kontinent des Krieges zum geeinten Europa geschafft haben: mit Kreativität und Vertragstreue, mit festen Prinzipien ebenso wie mit Verständnis füreinander
und Kompromissbereitschaft.
({16})
Und darauf kommt es jetzt wieder an. Dafür bitte ich
weiterhin um Ihre Unterstützung, zum Wohle der Europäerinnen und Europäer, die zu ihrem Glück vereint
sind.
Vielen Dank.
({17})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Bundeskanzlerin! Zu ihren besten Zeiten hatte die
deutsche Außenpolitik zwei Prioritäten. Das waren die
europäische Einigung und eine Politik der guten Nachbarschaft gegenüber Russland. Es sollte Ihnen schon zu
denken geben, Frau Merkel - wenn Sie bitte zuhören
könnten -,
({0})
dass Nationalismus und Zwietracht in Europa, knapp
zehn Jahre nachdem Sie das Kanzleramt übernommen
haben, wieder gedeihen wie lange nicht mehr und im
Verhältnis zu Russland die Entspannungspolitik einem
neuen Kalten Krieg gewichen ist.
({1})
Die spezifischen US-Interessen in Europa hat vor kurzem der Chef des einflussreichen Thinktanks Stratfor in
einer Pressekonferenz in eindrucksvoller Offenheit erläutert: Hauptinteresse der Vereinigten Staaten sei es, ein
Bündnis zwischen Deutschland und Russland zu verhindern, denn - so wörtlich - „vereint sind sie die einzige
Macht, die uns“, also die USA, „bedrohen kann“.
Diese vermeintliche Bedrohung von US-Interessen
wurde auf absehbare Zeit erfolgreich erledigt. Das begann eben damit, dass die EU im Rahmen der Östlichen
Partnerschaft versucht hat, die betreffenden Länder aus
der wirtschaftlichen und politischen Kooperation mit
Russland herauszubrechen.
({2})
Frau Merkel, natürlich war das gegen Russland gerichtet; aber es war eben auch nicht im Interesse der betreffenden Länder. Sie haben denen das Entweder-oder aufgezwungen, nicht Russland.
({3})
Im Ergebnis hat die Ukraine einen Großteil ihrer Industrie verloren. Heute ist dieses Land ein bankrotter
Staat, in dem Menschen hungern und frieren und die
Löhne niedriger sind als im afrikanischen Ghana.
Aber die Konfrontation mit Russland hat nicht nur die
Ukraine zerstört. Sie schadet ganz Europa. Es ist doch
ein offenes Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten den
Konflikt mit Russland auch aus wirtschaftlichen Gründen schüren. Wenn US-Regierungen von Menschenrechten reden, dann geht es in der Regel um Bohrrechte oder
um Schürfrechte. Gerade in der Ukraine ist angesichts
der großen Schiefergasvorkommen verdammt viel zu
schürfen.
({4})
Wenn jetzt im Rahmen der Energieunion von neuen
Pipelinerouten und einer zunehmenden Unabhängigkeit
vom russischen Gas geredet wird, dann sollten Sie den
Leuten ehrlicherweise sagen, was das bedeutet: wachsende Abhängigkeit vom wesentlich teureren und ökologisch verheerenden US-Frackinggas. Ich halte das nicht
für eine verantwortungsvolle Perspektive.
({5})
Die Liste der ehemaligen deutschen Spitzenpolitiker,
die Ihre Russlandpolitik kritisiert haben, Frau Merkel, ist
lang. Da finden Sie die Namen Ihrer Vorgänger Gerhard
Schröder, Helmut Kohl, Helmut Schmidt und ebenso
Hans-Dietrich Genscher. Vielleicht hat das ja auch zu Ihrem Einlenken beigetragen. Auf jeden Fall war es richtig, dass Sie gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Hollande die Initiative zu neuen Verhandlungen
ergriffen haben. Minsk II hat immerhin dazu geführt,
dass in der betreffenden Region seit Wochen deutlich
weniger Menschen sterben als in den Wochen und Monaten davor und dass die Tür zu einer friedlichen Lösung
geöffnet wurde.
({6})
Natürlich ist das ein wichtiges Ergebnis. Sie, Frau
Bundeskanzlerin, und der französische Präsident verdienen dafür Anerkennung.
({7})
Wem aber an Frieden und Sicherheit in Europa liegt,
der muss den Weg von Minsk II jetzt auch mit Konsequenz und Rückgrat weitergehen. Da ist es natürlich ein
Problem, dass Konsequenz und Rückgrat nicht gerade zu
Ihren hervorstechenden Eigenschaften gehören.
({8})
Laut OECD haben beide Seiten den Waffenstillstand
wiederholt gebrochen. Sie, Frau Merkel, haben gerade
wieder gefordert, dass die Sanktionen gegen Russland
erst aufgehoben werden, wenn Minsk II umgesetzt ist.
({9})
Natürlich ist es inakzeptabel, wenn aus den Reihen
der Aufständischen immer noch geschossen wird.
({10})
Aber wenn ukrainische Truppen oder die auf ihrer Seite
kämpfenden Nazi-Bataillone weiter schießen, dann ist
das doch mindestens genauso inakzeptabel. Dazu hört
man von Ihnen kein kritisches Wort.
({11})
Wieso melden Sie sich auch nicht mit Kritik zu Wort,
wenn die ukrainische Regierung trotz drohenden Staatsbankrotts in diesem Jahr viermal so viel Geld für neue
Waffen ausgeben möchte als im letzten Jahr?
({12})
Das spricht nicht gerade dafür, dass der Weg des Friedens in der ukrainischen Regierung besonders engagierte
Unterstützer hat.
Ebenso können die Entsendung von Militärberatern
und die Waffenlieferungen durch die Vereinigten Staaten
und Großbritannien eher als Torpedierung denn als
Unterstützung des Friedensprozesses gewertet werden.
Aber wollen Sie jetzt auch gegen die USA und Großbritannien Sanktionen verhängen? Ich glaube, es wäre
besser, einzusehen, dass diese ganze unsägliche Sanktionspolitik ein einziger großer Fehler war, mit dem sich
Europa ins eigene Knie geschossen hat. Deswegen sollten die Sanktionen nicht verlängert werden.
({13})
Wir brauchen auch keine zusätzlichen Panzer. Wir
brauchen auch keine 3 000 Mann starke NATO-Interventionstruppe in Osteuropa, die niemanden schützt, sondern den Frieden in ganz Europa nur noch mehr gefährdet.
({14})
Helmut Schmidt hatte doch recht, als er schon 2007
gewarnt hat, dass für den Frieden der Welt von Russland
heute viel weniger Gefahr ausgeht als etwa von Amerika
({15})
und dass die NATO nur noch ein Instrument US-amerikanischer Hegemoniebestrebungen sei. Wenn das
stimmt, dann lässt das doch nur einen vernünftigen
Schluss zu: dass Europa endlich eine eigenständige und
von den USA unabhängige Politik machen muss.
({16})
Herr Juncker hat nun die These aufgestellt, wir
bräuchten eine europäische Armee, um zu zeigen, dass
es uns mit der Verteidigung europäischer Werte gegenüber Russland ernst ist. Ich glaube, dieser Vorschlag
zeigt vor allem eins: wie weit sich Europa von dem entfernt hat, was einst die Gründerväter der europäischen
Einigung wollten.
({17})
Damals ging es - Frau Merkel, Sie haben es eben selber
angesprochen - um Frieden, um Demokratie und um Solidarität.
({18})
Nie wieder sollten Nationalismus und Völkerhass die europäischen Länder entzweien. Aber um solche Werte zu
verteidigen, dafür brauchen Sie wahrlich keine bewaffneten Bataillone.
Wenn Sie die Demokratie verteidigen wollen, Frau
Merkel, dann setzen Sie sich doch dafür ein, dass die europäischen Länder endlich wieder von ihren gewählten
Regierungen und nicht von Finanzmärkten, nicht von
dem ehemaligen Investmentbanker Mario Draghi und,
bitte schön, auch nicht von Ihnen, Frau Merkel, regiert
werden.
({19})
Wenn Sie Demokratie wollen, dann stoppen Sie die sogenannten Freihandelsabkommen, dann stoppen Sie
TTIP, in dessen Folge demokratische Wahlen endgültig
zur bloßen Farce verkommen.
({20})
Das wäre eine Verteidigung europäischer Werte! Das
wäre eine Verteidigung von Demokratie, diese unsäglichen Verhandlungen über TTIP und ähnliche Abkommen endlich auszusetzen!
({21})
Wenn Sie ein einiges Europa wollen, dann hören Sie
auf, andere Länder zu demütigen und ihnen Programme
zu diktieren, die ihrer jungen Generation jede Perspektive nehmen.
({22})
Hören Sie auf, Europa sogenannte Strukturreformen vorzuschreiben, die nur auf wachsende Ungleichheit und einen immer größeren Niedriglohnsektor hinauslaufen!
({23})
In Deutschland sind infolge dieser Politik mittlerweile
3 Millionen Menschen trotz Arbeit so arm, dass sie nicht
ordentlich heizen, sich nicht anständig ernähren und
schon gar nicht in den Urlaub fahren können. Statt diese
Politik zum Exportschlager zu erklären, wäre es an der
Zeit - und übrigens sehr im europäischen Interesse -, sie
endlich hier in Deutschland zu korrigieren; denn es ist
nicht zuletzt das deutsche Lohndumping, das anderen
Ländern der Währungsunion die Luft zum Atmen
nimmt.
({24})
Finanzminister Schäuble hat kürzlich versucht, die
griechische Regierung mit der Bemerkung vorzuführen:
Tja, regieren sei halt immer ein Rendezvous mit der
Realität.
({25})
Da kann man nur sagen: Schön wär’s! Schön wäre es,
wenn die deutsche Regierung ihr Rendezvous mit der
Realität endlich auch einmal erleben würde.
({26})
Denn Realität ist jedenfalls, dass es nicht die Syriza, sondern die griechischen Schwesterparteien von CDU/CSU
und SPD waren, die über Jahrzehnte einen riesigen
Schuldenberg aufgetürmt haben, um sich und der Oberschicht die Taschen vollzustopfen.
({27})
Realität ist auch, dass Griechenland bereits 2010 hoffnungslos überschuldet war und dass es eine verantwortungslose Veruntreuung von deutschem Steuergeld war,
mit diesem Geld die Schulden der Griechen bei den Banken zu bezahlen. Wir haben deswegen damals nicht zugestimmt. Wir haben damals schon einen Schuldenschnitt gefordert.
({28})
Wer einem Überschuldeten Kredit gibt, der wird sein
Geld mutmaßlich nie wiedersehen. Aber die Verantwortung dafür liegt bei Ihnen, Frau Merkel und Herr
Schäuble, und nicht bei der neuen griechischen Regierung, die noch nicht einmal zwei Monate im Amt ist.
({29})
Realität ist auch, dass unter dem Protektorat der von
Ihnen immer noch hochgeschätzten Troika, über deren
kriminelle Machenschaften man sich in dem hervorragenden Dokumentarfilm von Harald Schumann infor8888
mieren kann, die griechischen Schulden noch weiter gewachsen und die griechischen Milliardäre noch reicher
geworden sind.
({30})
Und das wollen Sie fortsetzen? Da kann ich nur sagen:
Gute Nacht!
Wenn Sie unser Geld zurückholen wollen, dann holen
Sie es bei denen, die es bekommen haben,
({31})
und das waren nicht griechische Rentner und griechische
Krankenschwestern, sondern die internationalen Banken und die griechische Oberschicht. An dieser Stelle
können Sie der griechischen Regierung helfen, das Geld
wieder einzutreiben.
({32})
Zu der ganzen Debatte um mögliche Reparationszahlungen möchte ich nur sagen:
({33})
Egal, wie man diese Forderungen juristisch bewertet, das
Mindeste, was man von Vertretern des deutschen Staates
erwarten kann, ist ein Mindestmaß an Sensibilität im
Umgang mit diesem Thema.
({34})
- Ich muss sagen, dass Sie jetzt auch noch lachen, ist
wirklich traurig.
({35})
Angesichts dessen, wie die deutschen Besatzer in
Griechenland gewütet haben, und der Tatsache, dass
1 Million Griechinnen und Griechen in diesem finsteren
Kapitel deutscher Geschichte ihr Leben verloren hat,
finde ich die schnoddrigen Äußerungen von Ihnen, Herr
Schäuble, und von Ihnen, Herr Kauder, einfach nur respektlos, und ich schäme mich dafür.
({36})
Um daran zu erinnern, dass Umgang mit Geschichte
auch anders geht, möchte ich zum Schluss aus der Rede
Richard von Weizsäckers aus Anlass des 40. Jahrestages
der Befreiung zitieren. - Ich komme gleich zum Schluss,
Herr Präsident. - Sie bezog sich damals vor allem auf
Russland und Osteuropa, aber sie gilt natürlich auch für
Griechenland:
({37})
Wenn wir daran denken, was unsere östlichen
Nachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wir
besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen
Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben. Es gilt, dass beide Seiten sich erinnern und beide Seiten einander achten.
Ja, nur wenn wir uns erinnern und nur wenn wir einander achten, nur dann finden wir zu einer Politik der
guten Nachbarschaft zurück, sowohl innerhalb der EU
als auch gegenüber Russland.
({38})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte Frau Wagenknecht, wir sind ja einiges
von Ihnen gewohnt,
({0})
aber dass Sie jetzt die Europäische Kommission, den Internationalen Währungsfonds und die EZB und ihre Arbeit in Griechenland als kriminelle Machenschaften bezeichnen, ist eine neue Qualität.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass Ihre Kritik jedes Ziel und
jedes Maß verloren hat.
({2})
Ich weiß auch gar nicht, warum Sie so schimpfen. Ihre
Fraktion hat doch vor zwei Wochen mit großer Mehrheit
der Verlängerung des Programmes zugestimmt.
({3})
Ihre ganze Rede eben war doch ein Abarbeiten an der
Unzufriedenheit mit der Entscheidung Ihrer eigenen
Fraktion.
({4})
Wenn wir über Europa reden, dann will ich auch ein
Wort zu den Bildern und zu den Nachrichten sagen, die
uns gestern aus Frankfurt erreicht haben. Dass ausgerechnet jetzt so militant gegen die EZB demonstriert
wird, die ja in den letzten Jahren ganz maßgeblich für
die Stabilität in Europa gesorgt hat, die dazu beigetragen
hat, dass Krisenländer nicht im Finanzchaos versinken,
das ist für mich schwer verständlich.
({5})
Jeder in Deutschland hat natürlich das Recht, friedlich
zu demonstrieren. Das ist ein wichtiges Grundrecht, das
wir immer verteidigen.
({6})
Wenn aber Einzelne oder einzelne Gruppen aus diesen
Demonstrationen heraus Feuerwehrleute und Polizisten
angreifen, dann ist das unerträglich.
({7})
Ich sage ganz klar: Das sind für mich keine Demonstranten. Das sind politische Kriminelle. Ich hoffe sehr, dass
sie für ihr Verhalten mit aller Konsequenz zur Rechenschaft gezogen werden.
({8})
Meine Damen und Herren, auch wenn, wie es die
Bundeskanzlerin gesagt hat, von diesem Gipfel noch
keine Lösung zu erwarten ist, müssen wir alles daransetzen, dass Griechenland doch noch einen Weg aus dieser
Krise findet. Das wünsche ich Griechenland. Das wünsche ich aber auch uns. Denn eine erfolgreiche Entwicklung in Griechenland liegt in unserem ureigenen Interesse.
({9})
Deutschland haftet mit rund 50 Milliarden Euro für
griechische Staatsanleihen. Aber es steht nicht nur finanziell viel auf dem Spiel, sondern auch, weil ein Austritt
Griechenlands aus der Euro-Zone enorme wirtschaftliche und soziale Verwerfungen in Griechenland zur Folge
hätte. Vor allem aber geht es um die Frage, ob Europa in
dieser schwierigen Situation zusammenbleibt oder auseinanderfällt. Denn wir müssen uns klarmachen, dass ein
Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone ein dramatischer Akt und ein schwerer Rückschlag wäre, nicht
nur für die Euro-Zone, sondern auch für die ganze Idee
der Europäischen Union. Das wäre mit Blick auf die Krisen in dieser Welt und auf die Krisenherde in Libyen, im
Nahen Osten und in der Ukraine ein schwer hinzunehmendes Zeichen der Schwäche der Europäischen Union,
das wir überhaupt nicht gebrauchen können.
({10})
Deshalb, meine Damen und Herren, hoffe ich sehr,
dass auf dem Gipfel alle miteinander daran arbeiten, die
Probleme Griechenlands innerhalb der Euro-Zone zu lösen. Dabei muss man allerdings, und zwar entgegen aller
links- oder rechtspopulistischen Propaganda, klar darauf
hinweisen: Diese Probleme hat nicht die Europäische
Union, nicht die Euro-Zone und auch nicht die Bundesregierung verursacht, sondern das Schulden- und
Finanzdesaster in Griechenland ist in erster Linie auf das
jahrzehntelange Wirken korrupter politischer und ökonomischer Eliten zurückzuführen.
({11})
- Dazu gehört auch Pasok; gar keine Frage.
Auch nach nunmehr über fünfjährigen Reformbemühungen hat sich die Situation in Griechenland immer
noch nicht grundlegend gebessert. Es gibt in Griechenland immer noch keine effiziente Staatsverwaltung und
Justiz. Stattdessen hat das klientelistische System einen
völlig überdimensionierten öffentlichen Dienst hervorgebracht, der zu einer Versorgungsanstalt für die Anhänger der regierenden Parteien degeneriert ist.
({12})
Selbstständige müssen sich in Griechenland mit einer
irrsinnigen Bürokratie auseinandersetzen. Es gibt immer
noch eine riesige Schattenwirtschaft mit Schwarzarbeit,
Korruption und Steuerhinterziehung. Vor allem den Privilegierten und Vermögenden und den oligarchischen
Gruppen in diesem Lande ist es immer wieder gelungen,
sich der Besteuerung zu entziehen.
({13})
Griechenland, meine Damen und Herren, ist nicht nur
deshalb hoch verschuldet, weil es Probleme mit der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit hat, sondern vor allem auch deshalb, weil es kein intaktes Staatswesen und
keine funktionierende Steuerverwaltung gibt. Griechenland ist auch deshalb ein armer Staat, weil privater
Reichtum nicht angemessen besteuert wird.
({14})
Nur wenn diese Reformen ernsthaft in Angriff genommen werden, machen weitere Hilfen für Griechenland überhaupt einen Sinn.
({15})
Das ist der Grund dafür, warum wir darauf bestehen,
dass es eine Fortsetzung des Programmes nur geben
kann, wenn Zug um Zug die dringend notwendigen Reformen durchgeführt werden.
({16})
Wir sind zu Solidarität bereit. Aber Solidarität ist keine
Einbahnstraße, meine Damen und Herren.
({17})
Wir müssen leider feststellen - in diesem einen Punkt
gebe ich Ihnen recht, Frau Wagenknecht -, dass die alte
Regierung diese Probleme trotz einzelner Fortschritte
nicht wirklich angepackt hat. Wenn jetzt die neue Regierung
({18})
ernsthaft das klientelistische System und die Korruption
bekämpfen und eine umfassende Staatsreform auf den
Weg bringen will, dann verdient sie die Unterstützung
Deutschlands und Europas. Das ist doch gar keine Frage.
({19})
Aber leider hat die neue Regierung schon in den ersten zwei Monaten viel Vertrauen verspielt.
({20})
Ich finde die zum Teil aggressive Tonlage mehr als befremdlich.
({21})
Die persönlichen Angriffe auf Bundesfinanzminister
Schäuble sind absolut unangemessen, meine Damen und
Herren.
({22})
Der griechische Finanzminister Varoufakis hat in den
letzten Wochen so viele Vorschläge gemacht, dass ich jedenfalls nicht mehr weiß, wofür er steht.
({23})
Ich finde es gut, dass die Bundeskanzlerin jetzt Lösungen mit Herrn Tsipras sucht. Im Übrigen müssen wir
aufpassen, dass dies kein Konflikt zwischen Deutschland und Griechenland wird. Das müssen wir verhindern. Die Aufstellung ist doch nicht „Deutschland gegen
Griechenland“, sondern es geht um Griechenland und
Europa; so muss es doch richtig lauten.
({24})
Im Übrigen finde ich es deplatziert, die Verhandlungen über Hilfspakete mit der Forderung nach Reparationen zu vermischen.
({25})
Es war gut und richtig, dass Bundespräsident Gauck bei
seinem Staatsbesuch in Griechenland vor genau einem
Jahr ein klares Bekenntnis zu unserer historischen Verantwortung abgelegt und die Angehörigen der Opfer um
Verzeihung gebeten hat. Er hat aber auch die Forderungen nach Reparationszahlungen zurückgewiesen. Die
Bundesregierung geht davon aus, dass alle Reparationsfragen einschließlich Zwangsanleihen
({26})
durch die Zwei-plus-Vier-Gespräche rechtlich abschließend geregelt sind.
({27})
Ich teile diese rechtliche Beurteilung.
({28})
Aber klar ist auch: Die Verbrechen der nationalsozialistischen Besatzungsmacht haben kein Verfallsdatum, dafür
tragen wir Verantwortung,
({29})
unabhängig davon, ob Reparationen gezahlt worden sind
oder Ansprüche auf Reparationen bestehen, meine Damen und Herren.
({30})
Zu dieser Verantwortung gehört auch, dass wir uns
bemühen, die Spannungen zwischen Deutschland und
Griechenland abzubauen. Viele deutsche Jugendliche
wachsen mit einem völlig einseitigen Bild von Griechenland auf, einem Bild, das nur noch von der Schuldenkrise geprägt ist. Deshalb ist es eine sehr gute Initiative,
über die Gründung des Deutsch-Griechischen Jugendwerkes und die Stiftung Zukunft den Jugendaustausch zu
fördern und Versöhnungsprojekte voranzubringen.
Ich finde, wir sollten den deutsch-griechischen Dialog
auf allen Ebenen intensivieren. Da ist zum Beispiel von
Herrn Fuchtel gefordert worden, die Zusammenarbeit der
Kommunen auszubauen. Von den 5 500 Städtepartnerschaften, die es gibt, bestehen nur 29 zwischen deutschen und griechischen Städten. Ich finde, unsere Kommunen haben ein exzellentes Know-how im Bereich der
kommunalen Daseinsvorsorge. Hier muss ja nicht immer
privatisiert werden. Wir können doch auch zeigen, wie
Einrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge auf
kommunaler Ebene hocheffizient organisiert und betrieben werden können. Ich finde, wir sollten mehr Knowhow-Transfer in dieser Art organisieren.
Auch wenn die Verhandlungen mit Griechenland in
den nächsten Wochen hart werden, müssen wir sie immer so führen, dass die Freundschaft zwischen Deutschland und Griechenland daran nicht zerbricht, meine Damen und Herren.
({31})
Genau vor einem Jahr hat Russland die Halbinsel
Krim besetzt und sie annektiert. Wladimir Putin hat das
jetzt so begründet: Bei den Massenprotesten in der
Ukraine sei ein extremer Nationalismus erkennbar geworden; deshalb habe er die Menschen nicht alleinlassen
können. - Man kann über die Proteste auf dem Maidan
denken, wie man will; aber unter keinen Umständen
kann man damit Besetzung und Annexion fremden
Staatsgebietes rechtfertigen.
({32})
Die Äußerungen Putins zeigen, dass er sich meilenweit
von den Grundlagen der europäischen Friedensordnung,
wie sie in der KSZE-Schlussakte niedergelegt worden
ist, entfernt hat. Trotzdem war es richtig, dass die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister mit dem
französischen Präsidenten die Verhandlungen in Minsk
genutzt haben, um einen erneuten Waffenstillstand in der
Ostukraine zu vereinbaren. Auch wenn die Einhaltung
und Überwachung dieses Waffenstillstandes Schwierigkeiten bereiten, ist diese Vereinbarung doch der einzige
Hoffnungsschimmer in diesem Konflikt seit Monaten.
({33})
Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußenminister,
ich möchte Ihnen persönlich ganz herzlich dafür danken,
dass Sie das so unermüdlich auf den Weg gebracht haben.
({34})
Eine Rückkehr zur europäischen Friedensordnung ist
ein langer Weg und setzt als ersten Schritt voraus, dass
die Waffen schweigen, damit der Konflikt friedlich geregelt und ein politischer Verhandlungsprozess in Gang
gesetzt werden kann. Deshalb brauchen wir Deeskalation, und deshalb war es absolut richtig, dass sich die
Bundesregierung eindeutig dagegen ausgesprochen hat,
Waffen in die Ukraine zu liefern. Das würde den Konflikt nicht lösen, sondern weiter intensivieren.
({35})
Dieser Konflikt kann aber nicht mit militärischen Mitteln, sondern nur mit politischen Mitteln gelöst werden.
({36})
Solange das nicht der Fall ist, müssen die RusslandSanktionen natürlich bestehen bleiben. Alle Mitglieder
der Europäischen Union haben diesen Sanktionen zugestimmt. Das zeigt: Europa handelt vereint und lässt sich
nicht auseinanderdividieren. Eine klare Haltung in dieser
Frage schließt aber nicht aus, dass wir inmitten dieses
ungelösten Konfliktes auch immer wieder deutlich machen: Wir Deutschen wollen eine politisch stabile, wirtschaftlich vertiefte und freundschaftliche Beziehung zu
Russland. - Wir müssen diese Dinge aber klären, damit
wir wieder näher zusammenkommen können.
({37})
Angesichts der Ukraine-Krise und der vielen weiteren
Konflikte ist es gut, dass wir in Deutschland - das sehen
die allermeisten Bürger so - eine handlungsfähige Regierung und eine stabile Koalition in diesem Bundestag
haben.
({38})
Das ist nicht nur außenpolitisch, sondern auch für die
Entwicklung in diesem Land wichtig.
In den letzten Wochen ist viel über das Ende der Gemeinsamkeiten gesprochen worden - und das ausgerechnet, nachdem wir die Mietpreisbremse verabschiedet, die
Frauenquote auf den Weg gebracht und uns über die
Grundzüge eines 15-Milliarden-Euro-Investitionsprogrammes geeinigt haben. Das hat mich doch ein bisschen gewundert. Die Opposition schöpft Hoffnung und
fühlt sich im Aufwind. Aber, meine Damen und Herren,
ich muss Sie enttäuschen: Diese Koalition wird diesem
Land auch in Zukunft eine gute Regierung stellen.
({39})
Wenn es bei der Umsetzung des Mindestlohnes offene
Fragen gibt, dann werden wir darüber reden. Dass eine
Lohnänderung für 3,7 Millionen Menschen aufwendig
ist und Zeit braucht, wissen wir, und das wissen wir auch
zu würdigen. Ich möchte mich bei allen Arbeitgebern
bedanken, die den Mindestlohn in diesen Wochen umsetzen und die offenen Fragen mit dem Bundesarbeitsministerium klären. Wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn auf den Weg gebracht und müssen deshalb auch
sicherstellen, dass er nicht nur im Bundesgesetzblatt
steht, sondern auch tatsächlich an die Menschen gezahlt
wird.
({40})
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin fährt
heute nach Brüssel und nimmt zwei gute Botschaften
mit: In Deutschland wird wieder mehr importiert, und in
Deutschland wird wieder mehr investiert. Beides ist gut
für Europa.
({41})
Nicht nur der Mindestlohn, sondern auch die kräftigen
Tarifabschlüsse haben dafür gesorgt, dass die Deutschen
endlich wieder mehr Geld in der Tasche haben. Das
stärkt die Binnenkonjunktur und wird die Importe erhöhen.
Der Bundeshaushalt 2016 - das ist jetzt schon klar wird ein Investitionshaushalt. 15 Milliarden Euro werden in den nächsten Jahren zusätzlich für öffentliche Infrastruktur und kommunale Investitionen bereitgestellt.
Das ist auch ein wichtiger Beitrag, um den Unterschied
zwischen finanzstarken und finanzschwachen Kommunen und die unterschiedliche Wirtschaftskraft der einzelnen Kommunen auszugleichen.
Ich will an dieser Stelle auch sagen: Wir werden die
Kommunen bei der Flüchtlingsunterbringung nicht alleinlassen.
({42})
Es gibt noch 190 000 nicht abschließend bearbeitete
Asylanträge, Herr de Maizière. Unser gemeinsames Anliegen in dieser Koalition ist: Wir müssen - vielleicht
auch bei den Haushaltsberatungen - darüber reden, wie
wir das schneller in den Griff bekommen können. Wir
müssen diesen Stau abbauen.
Mit Blick auf den anstehenden EU-Gipfel muss aber
klar sein: Die Flüchtlingsproblematik muss nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Europa gelöst werden. Wir
brauchen endlich ein Flüchtlingskonzept der Europäischen Union und eine faire Verteilung der Flüchtlinge in
ganz Europa.
({43})
Meine Bitte an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist, dies in
Europa ganz oben auf die Agenda zu setzen.
Vielen Dank.
({44})
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Oppermann, dass Sie in Ihrer Rede den eigenen
Leuten Mut zusprechen, was die Arbeit in der Koalition
angeht, und von Hoffnung reden, von der man lesen
kann, dass Sie sie aufgegeben haben, ist gut. Das hat mit
der Debatte jedoch wenig zu tun. Aber eines will ich Ihnen schon sagen: Wenn Sie hier darüber reden, dass Sie
die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge in den
Kommunen übernehmen wollen, dann müssen Sie das
machen, statt dies seit Wochen und Monaten nur anzukündigen.
({0})
Meine Damen und Herren, vor drei Wochen haben
wir an dieser Stelle mit wirklich überwältigender Mehrheit einer Verlängerung der Griechenland-Hilfe um vier
Monate zugestimmt. Wir haben gemeinsam gesagt:
Griechenland braucht Zeit. Wir alle wissen: Vier Monate
sind nicht viel Zeit.
({1})
Ob man diese Zeit unbedingt mit ziemlich undiplomatischem Gebettel hier und dort verbringen muss, sei dahingestellt. Wahrscheinlich wäre mehr Demut an der einen oder anderen Stelle angebracht gewesen. Ehrlich
gesagt: Wenn die griechische Regierung gesagt hätte:
„Liebe Europäer, wir sind neu in der Regierung. Wir
wollen und müssen unser Land wieder aufbauen und den
Menschen Mut machen, und dafür brauchen wir etwas
mehr Zeit“: Wer hätte es ihnen verdenken wollen? Mehr
Verständnis hätte man wahrscheinlich nicht bekommen
können.
Aber unabhängig davon, ob der Ton nun die Musik
macht oder nicht: Es ist, glaube ich, nicht angebracht,
mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Es geht nicht einfach nur um Hilfen für Griechenland. Es geht darum,
dass wir als Europäerinnen und Europäer handeln, dass
wir das gemeinsam tun, dass wir gemeinsam stolze Europäerinnen und Europäer sind.
({2})
Deswegen ist es natürlich extrem wichtig, dass die Reformschritte umgesetzt werden; das ist selbstverständlich. Aber es ist eben genauso wichtig, dass in das Land
hinein mit Reformen agiert wird, die den Menschen dort
Hoffnung geben.
Stellen Sie sich doch einmal kurz vor, unsere Arbeitslosenquote läge bei über 25 Prozent, und stellen Sie sich
vor, wir hätten eine junge Generation, die sich selbst für
eine verlorene Generation hält: Wie würden wir agieren?
Wie würden wir handeln? Deswegen sage ich ganz klar
und deutlich: Es ist richtig, dass das griechische Parlament jetzt gesagt hat: Wir müssen den Ärmsten der Armen in unserem Land helfen, und zwar sofort.
({3})
Vor Ihrem Treffen in Brüssel muss man eines klar sagen: Es ist richtig, zu diskutieren - so haben Sie das gesagt -; das gilt auch für das Treffen am Montag mit
Herrn Tsipras. Es ist auch richtig, Auseinandersetzungen
zu führen. Aber dazu gehört natürlich auch ein kleines
bisschen Selbstkritik. Ja, es wurden Fehler gemacht,
nicht nur in Griechenland, sondern eben auch von der
Euro-Gruppe und von der Troika.
Der größte Fehler ist es, dass stur an einer einseitigen
Sparpolitik festgehalten wurde. Bei aller Sympathie für
Reformen und für mehr Einnahmen: Wir alle wissen,
dass man Steuerverwaltungen nicht über Nacht aufbaut.
Frau Merkel, ich habe heute sehr wohl und sehr gern gehört, dass Sie von „Kreativität“ und „Vertragstreue“ geredet haben. Das ging wohl eindeutig an Herrn Schäuble
und die CSU.
({4})
Auf der anderen Seite frage ich mich, woher die Haltung kommt, dass Sie sagen: Die Krise hat ihren Ausgangspunkt in Griechenland genommen. - Darüber muss
man historisch sicher noch einmal reden. Das klingt so
ein bisschen wie: Ihr habt doch angefangen. Jetzt verhaltet euch gefälligst ordentlich! - Ich finde, so etwas kann
man nicht sagen. Die Euro-Krise hat nicht in Griechenland begonnen. Sie hat mit der Finanzkrise begonnen;
sie hat zum Beispiel in Spanien begonnen. Aber jetzt den
Griechen einseitig die Schuld zuzuschieben und zu sagen, sie seien diejenigen, durch die alles so schlimm geworden sei, ist Quatsch. So sollte man in diesen Tagen
auch nicht verhandeln.
({5})
Ich will mich in der Frage des Grexit Herrn
Oppermann ausdrücklich anschließen. Er würde teurer,
und er würde für Europa politisch, außenpolitisch und
ökonomisch eine Katastrophe bedeuten. Deswegen sage
ich allen, vor allen Dingen Ihnen in der Union: Denken
Sie darüber nach, wie es mit den Hilfen für Griechenland
weitergeht. Tun Sie nicht so, als könne man Griechenland
aus Europa wie einen Blinddarm aus einem Körper herausoperieren und danach einfach weitermachen. - Wir
brauchen weitere Hilfe und weitere Unterstützung. Dabei
geht es um das gemeinsame Europa.
({6})
Selbstverständlich ist die Euro-Krise kein geeigneter
Zeitpunkt, um über Kriegsentschädigungen für Naziverbrechen zu reden.
({7})
Allerdings ist das Thema zumindest bei den Zwangsanleihen weder moralisch noch rechtlich so eindeutig geklärt, wie uns manche in der Bundesregierung glauben
lassen wollen.
({8})
Ich sage Ihnen offen: Ich finde, wir sind seit Jahrzehnten in Deutschland nicht mehr so barsch und mit so
wenig Fingerspitzengefühl gegenüber den Opfern des
deutschen Terrorregimes im Ausland während der Nazizeit aufgetreten wie die Bundesregierung in den vergangenen Tagen gegenüber Griechenland. Gesprächsbereitschaft muss sich von selbst verstehen. Und nein, es gibt
keinen Schlussstrich bei der Aufarbeitung der furchtbaren Gräueltaten des Naziregimes, meine Damen und
Herren.
({9})
Frau Merkel, meine Damen und Herren, vorgestern
hat der Zyklon „Pam“ den Inselstaat Vanuatu mit ungeheurer Wucht heimgesucht. Er ist ein weiteres Opfer der
Klimakrise. Frau Merkel, wir haben Ihnen genau zugehört. Zu Recht haben Sie die europäische Debatte mit
den Klimazielen verbunden. Offen geblieben ist allerdings, was Sie wirklich vorhaben. Eine Energieunion als
Integrationsschritt für Europa könnte tatsächlich ein
Meilenstein sein, und wenn Sie Ihre Worte ernst meinten, dann könnten Sie aus der Energieunion eine echte
Klimaunion machen. Denn die Zukunft einer sicheren
und sauberen Energieversorgung in Europa liegt in den
erneuerbaren Energien.
({10})
Aber was jetzt diskutiert wird, ist leider vor allem
eine Fortsetzung der unambitionierten Klimapolitik. Die
entscheidenden heimischen Energieträger sind nicht
Kohle, Gas und Öl, sondern die Erneuerbaren, und es
geht natürlich auch um Energieeffizienz. Die Energieunion ist eine Chance, uns von russischem Gas unabhängig zu machen, aber nicht, aber bestimmt nicht dadurch,
dass man auf Energielieferanten aus autokratischen Staaten wie Aserbaidschan, Katar oder Saudi-Arabien setzt.
Klimaunion bedeutet auch: Setzen Sie endlich und
mit Nachdruck auf die Erreichung der Klimaziele! Das
ist selbstverständlich wichtig, aber das werden Sie nur
dann erreichen, wenn Sie auf die erneuerbaren Energien
setzen, und zwar mit aller Kraft und Kreativität, die uns
in Deutschland zur Verfügung stehen.
({11})
In diesem Zusammenhang ist eine Nebenbemerkung
notwendig. Ich frage mich jedenfalls, warum Sie, wenn
es um den Ankauf von Gas geht, die Osteuropäer bei der
Zusammenarbeit im Regen stehen lassen. Wir können
doch nicht einfach sagen: Unsere Verträge mit Russland
sind so prima und wichtig, dass uns alles egal ist, was
wir sonst zu einem gemeinsamen Europa sagen.
({12})
Deswegen sage ich klar und deutlich: Vor den Klimagipfeln ist es notwendig und dringend, dass Sie dafür sorgen, dass die Klimaziele tatsächlich erreicht werden.
Abschließend will ich etwas zur Ukraine sagen. Dass
sich die Annexion der Krim zum ersten Mal jährt, ist für
uns ein Anlass, noch einmal klarzumachen: Diese Annexion ist ein Bruch des Völkerrechts.
({13})
Es ist gut, dass in Minsk verhandelt worden ist, und es
ist gut, dass die OSZE besser ausgestattet wird.
Für uns gibt es ganz aktuell etwas zu tun, wovon wir
nicht absehen können: Die 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge brauchen dringend mehr Unterstützung durch humanitäre Hilfe, damit nicht jemand wie Putin recht behält,
der es gerne sehen würde, dass die Destabilisierung der
Ukraine weitergeht. Deswegen gehört die humanitäre
Hilfe genauso dazu wie die Verhandlungen in Minsk und
das Überprüfen der Einhaltung der Vereinbarungen dort.
Meine Damen und Herren, legen Sie in der Bundesregierung den Hebel um! Die Menschen dort brauchen
dringend Hilfe, und zwar jetzt.
Vielen Dank.
({14})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Bei den Themen, um die es beim Europäischen Rat in
Brüssel gehen soll, fällt einem auf, dass das Thema Griechenland, das uns sehr intensiv beschäftigt, eher inoffiziell eine Rolle spielt, als dass es offiziell auf der Tagesordnung steht, dass aber einige Fragen, die ebenfalls für
uns von großer Bedeutung sind, ganz vorne stehen. Zum
einen hat die Bundeskanzlerin über Initiativen für
Wachstum und Beschäftigung und in Verbindung damit
über Strukturreformen gesprochen. Das zweite Thema
ist der Klimagipfel. Zu all diesen Themen möchte ich einige kurze Anmerkungen machen.
Ja, es ist richtig: Über den Diskussionen, wie wir
Griechenland in eine bessere Zukunft führen können,
dürfen wir nicht vergessen, dass es in Europa noch eine
Reihe von weiteren Ländern gibt, die dringend Initiativen für Wachstum und Beschäftigung brauchen. Deshalb
ist es auch richtig, dass der Fonds, der jetzt in Europa
aufgelegt wird, mit Inhalten versehen wird und das Europäische Parlament sehr schnell zu entsprechenden Beschlüssen kommt.
Gestern war der portugiesische Botschafter bei mir
und hat darauf hingewiesen, dass Portugal dringend Unterstützung bei Investitionen in eine moderne Infrastruktur und bei Beschäftigung brauche. Er hat weiter darauf
verwiesen, dass das Ausbildungsmodell in Deutschland,
die duale Ausbildung, genau der richtige Weg sei und
man sich in Europa ein wenig mehr darauf besinnen
müsse, dass der Mensch nicht erst beim Akademiker anfange, sondern dass es mindestens so viele qualifizierte
Facharbeiter für die Betriebe geben sollte, wie wir Akademiker an Universitäten ausbilden.
({0})
Dazu müsste man, wie er angeregt hat, bei allen europäischen Debatten nicht nur, wie von der OECD formuliert
worden ist, eine Akademikerquote festlegen, sondern
auch sagen, dass mehr in die berufliche Ausbildung investiert werden müsse. Dies machen wir in Deutschland.
Da bin ich Frau Wanka außerordentlich dankbar, dass sie
genau diesen Zusammenhang immer wieder herstellt.
Frau Nahles, wir reden immer wieder darüber, dass
wir Zuwanderung von Fachkräften brauchen. Ich will
hierzu ein Beispiel aus meiner Region nennen: Die Wirtschaftsverbände haben festgestellt, dass bis 2020 15 000
zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht werden. Auf die
Frage, welche das sein sollen, antworteten diese: Wir
brauchen maximal 3 000 Ingenieure, aber 12 000 Mechatroniker und andere Facharbeiter. - Diese bekommen
wir auf der ganzen Welt nicht, wir müssen sie schon in
Europa selbst ausbilden.
({1})
Deshalb ist das Thema berufliche Bildung von solch großer Bedeutung. Ich würde, Frau Bundeskanzlerin, darum
bitten, wenn man von Investitionen und Innovationsstrukturänderungen spricht, nicht nur die universitäre
Ausbildung zu sehen, sondern auch diesen Punkt in Europa voranzubringen.
Das zweite Thema, wenn wir über Wachstum und
Innovation sprechen, bleibt natürlich - auch darauf hat
der portugiesische Botschafter gestern hingewiesen -,
dass wir mehr in Zukunftsbereiche investieren müssen.
Da sind wir in Europa, was die Start-ups, was den modernen Bereich der Digitalisierung angeht, nicht wirklich die wahren Helden. Deswegen würde ich mir wünschen, dass gerade für diesen Bereich mehr getan wird
und mehr in ihn investiert wird. Es darf uns in Europa
nicht ruhen lassen, dass alles, was mit „digital“ in Zusammenhang steht, bei uns kaum stattfindet. Es darf auf
Dauer nicht sein, dass es nur Google, nur Yahoo und andere gibt, wir in Europa aber keine entsprechenden Firmen und Kapazitäten haben.
({2})
Das darf uns nicht ruhen lassen, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Das ist nicht nur eine Frage der Infrastruktur, sondern auch eine Frage, wie wir es schaffen, gerade junge Menschen zu motivieren, sich in diesen Bereichen selbstständig zu machen und in diese Bereiche eine Zukunftsinvestition einzubringen.
Wenn wir darüber sprechen, dass wir natürlich Investitionen brauchen - Thomas Oppermann hat darauf hingewiesen -, können wir in Europa melden: Wir tun
genau dies in unserem Land. Wir investieren in Infrastruktur. - Ein Programm im Umfang von rund 15 Milliarden Euro ist auf den Weg gebracht worden, durch das
in die Infrastruktur investiert und auch unseren Kommunen Geld für die Infrastruktur gegeben wird. Das unterstützen wir.
Aber natürlich muss auch bei uns gelten, was in
Europa gilt: Allein bei den 15 Milliarden Euro, die wir
zusätzlich für die Infrastruktur und für die Kommunen
geben, kann es nicht bleiben. Es muss auch mit den Ländern darüber gesprochen werden, dass sie ihren Beitrag
leisten, die Kommunen finanziell entsprechend auszustatten.
({3})
Es liegt nicht nur daran, dass die Kommunen in Baden-Württemberg im Süden Deutschlands liegen, sondern es liegt natürlich auch daran, dass man mitmacht
bei der Erneuerung von Strukturen, bei neuen Aufgaben,
wenn es darum geht, Dinge, die eben nicht mehr gehen,
zu ändern und neue aufzubauen. Da, muss ich sagen,
müssen die Länder einen Beitrag leisten. Es reicht nicht
aus, dass wir jetzt sagen: Okay, vor allem in NordrheinWestfalen unterstützen wir Kommunen. - Aber es muss
etwas getan werden, damit dies nicht zu einer Daueraufgabe für den Bund wird. Auch darum, würde ich meinen,
geht es bei diesen Themen.
({4})
Nun sind wir beim Thema Europa. Selbstverständlich
haben wir immer formuliert - da sind wir uns in der Koalition einig; wie die letzte Abstimmung dazu hier im
Deutschen Bundestag gezeigt hat, besteht diese Einigkeit auch in weiten Bereichen dieses Parlaments -: Wir
wollen Europa und die Euro-Zone zusammenhalten. Das
ist gerade auch im Hinblick auf das, was sich in der
Weltpolitik ereignet, von besonderer Bedeutung. Niemand von uns hat ein Interesse daran oder kann gar
Freude darüber empfinden - Putin würde sich freuen -,
wenn es in Europa kriselt und wir nicht mehr zusammenhalten. Die Botschaft muss ja eine andere sein: Wir treten mit einem starken und einigen Europa gegen das an,
wovon dieser Mann glaubt, er könne es sich in Europa
leisten.
({5})
Das ist doch die Position, die wir formulieren. Dazu
müssen alle in Europa ihren Beitrag leisten, und sie müssen es auch politisch wollen und entsprechend formulieren.
({6})
Wir haben klipp und klar erklärt: Es bleibt dabei, dass
wir solidarisch zusammenstehen. Aber es ist auch klar,
dass das, was miteinander vereinbart wurde, auch eingehalten werden muss.
({7})
Das Wesentlichste in der Politik ist nicht nur das Formulieren von gemeinsamen Zielen, sondern dass man sich
aufeinander verlassen können muss. Das wissen gerade
wir in der Koalition. Da kann man manche Diskussion
austragen; aber man muss wissen, dass man sich aufeinander verlassen können muss. Wenn das nicht mehr gewährleistet ist, gehen die Dinge schief.
({8})
Genau an diesem Punkt, finde ich, haben wir allen
Grund, Griechenland zu sagen: Das müsst ihr auch einhalten und verstehen. - Wenn ich heute lese, dass die
Griechen die Institutionen, wie sie es nennen - die
Troika -, wieder rausgeworfen haben und mit ihnen
nicht zusammenarbeiten wollen, dann kann ich nur sagen: Es gibt zu dieser Zusammenarbeit nun wirklich
keine Alternative. Entweder wird es gemacht, oder wir
können die Voraussetzungen nicht schaffen.
({9})
Ich finde, da darf es auch keine Kompromisse geben.
({10})
- Frau Göring-Eckardt, zu den Grünen hat Thomas
Oppermann ja alles gesagt. Da fällt einem wirklich
nichts mehr ein.
({11})
Nicht derjenige gefährdet die Zukunft Europas, der
Griechenland jetzt nicht einfach nachgibt; vielmehr gefährdet man Europa, wenn man einfach nachgibt, wenn
nichts mehr gilt, was man miteinander vereinbart hat.
({12})
Ich will noch einmal den portugiesischen Botschafter
zitieren - er hat mir ausdrücklich gesagt: Herr Kauder,
das können Sie öffentlich verwenden -: Wenn man Griechenland jetzt auf eine Art und Weise nachgibt, wie es
nicht in Ordnung ist, dann kann ich in meinem Land
nicht mehr erklären, warum die Menschen überhaupt
Opfer auf sich genommen haben und auch in Zukunft
noch Opfer auf sich nehmen sollten.
({13})
Deswegen gilt: Gleiche Positionen für alle in Europa!
({14})
Ich kann nur hoffen, dass dies auch die Position ist, die
man in Europa vertritt.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen
natürlich auch, dass gerade junge Menschen Perspektiven haben. Deswegen habe ich von der Bildung gesprochen. Investitionen in Bildung sind auch in Griechenland
von zentraler Bedeutung.
Wir haben als weiteres Thema das Klima. Wir haben
uns in Deutschland auf Klimaziele verpflichtet. Wir treiben den Ausbau der erneuerbaren Energien voran. Da
braucht man uns überhaupt nicht zu ermahnen. Ich kann
verstehen, dass den Grünen das ein bisschen schwerfällt,
nachdem ihnen ein Hauptthema genommen worden ist
und jetzt das Thema Landwirtschaft das Thema Energie
ersetzen soll. Darüber können wir anderweitig einmal reden.
Aber es ist natürlich auch klar, Frau Göring-Eckardt:
Man kann nicht sagen: „Es muss mehr für das Klima getan werden“, und dann, wenn wir versuchen, ein Programm zur energetischen Gebäudesanierung auf den
Weg zu bringen - damit kann am meisten für das Klima
getan werden -, die grünen Beteiligten an Landesregierungen das Programm im Bundesrat kippen - wegen ein
bisschen Steuerausfällen. Das ist keine moralische Position, die man vertreten kann.
({16})
- Das stimmt ja gar nicht.
({17})
Deswegen rate ich dringend Folgendes, wenn wir das
Thema noch einmal ansprechen. Man kann nicht einfach
rufen: Wolfgang Schäuble hat enorme Steuereinnahmen. Das haben die Länder auch. Moralisch richtig wäre, zu
sagen: Wir machen dieses Programm zur energetischen
Gebäudesanierung. Wir alle haben mehr Einnahmen und
können dann auch ein bisschen mehr ausgeben.
({18})
Ich würde Sie ermutigen, genau das zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
({19})
Herr Kollege Kauder, darf der Kollege Krischer eine
Zwischenfrage stellen?
Nein.
({0})
- Sie sind doch nachher selber dran. - Ich möchte Sie
darauf hinweisen, dass Reden und Handeln in diesen
Fragen zusammenpassen müssen. Wir sind bereit, diesen
Beitrag für mehr Klimaschutz zu leisten. Vielleicht gelingt es ja im Rahmen der Bund-Länder-Verhandlungen,
bei diesem Thema zu einer Lösung zu kommen. Im Übrigen kann ich nur sagen: Das ständige Hin- und Herschieben löst das Problem wirklich nicht. Ich bin zuversichtlich, dass die Vernunft in diesem Punkt obsiegen
kann.
({1})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bundeskanzlerin hat in Brüssel wichtige Themen zu besprechen, zu
beraten. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung
in diesen Fragen zu einer einheitlichen Position gekommen ist. Wir in der Koalition tragen dies mit.
Ein Letztes. Die Große Koalition hat diesem Land in
den letzten Monaten, seit ihrem Bestehen, eine gute Regierung gestellt. Da bin ich ganz der Meinung von
Thomas Oppermann.
({2})
Wir haben bei den großen Herausforderungen in Europa
und in der Welt - Ukraine und Russland - immer gemeinsam eine Lösung auf den Weg bringen können.
Natürlich gibt es in einer Koalition immer wieder das
eine oder andere Knirschen. Ich erinnere mich sehr gut
an Rot-Grün und daran, was dort alles los war.
({3})
- Ja, Frau Roth, natürlich. Die Vergangenheit wird verklärt, aber Sie selber wissen, dass es so war,
({4})
dass Sie unter mancher Aussage des Basta-Kanzlers besonders gelitten haben.
({5})
So knirscht es auch hin und wieder einmal bei uns. Aber
ich will sagen: Wir arbeiten die Koalitionsvereinbarung
konsequent ab. Wir haben gerade eine gesetzliche
Grundlage für das Deutsche Institut für Menschenrechte
auf den Weg gebracht. Das war ein Punkt, von dem viele
geglaubt haben, dass es da gar nicht zusammengeht. Wir
haben noch ein paar wichtige Themen vor uns. Diese
Koalition dient dem Land in vorbildlicher Weise. Das
mag der Opposition nicht passen, aber die Menschen im
Land sehen es anders. Dort ist die Große Koalition zu
Recht beliebt.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Krischer
das Wort.
Herr Kollege Kauder, Sie haben hier gerade behauptet, der Steuerbonus für die energetische Gebäudesanierung sei an Grünen in Landesregierungen gescheitert.
Herr Kauder, ich kann Ihnen da nur sagen: Diese Behauptung ist selbst unter Ihrem Niveau.
({0})
Sie wissen ganz genau, an wem der Steuerbonus gescheitert ist, nämlich an der bayerischen Landesregierung und an einer Partei namens CSU.
({1})
Dazu muss ich nicht einmal grüne Quellen zitieren, sondern nur Ihren Koalitionspartner, Herrn Oppermann, der
das ja schriftlich und in aller Klarheit öffentlich mitgeteilt hat.
({2})
Alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, wissen
das ganz genau. Ich finde es schon ein starkes Stück,
dass Sie hier einen solchen Unsinn verbreiten.
({3})
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen:
Das Land Bayern, die CSU, hat einen sehr schönen Bundesratsantrag dazu gestellt, das Thema energetische Gebäudesanierung wieder aufzugreifen. Diesen Antrag des
Landes Bayern und der CSU würde ich unterstützen. Er
besagt nämlich, dass der Steuerbonus aus dem Bundeshaushalt finanziert werden soll. Ja, bitte schön, Herr
Kauder und Frau Hasselfeldt: Warum tun Sie hier nicht
das, was Herr Seehofer im Bundesrat fordert?
({4})
Machen Sie das! Kümmern Sie sich endlich darum, dass
dieser Steuerbonus kommt! Das liegt in Ihrer Verantwortung. Schieben Sie nicht die Verantwortung auf andere,
die damit gar nichts zu tun haben! Es ist Ihre Verantwortung als Bundesregierung und als eine der diese Koalition tragenden Parteien, dieses Problem zu lösen, und
nicht, hier ein Schwarzer-Peter-Spiel zu treiben.
Danke schön.
({5})
Herr Kollege Krischer, laut zu sein und durch eine
ideologische Brille Dinge anzuschauen, ist die eine Sache.
({0})
- Ich habe Ihnen in aller Ruhe zugehört. Da könnte ich
auch disqualifizierend sagen: Alles Unsinn!
Ich will jetzt zu den Fakten kommen. Wir haben in
der letzten Koalition bereits einen Gesetzentwurf zur
energetischen Gebäudesanierung im Bundestag eingebracht. Der ist von den rot-grün regierten Bundesländern
abgelehnt worden
({1})
- genau mit dem Argument: wegen der Steuerausfälle -,
aber zu einem Zeitpunkt, als auch die Länder erhebliche
Steuermehreinnahmen verbucht haben.
({2})
Wir haben jetzt wieder über das Thema gesprochen.
Weil die Länder nicht bereit sind, ihren Anteil zu übernehmen, kam der Vorschlag, das über einen Umweg,
nämlich über die Kürzung des sogenannten Handwerkerbonus, zu finanzieren.
({3})
Da kann ich nur sagen: Den Handwerkerbonus zu kürzen, ist genau der falsche Weg, weil er für eine ganze
Reihe von Bereichen der energetischen Gebäudesanierung von Bedeutung ist.
({4})
Deswegen haben wir gesagt: Nein, der Handwerkerbonus wird nicht gekürzt, und wir nehmen einen neuen
Anlauf. - Jetzt kann ich nur sagen, wenn ich nach Nordrhein-Westfalen schaue: Die Argumentation von Frau
Kraft in Bezug auf den Energiemix ist schon eigenartig.
({5})
- Dort sind Sie doch an der Regierung beteiligt, oder irre
ich mich da? Sind wir beteiligt, oder sind Sie es? Bei den
Grünen tragen Sie nur Verantwortung, wo Sie auch welche haben, Herr Krischer, damit das einmal klar ist.
({6})
Es geht von NRW gar nicht - darauf werde ich in den
kommenden Diskussionen immer wieder Wert legen -,
zu sagen: Wir brauchen bei der Energie auch einen Energiemix, in dem die Kohle dabei ist, aber einen Beitrag
zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes wollen wir in NRW
nicht mitfinanzieren. - Das ist moralisch nicht in Ordnung.
({7})
Dirk Becker ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau Bundeskanzlerin hat in Ihrer Regierungserklärung auf die
Herausforderungen der Energieunion hingewiesen. Die
Realität hat den Deutschen Bundestag wieder. Anstatt
das zu beschreiben und zu gestalten, was wir europäisch
zwingend als nächsten Schritt der Energiewende brauchen, sind wir in Deutschland wieder im Klein-Klein der
Energiepolitik angekommen.
Ich will dazu nur so viel sagen: Alle im Bundestag
vertretenen Parteien dürfen es grundsätzlich keinem
durchgehen lassen, dass man sich aus lokalpolitischen Interessen von der Gemeinschaftsaufgabe verabschiedet,
egal ob in Bayern, in Ostdeutschland oder in Westdeutschland. Wir müssen sagen: Wenn wir die Energiewende
wollen, wenn wir einen europäischen Energiemarkt wollen, dann müssen wir in Deutschland einheitlich stehen.
Das erwarte ich von allen Verantwortungsträgern.
({0})
Meine Damen und Herren, die europäische Integrationsgeschichte ist eng verflochten mit einer verstärkten
zwischenstaatlichen Kooperation der Energieproduktion,
angefangen von der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl über die Europäische Atomgemeinschaft bis hin zu einer Gemeinschaft, die sich heute der
Nachhaltigkeit, dem Klimawandel, aber auch der Versorgungssicherheit in ganz Europa widmet. Von daher begrüßen wir den Vorstoß der Kommission und auch der
lettischen Präsidentschaft, die Energiepolitik der Mitgliedstaaten weiter enger zu verzahnen. Wir begrüßen
diesen Vorstoß, um Versorgungssicherheit und Klimapolitik in Einklang zu bringen. Gerade wir Deutschen
haben ein enormes Interesse daran, dass wir auch vor
dem Hintergrund unserer industriepolitischen Produktion gerade das Thema Versorgungssicherheit ernst nehmen und alles tun, um weitere Beiträge zur Versorgungssicherheit zu leisten.
Ich will einmal ein paar Zahlen nennen: Mehr als die
Hälfte des europäischen Energieaufkommens wird importiert. Mehr als 400 Milliarden Euro fließen dafür Jahr
für Jahr aus Europa ab. Daher muss es unser Ziel sein,
den Binnenmarkt zu stärken und den Weg der Energieunion zu nutzen, um Europa insgesamt unabhängiger
und robuster zu machen.
Frau Göring-Eckardt hat zu Recht kritisiert, dass in
dem vorliegenden Entwurf das Thema der Gasversorgung, der Gassicherheit einen sehr großen Raum einnimmt. Frau Göring-Eckardt, das ist natürlich auch der
aktuellen Diskussion über Russland, über die UkraineKrise geschuldet. Ja, wir müssen auch kurzfristig sehen,
wie wir beim Gasmarkt die Versorgungssicherheit sicherstellen. Aber ich teile ausdrücklich Ihren Hinweis,
dass wir mittelfristig nicht nur sehen müssen, wie wir die
Bezugsquellen verändern, sondern wie wir durch höhere
Energieeffizienz und durch erneuerbare Alternativen
insgesamt weniger abhängig von Gasimporten werden.
Auch dies ist ein Gebot einer zukunftsgerichteten Industriepolitik; denn, meine Damen und Herren, wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass Gas in
Deutschland nicht nur verbrannt wird, um Strom und
Wärme zu produzieren, sondern Gas ist auch ein wichtiger Rohstoff für die heimische Industrie. So müssen wir
Gas auch behandeln, meine Damen und Herren.
({1})
Insgesamt erwarte ich von der Kommission in den
weiteren Beratungen, den gerade genannten Aspekten
der Energieeffizienz und den erneuerbaren Alternativen
Rechnung zu tragen.
Grundsätzlich sind die verbesserte Kooperation und
Kommunikation auf europäischer Ebene zu begrüßen.
Insbesondere kann durch eine Vollendung des Binnenmarktes, durch den Abbau von Überkapazitäten europaweit, durch einen stärkeren Netzausbau - nicht nur in
Deutschland, aber insbesondere auch in Deutschland und durch den Ausbau der Interkonnektoren, der Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung und der Vertiefung der Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten
der europäische Energiemarkt vorangetrieben werden,
gerade auch mit Blick auf unsere Nachbarn.
Ich will auf einen wichtigen Punkt eingehen, der gerade auch im Energieministerrat am 5. März eine Rolle
gespielt hat. Zentrales Instrument, um Klimaschutz und
Energieverbrauch zusammenzubringen, ist der Emissionshandel. Wir alle wissen, dass wir den europaweiten
Emissionshandel geschaffen haben, um ein wirtschaftliches, ein marktbasiertes Steuerungselement zu haben.
Dieses Element krankt. Die Preise für die Zertifikate
sind deutlich unter dem, was wir einst angenommen haben. Infolgedessen versagen viele klimapolitische Instrumente. Aber es ist keine Lösung, dieses Instrument
nun aufzugeben, sondern es muss Lösung sein, an einem
marktbasierten, europaweiten Instrument festzuhalten.
Ich danke ausdrücklich sowohl dem Wirtschaftsminister
als auch der Umweltministerin, Frau Hendricks, die sich
- am 5. März im Energieministerrat bzw. einen Tag später im Umweltministerrat - engagiert dafür eingesetzt
haben, dass die Marktstabilitätsreserve 2017 kommt.
Das ist notwendig. Ich denke, beide sollten weiterhin die
Unterstützung aller Fraktionen im Deutschen Bundestag
für diese Politik erhalten.
({2})
Zum Abschluss mit Blick auf eine immer stärker von
Europa dominierte Energiepolitik folgender Hinweis: Wir
erleben gegenwärtig, dass wir uns eben nicht nur mit der
Frage eines europäischen Marktes, einer europäischen
Energiepolitik, sondern zunehmend auch mit Wettbewerbsaspekten auseinandersetzen müssen. Vieles von
dem, was wir hier im Parlament als Demokraten beschließen, steht immer unter dem Vorbehalt einer Notifizierung,
quasi einer Genehmigung. Ich erwarte als Parlamentarier,
dass die EU-Kommission künftig uns gegenüber offen
kommuniziert, wenn ihr Beschlüsse, die wir hier offen
und demokratisch treffen, Bauchschmerzen bereiten
oder Probleme machen, damit es nicht bei all dem, was
wir hier tun, erst einmal heißt: Na, da müssen wir erst
mal gucken, ob das genehmigungsfähig ist. - Wir müssen den Menschen erklären, was wir energiepolitisch
wollen. Ich erwarte, dass man uns künftig auf europäischer Ebene offen erklärt, wie man mit Beschlüssen beihilferechtlich umzugehen gedenkt. Nur so hat es auch in
Zukunft eine breite Akzeptanz, die Energiepolitik europaweit unter den Aspekten der Versorgungssicherheit,
des Klimaschutzes und der Bezahlbarkeit fortzuentwickeln.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Manuel Sarrazin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Herr Kauder hat gesagt - das gefällt mir sehr gut -: „Wir wollen Europa …
zusammenhalten.“ Er hat auch auf die Herausforderungen in unserer Nachbarschaft hingewiesen. Man kann
das Argument, wie wichtig es ist, den Zusammenhalt in
Europa gerade in diesen Zeiten nicht aufs Spiel zu setzen, gar nicht stark genug unterstreichen. Jedoch kam
dann nicht mehr viel außer „aber“.
Ich möchte etwas zitieren, was ich hier oft zitiere. Am
9. Mai 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, hat der berühmte Außenminister Frankreichs
Robert Schuman die berühmte Schuman-Erklärung abgegeben, die die Hand für Zusammenhalt gereicht hat.
Man muss sich vorstellen, vor welchem Hintergrund
dies fünf Jahre nach dem Ende des Krieges geschah. Er
hat dort den Satz gesagt:
Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe
der Bedrohung entsprechen.
({0})
Jetzt möchte ich Sie, Herr Kauder, einfach fragen, ob
Sie glauben, dass unsere Debatte hier diesen „schöpferischen Anstrengungen“ entspricht. Das glaube ich nicht.
Ich glaube, dass wir den Zusammenhalt in Europa in dieser Situation wirklich bewahren müssen, indem wir nicht
nur darüber reden, dass der Zusammenhalt da ist, sondern indem wir alte europäische Regeln wieder hervorheben.
({1})
Dazu gehört eine, Herr Kauder - das geht auch an die
Linkspartei und an Frau Wagenknecht -: Der Kollege
Lenin hat einmal als wichtigstes Argument, warum der
Sozialismus siegen wird ({2})
- der Genosse Lenin, Entschuldigung, ich war nie Genosse, muss ich zugeben -, gesagt,
({3})
das Rad der Geschichte ist nicht aufzuhalten. Jetzt
möchte ich nicht sagen, dass Ihre Rede zu wenige schöpferische Anstrengungen beinhaltete. Ihre Mär von der
Verschwörung der USA war schon sehr schöpferisch.
Das war vielleicht auch ein bisschen angestrengt. Was
ich aber der Regierung sagen möchte, ist: Wenn diese
Regierung nicht mehr den Eindruck erweckt, in Fragen
der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union
entschlossen voranschreiten zu wollen und daran zu
glauben, Integration voranzutreiben, Probleme zu lösen,
Verträge kreativ auszulegen und Verträge vielleicht auch
einmal wieder zu ändern, um neue Regeln zu schaffen,
wer soll dann noch daran glauben, dass das Rad der Geschichte wirklich der Zusammenhalt Europas ist? Mit
dieser verzagten Art und Weise, zu agieren, sorgen Sie
doch letztlich für die Fragmentierung der Grenzen, die
uns von Herrn Putin und von anderen droht.
({4})
Dazu gehört auch, dass Sie am Montag, wenn Sie mit
Herrn Tsipras eine Diskussion führen, sagen: „Griechenland muss sich an die Regeln halten, aber innerhalb des
Prinzips der Regeln sind wir auch bereit, das zu tun, was
getan werden muss“, anstatt immer nur über das Aber zu
reden.
({5})
Frau Merkel, Sie haben dann einen Satz zum Thema
Investition gesagt. Es wäre ein so wichtiges Signal für
die Menschen in Griechenland und anderswo, dass
Deutschland es als wichtige Aufgabe sieht, für mehr Investitionen in Europa zu sorgen. Sie haben die Initiative
von Herrn Juncker nur in einem Satz kurz genannt. Das
ist nicht das, was Zusammenhalt schafft. Unterstützen
Sie den Juncker-Plan mehr! Sorgen Sie für eine zweite
Säule, für zusätzliche öffentliche Investitionen, beispielsweise über den EU-Haushalt! Machen Sie das!
({6})
Ihre Rolle bestand in der Vergangenheit darin, zu bremsen und zu sagen, dass Sie nicht einzahlen möchten und
eine Befristung des Fonds wollen. Das ist nicht das, was
Zusammenhalt schafft. Das ist das kleine Aber, das am
Ende für Fragmentierung sorgt.
({7})
Zum Abschluss möchte ich zur Energieunion auf Folgendes hinweisen: Wenn wir Paris ernst nehmen und die
Klimaziele aufrechterhalten wollen, dann reicht es nicht,
die alten Ansagen, die nicht ambitioniert genug sind,
einfach zu wiederholen. Sie müssen deutlich machen:
Europa stellt auf CO2-arme Wirtschaft um. - Sie müssen
deutlich sagen: Die Atominitiative von Frankreich, Rumänien, Großbritannien und anderen weisen wir zurück. Da kann Deutschland nicht schweigen. Das müssten Sie
heute tun.
Danke sehr.
({8})
Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über die aktuellen Herausforderungen in
Europa reden, dann ist vielleicht auch ein Blick darauf
angebracht, was alles geleistet und erreicht wurde. Zur
Wahrheit gehört, dass erstmals seit der Wirtschafts- und
Finanzkrise in jedem europäischen Land wieder Wachstum zu verzeichnen ist. Zur Wahrheit gehört auch, dass
in den Problemländern, in den Ländern, die unter dem
Rettungsschirm standen, wie Spanien, Portugal und Irland, sich die Situation deutlich verbessert hat, dass
diese drei genannten Länder sich mittlerweile auch am
Kapitalmarkt refinanzieren können. Zur Wahrheit gehört
auch, dass gerade in Spanien und in Irland die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist.
All das bestätigt, dass der Kurs, den wir in den letzten
Jahren auch hier im Bundestag immer wieder verfolgt
haben, der Kurs, der in Europa gegolten hat, nämlich Solidarität und Solidität, der richtige war und dass wir diesen Kurs fortsetzen müssen.
({0})
Wir haben immer unter Beweis gestellt: Europäische
Solidarität gilt. Wir helfen den Staaten, die aus unterschiedlichen Gründen in Schwierigkeiten geraten sind.
Aber Solidarität steht nicht alleine - es würde in der Sache auch nichts bringen -, sondern sie ist immer notwendig in Verbindung mit den Eigenanstrengungen der einzelnen Länder. Nur so geht die Rechnung auf.
({1})
Weil unser Kurs erfolgreich war - wir alle wissen,
dass nicht alle Probleme gelöst sind -, müssen wir auf
diesem Weg fortfahren. Es gilt der Dreiklang, der uns
auch bisher geleitet hat. Erstens: solide öffentliche Haushalte. Sie sind der Schlüssel für das Vertrauen der Finanzmärkte. Zweitens: Strukturreformen dort, wo es
nötig ist, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt herzustellen und immer wieder nachzujustieren. Drittens: Investitionstätigkeit, um Wachstum und
Beschäftigung zu erreichen, neues Innovationspotenzial
zu erschließen, und zwar sowohl im privaten als auch im
öffentlichen Bereich. Dieser Dreiklang gehört zusammen. Nun kann zwar ein europäischer Rahmen gesetzt
werden, aber die Hauptverantwortung liegt - meines Erachtens aus guten Gründen - bei den Nationalstaaten.
({2})
Sie haben die Verantwortung für die Finanzpolitik, für
die Wirtschaftspolitik, für die Arbeitsmarktpolitik und
für viele andere Bereiche. Sie müssen sich daran halten
und ihre Politik danach ausrichten.
({3})
Die Entwicklung in den unterschiedlichsten Ländern
zeigt: Wenn man sich an diesen drei Kriterien orientiert,
dann ist der Weg auch erfolgreich. Wir sehen das im
Kleinen, auch in meinem Heimatland Bayern - Sie erlauben, dass ich das mit einem Stück Stolz sage -, das
seit mittlerweile zehn Jahren einen ausgeglichenen
Haushalt hat und seit einigen Jahren die Schulden tilgt.
Aber das ist nicht verbunden mit Verarmung und Verschlechterung der Bedingungen für die Menschen. Im
Gegenteil: Den Menschen dort geht es besser, es gibt
weniger Arbeitslose, Jugendarbeitslosigkeit haben wir
so gut wie keine. Die Investitionstätigkeit im öffentlichen Bereich und im privaten Bereich ist hervorragend.
Jeder Kinderkrippenplatz und Kindertagesstättenplatz,
für den eine Kommune Förderung beantragt, wird vom
Freistaat Bayern auch gefördert. Der Freistaat Bayern ist
auch das einzige Bundesland, das für die Kommunen
- anders, als es in anderen Ländern der Fall ist - die
Kosten für die Unterkunft von Asylbewerbern übernimmt.
({4})
An diesem Beispiel wird deutlich: Es zahlt sich aus, solide zu haushalten und solide zu wirtschaften. Dann kann
man bewusst Schwerpunkte der Investitionen dort setzen, wo sie notwendig sind.
Die Beispiele können fortgesetzt werden. Letztlich ist
auch Deutschland, sind auch wir ein gutes Beispiel dafür. Wir haben mit großen Anstrengungen im vergangenen Jahr und auch in diesem Jahr einen soliden Haushalt
erreicht. Die Herausforderungen, dies auch in den nächsten Jahren so zu gestalten, sind riesig, aber wir werden
auch dies erreichen. Vor allem stoßen wir Investitionen
an. Das Milliardenprogramm für die nächsten Jahre
wurde angesprochen. Insgesamt 15 Milliarden Euro sind
für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur und in die
digitale Infrastruktur, aber auch in Bildung und Forschung vorgesehen. Gerade in diesem Bereich wurde in
Deutschland in den letzten Jahren viel geleistet; denn Investitionen in Bildung und Forschung sind Investitionen
in die Zukunft unseres Landes und genauso wichtig wie
die Investitionen in Straßen und andere Infrastrukturen.
Auch hier stärken wir die Kommunen; das wurde bereits
angesprochen.
Auch auf europäischer Ebene werden mit dem Investitionsfonds die Zeichen auf Investitionsförderung gesetzt. Ich hoffe sehr, dass die Auswahl der Projekte so
gestaltet wird, dass Investitionen und Innovationen wirklich angekurbelt werden und private Investitionstätigkeit
generiert wird. Das alles findet nun im europäischen
Rahmen statt. Das heißt, die Nationalstaaten müssen ihre
Verantwortung wahrnehmen.
Es kommt aber ein Zweites hinzu. Die Probleme in
Europa, insbesondere im ökonomischen Bereich, werden
wir nur dann lösen, wenn das, was auf europäischer
Ebene unter den einzelnen Staaten miteinander vereinbart wurde, auch eingehalten wird. Regeln sind nicht
dazu da, dass man sie nur aufschreibt und dann vielleicht
noch einmal in Sonntagsreden darüber spricht, sie aber
ansonsten in die Schublade legt, sondern Regeln sind
dazu da, sie einzuhalten, sich danach auszurichten, die
politischen Entscheidungen danach auszurichten. Nur so
behalten wir Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit in
ganz Europa.
({5})
Das gilt aktuell natürlich in besonderer Weise für
Griechenland. Griechenland ist das Land, das im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise von Anfang an die
größten Probleme hatte und uns auch immer wieder
große Anstrengungen abverlangte. Ich brauche das, was
wir in den letzten Jahren dazu diskutiert und entschieden
haben, was wir an Solidarität gegenüber Griechenland
unter Beweis gestellt haben, hier nicht noch einmal aufzuzählen. Das wissen wir alle; wir alle haben es ja gemeinsam verantwortet.
Jetzt geht es darum, dass die zusätzliche Zeit, die wir
Griechenland vor einigen Wochen gegeben haben, um
die Bedingungen, die Auflagen des Programms zu erfüllen, zum Wohl der griechischen Bürger und zur Bekämpfung der Krise dort wirklich genutzt wird. Auch da gilt
in besonderer Weise: Das, was vereinbart ist, muss eingehalten werden. Ich rede noch gar nicht vom Tonfall,
von der Tonlage der neuen griechischen Regierung, sondern ich rede nur vom Inhalt, von den Entscheidungen,
die notwendig sind. Mir wäre es schon lieber, wenn nicht
so viele Interviews und Homestorys von der griechischen Regierung gemacht werden, sondern wenn sie sich
auf die eigentliche Arbeit konzentriert, die sie zu leisten
hat, auf die Entscheidungen, damit das Land wieder
wettbewerbsfähig wird.
({6})
Aber auch zum Tonfall muss man etwas sagen. Es gehört sich schon, dass man mit denen, von denen man Unterstützung haben möchte, anständig umgeht. Das ist im
persönlichen Umgang so, das muss aber auch im politischen Bereich und gerade auch im europäischen Kontext
so gesehen werden. Denn wir alle in Europa sind aufeinander angewiesen, miteinander gut umzugehen, vertrauensvoll und verlässlich miteinander umzugehen.
Dazu gehört auch die Tonlage.
({7})
Ich will jetzt, weil das vorhin eine Rolle gespielt hat,
noch kurz auf die energiepolitische Diskussion eingehen.
Herr Krischer hat ja einen Bundesratsantrag erwähnt und
dabei unterstellt, dass Bayern da eine Finanzierung vorgesehen hätte. Ich wäre dankbar, wenn mir dies bewiesen werden könnte.
({8})
Mein Informationsstand ist, dass in diesem Antrag keine
solche Finanzierung enthalten ist, sondern dass das Aufkommen so verteilt werden soll, wie es bei einem Einkommensteuer- und Lohnsteuergesetz ganz normal ist,
also dass die Mindereinnahmen von denen getragen werden, die auch die Mehreinnahmen haben. Das ist ganz
normal. Etwas anderes steht da nicht drin.
({9})
Meine Damen und Herren, Europa war meines Erachtens immer dann ganz besonders stark, wenn es galt,
große Herausforderungen zu meistern. Dass das, was im
ökonomischen Bereich, aber auch im außenpolitischen
Bereich momentan zu meistern ist, nicht trivial ist, sondern uns viel Kraft abverlangt, ist unbestritten. Diese Arbeit ist immer erledigt worden auf der Basis eines festen
Wertefundaments, auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen und Verständnis füreinander, auf der Basis von
Verlässlichkeit, durchaus auch verbunden mit manchen
Kompromissen, aber immer, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit großem Erfolg.
Wir stünden heute nicht so gut da - in Bezug auf unsere wirtschaftliche Entwicklung, unseren Wohlstand,
die Sicherheit, die soziale Sicherheit, unser außenpolitisches Gewicht, unseren freiheitlichen Rechtsstaat -,
wenn wir dieses Europa nicht hätten. Darauf sollten wir
uns immer besinnen und daraus auch die Kraft und den
Mut nehmen, das, was vor uns liegt, weiter gut zu gestalten. Unsere Bundeskanzlerin hat uns in all den schwierigen Jahren hervorragend durch diese schwierigen Zeiten
geführt, gerade auch in Europa, und in Europa für Geschlossenheit gesorgt, nicht nur in den ökonomischen
Fragen, sondern auch und gerade in den Fragen der
Ukraine-Krise. Ich möchte ihr dafür herzlich danken und
ihr weiterhin eine glückliche Hand wünschen.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Spinrath für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrten Damen und Herren! Als ich ziemlich genau heute vor einem Jahr an dieser Stelle sprach, war die
völkerrechtswidrige Annexion der Krim gerade ein paar
Tage alt. Bereits damals mussten wir erkennen, dass
25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges das Ziel eines gemeinsamen europäischen Hauses in weite Ferne
gerückt ist; der Begriff „gemeinsames europäisches
Haus“ geht übrigens auf den ehemaligen sowjetischen
Präsidenten Michail Gorbatschow zurück.
Der in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsene
Zusammenhalt Europas wurde durch die russische Politik auf eine Art und Weise infrage gestellt, die wir längst
überwunden zu haben glaubten. Europa - allen voran der
deutsche und der französische Außenminister, die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsident - hat seit einem Jahr in großer Beharrlichkeit
- nicht zaghaft, Herr Kollege Sarrazin - Lösungen erarbeitet und als Vermittler agiert.
Der Europäische Rat wird sich auch mit der europäischen Nachbarschaftspolitik und mit der Vorbereitung
des Gipfels, der dazu im Mai dieses Jahres in Riga stattfindet, beschäftigen. Wir wollen, dass sich die Staaten
der Östlichen Partnerschaft, unter anderem die Ukraine,
Georgien und Moldawien, der EU politisch und wirtschaftlich annähern. Wir haben ein sehr weitgehendes
Assoziierungsabkommen, das auch ein Freihandelsabkommen ist, verhandelt. Die Ukraine wird sich wirtschaftlich nur weiterentwickeln können, wenn sie
irgendwann auch wieder gutnachbarschaftliche Beziehungen zu ihren Nachbarn im Osten herstellen kann. Es
geht eben nicht um eine Entweder-oder-Entscheidung.
Die Ukraine wäre gut beraten, sowohl nach Westen als
auch nach Osten Zusammenarbeit zu suchen, auch wenn
das momentan unerreichbar zu sein scheint.
({0})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die
Hoffnung nicht aufgeben, dass die Ukraine eines Tages
sogar eine Brücke zwischen Europa und Russland sein
könnte. Die Ukraine muss aber auch im eigenen Interesse die Chancen für sich ergreifen. Sie muss sich zu einem funktionierenden Rechtsstaat entwickeln. Sie muss
eine moderne Verwaltung aufbauen. Sie muss ihre marode Wirtschaft modernisieren. Sie muss das unvorstellbare Maß an Korruption beenden. Sie muss die Oligarchen an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.
Vor allem aber muss sie Bürgernähe entwickeln und einen Aufschwung schaffen, einen Aufschwung für die
Menschen.
({1})
Alles Handeln muss auf Bürgernähe und auf einen solchen Aufschwung für die Menschen ausgerichtet sein;
sonst sind die Menschen - die 45 Millionen Menschen in
der Ukraine - die wahren Verlierer der Krise.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Östliche Partnerschaft auf neue Beine stellen. Wir haben in
den letzten fünf Jahren erlebt, dass es da zu einigen Friktionen gekommen ist. Das waren oft Missverständnisse.
Deshalb müssen wir den Menschen und den politisch
Verantwortlichen in den Partnerländern wiederum und
neu die Vorteile und Ziele der Östlichen Partnerschaft
verdeutlichen. Wir müssen sie dafür sensibilisieren. Wir
müssen dafür werben und die praktischen Auswirkungen
und Vorteile in den Vordergrund stellen.
Wir wollen das hier in Deutschland sehr schnell tun;
das haben wir vereinbart mit dem zügigen Abschluss der
Ratifizierung von drei Assoziierungsabkommen noch
vor dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga. Wir
wollen damit ein wichtiges politisches Signal und einen
neuen Impuls für die Wiederbelebung des Gedankens
der Östlichen Partnerschaft geben.
Es geht bei der Östlichen Partnerschaft nicht um die
Vermittlung des Eindrucks, Second Best zu sein - wenn
man dann eben nur Partner und nicht Mitglied wird -, es
geht um ein fortwährendes Kooperationsangebot der EU
an die östlichen Länder. Wir müssen die Neuausrichtung
der Östlichen Partnerschaft auch dahin gehend verstehen
- und dies sehr deutlich machen -, dass Nachbarschaft
und Assoziierung eben nicht zwangsläufig nur kurze
Zwischenschritte auf dem Weg zu einer EU-Mitgliedschaft sind, sondern dass sie einen eigenständigen Wert,
einen hohen eigenständigen Wert haben.
({2})
Die Östliche Partnerschaft muss wieder verstärkt als
gemeinsamer Rahmen für die Stärkung der regionalen
Integration und Zusammenarbeit fungieren. Es muss ein
Rahmen da sein, der eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Partnern ermöglicht. Wir müssen in die
Östliche Partnerschaft zukünftig aber auch ganz deutlich
wieder stärker die russischen Interessen einbeziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Östlichen
Partnerschaft muss es das Ziel sein, künftig durch gute,
vernunftorientierte und ausgewogene Ausgestaltung eine
neue Trennlinie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer
- um nicht andere, alte Begrifflichkeiten zu gebrauchen und damit eine Zone der Instabilität zu vermeiden. Dann
wird es auch gelingen können, dem zu Zeiten von Glasnost und Perestroika formulierten Ziel wieder näherzukommen: dem Ziel eines gemeinsamen europäischen
Hauses.
({3})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Dr. Christoph Bergner von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Frühjahrsrat der Europäischen Union findet zu einem
Zeitpunkt statt, zu dem wir in diesem Parlament in den
Ausschüssen die Ratifikation der Assoziierungsabkommen mit Georgien, der Republik Moldau und der
Ukraine beraten und beschließen. Aus diesem Grunde
möchte auch ich die Aufmerksamkeit noch einmal auf
diesen Tagesordnungspunkt der Ratssitzung lenken und
die damit verbundenen Fragen erörtern. Dabei bin ich
der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie heute in ihrer
Regierungserklärung im Hinblick auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, aber auch im Hinblick auf
das Infragestellen der Integrität der Ukraine durch die
Aktivitäten der Separatisten im Donbass klare Worte der
Bewertung gefunden hat. Ich glaube, dass so klare Bewertungen Voraussetzung für erfolgreiche Politik in der
Sache sind. Ich hoffe, dass es nun auch auf der Ratssitzung gelingt, die unter großem diplomatischem Aufwand erzielten Vereinbarungen von Minsk entsprechend
zu begleiten und ihre Durchsetzung zu unterstützen. Das
heißt vor allem, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen unauflösbaren Zusammenhang sehen
zwischen der Aufrechterhaltung der Sanktionen auf der
einen Seite und einer vollständigen Umsetzung des
Minsker Abkommens auf der anderen Seite.
({0})
Meine Damen und Herren, bei all diesen Dingen, die
wichtig sind - auch bei der Notwendigkeit einer Deeskalation der militärischen Konfliktlage -, sollten wir immer wieder betonen, dass die europäische Nachbarschaftspolitik und damit auch die Östliche Partnerschaft
ein Instrument der Friedenskonsolidierung ist.
Frau Wagenknecht, ich habe mich nach Ihrer Rede
bemüßigt gefühlt, den Artikel 8 des Vertrages von Lissabon, auf dem unsere Nachbarschaftspolitik beruht, noch
einmal auszudrucken, und ich will ihn hier verlesen:
Die Union entwickelt besondere Beziehungen zu
den Ländern in ihrer Nachbarschaft, um einen
Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft
zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut
und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf
der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet.
Frau Wagenknecht, es gehört schon eine große Portion
demagogischer Hemmungslosigkeit dazu, dieses Anliegen in ein Aggressionskonzept des Westens umzudeuten.
({1})
Dies sollten wir Frau Wagenknecht nicht durchgehen
lassen, und das sollten wir aber auch Putin nicht durchgehen lassen, der mit seiner Politik - es geht um militärische und sicherheitspolitische Fragen - unserem nachbarschaftspolitischen Anliegen immer wieder begegnet.
({2})
Um das Konzept der Friedenskonsolidierung wirklich
zur Geltung zu bringen, scheinen mir einige Überlegungen wichtig:
Erstens. Wenn wir in der nächsten Woche die Assoziierungsabkommen mit Georgien und der Republik
Moldau ratifiziert haben, dann sollten wir darangehen,
diese Vereinbarungen auch konsequent umzusetzen.
Dies sind wir diesen Völkern und Staaten schuldig, aber
dies ist auch im Interesse unserer eigentlichen Intention.
Zweitens. Wir sollten pragmatisch nach angemessenen
Partnerschaftsformen mit den Programmländern suchen,
die, aus welchen Gründen auch immer, kein Assoziierungsabkommen angestrebt haben: Armenien, WeißrussDr. Christoph Bergner
land und Aserbaidschan. Auch das wäre im Sinne des
Artikels 8 des Lissabon-Vertrages.
Drittens. Wir müssen auch deshalb ein besonderes Interesse daran haben, dass das Minsker Abkommen über die
Ukraine erfolgreich umgesetzt wird, weil die Ukraine
dringend die Freiräume braucht, die mit der Reduzierung
der militärischen Konfrontation erst geschaffen werden
können, um die notwendigen staatlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Konsolidierungen betreiben und
die Reformen mit der Konsequenz angehen zu können,
die notwendig ist, um die enormen Probleme zu lösen.
({3})
Nein, meine Damen und Herren, wir dürfen nicht vergessen: Die Probleme im Zusammenhang mit der Östlichen Partnerschaft mit den ehemaligen Sowjetrepubliken und die Herausforderungen, die damit verbunden
sind, ergeben sich nicht allein, obwohl das schwer genug
ist, aus dem hegemonialen Anspruch Russlands, sondern
auch aus der postkommunistischen Verfasstheit dieser
Staaten, ihrer Ökonomien, ihrer Zivilgesellschaften und
ihrer politischen Kulturen. Die Östliche Partnerschaft ist
eine Transformationshilfe, die diese Länder von uns erwarten. Es gibt keine einfachen Lösungen, aber wir sollten uns dieser Aufgabe verpflichtet fühlen.
({4})
Vor diesem Hintergrund sehe ich auch die Debatte um
die Reform und die Überarbeitung der Östlichen Partnerschaft und der europäischen Nachbarschaftspolitik, die
in den Vorlagen zum Frühjahrsrat deutlich wird. Wir
sollten dabei die friedenskonsolidierende Intention unseres Artikels 8 nicht infrage stellen, sondern uns fragen,
wie sie gestärkt werden kann. Dies bedeutet, dass das
Prinzip „More for more“ zukünftig nicht in starren Forderungskatalogen und abstrakten Pflichtenheften abgearbeitet wird, sondern dass die Nachbarschaftspolitik statt
allgemeiner Bürokratie mehr länderbezogene Diplomatie braucht,
({5})
und dass auch die Länder, die unterhalb des Assoziierungsabkommens sind, angemessene Lösungsangebote
und angemessene Partnerschaftsangebote bekommen
werden.
Einen letzten Punkt will ich kurz ansprechen, weil in
diesem Zusammenhang ein Stichwort auftaucht, das ich
nicht missverstanden sehen möchte. Es heißt in den Arbeitspapieren, wir sollten die Nachbarn der Nachbarn
beachten; Kollege Spinrath sprach von der Einbeziehung
der russischen Interessen. Meine Damen und Herren, es
ist selbstverständlich, dass wir uns bemühen, wieder eine
EU-Russland-Partnerschaft aufzubauen. Aber es wäre
ein Widerspruch zur Schlussakte von Helsinki, wenn wir
die Art unserer Partnerschaft mit Nachbarstaaten Russlands von der vorherigen Zustimmung Russlands abhängig machten. So kann „Nachbarn von Nachbarn“ nicht
verstanden werden. Darüber sollten wir uns klar sein. In diesem Sinne wünsche ich der Bundeskanzlerin ein
herzliches Glückauf für die Ratstagung.
Danke schön.
({6})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Matern von Marschall das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zum Abschluss dieser Debatte darf ich
- darüber freue ich mich auch - darauf hinweisen, dass
die Federführung dieser Debatte im Europaausschuss
liegt. Ich freue mich auch deswegen, das zu sagen, weil
wir in diesem Jahr 25 Jahre deutsche Einheit feiern und
weil letzten Endes der Europaausschuss mit seinen Aufgaben eine Folge des Wegfalls des Grundgesetzartikels
zur deutschen Wiedervereinigung ist und dieser Ausschuss im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag
eingeführt worden ist. Das ist besonders schön. Wir nehmen diese Aufgabe zur vertieften europäischen Einigung
sehr ernst. Dafür danke ich allen Kolleginnen und Kollegen sehr.
({0})
Ich glaube, trotzdem darauf hinweisen zu müssen
- das betrifft den gestrigen Tag und die zum Teil gewalttätigen Ausschreitungen vor der EZB -, dass es für die
meisten Kollegen im Europaausschuss sehr schmerzhaft
gewesen ist, die absolut unerträglichen Äußerungen von
Abgeordneten der Linken wahrzunehmen, mit denen die
Arbeit der Bundesregierung zur europäischen Einheit,
die besonders die Bundeskanzlerin, der Bundesaußenminister und der Bundesfinanzminister seit Jahren unermüdlich vorantreiben, diskreditiert und diffamiert wird.
Da muss ich sagen, Herr Dr. Dehm: Die EZB des
„Staatsterrorismus“ zu bezichtigen, ist wirklich unsäglich. Ich muss auch sagen, Herr Ulrich: Wenn Sie den
Bundesfinanzminister - das haben Sie gestern so formuliert - „zutiefst antieuropäischer“ Neigungen bezichtigen, dann ist das genauso unerträglich.
({1})
Im Gegenteil: Es ist doch so, dass wir gerade der Bundeskanzlerin und gerade dem Bundesfinanzminister zu
tiefem Dank verpflichtet sind, dass sie ihre Arbeit in dieser Unermüdlichkeit auch mit Blick auf Russland und
mit Blick auf Griechenland seit vielen Monaten in Situationen fortsetzen, in denen man kaum noch Hoffnung
haben kann und in denen trotzdem beide, die Kanzlerin
und der Finanzminister, gezeigt haben, dass jede Chance
genutzt werden muss, um auch bei geringer oder sogar
winziger Hoffnung den Gesprächsfaden nicht abreißen
zu lassen und den Partner zum Einlenken und zu deutlichen und klaren Verpflichtungen zu bewegen.
Mit Blick auf den Europäischen Rat seien hier einige
Anmerkungen gestattet. Eine Anmerkung bezieht sich
auf das Europäische Semester. Das hört sich etwas komisch an, aber es ist im Grunde ein Warnmechanismus,
der nach der europäischen Krise eingeführt worden ist,
um ökonomische Blasenbildungen frühzeitig zu erkennen.
Nun hat sich gerade Deutschland für die Einführung
dieses Europäischen Semesters eingesetzt. Es ist trotzdem etwas merkwürdig, dass die makroökonomische
Bewertung Deutschlands in einer Situation herabgestuft
worden ist, in der es Deutschland kaum besser gehen
könnte. Ich denke an den Mindestlohn, an steigende Reallöhne, an eine hervorragende und übrigens durchaus
wünschenswerte starke Exportquote. Ich glaube, die
Kommission hätte die Herabstufung vielleicht nicht vorgenommen, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Berichterstattung gewusst hätte, dass aufgrund der starken Wirtschaftskraft in Deutschland weitere 10 Milliarden Euro
für öffentliche Investitionen zur Verfügung stehen. Dafür
herzlichen Dank auch dem Herrn Bundesfinanzminister.
({2})
Herr von Marschall, ich habe darauf gewartet, dass
Sie einen Punkt machen. Es gibt nämlich den Wunsch einer Zwischenfrage von Dieter Dehm.
({0})
Bitte schön.
Es scheint Ihnen nicht übermäßig leicht gefallen zu
sein, aber ich danke trotzdem.
({0})
Wenn sich Sparauflagen und Auflagen, die den Sozialstaat kaputtkürzen, in einer erhöhten Kindersterblichkeit, der Zunahme der Suizidrate und einer steigenden Anzahl an HIV-Erkrankungen und anderem Schaden
im Gesundheitssystem auswirken,
({1})
dann wüsste ich dafür keinen anderen Begriff als Terror.
Es gibt auch den Begriff des Terrors der Ökonomie.
Vielleicht kennen Sie den Bestseller von Frau Forrester,
in dem sie diesen Begriff verwendet.
Aber meine Frage an Sie ist, ob Sie nicht glauben,
dass wir in einer Zeit, in der diese komplizierten Verhältnisse in Griechenland bestehen, dem Grexit-Geschwätz
offensiver entgegentreten müssten, statt es wie der Bundesfinanzminister zu bedienen,
({2})
was in der Konsequenz letztlich bedeutet, dass Leute, die
durch dieses unverantwortliche Gerede, das ich für antieuropäisch halte, glauben, dass ihre Sparguthaben auf
griechischen Konten morgen in eine Weichwährung umgewandelt werden könnten, ihr Geld abheben und damit
die Krise noch verschärfen. Glauben Sie, dass diese Krisenverschärfung durch deutsches Gerede proeuropäisch
oder antieuropäisch ist oder dass wir uns nicht deutlicher
von diesem Geschwätz distanzieren müssten?
Herr Dr. Dehm, ich glaube, dass das, was Sie machen,
die europäische Spaltung weiter vorantreibt.
({0})
Ich glaube, Herr Dr. Dehm, es wäre angemessen gewesen, Sie hätten sich für den Begriff des Staatsterrorismus
gegenüber einer europäischen Institution entschuldigt,
({1})
die zutiefst dem Frieden und der Einheit der Europäischen Union dient.
({2})
Aber das kommt Ihnen offensichtlich nicht in den Sinn.
Ich glaube weiterhin, Herr Dr. Dehm, dass vor allen
Dingen Griechenland selbst die Verantwortung dafür
trägt ({3})
- hören Sie bitte wenigstens zu, wenn ich Ihnen antworte; jetzt bin ich nämlich dran -,
({4})
und zwar deswegen, weil wir von Griechenland nicht die
mindeste Transparenz über die finanzielle Situation dort
bekommen, und weil wir überhaupt keinen Einblick in
die Lage dieses Landes bekommen und nicht in der Lage
sind, festzustellen, was dort vor sich geht, egal ob man
die Troika in eine Athens Group und eine Brussels
Group splittet, wenn die Leute dann schließlich in einem
Athener Hotel in Verwirrung gestürzt werden.
Wenn Herr Tsipras jetzt das Anliegen verfolgt, die Sache morgen auf dem Brüsseler Gipfel eskalieren zu lassen, dann ist das, glaube ich, der falsche Weg. Ich bin
trotzdem ausgesprochen dankbar - auch wenn sicherlich
viele diesbezüglich hätten skeptisch sein können -, dass
die Kanzlerin Herrn Tsipras als Besucher empfangen
wird. Ob er allerdings den nachfolgenden Besuch bei
Herrn Putin als vorlaufende Drohung verstanden wissen
will, weiß ich nicht, aber wir werden uns von dieser DroMatern von Marschall
hung jedenfalls sicherlich nicht einschüchtern lassen. So
weit zur Situation Griechenlands und zu dem, was ich im
Zusammenhang mit Griechenland glaube, Herr
Dr. Dehm.
({5})
Ich danke Ihnen für diese Redezeitverlängerung.
({6})
Ich will noch einen Aspekt herausgreifen. Herr
Kauder hat es schon angesprochen: Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit. Das ist klar. Wir haben das Europäische Semester abgehakt. Der Europaausschuss widmet
sich regelmäßig und ernsthaft der Frage der Subsidiarität. Dabei müssen wir durchaus auch manchmal kritische
Anmerkungen machen. Dafür, dass zum Beispiel die duale Ausbildung - Herr Kauder, Sie haben das im Zusammenhang mit dem portugiesischen Botschafter angesprochen - ein Erfolgsmodell Deutschlands ist, das viele
Länder wie etwa Spanien gerne auch bei sich einführen
wollen - übrigens durchaus mithilfe der IHKs sowie der
Handwerkskammern und auch mithilfe deutscher Unternehmen, die in diesen Ländern tätig sind -, bin ich sehr
dankbar. Ich meine aber deswegen, dass es besonders
wichtig ist, dass wir nicht etwa den deutschen Meister
dem vermeintlichen Deckmäntelchen des Marktzugangs
opfern. Das ist eine Leistungs-, eine Qualitätsstufe des
dualen Ausbildungssystems Deutschlands und stellt sozusagen dessen Krönung dar. Diesen müssen wir also
ganz dringend erhalten.
({7})
Ich komme noch kurz auf die Klimapolitik und auf
die Energieunion zu sprechen und möchte sagen: Dem
Europaausschuss wäre es ein Herzensanliegen, für dieses Thema in Zukunft die Federführung zu übernehmen;
denn es handelt sich, wie der Europaausschuss selbst,
um eine Querschnittsaufgabe. Es geht selbstverständlich
um die Klimapolitik, es geht selbstverständlich um den
Weltklimavertrag - die Konferenz in Paris haben wir
noch vor uns -, aber es geht natürlich auch um Außenbeziehungen und um strategische Komponenten.
Frau Göring-Eckardt, Sie haben kritisch angemerkt,
wir bräuchten keine Gaslieferungen etwa aus Aserbaidschan. Genau das Gegenteil ist doch richtig: Wir brauchen sehr wohl eine Diversifizierung, und zwar um eine
geringere Abhängigkeit von Russland zu erreichen. Das
ist ein maßgeblicher, sicherheitspolitisch relevanter Aspekt. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht auch Sorge
dafür tragen, bei uns die erneuerbaren Energien voranzubringen.
({8})
Etwas fehlt mir ein wenig im Papier des Europäischen
Rates: Im Zentrum der Entwicklung der erneuerbaren
Energien muss die Forschung stehen, und zwar aus folgendem Grund: Es ist noch keine hinreichende Antwort
gegeben worden, wie der Wandel von einer Energie der
Großkonzerne hin zu Hunderttausenden von kleinen sogenannten Prosumern, also Einheiten, die selber Energie
produzieren und sie gleichzeitig konsumieren, überhaupt
gelingen soll. Daran muss die Europäische Union, daran
muss auch die Forschung arbeiten. Das dient vor allen
Dingen der Beantwortung der Frage, wie wir unter diesen Bedingungen die Netze stabilisieren können. Das ist
ganz wichtig. Ich glaube deswegen, Forschung muss in
diesem Bereich unbedingt gestärkt werden. Das betrifft
keineswegs nur Speichertechnologie.
({9})
Zum Abschluss möchte ich ein wenig in die Mythologie einsteigen. Morgen gibt es eine Sonnenfinsternis.
Diese Sonnenfinsternis findet erst in Brüssel, später
dann in Berlin statt. Wie Sie wissen, haben die alten
Griechen gedacht, Helios lenke diesen Wagen. Ich hoffe,
dass im Zusammenhang mit dieser Sonnenfinsternis der
Wagenlenker nicht abstürzt. Wir wissen aber, dass die
Sonnenfinsternis nur von kurzer Dauer ist und im Übrigen auch, dass sich der Lauf der Sonne an sich davon
nicht beeinflussen lässt.
Danke schön.
({10})
Herzlichen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4348. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Energienetze zurück in die öffentliche Hand Rechtssicherheit bei der Rekommunalisierung schaffen
Drucksache 18/4323
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin
Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Übernahme der Energienetze durch Stadtwerke erleichtern
Drucksachen 18/3745, 18/4222
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Debatte hat Caren Lay von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt inzwischen gute Beispiele, die zeigen,
wie die Energieversorgung der Zukunft aussehen kann.
Ich empfehle zum Beispiel eine Beschäftigung mit den
Stadtwerken Wolfhagen in Nordhessen: Strom aus der
Region für die Region, inzwischen zu 100 Prozent aus
Erneuerbaren. - Deswegen sagen wir als Linke: Ökologisch handelnde Stadtwerke mit dezentraler Energieversorgung, so sieht für uns die Energiepolitik der Zukunft
aus.
({0})
Auch dort hat es damit begonnen, dass die Energienetze zurück in kommunale Hand gekommen sind.
Netze in öffentlicher Hand haben nämlich viele Vorteile:
Die Strompreise können fair gestaltet werden für die
Verbraucherinnen und Verbraucher, und etwaige Gewinne können für das Allgemeinwohl investiert werden
und wandern eben nicht in private Taschen. Das ist der
richtige Weg.
({1})
Auch für die Verbindung des Strom- und Wärmemarktes, die wir für die Energiewende dringend brauchen, ist es von großem Vorteil, wenn die Netze in einer
Hand sind; denn das ist besser, als dass man gegen den
Widerstand der privaten Netzbetreiber ankämpfen muss.
Deswegen freue ich mich ausdrücklich darüber, dass
viele Kommunen das erkannt haben, übrigens parteiübergreifend, und ihre Energienetze jetzt zurückhaben
wollen.
({2})
Die Chancen dafür stünden eigentlich gut. Bis zum
Jahre 2016 laufen bis zu 2 000 Netzverträge aus. Die
Kommunen könnten also jetzt den Verkauf ihrer Netze
an private Betreiber rückgängig machen. Aber leider
machen sie häufig die Rechnung ohne den Wirt, sprich:
ohne den privaten Netzbetreiber. Sie wehren sich nämlich häufig mit Händen und Füßen, weil sie das lukrative
Geschäft lieber für sich behalten wollen.
Es geht dabei nicht um Einzelfälle. Eine Vielzahl von
Beispielen belegt, mit welchen Tricks versucht wird, die
Rekommunalisierung zu verhindern. Vattenfall hat beispielsweise hier in Berlin seine Netze - völlig überzogen auf einen Preis von 2,5 Milliarden Euro geschätzt, um
einer Rekommunalisierung möglichst viele Steine in den
Weg zu legen. Auch der Energiekonzern RWE ist an dieser Stelle ungeahnt kreativ. In Wachtendonk in Nordrhein-Westfalen beispielsweise wurde damit gedroht, das
Stromnetz zu kappen, falls die Gemeinde eine Netzübergabe vornimmt.
({3})
Ein paar Kilometer weiter in Wesel drohte derselbe
Energiekonzern mit dem Abbau von 500 Arbeitsplätzen,
wenn er die Stromkonzession nicht wiederbekommen
würde. So geht es nicht, meine Damen und Herren. Wir
brauchen hier endlich eine rechtliche Klarstellung.
({4})
Es gibt leider viel zu viele Beispiele dieser Art. Es
kommt hinzu, dass die Privaten sehr häufig, wenn eine
Rekommunalisierung ansteht, die Kommunen vor Gericht ziehen. Klar wollen die Privaten die Netze nicht zurückgeben; aber das Problem ist doch, dass die Politik
genau das zulässt, weil wir eine unklare Rechtslage haben. Das müssen wir endlich ändern.
({5})
Für uns Linke hat das Recht auf kommunale Selbstverwaltung Vorrang; denn so steht es auch im Grundgesetz.
Auch die kommunalen Spitzenverbände sehen es so.
Aber Schwarz-Gelb war da offenbar anderer Meinung; denn sonst hätte Schwarz-Gelb nicht im Jahr 2011
das Energiewirtschaftsgesetz so geändert, dass diese unklare Rechtslage überhaupt erst entstehen konnte. Die
unklare Rechtslage schreckt die Kommunen am Ende
davor ab, eine entsprechende Rekommunalisierung vorzunehmen. Der Verdacht liegt natürlich nahe, dass das
Ganze vielleicht sogar abschrecken sollte, und das können wir so nicht hinnehmen.
({6})
Hinzu kommt, dass es einen Leitfaden des Bundeskartellamtes und der Bundesnetzagentur gibt, der im Ergebnis eher konzern- als kommunenfreundlich ist. Er
wird vor Gericht gerne zurate gezogen. Das führt im Ergebnis dazu, dass die Kommunen verlieren.
Ich habe dazu eine schriftliche Anfrage an die Regierung gestellt. Sie antwortete mir doch tatsächlich, es
handele sich lediglich um eine rechtlich unverbindliche
Aussage. Das sei so eine Art Hilfestellung, mit der sie
selber, die Regierung, nichts zu tun habe. Da frage ich
mich aber, ob das nicht im Umkehrschluss heißt, dass
Sie faktisch zuschauen, wie zwei Bundesbehörden ihre
eigene Politik zulasten der Kommunen machen. Das darf
doch wirklich nicht wahr sein.
({7})
Offenbar ist dieses Problem SPD und CDU/CSU irgendwo bekannt; denn ansonsten wäre im Koalitionsvertrag ja nicht ein Satz enthalten, der ebenfalls vorschreibt,
dass dort Rechtssicherheit herzustellen ist.
({8})
Aber auf die praktische Umsetzung warten die Kommunen, die ihre Netze zurückkaufen wollen, doch bis heute.
Für viele, die jetzt vor Gericht stehen, kommt diese NoCaren Lay
velle doch viel zu spät. Insofern sollten Sie nicht auf Ihren Koalitionsvertrag verweisen, sondern ihn hier endlich umsetzen.
({9})
Wir Linke eröffnen Ihnen jedenfalls die Chance dafür.
Wir könnten diese Entscheidung heute im Bundestag
treffen. Die Regierung sagt zwar auch, dass sie es umsetzen will; aber der Zeitpunkt verschiebt sich - je nach
dem, wann ich meine schriftliche Anfrage dazu stelle komischerweise immer weiter nach hinten. Wenn ich mir
die letzte Debatte, die wir dazu hier im Plenum geführt
haben, vergegenwärtige, dann habe ich, ehrlich gesagt,
doch meine Zweifel, ob Sie in der Koalition sich hier
überhaupt einigen werden. Herr Koeppen von der Union
scheute sich nicht, die Rekommunalisierung mit der
Planwirtschaft zu vergleichen. Er sagte doch tatsächlich:
Rekommunalisierungen müssen immer die Ausnahme bleiben.
Da frage ich mich, ehrlich gesagt, wie Sie diese Aussage
den Stadträten und den Bürgermeistern der CDU beibringen wollen, die ihre Netze ebenfalls zurück in kommunaler Hand haben wollen.
({10})
Auch von der SPD war leider Abenteuerliches zu hören. Im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz,
dem ich angehöre, hieß es zum Beispiel, es wäre vielleicht auch nicht immer schlecht, wenn das in privater
Hand bliebe; dann blieben die Strompreise wenigstens
bezahlbar. Liebe Genossinnen und Genossen von der
SPD, es ist doch wirklich ein neoliberales Märchen, dass
es billiger wird, wenn die Dienstleistung von Privaten
erbracht wird. Das ist ein Märchen, von dem Sie sich
wirklich schnell verabschieden sollten.
({11})
Das ist in der Praxis auch längst widerlegt.
Deswegen sage ich: Nicht Privatisierung ist der Weg
zu mehr Verbraucherfreundlichkeit, sondern mehr Demokratie ist der richtige Weg.
({12})
Der Berliner Energietisch beispielsweise hatte beim leider gescheiterten Volksbegehren einen sehr guten Vorschlag gemacht, wie mehr Demokratie für Stadtwerke
aussehen könnte.
Ich bin sehr gespannt auf die Debatte, auch darauf,
was die Koalition will. Ich höre nämlich Unterschiedliches in der bisherigen Debatte. Manchmal heißt es, es
gehe um die Klärung der Übergabebestimmungen.
Manchmal heißt es: Vielleicht muss man doch auch an
die Ausschreibungskriterien heran. - Wir als Linke sagen: Was wir brauchen, ist eine Inhousevergabe, also die
Direktvergabe an ein kommunales Unternehmen. Genau
darum muss es uns heute gehen.
({13})
Die kommunalen Spitzenverbände fordern das auch. Der
Bundestag sollte das heute so entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich kann mir, wenn wir
heute über Rekommunalisierung sprechen, zum Abschluss natürlich nicht verkneifen, auch noch einen Satz
zu den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und
CETA zu sagen.
({14})
Wenn die Klauseln, die darin vorgesehen sind, so
durchkommen, dann kann ein einmal privatisiertes Unternehmen nie wieder rekommunalisiert werden - ganz
egal, was wir im Bundestag entscheiden.
({15})
Das ist einer von vielen Gründen, warum wir als Linke
sagen: TTIP muss gestoppt werden.
({16})
Liebe Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das mache ich.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie heute
dem Antrag der Linken zustimmen können; denn die
nächste Chance für die Rekommunalisierung ergibt sich
erst wieder in 20 Jahren, wenn die Netzkonzessionen
auslaufen. Wir können nicht länger warten. Lassen Sie
uns heute gemeinsam grünes Licht für die Rekommunalisierung geben!
Vielen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Thomas Bareiß
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Lay, Ihre Rede und vor allen Dingen Ihre Ausführungen zum Verhältnis zwischen Staat und Privat hat
mich animiert, doch etwas grundsätzlicher einzusteigen.
Sie sagen im Grundsatz, dass wir mehr Staat und weniger Privat brauchen. Aber der Glaube, dass eine Staatswirtschaft die beste Grundlage ist,
({0})
um unsere Versorgung auf ein gutes und günstiges Fundament zu stellen, sollte in unserem Land seit 1989 eigentlich
widerlegt sein, liebe Frau Lay. Aber Sie scheinen immer
noch in einer anderen Welt zu leben.
({1})
Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft basiert auf
Wettbewerb, auf Gewinnstreben - auch Gewinnstreben ist
wichtig ({2})
und auf privatem Eigentum, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das führt letztendlich zu Wachstum, zu
Innovation und langfristig zu Wohlstand für alle. Ich
sage Ihnen, liebe Frau Lay: Haben Sie Mut zur Marktwirtschaft! Haben Sie auch Mut zu privatem Eigentum!
({3})
Herr Kollege Bareiß, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Frau Lay zu?
Sehr gern.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
Gern.
Wir müssen uns jetzt, glaube ich, nicht darüber streiten, ob man alte Vorurteile bedienen muss. Ich möchte
Sie einfach nur fragen: Wenn das Ihre Position ist, wie
erklären Sie sich dann, dass die kommunalen Spitzenverbände, in denen sehr viele Bürgermeister der Union
vertreten sind - bedauerlicherweise mehr als solche der
Linken -, genau unsere Position und nicht die Position
vertreten, die Sie hier gerade vorgetragen haben?
({0})
Liebe Frau Lay, alte Vorurteile haben Sie durch Ihre
Rede befeuert. Insofern haben Sie mich angestachelt, darauf einzugehen und noch einmal klarzustellen, dass wir
in Deutschland in einer sozialen Marktwirtschaft leben.
({0})
Die kommunalen Spitzenverbände vertreten natürlich die kommunalen Interessen. Aber unsere Aufgabe
ist es, die Interessen der Verbraucher zu vertreten.
({1})
Das ist der Kern des Energiewirtschaftsgesetzes. Die
Verbraucher haben teilweise andere Interessen als die
kommunale Seite. Insofern sollten wir abwägen zwischen dem kommunalen Interesse, dem privaten Interesse von Investoren, gerade was Netze angeht, und den
Interessen der Verbraucher, die letztendlich für uns entscheidend sind; das hat seine Grundlage im Energiewirtschaftsgesetz. Darauf werde ich in meiner Rede nachher
gern noch näher eingehen.
Die Stadtwerke - das ist für mich ein ganz wichtiger
Punkt; ich habe neun Jahre in einem Gemeinderat und in
einem Kreistag gesessen - spielen natürlich eine entscheidende Rolle in der deutschen Energiewirtschaft. Es
gibt über 750 Stadtwerke. Davon sind über 300 in der
Energieerzeugung tätig. Die Stadtwerke betreiben einen
Kraftwerkspark mit einer Leistung von über 20 Gigawatt. Gerade beim Thema Kraft-Wärme-Kopplung, das
für uns eine enorm wichtige Säule der Energiepolitik der
Zukunft ist, sind die Stadtwerke ein entscheidender Faktor. Auch das sollten wir bei dieser Debatte herausstellen.
({2})
Aber beim Thema Verteilnetze, liebe Frau Lay - das
ist ganz entscheidend -, stehen die Interessen der Kunden und nicht die kommunalen Interessen im Mittelpunkt. Ich glaube, das sollte der Maßstab für die Konzessionsvergaben in den nächsten Jahren sein. Deshalb ist
nicht pauschal zu sagen: „Energienetze zurück in die öffentliche Hand“, sondern wir müssen schauen, wo die
Netze am besten aufgehoben sind. Da stellt sich schon
die grundsätzliche Frage, was denn die Kommunen in
den nächsten Jahren mit den Verteilnetzen anfangen wollen. Wenn ich mit Bürgermeistern - Sie haben es angesprochen; es gibt auch viele Bürgermeister der CDU und
der CSU - diskutiere, dann lautet ihre Antwort auf die
Frage: „Was wollen Sie mit Ihren Netzen denn anfangen?“ oftmals, sie wollten Energiepolitik gestalten, die
Energiewende vorantreiben oder, wie Sie, Frau Lay, gesagt haben, die Energiekosten für die Verbraucher günstig halten. Aber das können sie gar nicht über die Netze
erreichen; denn wir haben in Deutschland eine Trennung
zwischen Produktion und Vertrieb.
({3})
Das ist etwas, was Sie, glaube ich, im Grundsatz einmal
verstehen müssen: Wir haben gar keine Möglichkeit,
über die Verteilnetze Einfluss auf die Energiepolitik zu
nehmen. Es besteht auch überhaupt kein Gestaltungsspielraum.
({4})
Wir stehen in den nächsten Jahren, was die Verteilnetze
angeht, vor riesigen Herausforderungen. Wir müssen
diejenigen heraussuchen, die die besten sind, um diese
Herausforderungen anzupacken.
Wenn wir diese Herausforderungen beschreiben
wollen, dann müssen wir schauen, was in den nächsten
Jahren in den Verteilnetzen passiert. Wir werden in den
nächsten Jahren im Verteilbereich - auf Basis der neuesten Studien kann man das noch etwas näher beleuchten - allein über 130 000 Kilometer neue Netze aufbauen müssen. Wir brauchen Investitionen im Umfang
von 24 Milliarden Euro. Das wird für eine Kommune
mit 50 000 Einwohnern wie beispielsweise bei mir zu
Hause in den nächsten Jahren Investitionen im Umfang
von bis zu 15 Millionen Euro bedeuten. Davon wird
der Bürger vor Ort, der Wähler der Gemeinderäte
nichts sehen. Er wird auch nichts davon haben. Wir
müssen schauen, ob das überhaupt für die Gemeinden
tragbar ist und ob sie überhaupt ein Interesse daran haben, in den nächsten Jahren in diese Verteilnetze zu investieren.
({5})
Wir brauchen zusätzlich zu neuen Leitungen auch intelligente Netze vor Ort.
({6})
Allein in den letzten 20 Jahren hat es einen enormen Zuwachs an neuen Stromproduzenten gegeben.
({7})
Noch vor 20 Jahren hatten wir 600 Stromproduzenten.
Heute haben wir über 1 Million Produzenten, die Strom
in das Verteilnetz einspeisen. Das ist auf der einen Seite
schön, aber das bedeutet auf der anderen Seite natürlich
auch, dass wir in den nächsten Jahren einen enormen
Koordinationsbedarf haben.
({8})
Wir müssen das Ganze stärker zusammenbringen und
vernetzen. Das wird eine riesige Herausforderung sein.
Auch da brauchen wir in den nächsten Jahren - gerade
im Verteilnetzbereich - mehr Professionalisierung. Das
können die Stadtwerke ohne Frage tun, aber die Frage
für uns wird sein, ob es in einem System, in dem der Flickenteppich der Verteilnetze eher bunter wird, sinnvoll
ist, immer kleinteiligere Systeme zu bekommen, und ob
wir in einem solchen System Dinge wie Smart Grids
oder gemeinsame Plattformen überhaupt hinbekommen.
Auch das muss für unsere Entscheidungsgrundlage eine
wichtige Frage sein, auch das dürfen wir nicht aus dem
Blickfeld verlieren.
({9})
Meine Damen und Herren, trotzdem ist es aber richtig: Wir müssen die Netzvergaben und die Konzessionsübergaben gesetzlich besser regeln; denn es gibt dort
ohne Frage Probleme.
({10})
In den nächsten Jahren werden über 2 000 Konzessionen
neu vergeben; auch das haben wir gerade gehört. Die
Kommunen müssen die Entscheidung treffen, welcher
Anbieter das Recht zur Nutzung der Leitungen für die
nächsten 20 Jahre bekommt.
({11})
Die Ziele des EnWGs sind dann wiederum die Grundlage für die Auswahl des neuen Konzessionärs.
({12})
Das beinhaltet ganz einfach eine sichere, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche Versorgung und keine weiteren Ziele, wie sie vorhin benannt
wurden. Ich glaube, das sollte für unsere Novellierung
der Maßstab sein.
Meine Damen und Herren, wenn es zu einer Neuvergabe der Netzkonzessionen kommt, entstehen vor Ort
viele Probleme und Unsicherheiten. Das ist für keine
Seite befriedigend. Deshalb hat sich die Große Koalition, wie schon beschrieben und wie bei vielen vorhergehenden Debatten schon gesagt, darauf verständigt, dass
wir eine neue gesetzliche Regelung auf den Weg bringen
werden, die Rechtssicherheit schafft. Wir werden noch
vor der Sommerpause hier ein Gesetz vorlegen, das oberste Priorität - die Rechtssicherheit garantiert. Darüber hinaus wollen wir im regulierten Netzgeschäft einen fairen Wettbewerb zwischen allen Beteiligten gestalten. Auch das sollte für uns Maßstab sein. Nur so können
letztendlich die Ziele der Verbraucher Eingang in die
Konzessionsübergabe finden.
({13})
Wenn man den Handlungsbedarf in den nächsten Monaten beschreiben will, dann fallen mir vier Handlungsfelder ein, die wir angehen müssen:
Erstens: die Rügepflicht. Diese müssen wir meines
Erachtens angehen. In vielen Fällen besteht nach der
Konzessionsvergabe Streit, ob es Fehler im Verfahren
gegeben hat. Durch eine Rügepflicht muss verhindert
werden, dass Verfahren nach Jahren rechtlich infrage gestellt werden. Deshalb brauchen wir klare Regeln, in
welchem Zeitraum ein Altkonzessionär rügen muss und
darauf aufbauend dann klagen darf. Anderenfalls können
sich Netzübergaben über viele Jahre hinziehen. Das wäre
für alle Seiten keine befriedigende Situation.
Zweitens: Wir haben die Weiterzahlung der Konzessionsabgabe. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Übergabe
von Netzen wird oft von Altkonzessionären erschwert
und verzögert. Dabei wird oftmals ein Jahr nach Ablauf
des ursprünglichen Konzessionsvertrages die Zahlung
von Konzessionsabgaben an die Gemeinden eingestellt.
Auch das haben wir schon unterschiedlich erlebt. Aus
unserer Sicht ist es sinnvoll, die Pflicht zur Zahlung der
Konzessionsabgabe bis zur Übertragung des Netzes fortbestehen zu lassen. Dieser Punkt ist für die Kommunen
wichtig, damit hier kein Geld verloren geht und keine
Rechtsunsicherheit besteht.
Drittens: die Bestimmung der wirtschaftlich angemessenen Vergütung. Hier wird es immer wieder Streit
geben. Wir sollten versuchen, das Handlungsfeld etwas
stärker einzuschränken. Unserer Auffassung nach besteht Handlungsbedarf.
Viertens: die Informationspflicht. Wir müssen darauf
aufbauen, dass die Daten an den nächsten Konzessionär
auch übergeben werden, dass die Datenvielfalt klar geregelt wird und dass nicht aufgrund von Rechtsunsicherheiten Dinge verhindert werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der den Kommunen in besonderer Weise in
den nächsten Jahren helfen wird.
Das sind vier zentrale Punkte, die wir vonseiten der
CDU/CSU in der kommenden Novellierung regeln wollen.
Die stärkere Gewichtung der kommunalen Interessen - die Linke hat das in ihrem Antrag eingebracht werden wir sicherlich prüfen und sehr intensiv diskutieren. Ich will aber auch betonen, dass wir die Maßgabe des Energiewirtschaftsgesetzes und die klare Regelung, dass die sichere, verbraucherfreundliche,
effiziente und umweltverträgliche Versorgung im Mittelpunkt steht, nicht verlassen wollen. Das ist ein ganz
zentraler Punkt unserer zukünftigen Novellierung. Die
Inhousevergabe werden wir ebenfalls prüfen; Frau Lay,
Sie haben es angesprochen. Ich rate, das Urteil des
BGH, das uns vorliegt und das sehr kritisch ist, genau
zu überprüfen. Ich sehe es ebenfalls kritisch, dass wir
im Falle der Kommunen kartellrechtliche Vorschriften
außer Acht lassen. Wir befinden uns hier auf einem
sehr schwierigen Feld und sollten mit Vorsicht vorgehen.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Konzessionsübergabe rechtssicher und verlässlicher gestalten.
Das wird in der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung
nicht einfach werden, aber der jetzige Zustand ist für alle
Beteiligten nicht befriedigend. Stadtwerke werden bei
der Konzessionsvergabe auch künftig eine große Rolle
spielen, jedoch werden sie sich auch dem Wettbewerb
stellen müssen. Die Rekommunalisierung kann kein
Selbstzweck sein.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Oliver
Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bareiß - ich spreche auch Herrn Koeppen an, der
zu diesem Antrag in der ersten Runde gesprochen hat -,
ich finde es, ehrlich gesagt, eine Frechheit, dass Sie sich
hierhinstellen und den kommunalen Entscheidungsträgern, Bürgermeistern aller Parteien Belehrungen erteilen, wie sie ihre verfassungsgemäße Verantwortung
beim Betrieb der Verteilnetze auszuüben haben und was
sie tun und lassen sollen. Das sollten Sie den gewählten
Vertretern in den Kommunen überlassen. Das ist deren
Aufgabe. Es ist nicht Ihre Aufgabe, sich hier an das Pult
zu stellen und zu sagen, was für Kommunen richtig und
falsch ist. Das ist deren Job. Machen Sie bitte schön Ihre
Hausaufgaben.
({0})
Meine Damen und Herren, ich gebe offen zu: Ich
habe mit der Kollegin Haßelmann die Berufung von
Frau Reiche als Geschäftsführerin des Verbandes der
kommunalen Unternehmen kritisiert. Ich habe mir dazu
manchen bösen Kommentar aus der Szene der Stadtwerke eingehandelt.
({1})
Aber wenn diese Berufung bei Ihnen am Ende zu etwas
mehr energiepolitischem Sachverstand führt, was kommunale Stadtwerke angeht, dann mache ich mit dieser
Berufung meinen Frieden, dann wäre es das wert gewesen; denn die Union irrlichtert bei dieser Frage ganz immens. Das muss ich Ihnen, Herr Bareiß, schon sagen; Sie
haben es mit Ihrer Rede wieder deutlich gemacht.
({2})
Wir Grüne finden, dass eine Kommune selbst frei entscheiden soll, ob sie das örtliche Gasnetz alleine betreiben will oder ob sie einen Privaten damit beauftragen
will.
({3})
- Das ist die Grundlage dessen. Es gibt eigentlich nur
zwei Bedingungen: Es muss technisch funktionieren,
und die Entscheidung muss am Ende transparent sein.
Herr Bareiß, es ist ein absolutes Unding, dass Sie sich
jetzt hierhinstellen und sagen: Ja, es gibt da Probleme
mit dem Energiewirtschaftsgesetz. - Denn es waren genau Sie von der Union, auch Sie als Person, die dieses
Energiewirtschaftsgesetz im Jahr 2011 geändert haben.
Ich empfehle Ihnen, in die Protokolle der Anhörungen
des damals zuständigen Umweltausschusses zu schauen:
Alle Sachverständigen haben Ihnen genau das vorausgesagt, was passiert ist. Wir haben dazu zusammen mit den
Kollegen von der SPD Anträge eingebracht. Jetzt sagen
Sie hier: Ach ja, da sind ein paar Probleme aufgetaucht. Sie haben das ganz bewusst gemacht, haben es sehenden
Auges getan,
({4})
weil Sie nämlich nicht wollten, dass die Kommunen frei
entscheiden können. Sie wollten, dass das bei den Konzernen verbleibt; Sie wollten da ein Geschäftsmodell erhalten. Das ist klar. Es waren damals Pfeiffer, Fuchs und
Bareiß, die energiepolitische Todeszone in der Union,
die genau das wollten, die wollten, dass hier am Ende
Rechtsunklarheit entsteht.
({5})
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Es ist gut so, wie es in
Deutschland in der Vergangenheit gelaufen ist.
({6})
Nur haben wir seit vier Jahren ein Problem, das Sie geschaffen haben. Wir haben 700 Verteilnetzbetreiber. Es
gibt viele Studien, die zeigen, dass gerade die kleinen,
kommunalen Anbieter die Netze mindestens genauso gut
betreiben können wie die großen. Mehr noch: Es gibt
eine Studie aus Baden-Württemberg, die belegt, dass
kommunale Verteilnetzbetreiber die Netze effizienter betreiben als große. Deshalb sollten wir die Entscheidungsmöglichkeiten der Kommunen an dieser Stelle stärken
und die Rechtsunsicherheit, die Sie geschaffen haben,
beenden, damit die Kommunen frei entscheiden können.
({7})
Ich will einen ganz entscheidenden Punkt nennen - Sie
haben ihn interessanterweise auch erwähnt -, den wir
2011 und danach rauf und runter diskutiert haben. Da geht
es um die Frage des Kaufpreises: Was muss beim Übergang des Netzes gezahlt werden? Ich sage ganz klar: Wir
waren uns mit den Kollegen von der Sozialdemokratie
völlig einig
({8})
- und sind es, wie ich hoffe, immer noch; dazu werden
wir gleich etwas hören -, dass wir an dieser Stelle die
Klarstellung brauchen, dass der Ertragswert die Grundlage sein muss, damit nicht jahrelange Prozesse zu der
Frage stattfinden, was gezahlt werden muss. Diese Unklarheit im Hinblick auf den Kaufpreis - das wurde von
Ihnen im Gesetz bewusst unklar gelassen - führt dazu,
dass wir jahrelange Gerichtsauseinandersetzungen haben, dass dieses Gesetz ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Juristen, Berater und Gerichte ist, das am
Ende - das ist die Realität - ganz viele Kommunen davon abschreckt, sich überhaupt der Frage zu nähern, den
Betreiber ihres Netzes zu wechseln, weil sie vor den
Rechtsabteilungen von Konzernen Angst haben. Da erwarte ich, dass Sie das klarstellen und in das Gesetz
schreiben, dass der Ertragswert beim Eigentumsübergang zugrunde zu legen ist. Das wäre eine notwendige
und richtige Entscheidung.
({9})
Meine Damen und Herren, es ist gut, dass wir das hier
und heute wieder diskutieren und die Kollegen von den
Linken einen neuen Antrag dazu stellen, der etwas andere
Aspekte aufgreift. Das werden wir wieder im Ausschuss
beraten, Sie werden das dann wieder alles ablehnen, und
dann kommt das hier wieder zurück. Ich kündige Ihnen
jetzt schon einmal an: Dann werden wir einen Antrag einbringen, einen Gesetzentwurf vorlegen,
({10})
und dann wird es mit dem Thema weitergehen. Ich hoffe
ja, dass Sie an dieser Stelle das wahrmachen, was Sie
seit anderthalb Jahren ankündigen und was Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Herr Koeppen - Sie reden
gleich noch -, vor ein paar Wochen haben Sie dazu gesagt: Das ist gar nicht notwendig; man muss am Energiewirtschaftsgesetz gar nichts ändern. - Ich bin gespannt,
wann tatsächlich konkret etwas kommt.
Ich habe vor ein paar Tagen eine Stellungnahme des
Städte- und Gemeindebunds und der kommunalen Spitzenverbände insgesamt bekommen. Darin werden Sie
aufgefordert, hier endlich aktiv zu werden. Es besteht
eine dringende Notwendigkeit. Herr Bareiß, Sie würden
sich keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn Sie
sagten: Wir haben 2011, weil wir in energiepolitischer
Hinsicht etwas anderes wollten und vom Atomausstieg
gebeutelt waren, eine irrsinnige Entscheidung getroffen.
- Es wäre gut, wenn das hier einmal gesagt würde. Dann
könnten wir nämlich eine ehrliche Debatte führen. Das
wäre eine gute Basis.
({11})
Wir als Grüne werden uns weiter dafür einsetzen,
dass Kommunen, die das wollen, ihre Netze selber übernehmen und frei darüber entscheiden können. Wir sind
der Auffassung - das unterscheidet uns wirklich von Ihnen -, dass der Netzbetrieb das Rückgrat für ein kommunales Stadtwerk sein kann und dass ausgehend von diesem Rückgrat ein Stadtwerk entstehen kann, mit dem
Energie- und Klimapolitik im Sinne der Daseinsvorsorge
für alle Bürger gemacht werden kann und mit dem ein
Mehrwert für die Gemeinde und für die Menschen geschaffen wird.
({12})
Herr Bareiß, ich bin der Auffassung, dass die Netzentgelte eher in die Gemeindekasse gehören, als dass sie in
einer Konzernkasse klingeln. Das ist am Ende die bessere Politik.
Ich danke Ihnen.
({13})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Florian Post
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Für und Wider der Rekommunalisierung
und der Übernahme von Netzen ist bereits sehr kontrovers diskutiert worden. Es gab auch zwei Bürgerentscheide in Hamburg und Berlin. Wir müssen mittlerweile aufpassen, dass dieses Thema nicht zur Kernfrage
stilisiert wird, wenn es um das Gelingen der Energiewende geht.
Natürlich stehen viele Gemeinden und Städte vor der
Frage, wie sie sich in Zukunft organisieren: mit eigenen
Gesellschaften bei Netzen, in privaten Netzgesellschaften, in kommunalen Gesellschaften oder eben in öffentlichen Eigenbetrieben. Wir in der SPD sind der Überzeugung, dass eine gut durchgeführte Rekommunalisierung
von Stromnetzen den Wettbewerb belebt und den Städten und Kommunen und damit letztendlich auch den
Verbraucherinnen und Verbrauchern dient.
({0})
Was die neu gegründeten Stadtwerke angeht, haben
wir seit 2007 eine Gründerzeit erlebt. Es waren 80 an der
Zahl. 200 Gemeinden haben seitdem erfolgreich Konzessionen für Stromnetze übernommen. Dazu gehören
Großstädte wie Stuttgart, Dresden und Hamburg, aber
auch kleinere Gemeinden und kleinere Kommunen.
Auch dem Dorf Putzbrunn in Bayern mit 6 000 Einwohnern ist das beispielsweise gelungen. Allein in Bayern
laufen 2017 200 Konzessionsverträge aus. Ich glaube,
gelesen zu haben, dass es bundesweit so an die 2 000
sein werden.
Um eines klarzustellen: Kommunen sorgen mindestens genauso gut für eine sichere Stromversorgung wie
private Netzbetreiber.
({1})
Um was geht es jetzt? Es geht um die rechtlichen
Klarstellungen bei der Übernahme von Konzessionen;
das wurde bereits öfter angesprochen. Diese müssen in
der Tat verbessert werden. Hier bedarf es Klarstellungen
in Bezug auf verschiedene Punkte, auf die ich später
noch eingehen werde. Es muss aber auch klargestellt
werden, dass es eben keine bedingungslose Rekommunalisierung ohne objektive und in diesem Fall nachvollziehbare Kriterien geben kann.
Wir als Koalition werden den Übergang von einem
Netzbetreiber zum anderen noch in diesem Jahr vereinfachen. Angestrebt ist - Kollege Bareiß hat das bereits
gesagt -, dass wir hier noch vor der Sommerpause einen
gut durchdachten Vorschlag vorlegen werden. In diesem
werden wir uns natürlich der Frage widmen, wie wir
Schikanen von Altkonzessionären, die sich vor Wettbewerb schützen wollen - das Problem ist erkannt -, vorbeugen, weil sie für uns inakzeptabel sind und von uns
nicht akzeptiert werden, wenn wir einen Vorschlag vorlegen.
({2})
Diese Schikanen bestehen oftmals darin, dass über
den Kaufpreis gestritten wird, der zu hoch angesetzt ist.
Dann wird darüber gestritten, welcher Wert überhaupt
zugrunde gelegt wird; hier plädieren wir klar für den Ertragswert. Dann werden oftmals überzogene Entflechtungskosten angesetzt. All das zieht jahrelange Rechtsstreitigkeiten nach sich, vor denen sich natürlich viele
Kommunen zu Recht scheuen. Viele Kommunen sind
auch nicht in der Lage, das finanziell durchzustehen.
Wir wollen rechtliche Klarstellungen und Informationspflichten, gerade auch was die Herausgabe von
Netznutzungsdaten usw. der Altkonzessionäre anbelangt, im neuen Gesetzentwurf verankern. Ich glaube,
dass wir auf einem guten Weg sind und das glattziehen
bzw. den Schikanen vorbeugen können.
Die Kommunen können sich anhand von objektiv
nachprüfbaren Kriterien um solche Konzessionen bewerben - es bedarf solcher Kriterien -, und sie können
diese Kriterien sogar selbst gewichten. Aber einen bedingungslosen kommunalen Vorrang halten wir nicht für
sinnvoll, so wie das im Antrag der Linken gefordert
wird, Frau Lay. Hier unterscheiden wir uns. Vielmehr
muss es so sein: Die Kommune muss die Kriterien, die
zugrunde gelegt werden, genauso gut erfüllen wie ein
privater Mitbieter. Nach meiner Auffassung sollte erst
dann die Kommune den Vorrang haben.
({3})
Wenn die Kommune die Kriterien allerdings schlechter
erfüllt als ein privater Mitbewerber, dann ist es weder im
Interesse der Kommune noch im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, dass die Kommune den Zuschlag erhält. Kommunaler Eigenbetrieb ist eben kein
Selbstzweck. Er muss sich an objektiv nachprüfbaren
Kriterien messen lassen.
Herr Kollege Post, lassen Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Kühn vom Bündnis 90/Die Grünen zu?
Selbstverständlich.
Danke, Herr Kollege Post, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben gerade über Kriterien und
über die Erfüllung dieser Kriterien gesprochen. Sie haben gesagt, dass die Kommunen die Kriterien genauso
gut erfüllen sollen. Nun habe ich die Kolleginnen und
Kollegen der Union immer so verstanden, dass die Kommunen die Kriterien besser erfüllen sollen. Was gilt denn
nun in dieser Großen Koalition? Was planen Sie in Ihrem Gesetzentwurf?
Zunächst möchte ich festhalten: Der Koalitionsvertrag in dieser Frage ist eindeutig. Wir gehen davon aus,
dass der Koalitionsvertrag für alle an der Koalition beteiligten Parteien gilt.
Sie zielen auf eine Bemerkung eines Kollegen im
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ab, auf die ich genau das Gleiche entgegnet habe, was ich eben in meiner
Rede klargestellt habe. Für uns gilt: Die Kommune muss
die Kriterien genauso gut erfüllen und hat dann den Vorrang zu erhalten. Sie darf im Vergleich zu einem privaten
Mitbieter nicht schlechter gestellt werden.
({0})
Die Stadtwerke sorgen überall in Deutschland für
hohe Versorgungsqualität. Wir wollen Sorge dafür tragen, dass das auch so bleibt. Wir dürfen allerdings nicht
den Fehler begehen, den Bürgerinnen und Bürgern einzureden, dass man durch die Übernahme einer Konzession Spielräume bei der Gestaltung der Verbraucherpreise hätte. Wir haben hier in Deutschland die
Trennung von Vertrieb und Erzeugung, das sogenannte
regulatorische Unbundling. Das gilt natürlich in Zukunft
auch für Kommunen und Stadtwerke. Man darf nicht
den Fehler machen, irgendwelche Mythen in die Welt zu
setzen. Das würde später zu Enttäuschungen führen.
Bis Ende 2017 werden fast alle auslaufenden Konzessionen für viele Jahre neu vergeben. Daher ist in der Tat
- das ist auch in Ihrer Begründung durchgedrungen schnelles Handeln geboten. Das haben wir in der Großen
Koalition und als SPD-Fraktion erkannt. Deswegen werden wir aufs Tempo drücken. Wir werden vor der Sommerpause einen wohl durchdachten Vorschlag vorlegen
- ich sehe durchaus Chancen, dass wir uns mit der Opposition einigen können -, der den Kommunen und den
Verbraucherinnen und Verbrauchern dient. In diesem
Sinne: Wir werden zu einem guten Ergebnis kommen,
das für alle tragbar sein wird.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. Als nächster Redner hat Jens Koeppen
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Kollegin Lay und lieber Kollege
Krischer, ich finde es bemerkenswert: Ich habe noch gar
nichts gesagt, und trotzdem wurde ich schon dreimal erwähnt.
({0})
Da kann ich so viel nicht falsch gemacht haben.
({1})
Vielen Dank für die Vorschusslorbeeren.
Ich muss Sie enttäuschen: Ich werde nicht so viel anderes sagen. Sie haben diese Anträge mittlerweile dreimal gestellt, mit gleichem Inhalt und fast gleichem Text.
Wir haben darüber im Plenum und auch im Ausschuss
gesprochen.
({2})
Die Argumente sind also ausgetauscht. Deswegen
möchte ich meine Redezeit heute darauf verwenden, auf
die Mythen einzugehen, die Sie in Ihrer Argumentation
fortwährend vortragen. Ich möchte darauf eingehen, dass
es schlicht und ergreifend nicht stimmt, was Sie hier erzählen.
Der eine Mythos ist: Stadtwerke können keine Netze
übernehmen, bzw. wir würden es den Stadtwerken
schwer machen, Netze zu übernehmen. Außerdem seien
wir per se gegen die Kommunalisierung.
({3})
Darauf werde ich eingehen. Ich werde auch darauf eingehen, dass Sie immer wieder sagen, die öffentliche
Hand sei per se der bessere Unternehmer und die
Rekommunalisierung habe nur Vorteile und löse alle
Probleme. Sie sagen auch immer - das ist der dritte
Mythos -, dass laut Koalitionsvertrag alles geändert
werde, was jetzt im EnWG, im Energiewirtschaftsgesetz,
steht. Darauf werde ich letztendlich auch eingehen.
Sie haben mittlerweile drei Anträge gestellt, und immer wieder fordern Sie in den Anträgen mehr Staatswirtschaft.
({4})
- Staatswirtschaft, Kommunalwirtschaft, für mich gibt
es da nicht so viele Unterschiede.
({5})
Sie sagen ja auch, dass der Wettbewerb ausgeschaltet
werden soll,
({6})
wenn Sie die gesetzliche Festschreibung der Direktvergabe ohne ein entsprechendes Auswahlverfahren und
ohne Ausschreibung fordern. Sie wollen quasi zulassen,
dass auf Zuruf der Gemeinden die Netze an die Stadtwerke über eine Inhousevergabe übergeben werden. Das
wird nicht funktionieren, und das kann auch nicht funktionieren. Deswegen sagen wir natürlich zum Mythos
eins: Das kann nicht gut gehen. Staat vor Markt ist kein
Erfolgsmodell. Ich kenne keine einzige Volkswirtschaft,
die so funktioniert hat.
Wir haben uns in Deutschland die soziale Marktwirtschaft sehr mühsam, aber sehr erfolgreich aufgebaut.
Wenn Sie nach 25 Jahren immer noch Probleme mit der
sozialen Marktwirtschaft haben,
({7})
dann müssen Sie das mit sich ausmachen, aber nicht mit
uns.
Die Kommunalisierung muss - dabei bleibe ich; da
haben Sie mich richtig zitiert - eine Ausnahme bleiben.
Das ist de facto so.
({8})
Es gilt: Nicht um jeden Preis kommunalisieren, sondern
da, wo es passt, aber nicht dort, wo es geht. Außerdem
sage ich: Wenn Kommunen es besser machen oder genauso gut machen. Dieses Bessermachen ist ein Prinzip
der Subsidiarität; diese ist in verschiedenen Kommunalverfassungen der Länder eindeutig festgeschrieben. Es
gibt die starke Subsidiarität, und es gibt die schwache
Subsidiarität. Die starke Subsidiarität besagt - so steht es
in einigen Kommunalverfassungen der Länder -, dass
die Kommunen es wirtschaftlich besser machen müssen
als wirtschaftlich arbeitende private Unternehmen. Das
ist gelebte Subsidiarität. Wir wollen sie nicht aushöhlen,
sondern wir wollen die Kommunalverfassungen stärken.
Wer etwas anderes möchte, stellt die Systemfrage. Das
ist mit uns nicht zu machen.
({9})
- Ja, natürlich.
Herr Kollege Koeppen, lassen sie eine Zwischenfrage
zu?
Nein. Wir haben insgesamt 96 Minuten Debattenzeit,
die Fraktionen haben ihre Redezeitkontingente, und wir
haben bereits dreimal darüber geredet.
({0})
Sie sollten einmal zuhören und die Argumente akzeptieren. Parlament besteht aus Rede und aus Gegenrede, aus
Argumenten und Gegenargumenten.
({1})
Jetzt bin ich mit meinen Gegenargumenten dran.
({2})
Akzeptieren Sie das einfach einmal, und hören Sie bitte
zu.
Mythos zwei lautet: Stadtwerke können Netze nicht
übernehmen, oder es wird ihnen sehr schwer gemacht. Stadtwerke können sehr wohl Netze übernehmen, und
Stadtwerke übernehmen in zahlreicher Form in Deutschland Netze. Ein Stadtwerk in der Kreisstadt meines
Wahlkreises, in Prenzlau, hat Netze übernommen. Es ist
denen weiß Gott nicht leichtgefallen. Denn dafür muss
ein Stadtwerk leistungsstark sein. Stadtwerke müssen
sich damit ganz klar auseinandersetzen. Natürlich können sie sich ein zweites oder drittes Standbein aufbauen
- das kann auch hilfreich sein -, aber sie dürfen den
Wettbewerb nicht scheuen, und sie müssen eine klare Risikobewertung vornehmen. Diese Risikobewertung ist
aus meiner Sicht sehr wichtig, weil sie auch das
Unbundling-Verfahren des Dritten EU-Energiebinnenmarktpaketes anwenden müssen. Das machen die meisten Stadtwerke; das wollen sie auch. Deswegen, liebe
Frau Lay, wird es auch keine Änderung des § 1 des
EnWG, des Energiewirtschaftsgesetzes, geben, wie Sie
es ja in der Begründung zu Nummer 2 Ihres jüngsten
Antrags fordern. Ich lese Ihnen vor, was in § 1 EnWG
steht: Ziel „ist eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche
leitungsgebundene Versorgung … mit Elektrizität und
Gas“. Was bitte davon soll ich ändern? Also wird es dabei bleiben.
({3})
Eine Übernahme durch die Stadtwerke kann erfolgreich sein; ohne Zweifel, das ist gar keine Frage. Deswegen gibt es ja auch zahlreiche Übernahmen. Aber es gibt
keine Garantie auf Erfolg. Die Stadtwerke sind auch
nicht per se eine Cashcow, ein wie auch immer gearteter
Goldesel. Deswegen braucht es ein gutes Management.
Die Stadtwerke, die das nachvollziehen, haben ein gutes
Management.
({4})
Es muss eine klare Risikobewertung geben. Es gibt
einen sehr hohen Investitionsbedarf. Es muss eine
Versorgungsgarantie übernommen werden. Es muss ein
Service übernommen werden.
({5})
Vor allen Dingen, Herr Krischer, ist es nun einmal so:
Verluste können bei einer so hohen Investition auftreten.
Wenn es sie dann gibt, entstehen Konkurrenzsituationen
zu anderen staatlichen Aufgaben
({6})
wie Kitas, Schulen, Sportplätze und Kultur. Solche Entscheidungen müssen die Bürgermeister in den Kommunen dann auch vertreten.
({7})
Wenn etwas in einem Stadtwerk schiefläuft, entsteht eine
Konkurrenzsituation zwischen Aufwendungen für die
Verluste und Mitteln für andere Aufgaben.
Deswegen sagen wir: Es muss zum Vorteil der Gesellschaft sein, es muss zum Vorteil der Kommunen sein, es
muss zum Vorteil der Kunden sein. Preis und Leistung
müssen stimmen. Es muss um Daseinsvorsorge gehen,
und es darf keine Daseinsberechtigung werden. Wenn
ich mir manche Stadtwerke ansehe - ich kann Ihnen
konkrete Beispiele nennen -, komme ich zu dem
Schluss: Es geht teilweise um Daseinsberechtigung,
nicht nur um Daseinsvorsorge. Wir müssen also aufpassen, dass wir das richtig machen.
Jetzt komme ich zum Mythos Nummer drei. Sie sagen, wir wollten jetzt laut Koalitionsvertrag alles ändern.
Der Kollege Bareiß hat schon ziemlich deutlich gesagt
- auch die Kollegen von der SPD haben das schon erwähnt bzw. werden es noch tun -, und wir sagen ganz
klar - nicht mehr und nicht weniger steht im Koalitionsvertrag -: Wir werden das Bewertungsverfahren bei der
Neuvergabe evaluieren und verbessern. Wir werden darüber hinaus die Transparenz verbessern. Es ist doch gar
keine Frage, dass es da Dinge gibt, die zu verbessern
sind. Das werden wir auch tun.
({8})
Auch die Rechtssicherheit muss verbessert werden.
Verbessern heißt aber doch, aus etwas Gutem etwas
Besseres zu machen. Wir werden das, was schon da ist,
aber nicht abschaffen. Deswegen: Lassen Sie uns doch
erst einmal Vorschläge machen. Dann sehen wir weiter.
Letztendlich wollen wir sagen können: Wenn Transparenz gewährleistet ist und die Wirtschaftlichkeit da ist,
können die Stadtwerke bei einer Vergabe ganz gezielt
zugreifen. Aber es muss bei einer Ausschreibung bleiben.
Verbessern heißt nicht abschaffen. Deswegen: § 1 des
Energiewirtschaftsgesetzes wird definitiv bleiben. Es
wird keine Direktvergabe ohne Auswahlverfahren und
Ausschreibung geben. Das kann es auch gar nicht geben,
weil das europarechtlich gar nicht möglich ist. Auch die
Subsidiarität wird bleiben. Die Kommunalverfassungen
werden nicht angefasst.
({9})
Vor allen Dingen müssen auch die UnbundlingVorschriften eingehalten werden.
Es gibt mit uns keine Gesetzesänderung, die den
Wettbewerb im Netzbereich abschafft. Es wird allerdings - ich habe das bereits gesagt - Veränderungen im
Sinne der Transparenz geben. Damit werden wir den
Wettbewerb stärken. Wir werden die Vergabeentscheidungen verbessern. Wir werden dadurch natürlich auch
die Ausschreibungen klarer gestalten können. Das alles
ist in Ordnung; lassen Sie uns also darüber nachdenken.
Aber eine Änderung in Richtung irgendeiner wie auch
immer gearteten Staatswirtschaft wird es mit uns nicht
geben.
Schauen Sie - darauf muss ich als Brandenburger
hinweisen -, Berlin und Brandenburg haben einen Flughafen, der ewig nicht fertig wird.
({10})
Ich sage Ihnen: Wir brauchen nicht mehr BER, wir brauchen weniger BER.
({11})
Deswegen: Lassen Sie uns an guten Bedingungen arbeiten, damit die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb
stimmen, und gemeinsam dafür sorgen, dass es im Bereich des Energiewirtschaftsgesetzes zu Verbesserungen
kommt. Mit uns wird es aber keine Abschaffung geben.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Bevor Eva Bulling-Schröter von der
Linken das Wort erhält, erhält Herr Gambke vom Bündnis 90/Die Grünen für eine Kurzintervention das Wort.
Vielen Dank. - Herr Koeppen, Sie haben ja meine
Frage nicht zugelassen. Nun haben Sie in Ihrer ganzen
Rede über das Thema Marktwirtschaft gesprochen und
gerade so getan, als habe im Energiebereich immer
Marktwirtschaft geherrscht. Wir hatten aber über Jahre
und Jahrzehnte eine starke Monopolbildung. Jetzt geht
es darum, dieses Monopol aufzubrechen.
({0})
Genau dagegen sehe ich Widerstände bei Ihnen.
So ist zum Beispiel das marktwirtschaftliche Prinzip
der Ertragswertbetrachtung ein zentraler Punkt, bei dem
diejenigen, die in den Wettbewerb eintreten wollen,
Rechtssicherheit brauchen. Diesen Wettbewerb, der aufgrund der Monopolbildung jahrelang verhindert war,
wollen wir ja. Das ist eine Sache, der sich die Stadtwerke
stellen werden und stellen müssen. Dabei sollten aber,
bitte schön, Bedingungen vorherrschen, damit sie auf
gleicher Augenhöhe mit den großen Konzernen stehen.
Genau darum geht es. Aber eben da sehe ich keine Bewegung in der Union, sondern eher ein Bremsen. Das
war genau der Punkt, der mich dazu veranlasst, zu glauben, dass Ihr Plädoyer für Markwirtschaft nicht ehrlich
ist.
({1})
Herr Koeppen, Sie haben Gelegenheit zur Erwiderung.
Dass wir, wie Sie gerade gesagt haben, gegen eine
Aufweichung der Monopole seien, ist so nicht richtig.
Wir lassen doch den Wettbewerb zu: Stadtwerke können
logischerweise durch dieses Unbundling-Verfahren jetzt
Netze übernehmen. Nur, das darf auch nicht umgedreht
werden. Es kann natürlich nicht sein, dass wir durch eine
Direktvergabe ohne Ausschreibung, ohne Auswahlverfahren
({0})
ein Monopol in die andere Richtung bekommen. Deswegen: Das, was jetzt schon möglich ist, nämlich dass
Stadtwerke Netze übernehmen, können wir befördern,
indem wir - Herr Kollege Bareiß hat es ja angedeutet die Transparenz verbessern, die Ausschreibungsbedingungen verbessern, alles, was dazugehört. Das ist alles
im Werden und wird demnächst auch vorgelegt. Dann
können sich Stadtwerke melden, können an einer Ausschreibung teilnehmen, aber nicht so, wie es die Linksfraktion fordert, also ohne die ganzen Vorschriften,
Unbundling-Vorschriften usw., die wir jetzt schon haben.
Mit uns wird es keine Umdrehung des Wettbewerbs geben - eine Verbesserung des Wettbewerbs, ja, aber eine
Umdrehung nicht.
({1})
Frau Kollegin Bulling-Schröter, jetzt haben Sie das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die letzte Debatte zu diesem Thema fand ja Ende Januar
an einem Freitagnachmittag statt. Auch da wurde groß
debattiert, vor allem mit der CDU/CSU, die sich da regelrecht aufgeregt hat.
Herr Kollege Koeppen, Sie haben damals gesagt und
jetzt wieder behauptet, die Linke wolle die Systemfrage
stellen, weil sie öffentlichem Eigentum Vorrang vor privatem geben würde. Da frage ich mich schon, wie Sie
sich das System vorstellen, und für mich zeigt das auch,
wie Sie denken: Da wird Staatswirtschaft kritisiert, wird
behauptet, die Kommunen könnten Aufgaben weniger
gut wahrnehmen als private Dienstleister. Ich werde einmal schauen, wie die Kommunalvertreter auf solche
Vorhaltungen reagieren. Ich komme aus Bayern; da ist
die Mehrheit bei der CSU. Ich weiß nicht, ob Sie diesen
Leuten das so sagen wollten. Aber das muss man denen
einmal sagen, wie die Vertreter hier in Berlin sie einschätzen.
({0})
Wir sind ja gewohnt, dass die Union bisweilen so reagiert wie ein Stier, wenn er ein rotes Tuch sieht.
({1})
Ich sage auch nicht, dass Sie von der CDU/CSU keine
Angst vor uns haben brauchen. Aber diesmal geht es um
Stadtwerke und um Kommunen. Wenn das wirklich
schon ein „Systemwechsel“ sein soll, dann muss ich
wirklich sagen: Es geht hier doch um die ureigensten
Rechte der Kommunen. Bei uns sind die Kommunalvertretungen alle gewählt, sie sind so zusammengesetzt, wie
die Bevölkerung das will bzw. in der Form, dass ihrer
Meinung nach so ihre Interessen vertreten werden.
Ich glaube, Sie haben da einfach etwas nicht richtig
verstanden oder wollen es nicht richtig verstehen: Es
geht hier um die Vergabe von Konzessionen durch die
Kommunen in der Regel für 20 Jahre. Und man muss
den Leuten sagen: Wenn jetzt nichts passiert, dann
bekommen die großen Energiekonzerne für weitere
20 Jahre die Konzession, dann ist die Gelegenheit für
eine Neuordnung erst mal wieder vorbei. Dieses Verfahren beruht darauf, dass die Kommunen das Wegerecht
besitzen. Wenn Sie nun denken, dass Private Vorrang haben sollten, hat das mit Subsidiarität nichts zu tun.
Gehen wir einmal zurück! Reden wir einmal über die
Liberalisierung der Energiemärkte damals unter Kohl!
Ich war damals schon im Bundestag. Ich kann mich noch
gut erinnern: Da gab es einen Abgeordneten Rupert
Scholz, von Beruf Rechtsanwalt, der damals darauf spekuliert hat, die Konzessionsabgabe ganz abzuschaffen.
Er wollte den Kommunen also auch die Einnahmemöglichkeit nehmen. An so etwas muss man erinnern! Ich
war in einer Enquete-Kommission zu Energiefragen. Da
gab es ein Gesamtvotum - das haben auch CDU/CSU
und FDP damals mitgetragen -, in dem von der Gefahr
von Oligopolen gesprochen worden ist. Das haben Sie
alle unterschrieben. Das sollten Sie in diesen Unterlagen
noch einmal nachlesen, weil das einfach wichtig ist.
({2})
Damals war das vorprogrammiert, und damals hat
man uns auch erzählt, es gehe um die Verbraucher. Ich
kann mich noch daran erinnern: Die Verbraucherpreise
wurden um 40 Prozent erhöht, und die Preise für die großen Konzerne wurden gesenkt. Schon damals ging es darum, und jetzt ist das wieder so.
({3})
Man sieht, welche Interessen Sie vertreten. Wir wollen den Kommunen zu ihrem Recht verhelfen. Ich zitiere
jetzt einmal das Grundgesetz. In Artikel 28 des Grundgesetzes steht, dass die Gemeinden das Recht haben, die
Angelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft in eigener
Verantwortung zu regeln. - Lesen Sie das einmal!
Herr Bareiß, Sie sagen, die Rekommunalisierung
könne kein Selbstzweck sein.
({4})
Was meinen Sie denn damit? Meinen Sie damit, dass alles privat werden soll? Es gibt natürlich überall solche
und solche.
Bei der SPD gab es auch etwas Merkwürdiges: In der
letzten Debatte wurde gesagt, dass die Rekommunalisierung der Netze nicht immer besser sei und auch teuer für
die Kommunen sei. Kollege Post hat das jetzt zum Teil
relativiert.
({5})
Hier sehe ich also auch ein Umdenken. Wenn man hier
etwas ausbügelt, dann werden wir das natürlich auch unterstützen.
Ich möchte jetzt noch einmal ganz klar sagen: Wir
wollen keine Kommune zwingen, ihre Netze zurückzukaufen, wie das hier immer behauptet wird, aber wir
möchten, dass den Kommunen, die ihre Netze zurückkaufen wollen, dabei keine Steine mehr in den Weg gelegt werden.
({6})
Beispiele dafür erleben wir ja ständig. Und es geht um
die Stärkung der Kommunen. Sie haben das bitter nötig.
Tatsache ist doch: Die Städte können nicht einfach darüber entscheiden und die Netze zurückkaufen, sondern
sie müssen oft Klagen fürchten, die häufig gegen sie ausgehen.
Ich war in einer Kommune in Nordrhein-Westfalen.
Der dortige Bürgermeister, der sehr schlitzohrig war, hat
mir gesagt: Wissen Sie, Frau Bulling-Schröter, wenn ich
keinen Spezi gehabt hätte, der vor seinem Renteneintritt
zufällig in der Konzernspitze eines Energiekonzerns tätig war, dann hätte ich das nie erreicht. - Diese Kommune wurde jetzt als Klimakommune ausgezeichnet,
und darauf bin ich stolz.
({7})
Weil wir wollen, dass es noch viel mehr solcher Kommunen gibt, dass sie wirklich die Chance haben, zur
Energiewende beizutragen, und dass die Bürger wieder
mehr zu sagen haben, deshalb wollen wir die Rekommunalisierung.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Johann
Saathoff von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte über die Rekommunalisierung
der Energienetze - es sind übrigens nicht nur Stromnetze, sondern oft auch wirtschaftlich untrennbar damit
verbundene Gasnetze - ist zunächst einmal keine Preisdebatte und auch keine Debatte über die Einrichtung von
Möglichkeiten für eine Kommune, eine bestimmte Form
der Stromerzeugung für ihr Netz zu präferieren.
Über diese Fragen diskutieren wir in diesen Tagen
zwar auch sehr viel, aber in einem ganz anderen Kontext. Mit einem Grünbuch und einem darauf folgenden
Weißbuch wollen wir ein neues Strommarktdesign entwickeln - und das noch in diesem Jahr. Dort geht es um
die Frage, wie wir die Energieversorgung in Deutschland
zukünftig preisgünstig, umweltfreundlich und sicher gestalten können. Die Netze sind nur ein Teilaspekt dieses
Grünbuchs.
Heute reden wir aber nicht über den Netzausbau
schlechthin, sondern wir reden über das Management
der Verteilnetze. Die Verteilnetzbetreiber haben eine
enorme Verantwortung gegenüber den privaten Haushalten und den Betrieben ihres Netzgebietes. Diese wollen
dauerhaft versorgt werden, und es soll möglichst nicht
zu Netzengpässen kommen. Das ist aus meiner Sicht die
Kernaufgabe eines Verteilnetzbetreibers.
Nach dem vorliegenden Antrag soll die Inhousevergabe der Netze ermöglicht werden. Eine Gemeinde soll
sich also beispielsweise bei der Vergabe der Konzession
entscheiden können, ob sie das Netz selber betreibt oder
ob sie das Netz öffentlich und zu besten Bedingungen
ausschreibt.
Über meine Erfahrungen hinsichtlich der Komplexität
bei der Übernahme der Netze habe ich bereits beim letzten Mal berichtet. Die Frage ist doch weniger ob, als
vielmehr wie die Rekommunalisierung durchgeführt
werden soll.
({0})
Darüber werden wir uns in den Fraktionen intensiv zu
unterhalten haben.
Ich persönlich finde es eigentlich richtig, dass sich
Städte und Gemeinden dem Wettbewerb stellen; denn
dadurch müssen sie sich genau mit den voraussichtlichen
Risiken eines Netzbetriebes beschäftigen. Meiner Ansicht nach liegt das im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger.
({1})
Unter Umständen müssen die Netzbetreiber nämlich
enorme Summen in das Netz investieren. Erlöse für ihre
Investitionen bekommen sie aber oft erst Jahre später.
Netze müssen ertüchtigt werden. Bei der Erstattung
dieser Investitionen hat man je nach Investitionszeitpunkt eine Refinanzierungslücke von bis zu sieben Jahren zu überbrücken. Von der Frage, wie wir mit den jeweiligen Kommunalaufsichten und wie diese mit den
jeweiligen Darlehenssummen umgehen sollen, will ich
an dieser Stelle erst einmal gar nicht reden.
Ein Instrument für Investitionsmaßnahmen wie bei
den Übertragungsnetzbetreibern gibt es in den Verteilnetzen übrigens nicht. Darüber hinaus muss der Verteilnetzbetreiber jedes Jahr seine Effizienzvorgaben
erfüllen.
Beim Personalübergang können enorme Mehrkosten
drohen; denn die Tarifverträge der Netzbetreiber liegen
meist deutlich höher als die der Kommunen - leider, wie
ich als ehemaliger Kommunalbeamter sagen muss. Zum
Teil kommen private Sonderregelungen in der Altersvorsorge der zu übernehmenden Mitarbeiter hinzu. Unter
Umständen gibt es dann in der Gemeinde zwei Klassen
von Beschäftigten. Auch das kann keiner wollen.
Mit Blick auf die kommunalen Haushalte und die
Kommunalaufsicht ist also Vorsicht geboten. Erwartungen von Renditen in Höhe von 9,05 Prozent sollten besser gebremst werden. Zumindest sollte klar sein - das
muss auch bei dieser Debatte herauskommen -, dass sich
diese Renditezahlung ständig verändert, also verringert,
und sich natürlich nur auf 40 Prozent des eingesetzten
Eigenkapitals bezieht. Was genau „kommunales Eigenkapital“ eigentlich darstellt, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten.
Die Anreizregulierung ist nun wirklich keine einfache
Materie. Es ist gut, dass sich Städte und Gemeinden intensiv damit beschäftigen müssen. Ich finde aber, es gehört auch zur guten parlamentarischen Debatte, hier einmal die möglichen Fallstricke zu nennen, ohne gleich in
Verdacht zu geraten, den Bürgermeistern die Kompetenz
absprechen zu wollen.
({2})
Viele Gemeinden, vor allem die kleinen im ländlichen
Raum, sind am Ende eben doch dazu gekommen, dass
sie zwar das Netz betreiben wollen, aber eben nicht alleine, sondern mit einem strategischen Partner aus der
Privatwirtschaft. Dann ist die Rekommunalisierung aber
nur noch ein besseres Beteiligungsgeschäft ohne inhaltlichen Anspruch. Zugegeben: Besser als nichts! Aber mit
Rückgewinnung der öffentlichen Daseinsvorsorge hat
das dann ehrlicherweise nicht mehr viel zu tun.
Im Antrag wird auch der Fall der Gemeinden Bunde
und Ostrhauderfehn angesprochen. Diesen Fall kenne
ich zufällig ganz genau, weil diese Gemeinden in meiner
Nachbarschaft liegen. Dass die Übernahme der Netze
hier nicht so funktionierte, wie sich die beteiligten Gemeinden das vorgestellt hatten, lag bestenfalls teilweise
an den Ausschreibungskriterien. Zunächst muss hier
klargestellt werden, dass die Gemeinden von Anfang an
vorhatten, das Netz gemeinsam mit einem strategischen
Partner aus der Privatwirtschaft zu betreiben. Es lag also
bestenfalls eine Teilrekommunalisierung vor. Letztlich
haben sich die Gemeinden dann mit dem bisherigen Teilnetzbetreiber so geeinigt, dass die Versorgungssicherheit
gewährleistet bleibt und die Gemeinde einen angemessenen Anteil am Gewinn bekommen kann.
Diese Lösung zeigt den Kern der Rekommunalisierungsdebatte, meine Damen und Herren: Es geht oft vorrangig um die Gewinnbeteiligung der Kommunen, was
ich gar nicht schlechtreden will, und nur in zweiter Linie
um die Sicherung der Daseinsvorsorge.
({3})
Eine solche gemeinsame Netzbetriebsgesellschaft sehe
ich übrigens sehr positiv. Ich denke, auch hier können
Kommunen, insbesondere im ländlichen Raum, den wir
ja nun politisch in vielen Bereichen endlich entdeckt haben, ihre Ziele sehr gut verfolgen.
In der Debatte im Januar wurde von den Antragstellern der Wunsch geäußert, dass Bürgernähe und ökologischer Anspruch bei den Ausschreibungskriterien berücksichtigt werden sollten. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nur
schwer vorstellen, wie Bürgernähe im Netzbetrieb aussehen soll, und würde mich freuen, wenn wir dazu in der
weiteren Debatte Beispiele bekommen würden.
({4})
Viel greifbarer wird das doch, wenn eine Gemeinde zum
Beispiel Strom selbst erzeugt, dadurch kreisumlagefreie
Einnahmen erzielt und die Menschen die Stromerzeugungsanlagen auch noch sehen können.
({5})
Der Anblick von Strommasten wird vermutlich die wenigsten Menschen erfreuen.
Ich will damit sagen: Es gibt auch andere Investitionsmöglichkeiten für Kommunen, die mit deutlich weniger
Unsicherheiten belastet sind und mit denen Bürgernähe
und ökologischer Anspruch wesentlich besser verwirklicht werden können. Das können alle Kollegen, die in der
Kommunalpolitik Verantwortung getragen haben, bestätigen. Das sei an dieser Stelle allen mit auf den Weg gegeben, die in Kommunen noch Verantwortung tragen wollen.
Im Falle der kommunalen Verfassungsbeschwerde
von Titisee-Neustadt werden wir irgendwann eine Klarstellung erfahren, welchen Stellenwert die kommunale
Selbstverwaltung bei der Netzvergabe nun hat.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir das tun
werden, was im Koalitionsvertrag steht: Wir werden die
Rechtssicherheit beim Netzübergang herstellen oder
wiederherstellen. Wir werden das Bewertungsverfahren
eindeutig und rechtssicher regeln; denn auch wir wollen
nicht, dass man sich angesichts der vielen Neuvergaben
vor Gericht wiedersieht. Außerdem muss die Konzessionsabgabe bei einer Verzögerung des Netzübergangs
vom Altkonzessionär weitergezahlt werden. Entsprechende Arbeiten sind im Gange.
„Doon deiht lehren“, liebe Kolleginnen und Kollegen,
heißt, dass man über Praxiserfahrung klug werden kann.
Wir werden nun die bisherigen Rekommunalisierungsverfahren, ob gescheitert oder nicht, zügig analysieren
und dann entsprechende praxistaugliche Lösungsvorschläge vorlegen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Julia
Verlinden von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich muss schon sagen: Die Kollegen
von der Union debattieren irgendwie am Thema vorbei.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie konkret auf den Antrag eingegangen sind, den wir heute beraten.
({0})
Es geht doch darum, dass die Kommunen Wahlfreiheit bekommen, dass also Rechtssicherheit die Wahlfreiheit ermöglicht. Das ist doch genau das, was Sie wollen,
nämlich Wettbewerb. Ich verstehe nicht, wie Sie sich
hier gebärden und wie Sie Äußerungen von sich geben,
die überhaupt nichts mit der konkreten Fragestellung im
Antrag zu tun haben.
({1})
In den 90er-Jahren haben wir bei den Verteilnetzen
eine große Privatisierungswelle erlebt. Seitdem ist vielen
Menschen bewusst geworden, dass nicht jede Privatisierung automatisch sinnvoll ist.
({2})
Denn klar ist: Für die Privaten zählt vor allem die Rendite. Ob sie automatisch immer genug dafür tun, dass die
Stromnetze auch langfristig für eine Energieversorgung
der Zukunft fit bleiben, kann man zumindest bezweifeln.
Viele Bürgerinnen und Bürger wollen die Netze lieber
wieder bei Ihrer Kommune, in kommunaler Hand sehen.
Denn sie vertrauen den Konzernen nicht, die an zahlreichen Netzen beteiligt sind. Verteilnetze für die Stromversorgung, die wieder in kommunalem Besitz sind, haben zudem den Vorteil, dass die Renditen nicht an die
großen Konzerne abfließen.
({3})
- Herr Bareiß, Sie können gerne eine Zwischenfrage
stellen. Okay, dann nicht. - Und Renditen, die nicht an
die großen Konzerne abfließen, sondern bei der Kommune bleiben, können zur regionalen Wertschöpfung
beitragen.
({4})
Auch im Hinblick auf die regional sehr unterschiedlich
hohen Netzentgelte wäre das aus meiner Sicht für die
Akzeptanz der Menschen wichtig. So bliebe zumindest
ein Teil des Geldes vor Ort.
Außerdem bietet ein Stromnetz in kommunaler Hand
bessere Möglichkeiten, abgestimmte, integrierte Konzepte umzusetzen, also eine Verknüpfung von Stromerzeugungsanlagen, Netzen und Speichern zu schaffen.
({5})
Der Zeitpunkt, um Netze zu rekommunalisieren,
könnte gerade kaum besser sein. Wir haben jetzt ein historisch niedriges Zinsniveau, und selbst eine 100-prozentige Fremdfinanzierung wäre innerhalb von einigen
Jahrzehnten - vielleicht sogar nur 20 Jahren - machbar.
Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und sagen: Wir als Bürgerinnen und Bürger wollen die Netze
selbst betreiben. - In Berlin passiert das zum Beispiel.
Ich finde dieses Engagement richtig und gut; denn die
Demokratisierung der Energieversorgung, die Energiewende als großes Bürgerprojekt, hört für mich nicht bei
den Erzeugungsanlagen für erneuerbare Energien auf.
({6})
Bürgerenergiewende heißt für mich: Energieerzeugung,
Effizienzprojekte und auch Netze können von Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam gestaltet und betrieben
werden. So wird es dann auch was mit der Energiewende.
({7})
Die Menschen in diesem Land wollen die Energiewende. Für die Energiewende brauchen wir die richtigen
Netzstrukturen und die richtigen Netzbetreiber.
({8})
Wir haben in den letzten Monaten Zuschriften von
Betreibern von Erneuerbare-Energien-Anlagen bekommen, die sich über eine Diskriminierung durch den Netzbetreiber beklagen. Eine dezentrale Energiewende
braucht aber Netzbetreiber, die für die Energiewende arbeiten und nicht dagegen. Wir brauchen Netzbetreiber,
die Probleme lösen und keine machen.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung - Herr Beckmeyer, Sie werden ja gleich noch
sprechen -, wenn ich mir anschaue, wie Sie die Energiewende organisieren, dann sehe ich ein Abwenden von
den Akteuren, die in den letzten 30 Jahren die Treiber
der Energiewende waren. Die Bundesregierung wendet
sich ab von den Bürgerinnen und Bürgern. Denn Energiewende heißt eben nicht nur, Atom- und Kohlestrom
durch erneuerbare Energien und Energiesparen zu ersetzen, sondern sie erfordert auch eine Demokratisierung
des Energieversorgungssystems insgesamt.
({9})
Es geht darum, dass die Bürgerinnen und Bürger an einer
Energieversorgung teilhaben und dass sie nicht nur bezahlen müssen.
Was Sie aber in den letzten Monaten veranstaltet haben, geht ganz klar in Richtung Energiewende der Konzerne. Sie führen eine Sonnensteuer ein, mit der sie den
Eigenverbrauch für Bürgerinnen und Bürger unattraktiv
machen. Sie kündigen Ausschreibungen für erneuerbare
Energien an, welche in der Regel die Genossenschaften
und privaten Betreiber von Anlagen benachteiligten und
größere Unternehmen bevorzugten. In diesem Antrag
geht es jetzt darum, dass die aktuell unklare Rechtslage
hinsichtlich der Konzession vor allen Dingen eine Klientel bevorzugt, nämlich die Unternehmen.
Frau Dr. Verlinden, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Bareiß zu?
Ja.
Frau Verlinden, jetzt haben Sie mich, da Sie die „bösen Konzerne“ angesprochen haben, doch herausgefordert. Ist Ihnen bewusst, dass beispielsweise im Land Baden-Württemberg, in dem die Grünen ja mitregieren, die
Stadtwerke bei Konzessionsvergaben oftmals der EnBW
gegenüberstehen? Beide sind aber in kommunaler Hand:
Die Stadtwerke sind in kommunaler Hand, und die
EnBW ist mehrheitlich in kommunaler Hand. Insofern
richte ich die Frage an Sie: Welcher der beiden, die dann
mitbieten, ist aus Ihrer Sicht moralisch besser in der
Lage, - ({0})
- Ja, doch, Sie machen es zu einer moralischen Frage,
({1})
wer der Bessere ist für die Konzessionsvergabe. Daher
hätte ich gern von Ihnen gewusst, wer von beiden Ihrer
Ansicht nach besser geeignet ist, ein Netz zu betreiben.
Herr Bareiß, dann haben Sie mir nicht zugehört; es tut
mir leid. Es geht nicht darum, dass ich eine Meinung
dazu habe, wer die besseren Betreiber sind, sondern ich
habe gesagt, dass wir die Rechtssicherheit herstellen
müssen, die im Augenblick nicht gegeben ist, damit die
Kommunen die Wahlfreiheit haben, sich dafür zu entscheiden, die Netze selbst zu betreiben oder sie in die
Hand von Bürgerenergiegenossenschaften zu geben.
Diese Rechtssicherheit muss hergestellt werden. Das ist
das, was uns in dem Antrag hier vorliegt und was wir gerade diskutieren. Diese Wahlfreiheit müssen wir ermöglichen, indem das Energiewirtschaftsgesetz entsprechend
geändert wird.
({0})
Wir unterstützen den vorliegenden Antrag der Linken.
Was uns da noch fehlt, ist eine Regelung zur Art und
Weise der Übertragung der Anlagen an den Neukonzessionär und zur Ermittlung der Höhe der Entschädigung
an den bisherigen Netzbetreiber. Außerdem ist der bisherige Netzbetreiber faktisch nicht verpflichtet, relevante
Daten über das Netz und dessen Zustand der Kommune
zur Verfügung zu stellen, sodass die Kommune oder andere interessierte zukünftige Netzbetreiber sich kein
qualifiziertes Bild über den Wert und die wirtschaftliche
Perspektive des Netzes machen können.
Im Ergebnis führt dies dazu, dass praktisch alle Fälle,
in denen Kommunen die Verträge mit dem bisherigen
Netzbetreiber nicht verlängert haben, vor Gericht entschieden werden müssen. Bei vielen, gerade bei den
kleinen Kommunen, bewirkt allein diese Rechtsunsicherheit - darauf habe ich eben hingewiesen, Herr
Bareiß -, dass sie sich doch wieder für den bisherigen
Konzessionsnehmer entscheiden. Auch hier ist deswegen die Neuregelung dringend notwendig.
({1})
Meine Damen und Herren, die Energiewende, sei es
bei den erneuerbaren Energien, bei der Energieeffizienz
oder bei den Netzen, geht nur zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern und nicht gegen sie.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Barbara
Lanzinger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jetzt werde ich
hier gleich wieder einen Sturm der Entrüstung auslösen,
wenn ich feststelle: Die Fraktion Die Linke hat die Anregungen des Kollegen Krischer vom letzten Mal anscheinend sehr ernst genommen. Er hatte ja in seiner letzten
Rede zur Rekommunalisierung angekündigt, die Debatte
immer und immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen, und zwar so lange, bis er endlich das bekommt, was
er will. So habe ich es zumindest verstanden.
({0})
Mit Ihrem erneuten Antrag, jetzt die Energienetze in
die öffentliche Hand zu geben, versuchen Sie wieder
einmal - ich sage ganz bewusst: populistisch -, Ihr Ziel
durchzusetzen.
({1})
Ob dieses Ziel auch wirtschaftlich sinnvoll ist, lassen Sie
dabei vollkommen außer Acht.
Aber auch wir nehmen unsere Worte sehr ernst.
Wir haben es endlich geschafft - das sage ich ganz bewusst -, in die jahrzehntelang monopolistisch geprägte
Energiewirtschaft etwas mehr Wettbewerb zu bekommen. Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern dient
einzig und allein dem Ziel, dem Verbraucher die beste
Leistung zum besten Preis zur Verfügung zu stellen. Dieses wertvolle Instrument der Marktwirtschaft wollen wir
aufrechterhalten. Deshalb können wir Ihnen auch bei
dieser Debatte nur wieder sagen: Wir unterstützen keine
staatswirtschaftlichen Forderungen und lehnen deshalb
Ihren Antrag ab.
In einer Marktwirtschaft gibt es per se keinen Grund,
private Unternehmen von der wirtschaftlichen Betätigung vollständig auszuschließen.
({2})
Auch die kommunale Selbstverwaltung, die Ihr Hauptargument in Ihren zahlreichen Anträgen zur Rekommunalisierung ist, rechtfertigt keinen Verstoß gegen unsere
verfassungsmäßige Ordnung. Die Kollegen Bareiß und
Koeppen haben es ja bereits formuliert: Kommunale
Selbstverwaltung heißt nicht, dass eine Kommunalisierung automatisch dort erfolgt, wo es nur irgendwie möglich ist. Es darf keinen Freifahrtschein geben, auf dem
steht: Kommunale Unternehmen haben grundsätzlich
Vorrang vor einem Wettbewerb. - Private Unternehmen
sind qualitativ nicht per se schlechter als ein kommunales Unternehmen. Die kommunale Selbstverwaltung, so
richtig und wichtig sie für uns ist, darf kein Mittel zur
Verstaatlichung durch die Hintertür sein.
({3})
Die kommunale Selbstverwaltung hat nämlich auch
nicht, wie Sie, Frau Lay, in Ihrer Rede Ende Januar ausführlich dargestellt haben, Verfassungsvorrang; sie hat
Verfassungsrang. Das ist ein wesentlicher Unterschied.
({4})
Diesen wesentlichen Unterschied hat auch der BGH in
seinen jüngsten Urteilsbegründungen, auf die im Übrigen auch das kürzlich erfolgte Urteil zu den Konzessionen in Berlin verweist, sehr gut erklärt. Ich zitiere wörtlich:
Als Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie ist
grundsätzlich nur die Möglichkeit der Gemeinde
zur wirtschaftlichen Betätigung als solche geschützt, nicht aber einzelne Ausprägungen wirtschaftlicher Tätigkeit.
Vereinfacht gesagt, Artikel 28 Absatz 2 Grundgesetz
schützt die kommunale Selbstverwaltung als solche, nicht
aber einzelne kommunale Aktivitäten, soweit sie nicht
eindeutig hoheitlich sind. Denn das Recht der kommunalen Selbstverwaltung besteht nur im Rahmen allgemeiner
Gesetze, zu denen auch das Energiewirtschaftsgesetz
zählt. Der von Ihnen kritisierte § 46 Energiewirtschaftsgesetz ist daher nicht verfassungswidrig, greift auch in
keiner verfassungswidrigen Weise in den Kernbestand
des kommunalen Selbstverwaltungsrechts ein.
Die aktuelle gesetzliche Regelung beschränkt also die
Gemeinden nicht, sondern stellt sie mit privaten Unternehmen gleich. Jede Kommune kann mit einem eigenen
Unternehmen oder einem Eigenbetrieb am Wettbewerb
teilnehmen und den Netzbetrieb gegebenenfalls selbst
übernehmen.
Die Konzessionsvergabe basiert dabei auf den Grundsätzen des Vergaberechts, wonach Aufträge auf der
Grundlage objektiver Kriterien vergeben werden sollten,
die die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, der
Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung gewährleisten, um einen objektiven Vergleich des relativen
Werts der Angebote sicherzustellen und damit unter den
Bedingungen eines effektiven Wettbewerbs das wirtschaftlichste Angebot ermitteln zu können.
Der BGH macht in seinen Urteilen auch hierzu deutlich, dass Auswahlkriterien immer schriftlich und mit
Gewichtung bekannt zu machen sind, wobei den Gemeinden gerade bei der Gewichtung ein eigener, aber
überprüfbarer Beurteilungsspielraum zukommt. Bei dieser Gewichtung ist auch darauf zu achten, dass die Zielsetzung in § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes - nämlich
eine „sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche,
effiziente und umweltverträgliche“ Strom- und Gasversorgung - eingehalten wird. Vor allem darf das Ziel der
Netzsicherheit nicht zu gering gewichtet werden.
Ein ganz wesentlicher Aspekt der Vergabegrundsätze
ist das Kriterium des Diskriminierungsverbots, das zusätzlich auch in § 46 Energiewirtschaftsgesetz für Konzessionen geregelt ist. Ich erkläre Ihnen auch, warum:
Durch die Möglichkeit der Teilnahme aller interessierten
Anbieter wird der Wettbewerb gefördert.
§ 46 Energiewirtschaftsgesetz sorgt zu Recht dafür,
dass Gemeinden in einem 20-Jahres-Rhythmus einen
Wettbewerb um das Netz ermöglichen.
({5})
Er dient also dem Zweck, kommunalen Ewigkeitsrechten - dem dauerhaften und unangefochtenen Recht der
Kommunen auf Netzbetrieb - entgegenzuwirken, und
das ist auch gut so!
Es gibt selbstverständlich viele gut geführte und erfolgreiche Stadtwerke; aber es gibt auch weniger erfolgreiche Stadtwerke. Es wurde in den Reden heute auch
schon erwähnt: Haben Sie einmal daran gedacht, was
tatsächlich passiert, wenn eine Kommune ein Netz übernimmt und dann scheitert? Wir haben schon öfter erfahren und lernen müssen, dass auch ein Stadtwerk insolvent werden kann. Verluste müssen dann von anderen
öffentlichen Institutionen kompensiert und damit vom
Steuerzahler getragen werden. Staatlich ist also nicht
zwingend immer besser als privat.
({6})
Vor diesem Hintergrund kann ich nur noch einmal betonen: Wettbewerb hat in der heutigen entflochtenen
Energielandschaft eine eigenverantwortliche Bedeutung,
und diese wollen und werden wir nicht aushebeln.
Wir wissen, dass manche Regelungen in § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes - viele Kollegen sind darauf
schon eingegangen - und der abgeleiteten Normen noch
nicht ausreichend klar sind. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag verankert, dass wir die Rechtssicherheit verbessern wollen. Aber ich sage auch ganz deutlich: Eine
rechtliche Verbesserung ist nicht mit einer rechtlichen
Besserstellung bestimmter Anbieter gleichzusetzen. Das
ist ein Unterschied. - Ich gehe jetzt nicht weiter darauf
ein; wir warten auf den entsprechenden Entwurf aus dem
Wirtschaftsministerium. Staatssekretär Beckmeyer spricht
nach mir; vielleicht hören wir dann auch dazu etwas.
Abschließend möchte ich festhalten: Ihre Begründung, dass eine Rekommunalisierung zu einer Stärkung
der lokalen Wirtschaft führe, dass nur dadurch entscheidende Teile der Energiewende zum Erfolg geführt werden könnten, hält weder einer ökonomischen noch, wie
die BGH-Urteile zeigen, einer juristischen Analyse stand
und ist von Ihnen - das sage ich deutlich - rein politisch
getrieben.
Genauso politisch getrieben - ich möchte auch das
ganz deutlich sagen - und sachlich nicht logisch ist die
Verbindung, die Sie herstellen, nämlich eine Steigerung
des Klimaschutzes durch eine Rekommunalisierung.
Wieso sollte eine Kommune den Klimaschutz besser und
schneller vorantreiben können als ein privates Unternehmen?
({7})
Wollen Sie allen nichtöffentlichen Institutionen unterstellen, dass sie nicht an einer Verbesserung des Klimaschutzes interessiert sind?
({8})
Energiewirtschaftliche Synergien sowie örtliche und
regionale Wertschöpfungspotenziale entstehen durch einen Wettbewerb, an dem jeder teilnehmen kann. Wettbewerb hat eine heilsame Wirkung; denn er zwingt zu Effizienz, zu Kostendisziplin und sichert dadurch den
Verbrauchern die beste Leistung zum besten Preis.
({9})
Wir müssen daher durch die Konzessionsvergabe
auch weiterhin sicherstellen, dass wettbewerbliche Elemente so umfassend wie möglich berücksichtigt werden.
Erst dadurch werden wir auch energiewirtschaftliche
Wertschöpfungspotenziale für unsere Regionen erlangen.
Ganz zum Schluss meiner Rede vielleicht noch etwas
Positives. Sie haben in Ihrem Antrag erwähnt, dass gerade die KWK und die Speicher wichtig sind. Auch wir
halten das für zentrale Bestandteile. Ich würde mich
freuen, wenn Sie uns bei allen unseren Vorhaben zu diesen Themen unterstützen würden.
({10})
Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche allen alles Gute. Vor ein paar Jahren hätte ich an diesem Tag
nicht hier gestanden, weil in Bayern an diesem Tag der
Joseftag begangen wird.
({11})
- Ja, wir haben das, und trotzdem sind wir so gut.
Danke schön fürs Zuhören.
({12})
Vielen Dank. - Für die Bundesregierung spricht jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer.
({0})
Frau Präsidentin! Wir haben hier heute keinen Feiertag, aber eine ernsthafte Debatte. Meine Bitte ist - die
richtet sich natürlich an uns alle hier, liebe Kolleginnen
und Kollegen -: Diese Diskussion um die Rekommunalisierung sollten wir wirklich möglichst sachlich führen.
Wenn etwas mit Emotionen überdeckt wird, hilft das am
Ende nicht weiter. Vor allen Dingen: Es geht bei diesem
Thema um energiewirtschaftliche Notwendigkeiten;
meine Vorrednerin hat zu Recht darauf hingewiesen.
Diese energiewirtschaftlichen Notwendigkeiten - sicher,
preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient, umweltverträglich - sind die Maßstäbe, an denen wir uns auch
bei diesem aktuellen Thema zu orientieren haben.
Wir werden mit der Novelle des § 46 des Energiewirtschaftsgesetzes die Rahmenbedingungen für potenzielle
Netzbewerber verbessern können. Der Kollege Saathoff
hat recht, wenn er darauf hinweist: Es geht natürlich
auch um eine gewisse regulierte Rendite aus dem Netzbetrieb für entsprechende Wegenutzungsrechte. - Das
wissen wir. Der eine oder andere schaut sich diese regulierten Entgelte und die Rendite an und ist der Meinung,
dass das in der Zukunft vielleicht auch etwas für die
Kommunen sein kann. Ja, das kann es sein, aber - das ist
eben gesagt worden - unter Bedingungen, die da heißen:
energiewirtschaftliche Notwendigkeiten. Die müssen gegeben sein. Insofern schließen bessere Rahmenbedingungen für die Rekommunalisierung örtlicher Energieversorgungsnetze das ein.
Wenn wir heute über den Wettbewerb beim Betrieb
der örtlichen Strom- und Gasnetze sprechen, geht es
letztlich um zwei zentrale Fragen: die Frage nach dem
Ob und die Frage nach dem Wie. Die Frage nach dem
Ob wird von den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion
Die Linke im Grunde verneint. Sie lehnen einen WettbeParl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer
werb um die örtlichen Verteilernetze ab und fordern eine
direkte Inhousevergabe; so habe ich Ihren Antrag gelesen. Dieser Forderung ist schon aus energiewirtschaftlichen Gründen nicht zuzustimmen. Der vorgeschriebene
Wettbewerb um das Netz alleine ist kein Selbstzweck. Er
dient dazu, die Ziele des § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes im Interesse des Allgemeinwohls zu erreichen.
Dies gilt insbesondere für die von mir eben schon erwähnten herausragenden Ziele der Versorgungssicherheit.
Ich will an dieser Stelle allerdings auch sagen: Das
Bashing von großen Konzernen und Monopolen hilft
auch nicht weiter. Die Situation ist nicht mehr so, wie sie
vielleicht einmal vor Jahr und Tag war.
({0})
Wir haben es in Deutschland inzwischen mit 900 Netzbetreibern zu tun. Auch das muss man einmal zur Kenntnis nehmen; man darf nicht immer die gleiche alte Platte
auflegen. Das hilft uns nicht weiter.
Selbstverständlich geht es im Verteilnetz hin und wieder um natürliche Monopole der Region, und dies zum
Nachteil von Verbraucherinnen und Verbrauchern oder
von Gewerbe und Energie. Das wollen wir nicht. Ein
solches erstarrtes Monopol kann uns nicht weiterhelfen,
gerade angesichts der Bedingungen, unter denen wir uns
die deutsche Energiewende vorgenommen haben. Vor
diesem Hintergrund sind die Herausforderungen, die
sich mit der Energiewende an das Stromnetz ergeben,
von großer Bedeutung.
Wir haben zuletzt auch von der im Auftrag des BMWi
erstellten Studie „Moderne Verteilernetze für Deutschland“ bestätigt bekommen: Der Stromnetzbetrieb steht
vor einem grundlegenden Wandel. Dies betrifft insbesondere den notwendigen Einsatz moderner Netztechnologien. Insofern ist der Gesetzeszweck des EnWG mehr
denn je im Rahmen eines wettbewerblichen Verfahrens
zu gestalten, um für das jeweilige Netzgebiet den am
besten geeigneten Netzbetreiber zu ermitteln. Das kann
häufig die Kommune sein - oder auch die in der Kommune Tätigen -, aber es kann auch einmal sein, dass es
in einer kleinen Kommune eben nicht die ökonomische
Kraft gibt, das zu leisten. Was machen wir dann? Dann
muss es, denke ich, auch möglich sein, eine andere Entscheidung zu treffen, um die erforderliche Qualität des
Netzbetriebes in der Zukunft zu gewährleisten.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will an
dieser Stelle sagen: Das ist keine Entscheidung nach
dem Motto „Links oder rechts“ bzw. „Pro Kommune
oder kontra Kommune“. Nein, ich glaube, es werden
sehr häufig kommunale Unternehmen sein, die diese
Kraft haben, die diese Expertise haben und die auch bei
der von uns ins Auge gefassten Regelung ihre Chancen
wahren werden. Sie sind dann im Wettbewerb auch der
beste Anbieter.
Es geht in diesem Zusammenhang also nicht um eine
Diskussion, die sich gegen die Kommunen richtet, sondern es geht um die Frage nach dem Wie. Da gibt es natürlich Altkonzessionäre, bei denen die eine oder andere
Kommune sagt: Mit dem geht es nicht weiter. Der hat
uns in der Vergangenheit zu sehr geärgert. Wie kommt
man weg von dem? - Es muss klare Regelungen für den
Wettbewerb um das Netz geben, ohne die eigentlichen
Ziele, die ich vorhin benannt habe, zu verfehlen.
Es gibt also hier die Notwendigkeit, eine sachgerechte
Entscheidung zu treffen. Ich glaube, auch hier sind eindeutige Regeln im Hinblick auf die aktuellen Rechteinhaber
notwendig, um in einem fairen Verfahren das Zukünftige
regeln zu können. Es ist auch schon vom Kollegen Post gesagt worden - das unterstütze ich ausdrücklich -: Wir müssen, wenn wir uns an die Novelle machen, natürlich auch
darüber nachdenken, welche Daten dann eigentlich auf den
Tisch müssen, damit in der Zukunft in dieser Angelegenheit
ein fairer Wettbewerb zwischen den Bewerbern stattfindet.
Wir wollen und müssen Konfliktpotenziale reduzieren. Wir haben gelernt, dass es in letzter Zeit Konflikte
gegeben hat, die die Gerichte beschäftigt haben. Daher
ist es wichtig, die kommunalen Interessen und die Interessen im Zusammenhang mit den Netzen so zu gestalten, dass am Ende das Handeln aktueller Rechteinhaber
nicht unbillig erschwert wird, gleichzeitig aber auch
keine Weigerung ausgelöst wird, ganz bestimmte wichtige netzbezogene Daten zu liefern.
Es war die Zielsetzung des Koalitionsvertrages, für mehr
Rechtssicherheit bei der Vergabe von Wegenutzungsrechten
für die leistungsgebundene Energieversorgung zu sorgen.
Ich glaube, dass wir mit der geplanten Novelle des § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes Verbesserungen erreichen werden. Insofern gehören die von mir genannten Punkte dazu.
Wir wollen - das ist wichtig - ab Ostern in das Verfahren einsteigen, um in der ersten Jahreshälfte einen
Prozess zum Abschluss zu bringen, den wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Ich hoffe, dass alle
konstruktiv mitarbeiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Jetzt hat Herr Krischer zu einer Kurzintervention das Wort.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, für die Gelegenheit, im Rahmen einer Kurzintervention auf meinen Vorredner einzugehen.
({0})
- Herr Pfeiffer, ich kenne eigentlich den parlamentarischen Brauch, dass die Opposition noch einmal Stellung
nehmen kann, nachdem ein Vertreter der Bundesregierung geredet hat. Das ist durch die von Ihnen gewählte
Reihenfolge jetzt nicht mehr möglich. Deshalb danke ich
für die Möglichkeit der Kurzintervention.
Herr Staatssekretär Beckmeyer, ich hätte mich gefreut
- Sie haben hier ein ausführliches Grundsatzreferat über
das Thema Verteilnetze gehalten -, wenn Sie etwas konkreter gesagt hätten, was die Bundesregierung vorhat.
Wir haben von den Kollegen der SPD gehört, dass es
eine Novelle geben soll. Dazu gab es einzelne Aussagen.
Bei der Union gibt es immerhin folgende Entwicklung:
Im ersten Teil der Debatte wurde das Problem nicht anerkannt, aber jetzt sagt man: Es gibt eine gewisse Notwendigkeit. Man muss etwas beim Kaufpreis tun, man
muss etwas bei der Transparenz tun. Man muss vielleicht
etwas mehr Wettbewerb ermöglichen.
Meine Fragen an Sie wären - darauf hätte ich gerne
eine Antwort -: Was hat die Bundesregierung konkret
vor? Welche Regelungen zur Verbesserung der Transparenz soll es geben? Was ist die Grundlage für eine Kaufpreisermittlung bei der Übergabe des Netzes? Welche
Regelungen soll es geben, damit der Wettbewerb um das
Netz möglich ist? Herr Homann äußert sich dazu so: Eigentlich wäre es richtig, wenn wir in Deutschland nicht
mehr 900 Verteilnetzbetreiber hätten, sondern nur 30
oder 40. - Ist das die Position der Bundesregierung, oder
ist sie es nicht?
Zu all diesen konkreten Fragen, die im Rahmen einer
Novelle geregelt werden müssen, habe ich von Ihnen
nichts gehört. Das bedauere ich sehr. Wenn Sie dieses
Thema tatsächlich anpacken wollen - wir hören ja ständig, dass es angegangen werden soll -, frage ich Sie:
Warum bestätigen Sie angesichts der Tatsache, dass in
Ihrem Ministerium schon die Rechner glühen, nicht,
dass an dieser Novelle gearbeitet wird? Warum gibt es
dazu keine konkreten Aussagen?
Ich sage Ihnen: Ich befürchte, dass das Spiel wie immer laufen wird. Es wird am Ende eine große Ankündigung sein. Es wird dann auf dem großen Haufen der blockierten Gesetzesvorhaben dieser Großen Koalition
landen. Wir werden das Problem, das die kommunalen
Stadtwerke und die Kommunen aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit haben, nicht lösen. Ich muss Ihnen leider sagen, Herr Beckmeyer, dass Sie meine Befürchtungen nicht ausgeräumt haben. Im Gegenteil: Sie
haben sie bestärkt.
({1})
Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter Krischer, dass Sie immer aufgeregt fragen und mit Ihrer Aufgeregtheit etwas bezwecken, sei dahingestellt. Nein, wir werden vor Ostern die
Ressortabstimmung beginnen und den Ressorts einen
entsprechenden Entwurf zuleiten. Danach wird es ins
parlamentarische Verfahren gehen.
({0})
- Vor der Sommerpause. - Dann werden Sie sich vielleicht mit weniger Aufgeregtheit diesen Fachfragen widmen.
Ich habe eben die Rahmenbedingungen benannt und
darauf hingewiesen, wohin die Reise aus meiner Sicht
gehen kann. Diejenigen, die zuhören wollten, haben es
verstanden. Wenn Ihnen das nicht gelungen ist, tut es mir
leid.
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Ingbert
Liebing von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Staatssekretär
Beckmeyer hat mit dem eben skizzierten Fahrplan deutlich gemacht, dass die Bundesregierung an diesem
Thema arbeitet. Die Debatte hat gezeigt, dass die Koalitionsfraktionen an diesem Thema arbeiten. Insofern sind
wir auf einem guten Wege, die Probleme, die es bei
Netzübergängen gibt, und die Probleme, die es im Bereich des Energiewirtschaftsgesetzes im Zusammenhang mit § 46 gibt, zu lösen. Das ist unsere Zielsetzung,
und das ist überhaupt nicht neu.
Herr Kollege Krischer, Sie haben uns eben vorgeworfen, wir hätten in der ersten Hälfte der Debatte bestritten,
dass es ein Problem gebe, das es zu lösen gelte. Sie haben offenkundig nicht zugehört. Denn alle Redner unserer Fraktion haben betont, dass wir Handlungsbedarf haben; das wissen wir.
({0})
Die Darstellungen von Staatssekretär Beckmeyer haben deutlich gemacht, dass es um eine Vielzahl von Einzelpunkten geht, die jetzt im Gesetzgebungsverfahren
abzuarbeiten sind. Ich halte es für richtig, dass wir uns
die Zeit nehmen, dies sorgfältig zu tun, damit am Ende
etwas herauskommt, das besser ist als das, was die Fraktion der Linken mit ihren Anträgen hier vorgelegt hat.
Die Linken haben innerhalb von acht Wochen zwei
Anträge gestellt, die heute Gegenstand der Debatte sind.
Offensichtlich haben Sie selber gemerkt, dass Ihr erster
Antrag so substanzlos war, dass Sie nachliefern mussten.
({1})
Aber der zweite Antrag ist nicht besser, meine Damen
und Herren; er ist ebenfalls substanzlos.
Das Thema selber ist wichtig, gerade auch für die
Kommunen. Ich sage das als jemand, der sich sehr intensiv um die Belange der Kommunen kümmert. Aber ich
möchte die Kommunen und auch die kommunalen VerIngbert Liebing
bände davor schützen, dass Sie sie für falsche Positionen
vereinnahmen. Wenn Sie es hier so darstellen, als ob das,
was Sie hier beantragen, unisono die Position der kommunalen Verbände wäre, dann wundert mich das schon.
Ich darf einmal aus einer Stellungnahme des Verbands
kommunaler Unternehmen vom 5. März dieses Jahres
zitieren; sie ist also noch recht aktuell. Dort heißt es am
Anfang ausdrücklich:
Der Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessionen, der seit den 90er-Jahren im EnWG verankert
ist, hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Element der Förderung des Wettbewerbs auf den Energiemärkten … etabliert.
Die Notwendigkeit von Wettbewerb wird also anerkannt.
Es gibt dort nicht die Position, den Wettbewerb abzuschaffen und stattdessen zu Inhousevergaben überzugehen. Das ist nicht die Position des Verbands.
({2})
Es geht um ganz konkrete Punkte, die den Kommunen und auch mir persönlich wichtig sind. Deswegen
habe ich mich bei den Koalitionsverhandlungen seinerzeit in der Arbeitsgruppe Energie mit dafür eingesetzt,
dass wir dieses Thema adressieren. Es steht nicht ohne
Grund im Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen, hier eine Lösung zu erreichen. Der Handlungsbedarf ist unstrittig gegeben. Aber neue Regelungen brauchen eben eine sorgfältige Vorbereitung.
Ich möchte die Diskussion auch davor schützen, dass
sie um das falsche Ziel geführt wird. Das Ziel der Debatte ist nicht Rekommunalisierung, sondern die Schaffung von Rechtssicherheit, und zwar unabhängig davon,
wer der Neukonzessionär ist.
({3})
Denn es gibt ja auch die Fälle - es kann sie auch in der
Zukunft noch geben; wir werden bis 2016 noch viele
weitere Fälle von Ausschreibungen erleben -, in denen
der Neukonzessionär keine Kommune, kein kommunales Stadtwerk ist, sondern ein anderes privatwirtschaftliches Unternehmen. Jeder Neukonzessionär hat im Moment aufgrund der jetzigen Formulierung in § 46 EnWG
Probleme.
({4})
Insofern geht es nicht darum, ob man nun eine Rekommunalisierung will oder nicht, sondern darum, Rechtssicherheit zu schaffen; das ist das Ziel, über das wir sprechen. Da geht es um ganz konkrete Punkte.
Es geht auch nicht darum, Herr Kollege Krischer, nun
unisono zu sagen: Es ist generell besser, wenn es die
Kommunen machen. - Sie tun so, als ob das eine Glaubensfrage wäre.
({5})
Sie haben die Rekommunalisierung hochgehalten und
sie quasi zum wünschenswerten Prinzip erklärt.
Ich bin nun wahrlich keiner, der irgendetwas dagegen
hätte, wenn Kommunen sich auch in der Energiewirtschaft engagieren. Ganz im Gegenteil: Ich halte die
Kommunen für wichtige Partner im Bereich der Energiewende. Energiewende heißt, dass wir die Energiewirtschaft künftig dezentraler aufstellen. Wir brauchen dafür
starke, engagierte Kommunen.
Aber es muss jeweils vor Ort auch klug abgewogen
werden können, ob dies Sinn macht. Generell zu sagen:
„Wir wollen, dass es staatlich, kommunal gemacht
wird“, das ist jedenfalls auch nicht meine Vorstellung. Es
gibt eben die Fälle, in denen wir in der Vergangenheit
größere regionale Verbünde im Verteilnetz hatten, wo
jetzt einzelne Kommunen innerhalb dieser Region ausscheren und sagen: Wir übernehmen das Netz selber. Das ist eine freie Entscheidung und legitim, wenn sie
den Nachweis führen, dass sie es effizienter machen
können. Aber es ist dann auch öffentlich und vor Ort die
Diskussion darüber zu führen, welche Auswirkungen
das hat.
Welche Auswirkungen hat es, wenn eine zentrale
Stadt in einer größeren Region ausschert und damit der
Investitionsbedarf im Verteilnetz, den wir durch den
Ausbau der erneuerbaren Energien in der Fläche haben,
nicht mehr solidarisch von einem größeren Verbund getragen wird? Die Städte haben diese Situation der Einspeisung in ihrem eigenen engeren Bereich nicht. Dies
geht aber zulasten der Fläche: Die ländlichen Regionen
zahlen anschließend höhere Netzentgelte. Auch das sind
Folgen, die in diesem Prozess mit zu beachten sind, die
vor Ort öffentlich transparent zu diskutieren sind. Dazu
tragen wettbewerbliche Verfahren bei.
Wenn wir über § 46 EnWG sprechen, über das, was
jetzt konkret im Gesetzgebungsverfahren zu regeln ist,
dann geht es mir vorrangig um vier Punkte:
Das Erste ist, dass wir schneller zu mehr Rechtssicherheit kommen müssen. Das heißt, dass wir im Gesetz
Fristen definieren, innerhalb derer eine Rüge von denjenigen vorgenommen werden muss, die Verfahrensmängel zu kritisieren haben. Es kann nicht sein, dass dies
nach Jahren noch der Fall ist, sondern wir müssen mögliche Rechtsstreitigkeiten schneller, zügiger abschließen
können. Hier ist es möglich, dies über klare Fristen zu
regeln, die wir in anderen Vergabeverfahren ja auch kennen.
Zweitens wird es auch um die Bewertungsfragen gehen, darum, ob wir über Sachzeitwert oder Ertragswert
sprechen. Das ist nach wie vor oftmals strittig. Ich halte
es für notwendig, dass wir durch eine politische
Entscheidung für mehr Klarheit, Sicherheit und Rechtsfrieden sorgen. Aus meiner Sicht ist der Ertragswert der
angemessenere Wert ({6})
der Wert, der sich in einem regulierten Markt refinanzieren lässt. Darüber werden wir sicherlich im Rahmen des
Gesetzgebungsverfahrens zu sprechen haben.
Drittens wird es auch um die Zahlungsverpflichtung
gehen. Es kann in der Tat nicht sein - das ist in der
Debatte ja auch schon angesprochen worden -, dass ein
Altkonzessionär, der im Vergabeverfahren unterlegen ist,
sich aber durch Klagen weiterhin Besitz am Netz verschafft, die Zahlung der Konzessionsabgabe verweigert.
Wer Netzentgelte einnimmt, muss auch die Konzessionsabgabe zahlen.
({7})
Ich glaube - das hat ja auch der Beifall in der Unionsfraktion gezeigt -, es ist völlig unstrittig, dass derjenige,
der Besitz am Netz hat, auf welcher Basis auch immer,
dann auch die Pflichten daraus zu tragen und die Konzessionsabgaben an die Kommunen zu bezahlen hat.
Aber man kann umgekehrt auch genauso darüber diskutieren, ob ein Neukonzessionär, der im Vergabeverfahren den Zuschlag bekommen hat, sofort die Netzentgelte
erhält und nicht mehr der Altkonzessionär, auch wenn
das im Verfahren noch strittig ist, vielleicht auch nur
über die Bewertung, über den Preis noch gestritten wird.
In dem Moment, in dem man dem Altkonzessionär die
Netzentgelte entzieht, entzieht man ihm auch das wirtschaftliche Interesse an einer Verfahrensverlängerung.
({8})
Insofern gilt: Wer das eine bekommt - die Netzentgelte -,
muss auch die anderen Verpflichtungen tragen. Diese
Kombination muss klar sein.
Wir werden viertens auch über die Entscheidungskriterien zu sprechen haben, darüber, wie wir mit § 1 Energiewirtschaftsgesetz als Kriterium umgehen werden.
({9})
- Ihr Zuruf, Herr Krischer, das sei nicht so einfach, ist
genau richtig: Das ist nicht so einfach zu beantworten.
Deswegen ist auch das, was hier heute als Antrag der
Linken vorliegt, einfach zu pauschal nach dem Motto:
„Die Kommunen müssen frei entscheiden können, ob sie
es denn wollen oder nicht.“ Nein, wir brauchen schon
klare Kriterien für den Wettbewerb. Ich bin sehr dafür,
den Kommunen hier einen stärkeren Spielraum einzuräumen, aber dafür müssen klare energiewirtschaftliche
Kriterien gelten, damit diese anschließend im Wettbewerb bestehen können. Die Kommunen müssen dann
solche energiewirtschaftlichen Argumente und Aspekte
auch einbringen können. Einfach nur allgemein „Interesse an Steuerungsmöglichkeiten durch die Kommunen“ oder „gemeindliche Belange“ vorzutragen, wie in
den Anträgen der Linken zu lesen ist, das ist zu wenig,
das ist zu dünn.
Zu den von mir genannten vier Aspekten ist in den
Anträgen der Linken nichts zu finden. Deswegen können
die Anträge der Linken keine Grundlage für eine notwendige Gesetzgebung in diesem Bereich sein. Ich bin
sicher, dass die Vorlage des Wirtschaftsministers mehr
Substanz bieten wird. Wir werden dann auf der Basis des
Gesetzentwurfes, der uns, wie wir jetzt gehört haben,
zwischen Ostern und der Sommerpause vorliegen wird,
genügend Raum für eine parlamentarische Beratung
haben. Wir können dann über alle strittigen Punkte im
Detail diskutieren, aber dann auf einer vernünftigen,
sachlichen Grundlage und nicht aufgrund dieser nichtssagenden, inhaltsleeren Anträge der Linken, die wir ablehnen werden.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Liebing. Ich wünsche Ihnen
und unseren Gästen einen schönen guten Tag. - Der
nächste und letzte Redner in dieser Debatte: Bernhard
Daldrup für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In vielen Punkten bin ich mit Herrn Liebing - das weiß
er auch - einer Meinung, aber nicht in allen; das werde
ich gleich noch einmal darstellen. Außerdem bedanke
ich mich bei Staatssekretär Beckmeyer ausdrücklich dafür, dass er dargestellt hat, wie der Arbeitsplan aussehen
wird.
Zu den Anträgen, die zur Stärkung der Kommunen in
der Energiepolitik führen sollen, kann man sagen: Wir
haben es im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir arbeiten daran, und zwar relativ zielgerichtet.
Frau Lay, Sie schreiben am Anfang in Ihrem Antrag,
dass wir feststellen und beschließen sollen: „Passiert ist
… bisher nichts.“ Ich bitte um Verständnis, aber so etwas
machen wir nicht. So etwas beschließen wir nicht, weil
das nämlich nicht stimmt.
({0})
Ich glaube, ohne arrogant wirken zu wollen, dass es
klügere Formulierungen gibt, wenn man Zustimmung zu
einem solchen Thema haben möchte - für das ich inhaltlich durchaus Sympathien hege; das will ich festhalten.
Wir kennen die entsprechenden Formulierungen von den
kommunalen Spitzenverbänden, die Sie jetzt zu einem
Antrag erheben.
Ich habe in mehreren Diskussionsbeiträgen ein bisschen die Wertschätzung für die kommunale Selbstverwaltung vermisst; das ist zumindest mein Eindruck.
({1})
Das sage ich deshalb, weil ich mehrfach den Eindruck
gewonnen habe, dass hier entschieden werden soll, wie
sich Kommunen zu verhalten haben, was sie tun sollen,
was sie nicht tun sollen. Aber kommunale Selbstverwaltung bedeutet auch, die Angelegenheiten der örtlichen
Gemeinschaft selbst organisieren zu können, Freiheit zu
haben in der Entscheidung.
({2})
Lassen Sie mich deshalb einige grundsätzliche Positionierungen vortragen.
Wenn wir über Energieversorgung und Kommunen
sprechen, dann immer aus der Perspektive der Energiepolitik, häufig aus der des Wettbewerbsrechts. Fazit
dieser Positionierung ist: Die kommunale Selbstverwaltung wird zu einem unter mehreren Belangen. Das ist
das Dilemma des § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes, in
dem das so normiert ist. Das ist aber nicht diskriminierungsfrei, wenn ich das an dieser Stelle einmal sagen
darf.
({3})
Denn kommunale Selbstverwaltung ist institutionell,
verfassungsrechtlich normiert und ist nicht einer unter
mehreren Belangen von Rentabilität; ich will das an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Leider hat sich diese
Haltung in der Rechtsprechung durchgesetzt. Deshalb
hat Heribert Prantl, mit dem ich im Oktober im Berliner
Senat diskutiert habe, recht, wenn er sagt: „Der Bundesgerichtshof hat Gewicht und Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung verkannt - sie ist von der Verfassung garantiert.“ Ich bin mir sicher, dass das BMWi dies
bei der Novellierung berücksichtigen wird.
({4})
Im Ergebnis bedeutet das nämlich, dass in einem novellierten Energiewirtschaftsgesetz das Vorrecht der
Kommunen, die gemeindlichen Interessen zu berücksichtigen - also wenn Sie so wollen: die Prärogative der
kommunalen Selbstverwaltung -, auch umgesetzt wird,
also dass der § 1 Energiewirtschaftsgesetz so novelliert
wird, dass eine Interpretation nach dem Muster „Privat
vor Staat“, wie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Gesetz steht, nicht das einzige Interpretationsmuster ist.
Ich kann Ihnen sagen: Bei der Neuorganisation des
kommunalen Wirtschaftsrechts, des Gemeindewirtschaftsrechts aus der schwarz-gelben Zeit in NordrheinWestfalen, haben wir schlimme und schlimmste Erfahrungen gemacht.
Ich glaube auch - das muss ich an dieser Stelle sagen
dürfen -: Herr Koeppen, was Sie unter Subsidiarität verstehen, stimmt nicht so ganz; hier gibt es ein kleines
Missverständnis.
({5})
Subsidiarität heißt Unterstützung, heißt Hilfe, heißt nicht
Privatisierung. Subsidiarität ist zunächst einmal etwas
gänzlich anderes als die Dichotomie von Staat oder Privat. Außerdem geht es ja um die Kommunen.
({6})
Ich kann jetzt schon aus Zeitgründen nicht mehr über
die Energiewende und viele fachliche Fragen, die angesprochen worden sind, reden, aber ich will doch feststellen, dass bemerkenswert ist, dass die Bürgerschaft nahezu ausnahmslos den Weg zur Rekommunalisierung
unterstützt. Warum eigentlich? Warum machen die Menschen das? Weil sie zunächst einmal mit dem Status quo
unzufrieden sind, weil sie andere Erwartungen haben.
Sie verstehen die kommunale Daseinsvorsorge zunächst
als eine Dienstleistung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die Vorrang vor wirtschaftlicher Rentabilität hat,
wenn es in der öffentlichen Verantwortung ist.
({7})
Das ist in den meisten Gemeindeordnungen der Bundesrepublik Deutschland so geregelt. Es eröffnet auch
die Möglichkeit, zu einer anderen Energiepolitik zu
kommen. Es geht also nicht um die Frage von Privat vor
Staat oder umgekehrt, sondern es geht um Folgendes:
Die rechtmäßige Konzessionsvergabe und die Rekommunalisierung sind kein Widerspruch, sondern bedürfen
eines klar abgestimmten Rechtsrahmens, der es der
kommunalen Selbstverwaltung ermöglicht, ihrer verfassungsrechtlich verankerten Verantwortung für die Daseinsvorsorge - hier spielen mehrere kartell- und wettbewerbsrechtliche sowie energiepolitische Gründe eine
Rolle - tatsächlich gerecht zu werden. Dem entspricht
das Energiewirtschaftsgesetz in § 1 zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht, und das ist ein Mangel, der behoben
werden muss, wenn man die Kommunen in der Energiepolitik stärken und unterstützen will.
Es geht aber nicht nur um die Gewichtung des § 1 im
Energiewirtschaftsgesetz im Verhältnis zur kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, sondern auch die Frage
der Nebenleistungsverbote nach der Konzessionsabgabenverordnung hinsichtlich der kommunalen und regionalen Klimaschutzkonzepte steht beispielsweise auf
dem Prüfstand. Das ist richtig so. Es geht dabei um die
Herausgabepflicht von Daten, um Bewertungsfragen für
das übertragene Netz - Stichwort: objektivierter Ertragswert -, um Rügepflichten, Zahlungspflichten des Altkonzessionärs und ähnliche Gesichtspunkte, die für uns
eine Rolle spielen.
Natürlich wollen wir auch eine rechtssichere Regelung der Frage der Inhousevergabe finden, die den
Kommunen hilft und die sie nicht belastet. Für uns ist es
jedenfalls kein Einfallstor für die Privatisierung von
kommunaler Energieversorgung. Darauf werden wir
schon achten.
Ich glaube, die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes ist an dieser Stelle auf dem Weg. Ich weiß, dass Sie
kritisieren, dass es zu langsam geht, aber es wird auch
kritisiert - zu Recht, Herr Krischer -, dass es Ende 2011
möglicherweise Defizite gab. Deswegen lassen Sie uns
auch hier nach dem Motto arbeiten: Gründlichkeit vor
Schnelligkeit. Das erhöht möglicherweise den Wirkungsgrad.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4323 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Energie zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Übernahme der Energienetze durch Stadtwerke erleichtern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4222, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3745 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung der CDU/
CSU und SPD und bei Gegenstimmen von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt; ich
bitte, die Plätze zu wechseln. - Bitte nehmen Sie Ihre
Plätze ein.
({0})
Ich darf Sie noch einmal bitten, Platz zu nehmen, dann
können wir weitermachen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht 2014 zum Fachkräftekonzept der Bundesregierung
Drucksache 18/4015
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht 2013 zum Fachkräftekonzept der Bundesregierung
Drucksache 18/796
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre einiges, aber keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die
Bundesministerin Andrea Nahles für die Bundesregierung.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Ziele erreicht, Konzept
erfolgreich, Aufgabe erledigt - das könnte ich heute guten Gewissens so vortragen.
({0})
Denn der vorliegende Fortschrittsbericht zeigt eindrucksvoll, dass wir die für 2020 gesetzten Ziele bereits
2015 erreicht haben.
({1})
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen.
Das zentrale Ziel war, bis zum Jahre 2020 eine Erwerbstätigenquote von 77 Prozent zu erreichen. Mit 77,3
Prozent haben wir diese Quote bereits im Jahr 2013 erstmals übertroffen.
Oder: der Zielwert für die Beschäftigung Älterer. Die
Älteren sind nach wie vor eine Gruppe, in der die Erwerbstätigenquote noch ein bisschen höher sein könnte.
Aber in der Gruppe der Erwerbstätigen zwischen 55 und
64 Jahren liegen wir mittlerweile bei einer Quote von
63,6 Prozent. Wir hatten uns vorgenommen, 60 Prozent
zu erreichen.
({2})
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gegenüber 2008
um 38 Prozent gesunken. Das ist wirklich hervorragend
- denn wir hatten uns zum Ziel gesetzt, die Langzeitarbeitslosenquote um 20 Prozent zu senken -, wenn es uns
auch noch nicht zufriedenstellt.
Auch bei der Qualifikation zeigen sich Fortschritte.
Der Anteil der frühen Schulabgänger sank auf unter
10 Prozent, und - sehr erfreulich - der Wanderungssaldo
hat 2013 mit 429 000 Menschen den höchsten Wert seit
1993 erreicht. Was besonders erfreulich ist: Die Qualifikation der Zugewanderten ist kontinuierlich gestiegen.
Insgesamt ist das also eine wirklich sehr erfreuliche Entwicklung ({3})
und das bei einem Rekordwert bei der Beschäftigung.
Wenn man diese Zahlen mit denen des Jahres 2008 vergleicht - auch wenn man sich vergegenwärtigt, in welcher Situation wir damals waren -, dann kann man heute
wirklich sagen: Uns geht in Deutschland nicht die Arbeit
aus, sondern uns gehen eher die Menschen aus, die sie
tun.
({4})
Meine Damen und Herren, sicher: Es ist immer schön,
Erfolge zu verkünden. Klar ist aber auch: Um in Zukunft
weiterhin so erfolgreich sein zu können, dürfen wir mit
unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Die Herausforderung besteht darin, das hohe Beschäftigungsniveau zu
halten. Denn nur ein hohes Beschäftigungsniveau sichert
den allgemeinen Wohlstand, eröffnet den Menschen die
Chancen, die sie brauchen, und stabilisiert natürlich auch
die soziale Sicherheit in unserem Land. Deswegen hält die
Bundesregierung bei ihren Bemühungen um die Fachkräftesicherung das hohe Niveau, das wir in den letzten Jahren
erreicht haben, aufrecht. Wir können die Fachkräftesicherung allerdings nicht einfach per Gesetz verordnen. Sie
kann nur gelingen, wenn alle mit an Bord sind.
Ich habe deswegen im letzten November die „Partnerschaft für Fachkräfte in Deutschland“ ins Leben gerufen,
an der sich sowohl die Politik als auch die Sozialpartner
und die Kammern beteiligen. Die erreichten Erfolge zeigen, wo wir ansetzen müssen, um noch besser zu werden. Dazu gibt es eine sehr interessante Studie, die „Arbeitsmarktstudie 2030“, die ich Anfang Februar dieses
Jahres vorgestellt habe. Hier lassen sich interessante
Entwicklungen ablesen.
Die gute Nachricht ist: Die aktuelle Arbeitsmarktprognose für 2030 ist besser, als wir noch 2012 gedacht hatten. Wenn wir weiter auf Kurs bleiben, kann es uns gelingen, den Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen bis
2030 auf etwa 1 Million zu begrenzen. Ich betone: Es
handelt sich immer noch um einen Rückgang, der allerdings nicht so groß ausfällt, wie wir befürchtet hatten; es
ist aber immer noch ein Rückgang um 1 Million Personen.
Bislang waren die Vorzeichen düsterer. Ein wichtiger
Grund dafür, dass es heute besser aussieht, ist, dass
Deutschland attraktiv geworden ist, und zwar als Einwanderungsland. Wir sind inzwischen das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt, hinter den USA.
Menschen kommen zu uns, um hier zu arbeiten, zu leben
und mit ihrer Familie heimisch zu werden. Im vergangenen Jahr waren es fast 430 000. Deutschland zieht an;
darüber können wir wirklich froh sein.
({5})
Aber es gilt auch, den Menschen, die zu uns kommen, zu
zeigen: Ihr seid uns willkommen, wir brauchen euch.
Kulturelle Vielfalt macht unser Land aus, und sie macht
unser Land lebenswerter.
Zuwanderung ist ein Rezept gegen den drohenden
Fachkräftemangel; aber die Studie zeigt eben auch: Zuwanderung allein reicht nicht, um den Fachkräftebedarf
für die Zukunft zu decken. Wir müssen deswegen Türen
aufstoßen, die noch klemmen: Mütter zum Beispiel werden durch Auszeiten oder eine Teilzeitphase ausgebremst, stecken in der Teilzeitfalle fest; das ist leider flächendeckend der Fall. Ältere, die noch arbeiten können
und wollen, sind mit überholten Vorstellungen konfrontiert: So lässt sich eindeutig nachweisen, dass Ältere, die
arbeitslos werden, wesentlich schlechtere Chancen haben, wieder Arbeit zu finden, als Jüngere. Das ist weiterhin unbefriedigend.
({6})
Das Gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger hier leben und deren Fähigkeiten
nicht genug gefördert werden. Hier schlummern noch
viele Talente, viel Einsatzwillen, viel Kreativität. Hier
liegen Potenziale, die wir nutzen müssen.
Ich möchte vier Leitgedanken aufzeigen, wie wir
diese Ziele erreichen können:
Der erste Leitgedanke: Wir müssen auf die Menschen
setzen, für Motivation und Gesundheit sorgen. Wir sind
das Land der hochqualifizierten Fachkräfte, der Spitzenprodukte und der Exportrekorde. Wir wollen auch einen
Spitzenplatz belegen, wenn es um Gesundheit und Zufriedenheit unserer Mitarbeiter geht, damit sie länger
motiviert und fit in Arbeit bleiben können. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fordern mit Recht Kommunikation, Zeit und Freiraum, vor allem aber Wertschätzung.
Mit anderen Worten: Wir brauchen auch eine Debatte
über Führungskultur in unserem Land, nicht nur in den
großen Unternehmen, sondern auch bei den kleineren
und mittelständischen Unternehmen. Bei einer Untersuchung aus dem Jahr 2014 haben drei Viertel der Führungskräfte gesagt, dass an der Führungspraxis sehr viel
hängt, wenn es darum geht, Potenziale zu heben. Wir
brauchen also auch eine neue Führungspraxis.
Zweiter Leitgedanke: Wir brauchen Flexibilität für
die Unternehmen, aber auch Flexibilität, die die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst nimmt.
Ich sage hier nur: Ständige Erreichbarkeit kann nicht der
Preis für Flexibilität sein.
Dritter Leitgedanke: Wir müssen für die Qualifizierung sorgen, damit Fachkräfte auch Fachkräfte bleiben.
Ich persönlich glaube, dass, wenn wir in die Zukunft
schauen, nicht Arbeitsplatzverlust das Problem ist in diesem Land, sondern Qualifikationsverlust. Deswegen
freue ich mich, dass in der letzten Tarifauseinandersetzung der Metallbranche das Thema Qualifizierung/Bildungsteilzeit genauso wichtig war wie Lohnbestandteile.
Das ist etwas, was in die Zukunft weist.
({7})
Vierter Leitgedanke: Wir brauchen auch eine andere
Haltung. Ob jemand zugewandert ist - oder seine Eltern -,
ob jemand eine Behinderung hat, ob jemand bisher einfach
nicht den geraden Weg genommen hat: Das sagt noch
nichts über Können, Wissen und Einsatzbereitschaft aus. In
der Vielfalt liegt die Zukunft. Deshalb ist ein Einwanderungsgesetz aus meiner Sicht sinnvoll, und deshalb brauchen wir auch ein modernes Teilhaberecht; dafür müssen
wir uns einsetzen.
({8})
In diesem Sinne sind wir auf einem guten Weg; aber
wir sind noch nicht am Ziel.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Andrea Nahles. - Nächste Rednerin:
Sabine Zimmermann für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Stellen wir die Sache mit dem Fachkräftemangel einfach mal vom Kopf auf die Füße: Es gibt keinen
generellen Fachkräftemangel. Die BA selbst sagt: Wir
haben zwar Fachkräfteengpässe, aber keinen Mangel.
Ja, in manchen Branchen gibt es Engpässe, zum Beispiel in der Pflege, in der Gastronomie und im Metallund Elektrobereich. Gutes Personal gibt es eben nicht
zum Nulltarif. Wer Fachkräfte will, der muss sie auch
ausbilden.
({0})
Wer das nicht tut, der braucht hier auch nicht zu jammern. Wer gutes Personal will, der muss es auch ordentlich bezahlen. Ich hätte mir gewünscht, dass in dem Bericht der Bundesregierung dazu etwas gestanden hätte,
aber leider: Fehlanzeige!
({1})
Natürlich kenne ich auch Betriebe, die sagen - Herr
Schiewerling, Sie gucken mich so skeptisch an -: Wir bekommen nicht die Leute, die wir haben möchten. - Hier bedarf es natürlich einer gründlichen Analyse. Auf den Punkt
gebracht gibt es zwei Felder, die wir einfach nicht aus den
Augen lassen dürfen:
Erster Punkt. Wir haben ein enormes Arbeitskräftepotenzial, das nicht genutzt wird. 1,3 Millionen Erwerbslose haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Jährlich finden aber nur 69 000 Weiterbildungsmaßnahmen mit
dem Ziel eines anerkannten Berufsabschlusses statt.
256 000 Jugendliche - die Tendenz ist steigend - sind nach
der Schule in Überbrückungsmaßnahmen geparkt. Das
müsste Ihnen eigentlich auch zu denken geben.
Frau Nahles, ich kann Ihnen nicht zustimmen, wenn
Sie sagen, dass uns die Menschen für die Arbeit ausgehen. Das widerspricht sich. Wir alle hier wissen, dass
Qualifizierung das A und O ist, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können.
({2})
Frau Ministerin Nahles, ich muss Sie schon fragen,
warum Sie an dem arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag
der letzten Jahre festhalten, wenn Ihnen die Fachkräfte
so wichtig sind. Sie haben nicht genug Geld für Qualifizierungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt und feiern
hier die schwarze Null für Ihren Haushalt,
({3})
sagen aber nicht, dass das auf Kosten der Bildung für die
Zukunft geht. Wir als Linke sagen: Wir sind nicht bereit,
dies zu akzeptieren.
({4})
Viele Frauen in Teilzeit würden unter anderen Rahmenbedingungen länger arbeiten wollen. Damit würden
sie endlich auch den Teufelskreis aus zu geringen Verdiensten und Altersarmut durchbrechen können. Nach
wie vor fehlen aber ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, und es gibt viel zu wenig Unterstützung für
die Pflege von Angehörigen.
Die Regierung lamentiert hier, mehr nicht. Das ist für
die Linke nicht akzeptabel. Zu all diesen Punkten stehen
in Ihrem Bericht keine konkreten Maßnahmen, die wirklich wirkungsvoll sind.
Ich kann Ihnen sagen, was die IG Metall zu den bisherigen Bestrebungen gesagt hat - ich zitiere -:
Die Konzepte der Bundesregierung zur Fachkräftesicherung verlieren sich im Klein-Klein.
Weiter sagt sie:
Und viele Arbeitgeber können sich dazu nicht von
ewig gleichen Denkweisen loseisen: Länger arbeiten, schneller arbeiten, härter arbeiten.
Damit bin ich schon bei Punkt zwei. Wer von Fachkräftemangel redet, muss auch von den Arbeitsbedingungen sprechen. Es ist doch kein Zufall, dass es vor allen Dingen in den Pflege- und Gesundheitsberufen und
in der Gastronomie Fachkräfteengpässe gibt. Dort wird
oft rund um die Uhr mit enormen Arbeitsbelastungen
und für eine geringe Entlohnung gearbeitet. Es ist also
kein Wunder, dass diese Berufe nicht attraktiv sind und
viele Beschäftigte schnell wieder ausscheiden.
Hier sind einfach auch die Unternehmen in der
Pflicht, etwas zu ändern.
({5})
Nach einer Umfrage ist nur jeder fünfte Betrieb mit
Fachkräfteengpässen bereit, die Löhne für die Beschäftigten zu erhöhen, und nur jeder achte Betrieb will die
Arbeitszeiten anders gestalten.
Ich fasse zusammen: Wieder liegt ein Bericht der Regierung vor, wieder geht er aus unserer Sicht am Thema
vorbei. Den hätten Sie sich eigentlich sparen können.
Schade ums Papier!
Danke schön.
Sabine Zimmermann ({6})
({7})
Danke, Frau Kollegin Zimmermann. - Nächster Redner in der Debatte ist Karl Schiewerling für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Zimmermann,
Ihre Rede gerade ist ein Beispiel dafür, warum ich immer skeptisch gucke, wenn Sie sprechen.
({0})
Es ist nämlich gut, dass ein guter Bericht vorliegt, und
dieser Bericht dokumentiert, dass wir uns in der Tat auf
einem guten Weg befinden.
({1})
Meine Damen und Herren, hohe Beschäftigung, wirtschaftliche Prosperität, demografischer Wandel: Das waren die Gründe, warum 2011 die damalige Bundesregierung und das Bundesarbeitsministerium unter der
damaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der
Leyen das Fachkräftekonzept auf den Weg gebracht haben. Wir können heute feststellen, dass 42,7 Millionen
Menschen in Beschäftigung sind, dass es 30,5 Millionen
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. Das, was uns zumindest unter dem Gesichtspunkt des demografischen Wandels umtreibt, ist, dass
2030 mehr als 2 Millionen Menschen weniger in
Deutschland leben werden. Nach der Prognose werden
es nur noch 79 Millionen Einwohner sein. Und es gibt
einen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials um
6,5 Millionen Menschen.
Das ist der Grund, warum sich der vorliegende Bericht an fünf Sicherungspfaden orientiert, die damals auf
den Weg gebracht wurden: Aktivierung und Beschäftigung der Menschen, die bei uns sind: Zunächst einmal
geht es um diejenigen, die bei uns im Land leben, die wir
unterbringen wollen, deren Arbeit wir erhalten oder die
wir in Arbeit bringen wollen. Es geht um die bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es geht um bessere Bildungschancen für alle von Anfang an. Es geht
um Qualifizierung über Aus- und Weiterbildung, und es
geht um Integration und qualifizierte Zuwanderung.
Wir haben in der Tat eine Menge erreicht. Zugegeben
- Frau Ministerin Nahles hat das präzise beschrieben -:
Wir sind noch nicht am Ende, aber wir sind auf einem
ordentlichen Weg. Zum Bereich „Aktivierung und Beschäftigung“ ist zu sagen: Die Zahl der Erwerbslosen ist
auf 2,9 bzw. 2,8 Millionen gesunken. Wir haben die
niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Die Zahl
der Arbeitslosen über 55 Jahren haben wir halbiert. Die
Zahl der Erwerbstätigen zwischen dem 55. und dem
65. Lebensjahr haben wir in den letzten Jahren um
1 Million steigern können.
Wollen wir Fachkräfte so lange wie möglich in Arbeit
halten und wollen wir die Kompetenz der Älteren nutzen, dann müssen wir uns als Gesellschaft und als Gesetzgeber darauf einstellen. Aber auch die Sozialpartner
und die Betriebe sind gefordert. Es geht um die entsprechende Gestaltung der Arbeitsplätze. Es geht um Abläufe im Bereich der Beschäftigung. Es geht um Weiterbildung. Es geht um betriebliche Gesundheitsförderung.
Hier hilft der Staat in erheblichem Maße. Das Bundesarbeitsministerium hat das Programm INQA auf den
Weg gebracht. Das wird weitergeführt, damit diejenigen,
die in Beschäftigung sind und die Hilfe brauchen, um
länger beschäftigt zu sein, weil sie gesundheitliche Beeinträchtigungen haben, Unterstützung erhalten.
({2})
Meine Damen und Herren, wir sind dabei, die Übergänge in die Rente zu gestalten und so zu justieren, dass
Menschen länger arbeiten können
({3})
oder dass der Renteneinstieg der Situation der Älteren
entsprechend angepasst wird. Aber wir dürfen in der Tat
den Blick nicht davor verschließen, dass uns bestimmte
Bereiche große Sorgen machen, etwa die Langzeitarbeitslosen.
Heute organisiert die Katholische Jugendfürsorge den
sogenannten Josefstag. In vielen Einrichtungen der sozialen Arbeit finden heute Begegnungen und Gespräche
statt. Es geht um die arbeitslosen Jugendlichen, die ohne
fremde Hilfe keine Startchancen auf dem Arbeitsmarkt
haben. Hierzu gibt es viele Initiativen.
Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Es gibt
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik keinen Kahlschlag.
Wir haben sogar im vergangenen Jahr bei dem Programm WeGebAU das Problem gehabt, dass 50 Prozent
der Mittel gar nicht abgerufen worden sind. Wir haben
die Aufgabe, die vorhandenen Mittel - zugegebenermaßen - zu justieren und zu optimieren - dabei sind wir gerade -, um sie für die Menschen, die der Hilfe bedürfen,
zielgerichtet einzusetzen.
Uns geht es dabei um die Frage, wie wir insbesondere
denjenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt besonders
schwertun, helfen können. Dazu gehören auch die
300 000 Jugendlichen aus Familien ohne Perspektive.
Ihnen müssen wir helfen, aus diesen sozialen Verhältnissen herauszukommen. Auch hier arbeiten wir an Konzepten.
Meine Damen und Herren, ein anderer Pfad der Fachkräftesicherung betrifft natürlich die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf oder, wie ich zu sagen pflege, von Familie und Betrieb, weil das die beiden existenziellen
Orte im Leben eines Menschen sind. Es geht darum, den
Bereich, in dem Leben entsteht und Zusammenleben
stattfindet, und den Bereich, in dem man die wirtschaftli8932
chen Grundlagen erwirtschaftet, um zusammenleben zu
können, zusammenzubringen, und sie werden seit vielen
Jahren immer besser zusammengebracht.
Aber es bleibt auch weiterhin einiges zu tun. In der
Tat steht dabei mittlerweile nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren die Frage der Kinderbetreuung als Problem
im Mittelpunkt. Denn wir haben in der U-3-Betreuung
und in der Begleitung viel gemacht.
({4})
Im Mittelpunkt steht mittlerweile die Frage, wie wir den
Beruf mit der Pflege vereinbaren können, weil immer
mehr Ältere im Betrieb vor der Frage stehen, wie sie ihre
pflegebedürftigen Angehörigen unterstützen können.
Dies sind Zukunftsaufgaben, die sehr wohl unter dem
Gesichtspunkt der Sicherung von Fachkräften und des
Fachkräftemangels zu sehen sind.
Lassen Sie mich kurz auf den Bereich der Aus- und
Weiterbildung zu sprechen kommen. Wir haben jetzt die
assistierte Ausbildung auf den Weg gebracht.
({5})
Damit tragen wir dazu bei, dass Menschen besser in den
Beruf hineinkommen können.
Im Bereich der Berufseinstiegsbegleitung stehen insgesamt 1 Milliarde Euro für die aktuelle Förderperiode
zur Verfügung. Wir werden damit über 115 000 Jugendliche erreichen. Und: Es geht um die jungen Menschen
und Menschen mit Migrationshintergrund. Wir wissen,
dass auch weiterhin viel zu tun ist. Aber mit den
628 Millionen Euro, die jetzt für berufsbezogene
Sprachkurse und die berufliche Weiterbildung zur Anerkennung von ausländischen Abschlüssen zur Verfügung
stehen, bringt die Bundesregierung ebenfalls eine große
Leistung auf den Weg.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Dieser Ansatz der Fachkräftesicherung hat sich bewährt. Wir müssen diesen Weg weitergehen. Unsere Grundsätze sind: Wir brauchen diejenigen,
die in unserem Land leben. Wir brauchen auch Zuwanderung, aber wir brauchen Fachkräfte, keine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Alle sind gefordert: Bund,
Länder und Kommunen, aber auch die Sozialpartner und
die Betriebe.
Lassen Sie mich mit Konrad Adenauer sagen: Sie
müssen die Menschen nehmen, wie sie sind; es gibt
keine anderen. - Aber ich füge hinzu: Wenn wir alle Begabungen und Fähigkeiten, die wir haben, aktivieren und
stärken, dann ist mir um die Zukunft unseres Landes
nicht mehr bange.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Schiewerling. - Nächste Rednerin: Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Nahles, Sie haben gerade ganz stolz gesagt, dass Sie die
Ziele, die Sie für 2020 anpeilen, im Grunde schon heute
erreicht haben. Die Frage, die sich aus meiner Sicht dazu
stellt, ist, ob die Bilanz auch 2020 überhaupt noch so
positiv sein wird. Weiter stellt sich die Frage, ob die Prognose, die Sie in Ihrem Bericht für 2030 angeben, nämlich dass sich die Zahl der Erwerbstätigen nur um
1 Million reduziert, zutrifft. Ich bin sehr skeptisch. Mit
dieser Prognose ist die Bundesregierung relativ allein
auf weiter Flur. Alle seriösen Arbeitsmarktforscher, wie
erst letzte Woche das IAB, gehen davon aus, dass die
Zahl der Erwerbstätigen um mindestens 3 Millionen zurückgehen wird.
Ich habe Ihren Fortschrittsbericht genau gelesen, und
ich habe keine substanziellen Gründe dafür gefunden,
dass nicht die Forscher recht haben sollten, sondern die
Bundesregierung. Ich finde, da müssten Sie noch einmal
nachlegen.
({0})
Ja, es ist richtig: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen
hat deutlich zugenommen, nämlich um satte 21 Prozent
seit den 90er-Jahren. Das ist die gute Nachricht. Die
schlechte Nachricht ist aber: Das Erwerbsarbeitsvolumen von Frauen ist nur um magere 4 Prozent gestiegen.
Mit anderen Worten: Im Prinzip teilen sich immer mehr
Frauen das gleiche Arbeitsvolumen. Das hilft aber bei
der Bekämpfung des Fachkräftemangels nicht weiter. Es
hilft im Übrigen auch den Frauen nicht weiter. Ich nenne
nur das Stichwort Altersarmut.
({1})
Ich sage Ihnen: Ihr viel beschworenes Jobwunder ist
vor allen Dingen ein Teilzeiteffekt. Dies entspricht nicht
den Wünschen der Frauen. Die allermeisten Frauen wollen mehr arbeiten, als sie aktuell tatsächlich arbeiten.
Das kann auch nicht Ihr Ziel sein, wenn Sie den Fachkräftemangel bekämpfen wollen. Wenn Sie dieses Erwerbspotenzial - das ist das größte Erwerbspotenzial,
das wir hier im eigenen Land haben: gut ausgebildete
Frauen, hochmotivierte Frauen - wirklich heben wollen,
dann müssen Sie den Frauen helfen, aus der Sackgasse
von Ehegattensplitting und Minijobs herauszukommen,
dann müssen Sie an diesen strukturellen Bedingungen
etwas ändern.
({2})
Ja, Frau Nahles, Sie haben recht: Der Anteil der Älteren unter den Beschäftigten hat zugenommen, insbesondere bei der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen. Ich fürchte
nur, das ist ein kurzes Glück. Uns droht nämlich der
Nahles-Knick:
({3})
- Ja, Ehre, wem Ehre gebührt, Frau Nahles. - Bereits im
ersten halben Jahr seit Einführung der Rente mit 63 haben 60 000 Ältere ihre Arbeit aufgegeben.
({4})
Ich spreche hier ausdrücklich nur von denjenigen, die
wir „Vorzieher“ nennen, also von denen, von denen wir
wissen, dass sie ohne dieses Angebot länger gearbeitet
hätten. Das sind 16 Prozent der Beschäftigten dieser Altersgruppe. Auf der einen Seite wollen Sie die Erwerbsbeteiligung Älterer erhöhen, und auf der anderen Seite
setzen Sie Anreize, aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
({5})
Ich will das mal mit einem niedersächsischen Spruch
kommentieren: Sie stoßen mit dem Hintern um, was Sie
mit den Händen aufgebaut haben.
({6})
Ja, die Zuwanderung hat sich erfreulich entwickelt.
Aber das ist eine Zuwanderung vor allen Dingen aus den
EU-Krisenstaaten. Wir hoffen doch wahrscheinlich alle
gemeinsam, dass diese Länder die Krise so schnell wie
möglich überwinden. Aber dann wird ein erheblicher
Teil derjenigen, die aus diesen Krisenländern kommen,
in ihre Heimat zurückgehen.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie Zuwanderung wirklich
nachhaltig gestalten wollen, dann müssen Sie sich auf
die Zuwanderung aus Drittstaaten konzentrieren. Aber,
meine Damen und Herren, dies setzt natürlich voraus
- jetzt richte ich mich vor allen Dingen an die rechte
Seite des Hauses -, dass Sie die Ressentiments in Ihren
eigenen Reihen zunächst einmal bekämpfen.
({7})
Das setzt auch voraus, dass Sie tatsächlich ein modernes
Einwanderungsgesetz auf den Tisch legen und eine echte
Willkommenskultur gestalten.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Arbeitslosen
sagen.
Kurz.
Kurz, ja. - Auch da liegt ein riesiges Potenzial. Aber
um das zu heben, müssten Sie zunächst einmal in die Arbeitslosen investieren, damit sie zu Fachkräften werden.
Dann haben diese Menschen auch eine Chance. Das ist
nicht nur ein Projekt, das diesen Menschen konkret hilft,
das ist auch aus ökonomischen Gründen richtig und notwendig und sinnvoll, weil der Fachkräftemangel das
größte Wachstumsrisiko werden könnte.
({0})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie diese Widersprüche, die Sie
in Ihrer Politik haben, nicht auflösen - bei den Frauen,
bei den Älteren, bei der Zuwanderung -, dann werden
Sie Ihr Ziel der Bekämpfung des Fachkräftemangels jedenfalls nicht erreichen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Diesen niedersächsischen Spruch kenne ich aus Bayern auch; aber wir drücken es ein bisschen drastischer aus.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Mast für die
SPD.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir reden über den Fachkräftefortschrittsbericht der
Bundesregierung, und in diesem Fachkräftefortschrittsbericht steht genau das, was unsere Bundesarbeitsministerin gerade gesagt hat: Erstens. Es gibt keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, aber Engpässe. Zweitens.
Wir sind bei allen Punkten, die wir uns vorgenommen
haben, heute schon besser, als wir 2020 sein wollen.Ich
finde, da kann man schon mit Selbstbewusstsein sagen:
Wir gehen das Thema „Fachkräftesicherung der Zukunft“ mit Herz, Energie und auch Finanzen richtig gut
an.
({0})
Es gibt eine Gruppe, bei der das Ziel noch nicht ganz
erreicht ist - das will ich an dieser Stelle nicht verschweigen -: Das ist bei der Erwerbsbeteiligung von
Frauen der Fall. In Zukunft soll der entsprechende Prozentwert bei 73 Prozent liegen. So weit sind wir leider
noch nicht; denn wir liegen bei 72,5 Prozent. Auch das
soll der Wahrheit zuliebe hier ausgesprochen werden.
Warum beschäftigen wir uns heute mit dem Thema
„Fachkräftesicherung der Zukunft“? Es geht darum, dass
wir durch den demografischen Wandel in Zukunft weniger Erwerbstätige haben werden. Da ist es müßig, sich
darüber zu streiten, ob 1 Million, 2 Millionen, 3 Millionen oder andere Zahlen richtig sind; vielmehr ist eindeutig erwiesen: Wir müssen zur Fachkräftesicherung der
Zukunft etwas tun.
Auf der einen Seite müssen wir das bestehende Potenzial, also die Menschen, die in Deutschland leben, für
den Arbeitsmarkt besser aktivieren und vor allen Dingen
auch besser qualifizieren. Auf der anderen Seite müssen
wir Zuwanderung gestalten, weil wir zur Sicherung
unserer Wirtschaftskraft in Zukunft mehr Fachkräfte aus
anderen Ländern brauchen werden. Deshalb bin ich
meinem Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann
dankbar, der eine Initiative ergriffen hat, um über die
Einwanderungsgesetzgebung, aber vor allen Dingen
auch über das Thema „Einwanderungsland Deutschland“ einmal ordentlich zu diskutieren.
({1})
Ich will einen Punkt in den Mittelpunkt meiner kurzen Redezeit rücken: Was tun wir für junge Menschen,
damit sie als qualifizierte Fachkraft durchs Leben gehen
können und in ihrer Erwerbsbiografie nicht ohne Ausbildung bleiben, sodass sie nicht irgendwann arbeitslos
oder sogar langzeitarbeitslos werden? Es ist klar:
Deutschland ist ein Hochlohnland, und die Arbeitskräfte
brauchen eine hohe Qualifizierung.
In den letzten Wochen und Monaten hat diese Regierung die assistierte Ausbildung beraten und beschlossen.
Das heißt, wir sorgen dafür, dass junge Menschen eine
duale Ausbildung im Betrieb machen können, dass ihre
Chancen am Arbeitsmarkt steigen. Wir haben dafür gesorgt, dass die ausbildungsbegleitenden Hilfen, also
auch die Begleitung von anderen Auszubildenden, deutlich ausgeweitet werden. Wir haben in der Allianz für
Aus- und Weiterbildung dafür gesorgt, dass 20 000 zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung
gestellt werden.
({2})
Wir haben die Berufseinstiegsbegleitung wie noch keine
Vorgängerregierung ausgebaut. Diese Begleitung ist der
zentrale Förderschwerpunkt dieser ESF-Förderperiode,
und das ist auch gut so. Außerdem stärken wir die
Jugendberufsagenturen. Das sind nur wenige Instrumente, mit denen ich deutlich machen will: Wenn man
sich einer Gruppe zuwendet, dann kann man für sie auch
etwas tun.
({3})
Für uns von der SPD haben Bildung und Qualifizierung natürlich etwas mit Wirtschaft, Erwerbstätigkeit
und besseren Verdienstmöglichkeiten zu tun; aber sie haben für uns vor allen Dingen auch damit zu tun, dass
Menschen aufsteigen können und dass sie durch Bildung
ein anderes Leben als die Elterngeneration führen können. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt.
({4})
In der heutigen Diskussion ist auf Folgendes noch gar
nicht hingewiesen worden: Wir entwickeln uns von der
Wissensgesellschaft hin zur digitalen Gesellschaft. Das
heißt, dass die Halbwertszeit von Wissen immer geringer
sein wird. Daher wird es nicht reichen, den Jungen am
Anfang eine gute Ausbildung zu ermöglichen; vielmehr
müssen wir uns noch mehr darüber unterhalten, wie wir
lebensbegleitendes Lernen gut organisieren und wie wir
weit über das hinausgehen können, was heute möglich
ist, auch weit über das hinaus, was die IG Metall zum
Glück in das Zentrum ihrer Tarifverhandlungen gestellt
hat. Aber da muss, auch von staatlicher Seite, noch mehr
kommen.
({5})
Deshalb sagen wir: Wir müssen über die Zukunft
nachdenken, nicht kurzfristig, sondern mittel- bis langfristig: Wie sieht es eigentlich im Erwerbsleben aus?
Man denke an eine Person, die im Erwerbsleben steht
und überlegt: Na ja, angesichts meiner Qualifizierung
weiß ich nicht so richtig, was mit mir geschieht, wenn
ich meinen Job verliere. Wer berät mich da eigentlich? Brauchen wir nicht eine Bildungsinfrastruktur in der Fläche durch Bildungsstützpunkte, durch die entsprechende
Maßnahmen organisiert werden? Müssen wir nicht die
Arbeitslosenversicherung zu einer Versicherung weiterentwickeln, die frühzeitig agiert, die langfristig und
lebensbegleitend orientiert ist und nicht nur am Verlust
der Arbeit und dann erst berät? Wir finden, wir sollten
eine Debatte über eine Weiterentwicklung hin zu einer
Arbeitsversicherung führen.
({6})
Ich will zum Schluss kommen und sagen: Willy
Brandt hat uns mit auf den Weg gegeben, dass wir in jeder Zeit eigene Antworten brauchen und dass wir auf der
Höhe der Zeit zu sein haben, wenn wir Gutes bewirken
wollen. Das gilt für das Thema „Sicherung des Fachkräftebedarfs“ so stark wie für fast kein anderes Thema. Ich
freue mich auf die Debatten der Zukunft.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Mast. - Nächste Rednerin in der Debatte: Jutta Krellmann für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Fachkräftemangel herrscht nur in den Unternehmen, wo es verantwortungslose Arbeitgeber gibt.
({0})
- „Verantwortungslose Arbeitgeber.“ Hören Sie doch
mal genau zu!
({1})
Die Gewerkschaften haben dazu eine eindeutige Meinung. Die IG Metall beispielsweise kritisiert nicht nur,
sondern hat auch Vorschläge, was für die Zukunft der
Fachkräfte zu tun ist.
Gute Bildung, gute Qualifikation: Die Aufgabe der
Regierung ist hier, die Rahmenbedingungen zu schaffen,
zum Beispiel durch gute Kitabetreuung, aber auch durch
Ganztagsangebote, insbesondere an Hauptschulen.
({2})
Staatliche Aufgabe ist ebenfalls, die Rahmenbedingungen für gute Arbeit zu schaffen. Dazu gehört politisch insbesondere die Abschaffung der sachgrundlosen
Befristungen.
({3})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung vom Kollegen Weiler von der CDU/CSUFraktion?
Gerne.
Gut. - Herr Weiler.
Frau Kollegin Krellmann, wir sind zusammen in einem Ausschuss. Ich arbeite mit Unternehmern zusammen; das habe ich schon getan, bevor ich im Bundestag
war. Wir versuchen, durch Eigeninitiative der Unternehmen viele Fachkräfte heranzubilden. Das heißt, die
Unternehmen investieren viel Geld in die Fachkräftenachwuchsgewinnung.
Sie sagen jetzt: Wenn in Unternehmen Fachkräftemangel ist, zeigt das, dass die Unternehmer verantwortungslos sind. - Im Umkehrschluss sagen Sie damit wenn Sie das vielleicht richtigstellen! -, dass alle Unternehmer in meinem Wahlkreis, Mittelständler, die, ich
sage mal, zu 80 Prozent Fachkräftemangel haben, keinen
Nachwuchs kriegen, die gern 5, 10 oder 20 Auszubildende nehmen wollen, aber nicht kriegen - sie tun viel
dafür; die Handwerkerschaft, die Innungen, die IHK tun
auch viel dafür -, verantwortungslos sind. Ich glaube,
das geht einfach zu weit.
Danke.
({0})
Vielen Dank für die Frage. Ich darf Ihnen darauf antworten.
Ich habe gesagt: verantwortungslose Arbeitgeber.
80 Prozent der Betriebe bilden gar nicht aus.
({0})
- Wie bitte? Auch Sie dürfen mir gleich eine Frage stellen.
Das entscheiden nicht Sie.
Ich kann mich an die Zeit erinnern, wo die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland begonnen hat. Genau da
haben wir zu diskutieren begonnen.
Wenn ich von verantwortungslosen Arbeitgebern
rede, dann meine ich nicht die, die ausbilden und dafür
sorgen, dass sie Facharbeiter kriegen, sondern ich meine
die 80 Prozent, die davon profitieren, dass andere ausbilden. Sie müssen doch ganz genau wissen, wie das im
Betrieb ist.
({0})
Als Gewerkschaftssekretärin habe ich das erlebt; ich
weiß, wie das geht. Die Forderung, die wir als Antwort
darauf erhoben haben, ist: Wir brauchen eine Umlagefinanzierung der Ausbildungsplätze, damit endlich auch
die Arbeitgeber, die von der Leistung anderer profitieren, dafür zahlen, dass sie Fachkräfte kriegen. Das, finde
ich, hat System, wenn man die Frage stellt: Was kann
man gegen Fachkräftemangel machen?
({1})
Darf ich weitermachen? Ja, oder?
Machen Sie weiter. Ihre Redezeit läuft.
Ich war bei dem Thema: Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. Das ist aus unserer Sicht eine klare
Aufgabe für die Bundesregierung.
Parallel ist es die Aufgabe von Unternehmen, sich an
Tarifverträge zu halten und dafür zu sorgen, dass in den
Betrieben entsprechende Bedingungen geschaffen werden. In Sachsen-Anhalt werben Unternehmen mit dem
Bestehen von Tarifverträgen um Fachkräfte. Diese garantieren den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sicheres Geld, geregelte Arbeitszeiten, Urlaubs- und
Weihnachtsgeld. In Niedersachsen machten die Metallunternehmen ihre Beschäftigten wuschig, weil sie sich
zierten, die entsprechenden Tarifabschlüsse, die alle anderen Beschäftigten in der Branche bekommen haben,
zu übernehmen. Inzwischen war der Druck so groß, dass
auch niedersächsische Unternehmen ihren Fachkräften
diese Tariflöhne zahlen müssen. „Ohne Tarifvertrag“ bedeutet immer: niedrigere Löhne bis hin zu Mindestlöhnen, keine Lohnerhöhungen mehr, weniger Urlaub usw.
Tariflöhne sind ein wichtiges Kriterium, wenn man ausreichend Fachkräfte haben will.
({0})
Unternehmen, die gute Rahmenbedingungen schaffen, haben in der Regel auch keine Probleme, Fachkräfte
zu finden. Fachkräftesicherung braucht aber auch gute
Arbeitsbeziehungen: zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Nur so lassen sich Regelungen über altersgerechte
Arbeitsplätze auf der Basis von Betriebsvereinbarungen
oder über eine neue Arbeitszeitpolitik auf der Basis von
Tarifverträgen treffen. Das ist mit den genannten Akteuren möglich, wenn sie denn wollen. Mit solchen Maßnahmen schafft man Fachkräftesicherung.
({1})
Was aber machen viele Arbeitgeber stattdessen? Sie
übernehmen keine Verantwortung. Sie sind oftmals nicht
bereit, in ihr Personal zu investieren. Sie wälzen alles auf
den Staat ab und schreien laut im Chor: Alarm, Fachkräftemangel!
({2})
Diesen Arbeitgebern sage ich: Hören Sie auf, zu jammern, und überlegen Sie, wo Sie selbst ansetzen können,
um Fachkräfte an Ihren Betrieb zu binden, zum Beispiel
indem Sie gute Löhne zahlen, sichere Arbeitsplätze
schaffen, Ihren Beschäftigten eine Perspektive für die
Zukunft geben,
({3})
betriebliche Ausbildung anbieten und auch stärken sowie junge Fachkräfte unbefristet übernehmen. Das
müsste in allen Branchen gelten.
Als Gewerkschafterin wünsche ich in der aktuellen
Tarifrunde insbesondere den Beschäftigten im Sozialund Erziehungsdienst viel Erfolg im Kampf für ihre Tarifverträge und für die Anerkennung ihrer Arbeit. Dafür
braucht es starke Gewerkschaften. Dafür tritt die Linke
ein.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. - Nächster
Redner in der Debatte: Tobias Zech für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
froh, dass wir über das Thema Fachkräftemangel sprechen und nicht, wie in anderen Ländern, darüber, dass
wir ganzen Generationen von Jugendlichen keine Arbeit
anbieten können, die somit in der Arbeitslosigkeit bleiben. Das ist schon einmal positiv.
({0})
Frau Ministerin, wir können auch noch aus einem anderen Grund froh sein. Das Thema wird herausfordernd
für uns sein - es ist ein schwieriges und wichtiges
Thema -, aber der Bericht zeigt: Wir sind nicht nur gut
im Zeitplan, nein, wir sind ihm sogar voraus. Die Maßnahmen, die wir vor vier Jahren beschlossen haben, wirken. Würden manche Infrastrukturmaßnahmen, auch
hier in der Hauptstadt, in vier Jahren erfolgreich sein,
hätten wir weniger Probleme in diesem Land.
({1})
Ich möchte einmal einordnen, über was wir überhaupt
sprechen. Wir haben einen Fachkräftemangel in bestimmten Branchen, in bestimmten Regionen. Aber eines gehört auch zur Wahrheit: Wir haben in Deutschland
wesentlich mehr Menschen, die dem Erwerbsleben zur
Verfügung stehen würden, als wir in das Erwerbsleben
integrieren können. Somit haben wir vor allem eine
Lücke hinsichtlich der Qualifizierung und nicht hinsichtlich der Anzahl. Hier müssen wir ansetzen.
({2})
2011 wurden für den Ausgleich dieses Engpasses
mehrere Pfade entwickelt. Drei möchte ich nennen: die
Ausbildung der Jungen, die bessere Integration der
Eltern sowie offenere Zuwanderungsmöglichkeiten.
Schaut man sich diese Bereiche an, so kann man feststellen, dass in den letzten Jahren viele strukturelle Veränderungen geschaffen wurden und der Weg für noch mehr
Prosperität in diesem Bereich geebnet wurde. Das ist ein
großer Fortschritt. Die Ministerin hat es angesprochen:
Auch in den Unternehmen - ich selber war neun Jahre
lang Personaler - hat sich ein Kulturwandel vollzogen.
War die Personalabteilung früher eine kleine Verwaltungseinheit - ich habe immer gesagt: P kann jeder -, die
sich um Verträge gekümmert hat und um Abläufe und
Standards, ist jetzt der Personalmanager im Unternehmen jemand, der sich um einen der wichtigsten Produktionsfaktoren, nämlich den Faktor Arbeit, den Faktor
Mensch, kümmert. Unsere Unternehmen in Deutschland
haben diesen Schritt schon getan. Ich denke, man hat
schon viel getan. Man hat in den Unternehmen schon
sehr gute Initiativen ergriffen, um den Fachkräftemangel
zu beheben.
Die Personaler haben hier genau drei Möglichkeiten:
Recruitment, Retention und Retirement. Oder besser gesagt: Wie bekomme ich das richtige Personal? Wie setze
ich es im Betrieb richtig ein? Auch wichtig: Wie gestalte
ich den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand?
Hier gilt es, für uns, die richtigen Rahmenbedingungen
zu setzen. Dabei müssen wir uns aber auch bewusst machen, dass wir alle Phasen des Lebenszyklus eines Arbeitnehmers mit entscheidenden Hilfestellungen begleiten müssen.
Ich möchte bei der Ausbildung anfangen. Zu viele
junge Menschen werden ohne abgeschlossene Ausbildung ins Leben entlassen. 2011 waren noch 17 Prozent
der 20- bis 29-Jährigen ohne Ausbildung. Das größte Risiko für Armut ist die fehlende Ausbildung. 2013 haben
wir es geschafft, unter 10 Prozent zu kommen. Das ist
ein unglaublich guter Fortschritt, vor allem, wenn man
weiß, dass allein eine 10-prozentige Abbrecherquote
rund 600 000 Fachkräfte kostet. Bei den 30- bis 34-Jährigen mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss sind
wir bei 44,5 Prozent angelangt. Wir befinden uns in einer guten Situation, es lohnt sich, darauf aufzubauen.
Wir müssen aber weiter den Fokus auf die Ausbildung legen. Ich teile nicht die Einschätzung, die im Bericht durchklingt, dass man bei der Durchlässigkeit des
Bildungssystems ansetzen muss. Ich bin über Hauptschule, mittlere Reife, Berufsoberschule und FachhochTobias Zech
schule jetzt zu Ihnen gekommen. Also, die Durchlässigkeit ist es wohl nicht. Man müsste aber den Schwerpunkt
auf die Ausbildungsreife setzen. Jeder, der in die Berufsschule kommt, sollte den Dreisatz können. Jeder, der die
Berufsschule verlässt, sollte wissen, was auf ihn zukommt. Es sollte nicht so sein, dass der Metzgerlehrling
am ersten Tag erschreckend feststellt, wo die Wurst
wirklich gemacht wird und wie es dort aussieht, und
dann das Unternehmen schreiend verlässt. Im Bereich
der Ausbildungsreife, der Aufklärung und der Information über Berufsbilder müssen wir noch mehr machen.
({3})
Hier lohnt sich auch das Engagement, das Investment.
Die Ministerin hat die Allianz für Aus- und Weiterbildung angesprochen. Es geht nämlich nur miteinander.
Nicht die Politik kann den Fachkräftemangel beheben,
sondern nur die Unternehmen und die Menschen in unserem Land.
Wie können wir die Arbeitnehmer länger in den Betrieben halten? Wie können wir Erziehungszeiten besser
koordinieren? Wie können wir das kurzfristige Ausscheiden aus dem Unternehmen sicherstellen? Das sind
wichtige Fragestellungen. Man hat über Wertkontensysteme, Lebensarbeitszeitkonten oder mit dem TV FlexÜ
erste Möglichkeiten geschaffen. Einige Unternehmen
sind schon bei der Umsetzung. Das kann noch weiter
ausgebaut werden.
Ich möchte noch die Chemiebranche erwähnen, die
schon vor Jahren mit ihrem Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ einen Meilenstein bezüglich der
Tariflandschaft in Deutschland gesetzt hat und bewusst
das Thema „Fachkräftemangel“ und das Thema „Älter
werden im Betrieb“ in den Fokus gestellt hat. Das ist
mehr als beispielgebend und sollte von allen als Beispiel
genommen werden.
Ein Punkt liegt mir noch am Herzen. Wir sprechen darüber - auch die Ministerin hat es angesprochen -, dass
wir in Zukunft Älteren ermöglichen wollen, wenn sie es
selber wollen und können, länger im Betrieb zu bleiben.
Das ist zum einen die Flexirente. Frau Pothmer, ich muss
dazu sagen, dass es für uns nicht heißt, dass wir die Rente
mit 63 bzw. die Altersrente nach 45 Beitragsjahren infrage
stellen. Denn wer 45 Jahre in diesem Land gearbeitet hat,
hat es in einer Solidargemeinschaft auch verdient, dass er
in den Ruhestand gehen kann.
({4})
- Herr Birkwald, Sie erschrecken mich. - Für mich ist
wichtig, dass wir beim Thema Flexirente weiterkommen. Das heißt aber auch, dass wir in den Betrieben im
kulturellen Wandel noch weiter fortschreiten müssen. Es
geht hier um das Thema „betriebliches Gesundheitsmanagement“. Wir müssen wieder Arbeitsplätze für Ältere
oder für Mitarbeiter schaffen, die nicht so leistungsfähig
sind oder körperlich nicht so leistungsfähig sind, damit
auch sie ihren Beitrag im Unternehmen leisten können.
Deswegen finde ich es gut, dass wir mit dem Präventionsgesetz die Mittel der Krankenkassen für die Umsetzung des betrieblichen Gesundheitsmanagements erhöht
haben.
Ich möchte zum Schluss kommen. Die Arbeitgeber in
Deutschland - damit meine ich auch den Staat - sind angehalten, weiterhin jeweils für ihren Bedarf praktikable
und effektive Lösungsansätze zu finden. Ich denke, wir
als Politik müssen sie effektiv und intensiv dabei begleiten. Ich freue mich auf die weitere Diskussion.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Zech. - Nächster Redner
in der Debatte: Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
wir hier über die Zukunft der Fachkräfteentwicklung diskutieren, müssen wir sagen: Wir können es uns nicht
leisten, einen Teil der jungen Generation zurückzulassen. Der Bericht gibt darüber Auskunft, dass 72,3 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund, die arbeitslos sind, keinen Berufsabschluss haben. Das
zeigt: Es darf bei uns in der Bildungspolitik kein endgültiges Scheitern geben, sondern jeder muss erneut
eine Chance bekommen, sich auf dem Arbeitsmarkt
zu bewähren.
({0})
Es geht darum, dass wir schlichtweg alle Potenziale,
die wir im Land haben, heben, dass wir die Menschen
fördern. Das heißt für mich: Man muss auch bei den
Flüchtlingen, die hierherkommen, von Anfang an mit Integrationskursen die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass sie hier, auf dem deutschen Arbeitsmarkt, ihren
Qualifikationen entsprechend eine Chance bekommen
und auch Qualifikationen erwerben können, und das
nicht erst nach ein, zwei Jahren Asylverfahren, sondern
vom ersten Tag an, wenn sie hier ankommen. Das heißt
Willkommenskultur.
({1})
Wir dürfen uns auf der jetzigen wirtschaftlichen Situation und der Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht
ausruhen. Wir wissen doch - da hatte die Frau Ministerin, die allerdings nicht zuhört, vorhin durchaus recht -,
dass uns in Zukunft nicht die Arbeit ausgehen wird, sondern die Menschen, die sie leisten können. Wir haben
aus demografischen Gründen einen jährlichen Bedarf bei
der Zuwanderung von Arbeitskräften von 300 000 Menschen. Den können wir gegenwärtig decken, weil Menschen aus den südeuropäischen Ländern aufgrund der
wirtschaftlichen Situation zu uns kommen. Das wird
sich aber ändern, wenn sich die Wirtschaftslage in der
Europäischen Union - hoffentlich bald - verbessert.
Dann werden wir einen negativen Wanderungssaldo haben. Das haben wir gegenüber der Türkei heute schon:
Volker Beck ({2})
Wir haben in den letzten Jahren mehr Menschen an die
Türkei abgegeben, als in der gleichen Zeit zu uns gekommen sind. Eine solche Entwicklung steht uns bevor.
Wenn wir uns darauf nicht vorbereiten, dann verspielen
wir die Zukunft unseres Landes.
({3})
Frau Nahles, vielleicht haben Sie bei der Redevorbereitung Ihren eigenen Bericht nicht ganz genau studiert.
Ich finde es selbstgefällig und schlicht falsch, wenn da
steht:
Mit den Rechtsänderungen zur Zuwanderung von
Hochqualifizierten und Fachkräften, die seit
Sommer 2012 in Kraft traten, wurde der deutsche
Arbeitsmarkt weitestgehend geöffnet und entbürokratisiert.
Das ist einfach unwahr.
Wir haben fast keine Möglichkeit der angebotsorientierten Zuwanderung von Menschen, die sagen: Ich habe
eine Qualifikation, ich möchte nach Deutschland kommen, aber ich habe noch keinen konkreten Arbeitgeber,
der mir einen Arbeitsvertrag zur Verfügung stellt. - Dafür brauchen wir eine Möglichkeit. Wir haben dafür seit
2012 eine Regelung, die aber an Bürokratie und Absurdität schwer zu toppen ist. Es geht um § 18 c des Aufenthaltsgesetzes. Danach dürfen Menschen mit einem
Hochschulabschluss für sechs Monate zur Arbeitssuche
nach Deutschland kommen. Ihr Lebensunterhalt muss
aber gesichert sein, und sie dürfen während der Zeit der
Arbeitssuche absurderweise nicht arbeiten. Sie müssen
also ihr Vermögen aufzehren, wenn sie hier nach
Deutschland kommen. Ja, wer macht denn so etwas? Im
letzten Jahr waren es 900 Menschen, die davon Gebrauch gemacht haben, im Jahr davor 400. Damit werden wir unseren Fachkräftemangel der Zukunft nicht bekämpfen können. Da brauchen wir flexiblere Lösungen.
Warum soll ein Ingenieur, der hierherkommt, nicht sagen: „Bis ich einen richtigen Arbeitsplatz gefunden
habe, kellnere ich auch mal, damit ich nicht das Geld,
das ich habe, aufzehren muss“? Das wäre zukunftsfähiger. Wir brauchen am Ende eine viel flexiblere Regelung
als dieses Gestrüpp im Aufenthaltsgesetz.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Beck?
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ich habe
mir heute die wunderbare Initiative „Make it in Germany“ angeschaut, diese Website, die angeblich ja alle
Probleme lösen soll. Also, säße ich jetzt in Indien oder in
Afrika oder in Lateinamerika vor meinem Computer und
würde mir das anschauen, ich würde echt nicht verstehen, wie ich hierherkomme, obwohl da Arbeitsplätze angeboten werden. Da muss ich mich bewerben, dann
muss ich zur Visastelle, die mir nach Auskunft des Portals sagen wird, wie es denn mit dem Visum geht. Dann
dauert das Verfahren zur Aufnahme vielleicht ein Jahr,
Redezeit, Herr Beck!
- wenn ich Glück habe. Das wird nur diejenigen, die
wirklich in Not sind, motivieren, hierherzukommen. Wir
müssen uns auf den zukünftigen Zuwanderungsbedarf
vorbereiten, und damit werden wir es so nicht schaffen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist Swen Schulz für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Volker
Beck! Bei allen offenen Fragen, die wir zu diskutieren
haben: Wir haben tatsächlich viel erreicht. Lassen Sie
mich konkret aus bildungspolitischer Perspektive nur
kurz die Stichworte nennen. Das Kitaangebot ist deutlich
ausgeweitet. Die Schulabbrecherquote ist gesunken.
Ebenso gesunken ist die Quote der jungen Menschen
ohne Berufsabschluss; zugleich ist die Studienanfängerquote gestiegen.
Das kommt nicht von ungefähr. Wir machen politisch
ja auch wirklich eine Menge, vom Kitaausbau über Programme für berufliche Bildung bis hin zu Hochschulpakt, BAföG, Anerkennungsgesetz usw. usf. Das sind
wichtige Maßnahmen, die wir hier auf den Weg gebracht
und finanziert haben, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({0})
Ich sage ausdrücklich, dass das nicht nur das Verdienst dieser Koalition ist, sondern dass es auf den Leistungen der vergangenen Koalitionen aufbaut: seit 1998
Rot-Grün bis heute. Das sind gemeinsame Erfolge von
vielen, die mitgeholfen haben und bei denen ich mich an
dieser Stelle auch einmal herzlich bedanken möchte.
({1})
Aber es ist richtig: Wir können uns nicht ausruhen, es
ist nicht alles im Lot, es sind noch nicht alle Ziele der
Bildungsrepublik Deutschland erreicht. Ich kann das
jetzt nicht alles aufblättern; deshalb nur ein paar Stichworte.
Fachkräfte aus dem Ausland: Wir müssen - da hat der
Kollege Beck ja recht - viel schneller als bislang Flüchtlinge und Asylbewerber in Sprach- und Integrationskurse bringen.
({2})
Sicherlich werden dann einige auch bald wieder weg
sein; dann haben sie ein wenig Deutsch gelernt, und das
ist ja auch nicht verkehrt. Aber viele werden lange bleiSwen Schulz ({3})
ben. Da dürfen wir nicht Monate vertrödeln, bis sie Angebote bekommen.
({4})
Dann das Anerkennungsgesetz: Das ist ein guter, ein
überfälliger Schritt gewesen, der dann doch etwas zaghaft ausgefallen ist. Das sehen wir an den insgesamt
niedrigen Zahlen, jedenfalls gemessen an den Erwartungen. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Beratung,
niedrigere Verfahrensgebühren und Hilfe bei den Anpassungsqualifizierungen.
({5})
Wir wollen das Anerkennungsgesetz zu einem vollen Erfolg machen; aber das gelingt nur, wenn wir die Menschen stärker unterstützen.
Weiter brauchen wir tatsächlich endlich ein Zuwanderungsgesetz,
({6})
schon um ein Zeichen zu setzen, dass wir Menschen aus
dem Ausland willkommen heißen.
Aber es geht natürlich nicht nur um Zuwanderung,
sondern mindestens genauso dringend um die Menschen, die schon hier leben. Die berufliche Bildung muss
weiter unterstützt werden. Sie ist nicht weniger wichtig
als akademische Bildung, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({7})
Darum sage ich: Es war richtig, das BAföG zu erhöhen.
Aber es gehört dazu, dann im Gleichschritt auch das
Meister-BAföG für die berufliche Qualifizierung zu stärken.
({8})
Das ist leider in der Finanzplanung der Bundesregierung
noch nicht enthalten. Wir werden dazu mit dem Finanzminister reden und eine Lösung finden. Wir wollen die
berufliche Bildung nicht schlechter behandeln als die
akademische.
({9})
Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Gewinnung von
Fachkräften überhaupt ist die Investition in die vorschulische Bildung und Betreuung; das sagen alle wissenschaftlichen Studien. Angebot und Qualität der Kitas
müssen stimmen, damit erstens Familie und Beruf vereinbar sind und zweitens die Kinder gefördert werden
und von Anfang an Chancen erhalten. Wir machen da
viel; aber auch hier geht mehr, trotz der 100 Millionen
zusätzlich im Nachtragshaushalt. So gibt es, wie ich aus
vielen Gesprächen mit Eltern weiß, zu wenig Angebote
der Kinderbetreuung zu ungewöhnlichen Zeiten, auch
die Qualität der vorschulischen Bildung kann weiterhin
deutlich verbessert werden. In den Kitas werden die
Grundlagen gelegt, und wir behandeln sie trotzdem ein
Stück weit stiefmütterlich. Das müssen wir ändern.
({10})
Ein letztes Wort zu den Schulen. Wir haben bislang
leider nicht die nötige Mehrheit gefunden, um das
Kooperationsverbot von Bund und Ländern aus dem
Grundgesetz zu streichen. Dabei würde genau das helfen, alle Kräfte zur Verbesserung der Schulen zu bündeln. Aber auch das wird kommen. Auf diesen Tag freue
ich mich heute schon.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Schulz. - Nächster Redner in
der Debatte: Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man
sich die Zahlen für das Jahr 2015 und die Prognostika
anschaut, dann stellt man fest, dass die Prognosen sehr
unterschiedlich sind. Die Werte sind sehr volatil, man
denke an den Ölpreis und an den Wechselkurs. Aber in
dem Moment, in dem wir über Demografie reden, auch
in Bezug auf die nächsten 10, 15 Jahre, stellen wir fest:
Die Zahlen sind sehr viel plausibler, die Prognosen sind
sehr viel genauer, weil wir beispielsweise heute schon
wissen, wer in 15 Jahren in die Ausbildung geht.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns jetzt und in den
folgenden Jahren mit dem Thema Demografie beschäftigen; denn uns werden im Jahre 2030 allein aus demografischen Gründen 4, 5 oder 6 Millionen Erwerbstätige
fehlen.
Es ist richtig: Wir haben keinen akuten, flächendeckenden Fachkräftemangel. In der im Fortschrittsbericht
genannten Studie sind 19 Branchen identifiziert worden,
in denen es jetzt Engpässe gibt: Gesundheitsbereich,
Pflegebereich, Ingenieurwesen, Maschinenbau, Anlagenbau usw. Wir haben viel über Zuwanderung gehört
und über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber
lassen Sie mich auf zwei Themen eingehen, die vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen sind, Frau
Krellmann: Das sind zum einen die Jüngeren, und vielleicht sollte man auch noch einmal über die Älteren reden.
Erstens. Ich glaube nicht, dass die Mittelständler oder
die Unternehmer verantwortungslos sind, wenn sie nach
Fachkräften oder nach Auszubildenden suchen. Vielmehr stehen wir in der Verantwortung, die jungen
Menschen ausbildungsfähig zu machen und mitzuhelfen,
dass sie ausbildungsfähig sind. Nur so wird meiner Meinung nach ein Schuh daraus und nicht andersherum.
({0})
Zweitens. Es bereitet uns allen Sorgen, dass die duale
Ausbildung seit Monaten, seit Jahren abnimmt. Ich bin
sogar der Meinung, man sollte nicht nur darüber reden,
dass wir am Meisterbrief festhalten - auch das ist ein
Thema, das noch nicht angesprochen wurde -, sondern
wir sollten vielleicht auch darüber reden, dass wir in
dem einen oder anderen Gewerk den Meisterbrief wieder
einführen;
({1})
denn der Meisterbrief hängt unmittelbar mit der dualen
Ausbildung zusammen. Genau in den Bereichen, in denen wir den Meisterbrief abgeschafft haben, gibt es
kaum noch duale Ausbildung, sie geht zurück. Klar, der
Meisterbrief sichert die Qualität im Betrieb. Aber es ist
wichtig, dass jungen Menschen durch den dualen Ausbildungszweig ein Karriereweg eröffnet wird. Wir brauchen Auszubildende und Akademiker und nicht nur
Akademiker.
({2})
Apropos Akademiker. Ich habe gerade mit einer
Kollegin gesprochen, die im Forschungsministerium
arbeitet. 28 Prozent der Studierenden, die heute ein
Studium beginnen, brechen dieses Studium ab. Das muss
uns zu denken geben.
({3})
Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung mit
gutem Beispiel vorangeht und sagt: Wir bringen Projekte
auf den Weg, dass wir es schaffen, einfach, schnell,
zielgerichtet und unbürokratisch den Weg für Studierende, die ihr Studium abgebrochen haben, in die duale
Ausbildung zu ebnen.
({4})
Zum Schluss noch kurz zu den Älteren. Die Erwerbstätigenquote steigt, ja, aber ein Punkt fehlt in diesem
Fortschrittsbericht - wir werden in wenigen Jahren
sowieso über diesen Punkt reden; ich glaube, wir müssen
jetzt schon über diesen Punkt reden -, und das sind
diejenigen, die das gesetzliche Rentenalter erreichen,
aber freiwillig weiterarbeiten möchten. Das sind in
Deutschland 8 Prozent, in der Regel Selbstständige oder
450-Euro-Jobber. Es gibt aber viele, die gern sozialversicherungspflichtig weiterarbeiten wollen. In anderen
Ländern ist der Prozentsatz höher: In der Schweiz beispielsweise macht das jeder Fünfte, in Norwegen sogar
jeder Vierte. Bei uns sind es nur 8 Prozent. Deswegen
glaube ich - das ist meine feste Überzeugung -: Wir
werden den demografischen Wandel nur meistern können, wenn wir nicht nur den Umstand im Blick haben,
dass die Menschen älter werden, sondern wenn wir auch
den Umstand im Blick haben, dass die Menschen im Alter - zumindest viele - fit bleiben. Deshalb, glaube ich,
ist die Debatte um die Flexirente richtig. Wir wollen diesen Mentalitätswandel selbst gestalten. Es ist richtig,
dass in Zukunft befristete Arbeitsverträge erlaubt sind,
wenn man freiwillig länger arbeitet.
({5})
Deshalb glaube ich, dass das der richtige Weg ist. Diesen
Mentalitätswandel brauchen wir. Die Brechstangenpolitik funktioniert nicht. Wir müssen jetzt die Türen und
Tore für diejenigen öffnen, die länger arbeiten können
und die es auch wollen. Diese Debatte brauchen wir jetzt
und nicht erst in 5, 10 oder 15 Jahren.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen herzlichen Dank, Herr Dr. Linnemann. Letzter Redner in dieser Debatte: Uwe Lagosky für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Branchen- und regionalspezifisch besteht
Fachkräftebedarf. 2011 verabschiedete die Bundesregierung - das haben wir hier heute schon gehört - das Fachkräftesicherungskonzept, damals noch unter Ursula von
der Leyen. Hierzu wird auch der Fortschrittsbericht erstellt. Das Konzept wird sicherlich auch mit der aktuellen Besetzung im Arbeitsministerium in den nächsten
Jahren weiterentwickelt, weil es eine Grundlage für die
Bundesrepublik Deutschland und die Fachkräfte hier im
Lande bietet.
({0})
Es besteht aus fünf Schwerpunkten - wir haben sie
schon einmal gehört; aber zwischenzeitlich gab es hier
einen Besucherwechsel, insofern kann man sie hier noch
einmal nennen -: Aktivierung der Beschäftigungssicherung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bildungschancen für alle von Anfang an, Qualifizierung in
der Aus- und Weiterbildung sowie Integration und qualifizierte Zuwanderung. Der aktuelle Fortschrittsbericht
weist in diesen Schwerpunkten in Gänze erneut Verbesserungen auf.
Da die Bundesagentur für Arbeit diese Woche zur
Woche der Ausbildung 2015 gemacht hat, konzentriere
ich mich auf drei Beispiele aus diesem Bereich. Seit
2007 sank die Zahl junger Menschen ohne einen Schulabschluss von 8,2 Prozent auf 5,7 Prozent in 2013. Das
Ziel einer Weiterbildungsquote von 50 Prozent in den
Betrieben wird 2015 mit 49 Prozent nahezu erreicht. Der
Anteil von Erwachsenen mit Migrationshintergrund im
Alter von 20 bis 29 Jahren ohne qualifizierten Berufsabschluss, die sich nicht in einer Ausbildung befinden,
liegt mit 25,4 Prozent immer noch viel zu hoch, ist aber
im Vergleich zu den Vorjahren deutlich niedriger.
Qualifizierte Nachwuchskräfte haben für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes enorme Bedeutung. Darum entfällt auf das Fachkräftekonzept eine
Reihe von Projekten in der Aus- und Weiterbildung. Wir
haben alle Menschen im Blick und wollen auch denjenigen Chancen am Arbeitsmarkt ermöglichen, die bislang
nur geringe Chancen haben, sei es durch die Berufseinstiegsbegleitung, die Leistungsschwächeren beim Übergang von der Schule in den Beruf helfen soll, oder sei es
mit der Initiative Spätstarter für arbeitslose junge Erwachsene ohne Berufsabschluss. Diese wollen wir für
eine abschlussorientierte Qualifizierung gewinnen.
Darüber hinaus übernehmen wir als Bund - auch das
wurde hier schon angesprochen - die BAföG-Kosten
komplett, und zwar mit dem Ziel, dass die Länder diese
Entlastung in Höhe von 1,17 Milliarden Euro in den Bildungsbereich und in die Hochschulen investieren.
({1})
Für die Union sind berufliche und akademische Bildung gleichwertig. Darum sind wir gut beraten, Jugendliche auch über die Vorteile der dualen Ausbildung aufzuklären. Von der politischen zur wirtschaftlichen
Perspektive. Laut der DIHK-Befragung Anfang 2014
kann jedes vierte Unternehmen offene Stellen für mehr
als zwei Monate nicht besetzen. Besonders akut sind
diese Probleme in Westdeutschland, vergleichsweise am
geringsten in Ostdeutschland. 37 Prozent der Unternehmen sehen ihren wirtschaftlichen Erfolg mangels Fachkräften gefährdet - kein Wunder, dass die Personalverantwortlichen der Fachkräftesicherung große Priorität
einräumen.
Durch meine Zeit als Betriebsrat kann ich sagen: Hier
gab und gibt es noch eine Menge Potenzial, das
man heben kann: bei der Personalplanung, -beschaffung
und -bindung, der Gestaltung der Arbeitsbedingungen,
der Mitarbeiterqualifikation, der Sicherung betrieblicher
Innovationsfähigkeit und der stetigen Fortentwicklung
der Unternehmensattraktivität. Gerade die Rahmenbedingungen, unter denen gearbeitet wird, sind ein
wesentlicher Faktor beim Werben um Personal geworden. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, betriebliche
Altersvorsorge, Arbeitsbedingungen, Mitarbeiterzufriedenheit, Gesundheitsförderung, Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen spielen für die Beschäftigten heute eine immer größere Rolle. Auf diesen Feldern
können Unternehmen und Firmen durchaus punkten prinzipiell. Denn natürlich spielen auch die Mobilität der
Arbeitnehmer und die Frage eine Rolle, was die Region,
in die sie ziehen wollen und in der die Arbeitsplätze
sind, zu bieten hat.
In meinem Wahlkreis, in Salzgitter-Wolfenbüttel, gibt
es neben der Stahl- und Chemieindustrie, der Herstellung von Fahrzeugen für den Lkw- und Schienenverkehr, dem Motorenbau und einem die Region prägenden
Automobilhersteller mit Sitz in Wolfsburg zahlreiche
kleine und mittelständische Unternehmen. Zudem weist
die Region deutschlandweit den höchsten Beschäftigungsanteil in Forschung und Entwicklung auf. Um
langfristig zukunftsfähig zu werden und zu bleiben,
schlossen sich verschiedene Akteure zur „Allianz für die
Region“ zusammen. Sie haben erkannt, wie bedeutsam
es ist, regionale Entwicklungen insgesamt am Arbeitsmarkt aktiv zu gestalten.
Ich komme zum Schluss. Zusammenfassend gesagt
trägt die Fachkräftesicherung Früchte. Entscheidend ist
sie für die Entwicklung unseres Landes. Packen wir es
an, sie weiterhin voranzutreiben!
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich schließe damit die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4015 und 18/796 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich würde Sie bitten, Platz zu nehmen, damit ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Vereinbarte Debatte
zu den Vorkommnissen in Frankfurt anlässlich der Einweihung der EZB-Zentrale
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 18. März 2015 fand von 11 bis 14 Uhr die Feier zur
Eröffnung des Neubaus der EZB statt. In diesem Zusammenhang waren zahlreiche Demonstrationen angemeldet
worden. Bereits im Vorfeld konnten an den Grenzen
zahlreiche Veranstaltungsteilnehmer festgestellt werden, welche aus der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Griechenland und Italien anreisten. In einem Reisebus aus den Niederlanden wurden Gegenstände, die
als Wurfgeschosse genutzt werden können, sowie
Schlagwerkzeuge beschlagnahmt. Bereits in der Anreisephase am frühen Morgen stellte die Bundespolizei
massive Gleisüberschreitungen von bis zu 400 Personen
fest, welche durch Einsatzkräfte unterbunden wurden.
Im Zusammenhang mit den angemeldeten Versammlungen und Aufzügen kam es im Stadtgebiet zu massiven Ausschreitungen. Seit 5.30 Uhr waren mehrere größere gewalttätige Gruppen im Stadtgebiet unterwegs.
Mehrere Straßen und Brücken wurden zeitweise blockiert und Barrikaden errichtet, die teilweise in Brand
gesetzt wurden. Es kam zu massiven Angriffen auf Polizeibeamte, mit Steinen und Pyrotechnik. Darüber hinaus
erfolgten zahlreiche Inbrandsetzungen von Fahrzeugen,
darunter auch Einsatzfahrzeuge der Polizei.
Teilweise verfügten die gewalttätigen Demonstranten
über Schutzbewaffnung. Etwa 80 Einsatzkräfte wurden
durch die Freisetzung von ätzenden Flüssigkeiten bzw.
Reizgasen verletzt. Die Störer setzten in der Folge
Schutzmasken auf und schützten sich vor den Gasen. Es
erfolgte auch ein Angriff auf die Polizeistation. Die Polizei setzte mehrfach Wasserwerfer und Pfefferspray zur
Lageberuhigung ein. Einsatzkräfte der Feuerwehr wurden bei den Löscharbeiten durch Störer massiv behindert
und mit Steinen attackiert.
Meine Damen und Herren, das ist die nüchterne Sprache eines Polizeiberichts. Faktisch war es viel schlimmer. Die Gewalttäter haben gestern eine Schneise der
Verwüstung durch die Frankfurter Innenstadt gezogen:
Autos brannten, Blockaden wurden errichtet, dunkle
Rauchsäulen stiegen in den Himmel. Am 1. Polizeirevier
zündeten Vermummte drei Streifenwagen an und warfen
Pflastersteine auf das Polizeigebäude. Pflastersteine
wurden gezielt auf Polizisten geworfen. Die Gewalt hat
gestern ein Ausmaß erreicht, wie es zumindest Frankfurt
noch nie erlebt hat.
Mich hat vor allem das Ausmaß der Verrohung, die
wir gestern erlebt haben, tief erschüttert. Die vorläufige
Bilanz ist verheerend: 150 Polizeibeamte wurden verletzt, einige davon schwer; 55 beschädigte Dienstfahrzeuge, 7 weitere in Brand gesetzt; eine Polizeistation
wurde angegriffen; mehrere U-Bahnen wurden „entglast“ - das ist so ein Ausdruck aus der Szene, den ich
schon empörend finde. 293 Platzverweise wurden erteilt.
Gegen 26 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet.
Die Gewalttäter machten auch vor gänzlich Unbeteiligten nicht Halt: Zahlreiche Ladengeschäfte, Arztpraxen, Wohnhäuser wurden demoliert. Der öffentliche
Nahverkehr musste komplett eingestellt werden. Selbst
vor einer Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge - einem Kolpinghaus - hat die blinde Zerstörungswut der
Randalierer nicht haltgemacht. Hier findet Gewalt nur
noch um der Gewalt willen statt, von politischer Auseinandersetzung kann da überhaupt nicht mehr die Rede
sein.
({0})
Gezielte Stein- und Flaschenwürfe auf Polizeibeamte,
brennende Fahrzeuge und Straßenbarrikaden haben mit
Demonstrationsfreiheit nichts mehr zu tun.
({1})
Diesen Gewalttätern fehlt jeder Respekt vor Leben oder
Gesundheit. Polizistinnen und Polizisten werden von ihnen entmenschlicht, zu Hassobjekten gemacht. Wer so
handelt, missbraucht seine Freiheitsrechte und überschreitet ganz klar die Grenze, die wir im Rechtsstaat bereit sind zu tolerieren.
({2})
Aber damit nicht genug: Das katastrophale Geschehen ist gestern auch noch öffentlich gerechtfertigt und
verharmlost worden.
({3})
Ein junger Gewerkschafter aus dem Südwesten relativiert das Geschehen - ich zitiere -: Die symbolische Gewalt - „symbolische“ Gewalt! -, für die ein Auto in
Flammen steht, ist doch nichts verglichen mit der strukturellen Gewalt unseres Wirtschaftssystems.
({4})
Ich kenne diese Sprache, aus den 70er-Jahren; sie
kommt mir sehr bekannt vor.
Selbst Verständnis für die Randalierer wurde eingefordert. Der Blockupy-Sprecher Christoph Kleine kritisierte den - ich zitiere - massiven Polizeieinsatz, den
Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas. - Selbst das
ist nicht alles: Man müsse, so sagt er, eine andere Geschichte erzählen: die Geschichte der Menschen, die den
Mut gehabt hätten, sich diesem Gewaltapparat auszusetzen. - Das ist absolut inakzeptabel, meine Damen und
Herren.
({5})
Solche Äußerungen kommen auch aus dem politischen Bereich. Wenn da etwa eine Politikerin der Partei
Die Linke die gestrigen Krawalle mit dem Maidan in
Kiew vergleicht, macht mich das fassungslos. Solidarität
ist hier wirklich fehl am Platz.
({6})
Ich erwarte von den Linken hier und heute - Frau
Kipping hat auch eine, wie ich finde, problematische
Äußerung getätigt, die vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen war - eine klare und unmissverständliche
Distanzierung von dieser Gewalt und jeder Art von Verharmlosung - ohne jede Hintertür.
({7})
Das gilt auch für die Organisatoren des Blockupy-Bündnisses. Auch sie sind mitverantwortlich für das, was gestern geschehen ist. Diese Verantwortung muss hier klar
benannt werden.
Das Blockupy-Bündnis beruft sich nun offiziell darauf, dass die gewalttätigen Ausschreitungen nicht Teil
der Planung waren. Ulrich Wilken, hessischer Landtagsabgeordneter der Linkspartei und Anmelder der Proteste,
sagte, er sei betrübt, er habe sich den Mittwochvormittag
anders gewünscht. Andererseits habe er aber auch großes Verständnis für die Wut der Menschen, die von der
Verelendungspolitik der EZB betroffen seien. - Ich sage
Ihnen: Das war keine spontane Wut, das war seit Monaten geplante, kühl kalkulierte Gewalt.
({8})
Wir haben aus Lautsprecherwagen vor Demonstranten Musik mit folgendem Textteil gehört - die hat man
nicht spontan dabei, sondern die wird mitgebracht - ich
zitiere -: „Wir sind kampfbereit, bis an die Zähne bewaffnet.“ Wenn man so Demonstranten beschallt, dann
muss man sich über die Reaktionen nicht wundern.
Auch die Beschwichtigungsversuche der BlockupyOrganisatoren vor Ort sprechen ihre eigene Sprache. Ich
zitiere einen Lautsprecherspruch:
Hört auf, mit Gegenständen zu werfen, das trifft unter Umständen die eigenen Leute in den vorderen
Reihen.
Das verschlägt mir die Sprache.
({9})
Der gestrige Gewaltexzess kam nicht aus heiterem
Himmel. Die Sicherheitsbehörden hatten seit langem
Hinweise darauf, dass die linke Szene diesen Anlass nutzen will, um Gewalt auszuüben.
({10})
Auch das Ausmaß der Gewalt spricht dafür, dass solche
Aktionen seit langem geplant waren. Deswegen können
die Veranstalter heute auch nicht so tun, als hätten sie
das überhaupt nicht gewusst.
Schon der Name „Blockupy“ verheißt nichts Friedliches. Das ist eine Kombination eines deutschen und eines englischen Wortes, eine Kombination aus „Blockieren“ und „Besetzen“. Ich finde, das hat mit friedlicher
Demonstration ziemlich wenig zu tun.
({11})
Meine Damen und Herren, wir leben in einer wehrhaften Demokratie. Das heißt, dass sich unser Staat verteidigen darf und verteidigen muss, wenn er und seine
Bürger angegriffen werden. Wenn ein Auto angezündet
wird, in dem zwei Polizisten sitzen, dann reden wir nicht
über Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder über
Wutbürger,
({12})
sondern vielmehr mindestens von versuchtem Totschlag.
({13})
Der Tod von Polizisten wird hier billigend in Kauf genommen.
Jeder dieser Angriffe war ein Angriff auf unseren
Rechtsstaat, auf jeden Bürger dieses Landes.
({14})
Alle, die sich dabei missbräuchlich auf Freiheitsrechte
berufen, müssen mit der vollen Härte des Rechtsstaates
rechnen. Als Mitglieder des Deutschen Bundestages
- das sind wir alle hier - ist es heute an uns, jedem Versuch der Rechtfertigung von allen Fraktionen eine klare
und unmissverständliche Absage zu erteilen.
({15})
Das sollte uns eine Lehre für zukünftige Ereignisse, wie
G-7-Treffen oder anderes, sein.
Wehret den Anfängen! Verharmlost nicht Gewalt!
Macht nicht gemeinsame Sache mit Gewalttätern! Bietet
ihnen keinen Schutz! Rechtfertigt es nicht! Es gibt in unserer Demokratie, aus welchem sozialen Protest heraus
und aus welchem Grund auch immer, keinen einzigen
Grund, Gewalt anzuwenden - gegen nichts und niemanden. Das muss Konsens in diesem Hause sein.
({16})
Ich will mit einem Dank und anerkennenden Worten
an alle eingesetzten Polizisten, Feuerwehrleute, THWHelfer und anderen Rettungskräfte schließen. Die
Bundespolizei hat allein im Bereich der Bahnpolizei
1 000 Polizeibeamte eingesetzt. Die Polizei des Landes
Hessen wurde von insgesamt über 5 000 Polizisten aus
nahezu allen Bundesländern unterstützt. Hinzu kamen
700 Kräfte der Bundespolizei. Noch während des Einsatzes wurden weitere Unterstützungskräfte aus dem gesamten Bundesgebiet mobilisiert.
Meine Gedanken sind bei den Polizisten von Bund
und Ländern, die unter Einsatz von Leib und Leben nicht
nur die EZB, sondern vor allem auch die Bürgerinnen
und Bürger in Frankfurt geschützt haben. Meine besondere Anteilnahme gilt den zahlreichen verletzten Polizisten und ihren Angehörigen.
({17})
Wir alle haben die Bilder von gestern im Kopf. Wir
sind uns hoffentlich parteiübergreifend einig: Wir verlangen verdammt viel von unseren Polizistinnen und
Polizisten. Sie verdienen unseren Respekt und unsere
Anerkennung für die Arbeit, die sie für uns alle und unseren Rechtsstaat leisten.
Vielen Dank.
({18})
Vielen Dank, Dr. de Maizière. - Das Wort zu einer
Kurzintervention hat die Abgeordnete Heike Hänsel.
({0})
Danke, Frau Präsidentin! - Herr Innenminister, Sie
haben indirekt meinen gestrigen Tweet erwähnt und
eben nicht im Original zitiert. Deshalb möchte ich das
tun, weil Sie ihn interpretiert haben, wie so viele in der
Presse.
Ich habe wortwörtlich geschrieben:
Stimmungsmache der Presse gegen #Blockupy#.
Auf dem Maidan in Kiew waren Rauchschwaden
für die Presse Zeichen der Freiheitsbewegung!
({0})
Hier kommen wir nämlich zu einer grundsätzlichen
Diskussion.
({1})
- Könnten Sie bitte zur Ruhe kommen?
({2})
Liebe Kollegen, lassen Sie doch Frau Hänsel ihre
Rede beenden.
Das ist sehr bezeichnend für Ihr demokratisches
Grundverständnis.
({0})
Ich habe die Berichterstattung über Gewaltanwendung
verglichen. Hier gibt es eben Doppelstandards.
({1})
Sie erinnern sich alle: Auf dem Maidan in Kiew wurden brennende Barrikaden gebaut.
({2})
Es gab Schlägertrupps des rechten Sektors, die mit Stöcken gegen die Polizei vorgingen. Häuser wurden in
Brand gesetzt. Politiker der CDU und der Grünen sind
dort hingefahren. Die Presse hat darüber berichtet und
diese Gewalt verharmlost.
({3})
Das sind Doppelstandards in der Berichterstattung über
Gewalt.
({4})
Das geht nicht. Die Empörung, die Sie hier äußern, ist
nicht glaubwürdig, weil Sie selbst diese Doppelstandards haben.
({5})
Ich kann nur sagen: Ich lehne die Gewalt in Frankfurt
ab,
({6})
wenn sie von Demonstranten und Demonstrantinnen
ausgeht, ich lehne sie in Kiew ab.
({7})
Ich lehne auch die Gewalt von Polizisten gegenüber Demonstranten ab. Über 200 Demonstrantinnen und Demonstranten sind verletzt.
({8})
- Lieber Herr Kauder, ich an Ihrer Stelle würde ruhig
sein. Im Rahmen von Stuttgart 21 wurde der ehemalige
Polizeipräsident zu einer Geldstrafe verurteilt,
({9})
weil er für den Einsatz von Gewalt verantwortlich war.
({10})
Also müssen wir generell über Gewalt sprechen und sie
ablehnen,
({11})
nicht nur Gewalt von einer Seite. Wir müssen jede Form
von Gewalt verurteilen, nicht nur die von einer Seite.
({12})
Herr Dr. de Maizière, Sie haben die Möglichkeit, darauf drei Minuten lang zu antworten.
Frau Abgeordnete, Sie selbst haben mit Ihrer Kurzintervention sämtliche Vorwürfe, die ich vorgetragen
habe, bestätigt.
({0})
Das spricht für sich. Ich muss mich hier nicht wiederholen.
Aber eins muss ich als Bundesinnenminister und sicher auch im Namen aller Innenminister der Länder
wirklich sagen: Dass Sie hier so tun, als würden Polizeibeamte, wenn sie die Demonstrationsfreiheit sichern, ungerechtfertigt Gewalt anwenden, weise ich für alle
Polizistinnen und Polizisten dieses Landes zurück.
({1})
Letzte Rednerin in der Debatte: Katja Kipping für die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
denke, es ist gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, um
über die gestrigen Ereignisse zu reden, und ich möchte
aus Sicht der Linken dazu Folgendes sagen: Jeder Verletzte - und das gilt gleichermaßen für Verletzte aufseiten der Polizei wie für Verletzte aufseiten des Protestes ist ein Verletzter zu viel. Unsere Anteilnahme gilt allen
Verletzten.
({0})
Das Aktionsbündnis Blockupy hatte sich auf einen
Aktionskonsens verständigt. Dieser sah ausdrücklich
vor, dass von den Massenblockaden keine Eskalation
ausgeht. Leider haben sich nicht alle, die gestern nach
Frankfurt kamen, an diesen Konsens gehalten. Wenn
Autos angezündet und Wartehäuschen demoliert werden,
fehlt mir dafür jedes Verständnis, und das war auch nicht
Teil der Massenblockaden, zu denen Blockupy aufgerufen hat.
({1})
Diese Demonstranten - das bewerte ich im Ansatz anders als Sie, Herr de Maizière - sollten vielmehr mit
Mitteln des zivilen Ungehorsams, aber gewaltfrei die Eröffnung der EZB symbolisch blockieren, auch in dem
Bewusstsein, dass die Blockierer wahrscheinlich weggetragen werden oder man rechtlich gegen sie vorgeht.
Solche Blockaden haben in diesem Land eine längere
Tradition.
({2})
Denken wir nur an Heinrich Böll, der 1983 in Mutlangen
auf einem Hocker saß und weggetragen wurde, als er
sich an einer Sitzblockade gegen die Stationierung der
Pershing-II-Raketen beteiligte.
({3})
Oder denken wir an die Blockaden anlässlich von
Castortransporten, an denen beispielhaft bei einzelnen
Atommülltransporten für den Ausstieg aus der Atomenergie geworben wurde. Am Ende hat der Bundestag
sich diesem Ziel angeschlossen. Ohne die mutige Antiatombewegung wären wir vielleicht nicht so schnell zu
dieser Erkenntnis gekommen.
({4})
Gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen war
ich gestern als parlamentarische Beobachterin bei den
Blockupy-Protesten dabei. Wir haben uns vielerorts für
Deeskalation eingesetzt.
({5})
- Wissen Sie, natürlich war die Linke dabei, und glauben
Sie nur eine Minute lang, es wäre besser gewesen, wenn
wir uns nicht für Deeskalation eingesetzt hätten?
({6})
Wir haben außerdem gestern über den gesamten Tag
einen deutlich anderen Eindruck von den Protesten gewinnen können. Der übergroße Teil der Menschen, die
gestern nach Frankfurt kamen, wollte entschieden, aber
gewaltfrei gegen Austerität und für ein anderes Europa
demonstrieren. Davon zeugten viele selbst gemalte inhaltliche Schilder, Reden auf Kundgebungen, Straßentheateraktionen und ja, am Ende eine friedliche Demonstration von 20 000 Menschen.
({7})
Ziel war, angesichts der EZB deutlich zu machen,
dass die Eröffnung des Luxusbaus kein Grund zum Feiern, sondern zum Protestieren ist. Für diesen Protest gibt
es gute inhaltliche Gründe, und über diese Gründe gehört gesprochen; denn sie waren das Verbindende bei
den Blockupy-Protesten.
Die EZB steht als ein Teil der Troika für die bisherige
Krisenpolitik. Gestern berichteten viele junge Menschen
aus Krisenländern von den verheerenden Folgen der
Troika-Politik. So erzählte ein Podemos-Mitglied davon,
dass es infolge der Krisenpolitik in Spanien zu 1 Million
Zwangsräumungen gekommen ist. Das heißt, 1 Million
Familien, darunter viele Familien mit Kindern, müssen
sich jetzt ohne eine sichere Bleibe durchs Leben schlagen.
Ja, Austerität heißt für viele Menschen in den Krisenländern unsoziale Verarmungspolitik und wird somit zur
materiellen Gewalt.
({8})
Frau Kipping, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Weiler von der CDU/CSUFraktion?
Gerne.
Herr Weiler, bitte.
Frau Kipping, eine „parlamentarische Beobachtungsgruppe“ - das gibt mir jetzt ein bisschen zu denken. Eine
parlamentarische Beobachtungsgruppe hat für mich einen offiziellen Anschein. Können Sie mir die Frage beantworten, ob der Parlamentspräsident oder einer seiner
Stellvertreter Sie als parlamentarische Beobachtungsgruppe beauftragt hat, diese Demonstration zu beobachten?
Wir hatten gestern Plenartag. Das heißt, der Abgeordnete ist eigentlich verpflichtet, dem Plenum beizuwohnen. Sie aber fahren nach Frankfurt und schauen dort
während eines Plenartages den Demonstrationen zu.
Ich gehe davon aus, dass Sie dem Plenum nicht beiwohnen konnten, weil Sie in Frankfurt den Demonstrationen zugeschaut haben. Jetzt noch einmal die Frage:
War das von einem der Parlamentspräsidenten genehmigt? Ich möchte nicht haben, dass so etwas einen öffentlichen Anstrich hat, wenn es eigentlich doch nicht
öffentlich ist.
({0})
Frau Kipping, bitte zur Antwort.
Schon Ihre Frage ist bezeichnend, wie viele Aussagen, die wir getroffen haben, von Ihnen auch vollkommen verzerrt wiedergegeben werden. Wir sind nicht als
eine parlamentarische Gruppe hingegangen, sondern wir
haben uns als gewählte Parlamentarier - ({0})
Ich habe gesagt - hören Sie mir doch mal zu -, wir waren als parlamentarische Beobachterinnen unterwegs,
und als gewählte Parlamentarier ist es unser Recht, das
Gespräch mit Menschen zu suchen. Ich weiß, dass gestern viele Leute auf uns zugekommen sind, wenn sie uns
in den Westen erkannt haben; sie waren froh, dass sie Informationen loswerden konnten, wo es Probleme gab,
etc. Wir haben natürlich versucht, in Situationen, in denen es eskalierte, zu vermitteln, um weitere Verletzte zu
vermeiden.
({1})
Auf jeden Fall haben wir uns über den gesamten Tag
direkt vor Ort einen Eindruck gemacht und sprechen hier
nicht nur unter dem Eindruck von einigen sehr schrecklichen Bildern. Ein Plakat mit dem Slogan „Austerität tötet“, wie man es gestern zu sehen bekam, das mag jetzt
nicht jedermanns Geschmack sein. Aber wer einmal gehört hat, wie sehr die Selbstmordversuche von Jugendlichen in Griechenland im Zuge der Kürzungsauflagen
zugenommen haben, der versteht vielleicht die Verzweiflung hinter diesen Worten.
Die Frage ist nun: Wie gehen wir mit den BlockupyProtesten um? Sicherlich kann man die Gewaltübergriffe
einiger nutzen, um die gesamten Proteste zu delegitimieren. Aber wollen wir wirklich einer kleinen Gruppe von
gewalttätigen Trittbrettfahrern die Definitionshoheit
über den Protest von 20 000 Menschen überlassen?
({2})
Es gäbe auch die Möglichkeit, sich für einen anderen
Umgang zu entscheiden. Wie wäre es damit, hinzuhören,
was junge Menschen aus den Krisenländern zu berichten
haben? Vielleicht könnte man beim Hinschauen wahrnehmen, dass sich diese Proteste eben nicht auf einige
schreckliche Bilder reduzieren lassen, sondern dass eine
neue Generation in Europa auftritt, die sich klar gegen
Rassismus und gegen Nationalismus ausspricht, und
dass da eine neue Generation heranwächst, die aus tiefster innerer Überzeugung Europa als grenzüberschreitendes Projekt leben möchte, die aber unter den Auswirkungen der herrschenden Europapolitik leidet.
Sie müssen das heute nicht eingestehen. Ich glaube,
Sie haben für die heutige Debatte ein anderes Drehbuch
im Kopf. Aber vielleicht könnte, wenn man bei den Berichten aus den Krisenländern hinhört, bei dem einen
oder anderen ja doch die Erkenntnis wachsen, dass sich
ein Weiter-so in Europa verbietet. Vielleicht könnte die
Erkenntnis wachsen, dass Europa nur eine Chance hat,
wenn es wirklich sozial und demokratisch wird.
Vielen Dank.
({3})
Danke, Frau Kollegin Kipping. - Nächster Redner in
der Debatte ist Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, dass der Bundesinnenminister hier
eben ganz klar gesagt hat, was man von dem gewalttätigen Teil der Demonstration zu halten hat. Gewalt ist kein
Mittel der politischen Auseinandersetzung. Das, was da
gestern in Frankfurt gelaufen ist, war inakzeptabel. Irgendwelche irren Vollpfosten, die Gewalt gegen Polizisten, gegen Sanitäter, gegen das THW und andere
ausüben, sind nicht diejenigen, die wir inhaltlich und
politisch ernst nehmen müssen. Das sind schlicht und
einfach Zustände, die wir nicht akzeptieren. Diese MenJohannes Kahrs
schen sind ein Fall für die Justiz. Ich meine, dass sie entsprechend der Justiz zugeführt werden sollten.
({0})
Selbstverständlich gebührt unser Dank auch all denjenigen, die da gestanden und dafür gesorgt haben, dass
diese wehrhafte Demokratie auch wirklich wehrhaft ist
und dass die Menschen, die dort waren, die Anwohner
und andere, geschützt worden sind.
Ich halte das alles für inakzeptabel. Wer das gestern
verfolgt hat, weiß, dass man so etwas in Deutschland
weder dulden noch unterstützen sollte. Deswegen ist das,
was die Linke in den letzten Tagen zu diesem Thema
zum Besten gegeben hat - heute konnten wir das teilweise auch wieder hören, obwohl man merkt, dass ihre
Abgeordneten zurückrudern -, einfach nur peinlich. Ich
glaube, dass wir alle wissen, wie ihr Verhältnis zur Gewalt ist. Man weiß ja, mit wem sie ansonsten demonstrieren.
({1})
Deswegen ist das für uns kein Anlass, darüber nachzudenken, ob die Politik falsch ist. Vielmehr ist es schlicht
und einfach so, dass wir alle wissen, dass das, was gestern Vormittag gelaufen ist, in einem demokratischen
Rechtsstaat schlichtweg nicht akzeptabel ist.
({2})
Gleichzeitig ist es natürlich so, dass es vollkommen in
Ordnung ist, wenn Zehntausende von Menschen friedlich demonstrieren wollen. Man kann, was die EZB angeht, was die Politik in Europa angeht, durchaus geteilter
Meinung sein; das ist vollkommen in Ordnung. Jedermann kann dazu aufrufen, zu demonstrieren. Jeder kann
demonstrieren.
Wenn Blockupy so eine Demonstration organisiert,
dann ist diese Organisation auch mit dafür verantwortlich, wie sie abläuft. Dann sind natürlich auch diejenigen, die dazu aufgerufen haben, mit dafür verantwortlich, wie es abläuft. Deswegen kann man diesem Verein
eigentlich nur noch empfehlen, sich aufzulösen.
({3})
Im Ergebnis ist es so, dass dort gegen eine Politik demonstriert worden ist, gegen die man demonstrieren
kann. Aber man muss auch dazusagen, dass die EZB
vielleicht der falsche Buhmann ist. Vielleicht kann man
einmal kurz auf die Sachebene gehen. Es ist so, dass die
Zinsen im Euro-Raum auf einem historischen Tiefststand sind. Die Renditen für Staatsanleihen der EuroStaaten sind wieder gesunken. Das kann man differenziert bewerten; aber eins ist klar: Der Spardruck in den
Krisenländern wäre noch viel höher gewesen, wenn die
EZB nicht für niedrige Zinsen gesorgt hätte. Länder wie
Portugal, Spanien, Italien und auch Griechenland hätten
viel mehr in ihren Haushalten einsparen müssen, die Sozialleistungen wären deutlich mehr unter Druck gekommen, wenn die Zinsen nicht so niedrig wären.
Wir Deutsche haben immer gewollt, dass die Europäische Zentralbank so ist, wie sie ist: eine starke Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank, politisch unabhängig und mit dem klaren Auftrag, für Preisstabilität zu
sorgen und die Inflationsrate niedrig zu halten. Das waren die Bedingungen, unter denen wir alle angetreten
sind; das wollen wir. Wenn man eine Europäische Zentralbank haben möchte, die unabhängig ist, dann muss
man auch damit leben, dass sie unabhängige Entscheidungen trifft. Sie können einem gefallen oder eben auch
nicht, dagegen kann man gerne auch demonstrieren aber eben nicht so. Das muss man, glaube ich, unterscheiden. Da ist ein Hauch geistige Trennschärfe gefragt.
Das, was gestern Vormittag stattgefunden hat, die unakzeptable Gewalt, die stattgefunden hat, das, was da
auch mit Unterstützung von Blockupy und den Linken
gelaufen ist, das geht alles nicht. Das wissen wir. Das haben wir alle mitbekommen. Das ist klar. Dass andere dagegen demonstrieren, das ist in Ordnung. Jeder hat irgendwann einmal gegen irgendetwas demonstriert.
Meine erste Demonstration war gegen die Scientologen,
die sich in Hamburg breitgemacht haben. Es war eine
gute Geschichte; das kann man immer machen; es lohnt
sich.
Trotzdem ist es so, dass die Europäische Zentralbank
einen Auftrag hat. Jetzt gegen die Europäische Zentralbank zu demonstrieren, wenn man gegen die herrschende Europapolitik vorgehen will, ist völlig absurd.
Da gibt es ganz andere, gegen die man demonstrieren
könnte. Man könnte sich zum Beispiel einmal mit der
Politik in den Krisenländern selber auseinandersetzen.
Wie ist es zu der Immobilienblase in Spanien gekommen? Warum sind die Zustände in Griechenland so? Was
haben die griechischen Regierungen in den letzten
20 Jahren denn veranstaltet? Was haben sie gemacht, damit Griechenland in den Euro-Raum kommt? Wie ist es
zu der Verschuldung gekommen? Das ist doch nicht die
Schuld der Europäischen Zentralbank oder der Troika.
Vielmehr diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag,
und wir helfen, damit die Folgen dieser Politik geheilt
werden können. Wir helfen solidarisch den anderen
Staaten in Europa.
Wenn man anderer Meinung ist, ist das vollkommen
in Ordnung. Aber das, was die Linke hier veranstaltet,
was Blockupy abgezogen hat, was da gestern in Frankfurt gelaufen ist - Gewalt gegen Polizisten, Sanitäter,
THW und andere, brennende Polizeiwagen -, das geht
nicht. Solche Vollpfosten gehören nicht auf die Straße;
sie gehören vor Gericht.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Kahrs. - Nächste Rednerin in der Debatte: Irene Mihalic für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Uns alle macht es natürlich fassungslos, dass
Menschen, die von sich behaupten, sich für eine bessere
Welt einzusetzen, den simplen und stumpfen Weg der
Gewalt gehen; denn das, was am Ende bleibt, konnten
wir eindrucksvoll sehen: Das sind brennende Einsatzfahrzeuge, zerstörte öffentliche Einrichtungen, viele verletzte Menschen in Zivil und in Uniform. Das ist nicht
die Welt, für die wir uns einsetzen. In so einer Welt
möchte ich nicht leben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Unerträglich ist für mich auch der Zynismus, der zum
Teil aufseiten der Veranstalter geäußert wurde:
({1})
Man habe das anders geplant, man sei entsetzt und bestürzt, man habe - jetzt kommt das große Aber - aber
auch Verständnis für die Wut und für die Empörung;
viele Leute hätten den Polizeieinsatz eben als Provokation und als Herausforderung begriffen. Ja, Entschuldigung! Jemandem, der sich so erklärt, kann ich das Bedauern nicht abnehmen.
({2})
Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, den Aufruf von Blockupy mit unterschrieben
haben,
({3})
zeigt einfach noch einmal sehr eindrucksvoll, welches
Verhältnis Sie zu Europa haben. Die Europäische Union
als größtes Friedens- und Freiheitsprojekt der letzten
70 Jahre
({4})
hat sicherlich ganz viele Fehler - da sind wir uns auch in
Teilen einig -, sie aber als „autoritäres Regime“ und
Deutschland als „Herz der Bestie“ zu bezeichnen, wie in
diesem Aufruf geschehen, geht gar nicht.
({5})
Was haben denn bitte die Einsatzkräfte mit der Europäischen Zentralbank und der Austeritätspolitik zu tun?
Sie sind nicht die Wachhunde des Finanzkapitalismus,
sondern sie sind Teil unserer Gesellschaft. Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte schützen Menschen, Sachen
und Grundrechte wie das hohe Gut der Versammlungsfreiheit. Ihnen gelten unser Dank und unser Respekt,
dass sie sich dafür einsetzen.
({6})
Wer die Polizei zur Projektionsfläche seines Hasses
macht, bricht dem Finanzmarktkapitalismus im Übrigen
nicht den geringsten Zacken aus der Krone, trägt aber
zerstörerische Gewalt mitten in diese Gesellschaft, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Natürlich müssen wir uns auch genau ansehen, wie
der Polizeieinsatz gelaufen ist, ob das Einsatzkonzept
das richtige war, ob es auch Fehlverhalten aufseiten der
Beamten gegeben hat. Diese Nachbereitung wird stattfinden. Wir müssen auch die Debatte über Ausstattung
und Personal bei der Polizei führen - und das auch nicht
erst seit gestern.
({8})
Aber heute geht es darum, scharf und unmissverständlich die gewaltsamen Ausschreitungen in Frankfurt zu
thematisieren.
({9})
Die richtige Botschaft, die von diesen Protesten eigentlich ausgehen sollte, ist dabei völlig untergegangen, und
das tut mir in der Seele weh;
({10})
denn wir brauchen eine friedliche Bewegung, die auch
den Mut hat, die verheerende Sparpolitik in Europa
scharf zu kritisieren, die immer wieder daran erinnert,
dass jedes Wirtschaftssystem sich daran messen lassen
muss, ob es den Menschen nützt und nicht umgekehrt,
({11})
die dringend darauf pocht, dass in einer Demokratie
nicht nur Machthaber, sondern vor allem politische
Inhalte wählbar bleiben müssen. Weder Banken noch
Sparzwänge sind der Souverän, sondern es sind die Bürgerinnen und Bürger, und damit muss sich auch diese
Bundesregierung auseinandersetzen.
({12})
Diesen wichtigen Zielen wurde durch die gewalttätigen Ausschreitungen gestern ein Bärendienst erwiesen.
Die Sprecher von Blockupy sollten sich daher nicht nur
in lauen Worten von der Gewalt distanzieren, sondern
vor allem wirksam dafür sorgen, dass Gruppen, die Gewalt als legitimes Mittel des Protestes ansehen, nicht
Teil eines solchen Bündnisses werden können.
({13})
Hier muss ganz klar differenziert werden. Diese Differenzierung müssen wir einfordern.
Ich finde, diese Differenzierung kann man aber auch
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU, erwarten. Ich kann mich noch sehr gut an die Hogesa-Debatte erinnern - es ist noch nicht so lange her -,
die wir im Innenausschuss geführt haben. Da konnten
Sie gar nicht genug differenzieren. Sie konnten nicht genug differenzieren zwischen den ehrbaren Bürgerinnen
und Bürgern, die nur Angst vor dem Salafismus haben,
({14})
und den aus Ihrer Sicht einigen wenigen gewaltbereiten
Hooligans und wenigen Neonazis, die da unterwegs waren.
({15})
Und was tun Sie jetzt? Jetzt versuchen Sie, die gesamte Protestbewegung zu diskreditieren: den Deutschen Gewerkschaftsbund, Attac und alle demokratischen Parteien, die in Frankfurt waren.
({16})
Für Sie sind das alles jetzt offenbar gewaltbereite Chaoten, die das Versammlungsrecht missbrauchen.
({17})
- Das erzählen Sie mal den Tausenden Demonstrantinnen und Demonstranten, die gestern vollkommen friedlich am Frankfurter Römer an der Kundgebung teilgenommen haben.
({18})
Da kann ich nur sagen: Ganz dünnes Eis, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das staatliche
Gewaltmonopol - da komme ich auf den Polizeieinsatz
zu sprechen - ist eine wichtige Errungenschaft im demokratischen Rechtsstaat. Deswegen können Gewalt und
mutwillige Zerstörung von Sachen auch nie legitime
Mittel von politischen Auseinandersetzungen sein.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir von der CDU/CSUBundestagsfraktion sind entsetzt über das Ausmaß der
Gewalt und insbesondere über den hohen Grad an Professionalität und die kriminelle Energie, die wir gestern
anlässlich der Eröffnung des Neubaus der EZB in Frankfurt am Main erlebt haben. Mittlerweile wird das Ausmaß dieser Gewaltexzesse immer deutlicher. Es gab
schon lange vor dem gestrigen Tag im Raum Frankfurt
eine deutliche Zunahme an Straftaten, die offensichtlich
im Zusammenhang mit den Blockupy-Protesten standen,
wie etwa eine Brandstiftung mit einem erheblichen
Sachschaden. Es stimmt also nicht, wie manche behaupten, dass sich diese Ausschreitungen gestern zufällig
oder aus einer Laune heraus entwickelt haben. Sie waren
vielmehr von langer Hand geplant.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Leidig?
Selbstverständlich. Sehr gerne.
Kollege Mayer, ich möchte Sie fragen, warum dieser
auch aus meiner Sicht völlig inakzeptable Einsatz von
Gewalt, diese Zerstörung, diese Randale, aus Ihrer Sicht
eine so viel größere Bedeutung haben als die vergleichbare Gewalt bei anderen Ereignissen. Ich komme deshalb darauf, weil ich gestern neben zwei Polizeibeamten
stand und der eine zum anderen sagte: Das hier ist eigentlich gar nichts gegen die Hooligans in Berlin. - Das
habe ich überhaupt nicht verstanden, habe jetzt aber
nachgeschaut: Vor drei Tagen gab es in Berlin bei einem
regionalen Fußballspiel wohl mächtige Randale, bei der
143 Polizeibeamte teils schwer verletzt worden sind.
({0})
Ich verstehe einfach nicht, warum diese Gewalt gegen
Polizisten hier überhaupt keine Rolle spielt
({1})
und warum Sie die Gewalt gegen Polizisten, die in
Frankfurt stattgefunden hat und die ich genauso ablehne
wie Sie, hier sozusagen zum Politikum machen. Das ist
mir nicht klar.
({2})
Sehr verehrte Frau Kollegin Leidig, ich weiß gar
nicht, wie Sie darauf kommen, dass wir die Gewalt gegen Polizeibeamte an anderer Stelle relativieren.
({0})
Das tun wir in keiner Weise. Die CDU/CSU ist die einzige Fraktion, die sich überall und vollumfänglich klar
gegen jegliche Gewalt gegen Polizeibeamte ausspricht
und diese in aller Deutlichkeit verurteilt.
({1})
Stephan Mayer ({2})
Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass hier die
eine oder andere Gewalttat gegen Polizeibeamte relativiert wird oder als eher akzeptabel befunden wird als die
Gewalttaten, die gestern stattgefunden haben. Wir sind
eine wehrhafte Demokratie. Ich möchte Sie fragen, sehr
verehrte Frau Kollegin - Sie waren wahrscheinlich gestern „parlamentarische Beobachterin“; das ist offenbar
ein neuer Terminus technicus, der Eingang in unsere Geschäftsordnung finden sollte -,
({3})
wie Sie überhaupt darauf kommen, dass wir in irgendeiner Weise Gewalt gegen Polizeibeamte relativieren. Das
eine ist nicht besser als das andere.
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch Ihnen, werte
Kollegin Mihalic, klar sagen: Ich weiß nicht, wie Sie
darauf kommen, dass bei der Befassung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages mit den HogesaKrawallen ein Vertreter der Unionsfraktion zur Differenzierung aufgerufen hat. Das trifft einfach nicht zu, Frau
Kollegin Mihalic, in keiner Weise.
({4})
Sie verwechseln hier vielleicht Hogesa mit Pegida; das
ist meine Mutmaßung.
({5})
Im Zusammenhang mit Pegida haben auch Unionskollegen immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass
man sehr wohl differenzieren muss. Aber um das noch
einmal klarzumachen: Was Hogesa in Köln veranstaltet
hat, das war brutale Gewalt, das stand in keiner Weise
in Einklang mit unserem Rechtsstaat, das war eine
Verrohung ungeahnten Ausmaßes. Das ist in vollem
Umfang - hier gibt es in keiner Weise irgendetwas zu relativieren - zu verurteilen.
({6})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zu
den gestrigen Ausschreitungen: Es gab die Errichtung
von Barrikaden. Es sind zahlreiche Mülltonnen und
Autoreifen in Brand gesetzt worden. Insgesamt sind
150 Polizeibeamte verletzt worden, zwei davon schwer,
die nach wie vor dienstunfähig sind. Es sind insgesamt
65 Polizeifahrzeuge beschädigt worden, 7 davon in
Brand gesetzt worden. Es kam zu Beschädigungen zahlreicher Ausrüstungsgegenstände und weiterer Einsatzmittel. Es gibt also einen immensen Sachschaden, der zu
verzeichnen ist. In der Dunkelheit wurden auch noch die
Piloten eines Polizeihubschraubers mit Laserpointern
attackiert. Es kamen viele weitere Rettungskräfte,
Feuerwehrmitarbeiter, aber auch Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks in Bedrängnis. Es gab viele Unbeteiligte, die schwer verunsichert waren, die bespuckt und
beleidigt wurden. Bei den Polizeibeamten kam es zu
zahlreichen Schnittverletzungen und Knöchelverletzungen.
Das, was sich gestern in Frankfurt ereignet hat, ist für
unsere Demokratie beschämend. Das ist eines modernen
Rechtsstaates wie Deutschland nicht würdig. Es gilt, in
ganz deutlicher und unumschränkter Art und Weise klarzumachen: Wir lassen dies mit uns nicht machen. Wir
lassen die Gewalt, die Verrohung und die zunehmende
Brutalität nicht zu. Dem gilt es deutlich Einhalt zu gebieten.
({7})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
ist das gute Recht von jedermann, sich nach unserem
Grundgesetz friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
Natürlich ist das Versammlungs- und Demonstrationsrecht ein zentrales Grundrecht in unserer Demokratie.
Aber wenn wir uns die Bilder von Frankfurt vor Augen
führen, dann stellt sich die Frage, ob das noch mit den
Vorstellungen in Einklang zu bringen ist, die die Väter
unseres Grundgesetzes von dem Grundrecht auf
Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit hatten. Wir
erkennen, dass dies gestern bedauerlicherweise kein Einzelfall war.
({8})
Es gibt eine zunehmende Verrohung und eine zunehmende Brutalität insbesondere in der Auseinandersetzung mit Polizeibeamten: gestern in Frankfurt, häufiger
aber auch hier in Berlin und andernorts in Deutschland.
({9})
Wir sehen, dass dies in keiner Weise zu relativieren und
zu erklären ist mit berechtigter Kritik an der EZB, Herr
Kollege Kahrs, die man durchaus vornehmen kann. Ich
warne davor - um dies klar zu sagen -, dass man mit einem zu starken Strapazieren dieser durchaus möglichen
Kritik an der EZB oder, wie es die Kollegin Kipping gesagt hat, mit dem deutlichen und berechtigten Hinweis
darauf, dass es soziale Missstände in Südeuropa gibt, die
Gewalttaten und Gewaltexzesse, die gestern stattgefunden haben, relativiert. Dem gilt es deutlich entgegenzutreten. Ich zitiere hier den Sprecher der BlockupyBewegung, Frederic Wester, der gestern gesagt hat: Man
muss auch feststellen, dass offensichtlich das Bürgerkriegsszenario, das die Polizei aufgemacht hat, von
vielen Leuten als Herausforderung und Provokation
empfunden wurde. - Die große Gefahr besteht darin,
dass diese Gewaltexzesse, diese Brutalität, der Gewalttourismus, der mittlerweile stattfindet, relativiert werden
und wegen der berechtigten Kritik an anderen Zuständen
als durchaus verständlich erachtet werden. Diesem gesellschaftlichen Phänomen in Deutschland gilt es entgegenzutreten.
Wir stellen in Deutschland fest, dass insbesondere die
Akzeptanz von Polizeibeamten bedauerlicherweise abnimmt, dass die Aggression gegenüber Polizeibeamten
zunimmt und der Respekt und die Anerkennung deutlich
zurückgehen. Deswegen sind wir als Vertreter des
deutschen Volkes aufgerufen, klarzumachen, dass Polizeibeamte, egal ob sie gestern in Frankfurt zum Einsatz
kamen oder ob sie anderswo zum Einsatz kommen,
Stephan Mayer ({10})
Repräsentanten unseres Staates, Repräsentanten von uns
allen sind. Ich möchte an dieser Stelle allen Einsatzkräften, die gestern in Frankfurt waren, in aller Deutlichkeit
namens der Bundestagsfraktion der Union für ihren Einsatz danken.
({11})
Sie standen letzten Endes für uns.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Frage ist jetzt, wie wir mit den Erscheinungen von gestern umgehen und welche Schlüsse wir als Politiker daraus ziehen. Zum einen bin ich der festen Überzeugung,
dass es - neben einem klaren Bekenntnis zur Arbeit der
Polizeikräfte und der sonstigen Rettungskräfte - einer
besseren Ausstattung unserer Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten bedarf. Ich bin der Bundesregierung sehr
dankbar, dass sie gestern im Bundeskabinett auf Betreiben unseres Bundesinnenministers und des Bundesfinanzministers ein Eckwertepapier mit dem Ergebnis
verabschiedet hat, dass es in den nächsten vier Jahren einen deutlichen Aufwuchs bei den Mitteln für die Ausstattung unserer Sicherheitskräfte auf Bundesebene geben wird: insgesamt 328 Millionen Euro, davon
200 Millionen Euro für eine bessere Sachausstattung,
etwa für eine bessere persönliche Schutzausstattung, für
Sicherheits- und Schutzwesten, aber auch für eine bessere Ausstattung der Polizeiwagen. Dies ist ein klares,
ein deutliches und erfreuliches Signal der Bundesregierung, für das wir sehr dankbar sind.
({12})
Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wo
wir gesetzgeberisch nachbessern müssen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es auch einer Evaluierung des
Straftatbestands des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, gegen Polizeibeamte und sonstige Rettungskräfte, bedarf. Der Strafrahmen ist dabei sicherlich nicht
allein das Entscheidende. Wir müssen, sowohl, was den
Strafrahmen anbelangt, als auch, was das Unwerturteil
anbelangt, im Strafgesetzbuch deutlich machen, dass der
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Feuerwehrkräfte und THW-Helfer keine Bagatelle, kein Kavaliersdelikt ist, sondern mit der vollen Härte des Strafrechts zu
ahnden ist.
({13})
Ich darf deshalb mit dem klaren Bekenntnis abschließen, dass es in Deutschland natürlich ein sehr hohes und
schützenswertes Grundrecht für jedermann ist, sich
friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Aber unsere
Antwort auf solche Gewaltexzesse, auf eine derartige
Verrohung und Brutalität, wie wir sie gestern in Frankfurt erlebt haben, ist die volle Härte des Rechtsstaats.
Dafür sollten wir uns als Deutscher Bundestag in aller
Deutlichkeit aussprechen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bunt
und laut sollten die Proteste gestern in Frankfurt sein.
Ich sage bewusst am Anfang: Ja, wir können in einer Demokratie stolz sein, wenn sich Menschen einmischen
wollen, und zwar auch bunt und laut, wenn sie sich engagieren, wenn sie für ihre Anliegen auf die Straße gehen. Die Demokratie ist übrigens die einzige Staatsform,
in der man auf den Staat und seine Institutionen schimpfen darf. Es zeichnet eben eine Demokratie aus, dass sie
sich auch beschimpfen lässt. Auch harte Kritik an Banken ist nichts Unanständiges. All das ist selbstverständlich.
Genauso selbstverständlich ist aber auch, dass eine
Demokratie nur mit einem Wettbewerb der Argumente
funktionieren kann, dass man sich in der Sache hart, aber
friedlich auseinandersetzt.
({0})
Wer diese Grundregel missachtet, zerstört die Grundlage
einer freien Gesellschaft. Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele und demokratischer Diskurs schließen sich
aus.
({1})
Wer wahllos Müllcontainer und Autos anzündet und auf
Polizisten einprügelt, nur weil sie Polizisten sind, verrät
deshalb die Demokratie; er verachtet sie.
({2})
Er ist kein Demokrat, sondern er ist ein Krimineller.
Deshalb: Diejenigen Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter, die gestern ihren Kopf hingehalten haben, haben
wahrlich nicht nur ihren Job getan; sie haben uns alle
und unsere Werte verteidigt, und dafür verdienen sie unseren Dank.
({3})
Jetzt geht es zunächst einmal darum, gegen die gestrigen Gewalttäter entschieden vorzugehen; das ist die
Aufgabe von Polizei und Justiz. Helmut Schmidt, unser
Altkanzler, wurde einmal gefragt, was er einem zornigen
jungen Mann sagen würde, der mit einem Pflasterstein in
der Hand vor ihm stehe. „Nichts“, hat er gesagt; so einer
gehöre erst einmal hinter Schloss und Riegel. Recht hat
er, unser Altkanzler.
({4})
Nun ist das entschiedene Vorgehen unseres Rechtsstaates das eine, und unsere Gesetze, um mit Situationen
wie gestern umzugehen, sind dabei wirksam genug. Genauso wichtig ist es aber auch, dass nach solchen Ereig8952
nissen alle - ich sage: alle - Demokraten zusammenstehen und sagen: Es reicht. Rasende Gewaltlust gehört
nicht in unsere freiheitliche Gesellschaft.
({5})
Das wirft in der Tat heute, am Tag danach, noch viele
Fragen auf. Wenn einige Demonstrationsveranstalter
auch heute noch von einer - so wörtlich - „großartigen
Mobilisierung“ sprechen, dann ist das entlarvend, meine
Damen und Herren.
({6})
Frau Hänsel, Ihr Vergleich der Verwüstungen in
Frankfurt mit dem Freiheitskampf in Kiew ist angesprochen worden. Sie hatten heute die Chance, sich davon zu
distanzieren. Sie haben diese Chance vertan, und das
finde ich unwürdig und beschämend. Als Demokrat sage
ich Ihnen: Auch das, was Sie heute gesagt haben, finde
ich vollkommen inakzeptabel.
({7})
Schließlich sage ich auch all denen, die gestern friedlich, bunt und laut im weltoffenen Frankfurt demonstrieren wollten: Ich achte eure Anliegen, auch wenn ich
nicht jedes Anliegen teile. Aber auch ihr habt eine Verantwortung dafür, genau hinzuschauen, dass ihr euch
nicht vor den Karren von Brandstiftern spannen lasst;
({8})
denn diese Brandstifter von gestern haben eurem Anliegen einen Bärendienst erwiesen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Da dies eine Vereinbarte Debatte war, haben wir jetzt
über nichts abzustimmen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inter-
nationalen Erbrecht und zur Änderung von
Vorschriften zum Erbschein sowie zur Ände-
rung sonstiger Vorschriften
Drucksache 18/4201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verfolgung der Vorbereitung von
schweren staatsgefährdenden Gewalttaten
({0})
Drucksache 18/4279
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss Digitale Agenda
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-Personalausweises und zur
Änderung des Passgesetzes
Drucksache 18/4280
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 g auf.
Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich warte noch einen kleinen Moment, um Ihnen allen
zu ermöglichen, dieser anspruchsvollen Aufgabe nachkommen zu können, und vor allen Dingen, um Abstimmungsergebnisse dann zweifelsfrei feststellen zu können.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 157 zu Petitionen
Drucksache 18/4207
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 157 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
Drucksache 18/4208
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 158 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 159 zu Petitionen
Drucksache 18/4209
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 159 ist mit den
Vizepräsidentin Petra Pau
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
Drucksache 18/4210
Bevor wir zur Abstimmung über diese Sammelübersicht kommen, erteile ich der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, der Kollegin Kersten Steinke, zu einer ergänzenden Berichterstattung das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Berichterstatter haben mich als Vorsitzende gebeten,
eine Erklärung für den Petitionsausschuss abzugeben.
Die Sammelübersicht 160 enthält unter der Nummer 2 eine Beschlussempfehlung, die ich Sie zu unterstützen bitte. Sie betrifft ehemalige Heimkinder, die in
den 50er- und 60er-Jahren in Einrichtungen der Kinderund Jugendpsychiatrie sowie in Heimen der Behindertenhilfe in Westdeutschland untergebracht waren und
dort Gewalt und Unrecht erfahren haben.
Wie mancher von Ihnen noch wissen wird, hat der
Deutsche Bundestag auf Betreiben des Petitionsausschusses vor Jahren in einem sehr aufwendigen Verfahren den „Runden Tisch Heimerziehung“ auf den Weg gebracht. In dessen Folge wurde ein Fonds aufgelegt, aus
dessen Mitteln ehemalige Heimkinder für zugefügtes
Unrecht entschädigt wurden.
Die jetzige Petition hat zum Ziel, auch die in Kinderund Jugendpsychiatrien sowie in Heimen der Behindertenhilfe Untergebrachten, die von dem bereits existierenden Fonds nicht erfasst werden, zu entschädigen. In einer Entschließung des Deutschen Bundestages vom
7. Juli 2011 wurden ausdrücklich auch Einrichtungen
der Behindertenhilfe sowie deren Kinder- und Jugendpsychiatrien als Orte genannt, in denen Kinder und Jugendliche Leid und Unrecht erlitten haben. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, im Einvernehmen mit den
Ländern auch für diese Personengruppen Regelungen für
Hilfen zu finden. Hier muss allerdings erneut Geld in die
Hand genommen werden.
({0})
Zur Umsetzung der Entschließung prüfen die Bundesministerien für Gesundheit und für Arbeit und Soziales
Lösungsmöglichkeiten, zum Beispiel in Form einer Zustiftung zu dem „Fonds Heimerziehung“, und sind bereits an die Länder herangetreten, die sich mit der Thematik im Rahmen der 90. und 91. Arbeits- und
Sozialministerkonferenz befasst haben. Allerdings wurden hierbei auch Zweifel geäußert, ob dieser Weg geeignet ist, das erfahrene Leid und Unrecht auszugleichen.
Der Petitionsausschuss hat sich daher schriftlich an die
Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer und die
großen Kirchen mit der Bitte gewandt, im Interesse der
Betroffenen an einer angemessenen kurzfristigen Hilfe
für den genannten Personenkreis aktiv mitzuwirken.
({1})
Ziel unseres Überweisungsvorschlages ist es deshalb,
in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bundesregierung und Parlament alle weiteren Beteiligten davon
zu überzeugen, dass die entsprechenden Finanzmittel
schnellstmöglich zur Verfügung stehen und an die Betroffenen ausgezahlt werden können. In diesem Sinne
appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
unserem einstimmigen Erwägungsvotum, welches die
Bundesregierung und die Landesvolksvertretung auffordert, das Anliegen noch einmal zu prüfen und nach Möglichkeiten der Abhilfe zu suchen, Ihre Zustimmung zu
geben.
Danke schön.
({2})
Wir kommen nun zur Abstimmung über Sammelübersicht 160 auf Drucksache 18/4210. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 160 ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
Drucksache 18/4211
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 162 zu Petitionen
Drucksache 18/4212
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 163 zu Petitionen
Drucksache 18/4213
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 163 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Reiches Land - Arme Kinder
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun liegt wieder eine Studie vor, diesmal von der Bertelsmann-Stiftung, zu den Auswirkungen von Armut auf
Kinder. In dieser wird festgestellt, dass armutsgefährdete
Kinder bei Schuleingangsuntersuchungen deutlich hinter
anderen Kindern zurückliegen: 43 Prozent - ich runde
jetzt einmal die Zahlen - sprechen mangelhaftes Deutsch,
dreimal so viel wie bei anderen Kindern; 25 Prozent der
Kinder aus Hartz IV haben Probleme mit der Körperkoordination, zweimal so viel wie üblich; 25 Prozent haben
Probleme bei der Visuomotorik - das ist die Koordination von Auge und Hand -, zweimal so viel wie üblich;
28 Prozent haben Probleme beim Zählen, zweieinhalbmal so viel wie sonst; und 8,8 Prozent haben Übergewicht, zweimal so viel wie sonst. Es heißt in der Studie:
Kinderarmut ist kein Randphänomen, sondern betrifft jedes fünfte Kind in Nordrhein-Westfalen, bundesweit jedes sechste, im Ruhrgebiet sogar jedes vierte. Die Tendenz ist steigend.
Ich möchte einmal zitieren:
Dauerhafte Armut zeitigt hierbei besonders schwerwiegende Folgen und gefährdet die positive Entwicklung von Kindern langfristig. Kinder, welche
in Armut leben, zeigen häufiger Auffälligkeiten in
ihrem Verhalten.
Weiter heißt es:
Ebenso sind Benachteiligungen hinsichtlich sozialer Kontakte zu beobachten. Armut gefährdet nicht
nur die Grundversorgung und Gesundheit von Kindern auf gefährliche Art und Weise, sondern beeinflusst ebenso in hohem Maße die Entwicklung sozialer Kompetenzen von Kindern negativ.
Warum bin ich jetzt nicht überrascht? Dieses Zitat
stammt nicht aus der aktuellen Studie, aus der es allerdings stammen könnte, es stammt aus einer Großen Anfrage meiner Fraktion aus dem Jahr 2007. Es ist also
nichts Neues. Und schon 1989 gab es eine Studie der
AWO zur Kinderarmut in Deutschland. Aber was hat
sich in der Zeit getan? Trotz aller Bemühungen meiner
Fraktion, Instrumente gegen Kinderarmut anzuwenden,
hat sich nicht viel getan.
Als Frau von der Leyen als Arbeitsministerin im Januar 2012 verkündete, dass die Zahl der Kinder im
Hartz-IV-Bezug im Jahr 2011 im Vergleich zu 2006 um
257 000 gesunken sei und triumphierend schon fast mit
tränenverschleiertem Blick von „sinkender Kinderarmut“ und der „Ernte der Kraftanstrengungen der letzten Jahre“ sprach, hat sie schlicht unterschlagen, dass in
dem gleichen Zeitraum die Zahl der Kinder insgesamt
um 750 000 gesunken ist. Das war also ein rein demografischer Effekt. Vier Monate nach diesen Äußerungen
veröffentlichte UNICEF ein Ranking über Kinderarmut
in den reichsten Ländern der Welt. Dabei wurden 29 Nationen verglichen. Deutschland landete auf Platz 15, also
im Mittelfeld.
Nach dem Index der Entbehrungen von UNICEF gilt
es als besondere Mangelsituation, wenn ein Kind zwei
der folgenden Dinge nicht hat: drei Mahlzeiten am Tag,
eine warme Mahlzeit täglich, altersgerechte Bücher,
Spielzeug für Aktivität im Freien, regelmäßige Freizeitaktivitäten - das heißt Sportvereine oder das Erlernen eines Musikinstruments -, Geld, um an Schulausflügen
teilzunehmen, einen ruhigen Platz für Hausaufgaben, einige neue Kleidungsstücke, zwei Paar Schuhe, Möglichkeiten, Freunde zum Spielen und zum Essen nach Hause
einzuladen. Laut UNICEF trifft diese Mangelsituation
auf knapp 9 Prozent aller Kinder in Deutschland zu:
5 Prozent müssen auf eine warme Mahlzeit verzichten,
4,4 Prozent haben keinen Platz für ihre Hausaufgaben,
3 Prozent erhalten nie neue Kleidung, sondern nur getragene Sachen, und knapp 4 Prozent besitzen höchstens
ein Paar Schuhe. Jetzt sollen das Kindergeld erhöht und
der steuerliche Freibetrag angehoben werden. Ein Paar
Schuhe - und dann kommt unser Finanzminister
Schäuble daher und sagt: Hier hast du 4 Euro, kauf dir
ein zweites Paar Schuhe. - Der leidet an völligem Realitätsverlust.
({0})
Aber das hat auch sein Staatssekretär erkannt - Herr
Kampeter ist heute ja auch da - und in der taz erklärt:
„Die Null ist das Leitmotiv“. Wen oder was er damit
meint, kann jeder für sich ausmachen.
In der Pressemitteilung zur aktuellen Studie heißt es,
„ein früher Kita-Besuch kann negative Folgen von Kinderarmut verringern“. Dann müssen aber auch die Zahl
der Plätze und die Qualität stimmen. Außenminister
Steinmeier hat sich letzte Sitzungswoche bei der Regierungsbefragung hierhingestellt und uns allen hier im Plenum ins Gesicht gesagt, dass sich seit dem Ausbau der
Kitas die Qualität nicht verschlechtert hat. Abends in
den Nachrichten der ARD wurde er dann allerdings der
Falschaussage überführt. Denn dort wurde festgestellt,
dass jede vierte Erzieherin entweder keine pädagogische
Ausbildung oder nur einen Crashkurs erhalten hat. So
viel zur Wahrnehmung der real existierenden Umstände
durch die Regierung.
Konkrete Maßnahmen werden von der Linken seit
Jahren immer wieder gefordert; dazu wird noch ausgeführt. Wir brauchen keine neuen Studien, wir brauchen
keine Anhörungen und keine weiteren Expertisen. Wir
müssen endlich die Dinge angehen.
({1})
Kein Kind auf der Schattenseite des Lebens lassen, wie
es von der Leyen als Familienministerin 2006 so großspurig und großartig verkündete: Wann, frage ich Sie,
fangen wir damit an? Handeln statt weiterer Studien und
den Finanzminister auswechseln - das wäre eine schöne
Sofortmaßnahme.
Danke.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Eckenbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jedes
Kind, das in seinen Möglichkeiten und Chancen eingeengt oder an einer guten Entwicklung gehindert wird, ist
eines zu viel. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig.
Das Bild allerdings, das die Linke immer wieder zeichnet - wir haben es gerade wieder gehört -, ist meines Erachtens in Gänze falsch - und das ist noch sehr vorsichtig ausgedrückt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der sogenannten
Kinderarmut störe ich mich seit vielen Jahren daran,
({1})
dass sie auf rein finanzielle Aspekte reduziert und immer
wieder allein auf den Bereich des SGB II bezogen wird.
({2})
Erstens. Hartz IV verursacht keine Armut, sondern
verhindert Armut.
({3})
Es ist nämlich eine Sozialleistung. Ich glaube, wir werden in der Welt von vielen Seiten dafür gelobt, diese Sozialleistung in Deutschland eingeführt zu haben.
({4})
Zum Zweiten. Auch die Menschen, deren Einkommen knapp über der SGB-II-Grenze liegt, sind nicht in
der Lage, große Sprünge zu machen. Diese Menschen
werden zu oft vergessen, wenn Sie immer nur über Menschen in SGB-II-Bezug reden.
Drittens. Kinderarmut ist zudem viel mehr als finanzielle Knappheit; ich sprach davon schon. Auch
Bildungsarmut, Sprachdefizite, Vernachlässigung
oder schwere Krankheiten der Eltern, insbesondere
bei langzeitarbeitslosen Eltern mit zunehmend psychischen Problemen, gehören für mich mit zu einer Definition von Kinderarmut. Das sehe nicht ich alleine so,
sondern die AWO und das Institut für Sozialarbeit
sind in einer Studie zu gleichen Ergebnissen gekommen; auch sie differenzieren.
Aber Fakt ist natürlich - das sehen wir auch -, dass
viel zu viele Kinder in armen Verhältnissen aufwachsen
und wir dies ändern müssen.
({5})
Es gibt zahlreiche Maßnahmen und Hilfen, die bereits
ergriffen und angeboten wurden, die aber nicht ausreichend sind, auch nicht in Nordrhein-Westfalen. Heute
reden wir ja auch über die Bertelsmann-Studie zu NRW.
Hierzu nur drei Zahlen: Deutschlandweit wird die Kinderarmut mit 17,1 Prozent beziffert, in Nordrhein-Westfalen liegt sie bei 20,3 Prozent, in Mühlheim sind es
24,2 Prozent, und wir haben eine Ministerpräsidentin,
die unter dem Motto „Kein Kind zurücklassen“ ein Riesenprogramm fährt. Frau Kraft hat die Kinder in Nordrhein-Westfalen zurückgelassen - ganz klar.
({6})
Was wird bereits getan für Kinder und Familien? Kinderfreibeträge, Kinderzuschläge, Kitaausbau - ich will
hier nur einige Stichworte nennen.
({7})
Übrigens: Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesrepublik wird in dieser Studie als hervorragendes Instrument bewertet. Auch darauf will ich nur der Form halber
hinweisen.
({8})
Gestatten Sie mir an dieser Stelle, auch auf die jüngsten
Entscheidungen der Bundesregierung hinzuweisen: Verstärkung der frühkindlichen Infrastruktur, Bundesprogramm Kita Plus, 3,5 Milliarden Euro aus dem aktuellen
kommunalen Investitionspaket gerade für strukturschwache Kommunen, die dort - hoffentlich - in strukturschwache Quartiere fließen, 1,5 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr 2017.
Aber ich denke - das ist das Wichtige, worüber wir
heute reden müssen -, dass wir auch andere Ansätze hier
diskutieren sollten. Dazu gehören fünf Punkte, die mir
besonders wichtig sind und die auch die BertelsmannStiftung in ihrer Studie deutlich gemacht hat.
Erstens - ich sprach ja davon - geht es nicht nur um
eine allgemeine und finanzielle Sicherheit gerade für Alleinerziehende, Eltern und Familien, sondern es geht
auch und vor allem um deren eigenständige soziale und
wirtschaftliche Sicherung. Diese funktioniert immer
noch am besten über einen Arbeitsplatz. Arbeitsplätze
werden aber in der Regel nicht hauptsächlich durch unsere Programme geschaffen, sondern von Betrieben und
Unternehmen in Deutschland. Ohne eine geeignete Wirtschaftspolitik, mit der wir für Menschen, für Jugendliche
Arbeitsplätze schaffen, wird man durch kein einziges
Programm Lösungen finden können; das haben wir auch
heute Morgen schon in der Debatte zum Fachkräftemangel gehört. Wir brauchen also mehr Betriebe, die aus
Überzeugung und in eigenem Interesse langfristige und
gesicherte Arbeitsplätze anbieten, zum Beispiel auch für
Alleinerziehende. Wir müssen die Betriebe dabei aber
unterstützen und sie auch entlasten, das heißt, auch einmal die Frage stellen: Was benötigen Betriebe eigentlich
dazu, um auch langjährig arbeitslos gewesene Menschen
einzustellen?
Zweitens. In der Studie wird von Quartieren gesprochen. Auf dieser Ebene muss viel stärker verzahnt und
vernetzt gedacht werden. Wir alle kennen die Ghettoisierung in den Gemeinden, ob in Groß- oder Kleinstädten.
Diese kann nur verhindert werden, wo die Mischung
zwischen preiswertem und teurem Wohnraum erhalten
bleibt, wo Arbeitsplätze bleiben und neue entstehen und
die Jugend Anlaufstellen hat. Das heißt, wir brauchen
komplexere Konzepte unter Einbeziehung von Wirtschaftsförderung, Städtebauförderung, Jugendhilfe, Gesundheitsvorsorge und sozialen Diensten.
Drittens. Für Menschen, die Hilfe brauchen, gibt es
unzählige Möglichkeiten der Beratung. Wir müssen
diese aber auch bündeln, und wir müssen nicht nur
über Jugendhilfemaßnahmen nachdenken, sondern
auch über die Schnittstellen zwischen Jugendhilfe und
Jugendpsychiatrie.
Viertens - das will ich abschließend sagen - ist für
mich ein ganz wichtiger Punkt, dass wir Eltern auch immer befähigen, Verantwortung zu übernehmen: in den
eigenen vier Wänden und dort, wo sie mit den Kindern
zusammen sind. Das fehlt mir immer dann, wenn wir
über staatliche Maßnahmen reden. Kein Kind -
Kollegin Eckenbach, die Ankündigung des Abschlusses der Rede ersetzt diesen bitte nicht.
Nein. Lassen Sie mich nur noch einen Satz darauf
verwenden. - Wir werden Eltern nie - bei allen Möglichkeiten, die wir gesetzlich vorhalten - aus ihrer Verantwortung entlassen. Unser Ziel ist es, die Stärken der Kinder auch wirklich zu stärken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Rund ein Fünftel aller Kinder in Deutschland
sind arm, und an dieser katastrophalen Situation hat sich
in den letzten Jahren auch nichts verbessert. Sie, Frau
Eckenbach, stellen sich hierhin und relativieren statistische Zahlen, Sie beschwichtigen, Sie starten mit einer
Lobhudelei auf die Arbeit der Bundesregierung. Ich
muss wirklich sagen: Ich finde das angesichts von
2,8 Millionen armen Kindern in Deutschland regelrecht
unverfroren.
({0})
Rund ein Fünftel der Kinder in Deutschland sind arm;
trotzdem wird Kinderarmut im Koalitionsvertrag der
Großen Koalition totgeschwiegen. Sie kommt einfach
gar nicht vor. So bitter das ist, es wundert mich dann
doch nicht; denn diese Bundesregierung hat offensichtlich nicht vor, mit ganz konkreten Maßnahmen gegen
Kinderarmut vorzugehen und Kinderarmut konkret zu
bekämpfen. Ich finde, das ist eine Katastrophe für jedes
einzelne Kind, aber es ist auch eine Katastrophe für unsere ganze Gesellschaft.
({1})
Ich finde es sehr gut, dass wir auch heute über Kinderarmut und die Absicherung von Familien sprechen,
weil, wie wir alle wissen, aktuell sehr heiße Verhandlungen zwischen dem Finanzminister und der Familienministerin laufen. Leider läuft es beim Thema Kindergeld
wohl auf die minimalst mögliche Lösung hinaus:
Schäuble wird wohl nicht mehr machen, als er unbedingt
machen muss. Der Freibetrag, von dem aber nur Familien mit einem hohen Einkommen profitieren, wird sehr
deutlich angehoben. Aber Familien mit einem ganz normalen Einkommen werden mit 6 Euro Kindergelderhöhung abgespeist. Und arme Kinder bekommen eben gar
nichts, weil die Kindergelderhöhung auf den Regelsatz
angerechnet wird.
({2})
Die Förderung von Kindern und Familien in Deutschland läuft leider nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat,
dem wird gegeben. - Familien mit hohem Einkommen
profitieren am meisten, arme Familien gehen leer aus.
Ich finde, das muss ein Ende haben. Wir müssen die
Kinder- und Familienförderung vom Kopf auf die Füße
stellen! Wir müssen die besonders unterstützen, die es
auch besonders nötig haben.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, was wir aus den
Verhandlungen zu den Alleinerziehenden hören, ist für
mich eigentlich das größte Trauerspiel. Ob der Entlastungsbetrag angehoben wird, wie es im Koalitionsvertrag zugesagt wird und wie es auch die Ergebnisse der
Evaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen
ganz ausdrücklich nahelegen, steht in den Sternen. Der
Finanzminister will davon wohl nichts wissen. Diese
Koalition kann den Verteidigungsetat mir nichts, dir
nichts in unermessliche Höhen steigen lassen - ein Etat,
in dem in den letzten Jahren übrigens wie in keinem anderen Geld verplempert und verpulvert wurde -, aber bei
den Alleinerziehenden wird hier so knauserig reagiert.
Ich muss wirklich sagen: Angesichts der Tatsache, dass
Alleinerziehende mit das höchste Armutsrisiko tragen,
finde ich das wirklich schäbig.
({4})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die materielle Absicherung ist wichtig, aber sie ist natürlich nur eine Seite
der Medaille. In der aktuellen Studie der Bertelsmann
Stiftung wird ganz konkret auf die Möglichkeit hingewiesen, über gute Kitas bessere Chancen und eine gute
Förderung gerade für arme Kinder zu erreichen. Frühe
Förderung, frühe Bildung - ich denke, darin sind wir uns
alle einig - sind gerade auch für arme Kinder der Schlüssel zu einem besseren Leben. Ich muss da aber wirklich
fragen: Warum tut diese Bundesregierung dann so wenig
für die Kitas und insbesondere für die Qualität in den Kitas?
Gestern ist unser Antrag, mit dem wir eine Qualitätsoffensive für die Kitas gefordert haben und eine Fachkraft-Kind-Relation festschreiben wollten, um die Qualität in den Kitas zu verbessern, im Familienausschuss
einfach schnöde abgelehnt worden. Daran können wir
sehen: In dieser Legislaturperiode wird nichts passieren.
- Ich halte das für eine ganz eklatante Fehlentscheidung.
Wir dürfen keine weiteren Jahre verlieren, um mehr Teilhabe für Kinder, insbesondere für arme Kinder, zu erreichen.
Frau Eckenbach, Sie haben eben Nordrhein-Westfalen angesprochen. In der zum Glück ja nur sehr kurzen
Regierungszeit von Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen ist unter Armin Laschet von den damals hohen Summen, die vom Bund zusätzlich in die Kitas investiert
worden sind, kein einziger Cent bei den Kitas zusätzlich
angekommen. Er hat das Geld genutzt, um den Haushalt
in Nordrhein-Westfalen zu sanieren. Deshalb würde ich,
wenn ich von der CDU käme, mit Blick auf NordrheinWestfalen ganz, ganz kleine Brötchen backen.
({5})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, heute geht rund
die Hälfte der Kinder aus gutsituierten Verhältnissen vor
dem dritten Geburtstag in eine Kita. Von den armutsgefährdeten Kindern ist es weniger als ein Drittel. Man
muss keine Prophetin sein, um zu vermuten, dass das mit
dem Betreuungsgeld nicht besser wird. Das Betreuungsgeld ist und bleibt eine bildungspolitische Katastrophe.
({6})
Es leistet gerade den armen Familien und den armen
Kindern einen Bärendienst. Es sollte aus unserer Sicht
schnellstmöglich wieder abgeschafft werden. Ich frage
mich wirklich: Wie viele Studien sind noch notwendig,
bis die CSU das endlich auch versteht?
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Susann Rüthrich hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich fange einmal mit einer Frage an: Wie fühlt
es sich eigentlich an, als Kind in Deutschland arm zu
sein? Vielleicht wie in der Szene, die mir die Direktorin
einer Grundschule beschrieben hat und die sich dort jeden Tag abspielt.
Diese Grundschule hat 280 Schüler, und es gibt einen
Hort mit 220 Plätzen. Ich sage mir, es fehlen ja
60 Plätze, und frage mich, wie ausgesucht wird, wer einen Hortplatz bekommt und wer nicht. Nun, es gibt Auswahlkriterien, die der Stadtrat und der im Übrigen von
den Linken getragene Bürgermeister mit festlegen: Vorrang haben die Kinder, deren Eltern beide arbeiten.
Okay, was heißt denn das praktisch? Praktisch heißt das:
Kurz vor dem kostenpflichtigen Mittagessen kommt ein
Bus, der 60 Kinder abholt und zur Kinderarche bringt.
Dort gibt es kostenloses Mittagessen. Wenn die Kinder
einmal in der Kinderarche sind, kommen sie nicht mehr
zum Schulhort zurück. Und siehe da: Die Hortplätze reichen, weil die armen Kinder woanders hingefahren wurden. Diese Kinder bekommen weder die Nachhilfe noch
die Hausaufgabenbetreuung noch die Musikangebote,
die die anderen Kinder im Hort erhalten.
Klar, ich könnte mich jetzt empören. Ich kann aber
auch fragen: Was tun wir jetzt, um genau diesen Kindern
zu helfen? Jedes Kind muss die Chance auf einen Hortplatz, auf einen Kitaplatz und auf eine Ganztagsbetreuung haben. Da darf nicht selektiert werden, wer die
Plätze bekommt. Da, wo die meisten armen Familien
wohnen, da müssen die besten Schulen, die besten Kitas,
die besten Jugendclubs, die aktivsten Vereine und Verbände hin, weil sie genau dort für die Kinder am wichtigsten sind, deren Eltern sich privaten Musikunterricht
und private Nachhilfe nicht leisten können.
({0})
Genau dann - davon bin ich überzeugt - werden die von
Ihnen benannten und in der Bertelsmann-Studie aufgezeigten Entwicklungsnachteile, unter denen viele arme
Kinder leiden, ausgeglichen werden; zumindest ist es ein
Baustein dazu.
Die Kriterien für Aufnahme in den Hort oder in die
Kita sind Sache der Kommunen. 5 Milliarden Euro zusätzlich stellen wir den Kommunen zur Verfügung, damit sie überhaupt in der Lage sind, jedem Kind eine
Chance zu geben. Wir fördern außerdem den Ausbau der
Kinderbetreuung. Wir entlasten die Länder. Das alles
sind Maßnahmen, um Luft dafür zu schaffen, Infrastruktur um die Kinder herum aufzubauen. Diese Mittel müssen die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in
den Kommunen natürlich auch nutzen. Das sage ich
nicht nur meinen Genossinnen und Genossen, sondern
da bitte ich einfach alle Fraktionen, auch die von der Opposition, auf ihre Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort
die Entscheidungen zu treffen haben, wie die Infrastruktur für die Kinder gestaltet wird, entsprechenden Einfluss zu nehmen.
Eine sehr gute Infrastruktur vor Ort ist aber nur das
eine. Das allein wird nicht reichen. Leider ist es tatsächlich so, dass Kinderarmut von den Eltern vererbt wird.
Deswegen müssen wir an dem Einkommen der Eltern
bzw. der Familien etwas machen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt - dadurch haben wir die Tariflöhne
gestärkt - und damit das Einkommen von vielen Familien verbessert. Mit dem Entgeltgleichheitsgesetz, das
wir wollen und das wir einführen werden, werden wir
dafür sorgen, dass eine Mama an ihrem Arbeitsplatz in
der Stunde genau dasselbe wie der Papa bekommt, der
die gleiche Arbeit macht.
({1})
Wir als SPD-Fraktion kämpfen für eine spürbare Kindergelderhöhung. Alleinerziehende wollen wir stärker
unterstützen. Ich könnte hier noch weitere Maßnahmen
aufzählen. Wenn Sie nun sagen: „Das alles reicht noch
nicht“, gebe ich Ihnen sogar recht. Auch wir sind ja für
kostenlose Bildung, und zwar von Anfang an. Das heißt
dann auch, dass das Mittagessen, der Schülertransport
und die Schulmaterialien kostenfrei sind. Auch über die
Kindergrundsicherung kann man mit mir gerne diskutieren. Diese Diskussion werden wir auch in der Kinderkommission im dritten Drittel dieses Jahres führen.
Ganz nebenbei: Mein SPD-Landesverband hat die
Kindergrundsicherung bereits beschlossen. Wir gehen
nämlich davon aus, dass jedem Kind das beste Umfeld
vor Ort garantiert werden muss. Das hat zum einen etwas mit der persönlichen materiellen Ausstattung zu tun.
Am Ende des Monats soll es eben nicht nur noch Toastbrot geben. Das hat zum anderen etwas damit zu tun, wie
die Infrastruktur vor Ort aussieht, die jedes Kind vorfindet.
Eine Vision zu haben, ist gut. Das bedeutet aber,
heute mit praktischer Politik Schritte in die richtige
Richtung zu machen, um diese Vision umzusetzen. Das
hilft den Kindern heute unmittelbar. Alle Kinder, egal ob
arm, ob reich oder weder noch, können sich dabei auf
unsere Unterstützung verlassen.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Norbert Müller hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Mich ärgert die Debatte, wie wir sie gerade geführt haben - da kann ich mich an ganz vielen
Punkten Katja Dörner anschließen -, maßlos. Sie ärgert
mich maßlos, weil von vornherein klar war: Ab dem
Moment, zu dem wir die Aktuelle Stunde beantragt haben, wird beschwichtigt und wird vor allen Dingen erklärt werden, die Koalition tue schon alles, die Situation
sei nicht so schlimm, das Problem bekomme man in den
Griff und man müsse jetzt abwarten, wie diverse Maßnahmen wirkten.
Jörn Wunderlich hat die Geschichte der Kinderarmut
seit einer Studie der AWO von 1989 präsentiert. Ein
Blick auf diese Dokumente zeigt: Die Kinderarmut hat
sich seit dieser Zeit nicht reduziert. Sie ist vererbt worden. Sie ist wie einbetoniert. Egal welche empirischen
Erhebungen dazu gemacht worden sind: Wir kommen
immer zu den gleichen Ergebnissen.
Fast alle Bundesregierungen seit der Wende haben erklärt, sie hätten das Problem erkannt, sie würden am Problem arbeiten, sie wollten Kinderarmut reduzieren. Doch
praktisch ist dies niemandem gelungen. Was bedeutet
das in der Praxis? Wozu hat das geführt? Es bleibt bei
Sonntagsreden, die mit belegter Stimme vorgetragen
werden und hinter denen man sich dann versteckt, statt
Taten zu präsentieren.
Ich möchte das mit Beispielen unterlegen. Die Bundesfamilienministerin Schwesig hat 2009 noch als Landespolitikerin in einem Interview erklärt - ich zitiere -:
Zwar kündigt Frau von der Leyen nun in jedem Interview an, sie wolle gegen Kinderarmut vorgehen.
Doch ihr Handeln widerlegt ihre Versprechen.
({0})
- Da hat sie recht gehabt. - Fünf Jahre später erklärt
Frau Schwesig, nun als Bundesfamilienministerin:
Für mich ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein
sehr wichtiger Punkt.
Dazwischen steht der Koalitionsvertrag, den Sie unterschrieben haben, dieses Dokument des politischen Vollversagens. Auf 130 Seiten kein Wort zur Kinderarmut
und kein Konzept, Kinderarmut wirksam zu beseitigen.
Aber Sie kündigen es permanent an.
Norbert Müller ({1})
Das Ergebnis kann man heute in einer Presseerklärung des Deutschen Kinderhilfswerks - darauf komme
ich noch zurück - nachlesen. In einer Studie, die von
diesem 2014 erstellt wurde, haben 72 Prozent der Befragten gesagt, dass gesellschaftliche und politische Verantwortungsträger - damit meinen sie uns, aber vor allem
auch die Bundesregierung, weil sie zunächst an diese
denken - sehr wenig oder zu wenig tun, um Kinderarmut
wirksam zu bekämpfen. Denn was sie in den letzten
25 Jahren erlebt haben, sind Sonntagsreden, und letzten
Endes hat sich nichts getan.
({2})
Ich kann mich Katja Dörner anschließen und fordere
Sie auf: Ergreifen Sie Maßnahmen! Ich glaube, wir sind
uns in vielen Punkten einig gewesen; das war auch diese
Woche im Familienausschuss der Fall. Ergreifen Sie also
konkrete Maßnahmen, um Kinderarmut zu beseitigen!
({3})
Wenn Sie als Koalition auf die Grünen oder uns nicht
hören wollen - das kann ich nachvollziehen -, dann hören Sie doch auf unabhängige Sachverständige und auf
das Deutsche Kinderhilfswerk. Ich zitiere aus der schon
erwähnten Presseerklärung:
Um die Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen,
brauchen wir eine Beschäftigungspolitik, die Eltern
in die Lage versetzt, durch eigene Erwerbstätigkeit
sich und ihren Kindern eine ausreichende finanzielle Lebensgrundlage zu bieten. Zudem haben
Bund, Länder und Kommunen gemeinsam dafür zu
sorgen, dass Einrichtungen für Kinder und Jugendliche so ausgestattet werden, dass sie deren Entwicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten bestmöglich fördern können. Ein gesundes Aufwachsen
sollte für alle Kinder, unabhängig vom Geldbeutel
ihrer Eltern, ebenso eine Selbstverständlichkeit
sein.
Jetzt werden alle sagen: „Das können wir unterzeichnen“, und die Koalition wird in den folgenden Reden sagen: Das tun wir übrigens schon mit allen unseren Maßnahmen.
Aber warum um Himmels willen kommen wir dann
immer wieder wie auch in der Bertelsmann-Studie zu
denselben Ergebnissen? Warum hat sich in den letzten
Jahren nichts getan? Weil Ihre Maßnahmen nicht wirken,
weil sie wirkungslos sind und weil Sie im besten Fall,
wenn Sie über Kinderarmut reden und Entlastungen ankündigen, am Ende an die Besserverdienenden denken,
aber bei denjenigen, bei denen die Kinderarmut sozusagen einbetoniert ist und die schon mit der Geburt sozial
deklassiert werden, davon nichts ankommt. Warum ist
das Kindergeld immer noch auf Leistungen nach dem
SGB II anzurechnen? Warum ist das Elterngeld immer
noch anzurechnen? Schaffen Sie das ab! Das sind ganz
einfache Maßnahmen. Sie wirken unmittelbar und begrenzen Kinderarmut.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass das
Thema viel zu ernst ist, um hier weitere Sonntagsreden
zuzulassen, uns weiter darüber auszutauschen, welch
dramatische Kinderarmut wir in den Wahlkreisen erleben, und hier entsprechende Beispiele zu präsentieren.
Die kennen wir alle. Lassen Sie uns zu dem Punkt kommen, erste, auch monetäre, Maßnahmen zu ergreifen,
und zwar mehr als 4 oder 6 Euro Kindergelderhöhung,
um Kinderarmut wirksam zu beseitigen. Das muss umgehend geschehen. Die Lage ist mit über 2,5 Millionen
betroffenen Kindern viel zu ernst.
Die Linke wird nicht die Fraktion sein, die sich im
Deutschen Bundestag gegen Maßnahmen stellt, wenn es
ernsthaft darum geht, Kinderarmut zu beseitigen. Wenn
die Koalition und die Bundesregierung ernsthaft bereit
sind, solche kleinen Schritte zu gehen, wie zum Beispiel
das Kindergeld anrechnungsfrei zu stellen, werden wir
uns Ihnen nicht in den Weg stellen, sondern Sie konstruktiv begleiten. Aber wir werden Sie auch weiter treiben, wenn es bei den Sonntagsreden über Kinderarmut
bleibt und Sie letztlich keinerlei Ergebnisse vorlegen außer einer weiteren Studie in fünf Jahren, in der dann wieder festgestellt wird, dass Kinderarmut ein ernstes Problem ist und sich nach wie vor nichts getan hat.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Kai
Whittaker das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Kinderarmut ist
ein ernstes Thema. Wir sind uns sicherlich darin einig,
dass es uns traurig macht, wenn 1,5 Millionen Kinder in
diesem Land von Hartz IV leben müssen und damit einen besonders schweren Start ins Leben haben. Diese
Kinder sind Teil der Zukunft unseres Landes, und weil
es in Deutschland so wenige Kinder gibt, müssen sie uns
noch viel mehr wert sein.
({0})
Vor diesem Hintergrund finde ich es umso verwerflicher, wenn die Kollegen der Linken Kinderarmut für
parteipolitische Zwecke missbrauchen.
({1})
Sie tun so, als ob sich nur Ihre Fraktion für dieses Thema
interessiert. Sie tun so, als ob wir in unseren Wahlkreisen
von schönen Terrassen und feudalen Vorstadtvillen aus
auf die Welt blickten und über das Thema Kinderarmut
allenfalls in der Zeitung lesen würden. Anstatt sich dieser Klischees zu bedienen und sich an ihnen abzuarbeiten, wäre es schon ein Fortschritt in dieser Debatte, wenn
wir sachlich und ernsthaft darüber reden könnten.
({2})
Wie ist man bei der Studie der Bertelsmann Stiftung
verfahren? Es wurden 5 000 Kinder im Übergang vom
Kindergarten zur Grundschule in Mülheim an der Ruhr
untersucht. Nun kann man darüber debattieren, ob Mülheim an der Ruhr repräsentativ für Deutschland ist. Genau das ist die Schwäche dieser Studie - das wird auch
von den Autoren der Studie selber zugegeben -, nämlich
dass Kinderarmut regional ungleich verteilt ist. Deshalb
braucht man hier im Deutschen Bundestag nicht so zu
tun, als ob quasi über Nacht Kinderarmut als Massenphänomen über dieses Land hereingebrochen wäre.
({3})
Die einzig bemerkenswerte Aussage in dieser Studie ist:
Je stärker eine Kita sozial durchmischt ist, desto besser
entwickeln sich die ärmeren Kinder.
({4})
Sonst hat diese Studie nichts Neues zutage gebracht. Sie
bestätigt lediglich alte Forschungsergebnisse.
({5})
Kinderarmut hängt von der Situation der Eltern ab.
Eltern sind deshalb arm, weil sie keinen Arbeitsplatz haben, weil sie keine Berufsausbildung haben, weil sie
schlecht deutsch sprechen oder weil sie alleinerziehend
sind. Weil diese Erkenntnisse nicht neu sind, hat bereits
die letzte unionsgeführte Bundesregierung ein ganzes
Bündel an Maßnahmen auf den Weg gebracht. Darüber
möchte ich sprechen.
Seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, haben
wir die Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige
verdoppelt. Wir haben in den letzten Jahren 400 Millionen Euro in die Hand genommen, um Sprach- und Integrationsförderkurse in 4 000 Kitas in ganz Deutschland
zu unterstützen. Wir haben 2,5 Millionen Kindern das
Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht. Da wir gerade
von Kitas sprechen: Wir haben 2,7 Milliarden Euro in
die Hand genommen, um die Betreuungsplätze bei den
Gemeinden auszubauen. Wir haben sehr wohl etwas gegen Kinderarmut getan und werden das weiterhin tun.
Frau Kollegin Dörner, wir werden bis zum Jahr 2016 den
Etat des Familienministeriums um über 2 Milliarden
Euro erhöhen.
({6})
Das ist der stärkste Aufwuchs, den es jemals gegeben
hat. Das hängt auch mit der soliden Finanzpolitik unseres Bundesfinanzministers zusammen.
({7})
Ich war - genauso wie viele andere Kollegen hier Gemeinderat in meiner Heimatstadt. Deshalb wissen
wir, dass Kitas Sache der Kommunen sind. Dorthin gehört es auch zu Recht; denn die Kommunen wissen am
besten, wo der Schuh drückt. Nur weil Sie Ihre Kommunen nicht im Griff haben, heißt das noch lange nicht,
dass wir Ihre Probleme hier im Deutschen Bundestag in
Berlin lösen müssen.
({8})
Das ist genau das, was die Studie der Bertelsmann Stiftung betont: Kinderarmut ist regional unterschiedlich
ausgeprägt. Deshalb müssen wir die Probleme vor Ort
lösen.
Unser Auftrag hier in Berlin ist, die Kommunen in die
Lage zu versetzen, diese Aufgabe wahrzunehmen. Wir
tun das beispiellos. Bis zum Jahr 2017 werden wir die
Kommunen um fast 10 Milliarden Euro entlasten. Das
ist die größte Summe, die es jemals in einer Legislaturperiode gegeben hat. Wir eröffnen damit einen großen
Spielraum, der aber auch genutzt werden muss.
({9})
Kommen wir zu den selbsternannten Bildungsspezialisten der Linken zurück. Da Sie sich so gerne auf Bildungsstudien berufen, wissen Sie sicherlich - alle Bildungsökonomen sagen uns das schon seit über zehn
Jahren -: Wenn wir die sozialen Probleme in diesem
Land wirklich bekämpfen wollen, dann müssen wir
möglichst viel Geld für die frühkindliche Bildung und
weniger Geld für die spätere Ausbildung in die Hand
nehmen. In Deutschland machen die Länder noch immer
das Gegenteil. Viele glauben, dass man soziale Gerechtigkeit an der Universität herstellen kann. Ich sage Ihnen: Bis dahin ist der Zug längst abgefahren. Die Abgehängten kommen gar nicht bis zur Universität.
({10})
Deshalb wäre den armen Kindern in Mülheim an der
Ruhr und anderswo in Deutschland mehr geholfen, wenn
Sie als Besserverdiener Studiengebühren für Ihre Kinder
zahlen würden. Dann hätten die Länder mehr Geld für
die Kitas. Aber so weit reicht Ihre soziale Kompetenz
nicht.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang StrengmannKuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kinder sind unsere Zukunft, und es darf uns nicht in
Ruhe schlafen lassen, dass seit Jahren, vielleicht sogar
seit Jahrzehnten die Kinderarmut in diesem Land skandalös hoch ist. Das müssen wir dringend ändern,
({0})
und zwar alle zusammen.
Sie, Herr Whittaker, sagen, dass auch die Bundesregierung an die Lösung dieses Problems herangehen will.
Im Koalitionsvertrag steht dazu aber nichts. Das Wort
„Armut“ taucht überhaupt nicht auf. Das Wort „Kinderarmut“ taucht nicht auf. Armutsbekämpfung ist für diese
Große Koalition überhaupt kein Thema. Das ist bei der
Altersarmut so. Das ist bei Armut von Erwerbstätigen
so, und das ist skandalöserweise auch bei der Kinderarmut so.
({1})
Was Sie machen, ist: Sie verschieben die Verantwortung auf die Kommunen und auf die Länder.
({2})
Auch das ist etwas, was sehr verantwortungslos ist. Wir
müssen uns unserer eigenen Verantwortung stellen, der
Verantwortung des Bundes. Der Bund ist insbesondere
dafür zuständig, die finanzielle Absicherung von Kindern und Familien zu gewährleisten. Dafür sind nämlich
nicht die Kommunen und auch nicht die Länder zuständig, sondern wir. Da müssen wir herangehen.
({3})
Auch wenn es natürlich völlig richtig ist, dass Armut
viele Dimensionen hat, ist klar: Die finanzielle Dimension ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige
Bedingung dafür, dass die Existenz gesichert ist und dass
Armut insgesamt bekämpft wird. Die anderen Dimensionen kommen dann dazu. Ich wiederhole: Die finanzielle
Existenzsicherung muss erst einmal gewährleistet sein.
Es ist so: Wenn Kinder ohne Frühstück zur Schule gehen, dann lernen sie einfach nicht gut. Wenn sie zu
Hause kein warmes Mittagessen bekommen, dann können sie nicht gut lernen. Es gibt genügend Kinder in
Deutschland, denen es so geht, und das müssen wir ändern.
({4})
Dazu brauchen wir eine finanzielle Mindestabsicherung
für Kinder. Das ist ein erster wichtiger Schritt.
Der Verweis darauf, dass die Armut der Kinder dadurch zustande kommt, dass deren Eltern arm sind, ist
auch empirisch schlicht und einfach nicht richtig; denn
es gibt genügend Eltern, deren Existenzsicherung gewährleistet ist. Weil aber das Kindergeld und auch der
Kinderzuschlag nicht ausreichen, um die Existenz der
ganzen Familie zu sichern, sind sie trotzdem arm - obwohl sie selber arbeiten und selber genug zum Leben haben. Das müssen wir ebenfalls ändern.
({5})
Es wurde darauf hingewiesen, der Mindestlohn sei
eingeführt worden. Das reicht nicht aus. Für vollzeittätige Alleinstehende, die keine Kinder haben, reicht der
Mindestlohn aus, um die Existenz zu sichern. Aber bei
einer vollzeittätigen alleinerziehenden Person reicht
Mindestlohn plus Kindergeld nicht aus. Sie ist trotzdem
auf Hartz IV angewiesen.
Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine Frage
oder Bemerkung des Kollegen Patzelt?
Sehr gerne.
({0})
Entschuldigung! Das war ein Fehler der Präsidentin.
In der Aktuellen Stunde dürfen keine Zwischenfragen
gestellt werden. Das war jetzt mein Fehler, der zustande
gekommen ist, nachdem Herr Patzelt sich so hartnäckig
gemeldet hatte. - Ich habe aber die Uhr angehalten. Deswegen ist nichts von Ihrer Redezeit, Herr StrengmannKuhn, verloren gegangen.
Ich war bei dem Punkt Mindestlohn. Er hilft Alleinstehenden ohne Kinder; aber für Alleinstehende mit Kindern
reicht es halt nicht. Da braucht es zusätzliche Maßnahmen,
um deren Existenz zu sichern, um zu ermöglichen, dass
Menschen nicht in Hartz IV fallen, obwohl sie vollzeiterwerbstätig sind.
Die meisten Kinder haben Eltern, die erwerbstätig
sind. Auch die meisten armen Kinder haben mindestens
einen Elternteil, der erwerbstätig ist. Das zeigen viele
empirische Studien, und auch das ist etwas, was Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Es geht nicht
nur um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; vielmehr
sollten wir dafür sorgen, dass auch die Armut von Erwerbstätigen, die Kinder haben, endlich nachhaltig bekämpft wird.
({0})
Wir müssen natürlich auch weiterhin an die Ursachen
herangehen. Häufig ist in einem Haushalt nur eine Person erwerbstätig; bei Alleinerziehenden ist es immer
eine Person. Wie ich eben schon beschrieben habe, reichen deren finanzielle Mittel selbst bei Vollzeittätigkeit
nicht aus. Wenn von zwei Elternteilen nur einer vollzeiterwerbstätig ist, reicht das Geld in vielen Fällen ebenfalls nicht aus, und dann ist auch das Armutsrisiko deutlich erhöht.
Damit sind wir bei Punkten wie geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als eine wesentliche Ursache von
Kinderarmut, die wir ebenfalls endlich bekämpfen müssen. Morgen ist Equal Pay Day. Das ist eine Ursache da8962
für, dass wenn nur der Mann arbeitet und die Frau für die
Kindererziehung zu Hause bleibt. Dann reicht das Einkommen häufig nicht aus. Das heißt: „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ ist ein wichtiger Punkt. Da müssen wir
etwas ändern, um Kinderarmut zu beseitigen.
({1})
Aber es gibt noch viel mehr strukturelle Ursachen für
diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die wir
überwinden müssen: das Ehegattensplitting, die kostenfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung. Insbesondere an die Minijobs müssen wir ran. Wenn die
Frauen in der Teilzeit- oder Minijobfalle gefangen sind,
dann führt das dazu, dass das Erwerbseinkommen der
Eltern insgesamt nicht reicht. Deswegen müssen wir, um
die Kinderarmut zu bekämpfen, auch endlich die Subventionierung der Minijobs abschaffen und existenzsichernde Erwerbstätigkeit für Frauen ermöglichen.
({2})
Sie sehen also: Es gibt viele Punkte, bei denen wir als
Bund ansetzen können, um Kinderarmut tatsächlich zu
verringern.
Ich würde sogar noch weiter gehen: Eigentlich sollte
unser Ziel sein, Kinderarmut völlig zu beseitigen. Aber
dies schrittweise zu tun, wäre ja auch schon mal nicht
schlecht. Es ist unser aller Verantwortung, Kinderarmut
zu verringern. Darum geht es jetzt. Die Große Koalition
sollte endlich allen Mut zusammennehmen und tätig
werden. Es ist unser aller Verantwortung, die Armut von
Kindern zu beseitigen; denn Kinder sind unsere Zukunft.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bekanntermaßen komme ich aus einer Stadt, die man durchaus
als finanzschwach bezeichnen kann. Auch wenn der
Kollege Whittaker sagt, Mülheim sei nicht repräsentativ:
Es ist schon repräsentativ für eine Region - Duisburg gehört auch dazu -, wo man etwas tun muss.
Der Arbeitsmarkt ist schon ein wichtiger Punkt. Da
besteht eine Verbindung. Wenn Eltern keine Arbeit haben oder nur im geringfügigen Bereich beschäftigt sind,
hat das Auswirkungen auf die Kinder; das kann ich jeden
Tag sehen. Deshalb müssen wir auch in diesem Bereich
etwas tun. Die Bundesregierung tut das, insbesondere
die Arbeitsministerin.
Ich will auch das hier ansprechen: In Duisburg stecken 43 Prozent der als arbeitslos gemeldeten Menschen
in der Langzeitarbeitslosigkeit. 43 Prozent! Sie kommen
aus diesem Teufelskreis nicht mehr heraus. Daran hängen ganz viele Kinder. Andrea Nahles hat ein Konzept,
ein Programm entwickelt, mit dem wir uns genau um
diese Zielgruppe kümmern wollen. Menschen, die mit
Kindern im Haushalt leben, sollen besonders gefördert
werden. Das ist genau der richtige Schritt. Jetzt mag man
kritisieren, dass das nicht ausreicht. Aber das ist ein großer Schritt für die Menschen, die aus dieser Schleife
ohne Hilfe nicht herauskommen.
Die Schleife beginnt da, wo Kommunen unterfinanziert sind. Es war ein großer Schritt, dass wir die Kommunen jetzt mit einem großen Batzen Geld entlasten, sodass
sie investieren können. In Duisburg fehlen klassischerweise Arbeitsplätze. Wenn die Arbeitslosigkeit 12 Prozent
beträgt, dann fehlen einfach Arbeitsplätze für die vielen
Menschen, die wieder in den Arbeitsmarkt wollen. Wir
brauchen solche Programme, um die Menschen aus diesem Teufelskreis herauszuholen.
({0})
Frau Eckenbach, eines muss ich noch sagen - vielleicht haben Sie das Prinzip der Bertelsmann-Studie
noch nicht ganz verstanden -: Der präventive Ansatz ist
schon wichtig. Wenn man wartet, dass das Kind in den
Brunnen fällt und dann ganz viel Geld hinterherschüttet,
ist das, finde ich, der falsche Ansatz. Der richtige Ansatz
ist, vorher einen Deckel auf den Brunnen zu machen, damit erst gar kein Kind hineinfällt.
({1})
Das ist der Ansatz der Prävention. „Kein Kind zurücklassen!“, das läuft seit drei Jahren. Vielleicht sind die Erfolge noch nicht sehr groß, aber es gibt schon erste Erfolge, und die sind auch nachgewiesen. Das sollte man
einmal anerkennen.
({2})
Gute Bildung, starke Prävention und die frühe Förderung sind wichtig. Da hilft kein Betreuungsgeld - das haben wir ja jetzt -; gerade den Duisburger Kindern hilft es,
wenn sie früh in gute und qualitätsorientierte Kindertageseinrichtungen kommen.
({3})
Das hilft von klein auf. Das verhindert Armut schon
ganz früh. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren.
Wir haben auch in einem anderen Bereich große
Schwierigkeiten - nicht nur in Duisburg, sondern auch
in anderen Städten im Ruhrgebiet -: Es gibt Auszubildende, die eine Ausbildung beginnen, die aber Defizite
mitbringen und deshalb Unterstützung brauchen, damit
sie ihre Ausbildung bis zum Ende, bis zum Abschluss
durchziehen. Auch das verhindert Armut. Das ESFKonzept, das Andrea Nahles vorgestellt hat, ist deshalb
so wichtig, weil es vorsieht, dass man sich im Rahmen
einer assistierten Ausbildung genau um diese Jugendlichen kümmert, also direkt in der Ausbildung eine
Begleitung vorsieht, damit die Jugendlichen ihre AusbilBärbel Bas
dung durchstehen. Auch das verhindert Armut bei jungen Menschen. Das ist ein wichtiger Ansatz.
({4})
Zum Abschluss will ich noch einmal ganz deutlich sagen: Den Ansatz „Kein Kind zurücklassen!“ mögen
manche Kolleginnen und Kollegen hier im Hause belächeln, aber er zeigt Erfolge. Er ist wichtig; denn auch in
der Bertelsmann-Studie, ob man die Zahlen jetzt anzweifelt oder nicht, wurde festgestellt: Gute Bildung - für die
tun diese Bundesregierung und auch wir als Sozialdemokraten eine ganze Menge -, starke Prävention und vor
allen Dingen eine ganz frühe Förderung der Kinder sowie eine Verbesserung der finanziellen Situation helfen
immer.
Was die Alleinerziehenden angeht - meine Kollegin
hat es gesagt - muss man sagen: Diese sind eine ganz
spezielle Gruppe, die wir uns anschauen müssen, weil
sie aufgrund der fehlenden Betreuung oft gar nicht in
den Arbeitsmarkt können. Deshalb müssen wir uns das
Ganze, auch was die finanzielle Situation bei den Alleinerziehenden angeht, noch einmal ganz genau ansehen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Pätzold für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Kinderarmut ist ein wichtiges Thema.
Deswegen ist es gut und richtig, dass heute in der
Aktuellen Stunde auf Verlangen der Linken auch die
Bertelsmann-Studie diskutiert wird. Sie werden wenig
überrascht sein, dass ich im Verlauf meiner Rede zu anderen Schlussfolgerungen kommen werde als Sie, die
Sie bisher dargestellt haben, wie Kinderarmut bekämpft
werden soll. Aber das, was in der sozialen Marktwirtschaft klar ist, ist, dass es das Versprechen gibt, dass
jedes Kind, das sich anstrengt, die gleichen Chancen haben muss, aus sich etwas zu machen.
({0})
Bei uns sollen Zukunftschancen für alle gelten, unabhängig von der Herkunft. Dafür haben wir uns in der sozialen Marktwirtschaft immer eingesetzt.
({1})
Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit bedeuten aber nicht - da unterscheiden wir uns ganz deutlich -,
dass es Ergebnisgleichheit gibt. Das heißt, wir werden
nie Ergebnisgleichheit herstellen können, sondern
nur Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Der
Grund für Kinderarmut ist laut der Bertelsmann-Studie
immer noch, dass die Eltern dieser Kinder keine Arbeit
haben oder eine Arbeit, bei der sie schlecht bezahlt werden. Deswegen müssen wir bei den Ursachen für die
Entstehung von Kinderarmut ansetzen.
Die Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass
deutschlandweit 17 Prozent der Kinder von Kinderarmut
betroffen sind. Es gibt enorme regionale Unterschiede.
Es gibt Regionen mit knapp 2 Prozent Kinderarmut, also
einem vermeintlich guten Wert, und es gibt Regionen
wie Bremerhaven an der Spitze mit bis zu 40 Prozent.
Da müssen wir ansetzen. Wir müssen schauen, dass der
Arbeitsmarkt weiter gestärkt wird und dass sich die
Bedingungen so verbessern, dass Menschen in Arbeit
kommen.
Dafür hat gerade diese Bundesregierung in den ersten
Monaten sehr viel getan. Wir wollen mit dem Mindestlohn die Binnenkonjunktur stärken, und wir setzen Programme zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit
auf, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
mehr Menschen in Arbeit kommen. Wir haben heute mit
43 Millionen Erwerbstätigen eine Rekordbeschäftigung.
Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die ja
auch nach Ihrer Definition eine gute Form der Arbeit ist,
ist deutlich gestiegen. Das, was wir in den letzten Jahren
gemacht haben, um Kinderarmut und die Armut an gesellschaftlicher Teilhabe abzubauen, ist, dass wir in vier
Bereichen die Teilhabemöglichkeiten von Kindern gestärkt haben:
Erstens. Es wurde schon angesprochen: Wir haben die
Möglichkeiten der frühkindlichen Bildung, der Kinderbetreuung ausgebaut. Heute besuchen 96 Prozent der
vierjährigen Kinder eine Kindertagesstätte. Zweitens.
Wir haben im Bereich der Schwerpunktkitas Regionen,
die besonders stark von sozialen Problemen betroffen
sind, in den Jahren 2011 bis 2014 mit 400 Millionen
Euro unterstützt.
Drittens. Wir haben den Ausbau der Ganztagsschulen
mit einem großen Programm gefördert. 8 200 Ganztagsschulen wurden mit über 4 Milliarden Euro unterstützt.
Viertens. Wir haben die Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepaketes eingeführt, die die Integration und
Teilhabe von Kindern ermöglichen sollen, die von Kinderarmut betroffen sind.
({2})
Das sind vier Punkte, mit denen wir versuchen, Teilhabemöglichkeiten zu erhöhen. Ich bin auch fest davon
überzeugt, dass es uns gerade in der sozialen Marktwirtschaft - die gekennzeichnet ist durch eine Tarifpartnerschaft und durch Unternehmen, die sich engagieren - gelingen muss, diese Kinder zu fördern.
Hier komme ich auf ein Berliner Projekt der Deutschen Bank zu sprechen, von dem ich weiß, dass sich
drei engagierte Manager, Herbert Schaub, Christian von
Drigalski und Volker Wieczorek, um benachteiligte
Jugendliche kümmern und versuchen, ihnen eine Perspektive aufzuzeigen, wie man mit Engagement und
Leistung aus diesem Loch herauskommen kann und eine
gute Zukunft hat. Wir werden uns in der sozialen Marktwirtschaft weiter dafür einsetzen.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Frank Junge
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Eltern und Familien zu
stärken, Müttern und Vätern ein Umfeld zu bieten, in
dem sie einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nachgehen können, und den Lütten schon frühzeitig das
Rüstzeug für eine eigenständige, selbstbestimmte und
selbstbewusste Persönlichkeit zu geben, sind die Grundlagen und der richtige Weg, um Kinderarmut richtig und
wirksam zu bekämpfen.
Da wir uns da hoffentlich alle einig sind, frage ich
mich: Warum treten hier solche Misstöne auf, wenn wir
über das reden, was wir in den letzten 15 Monaten beschlossen haben? Wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn beschlossen, der die Einkommenssituation von vielen Menschen in unserem Land erheblich verbessern
wird. Wir haben das Elterngeld Plus auf den Weg gebracht, um Freiräume und Möglichkeiten für Eltern zu
schaffen, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu
bekommen. Wir haben den bundesweiten Kitaausbau
mit erheblichen Beträgen gefördert, der wiederum notwendig ist, damit Eltern überhaupt beruflich tätig sein
können.
({0})
Wir haben massive Investitionen in frühkindliche Bildung auf den Weg gebracht, die dazu führen, dass die
Lütten schon frühzeitig richtig Deutsch lernen bzw. sich
andere Fähigkeiten aneignen, die sie für ihr späteres Leben brauchen.
Warum sage ich das? Ich sage das deshalb, weil die
Bertelsmann-Studie - mit Blick auf die Fraktion Die
Linke sage ich: Sie sollten sich aus dieser Studie nicht
nur die Argumente herauspicken, die Sie hören wollen ganz klar aufzeigt, welche Problemfelder angegangen
werden müssen, damit am Ende Kinderarmut verhindert
werden kann. Genau die Dinge, die wir mit den von mir
genannten Beispielen auf den Weg gebracht haben, sorgen dafür, dass wir am Ende erfolgreich sind.
({1})
Wenn Sie von der Fraktion Die Linke - das muss ich
auch noch einmal sagen - öffentlich verlautbaren lassen,
dass Armut bei uns durch Regierungspolitik zur Erbkrankheit geworden ist, dann können Sie damit die Politik dieser Koalition nicht meinen; denn in dieser Regierungskoalition steht die SPD mit in der Verantwortung
und prägt maßgeblich die Themen. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Wir können zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal
nachschauen, was aus unseren Vorhaben geworden ist.
Zum aktuellen Zeitpunkt zumindest ist das nicht möglich.
({3})
Dennoch - das möchte ich auch sagen -: Jedes Kind,
das in Armut aufwachsen muss, ist eines zu viel. Darin
sind wir uns alle einig. Als nächster Schritt muss - jetzt
komme ich auf finanzpolitische Dinge zu sprechen, die
ebenfalls kurz angerissen worden sind - nach meinem
Dafürhalten eine spürbare finanzielle Entlastung für alle
Familien auf den Weg gebracht werden, und zwar so,
dass ein Gesamtpaket aus dem Grundfreibetrag, dem
Kinderfreibetrag, dem Kindergeld und dem Kinderzuschlag entsteht. Dabei muss die finanzielle Entlastung
so stark sein, dass sie sich im Portemonnaie deutlich niederschlägt.
({4})
Der vorliegende Referentenentwurf unseres Bundesfinanzministers Schäuble - ich sage das mit allem gebotenen Respekt, aber auch in aller Sachlichkeit - ist weit
von einem solchen Anspruch entfernt. Das muss man
einmal ganz klar so formulieren.
({5})
Denn neben der pflichtgemäßen und verfassungsrechtlich gebotenen Anpassung des Grundfreibetrags und des
Kinderfreibetrags für 2015 und 2016 auf Basis des aktuellen Existenzminimumberichts, neben der Kür, dass
das Kindergeld 2015 um 4 Euro pro Monat und 2016 um
weitere 2 Euro pro Monat aufgestockt werden soll und
der Kinderzuschlag ab Juli 2016 um 20 Euro erhöht werden soll, findet sich dort nichts wieder. Das ist aus meiner Sicht eine Enttäuschung.
Ich möchte das an zwei Punkten deutlich machen:
Erstens. Im Koalitionsvertrag findet sich die klare
Formulierung, dass der steuerliche Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende angehoben werden soll. Weiter heißt
es, dass er nach der Zahl der Kinder gestaffelt werden
soll. Das findet im Gesetzentwurf von Herrn Schäuble
überhaupt nicht statt. Damit werden wieder einmal diejenigen alleingelassen, die am dringendsten Unterstützung
brauchen. Führt man sich die Situation von Alleinerziehenden vor Augen, erkennt man, dass sie im Vergleich
zu den Familien, in denen zwei Ehepartner Kinder erziehen, erheblich höhere finanzielle Lasten zu tragen haben.
An diesem Punkt erkennt man wiederum - das haben
auch schon einige Vorredner gesagt -, warum Kinderarmut insbesondere in Familien von Alleinerziehenden
vorkommt. Darum ist es aus meiner Sicht nicht nur eine
Frage der Gerechtigkeit, hier nachzusteuern; es ist auch
ein Punkt, an dem man Kinderarmut an der Wurzel bekämpfen kann.
({6})
Der Gesetzentwurf von Bundesfinanzminister
Schäuble enthält einen zweiten Punkt, der mir auf den
Nägeln brennt: Es wird keine rückwirkende Anhebung
des Kinderfreibetrags und des Kindergeldes für 2014
geben. Wir werden nicht lange warten müssen, bis es
wegen genau dieser ausbleibenden Leistungen, die unseren Familien zugutekommen würden, zu Klagen kommt;
der Bund der Steuerzahler hat das schon angekündigt. In
der Folge würde das Gericht anordnen, hier nachzusteuern. Diese Peinlichkeit können wir uns ersparen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Der Entwurf von Finanzminister Schäuble zu
familienpolitischen Leistungen wird sich mit Sicherheit
vor der Kabinettssitzung nicht mehr ändern lassen. Ich
bedaure das. Wir von der SPD haben an vielen Stellen
weiter reichende Vorstellungen; im Koalitionsvertrag
gibt es entsprechende Vereinbarungen. Ich lade Sie alle
ein, im parlamentarischen Verfahren dafür Sorge zu
tragen - wir werden das tun -, dass die Dinge, die uns
diesbezüglich auf den Nägeln brennen, Einzug in den
Gesetzentwurf finden.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bundestag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte
zeigt ganz eindeutig, dass Armut das Lebensrisiko im
Leben eines kleinen Kindes ist. Wir alle wohnen in einem reichen Land, ich in Baden-Württemberg, einem
der reichsten Bundesländer. Da fragt man sich: Kann es
sein, dass so viele Kinder so wenig Zugang zu Wohlstand haben und so früh so stark beeinträchtigt sind? Ja,
sagt die Bertelsmann-Studie. Die Studie ist tatsächlich
sehr differenziert zu betrachten; dazu haben wir heute
schon sehr viel gehört.
In den ersten Lebensjahren ist die Situation besonders
kritisch, weil in dieser sensiblen Lebensphase die
Grundlagen für die Zukunft gelegt werden und damit
alle elementaren Voraussetzungen wie Sprache, Feinmotorik und soziale Fähigkeiten geschaffen werden.
Was müssen wir tun, was sollen wir aus dieser Studie
lernen? Wir müssen zwei Dinge gleichzeitig tun: Wir
müssen uns um die Eltern kümmern, und wir müssen uns
um die Kinder kümmern. Was wir brauchen, sind
Arbeitsplätze in ausreichender Zahl. Außerdem müssen
die Eltern genug verdienen, damit sie sich und ihren
Familien ein auskömmliches Leben ermöglichen können. Mit dem Mindestlohn sind wir hier - das mögen Sie
bestreiten - in die richtige Richtung gegangen. Mit dem
Elterngeld Plus wollen wir erreichen, dass sich Mütter
und Väter verstärkt um ihre Kinder kümmern können,
ohne im Beruf den Anschluss zu verlieren, sodass Armut
erst gar nicht entstehen kann.
Gut bezahlte Arbeit für die Eltern zu schaffen, heißt
im Klartext natürlich: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
und der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Schaffung von Flexibilität, oftmals auch nur durch den guten
Willen von Arbeitgebern, Behörden und allen Beteiligten. Wir brauchen mehr und bessere langfristige Betreuungsangebote für Kinder von alleinerziehenden Müttern
und Vätern. 50 Prozent - die Zahl wurde genannt - der
Haushalte im SGB-II-Bezug mit Kindern sind Alleinerziehendenhaushalte.
Wie ich schon sagte, müssen wir uns um die Kinder
direkt kümmern. Dazu gehört ganz besonders der Zugang von Kindern zu Kitas und anderen Fördereinrichtungen, und das unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.
({0})
Seit dem 1. August 2013 hat jedes Kind Anspruch auf
einen Kitaplatz. Seitdem ist wirklich viel passiert. Das
können Sie - Herr Müller, Frau Dörner, liebe Opposition - bestreiten, wie Sie wollen: Es ist enorm viel passiert in dieser Zeit. Einige meiner Vorredner haben über
die finanziellen Anstrengungen des Bundes für die Kindertagesbetreuung in den letzten Jahren gesprochen - bis
hin zum gestern vom Kabinett beschlossenen Nachtragshaushalt für den Kitaausbau: plus 100 Millionen Euro.
Das ist alles gut; aber ich weiß auch, wir sind noch nicht
am Ziel. Darin sind wir uns wenigstens einig: Wir sind
auf dem Weg.
({1})
Wir brauchen noch mehr Plätze, weil immer noch in vielen Bundesländern Plätze fehlen, zum Beispiel in BadenWürttemberg. Das Land wird grün-rot regiert.
Mein Berliner Kollege Martin Pätzold hat schon von
den wichtigen Schwerpunktkitas gesprochen. Von diesen
rund 4 000 Schwerpunktkitas ist eine in meinem Wahlkreis, im Ort Albbruck am Rhein. Ich habe mich im
Oktober vom Erfolg der Sprachförderung in dieser Einrichtung überzeugen können. Sowohl der dortige Bürgermeister Stefan Kaiser als auch die Kinderhausleiterin Iris Vogt haben mir versichert, wie wichtig der
jährliche, vergleichsweise kleine Förderbetrag in Höhe
von 25 000 Euro ist, damit dort Sprachunterricht von einer Fachkraft gegeben werden kann und somit jedes
Kind von Anfang an faire Chancen hat. Spracherwerb ist
der Grundstein für den späteren Erfolg in Bildung und
Beruf; ohne Sprache kein Beruf, ohne Beruf keine Perspektive.
({2})
Baden-Württemberg ist nicht der Hotspot sozialer
Probleme, jedenfalls nicht in der Fläche; aber auch bei
uns sind sozial benachteiligte Familien und natürlich
Kinder mit Migrationshintergrund betroffen. Ich begrüße
deswegen, dass der Bund auch über das Jahr 2015 hinaus
eine weitere Initiative zur sprachlichen Bildung plant.
Der Staat ist natürlich wichtig. Darüber hinaus gibt es
aber im ganzen Land viele positive, ermutigende Pro8966
Gabriele Schmidt ({3})
jekte von unterschiedlichsten Initiativen und Anbietern,
die Kinder und ihre Eltern stärken und den Kindern das
Kindsein ermöglichen. Ich denke an die Frühen Hilfen in
Bayern oder Rock Your Life! für größere Kinder in meiner Heimat. Ich denke an die kommunalen Einrichtungen wie das Familienzentrum in meiner Nachbarschaft
Lauchringen, das ich öfter besuche. Hier können wir uns
alle als Mitbürger, als Miteltern, hier kann sich die ganze
Gesellschaft zum Wohl von Kindern, für bessere Startbedingungen und für Chancengleichheit einbringen.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Paul Lehrieder hat abschließend für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Ich freue mich, dass auch die Regierungsbank heute gut besetzt ist. Es freut mich ganz besonders, dass neben den Fachpolitikern, insbesondere
der Kollegin Ferner, auch der Staatssekretär im Finanzministerium, Herr Steffen Kampeter, unter uns weilt.
({0})
Das kann zwei Gründe haben: zum einen, dass wir nicht
zu viel versprechen, was er halten muss; zum anderen
kann es aber auch sein - ich hoffe, dass dies der Fall
ist -, dass er sich die sinngebenden Ausführungen zur
Bekämpfung der Kinderarmut auch aus fiskalischen
Gründen hier anhört und guckt, wo wir da in den nächsten Wochen noch etwas verbessern können.
({1})
- Der Applaus gebührt Ihnen, Herr Kampeter.
({2})
Herr Kollege Müller - danke für die Aktuelle Stunde
auch an die Linken; das ist damit auch erledigt -,
({3})
Sie haben das Deutsche Kinderhilfswerk zitiert. Die
Mail, die Sie zitiert haben, ging nicht nur den Linken zu,
sondern zum Glück auch der CSU. Sie haben allerdings
bei Ihrem Zitat einen Satz zu bald aufgehört; da können
Sie sich Ihr Skript noch einmal vornehmen. Sie haben
gesagt:
Ein gesundes Aufwachsen sollte für alle Kinder,
unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern, ebenso
eine Selbstverständlichkeit sein.
Dann ging es in der Mail aber weiter:
Mit Bildung stärken wir die Kinder als Subjekte
und ermöglichen es ihnen, ihr Leben in die Hand zu
nehmen und nicht in Resignation zu versinken. Hier
sind gute Kitas mit sozial gemischten Gruppen
- darauf hat die Kollegin gerade hingewiesen ein wichtiger Ansatzpunkt für mehr Chancengerechtigkeit, betont Thomas Krüger, der Präsident
des Deutschen Kinderhilfswerks.
Das war der Werbeblock für das Kinderhilfswerk.
Bei der Bekämpfung von Kinderarmut - ich habe die
Mail deswegen extra noch einmal zitiert - spielen der
Zugang zu Bildung und Ausbildung sowie die soziale
und kulturelle Teilhabe eine besondere Rolle. Bestehende Kinderarmut verschärft sich langfristig dadurch,
dass Kinder zunehmend in bildungsschwachen Haushalten aufwachsen. Zur Bekämpfung von Kinderarmut
reicht es deshalb nicht aus, den Familien ausschließlich
mehr Geld in die Hand zu geben
({4})
- Geld löst nicht alle Probleme. Geld ist nicht alles, aber
ohne Geld ist alles nichts, das stimmt schon.
({5})
Vielmehr kommt es darauf an, alle Kinder gleichermaßen zu fördern. Daher haben wir im Jahr 2011 - darauf
wurde von einigen Vorrednern schon hingewiesen - das
Bildungs- und Teilhabepaket auf den Weg gebracht.
Seither kann beispielsweise im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Teilnahme von Kindern und
Jugendlichen an Angeboten wie Nachhilfe, Musikschule,
Mittagessen in Hort und Schule und Klassenausflügen
beantragt werden. Lieber Kollege Wunderlich, in diesem
Bereich haben wir schon viel gemacht; ich sage das, weil
Sie das in Ihrer Eingangsrede so despektierlich ausgeführt haben.
({6})
In Bezug auf die Kitaqualität, liebe Frau Kollegin
Dörner - nun möchte ich auch Steffen Kampeter ansprechen; denn wir beraten am nächsten Mittwoch unser Investitionsprogramm im Ausschuss -, gibt es die berechtigte Hoffnung, dass uns in den nächsten Jahren neues
Geld für die Verbesserung der Kitaqualität zur Verfügung gestellt wird, damit wir die Kitaqualität fördern
und stärken können.
Richtig ist - das kann man gar nicht oft genug betonen -: In den letzten sechs, sieben, acht Jahren haben wir
den Ausbau der Kitas so vorangetrieben wie keine Generation vor uns. Die Möglichkeit, das Kind in eine Kita zu
geben, ermöglicht den Eltern, eine Berufstätigkeit, sei es
Teilzeit oder Vollzeit, auszuüben. Das ist eine der wichtigsten Säulen gegen die Kinderarmut, die natürlich oft
aus Elternarmut resultiert. Man sieht: Die Große KoaliPaul Lehrieder
tion - die erste Große Koalition, wir mit der FDP, und
auch die zweite Große Koalition - hat in diesem Bereich
sehr viel getan. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.
Wir brauchen auch keine Belehrungen von den Linken.
({7})
Kinder können dann am besten aus der Armut herausgeholt werden, wenn ihre Eltern einer Erwerbstätigkeit
nachgehen. Um dies zu erleichtern, haben wir vor eineinhalb Jahren den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige eingeführt. Dieser gilt
seit dem 1. August 2013. Wir setzen uns für eine gute
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein, indem wir die
Kinderbetreuung weiter ausbauen, flexible Arbeits- und
Teilzeitmodelle fördern und den Wiedereinstieg nach einer familienbedingten Pause erleichtern.
Mit dem Freibetrag für Betreuung und Erziehung
oder Ausbildung sowie den bereits genannten zusätzlichen Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket
garantieren wir für jedes Kind Bildung und Teilhabe.
Durch die Einführung des Elterngeld Plus - auch darauf
haben meine Vorredner bereits hingewiesen; darauf kann
man als letzter Redner immer Bezug nehmen - soll Eltern die bestmögliche Inanspruchnahme des Elterngeldes
in Kombination mit einer nicht geringfügigen Teilzeittätigkeit ermöglicht und damit der Wiedereinstieg vor allem für Alleinerziehende erleichtert werden.
Den wichtigsten Beitrag zu einer modernen Familienpolitik leistet jedoch der weitere Ausbau der Kindertagesbetreuung. Ich möchte an dieser Stelle ganz bewusst
den Ländern, die ihre Hausaufgaben gemacht haben - es
waren nicht alle gleichmäßig aktiv, aber die meisten waren aktiv, insbesondere Bayern -, und auch den Kommunen, den Bürgermeistern und Gemeinderäten ein herzliches Wort des Dankes sagen.
({8})
- Bitte schön. Da kann man schon einmal klatschen. Als wir vor sieben, acht Jahren das Projekt angegangen
sind, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass der
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz zum 1. August 2013
relativ reibungslos - es hat ein paar wenige Probleme gegeben, aber im Großen und Ganzen hat es reibungslos
geklappt - eingeführt wird. Ein herzliches Dankeschön
an die Kommunalpolitiker; das gehört sich an dieser
Stelle.
Nach meinem Dank an die Kommunalpolitiker jetzt
meine Bitte an die Finanzpolitiker: Wir diskutieren über
die vernünftige Ausstattung für Kinder, in den nächsten
Wochen und Monaten über die Kindergelderhöhung.
Bitte, lieber Steffen Kampeter, du hast gehört, wie wichtig die Kinder und die Familien sind. Die Kinder von
heute sind die Steuerzahler von morgen. Ihnen ein gutes
Aufwachsen zu ermöglichen, das sollte jedem Finanzpolitiker ein ganz großes Anliegen sein.
Herzlichen Dank.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/3007
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({0})
Drucksache 18/4357
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({1}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Volker Beck ({2}), Luise
Amtsberg, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hasskriminalität wirkungsvoll statt symbolisch verfolgen
Drucksachen 18/3150, 18/4357
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
14 Jahre lang konnten die Mitglieder des NSU unterstützt von einem Netzwerk von Gleichgesinnten brutale
Verbrechen begehen. Diese rechtsextremistischen Terroristen verübten zehn Morde, einen Mordversuch, einen
Sprengstoffanschlag mit lebensgefährlich verletzten
Menschen in Köln und brutale Raubüberfälle. Dass diese
brutale Mordserie nicht gestoppt werden konnte, hängt
auch damit zusammen, dass aufseiten der Sicherheitsbehörden massive Fehler passiert sind. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat mangelnden Informationsaustausch
der Ermittlungsbehörden, Kompetenzstreitigkeiten und
auch direkte Fehleinschätzungen klar festgestellt.
Wenn man aus Baden-Württemberg die Nachricht
hört, dass bei einer kriminaltechnischen Untersuchung
eines Autos übersehen wurde, dass dort eine Waffe, eine
Machete und Autoschlüssel lagen, dann hofft man doch,
falls diese Medienberichte stimmen, dass diese seltsamen Ermittlungspannen endlich zu Ende sind. Aber das
nur am Rande.
Parteiübergreifend wurden im Untersuchungsausschuss nicht nur sehr sorgfältig die Fehler und Versäumnisse analysiert. Vielmehr wurde eine detaillierte Liste
erstellt, welche Konsequenzen von der Politik zu ziehen
sind, um solche schrecklichen Verbrechen zukünftig zu
verhindern. Genau diese Empfehlungen gehen wir mit
diesem Gesetzesentwurf an.
Eine wichtige Empfehlung war, die Zuständigkeiten
des Generalbundesanwaltes klarer zu gestalten und auszuweiten. So kann der Generalbundesanwalt nach dem
Gesetzentwurf, den wir vorlegen, bereits bei objektiv
staatsfeindlichem Charakter einer Tat die Verfolgung
übernehmen. Eine entsprechende Zielsetzung der Tat
selbst ist für die Aufnahme von Ermittlungen durch den
Generalbundesanwalt nicht mehr erforderlich. Die Zuständigkeit des Generalbundesanwaltes kann zukünftig
auch durch den länderübergreifenden Charakter der Tat
begründet werden.
Schließlich hat der Untersuchungsausschuss festgestellt, dass die Staatsanwaltschaften, die mit den Ermittlungen betraut waren, dem Generalbundesanwalt eben
nicht Informationen und Akten übersandt hatten, anhand
derer er seine Zuständigkeit hätte überprüfen können.
Deshalb wird nun ausdrücklich geregelt, dass die Staatsanwaltschaften Vorgänge, die Anlass zur Prüfung einer
Übernahme durch den Generalbundesanwalt geben, an
diesen unverzüglich übersenden müssen. Das alles sind
wichtige Änderungen, die wir umsetzen müssen, wenn
wir verhindern wollen, dass solche Terrorserien in
Deutschland möglich sind.
({0})
Der Untersuchungsausschuss hat ferner einstimmig
festgehalten, dass in allen Fällen von Gewaltkriminalität,
die einen rassistisch oder politisch motivierten Hintergrund haben können, dies nachvollziehbar dokumentiert
werden muss. Polizei und Staatsanwaltschaft seien zu
verpflichten, ein solches Motiv für die Tat angemessen
zu berücksichtigen. Diese einstimmige Forderung, die
Prüfung und Ahndung von rassistisch motivierter Gewaltkriminalität zu verbessern, ist Ziel dieses Gesetzentwurfs. Wir wollen in § 46 des Strafgesetzbuchs ausdrücklich regeln, dass rassistische, fremdenfeindliche
oder sonstige menschenverachtende Tatmotivationen
schärfer bestraft werden können. Das ist ein klares Zeichen gegenüber all jenen Gewalttätern, die meinen, Minderheiten oder Menschen anderen Glaubens, anderer
Hautfarbe oder anderer Herkunft Gewalt antun zu können. Das können wir nicht dulden. Dieses Gesetz ist ein
ganz klares Zeichen dagegen.
({1})
Sicher, schon bisher konnten Richter und Staatsanwälte rassistische Tatmotivationen in die Bemessung des
Strafmaßes strafschärfend einbeziehen. Aber die ausdrückliche Nennung verdeutlicht nun die Rechtslage.
Deswegen ist es sinnvoll, dass wir diese Motivation
ausdrücklich ins Gesetz schreiben. So haben es in der
Sachverständigenanhörung auch Herr Wehowsky, Bundesanwalt beim BGH, und Generalstaatsanwalt Konrad
gesagt.
Ausdrücklich erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang, auch wenn es nicht direkt mit dem Gesetzentwurf zu tun hat, dass jüngst der RiStBV-Ausschuss Änderungen genau in diesem Sinne beschlossen hat.
Ermittlungen sollen sich auch auf rassistische, fremdenfeindliche oder menschenverachtende Beweggründe
erstrecken. Zudem wird es zukünftig in der entsprechenden Regelung heißen, dass ein öffentliches Interesse an
der Strafverfolgung dann vorliegt, wenn ein Täter mit
rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen handelt.
Ich glaube, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
mit diesem Gesetzentwurf ziehen wir die richtigen Konsequenzen aus der brutalen Mordserie des NSU und zeigen, dass wir rassistische Gewalttaten nicht dulden und
alle rassistisch motivierten Gewalttäter eine harte Strafe
erwartet. Das ist erforderlich. Deswegen verabschieden
wir diesen Gesetzentwurf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Halina
Wawzyniak das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Gesetzentwurf soll Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses umsetzen. Der
NSU-Untersuchungsausschuss hat 47 Handlungsempfehlungen oder Schlussfolgerungen aufgeschrieben. Wir
setzen hier nur einen sehr geringen Teil um. Der NSU
- ich glaube, das muss man an dieser Stelle noch einmal
sagen - waren Nazis, Nazis, die mehr als ein Jahrzehnt
mordend durch das Land gezogen sind. Ich glaube, an
diesen Fakt muss man in dieser Debatte immer wieder
erinnern.
({0})
Die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Änderungen im Hinblick auf den Generalbundesanwalt sind unstreitig. Ich will an dieser Stelle nicht darauf eingehen.
Ich will auch nur kurz etwas zur Änderung des § 46
Absatz 2 des Strafgesetzbuches sagen. Die erste Handlungsempfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses
sah vor, dass das in den RiStBV geregelt werden soll.
Sie haben jetzt gesagt, dass das angestoßen wird. Aber
wir diskutieren über den § 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches - das werden wir nachher noch erleben - unter
dem Gesichtspunkt „Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses“. Dieser hat aber die Änderung des
§ 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches überhaupt nicht gefordert.
({1})
Und: Schon jetzt können die Ziele und Beweggründe sowie die Gesinnung des Täters bei der Strafzumessung
berücksichtigt werden, und zwar bei allen Tätern.
({2})
Die Regelung ist mithin einfach überflüssig. Sie ist
gut gemeint; aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Insbesondere das Wort „menschenverachtend“
steht ja zu Recht in der Debatte. Ich zum Beispiel finde,
Motivationen, die homophob begründet sind, sind menschenverachtend.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Dr. Jan-Marco Luczak ({3})
Aber dann hätten Sie das auch so hineinschreiben müssen.
({4})
Insofern hat das Bündnis 90/Die Grünen im Übrigen
mit seinem Antrag recht, wenn dort erklärt wird, dass es
keines neuen Sonderrechts, keiner neuen Straftatbestände und keiner Erhöhung von Strafrahmen bedarf.
Wir werden diesem Antrag zustimmen.
({5})
Ich will auf die Anhörung eingehen. Dort hat der
Sachverständige Sebastian Scharmer die erste Handlungsempfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses
aufgegriffen und gefordert:
Bei jeder Gewalttat müsste ein Vermerk zumindest
darüber gefasst werden, ob neonazistische oder
rassistische Motive ausgeschlossen werden können.
Das würde zumindest eine entsprechende Signalwirkung schon für die Polizei, die Staatsanwaltschaft und letztlich dann auch für ein Gerichtsverfahren haben.
Sie haben ja gesagt, das finde jetzt in den RiStBV
statt. Dann ist das ein Anfang.
({6})
Aber: Wenn wir uns mit den Empfehlungen des NSUUntersuchungsausschusses auseinandersetzen, dann
müssen wir über mehr reden, und dann ist dies mehr als
eine rechtspolitische Debatte. Im Sondervotum meiner
Fraktion hieß es damals:
Institutioneller Rassismus ist nach Überzeugung
der Fraktion DIE LINKE. jenseits individueller
Einstellungen und Überzeugungen der einzelnen
Ermittler als ein strukturelles Merkmal der Polizeiarbeit bei den Ermittlungen zur rassistischen Mordserie erkennbar.
Ja, und ich finde, wir müssen über diesen institutionalisierten Rassismus reden, auch in einer solchen Debatte,
die nur vordergründig eine rechtspolitische Debatte ist.
({7})
Institutioneller Rassismus geht von Institutionen der
Gesellschaft, Verfahren und Normen aus. Er führt tagtäglich zu Benachteiligung und Diskriminierung. Wir
müssen in einer solchen Debatte, wie sie hier stattfindet,
darüber reden, was wir gegen Rassismus tun können.
Wir müssen darüber reden, warum, weshalb und wieso
Rassismus immer und immer wieder entsteht, warum er
partiell sogar Menschen in Massen auf die Straße treibt.
Ich finde, gerade in Zeiten von Pegida müssen wir deutlich sagen: Alle Rassisten sind Arschlöcher - überall.
({8})
Wenn wir gemeinsam etwas gegen Rassismus tun
wollen, dann sollten wir das aufgreifen, was im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses im
Hinblick auf zivilgesellschaftliche Initiativen steht:
Zahllose zivilgesellschaftliche Initiativen … leisten
seit vielen Jahren einen unverzichtbaren Beitrag bei
der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und anderen Formen des Phänomens
der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.
… Zivilgesellschaftliche Initiativen sind unverzichtbar, nicht nur als Frühwarnsystem. … Dieses
Engagement muss unterstützt, ausreichend gefördert, ausgebaut und verstetigt werden.
({9})
Ja, das muss es. Da ist ein Anfang gemacht worden: Die
Projektlaufzeiten sind von drei auf fünf Jahre verlängert
worden. Aber ich glaube, gerade diese zivilgesellschaftlichen Initiativen brauchen Sicherheit: Sicherheit in ihrer
Arbeit, Sicherheit in ihrer Finanzierung.
Mein letzter Satz - weil hier gerade von „Verrohung“
gesprochen wurde -: Ich weiß gar nicht, warum Sie sich
aufregen. Finden Sie den Satz „Alle Rassisten sind
Arschlöcher - überall“ etwa falsch? Ich nicht.
({10})
Bei aller Emotionalität und - sicherlich auch noch in
der folgenden Debatte - bei allem Austausch von Argumenten und Vorhaben zur Umsetzung der Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses bitte ich Sie trotzdem, sich hier im Plenum einer parlamentarischen Ausdrucksweise zu befleißigen.
({0})
Vizepräsidentin Petra Pau
- Ja. Kollege Beck, Sie müssen sich jetzt nicht zum Anwalt machen, im Moment spricht die Präsidentin. Ich
habe Sie gar nicht angesprochen,
({1})
zurzeit befasse ich mich mit der Kollegin Wawzyniak.
Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf gibt Antworten auf eine
wichtige Frage, die uns als Gesetzgeber gestellt worden
ist: Wie können wir aus Fehlern, Versäumnissen und
unklaren Zuständigkeiten bei der Aufklärung der NSUMordserie lernen und Strukturen im Bereich der Strafrechtspflege verbessern? Der wehrhafte Rechtsstaat ist
stets auch ein lernender, der seine gesetzlichen Regelungen zum Schutz des friedlichen Zusammenlebens und
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überprüft
und notfalls anpasst; das ist der Kern gesetzgeberischer
Arbeit.
Der erste Teil des Gesetzes betrifft die Kompetenzen
und Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts. Diese
sollen klargestellt und erweitert werden. Das betrifft das
Verhältnis des Bundes zu den Ländern und hat verfassungsrechtlich unbedenklich zu sein. Die Justizhoheit
der Länder ist ein wesentliches und wichtiges Ordnungsprinzip unseres föderalen Staatswesens. Der Bund hat
daher im Bereich der Strafjustiz so zurückhaltend zu
handeln, dass diese grundsätzliche Kompetenzverteilung
zwischen Bund und Ländern nicht infrage gestellt wird.
Die vorgeschlagene Erweiterung und Klarstellung der
Aufgaben des Generalbundesanwalts wird diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben im Ergebnis gerecht, weil er
nicht in die Kompetenzen eingreift, sondern bestehende
Rechte geschärft und klargestellt werden.
Sie ist auch aus sachlichen Gründen geboten: Nach
der geltenden Rechtslage muss die staatsschutzfeindliche Tat bestimmt und geeignet sein, das friedliche
Zusammenleben zu stören. Das bedeutet, dass zur Begründung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts
bislang stets die Motivlage des Täters geprüft und im Ergebnis ein staatsschutzfeindlicher Vorsatz bejaht werden
musste, um eine Ermittlungskompetenz zu begründen.
Das hat gerade in den Fällen zu einer unklaren Situation
geführt, in der zwar dem Grunde nach ein staatsschutzgefährdender Charakter der Tat vorlag, der Vorsatz des
Täters aber nicht deutlich zutage trat oder nicht ermittelt
werden konnte. Deswegen soll zukünftig richtigerweise
nur noch die objektive Eignung der Tat notwendig sein;
das ist die richtige Klarstellung.
Die Staatsanwaltschaften der Länder haben zudem
dem Generalbundesanwalt künftig auch zwingend Vorgänge vorzulegen, aus denen sich Anhaltspunkte für eine
Staatsschutztat ergeben. Damit wird der Generalbundesanwalt frühzeitig eingebunden und kann notwendige
Ermittlungen bündeln. Meine Damen und Herren, wir
haben gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass sich die
erweiterten Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts
auch in einer entsprechenden Sach- und Personalausstattung widerspiegeln; denn anders geht es nicht. Kompetenzen müssen Mittel nach sich ziehen.
({0})
Wir ändern auch die Vorschrift über die Strafzumessung, den § 46 StGB. Durch die Einfügung der Worte
„rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ werden diese Motive ausdrücklich zu
einer Grundlage der Strafzumessung. Dies stellt einen
Paradigmenwechsel im Bereich der Strafzumessung dar.
Die bislang bewusst abstrakt gehaltenen Merkmale werden jetzt durch Regelbeispiele ersetzt.
Ausdrücklich sei festgehalten: Wir schließen damit
keine Regelungslücke. Auch nach der bisherigen
Rechtslage können - und ich füge hinzu: müssen - die
Tatgerichte rassistische, fremdenfeindliche und sonstige
menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung
strafverschärfend berücksichtigen.
({1})
Dass diese Motive jetzt zusätzlich und ausdrücklich im
Gesetzestext erwähnt werden, geschieht zur Erhöhung
der Sensibilität der Justiz und ist eine gesetzgeberische
Wertentscheidung, die besagt: Wir verurteilen Hasskriminalität in einem besonderen Maße.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Regelung
in der Anhörung wegen der fehlenden zwingenden
Notwendigkeit von einigen Sachverständigen kritisch
beurteilt und in dieser konkreten Form auch nicht vom
NSU-Untersuchungsausschuss vorgeschlagen wurde.
({2})
Wir werden sie dennoch verabschieden, weil das ein
klares Zeichen des wehrhaften Rechtsstaates gegen
Hass, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus ist. Das ist
in diesen Zeiten sehr wichtig.
({3})
Die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ist ohne
jede Frage eng mit der notwendigen Bekämpfung des
Rechtsextremismus verknüpft. Das ist und bleibt ein
sehr wichtiges Ziel.
({4})
Diese Vorschrift richtet sich aber selbstverständlich gegen jede Form der Menschenverachtung, natürlich auch
gegen Linksextremismus, gegen Islamismus, gegen alle
Feinde unserer Freiheit. Der wehrhafte Rechtsstaat verurteilt Extremismus jedweder Couleur.
({5})
Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Wawzyniak?
Nein.
({0})
Es bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, die weiteren
Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses umzusetzen und weiter Aufklärung zu fordern, wo noch
Fragen offen sind.
Insgesamt ist aber auch weiterhin ein klares Bekenntnis dieser Zivilgesellschaft zur Freiheit, zur Würde des
Menschen und zum Rechtsstaat erforderlich. Deswegen
kann ich Ihnen die Annahme dieses Gesetzentwurfes guten Gewissens empfehlen.
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wawzyniak das Wort.
Da müssen Sie jetzt durch. Wir haben das im
Ausschuss schon einmal diskutiert, und ich werde jetzt
dasselbe sagen, was ich bereits im Ausschuss gesagt
habe.
In § 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch, den Sie jetzt ändern, werden alle Motive der Straftäterinnen und Straftäter bei der Strafzumessung berücksichtigt. Ich finde es
aber deplatziert und völlig unsensibel, dass Sie an dieser
Stelle, an der wir jetzt über die Empfehlungen des NSUUntersuchungsausschusses reden - es geht hier um eine
Nazibande, die mordend durchs Land gezogen ist -,
darauf eingehen, welche anderen Gewalttaten möglicherweise noch stattfinden. Ich sage Ihnen einfach: Ich
finde das echt deplatziert.
({0})
Herr Kollege Ullrich, möchten Sie antworten? - Nein.
Dann hat jetzt der Kollege Beck das Wort. Bitte
schön.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir setzen heute eine von 47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses um. Das ist gut und richtig. Wir sollten darüber bloß die anderen 46 Empfehlungen auf
keinen Fall vergessen.
({0})
Es wurde schon von Ihnen von der Linken angesprochen: Es geht natürlich auch um institutionalisierten
Rassismus. Es geht um die Frage: Wie konnten Polizisten und Staatsanwaltschaften in mehreren Mordfällen
systematisch in die gleiche falsche Richtung ermitteln,
die Angehörigen der Opfer zu potenziellen Verdächtigen
machen und die tatsächlichen Täter aus dem Blick verlieren, weil sie rassistische Übergriffe von Rechtsextremisten an diesem Punkt ausgeschlossen haben?
Diese Frage nagt an uns allen. Dieser Frage müssen
wir uns auch nach Abschluss dieses Gesetzgebungsverfahrens stellen. Genauso müssen wir uns den noch offenen Fragen stellen, die im NSU-Verfahren in München
und in den Untersuchungsausschüssen der Landtage aufgeworfen werden. Auch folgende Frage bleibt weiter im
Raum: Müssen wir als Bundestag in einem entsprechenden Untersuchungsverfahren noch einmal näher hinschauen, oder kommt alles ans Licht? Es darf auf jeden
Fall in der Debatte nicht stehen bleiben, dass irgendetwas, was hätte aufgeklärt werden können, nicht aufgeklärt wird.
({1})
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf enthält
zwei Aspekte. Zum einen geht es um die Erweiterung
der Zuständigkeiten des Generalbundesanwaltes. Das
begrüßen wir ausdrücklich, auch wenn man sich überlegen kann, ob es in der Sache weit genug geht. Es bleibt
weiterhin davon abhängig, dass entweder die zuständige
Staatsanwaltschaft erkennt, dass Anhaltspunkte vorliegen, die dazu führen, dass vorgelegt werden muss, oder
es Uneinigkeit zwischen den Staatsanwaltschaften der
Länder darüber gibt, wer zuständig ist. In allen anderen
Fällen kann die Generalbundesanwaltschaft nicht von
selber sagen: Es weist etwas darauf hin, dass wir hier zuständig sind. Wir prüfen und ermitteln in dieser Frage
zunächst einmal selbst, um dies zu klären. - Da hätte
man weitergehen können, aber es ist unbenommen ein
richtiger Schritt.
Bei dem zweiten Punkt, der Änderung des § 46 Absatz 2 StGB - das muss ich sagen -, kann ich Ihnen nicht
folgen. Einer gesetzlichen Ergänzung des § 46 Absatz 2
StGB bedarf es nicht.
Das geltende Recht gebietet und gestattet es dabei
jetzt schon, derartige Hassmotivationslagen und
Zielsetzungen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. … Das geltende Recht gibt also bereits
jetzt die Möglichkeit, die in den Gesetzentwürfen
als Regelbeispiel ausgestalteten Strafzumessungsgründe bei der Strafzumessung zu berücksichtigen,
ohne dass diese ausdrücklich festgeschrieben
sind. … Das, was durch den Gesetzentwurf geregelt
werden soll, ist bereits geltendes Recht. Damit
käme der Regelung nur eines zu: Symbolcharakter.
Ich hatte eigentlich auf Applaus von der Union gewartet. Das war die Rede eines CDU/CSU-Abgeordneten zum gleichen Thema aus dem Jahre 2012. Ich finde,
sie war richtiger als die heute von Ihnen, Herr Ullrich.
({2})
Volker Beck ({3})
Das ist nicht nur Symbolpolitik, sondern auch eine
verfehlte Symbolpolitik. Der Gesetzentwurf benennt
drei Kriterien: rassistische, fremdenfeindliche und sonstige menschenverachtende Motive. Da fragt man sich,
wenn es um Hasskriminalität geht, warum ausgerechnet
diese drei Kriterien genannt werden und nicht andere.
({4})
- Damit setze ich mich gleich auseinander. Vielen Dank
für den Hinweis.
In der Begründung wird der Rahmenbeschluss der EU
zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen
und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit herangezogen. In diesem Rahmenbeschluss
wird in Artikel 1definiert, was rassistische und fremdenfeindliche Straftaten sind, nämlich solche, die Rasse,
Hautfarbe, Religion, Abstammung und nationale und
ethnische Herkunft betreffen. Das haben Sie schon einmal als Gesetzgeber - da waren Sie mit Frau
Leutheusser-Schnarrenberger dabei - in § 130 Absatz 1
StGB umgesetzt. Da heißt es nämlich, dass „gegen eine
nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische
Herkunft bestimmte Gruppe“ wie gegen andere Teile der
Bevölkerung nicht gehetzt werden dürfe und dass dies
strafbar sei. Warum fehlt dann auf einmal jetzt das Tatbestandsmerkmal der Religion oder der Nationalität?
Vor kurzem gab es die Pegida-Demonstrationen, islamophobe Veranstaltungen, die sich gegen Muslimas und
Muslime wegen ihrer Religion richten. Unweit meines
Wahlkreises gab es in Wuppertal einen Anschlag auf
eine Synagoge, bei dem absurderweise das Amtsgericht
antisemitische Beweggründe verneint hat, obwohl die
Täter den Anschlag im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt verübt hatten.
({5})
Wird diese Art von Gesetzgebung dazu führen, dass
die Polizei und die Justiz präziser hinschauen? Und warum fehlen andere Merkmale - die hier jetzt nicht erwähnt sind -, wenn es um Hasskriminalität geht, wie die
sexuelle Identität oder eine Behinderung? Das sind häufig Merkmale der Opfer von Straftaten, die aus Hass begangen werden. Insofern ist Ihr Gesetzentwurf vollständig verfehlt. Es wäre richtiger gewesen, diese Fragen in
der RiStBV bei öffentlichem Interesse, wie es angedeutet wurde, niederzulegen, dann aber mit dem vollständigen Kriterienkatalog zu den am häufigsten angegriffenen
Gruppen in der Gesellschaft, statt mit einer beliebigen
Auswahl.
({6})
Nicht nur, dass Sie Merkmale und damit Gruppen
weglassen, Sie haben auch einen völlig verfehlten Begriff in die Gesetzgebung des Bundes eingeführt, nämlich den Begriff der Fremdenfeindlichkeit. Dazu sagt das
Deutsche Institut für Menschenrechte, ein Institut, das
die Politikberatung der Bundesregierung in Menschenrechtsfragen zur Aufgabe hat, Folgendes:
Herr Kollege Beck.
Ein letzter Satz.
Das letzte Zitat, bitte.
„Mit der Zuschreibung von ,Fremdheit‘ grenzt der
Begriff Menschen - mit und ohne Zuwanderungsgeschichte - aus der vielfältigen deutschen Gesellschaft
aus.“
Das ist richtig. Dieser Begriff gehört nicht ins Gesetz;
denn damit wird in der Gesetzgebung die Täterperspektive übernommen. Das ist ein völlig verunglücktes Signal. Deshalb: Symbolpolitik, aber schlechte.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nein, die öffentliche Debatte um die Folgerungen aus
den NSU-Morden darf hier und heute noch nicht enden,
weil es immer noch das Warum der Angehörigen gibt
und weil diese Menschen erst zur Ruhe kommen können, wenn sie Antworten bekommen: Warum hat mein
Vater, warum hat mein Bruder, warum hat meine Tochter
ihr Leben lassen müssen? Warum wurden sie getötet von
Nazis?
Wir kennen nur einen Teil der Antwort: Wie wurde
aus Angst und Unverständnis gegenüber anderen, gegen
das Fremde schleichend und unbemerkt Hass, blanker
Hass auf alles, was nicht so ist, wie man selbst? Es ist
unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich dieses menschenverachtende Tun nicht wiederholt. Schluss mit
Wegschauen, Schluss mit Verniedlichen,
({0})
in der Gesellschaft und schon gar nicht bei Polizei und
Gerichten und im Gestrüpp der Eitelkeiten von Ländern
und Bund, wenn es um Zuständigkeiten geht. Um dies
zu beseitigen, wird nun gehandelt und die Zuständigkeit
des Generalbundesanwalts gestärkt. Das ist gut, das ist
richtig so.
Im Gesetzentwurf wird auch etwas klargestellt, was
jedem klar denkenden Menschen - Juristen allemal - bekannt sein müsste: Hass als Motiv muss strafverschärfend sein. Das gilt heute wie auch künftig, weil manche
- auch Staatsanwälte und Richter - erst mit der Nase darauf gestoßen werden müssen, nun eben mit Ergänzung
des § 46 Absatz 2 StGB und mit einer Überarbeitung der
RiStBV.
Zugleich aber sage ich Ihnen ganz ehrlich: Wir brauchen nicht mehr Dienstanweisungen, nicht mehr Richtlinien. Was wir brauchen, ist mehr Sinn und Gefühl, übrigens auch mehr Lust, wirklich ermitteln zu lassen. Es
geht hierbei nicht nur um rechts- oder linksradikales
Handeln. Es geht auch um Homophobie; der Kollege
Beck hat es angesprochen. Ich sage dies ganz bewusst
und nicht nur an die Teile dieses Hohen Hauses gerichtet, die immer noch die Augen verschließen. Denn es
gibt auch heute noch Gerichtsurteile, die den Opfern von
Homophobie selbst einen Teil der Schuld zuschieben.
Deshalb ist der Ansatz des LSVD grundsätzlich richtig. Eine explizite Nennung weiterer Gründe für Hasskriminalität würde keine Ausrede mehr erlauben. Der Haken daran ist aber: Die Bundesregierung versteht bereits
seit vielen Jahren unter Hasskriminalität auch explizit
Straftaten gegen eine Person aufgrund ihrer sexuellen
Identität. Eine andere Wortwahl allein hilft also kaum
weiter. Und wo beginnen wir mit der Aufzählung der
entsprechenden Definitionen?
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das eigentliche Problem ist die alltägliche Gewalt gegen Menschen, gegen unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger. Jeder Mensch verdient Respekt, und jeder hat
Anspruch auf seine Rechte - egal ob aus dem Senegal
oder dem Allgäu, ob hetero, homo, obdachlos, arm,
reich, behindert, Punk oder Politiker.
Gewalt ist immer schlimm. Aber bei homophoben
Gewalttaten wird das Opfer in der Regel nicht als Individuum angegriffen, sondern als Stellvertreter einer
Gruppe, die der Täter hasst und abwertet. Die Folgen
spürt nicht nur das Opfer. Auch andere Mitglieder der
Gruppe werden verunsichert. Sie hätte es auch treffen
können. Täter, die aus Hass auf Schwule und Lesben
oder Transgender zuschlagen, zielen darauf, diese aus
dem öffentlichen Leben und dem öffentlichen Raum in
die Unsichtbarkeit zu treiben. Das dürfen wir nicht zulassen. Dazu bedarf es aber nicht explizit der Nennung
im StGB; dazu bedarf es eines umfassenden nationalen
Aktionsplans gegen Homophobie. Dazu brauchen wir
jetzt in dem vorliegenden Gesetzentwurf nichts zu regeln. Das ist es, was ich will: den nationalen Aktionsplan. Das ist es, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart
haben. Und das ist es, was wir in den nächsten Wochen
und Monaten tun müssen. Das gebietet der Anstand, der
Anstand dieses Hauses und aller Deutschen. Der Anstand und die bitteren Erfahrungen aus den NSU-Morden gebieten es, heute dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Wawzyniak, das Thema „Konsequenzen aus der
NSU-Mordserie“ ist so ernst, dass man darüber auch
ernsthaft diskutieren sollte. Dazu gehört für mich eine
angemessene Sprache. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob die Art und Weise, wie Sie Ihre Punkte vorgetragen haben, angemessen war. Deswegen haben wir
bei Ihrer Rede ein bisschen unruhig reagiert.
({0})
Es ist richtig: Wir wollen die Konzentration beim Generalbundesanwalt. Denn eine frühzeitige Zusammenführung von Ermittlungen, bezogen auf Straftaten mit
fremdenfeindlichem oder gar rassistischem Hintergrund,
kann dazu beitragen, dass Zusammenhänge zwischen
Taten, vergleichbare Begehungsformen und deren Verknüpfung mit Rechtsextremismus oder Rechtsterrorismus schneller erkannt werden. Eines muss neben den
vielen Lehren, die wir aus den Taten des NSU ziehen,
klar sein: Der Wechsel in der Zuständigkeit zwischen
Bundesländern darf nicht dazu führen, dass sich Täter einer angemessenen Strafverfolgung entziehen.
({1})
Ich will ergänzen: Es muss auf der Ebene der Strafverfolgungsbehörden auch mehr Bereitschaft zur Kooperation geben. Das Motto „Meine Tat, meine Quelle, mein
Fall“ darf nicht die beherrschende Richtschnur von Ermittlungen sein. Insofern ist es gut, dass wir nun ein gemeinsames Terrorabwehrzentrum haben. Die Zusammenarbeit der Ermittler verschiedener Behörden der
Länder trägt auch dazu bei, dass das Vertrauen wächst,
dass mit Ermittlungsergebnissen oder Quellen verantwortlich umgegangen wird. Wir brauchen mehr Koordination, mehr Informationsaustausch, aber auch, wenn es
geboten ist, mehr Konzentration bei der Strafverfolgung.
Das ist eine der entscheidenden Lehren aus dem NSUKomplex.
Herr Fechner hat schon zu Recht darauf hingewiesen:
Damit der Generalbundesanwalt seine Zuständigkeit
überhaupt ausüben kann, muss er von bestimmten Sachverhalten Kenntnis erlangen. In der öffentlichen Anhörung wurde bestätigt, dass der Generalbundesanwalt
trotz bestehender Regelungen in der RiStBV zu selten
von wichtigen Vorgängen überhaupt erfährt. Die Einführung einer gesetzlichen Regelung, die zur sorgfältigen
Beobachtung der Vorlagepflicht führen soll, ist daher
richtig und zwingend nötig. Diese Vorlagepflicht ist
- das ist der entscheidende Punkt - so ausgestaltet, dass
nicht die Staatsanwaltschaften in den Ländern beurteilen, ob es zureichende Anhaltspunkte für eine Vorlagepflicht gibt, sondern dass bereits bei einem Anlass zur
Prüfung der Übernahme durch den Generalbundesanwalt
eine Übersendung der Vorlagen erfolgt. Es geht also um
objektive Gesichtspunkte, die dann zur Vorlagepflicht
führen, und nicht um subjektive Erwägungen der Staatsanwaltschaften.
Trotz zahlreicher fachlicher Bedenken - Kollege
Ullrich hat das zu Recht erwähnt - werden wir als CDU/
CSU-Fraktion die Ergänzung der Strafzumessungsregeln
nach § 46 Absatz 2 StGB mittragen, und zwar deshalb,
weil ich glaube, dass der Kollege Volker Beck recht hat.
Es ist nicht in jedem Fall so, dass rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Ziele der
Täter in angemessener Form berücksichtigt werden.
Deswegen ist es richtig und vertretbar, dass wir als Gesetzgeber ein doppeltes Signal senden: an potenzielle
Täter, denen wir sagen: „Eure Taten werden angemessener bestraft werden als in der Vergangenheit“, und an die
Justiz und die Strafverfolgungsbehörde, indem wir deutlich machen: Wir wollen, dass genauer und schneller
hingesehen wird, und wir wollen tatangemessene Urteile. - Das ist der Zweck dieser Gesetzesänderung.
Kollege Grindel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Von Herrn Beck immer. - Es wäre aber schön, wenn
Sie, Frau Präsidentin, meine Redezeit anhalten würden.
So weit geht es nicht, dass ich Herrn Beck davon etwas
schenke.
Nein, Sie brauchen da gar keine Furcht zu haben.
Dass die Redezeit angehalten wird bei einer Zwischenfrage, das passiert immer. Aber der Herr Kollege Beck
hat noch nicht begonnen.
Bitte schön, Herr Kollege Beck.
Das gebietet die Fairness. Da sind wir uns sicher einig. - Herr Grindel, wenn es Ihnen um Genauigkeit und
um Hinweise durch den Gesetzgeber geht, dann stellt
sich doch die Frage, warum wir bei diesen drei Kriterien
stehen bleiben und warum wir Gruppen, von denen wir
wissen, dass sie regelmäßig Opfer von rechter, auch von
islamistischer Gewalt werden, wie Homosexuelle, Behinderte oder Juden, anhand von Kriterien, die beschrieben werden müssten, in den Gesetzentwurf nicht mit
aufnehmen. Da besteht doch die Gefahr, dass der Gesetzgeber von manchen bei Polizei und Justiz dahin gehend missverstanden werden könnte: Es gibt Gruppen,
wo man besonders genau hinschauen muss, und es gibt
Gruppen, wo man hinschauen kann oder es auch bleiben
lassen kann.
Das ist übrigens eine Erfahrung, die in Opferberatungsstellen, die Gewaltopfer aus diesen Gruppen betreuen, häufig so gemacht wird. Mit diesem Vorschlag
bewirken wir doch eine selektive Aufarbeitung des Themas Gewaltkriminalität.
Herr Kollege Beck, ich bin Ihnen für die Frage dankbar, weil auch Reden im Parlament von den Strafrichtern
zur Auslegung des Gesetzes mit heranzuziehen sind.
Wenn Sie sich die Neuformulierung von § 46 Absatz 2
Strafgesetzbuch vornehmen, dann stellen Sie fest, dass
es dort „besonders auch rassistische, fremdenfeindliche
oder sonstige menschenverachtende“ Ziele des Täters
heißt. Für mich ist es gar keine Frage, dass eine Straftat
aus homophoben Gründen - natürlich auch dann, wenn
sie religiös motiviert ist; ich komme noch an anderer
Stelle dazu -, unter genau diese Formulierung fällt. Wer
Schwule angreift, wer Juden angreift, der handelt menschenverachtend. Das ist doch wohl völlig eindeutig,
und das deckt dieser Paragraf für mich ab.
({0})
Frau Wawzyniak, Sie haben zu Recht erwähnt: Hierbei handelt es sich um keine Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses; vielmehr hat man diese Regelung bei der Gelegenheit der Beratung dieses
Gesetzentwurfs mit aufgenommen, weil es hier um
Straftaten geht, die sich eben nicht nur gegen schutzwürdige Opfer richten, sondern die sich in Wahrheit gegen
unseren Rechtsstaat, unsere Werteordnung richten. Dann
ist es aber zulässig, deutlich zu machen: Natürlich greift
der Rechtsterrorismus unseren Rechtsstaat an, aber eben
nicht nur er, sondern auch der Linksextremismus, der
terroristische Islamismus. Deshalb ist es völlig in Ordnung - wie es Herr Kollege Ullrich gesagt hat -, dass
auch diese Punkte Gegenstand des neuen § 46 Absatz 2
Strafgesetzbuch werden; denn es geht hier um Straftaten
gegen den Rechtsstaat als solchen, die wir tatangemessen bestraft sehen wollen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aus
der Sicht der Union noch eine Anmerkung dazu machen:
Der Rechtsstaat darf nicht erst dann reagieren, wenn es
konkrete menschenverachtende Taten gibt, sondern der
Rechtsstaat muss bereits da einschreiten, wo der geistige
Nährboden von Terrorismus bereitet wird. Es muss dort
ein Einschreiten geben, wo ein Klima des Hasses und
der Intoleranz gegen Andersdenkende oder Andersgläubige Einzug hält. Deshalb ist es aus meiner Sicht nicht
einzusehen, weshalb wir heute nicht auch die Sympathiewerbung für terroristische Vereinigungen unter
Strafe stellen. Gerade angesichts wachsender Radikalisierungstendenzen, zum Beispiel im Internet, muss der
Staat doch konsequent auch hier gegen die Verbreitung
von Hass und Rassismus, von terroristischem Gedankengut vorgehen.
({2})
Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt es
uns zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Legislaturperiode.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({3})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Michelle Müntefering.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Da steht nicht, die Würde des deutschen Menschen, da steht nicht, die Würde des weißen Menschen,
und da steht nicht, die Würde des heterosexuellen Menschen. - So habe ich noch die Worte von Johannes Rau
im Ohr. Das ist die inklusive Gesellschaft in diesen Worten kurz beschrieben. Ich finde, das ist ein wunderbarer
Gedanke.
Demgegenüber mögen in der Tat die Maßnahmen, die
wir heute beschließen, vielleicht ein bisschen unspektakulär erscheinen; aber sie sind nicht weniger wichtig.
Vielmehr sind sie sinnvoll und notwendig. Denn auch
wenn die deutsche Demokratie 70 Jahre nach der Befreiung von der Hitler-Herrschaft endlich stark geworden
ist: Ungefährdet ist sie nie. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit - das haben die Kolleginnen und Kollegen
gerade schon gesagt - sind immer noch nicht besiegt.
Noch immer gibt es Neonazis in unserem Land, in unserer Nachbarschaft sowie Antisemitismus und Judenhass.
Leider ist auch, bei Teilen der Bevölkerung, auch in ihrer
Mitte, die Ablehnung von Andersdenkenden, fremden
Religionen und Menschen ausländischer Herkunft trauriger Teil des Alltags in Deutschland.
Der grausame Höhepunkt dieser menschenverachtenden Geisteshaltung waren die Hinrichtungen des Nationalsozialistischen Untergrunds. Niemand wird bestreiten
können, dass die Terroristen aus der Ideologie der Neonazis und des Rassenwahns heraus mordeten: Menschen
aus der Mitte unserer Gesellschaft, deutsche Mitbürger
- das will ich hier ausdrücklich betonen -, neun von ihnen türkischer bzw. griechischer Herkunft und eine Polizistin deutscher Herkunft. Das ist die erschütternde und
traurige Bilanz dieser Ewiggestrigen. Diese Taten lassen
uns mit Fassungslosigkeit und mit Trauer zurück. Sie
schaffen es aber nicht, unser demokratisches Rückgrat
zu brechen; im Gegenteil.
Bedrohung, Gewalt, Mord, das alles ist verboten. Dafür brauchen wir keine neuen Gesetze. Aber diese zu
präzisieren und die Vergehen beim Namen zu nennen,
das ist ein wichtiges Signal, insbesondere für die Opfer
der Übergriffe.
({0})
Aus meiner Arbeit als Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages,
aus vielen Gesprächen mit Menschen im Wahlkreis, in
der Türkei und bei Diskussionsrunden weiß ich, wie tief
sich die NSU-Morde in die Seele der Migrantinnen und
Migranten in Deutschland gebrannt haben, welch tiefes
individuelles, aber auch kollektives Leid sie gebracht haben und wie sehr sie das Ansehen unseres Landes im
Ausland beschädigt haben.
Auch deshalb ist es wichtig, wie wir mit diesen
schrecklichen Erfahrungen umgehen, welche Lehren wir
aus den Erkenntnissen ziehen, die der NSU-Untersuchungsausschuss uns gegeben hat. Das ist unsere demokratische Pflicht. Zu dieser gehört immer auch Selbsterkenntnis: lernen, dass Unfassbares auch heute möglich
ist. Deswegen sind wir heute noch nicht am Ende. Aber
wir gehen einen Schritt voran, und wir setzen ein deutliches Zeichen: für die Demokratie, für alle Menschen nicht nur in Deutschland.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dietrich Monstadt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die schrecklichen
Verbrechen des sogenannten NSU sind nach wie vor tief
in unserem Bewusstsein. Genau deshalb wissen wir alle,
wie wichtig die schnelle und gründliche Arbeit des
NSU-Untersuchungsausschusses war und ist. In diesem
Sinne diskutieren wir heute in zweiter und dritter Lesung
das Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSUUntersuchungsausschusses. Dies, meine Damen und
Herren, geschieht nicht nur im Rahmen der Aufarbeitung, sondern auch mit Blick auf die insgesamt 47 Empfehlungen, auf die sich die Ausschussmitglieder fraktionsübergreifend geeinigt haben.
Herzlichen Dank an alle beteiligten Kolleginnen und
Kollegen für ihr intensives Engagement in diesem Ausschuss! Dies darf am Schluss dieser Debatte nochmals
ausdrücklich hervorgehoben werden.
({0})
Jetzt, meine Damen und Herren, ist es unsere Aufgabe und Verpflichtung, die Aufgabe und Verpflichtung
dieses Parlaments, dafür zu sorgen, dass durch richtig
gezogene Konsequenzen und deren Umsetzung das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und Justiz nicht verloren
geht.
Im Bereich der Justiz betrifft dies auf Bundesebene
verschiedene Aspekte, die wir heute gesetzgeberisch
umsetzen werden. Durch die vorgesehenen Änderungen
im Gerichtsverfassungsgesetz wird die Begründung der
Zuständigkeit des Generalbundesanwalts in diesen Fällen künftig schneller möglich sein. Der Generalbundesanwalt wird gerade im Fall länderübergreifender Straftaten und in Fällen der Uneinigkeit zwischen mehreren
beteiligten Staatsanwaltschaften ein solches Ermittlungsverfahren an sich ziehen können. Außerdem stellen
wir sicher, dass der Generalbundesanwalt frühestmöglich in die Ermittlungen einbezogen werden kann, nämlich immer schon dann, wenn es erste Anhaltspunkte für
seine Zuständigkeit gibt. Er wird nun auch dann die Ermittlungen führen, wenn objektiv ein besonderes Staatsschutzdelikt vorliegt. Wir alle wissen, dass mögliche Ermessensentscheidungen und Kompetenzwirrwarr in der
Vergangenheit verheerende Folgen hatten. Genau hier
setzt der neue Satz 3 im § 142 a Absatz 1 GVG im Entwurf der Bundesregierung an. Bisher regelte die RiStBV,
eine Verwaltungsvorschrift, die Pflicht der Staatsanwaltschaften, Vorgänge, aus denen sich die Möglichkeit einer
Zuständigkeit des Generalbundesanwalts ergibt, sofort
an diese abzugeben. Diesen Ansatz überführt der vorliegende Entwurf der Bundesregierung nun in ein Gesetz.
Das ist richtig; denn so werden in besonderer Art und
Weise die herausragende Bedeutung und die Notwendigkeit dieser Regelung unterstrichen.
Meine Damen und Herren, der zweite wesentliche
Bestandteil des vorliegenden Regierungsentwurfs zielt
auf eine Änderung im § 46 StGB. Hiermit gehen wir
über die Empfehlungen des NSU-Ausschusses hinaus
und setzen so ein deutliches Zeichen. In § 46 Absatz 2
Satz 2 des Strafgesetzbuchs sind nunmehr als strafschärfend besonders auch rassistische, fremdenfeindliche
oder auch sonstige menschenverachtende Ziele des Täters zu berücksichtigen. Wir stellen damit unmissverständlich im Allgemeinen Teil des StGB klar, dass derartige Motivationen auch bei der Strafzumessung
einbezogen werden müssen. Sie gelten damit - das finde
ich ausdrücklich richtig - für alle Tatbestände des Besonderen Teils des StGB.
Doch neben der rechtspraktischen haben wir auch
eine politische Verantwortung wahrzunehmen. Hier geht
es eben gerade darum, sich mit aller Schärfe gegen menschenverachtende Straftaten zu stemmen. Dies gilt jetzt
im Besonderen auch durch die erweiterten Strafzumessungsregeln. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, werfen uns hier Symbolpolitik vor. Ich sage Ihnen: Gerade hier sind deutliche Symbole wichtig und
geboten.
({1})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende
der Debatte eines klar sagen: Egal ob Dschihadisten,
Salafisten, linke oder rechte Extremisten - wir wehren
uns entschieden gegen alle Feinde unseres Rechtsstaats.
Diese Botschaft soll und muss das Signal dieser Debatte
sein. Fast täglich hören wir von jungen Menschen, die
sich zumeist über das Internet radikalisieren lassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies linksextrem, rechtsextrem oder glaubensbedingt geschieht. Wichtig ist, dass
wir gerade bei den jungen Menschen ansetzen und klarmachen, dass wir unseren Rechtsstaat mit allen Mitteln
verteidigen werden. Hier brauchen wir klare Worte und
eine deutliche Ansprache. Lassen Sie uns ein Zeichen
setzen und mit breiter Mehrheit den Entwurf der Bundesregierung auf den Weg bringen.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen unter Tagesordnungspunkt 7 a zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages.
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4357, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/3007 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU- und
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 7 b und setzen
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf
Drucksache 18/4357 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3150
mit dem Titel „Hasskriminalität wirkungsvoll statt symbolisch verfolgen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Alleinerziehende stärken - Teilhabe von Kindern sichern
Drucksache 18/4307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Damen und Herren auf den Tribünen!
Wir haben heute schon einmal über Kinderarmut diskutiert. Diese Debatte schließt zu einem gewissen Grad daran an.
In Deutschland leben 1,6 Millionen Alleinerziehende
mit Kindern unter 18 Jahren. Sie bringen sie morgens
zur Kita oder Schule, sie arbeiten, meist Vollzeit, holen
Tochter oder Sohn wieder ab, gehen einkaufen, bereiten
das Abendessen zu und kümmern sich dann noch um den
Haushalt oder versuchen, noch etwas freie Zeit zu haben,
wenn die Kinder schlafen. Enorm, was sie leisten. Trotzdem: Vier von zehn Alleinerziehenden und ihre Kinder
sind bei uns in Deutschland arm. Ein Drittel der Alleinerziehenden im SGB-II-Bezug ist gleichzeitig berufstätig und stockt auf, und das, obwohl Alleinerziehende im
Durchschnitt fünf Stunden mehr als Frauen in Paarfamilien arbeiten. Das ist eine Schräglage in unserem Land,
die eigentlich nur noch als beschämend bezeichnet werden kann.
({0})
Was ist die Konsequenz? Fast jedes zweite Kind im
ALG-II-Bezug wächst in einem Alleinerziehendenhaushalt auf. Das heißt, wenn man etwas gegen Kinderarmut
machen möchte, dann muss man bei den Alleinerziehenden ansetzen.
({1})
Unser Antrag zeigt, was nötig ist, damit Alleinerziehende
nicht in die Armutsfalle tappen und Alleinerziehende gestärkt werden. Das ist mehr als nur eine Debatte um Steuerfreibeträge, liebe Koalition.
({2})
Wir wollen, dass Alleinerziehende arbeiten können,
wenn sie es möchten. Das ist immer noch die beste Armutsprävention. Wir brauchen zum Beispiel Teilzeitausbildungen, vor allen Dingen solche, die auch mit kleinen
Kindern zu stemmen sind, und während dieser Zeit eine
Existenzsicherung, die auch mit Kindern möglich ist.
Das ist für uns eine ganz wichtige Forderung, die wir voranbringen möchten.
({3})
Auch die Arbeitskultur muss sich verändern. Eltern
müssen mehr mitbestimmen können, wann sie arbeiten.
Gerade für Alleinerziehende steht nicht häufig das „Wie
viel wird gearbeitet?“, sondern das „Wann wird gearbeitet?“ im Vordergrund. Hier müssen wir wirklich einen
Schritt nach vorne machen. Wir alle wissen: Man kann
nur beruhigt bei der Arbeit sein, wenn man weiß, dass
seine Kinder gut aufgehoben sind. Deswegen brauchen
wir eine Initiative und Offensive für die Kitaqualität. Da
versagen Sie leider, liebe Koalition.
({4})
Wir hatten die Debatte. Sie bringen kein Kitaqualitätsgesetz voran. Dabei wissen wir, wie dringend notwendig es
ist. Die Bertelsmann-Studie zeigt, dass das für Kinder
zählt. Hier kommen wir leider nicht weiter.
Wir müssen aber auch über das Geld reden. Am Ende
geht es auch darum. Die Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen hat gezeigt: Der Unterhaltsvorschuss hat einen deutlichen Einfluss auf das Armutsrisiko von Kindern. Das ist die Leistung, mit der der Staat
einspringt, wenn ein Elternteil, der eigentlich Unterhalt
zu zahlen hat, dieser Pflicht nicht nachkommt. Aber anders als im Unterhaltsrecht endet der Unterhaltsvorschuss mit dem 13. Geburtstag. Das geht an der Realität
total vorbei. Das Gleiche gilt für die Bezugsdauer von
sechs Jahren. Wenn sich die Eltern trennen, wenn das
Kind drei Jahre alt ist, gibt es nach dem neunten Geburtstag nichts mehr. Das hat doch mit der Realität
nichts zu tun. Deswegen fordern wir eindeutig: Bezugsdauer aufheben und eine Altersgrenze von 18.
({5})
Die Evaluation der familienpolitischen Leistungen
hat auch gezeigt, dass der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende - jetzt zitiere ich … im Verhältnis zu seiner Höhe eine der effektivsten Leistungen zur Unterstützung der Erwerbstätigkeit ist.
Er bewirkt, dass fast 20 000 Alleinerziehende unabhängig von Sozialleistungen leben.
Im Koalitionsvertrag heißt es - auch hier zitiere ich -:
Der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerziehende beträgt seit seiner Einführung zum 1. Januar
2004 unverändert 1 308 Euro, er soll angehoben
werden.
Für Herrn Schäuble gilt dieser Vertrag offensichtlich
nicht.
Zusätzlich müsste - das ist unsere Position - ein Ausgleich für jene her, die wenig verdienen; denn gerade alleinerziehende Eltern haben oft ein geringeres Einkommen. Wir fordern deswegen eine Steuergutschrift für
Geringverdienende, damit auch sie profitieren.
({6})
Aber so weit sind Sie von der Koalition in der Debatte
gar nicht gekommen.
Wir fordern zumindest eine Erhöhung des Entlastungsbetrages, die sich am Verbraucherindex orientiert.
Das wären dann rund 250 Euro mehr. Das würde zu
Steuermindereinnahmen von 67 Millionen Euro führen.
Lieber Herr Schäuble - er ist jetzt nicht da, aber ich sage
es einmal so -,
({7})
67 Millionen Euro, das ist doch wirklich nicht so ein
wahnsinniger Betrag, aber für Alleinerziehende ist es
eine Hilfe und ein wichtiges Zeichen der Anerkennung.
({8})
Ich verstehe auch nicht, warum Sie dagegen sind. Was
sind denn Ihre Gründe dagegen?
Ist hier eigentlich irgendjemand von uns dagegen?
({9})
Soweit ich weiß, ist niemand dagegen. Sie von der CSU
sind ja dafür; das haben wir jetzt gehört. Bei der CDU
weiß ich nicht, wie die Lage ist. Nadine Schön, Sie haben ja getwittert, Sie sind dafür. Ich kann mir auch nicht
vorstellen, dass Sie von der CDU, zum Beispiel Herr
Weinberg, die Position teilen würden, dass Alleinerziehende irgendwie bestraft werden müssen, weil es mit der
Ehe nicht geklappt hat; das kann ich mir überhaupt nicht
vorstellen, das kann ich mir nicht einmal bei Herrn
Kauder vorstellen.
({10})
Deswegen stellt sich mir wirklich die Frage: Sollten wir
nicht den Familienkrach in der Regierung einfach Familienkrach sein lassen und hier im Parlament vernünftig
zusammenarbeiten und sagen: „Hier ist keiner dagegen;
({11})
wir als Parlament setzen das im Haushaltsverfahren gemeinsam um und entlasten die Alleinerziehenden“? Ich
kann Ihnen sagen: Alleinerziehende stärken heißt Kinder
stärken. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen!
Ich danke Ihnen.
({12})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Frau
Brantner, für den Aufschlag und den Impuls. Ich werde
nachher auf das eine oder andere von Ihnen genannte
Thema eingehen. Ich glaube, dass wir bei einer grundsätzlichen Fragestellung tatsächlich einer Meinung sind:
bei der Frage, wer in unserer Gesellschaft Leistungsträger ist. Das sind nämlich nicht nur die Unternehmer, die
Geld investieren und Arbeitsplätze schaffen, nicht nur
die Mittelständler, die Familienunternehmer; die Leistungsträger unserer Gesellschaft sind auch die Alleinerziehenden, die es schaffen, Beruf und Familie zusammenzubringen.
({0})
Da haben Sie komplett recht.
Sie haben die Zahlen genannt: 1,6 Millionen Menschen - Tendenz steigend - sind alleinerziehend, insbesondere Mütter. Sie haben auch Zahlen genannt, die Unterschiede bei der finanziellen Absicherung von
Paarfamilien und Alleinerziehenden aufzeigen. 67 Prozent der alleinerziehenden Mütter mit Kindern unter 18
Jahren sind erwerbstätig. Man sieht bei der Erwerbstätigkeit schon deutliche Unterschiede zwischen Paarfamilien und Alleinerziehenden, die arbeiten wollen. Besonders gravierend ist - auch diese Zahl sei genannt -, dass
tatsächlich 39 Prozent aller Haushalte von Alleinerziehenden auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, während das nur für 7 Prozent der sogenannten Paarfamilien
gilt. Wenn die Lage so ist, ist es unsere Aufgabe - insbesondere als Familienpolitiker, aber auch als Politiker insgesamt -, diese Dinge anzugehen.
Bei der Bewertung der Situation kommt es auf drei
Dinge an. Das eine ist die finanzielle Absicherung. Das
andere ist die Frage der Infrastruktur. Das Dritte ist etwas, das auch für Alleinerziehende in besonderem Maße
gilt; denn auch sie haben Anspruch darauf: Zeit mit ihren
Kindern, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Ich
glaube, auch das müssen wir bei der Betrachtung mit in
den Blick nehmen.
Nun haben Sie das Thema der finanziellen Unterstützungsleistungen angesprochen. Sie stabilisieren die wirtschaftliche Situation der Alleinerziehenden, sie schützen
auch vor Armut oder verringern zumindest das Armutsrisiko und steigern das Wohlergehen der Familie.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir haben uns in der
Koalitionsvereinbarung auf etwas verständigt. Wir wollen nämlich den seit elf Jahren feststehenden Entlastungsbetrag von 1 308 Euro für Alleinerziehende erhöhen. Wir wollen ihn nach der Anzahl der Kinder staffeln,
und wir werden in dieser Koalition zu einem gemeinsamen Ergebnis in diese Richtung kommen. Darauf können Sie sich verlassen.
({1})
Uns haben Sie da an Ihrer Seite und die Kollegen der
SPD genauso. Man muss dann halt einmal diskutieren,
wie man dahin kommt. Es gab schon nette Appelle. Paul
Lehrieder hat ja unserem Finanzstaatssekretär schon sozusagen etwas mit auf den Weg gegeben; das machen
wir. Aber ich sage auch mit Blick auf die Forderung eines Kollegen der SPD von vor 37 Minuten: Vorstellungen haben wir alle, Vorschläge sind dann immer besser.
- Aber das bringen wir, glaube ich, gemeinsam auf den
Weg; davon bin ich fest überzeugt.
Viel zielführender ist allerdings ein anderer Punkt.
Jetzt komme ich schon zur Analyse: Was tut man eigentlich, um die finanzielle Situation der Alleinerziehenden
zu verbessern? Viel zielführender ist die Erhöhung der
Erwerbsbeteiligung; denn das senkt Armut. Ich habe es
bereits gesagt: Wir wissen, dass die Erwerbsbereitschaft
der alleinerziehenden Mütter und Väter besonders hoch
ist. Was sie sich wünschen, sind bessere Rahmenbedingungen. Deswegen müssen wir ein bisschen zurückschauen: Was haben wir denn getan, und was hat eigentMarcus Weinberg ({2})
lich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren
verändert?
Da komme ich dann - Sie mögen es vielleicht nicht
mehr hören - wieder auf ein Kernanliegen oder einen
Kernpunkt der Großen Koalition und der Jahre zuvor
auch in anderen Konstellationen. Das war der Ausbau
der Kindertagesbetreuung mit der Schaffung eines
Rechtsanspruches auf einen Krippenplatz für Erwerbstätige. Dann muss ich die Zahl aber noch einmal nennen,
dass wir über 5 Milliarden Euro investiert haben und
auch bei den Betriebskosten die 845 Millionen Euro auf
945 Millionen Euro erhöhen.
Das heißt, hier schaffen wir Bedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was besonders bei den
Alleinerziehenden wirkt; denn besonders Alleinerziehende sind darauf angewiesen, dass sie eine Kindertagesbetreuung haben, und sie sind übrigens insbesondere
darauf angewiesen, dass diese Kindertagesbetreuung gewisse Flexibilisierungsmöglichkeiten schafft. Gestern,
geschätzt um 12.07 Uhr, gab es im Kabinett die Vorlage
des Nachtragshaushaltes des Bundesfinanzministers,
und 100 Millionen werden noch einmal zusätzlich investiert, Kita Plus, um dies zu schaffen. Ich glaube, das ist
eine gute Maßnahme für die Alleinerziehenden, insbesondere wenn wir hiermit den Ausbau der Kindertagesbetreuung weiter voranbringen.
({3})
Ich will es nur an drei Zahlen verdeutlichen. Dieser
Kitaausbau hat tatsächlich auch sehr konkret und direkt
bei den Alleinerziehenden gewirkt. Erstens. Ohne die
Subventionierung der Kosten der Kinderbetreuung wären 25 000 Alleinerziehende mit Kindern unter zwölf
Jahren weniger erwerbstätig. Zweitens. Das Armutsrisiko wird deutlich um ein Fünftel gesenkt. Drittens. Über
10 000 Haushalte von Alleinerziehenden werden unabhängig von SGB II. Das ist ja die Gesamtevaluation, die
wir jetzt immer wieder sozusagen vor uns halten, wenn
wir über die Alleinerziehenden sprechen.
Das eine war der Bereich Ausbau Kindertagesbetreuung, der insbesondere den Alleinerziehenden zugutekam. Das andere ist aber auch die Fragestellung Elterngeld und Elterngeld Plus; denn auch Alleinerziehende
müssen im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes die
Freiheit haben, sich um das Kind zu kümmern, auch unter Bindungsgesichtspunkten.
Ich weiß ja, dass viele Kollegen immer wieder dieses
Betreuungsgeld zur Sprache bringen. Ich sage ganz deutlich: Ich finde es richtig und gut und wichtig, wenn eine
Mutter mit ihrem Kind die ersten Jahre zusammen sein
kann, auch bei Alleinerziehenden. Da kann man nicht
differenzieren zwischen Paaren und Nichtpaaren.
({4})
Noch etwas haben wir in der Koalition hinbekommen.
Da muss man sagen: Da haben die Parlamentarier das
umgesetzt, was unser Auftrag ist. Wir haben nämlich gerade bei der Fragestellung der Partnermonate dafür gesorgt, dass der Gesetzentwurf noch einmal in dem Sinne
optimiert wurde, dass auch die Alleinerziehenden selbstverständlich einen Anspruch auf diese Partnermonate
haben. Dies war meines Erachtens ein gutes Zusammenspiel zwischen SPD, CDU und CSU und insgesamt dann
ein Erfolg für die Alleinerziehenden.
({5})
Insoweit will ich einen zweiten Punkt der Veränderung noch einmal skizzieren, Stichwort Erwerbstätigkeit
und Zunahme der Erwerbstätigkeit. Laut Prognos-Gutachten wurde bei der Erwerbstätigkeit von Alleinerziehenden mit kleinen Kindern im Alter von ein und zwei
Jahren ein Plus von 9 Prozent und bei Müttern mit zweibis dreijährigen Kindern ein Plus von 6 Prozent festgestellt. Sie sehen also: Die Erwerbstätigkeit hat zugenommen, und das ist auch gut so.
Trotzdem - das konstatiere ich - wird das ganze
Thema Alleinerziehende, also die Unterstützung dieser
Leistungsbereiten, dieser Leistungswilligen, für uns in
den nächsten Monaten ein besonderer Punkt werden;
denn wir erkennen hier, dass Menschen Verantwortung
nicht nur für die Erziehung ihrer Kinder übernehmen,
sondern dass sie ebenfalls hochmotiviert sagen: Ich
möchte auch arbeiten. - Deswegen wird das für uns ein
Auftrag sein, jetzt die anstehenden Punkte zu diskutieren
und in klugen Vorschlägen in der Koalition umzusetzen;
denn - auch das ist für Alleinerziehende nicht unwichtig wir haben einen Gesamthaushalt, auf den wir schauen
müssen, und eine Neuverschuldung von null ist gut für
alle, auch für die Alleinerziehenden, und daran werden
wir weiter arbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt der Kollege Jörn Wunderlich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt diskutieren wir einen Antrag der Grünen mit dem
Titel „Alleinerziehende stärken - Teilhabe von Kindern
sichern“. Ein schöner Titel, man könnte etwas daraus
machen. Aber was machen die Grünen? Sie formulieren
allgemeine Forderungen zur Vereinbarkeit von Beruf
und Familie,
({0})
zum Ausbau von Kitas, mit allem, was dazugehört, sie
wollen die Unterhaltsreform evaluieren, den Familienausgleich zur Kindergrundsicherung weiterentwickeln
und den Unterhaltsvorschuss ausbauen. Ich muss sagen:
Das alles sind Forderungen der Linken.
({1})
Ich habe den Eindruck, die Grünen dachten: Jetzt wollen
wir auch einmal etwas zu den Alleinerziehenden bringen. Ja, und was macht man dann, wenn man etwas zu den
Alleinerziehenden bringen will? Richtig, man schreibt bei
den Linken ab. Man greift die Forderungen der Linken
auf und schreibt sie ab.
({2})
Das haben die Grünen diesmal gemacht, na ja, zugegeben, nicht ganz richtig; einiges habt ihr offensichtlich
übersehen.
Die Forderung der Linken nach flexibler Arbeitszeit
ist so alt, sie geht inzwischen schon auf eine weiterführende Schule. Forderungen hinsichtlich Unterhaltsvorschuss sind auch schon zehn Jahre alt. Man muss darauf
hinweisen: Das wurde damals von den Grünen allerdings
nicht unterstützt. Ich zitiere aus dem Ausschuss - das ist
der Vorteil, wenn man schon ein bisschen länger dabei
ist - aus dem Jahr 2007 - damals hat meine Fraktion einen entsprechenden Antrag eingebracht -:
Einer Ausweitung des Anspruchs bis zum 18. Lebensjahr könne nicht ohne weiteres zugestimmt
werden, da dies Kosten beim Bund und bei den
Kommunen verursachen würde, zu deren Gegenfinanzierung in dem Antrag jedoch Vorschläge fehlten. Aus diesem Grund könnte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesen Änderungsantrag so
nicht mittragen.
Das war eure Argumentation zu dem Antrag, den ihr jetzt
selber stellt. Angesichts dieser Argumentation müsstet ihr
euren Antrag eigentlich selber ablehnen. Na gut, Schwamm
drüber! Jetzt wollt ihr es.
({3})
Nach Meinung der Grünen soll das Kindergeld beim
Unterhaltsvorschuss nach wie vor voll angerechnet werden. Warum, frage ich euch? Warum soll das Kindergeld
nicht, so wie wir das fordern, nur hälftig angerechnet
werden, wie bei den übrigen Unterhaltszahlungen auch?
Warum sollen gerade in diesem Punkt die Alleinerziehenden benachteiligt werden? Hier hätte man etwas machen können; denn was kann ein Kind dafür, wenn ein
Elternteil keinen Unterhalt zahlt?
({4})
Zum verbesserten Berufseinstieg möchten die Grünen
lediglich einen Prüfauftrag erteilen. Ich habe es heute
schon gesagt: Wir brauchen keine weiteren Gutachten
und Sachverständigenanhörungen. Wir wissen, wo die
Probleme liegen. Wir müssen sie angehen. Prüfaufträge
braucht diese Regierung nicht. Vielleicht sollte man in
diesem Zusammenhang auch einmal darüber nachdenken, wie die Sorgen und Nöte von Eltern, ob alleinerziehend oder nicht, an der Wurzel angepackt werden können.
Ich möchte daran erinnern: Hartz IV wurde unter Regierungsbeteiligung der Grünen eingeführt. Wir haben
heute früh gehört, was das für Folgen hat.
({5})
Welche Auswirkungen das auf Kinder hat, wird ständig
von Studien belegt, zuletzt durch die von der
Bertelsmann Stiftung. Wir haben ständig Anträge in der
Pipeline, wir haben immer wieder Anträge eingebracht,
und immer wieder haben die Grünen gesagt: Das wollen
wir nicht. - Jetzt schreibt ihr von uns ab und wollt sie als
eigene verkaufen. Peinlich!
({6})
Letztes Jahr forderte der DGB ein Sofortprogramm
für Eltern, die mit ihren Kindern schon länger im HartzIV-Bezug sind. Ich möchte Annelie Buntenbach aus der
Süddeutschen zitieren, die gesagt hat - Zitat -:
Es passt nicht zusammen, über Fachkräftemangel
zu diskutieren und zugleich zuzulassen, dass etwa
1,9 Millionen Kinder unter 18 im Hinterhof unserer
Wohlstandsgesellschaft in Hartz-IV-Armut leben
müssen.
Dieser Fachkräftemangel bezieht sich auch auf die
Betreuerinnen in den Kitas. Dazu wird im Antrag der
Grünen nichts gesagt. Schon 2006 hat die Linke gemeinsam mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
unter Hinweis auf den drohenden Mangel darauf gedrängt, die erforderlichen Fachkräfte für die Kindergärten auszubilden. Die damalige Familienministerin Frau
von der Leyen hat das alles allerdings abgetan. Sie hat
gesagt: Ach, ihr Linken! Die Kommunisten reden eh alles schlecht. Quatsch! Der Markt wird es schon richten.
- Jetzt wissen wir, dass jede vierte Erzieherin keine pädagogische Ausbildung hat oder nur einen Crashkurs absolviert hat. Das ist das Ergebnis der verfehlten Familienpolitik in diesem Punkt. Das muss man so feststellen.
({7})
Jetzt soll der Betreuungsschlüssel zwar geändert werden,
aber woher das Personal kommen soll und wie das finanziert wird, dazu wird im Antrag nichts gesagt.
({8})
- Nein, da müsst ihr euren Antrag einmal richtig durchlesen. Wahrscheinlich schreibt ihr nicht nur ab, sondern
lest auch nicht richtig.
({9})
Kein Kind auf der Schattenseite des Lebens zurücklassen - das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
und muss deswegen auch vom Bund finanziert werden.
Dazu steht nichts drin. Auch hier müssten sich die Grünen im Grunde mit ihrer Argumentation aus dem Jahr
2007 selbst ablehnen. Vielleicht sagen die Grünen aber
auch nichts zur Finanzierung, weil sie ahnen, wie das
ausgeht. Der Staatssekretär ist nicht mehr da, Herr
Schäuble auch nicht. Aber wie Herr Schäuble zur Finanzierung von Familien und sozial Schwachen steht, wissen wir ja.
({10})
Beim Thema Kinder und Familien verzieht er das Gesicht und dreht den Geldhahn zu.
Auf die Beratung im Ausschuss bin ich jedenfalls gespannt. Wir als Linke werden uns wie auch sonst immer
positiv und korrigierend einbringen.
({11})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt
Dr. Fritz Felgentreu das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
wir das Wort „Familie“ sagen, dann steht meistens unwillkürlich das alte schöne Bild vor unseren Augen: Vater, Mutter, Kinder. Dabei wissen wir genau: Draußen im
richtigen Leben sind neben dieses Bild, mit dem wir
großgeworden sind, längst andere Formen von Familien
getreten, denen die gleiche Wertschätzung und die gleiche Anerkennung durch das Gemeinwesen gebührt. Ob
es also weiterhin Vater, Mutter, Kinder oder nur Vater,
nur Mutter und Kind oder sogar zwei Väter oder zwei
Mütter sind, sie alle sind verbunden durch die Liebe, die
die Familie zusammenhält, und durch die Bereitschaft,
fürsorgliche Verantwortung füreinander zu übernehmen.
Sie alle verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung.
({0})
Besondere Beachtung verdienen dabei die Eltern, die
heute im Mittelpunkt unserer Debatte stehen: die Alleinerziehenden. In ihren Familien - das ist heutzutage jede
fünfte - fehlt der zweite Erwachsene, um die Lasten des
Arbeits- und Familienlebens zu teilen. Das heißt, sie
müssen alles irgendwie alleine hinbekommen: Geld verdienen, einkaufen, vorlesen, trösten, Wäsche waschen,
Staub saugen, aufräumen, kuscheln, toben, anleiten,
schimpfen, den Abwasch machen, bei den Hausaufgaben
helfen, spielen, singen, hinbringen, abholen - die Liste
ist uferlos. Irgendwann müssen sie auch einmal schlafen.
Alleinerziehende sind Helden unseres Alltags.
({1})
Mit Recht erwarten sie von uns, dass wir zur Kenntnis
nehmen, was sie leisten, und dass wir ihnen mit den Mitteln der Politik dabei helfen. Herr Weinberg - gerade
kann ich nur Ihren Rücken bewundern -, Sie haben in
diesem Punkt recht. Deshalb begrüßt die SPD-Fraktion
den Vorstoß der Grünen, über den wir heute reden. Die
Grünen haben in ihrem breit angelegten Antrag noch
einmal all das zusammengetragen, über das in diesem
Haus zum Thema Alleinerziehende diskutiert wird. Da
braucht die Linke auch nicht mit den Zähnen zu knirschen, wenn ein paar linke Ideen dabei sind. Ich meine,
expropriiert die Expropriateure, das war doch Ihre Forderung, oder? Wenn die Grünen diese Idee auch haben,
sollte das doch kein Problem sein.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, bildet
der Natur der Sache nach vor allen Dingen zwei Schwerpunkte: Geld und Betreuung. Das ist übrigens nicht so
selbstverständlich, wie es im ersten Moment erscheinen
mag. Denn es ist zwar allgemein bekannt, dass Alleinerziehende besonders oft von Armut bedroht sind, weniger
bekannt ist, dass zwei von drei Alleinerziehenden trotzdem Arbeit haben; weil sie Zeit für die Kinder brauchen,
allerdings oft nur in Form von Minijobs oder in Teilzeit.
Nicht allein das Geld ist deshalb Thema. Auch die Frage,
wo ihr Kind in guten Händen ist, wenn sie selbst arbeiten
gehen, ist für Alleinerziehende von existenzieller Wichtigkeit.
Die berufstätige Frau ist unter den Alleinerziehenden
der Normalfall. Das müssen wir bedenken, wenn wir darüber diskutieren, wie wir Alleinerziehenden das Leben
ein bisschen leichter machen. Das ist auch der Grund,
warum der SPD die überfällige Erhöhung des Entlastungsbetrags so wichtig ist. Der Entlastungsbetrag ist ein
eigener Steuerfreibetrag nur für Alleinerziehende. Er soll
zumindest teilweise die Nachteile ausgleichen, die Alleinerziehende haben, weil sie nicht vom Ehegattensplitting profitieren können. Der Entlastungsbetrag belohnt
also die Anstrengung, weil er sich als Steuerersparnis
umso stärker auswirkt, je höher das Einkommen einer
Alleinerziehenden ist. Aber er ist seit elf Jahren nicht
mehr angehoben worden. Deshalb war es uns in der SPD
sehr wichtig, die Anhebung des Entlastungsbetrages im
Koalitionsvertrag zu verankern.
Es hat mich gefreut, zu hören, dass die Union das
ganz genauso sieht. Herr Weinberg, wir sind nicht in allen Punkten einer Meinung. Sie werden mich in diesem
Leben nicht mehr davon überzeugen, dass es eine gute
Idee ist, Eltern Geld dafür zu geben, dass sie ihr Kind
nicht in die Kita schicken. Aber in diesem Punkt sind wir
einer Meinung, und das wird auch so bleiben.
({2})
Wenn wir ein Paket zur Anpassung familienpolitischer
Leistungen schnüren, dann muss der Entlastungsbetrag
mit dabei sein. Wir dürfen die berechtigten Erwartungen
an uns nicht enttäuschen. Genauso wichtig ist uns aber,
was die Große Koalition schon jetzt im Bereich des Ausbaus der Kitabetreuung voranbringt.
Neben der allgemeinen Entlastung der Länder um
6 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung wenden
wir eine weitere knappe Milliarde Euro jährlich als Bundesbeitrag zu den Betriebskosten von Kitas auf. Die Mittel für das Sondervermögen „Kinderbetreuungsfinanzierung“ haben wir zum 1. Januar dieses Jahres um 1
Milliarde Euro erhöht. Damit war die Koalition, liebe
Kollegin Brantner, schneller, als es die Grünen fordern
konnten. Denn eines ist völlig klar: Kinder und Familien
fördern wir am besten und am gerechtesten durch erstklassige Kitas und Schulen.
({3})
Niemand weiß es mehr zu schätzen als Alleinerziehende, wenn sie einen Platz haben, an dem es ihrem
Kind gut geht, während sie selbst arbeiten müssen. Dass
wir dabei perspektivisch noch besser werden können,
gebe ich gerne zu. Ich rege zum Beispiel an, zu prüfen,
ob wir Eltern, die Elterngeld Plus beziehen, nicht automatisch auch einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder unter einem Jahr gewähren sollten.
({4})
Das liegt in der Logik der Leistungen und käme besonders den berufstätigen Alleinerziehenden entgegen. Der
DGB hat ja schon entsprechende Vorschläge gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen zu
kurz kommt mir in dem Antrag der Grünen das Thema
Zeit. Mit dem Elterngeld Plus hat die Koalition bereits
einen großen Fortschritt erzielt, damit berufstätige Eltern
neben der Arbeit die nötige Zeit für ihre ganz kleinen
Kinder haben. Für die SPD-Fraktion ist das Elterngeld
Plus deshalb ein großer Schritt auf dem richtigen Weg.
Das Ziel dieses Weges bleibt für uns aber die Familienarbeitszeit, also für junge Eltern die 32-Stunden-Woche
mit Lohnausgleich.
({5})
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter sieht in
diesem Modell gerade für Alleinerziehende eine gute
Zukunftsvision. Das tun auch wir.
Lassen Sie uns in diesem Sinne den Antrag der Grünen zum Anlass nehmen, um weiter darüber nachzudenken, wie wir Alleinerziehenden zur Seite stehen können.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt die Kollegin
Gudrun Zollner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! In die
meisten Themen, über die wir Abgeordnete hier im Plenum reden, müssen wir uns einarbeiten, Informationen
sammeln, abwägen und uns eine Meinung bilden. Beim
Thema Alleinerziehende brauche ich das nicht zu tun;
denn ich bin Alleinerziehende. Ich spreche aus eigener
Erfahrung. Ich habe die Höhen und Tiefen selbst durchlebt. Ich kenne die Sorgen, Nöte und Ängste, die man
hat, wenn man zwei Kinder ab einem Alter von sechs
und sieben Jahren ohne Partner großziehen muss. Heute
sind meine Söhne 23 und 24 Jahre alt, und ich bin stolz
auf sie.
({0})
Ein bisschen stolz bin ich dabei auch auf mich; denn
es war für mich wirklich alles andere als leicht, zwei
kleine Jungs großzuziehen. Zur eigenen ersten Ohnmacht, auf einmal wieder allein zu sein, kommt der
Druck, alles richtig machen zu wollen; denn die Kinder
sollen nicht auch unter der Situation leiden müssen. Damit aber nicht genug: Auch finanziell ändert sich im Leben alles schlagartig. Während man vorher noch zu
zweit für den Lebensunterhalt gesorgt hat, fällt dann
meist das größere Einkommen weg. Die Kosten für
Miete, Versicherung und Auto bleiben aber gleich. Man
muss nicht BWL studiert haben, um zu wissen, dass es
eng wird.
Die nächste Herausforderung ist, einen gut bezahlten
Job zu finden - eine fast unlösbare Aufgabe. In jedem
Vorstellungsgespräch hört man die Frage: Was machen
Sie, wenn Ihre Kinder mal krank sind? - Meist bleibt nur
eine Teilzeitbeschäftigung, von der man seine kleine Familie nur schwer über Wasser halten kann. Enorm hilft
hier der Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz - den wir jetzt Gott sei Dank haben - ab dem ersten
Lebensjahr. Auch die rund 100 Millionen Euro extra, die
im Nachtragshaushalt 2015 für die Kindertagesstätten
vorgesehen sind und mit denen ganz besonders die längeren Öffnungszeiten abgedeckt werden sollen, ist speziell für die berufstätigen Alleinerziehenden eine große
Unterstützung.
({1})
Das ist ein Schritt - von vielen - in die richtige Richtung
für Väter und Mütter, die ihre Kinder allein erziehen, auf
dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben. 70 Prozent
von ihnen sind erwerbstätig, 45 Prozent in Vollzeit.
Trotzdem sind sie immer an der Schwelle zum Existenzminimum. Jedes zweite Kind ist auf Grundsicherung angewiesen. Ich spreche hier und heute für die 1,6 Millionen Einelternfamilien in Deutschland. Ich spreche ganz
bewusst von Einelternfamilien; denn auch Alleinerziehende mit ihren 2,2 Millionen minderjährigen Kindern
sind Familie,
({2})
ein Familienmodell übrigens, das in unserer Gesellschaft
zunehmend häufiger wird: Jede fünfte Familie ist heute
eine Einelternfamilie, Tendenz steigend.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mehr Hilfen
für Alleinerziehende hat die CSU bereits vor der Bundestagswahl 2013 gefordert. Dies ist eine Herzensangelegenheit von mir und meiner Partei. Ich danke besonders meiner Landesgruppenvorsitzenden Gerda Hasselfeldt, dass
sie sich dafür einsetzt. Im Koalitionsvertrag haben wir
deshalb auch eine Entlastung vereinbart. Die steuerliche
Entlastung für Alleinerziehende beträgt seit der Einführung zum 1. Januar 2004, also vor elf Jahren, unverändert 1 308 Euro. Gerade dieser Entlastungsbetrag in der
Steuerklasse II kommt direkt bei den alleinerziehenden
Vätern und Müttern an.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen
jetzt ohne Schaum vor dem Mund, ruhig und kollegial
über die Differenzen sprechen - und bitte keine ideologischen Attacken, welche Partei welches Familienmodell
angeblich favorisiert.
({3})
Wir wissen alle, dass Alleinerziehende Enormes leisten
und dass sie unsere besondere Unterstützung und Wertschätzung brauchen. Denken wir auch an die 2,2 Millionen minderjährigen Kinder, die es verdient haben, ein
unbeschwertes Leben führen zu dürfen, und denen wir
einen guten Start ins Leben sichern müssen. Deshalb
werden die Koalitionspartner in ihren zuständigen
Ministerien die Haushaltspläne nochmals sichten und
gemeinsam weitere Gespräche führen. Ich bin mir sicher, dass wir eine gute Lösung finden werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Stefan Schwartze,
SPD-Fraktion.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bundesfamilienministerin hat bei der Verabschiedung des Quotengesetzes von einem Kulturwandel gesprochen, einem Kulturwandel, der das gesamte Arbeitsleben erfasst und
aufbaut auf einem modernen Begriff der Familie; denn
das traditionelle Familienmodell mit Vater, Mutter, Kind
ist seltener geworden: Von den 8,1 Millionen Familien
sind aktuell knapp 20 Prozent Einelternfamilien. Im Jahr
2012 waren 1,6 Millionen Menschen allein für ihre Kinder verantwortlich. In neun von zehn Fällen tragen diese
Verantwortung Frauen.
Mit diesen Zahlen im Hinterkopf können wir fragen:
Wie muss der eingangs erwähnte Kulturwandel aussehen? Ich möchte hier einen konkreten Blick auf das Arbeitsleben richten. Gerade in diesem Lebensbereich offenbaren sich immer wieder alte Rollenbilder - in den
Köpfen der Arbeitgeber, aber auch bei manchen Kolleginnen und Kollegen. Immer noch kämpfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die allein für ihre Kinder
sorgen, gegen Vorurteile, bekommen nicht die Anerkennung und Wertschätzung, die sie verdienen.
Wir müssen endlich hin zu einem flexibleren Arbeitsleben, in dem Kinder mitgedacht werden, einem Arbeitsleben, in dem Menschen, die um 16 Uhr ihr Kind von
der Schule oder der Kita abholen, nicht mehr schräg angeschaut werden, einem Arbeitsleben, in dem wichtige
Meetings nicht exakt auf die Schließzeiten der Kitas gelegt werden, einem Arbeitsleben, in dem es keinen
Nachteil darstellt, in Personalgesprächen nach flexiblen
Arbeitszeitmodellen und Heimarbeit zu fragen, einem
Arbeitsleben, in dem die Betreuungszeiten der Kinder
bei der Personalplanung der Betriebe positiv mitgedacht
werden; denn Alleinerziehende sind Heldinnen und Helden des Alltags.
Mehr als zwei Drittel von ihnen sind erwerbstätig und davon fast die Hälfte in Vollzeit. Wie sollte das auch
anders sein? Sie müssen alleine dafür sorgen, dass das
Essen auf dem Tisch steht, dass die Schulsachen für das
Lernen vorhanden sind und dass die Kinder etwas Ordentliches zum Anziehen haben. Von der Organisation
und Finanzierung der Freizeitaktivitäten sei hier einmal
noch gar nicht gesprochen.
Diese Heldinnen und Helden, die alleine für ihre Kinder sorgen, werden jedoch nicht entsprechend wahrgenommen, geschweige denn bezahlt. Weiterhin gilt der
Status „alleinerziehend“ als Indikator für Armut. Das
darf nicht so bleiben.
Solange in unserer Gesellschaft noch immer das Bild
vom arbeitenden Mann und von der Frau, die zu Hause
für die Kinder sorgt, für normal gehalten wird, solange
Menschen, die in Teilzeit arbeiten, im Verhältnis geringer bezahlt werden als ihre Kollegen und Kolleginnen in
Vollzeit, solange die Arbeit dieser Menschen also als
weniger wert eingeschätzt wird - genau das wird durch
ein geringeres Gehalt ausgedrückt -, so lange bleibt der
Status „alleinerziehend“ Ausdruck eines Armutsrisikos.
Ich möchte konkret bleiben und aufzeigen, welcher
Fachkräfteverlust in Kauf genommen wird: Laut der
Prognos-Untersuchung von diesem Januar sind Alleinerziehende überwiegend gut ausgebildet. 79 Prozent verfügen über einen mittleren oder einen hohen Bildungsabschluss. Wir brauchen diese Fachkräfte in unserem
Land. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag auch
konkrete Entlastungen für Alleinerziehende vereinbart.
Dafür wird die SPD hier im Parlament hart kämpfen.
Wir wollen, wenn möglich rückwirkend zum 1. Januar 2015, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende
im Einkommensteuergesetz erhöhen und nach der Kinderzahl staffeln.
({0})
Hier gilt es, unserer Ministerin für die Verhandlungen
mit dem Finanzministerium den Rücken zu stärken.
({1})
Den Appell von Paul Lehrieder an den Staatssekretär
Kampeter eben fand ich an dieser Stelle ganz hervorragend.
({2})
Die Bundesregierung hat aber auch jetzt schon entscheidende Schritte hin zum nötigen Kulturwandel gemacht. Die Frauenquote, der gesetzliche Mindestlohn,
die Mietpreisbremse und die Stärkung von Tarifverträgen gehören dazu, und das Entgeltgleichheitsgesetz ist in
Arbeit. Diese Gesetze haben wir gegen viele Widerstände durchgesetzt.
Das Ziel ist, eine Arbeitswelt und Strukturen zu
schaffen, die es Alleinerziehenden ermöglichen, gleichwertig am Arbeitsleben teilzunehmen - auch gegen den
Widerstand antiquierter Betonköpfe. Zu diesen Strukturen gehört auch, dass wir eine Ausbildung in Teilzeit ermöglichen. Diese Ausbildung in Teilzeit darf sich nicht
nur auf einige Leuchtturmprojekte beschränken, sondern
muss wirklich in der Fläche eine Chance bekommen.
Ein letzter struktureller Aspekt darf nicht unerwähnt
bleiben: Das, was wir im Bund beschließen, muss in den
Ländern und in den Kommunen ankommen. Es müssen
vor Ort die finanziellen Spielräume vorhanden sein, um
diese Maßnahmen umzusetzen.
({3})
Deshalb ist auch die Entlastung der Kommunen so wichtig.
Der von Manuela Schwesig angesprochene Kulturwandel kommt. Wir schaffen den Rahmen dafür. Ich
freue mich auf die Beratungen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Bettina
Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Familienformen sind
so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Nach wie vor ein
beliebtes Modell ist die klassische Familie mit Vater,
Mutter und Kind, welche auch heute noch die am weitesten verbreitete Form des familiären Zusammenlebens ist.
Familien als solche unterscheiden sich aber in Größe
und Struktur voneinander. Dies ist in Deutschland bei einem Fünftel der Familien ganz signifikant der Fall; denn
jede fünfte Familie in Deutschland ist eine Einelternfamilie. Die Tendenz ist leider steigend. Unsere Familienpolitik muss dies widerspiegeln. Bei jeder Gesetzesänderung oder neuen familienpolitischen Maßnahme müssen
wir schauen, dass wir alle Lebenslagen und -situationen
berücksichtigen. Meiner Meinung nach gelingt uns das
als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgesprochen gut.
({0})
Erst im letzten Jahr haben wir das neue Elterngeld
Plus verabschiedet, von dem Alleinerziehende in ganz
besonderer Weise profitieren. Es lassen sich noch viele
weitere Beispiele benennen, von denen heute in dieser
Debatte auch schon einige genannt wurden, dass etwa
unsere Politik nicht nur die klassische Paarfamilie fördert, sondern auch auf die besonderen Bedürfnisse von
alleinerziehenden Müttern und Vätern eingeht.
Als ich nun anfing, den Antrag der Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu lesen, habe ich mich zunächst gefreut; denn „Alleinerziehende stärken“ ist eine
politische Forderung, in der wir uns zu 100 Prozent einig
sind.
({1})
Aber - jetzt kommt das große Aber; denn wie so oft
kommt es auf das Wie an - fast zwei Drittel der Alleinerziehenden sind erwerbstätig. Deshalb ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor die
Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am
Erwerbsleben und sichert dadurch auch die Teilhabe der
betroffenen Kinder am sozialen Leben. Wir setzen uns
daher für möglichst bedarfsgerechte und flexible Lösungen ein.
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es
gerade die alleinerziehenden Mütter sind, die am Erwerbsleben unter erschwerten Bedingungen teilnehmen.
Sie arbeiten zwar häufiger in Vollzeit als Mütter in Paarfamilien, aber dafür vermehrt in Schicht- oder Nachtdiensten sowie auch an Wochenenden. Da Alleinerziehende gerade nicht auf die Hilfe des Partners bauen
können, brauchen sie andere Konzepte. Sofern nicht die
Großeltern einspringen können, stehen viele Alleinerziehende im schlechtesten Fall vor einem echten Problem.
Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag festgelegt, die Qualität in der Kinderbetreuung weiter voranzutreiben. An dieser Aufgabe werden wir als Bund weiter
arbeiten.
({2})
Meiner Meinung nach darf man die Länder aber nicht
aus ihrer Pflicht entlassen. Hier stelle ich gerne die
Frage: In wie vielen Ländern sind momentan denn die
Kollegen der Grünen an der Regierung beteiligt? Sehr
geehrte Damen und Herren, es sind acht Länder, Hamburg nach der Wahl erst einmal ausgenommen. Also genau in der Hälfte der Bundesländer regieren die Grünen
mit.
Kommen wir zurück zum eigentlichen Punkt. 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. Insbesondere
für diese Gruppe der Frauen brauchen wir bedarfsgerechte Familienförderung. Dafür werden wir uns auch in
den nächsten Jahren starkmachen und daran weiter arBettina Hornhues
beiten. Wir wissen die außergewöhnliche Erziehungsleistung von den Alleinerziehenden sehr wohl zu schätzen und wertschätzen auch die besondere Verantwortung
als Familienernährer, eine große Last und zugleich Verantwortung, die die Frauen auf ihren Schultern tragen.
Perspektivisch brauchen wir gute und zukunftsfähige
Konzepte, Einelternfamilien zu unterstützen.
({3})
Die Anhebung der steuerlichen Entlastung ist eine konkrete Maßnahme, die wir noch in dieser Legislaturperiode umsetzen werden. Rahmenbedingungen sind
also das eine, die Förderung der Erwerbstätigkeit von
Alleinerziehenden ist das andere und für mich ein zentrales Anliegen.
Hierbei tragen auch die Jobcenter in den Kommunen
sowie die Handels- und Handwerkskammern eine besondere Verantwortung. Wir brauchen für Alleinerziehende
mehr gute Projekte, die speziell die Herausforderungen
in der alleinigen Betreuung des Kindes thematisieren,
Programme, die direkt auf die Bedürfnisse von alleinerziehenden Müttern und Vätern zugeschnitten sind.
Ich denke dabei vor allem an die Möglichkeit der
Teilzeitausbildung, welche ich für eine hervorragende
Möglichkeit halte und dafür bei Unternehmen immer
wieder werbe; denn über 50 Prozent der alleinerziehenden Arbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.
Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung.
Leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zu
wenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 bundesweit
1 344 Ausbildungsverträge in Teilzeit neu abgeschlossen. Das entspricht allerdings nur einem Anteil von
0,2 Prozent. Dabei bietet gerade die Teilzeitausbildung
jungen Eltern und vor allem Alleinerziehenden eine
wirkliche Chance, Berufsausbildung und Familie miteinander zu vereinbaren.
({4})
Wir tun also schon eine ganze Menge, um Alleinerziehende zu fördern und zu unterstützen. Aber nicht zuletzt ist es für mich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: das Zusammenspiel von Bund, Ländern und
Kommunen auf der einen Seite und Jobcentern, Arbeitgebern und Kammern auf der anderen Seite. Ich kann
den alleinerziehenden Vätern und Müttern nur versichern, dass wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auch
weiterhin die besonderen Bedürfnisse und Sorgen im Fokus haben werden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4307 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann haben wir
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Somalia auf Grundlage des Ersuchens der
somalischen Regierung mit Schreiben vom
27. November 2012 und 11. Januar 2013 sowie
der Beschlüsse des Rates der Europäischen
Union vom 15. Februar 2010 und 22. Januar
2013 in Verbindung mit den Resolutionen
1872 ({0}) und 2158 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksache 18/4203
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die
Plätze einzunehmen. Diejenigen, die andere wichtige
Aufgaben haben, bitte ich, jetzt den Plenarsaal zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael
Roth, das Wort.
({3})
Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt fast einen
weihevollen Moment. Alle hören zu. Es geht um ein für
viele Kolleginnen und Kollegen nicht ganz einfaches
Thema. Denn Sie wissen vermutlich noch viel besser als
ich, dass die Region am Horn von Afrika zu den globalen Krisenlandschaften zählt, mit denen wir uns im Bundestag schon seit vielen Jahren immer wieder befassen,
verbunden mit vielen Hoffnungen, aber bisweilen leider
auch mit großer Ernüchterung.
Insbesondere Somalia beschäftigt uns, ein Land, das
seit Jahren von Bürgerkrieg und Hungersnöten gepeinigt
wird: eine Tragödie für viele Menschen. Aber - das wissen wir auch - die EU engagiert sich seit vielen Jahren in
dieser Region und setzt dabei auf die gesamte Bandbreite ihrer außenpolitischen Instrumente.
Damit ist das Horn von Afrika ein gutes Beispiel für
den umfassenden Ansatz der EU, die Welt ein bisschen
friedlicher und stabiler zu machen. Wir verknüpfen näm8986
lich Sicherheit mit Entwicklungszusammenarbeit und
humanitäre Hilfe mit Diplomatie.
Deshalb wäre mein Vorschlag an uns alle: Lassen Sie
uns heute keine rein sicherheitspolitische Debatte führen. Auch die anderen Felder unseres vielseitigen Engagements in und für Afrika sollten wir nicht aus dem
Blick verlieren.
Seit 2008 hat die Europäische Union mehr als 1 Milliarde Euro in Projekte investiert, um Somalia politisch
und wirtschaftlich zu stabilisieren. Ich bin überzeugt:
Die Mittel, die wir jetzt gezielt in Frieden und Stabilität
in Somalia investieren, zahlen sich am Ende um ein
Vielfaches aus. Denn all diese Projekte zielen darauf ab,
dass Krisen und Konflikte in Somalia erst gar nicht wieder aufflammen und eskalieren.
Was tun wir also ganz konkret in Somalia? Beim
Staats- und Verwaltungsaufbau fördern wir die Entwicklung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen
und stärken den Aussöhnungsprozess zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Wir unterstützen die
wirtschaftliche Erholung des Landes, indem wir die
Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft verbessern und die Entwicklung eines privatwirtschaftlichen
Sektors fördern. Wer einmal mit den Expertinnen und
Experten der Entwicklungszusammenarbeit gesprochen
hat, weiß, was für ein dickes Brett dabei gebohrt werden
muss.
Seit 1994 bildet die humanitäre Hilfe einen besonderen Schwerpunkt des EU-Engagements. Allein zwischen
2011 und 2014 leistete die EU humanitäre Hilfe im Umfang von 240 Millionen Euro. Trotz dieses umfassenden
Engagements der Europäischen Gemeinschaft und der
internationalen Gemeinschaft gilt Somalia nach wie vor
als sehr fragiler Staat. Wir können alles andere als zufrieden sein. Machen wir uns keine Illusion: Der Weg
vom Failed State zu Good Governance ist kein Sprint,
sondern ein langer, beschwerlicher Marathonlauf.
({0})
Somalia ist nicht nur auf den ersten Kilometern dieses
langen Laufs, sondern auf der gesamten Strecke auf
unsere solidarische Unterstützung in vielen Bereichen
angewiesen.
({1})
Wenn wir also Somalia nachhaltig stabilisieren wollen, kommt es vor allem auf die Instrumente der zivilen
Konfliktnachsorge und der Entwicklungszusammenarbeit an; denn ohne ein Mindestmaß an effektiver Staatlichkeit werden wir weder die Grundbedürfnisse der Bevölkerung bei der Versorgung mit Wasser und Energie
sowie bei der Gesundheitsfürsorge befriedigen können,
noch dürften ausreichend Nahrungsmittel durch die
lokale Landwirtschaft produziert werden. Dafür müssen
wir die somalische Regierung wieder in die Lage versetzen, Verantwortung für ihren Staat zu übernehmen, aus
eigener Kraft Frieden und Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger des Landes zu gewährleisten. Somalia
braucht Sicherheitsstrukturen, die funktionieren und die
sich selbst tragen, damit die zivilen Instrumente, deren
Einsatz wir unterstützen, wirksam greifen können.
Unser gemeinsames Ziel bleibt, dass 2016 endlich
freie Wahlen in einem ausreichend stabilisierten Land
stattfinden. Dafür leisten neben den diplomatischen Bemühungen des EU-Sonderbeauftragten für die Region
ganz verschiedene Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen sehr
wichtigen Beitrag. Seit 2008 sichert die Operation
Atalanta das humanitäre und entwicklungspolitische
Engagement durch den Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms. Die von kriminellen Netzwerken
ausgehende Piraterie wurde damit erfolgreich zurückgedrängt. Seit 2012 unterstützt die zivile Mission EUCAP
Nestor die somalischen Behörden beim Aufbau eigener
Fähigkeiten bei der maritimen Sicherheit. Nicht zuletzt
mit der Ausbildungsmission EUTM Somalia unterstützen wir die somalische Regierung seit 2010 beim Aufbau demokratisch kontrollierter, den Grundsätzen des
Völkerrechts und dem Schutz der Menschenrechte verpflichteter Streitkräfte. Die Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an dieser wichtigen Mission ist Gegenstand
des heutigen Antrags der Bundesregierung.
Wir sollten ganz nüchtern auf die Entwicklung blicken. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Mission
2010 begonnen hat, und uns die gegenwärtige Situation
anschauen, dann stellen wir fest, dass es Fortschritte zu
verzeichnen gibt. Heute sind die islamistischen Terrormilizen der al-Schabab unter dem militärischen Druck
von AMISOM, der Mission der Afrikanischen Union,
und der somalischen Armee in weiten Teilen des Landes
auf dem Rückzug. Darüber können auch die jüngsten
Meldungen über furchtbare Anschläge vor allem in
Mogadischu nicht hinwegtäuschen. Trotz des schwierigen Umfelds blickt EUTM Somalia auf sichtbare
Erfolge zurück. Wir haben bislang 4 800 somalische
Soldaten im Rahmen der EU-Mission ausgebildet, davon
1 200 in Mogadischu, wo die Ausbildung seit Anfang
2014 erfolgt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leisten konkrete
Hilfe. Wir zeigen Solidarität. Unser militärisches Engagement ist ein bescheidenes, aber notwendiges Element
einer Afrikastrategie für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Ich bitte Sie deshalb im Namen der Bundesregierung um Ihre tatkräftige Unterstützung für die Verlängerung dieser Mission.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Sevim
Dağdelen, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr
Staatsminister Roth, wenn man hört, was Sie zur Förderung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in
Somalia sagen, hat man den Eindruck, dass Sie überSevim Dağdelen
haupt keine Kenntnis von der Realität in diesem Land
haben.
({0})
Sie unterstützen mit dieser Ausbildungsmission ein
islamistisch-autoritäres Regime, das die Scharia über
alle Gesetze im Land, also über die Verfassung, gestellt
hat. Sie unterstützen ein Regime, in dem die sogenannten Gerichte die Todesstrafe verhängen, in dem sexuelle
Minderheiten verfolgt werden, in dem ein Abtreibungsverbot herrscht, in dem es keine Religionsfreiheit gibt,
ein autoritäres Regime. Sie versuchen, den Menschen
Sand in die Augen zu streuen. Sie tun so, als wenn es um
eine normale Regierung ginge, die man jetzt nur noch in
den Bereichen Demokratieförderung und Rechtsstaatlichkeit unterstützen möchte. Das hat mit der Situation in
Somalia überhaupt nichts zu tun. Ich bitte Sie, sich die
Realität in diesem Land anzuschauen: Es herrscht die
Scharia. Da können Sie mir nicht sagen, dass dieses
Land auf dem Weg der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie ist.
({1})
Wenn wir uns die Begründung der Bundesregierung
für die Verlängerung dieses Einsatzes im Antragstext
selbst einmal anschauen, stoßen wir auf eine regelrechte
Aufzählung der Erfolge der bisherigen Bundeswehreinsätze. Tausende somalische Soldaten wurden ausgebildet. Dies wird in einen scheinbaren Zusammenhang
mit dem Zurückdrängen der Al-Schabab-Milizen am
Horn von Afrika gebracht. Aber ist die Entsendung der
Bundeswehr wirklich mit einer Erfolgsgeschichte verbunden?
({2})
Oder ist sie nicht vielmehr eine weitere abenteuerliche
Unternehmung der deutschen Außenpolitik, um mit viel
Geld wenig symbolische Weltgeltung erreichen zu
können?
Ja, weil die politische Situation, die Sie laut Ihrem
Antrag zum Positiven wenden wollen, immer weiter eskaliert.
({3})
Sicher, die al-Schabab sind zurückgedrängt worden.
Aber ich frage Sie: Zu welchem Preis? Die Erfolge sind
zu einem Gutteil den Truppen des Nachbarlandes Kenia
zu verdanken, das im somalischen Bürgerkrieg nun kräftig mitmischt.
Ich bitte Sie, sich auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes anzuschauen: Anschläge, Kämpfe, bewaffnete Auseinandersetzungen prägen das Bild Kenias
in den Reisewarnungen. Immer stärker werden auch dort
Touristen bedroht. Das heißt, eine der Haupteinnahmequellen des Landes Kenia droht wegzubrechen.
Sicher, al-Schabab ist zurückgedrängt; aber zugleich
wurde der somalische Bürgerkrieg stark ausgeweitet. Da
frage ich Sie: Sehen so eigentlich Erfolge aus? Mittlerweile denkt die politische Klasse Kenias laut über
Verhandlungen über eine politische Lösung mit den alSchabab nach. Ich frage mich: Warum setzt die Bundesregierung im Gegenteil weiter auf einen Krieg, der so
überhaupt nicht zu gewinnen ist?
({4})
Wir Linke finden: Wir brauchen eine politische Lösung.
Auch in Somalia gilt: Verhandeln ist allemal besser, als
zu schießen oder eben ein solch autoritäres Regime mit
Militärausbildern zu unterstützen.
Ein Weiteres möchte ich ansprechen. Deutschland ist
leider nicht nur mit Militärausbildern an dem schmutzigen Krieg in Somalia beteiligt. Somalia ist neben Pakistan, Afghanistan und dem Jemen das Land, das die meisten Opfer durch Drohnenmorde der USA zu beklagen
hat. Bei den extralegalen Hinrichtungen der Al-SchababKämpfer werden eben auch viele Zivilisten getötet. Das
ist das eine.
Das andere aber ist, dass diese Morde mit Unterstützung aus den US-Stützpunkten auf deutschem Boden,
nämlich Ramstein in Rheinland-Pfalz und AFRICOM in
Stuttgart, Baden-Württemberg, begangen werden. Auf
beharrliches Nachfragen meiner Fraktion hat die Bundesregierung Fragen dazu an die USA geschickt. Die
USA haben - wen wundert es? - in ihren Antworten an
die Bundesregierung verneint, dass Ramstein und Stuttgart mit in die Mordstrategie mittels Drohnen eingebunden seien.
Da frage ich Sie: Warum glauben Sie den USA, obwohl ehemalige Beteiligte an diesem Mordprogramm
ganz klar ausgesagt haben, auch im deutschen Fernsehen, dass die US-Stützpunkte in Deutschland bei den
Drohnenmorden in Somalia eine zentrale Rolle spielen?
Warum gehen Sie diesen Aussagen nicht nach und veranlassen entsprechende Inspektionen und Untersuchungen der US-Stützpunkte?
({5})
Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie nicht bereit sind, die
demokratische Souveränität in Ramstein und in Stuttgart
durchzusetzen! Wenn Sie wirklich bereit wären, dem
Grundgesetz in Deutschland Geltung zu verschaffen,
bliebe Ihnen nichts anderes übrig
Bitte denken Sie an die Redezeit.
- ja, das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin -, als
diese Mordzentren zu schließen oder zumindest sich als
Regierung und Parlament selbst ernst zu nehmen und in
diesen Stützpunkten Untersuchungen durchzuführen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Zentrum der deutschen Afrikapolitik steht die Unterstützung unserer afrikanischen Partner, und zwar auf allen Politikfeldern; Staatsminister Roth hat völlig zu
Recht darauf hingewiesen. Deshalb ist Somalia auch ein
Schwerpunkt des sicherheitspolitischen Engagements
der Bundesregierung in Afrika.
Die EU-geführte Ausbildungs- und Beratungsmission
EUTM Somalia leistet im Bereich der Sicherheitssektorreform einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung
des Aufbaus der somalischen Streitkräfte und fördert dadurch die Stabilisierung und Befriedung Somalias; denn
die fragile Staatlichkeit in Somalia ist weiterhin eines
der zentralen Probleme am Horn von Afrika. Es gibt in
Afrika sicherlich viele Probleme, aber Somalia ist ein
Land, das ganz besonders gelitten hat, wo die Menschen
von einer langen Leidenshistorie besonders gebeutelt
waren. Es ist ein Land, das bis zu Beginn der 90er-Jahre
unter der Diktatur gelitten hat und das dann in Anarchie,
Chaos und Terror gestürzt worden ist. Wo, wenn nicht
dort, haben wir einen Grund, zu helfen, den Menschen
zu helfen, aus diesem Terrorkreislauf von Diktatur und
Anarchie herauszukommen? Es ist gut, dass wir uns daran, wenn auch mit bescheidenen Mitteln, beteiligen.
({0})
Der vom Kollegen Roth dargestellte politische Prozess des Wiederaufbaus wird nur dann zu einer langfristigen und nachhaltigen Stabilisierung in Somalia und der
Region führen können, wenn er sich auf eine verbesserte
Sicherheitslage abstützen kann. Deswegen ist diese Ausbildungs- und Beratungsmission eine Mission, die an einem ganz neuralgischen Punkt ansetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, circa 150 Soldaten
aus elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind derzeit bei EUTM Somalia im Einsatz. Italien stellt dabei
das mit Abstand größte Kontingent.
({1})
Ich will aber auch hervorheben, dass neben diesen elf
EU-Mitgliedstaaten auch Soldaten aus Serbien - Serbien
ist der einzige Nicht-EU-Mitgliedstaat bei dieser Mission - beteiligt sind. Serbien hat die Aufgabe der sanitätsdienstlichen Erstversorgung übernommen. Ein Arzt
und vier Sanitätshelferinnen und -helfer leisten eine hervorragende und für die Mission unerlässliche Arbeit.
Das ist wichtig für die Menschen vor Ort. Es ist auch,
glaube ich, ein wichtiges politisches Zeichen, dass wir
dort den Schulterschluss gegen den islamistischen Terror
praktizieren.
({2})
EUTM Somalia hat bislang circa 4 800 somalische
Soldaten ausgebildet, davon - Kollege Roth hat darauf
hingewiesen - circa 1 200 seit dem Frühjahr letzten Jahres in Mogadischu, was vorher dort nicht möglich gewesen ist. Die entsprechend ausgebildeten Kräfte gelten als
vergleichsweise zuverlässig und schlagkräftig, und sie
konnten bereits an der Seite von AMISOM im Kampf
gegen die radikalislamische Terrororganisation al-Schabab eingesetzt werden. Gleichzeitig trägt die Mission
zum Aufbau und zur Konsolidierung somalischer Sicherheitsstrukturen wesentlich bei.
Bei der Bewertung der Fortschritte im Aufbau effektiver Sicherheitsstrukturen dürfen zwei Faktoren nicht außer Acht gelassen werden. Die Armee und ihre Führungsstrukturen müssen zum einen quasi von Grund auf
neu aufgebaut werden. Zum anderen steht die somalische Armee aber gleichzeitig an der Seite von AMISOM
im Kampf gegen al-Schabab. Große Erfolge werden sich
deshalb sicher nicht über Nacht einstellen, und Rückschläge dürfen uns deshalb nicht entmutigen.
Aber seit dem Beginn der Mission hat sich die Sicherheitslage in Somalia insgesamt verbessert. In einer Region, auf einem Kontinent, wo es an vielen Stellen eher
kritischer wird, ist Somalia nach Jahrzehnten der Leidenszeit ein Land, in dem es eine positive Tendenz gibt,
in dem es nicht noch zusätzliche Fluchttendenzen gibt,
sondern in dem es auch Perspektiven gibt, dass Menschen zurückkehren können. Das hat etwas mit dem gewachsenen militärischen Druck durch AMISOM und
durch die in der Entstehung befindlichen somalischen
Sicherheitskräfte zu tun. Es hat auch damit zu tun, dass
die radikalislamische Terrororganisation al-Schabab vermehrt zum asymmetrischen Kampf übergegangen ist,
weil es eben militärische Erfolge gegeben hat. Dazu hat
diese Mission beigetragen. Das ist ein wichtiger Erfolg
auf dem Weg zu Stabilität und Frieden in der Region.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat bleibt
im Wesenskern so wie bisher bestehen. Das Dreisäulenkonzept mit Beratung, Mentoring und Ausbildung bleibt
mit Konzentration auf den Verteidigungssektor bestehen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten werden wie bisher die
Ausbildung im Jazeera Training Camp in Mogadischu
unterstützen und zum Aufbau eigener Kapazitäten die
Ausbildung der somalischen Streitkräfte mit Mentoren
begleiten. Die Obergrenze von 20 Soldatinnen und Soldaten bleibt bestehen. Eine Begleitung der somalischen
Streitkräfte in Einsätze oder eine direkte Unterstützung
der militärischen Operationen von AMISOM findet unverändert nicht statt. Dennoch können wir festhalten,
dass unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten mit ihrer Ausbildungs- und Beratungstätigkeit mittelbar einen
nicht unerheblichen Beitrag zur Bekämpfung der radikalislamischen Terrororganisation al-Schabab leisten.
Ich sprach davon, dass aufgrund der militärischen Erfolge gegen al-Schabab diese Terrororganisation verstärkt zum asymmetrischen Kampf übergegangen ist.
Was heißt asymmetrischer Kampf? Es heißt letzten Endes Terror. Ich höre hier etwas von schmutzigem Krieg.
Das, was wir eben von der Linken gehört haben, hat mit
der Realität in diesem Land überhaupt nichts zu tun. Es
ist rein schablonenhaftes Denken, das nichts mit der
wahren Situation im Land zu tun hat. Das, was dort passiert, ist Terror. Da werden Terroranschläge auf unbeteiligte Menschen verübt. Da werden Terroranschläge verübt in Hotels, am Flughafen. Unschuldige Menschen
kommen dabei ums Leben. Wie viel Zynismus gehört eigentlich dazu, hier von einem schmutzigen Krieg und
Mordcamps zu sprechen? Es ist kaum zu fassen, welchen Zynismus die Linke hier an den Tag legt.
({4})
Wir stehen zum Glück an der Seite der Menschen, die
mit unserem Einsatz auch die Hoffnung auf Frieden verbinden. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Einsatz
nebenbei auch unsere Soldatinnen und Soldaten vor besondere Herausforderungen stellt. In Somalia werden
keine fähigkeitsbezogenen Kontingente, keine geschlossenen Kompanien eingesetzt, sondern wir haben es mit
einer Einzelpersonalabstellung zu tun. Spezialisten beteiligen sich in unserem Auftrag an der Mission. Sie stehen damit auch vor ganz besonderen Herausforderungen.
Ich hatte die Gelegenheit und bin dankbar dafür, mich
in der letzten Woche in Mogadischu vor Ort vom Einsatz
unserer zurzeit acht Soldatinnen und Soldaten überzeugen zu können. Es sind einzelne abgestellte Soldaten, die
dort hochmotiviert, hochspezialisiert und hochengagiert
einen ganz wichtigen Einsatz leisten. Ich zolle ihnen
ganz ausdrücklich meinen Respekt. Wir können stolz
sein, dass wir dort mit unseren Soldatinnen und Soldaten
an dieser wichtigen Mission in einem schwierigen Umfeld beteiligt sind. Ich denke, unsere Soldatinnen und
Soldaten verdienen den Respekt des Hohen Hauses und
die fortgesetzte politische Unterstützung für ihren ganz
wichtigen Dienst im Sinne des Friedens in der Region.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Omid Nouripour,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wollte noch ein paar Takte zur Rede von Herrn Staatsminister Roth sagen - ich sehe, er kommt gerade wieder
zurück -, damit wir uns damit auseinandersetzen können. Somalia ist seit 1991 ein zerfallener Staat. Es gibt
Oasen der relativen Stabilität im Norden - in Puntland, in
Somaliland; eher in Somaliland als in Puntland -, aber im
Rest des Landes gibt es immer wieder harte Kämpfe. Die
Übergangsregierung ist nicht im gesamten Land anerkannt, und al-Schababs Macht und Stärke sind weiterhin
ungebrochen. Ich weiß - das ist richtig beschrieben -,
dass es beim Aufbau der Staatlichkeit punktuell Fortschritte gegeben hat. Aber man kann nicht sagen, al-Schabab sei auf dem Rückzug. Das ist so nicht richtig.
Wir haben über 1 Million Flüchtlinge, überwiegend
Frauen und Kinder, die unter den fürchterlichen Verhältnissen sehr stark leiden. Wir wissen, dass es gerade im
Süden des Landes immer wieder zu Hungersnöten
kommt. Die Clanstruktur erschwert nicht nur die Regierungsbildung, sondern vor allem auch die Regierungsführung in diesem Land.
Was muss man an dieser Stelle tun? Wie kann man
jenseits der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit helfen, soweit es überhaupt möglich ist? Man
muss die Kriminalität - dazu zählt auch die Piraterie nicht nur bekämpfen, sondern ihr vor allen Dingen den
Boden entziehen. Wir werden in diesem Jahr noch einmal über Atalanta sprechen. Die Mission ist eine richtige
und notwendige Bekämpfung der Symptome, aber die
Ursachen der Piraterie werden dadurch nicht behoben.
Wir diskutieren darüber seit Jahren, und es passiert bei
der Bekämpfung der Ursachen dieser Kriminalität einfach viel zu wenig.
({0})
Man muss natürlich der Regierung helfen, damit sie
etwas leisten kann. Auch ich habe meine Distanz zu dieser Regierung, Kollegin Dağdelen. Aber wenn Sie von
einem autokratischen Regime sprechen, dann überschätzen Sie einfach maßlos die Fähigkeiten der Regierung.
Ich glaube nicht - auch wenn es möglicherweise Akteure
gibt, die es gerne hätten -, dass die Regierung das kann,
was Sie gerade beschrieben haben. Natürlich muss man
helfen, dass die Clanstrukturen und das Clandenken zugunsten einer nationalen Identität zurückgedrängt werden. Dabei kann natürlich auch der Aufbau einer Armee
helfen. Nur ist leider in diesem konkreten Fall die Wahrheit die, dass der Antrag, den die Bundesregierung uns
heute vorlegt, kein Beitrag in die richtige Richtung ist.
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin gesagt, es sei
kein kurzer Lauf, sondern ein langer Marsch. Sie haben
völlig recht. Das Problem ist: Sie laufen in die falsche
Richtung. Das macht die Situation so kompliziert.
({1})
Die Rekrutierung der Soldaten aus nur einem einzigen Clan ist kein Beitrag dazu, dass nationale Identität in
dem Land entsteht, sondern es ist eher ein riesengroßer
Beitrag dazu, dass sich einzelne Clans den anderen gegenüber im Vorteil sehen. Das ist kein Beitrag zur Befriedung des Landes. Es ist langfristig eher ein Beitrag
zur Verstärkung der Konflikte, die es bisher in dem Land
gegeben hat.
({2})
Hinzu kommt dann noch die schlechte Entlohnung
der Soldaten. Dann gibt es noch eine unglaublich hohe
Zahl an Deserteuren von über 50 Prozent. Niemand von
Ihnen kann die Frage beantworten, welche Befehlsstruktur es gibt. Wie ist die Befehlskette in der somalischen
Armee? Dann stellt sich auch noch die Frage nach der
Verbleibskontrolle der Waffen, die diejenigen, die wir
ausbilden, in die Hand bekommen müssen; denn wir
sind formal dafür zuständig, dass sie mit den Waffen umgehen können, um ein Gewaltmonopol herzustellen. Das
alles ist unbeantwortet.
Nun - das gebe ich zu - hat sich verglichen mit dem
letzten Jahr auf dem Papier manches verbessert. Es soll
jetzt ein biometrisches Passsystem eingeführt werden.
Das sagt die EU. Das ist erst einmal gar nicht so
schlecht. Es ist gut und könnte so mancher Probleme tatsächlich Herr werden. Nur frage ich mich: Wenn es in
die richtige Richtung geht, warum verweigern Sie jede
Evaluation? Wir hatten jetzt ein Jahr diesen Einsatz. Es
gibt keine Evaluation. Die Frage der Bewertung ist eine
rein politische und hat mit dem, was vor Ort passiert, leider viel zu wenig zu tun, ohne in Abrede stellen zu wollen, dass diejenigen, die wir entsandt haben, um auszubilden, wirklich eine gute Arbeit machen.
({3})
Aber die Ergebnisse müssen doch bewertet werden,
wenn Sie der Meinung sind, dass sie gut sind.
Es kommt noch hinzu, dass es eine EU-Mission gibt.
Hier sind einige Staaten dabei. Herr Staatssekretär
Brauksiepe hat gerade einige Länder genannt. Mir ist dabei aufgefallen, dass Sie Großbritannien nicht genannt
haben. Der Grund dafür ist, dass Großbritannien sich
nicht im Rahmen der EU beteiligt. Die Briten haben ihre
eigene Mission. Sie bilden einfach einen anderen Clan
aus. Das heißt, von der EU wird ein Clan ausgebildet
und mit Waffen bestückt, und von den Briten wird ein
anderer Clan mit Waffen bestückt und ausgebildet. Was
wird das am Ende des Tages werden, wenn die Regierung diese Clans tatsächlich nicht unter Kontrolle halten
kann? Das wird dazu führen, dass der nächste Bürgerkrieg quasi vorbereitet wird. Das ist ein riesengroßes
Problem.
({4})
Deshalb ist das auf der einen Seite auf dem Papier
richtig. Aber das Umfeld, in dem alles stattfindet, ist
eher schwieriger geworden. Statt dass man uns erzählt,
wie super gut alles funktioniert, und man davon spricht,
dass Deutschland eine Verantwortung übernimmt, sollte
man die Verantwortung auch einmal innerhalb der EU
übernehmen. Man sollte mit den Briten darüber reden,
ob es sinnvoll ist, dass sie Parallelstrukturen zu dem aufbauen, was die EU tut und was die deutschen Soldaten
tun. Wenn man von mehr Verantwortung spricht, Herr
Kollege Roth, dann stellt sich natürlich die Frage, wie
das Auswärtige Amt all das mit einer halben Stelle in
Nairobi bewerkstelligen will, was notwendig ist. In Somalia ist das viel. Ich glaube, dass das einfach nicht ausreichend ist, dass die Ambitionen, die hier formuliert
worden sind, sich in der Realität nicht abbilden.
({5})
Das ist extrem bedauerlich und führt dazu, dass wir bei
weitem nicht zu dem Ergebnis kommen: Diesem Mandat
kann man zustimmen.
({6})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Lars
Klingbeil das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir sind bei der Analyse der Situation in Somalia gar nicht weit auseinander. Wir wissen, dass die
Lage im Land auch fünf Jahre nach Beginn der Trainingsmission in Somalia immer noch fragil ist, dass
staatliche Strukturen sich nur langsam entwickeln. Wir
sehen auch, dass es Rückschläge gibt. Wir sehen, dass
die Menschen im Land von Kriminalität und Terror bedroht sind und an vielen Stellen noch Korruption
herrscht.
Die Frage ist: Was ist die Antwort auf diese gemeinsame Analyse? Ich finde, die Antwort darf nicht sein,
dass wir uns zurückziehen und das Land auf dem Weg,
den es vor sich hat, alleinlassen. Es geht vielmehr um die
Frage, wie wir uns vernünftig engagieren können. Darüber führen wir hier im Haus gerne eine Diskussion.
({0})
Um das Land voranzubringen und nachhaltig Frieden
und Sicherheit zu schaffen, müssen wir die somalische
Regierung mit unseren internationalen Partnern bei der
Ausbildung ihrer eigenen Streitkräfte unterstützen. Nur
wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Somalia
durch die eigenen Streitkräfte gewährleistet werden
kann, können sich auf Dauer politische, rechtsstaatliche
und wirtschaftliche Strukturen entwickeln. Nur wenn es
der somalischen Regierung gelingt, das zu gewährleisten, wird sie erfolgreich sein. Wir leisten hier Hilfe zur
Selbsthilfe.
Ich finde, wir dürfen bei aller Unzufriedenheit mit der
Situation in Somalia nicht die Erfolge, die es bisher gibt,
kleinreden. Bislang konnten 4 800 somalische Soldaten
ausgebildet werden. Somalische Soldaten sind mit
Streitkräften der Afrikanischen Union in einen gemeinsamen Kampf gegen die radikalislamistische Al-Schabab-Miliz gezogen, und wir können sehen, dass sie an
vielen Stellen des Landes zurückgedrängt werden
konnte. Die Sicherheit der Bevölkerung konnte also in
Teilen des Landes deutlich verbessert werden.
Langfristig kann Stabilität in Somalia nur dann erreicht werden - da sind sich viele von uns einig; Staatsminister Roth hat es vorhin angesprochen -, wenn wir
das Mandat, das wir heute hier diskutieren und auch im
Parlament beschließen werden, als Bestandteil eines
ganzheitlichen Ansatzes verstehen, der vor allem entwicklungspolitische und wirtschaftliche Komponenten
umfasst; die militärische Unterstützung ist nur ein kleiner Teil davon. Wir müssen die Streitkräfteausbildung
unterstützen, damit wirtschaftliche und entwicklungspolitische Instrumente greifen können.
Der Staatsminister hat vorhin angesprochen, dass die
EU bisher schon Gelder in Höhe von mehr als 1 Milliarde Euro in die Unterstützung Somalias gesteckt hat.
Es werden jetzt weitere 100 Millionen Euro folgen, die
die Bundesregierung für Entwicklungsprojekte vor allem
in den Bereichen der städtischen Wasserversorgung und
der ländlichen Entwicklung zugesagt hat. Nur wenn
auch diese Instrumente greifen, nur wenn hier Gelder
fließen, werden sich auf Dauer tragfähige staatliche
Strukturen entwickeln können. Sie sind die Grundlage
für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Sie sind auch
die Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung und Versorgungssicherheit, die am Ende ein friedliches Zusammenleben in Somalia ermöglichen werden. Wir alle wissen doch, dass es ein langer Weg ist, den wir noch vor
uns haben; aber das Mandat, über das wir heute reden,
gehört zwangsläufig mit dazu.
Wir werden das Mandat in enger Abstimmung mit der
somalischen Regierung, mit den Vereinten Nationen und
der Afrikanischen Union umsetzen. Es ist vorhin angesprochen worden, dass es in enger Verknüpfung mit anderen Mandaten in der Region wie etwa der Operation
Atalanta wirkt. Dieses Mandat umfasst maximal 20 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, deren Aufgabe
vor allem die Ausbildung von Führungskräften, eigenen
somalischen Ausbildern und Spezialisten sein wird, aber
auch die Sicherung von Personal, Material, Infrastruktur
und Ausbildungsvorhaben.
Es ist vorhin angesprochen worden, dass die Wahlen
im Jahr 2016 eine entscheidende Wegmarke sein werden. Wir alle wissen, dass sich dabei viel für die Zukunft
Somalias entscheiden wird. Deswegen ist es doch notwendig, dass wir bis zu dieser Wahl 2016 gemeinsam
mit unseren Partnern deutliche Fortschritte bei der politischen Konsolidierung erzielen, dass wir im Bereich der
gesellschaftlichen Aussöhnung und der wirtschaftlichen
Entwicklung vorankommen. Mit diesen Wahlen wird
sich entscheiden, ob eine friedliche Entwicklung in Somalia möglich ist und der Demokratisierungsprozess vorangehen kann.
Wir alle wissen: Das Mandat, über das wir heute in
erster Lesung beraten und hoffentlich bald beschließen
werden, ist nur ein kleiner Teil des Weges, den Somalia
vor sich hat. Aber wir sollten unser Engagement nicht
beenden, sondern sollten es immer wieder anpassen.
Ich kann deswegen für meine Fraktion sagen, dass wir
zustimmen werden. Wir halten die Trainingsmission für
einen wichtigen Bestandteil unserer Somaliahilfe, unserer Afrikapolitik.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Florian Hahn,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir Somalia hören, sind leider immer
noch die ersten Assoziationen Anarchie, Terror, Piraterie, Entführungen und Hunger. Kurz: Somalia ist ein
Failed State. Aber die Weltgemeinschaft darf nicht resignieren. Es ist richtig, Somalia und seine Menschen
nicht alleinzulassen. Die Lage in Somalia ist heute schon
besser, als sie noch vor wenigen Jahren war; das ist Realität.
Die radikalislamische Al-Schabab-Miliz wurde mithilfe der AMISOM, einer robusten multinationalen Mission der Afrikanischen Union von 22 000 Soldaten, aus
wesentlichen Gebieten Süd- und Zentralsomalias und
vom Indischen Ozean vertrieben. Die Führung ist durch
US-Drohnenangriffe geschwächt, und die Miliz ist aktuell in der Defensive, kann sich aber noch in einigen
Regionen behaupten. In Mogadischu und in vielen Teilen des Landes beginnen fragile staatliche Strukturen zu
wachsen, wenn auch nur sehr langsam und immer wieder von Rückschlägen begleitet.
Aber der Ausgangspunkt dieser Krise ist dramatisch.
Somalia befindet sich seit 1990 im Bürgerkrieg, und
seither hat praktisch kein junger Mensch mehr eine
Schulbildung erhalten. Das sind fast zwei Generationen.
Das ist fatal für eine Gesellschaft. Es entsteht ein Teufelskreis aus fehlender Bildung, Flucht, Scheitern von
Aufbaubemühungen, Krieg und Terror.
Es ist deswegen richtig, dass die internationale Gemeinschaft bereits vielfältig unterstützend eingegriffen
hat. Basis für alle erfolgreichen Bemühungen ist eine Art
Grundsicherheit, eine Atempause von Bürgerkrieg und
ideologisch-religiösem Terror. Vor allem durch die
AMISOM-Truppen der Afrikanischen Union, die die EU
maßgeblich finanziert, ist es gelungen, diese Basissicherheit in Teilen des Landes wiederherzustellen. In den
befreiten Gebieten müssen jetzt lokale Verwaltungsstrukturen aufgebaut und muss der Zugang zu rechtsstaatlicher Justiz ermöglicht werden.
AMISOM kann aber nicht ewig bleiben. Ausländische Truppen, davon viele aus Nachbarstaaten mit
massiven Eigeninteressen, sind auf Dauer keine gute
Lösung. Mittelfristig müssen die somalischen Institutionen Sicherheit und Ordnung daher selbst gewährleisten
können. Dabei will die Ausbildungsmission EUTM der
EU helfen. Diese Mission ist bislang durchaus erfolgreich. Schon fast 5 000 Soldaten wurden ausgebildet und
stellen einen gewichtigen Teil der somalischen Armee
dar, vor allem qualitativ.
Auch wir Europäer wollen nicht ewig in Somalia bleiben. Daher liegt ein Schwerpunkt unserer Arbeit auf der
Ausbildung von Ausbildern für künftige Rekruten nach
dem Motto: Train the Trainer. Aktuell sind acht deutsche
Soldatinnen und Soldaten in Somalia eingesetzt, sechs
Offiziere und zwei Unteroffiziere, und sie machen dort
eine sehr gute Arbeit. Es ist eine kleine, aber sehr
wichtige Mission. Der Bundeswehreinsatz soll deshalb
bis zum 31. März 2016 mit unveränderter Personalobergrenze von 20 Soldatinnen und Soldaten fortgesetzt
werden.
Hauptproblem bleibt aber die Sicherheitslage. Der
Einsatz ist gefährlich. Aber trotz aller Gefahren, auch
wenn die Fortschritte minimal sind und es auch immer
wieder begründete Kritik am Einsatz selbst gibt, glauben
wir, dass es sich lohnt, den Menschen eine Perspektive
zu geben. Wir müssen hier, mehr noch als in Mali, langen Atem beweisen und können nicht auf schnelle spektakuläre Erfolge hoffen. Aber wir sind davon überzeugt,
dass es möglich ist, Schritt für Schritt Sicherheitsstrukturen zu stärken und zu festigen.
EUTM ist ein Teil eines umfangreichen internationalen Engagements, bei dem Deutschland über die EU
AMISOM unterstützt und sich direkt militärisch an den
Missionen EUTM und Atalanta und der zivilen Mission
EUCAP NESTOR beteiligt. Übrigens ist meiner Information nach, Herr Kollege Nouripour, Großbritannien
an EUTM definitiv beteiligt. Aber dazu können Sie
gerne danach noch etwas sagen.
Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe gerade gesagt, er kann danach noch etwas
sagen, wenn er möchte.
Na gut.
Wir sind davon überzeugt, dass auch in Somalia nachhaltig nur durch einen vernetzten Einsatz außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Elemente geholfen
werden kann. Deshalb ist Deutschland im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit und bei der Demokratieförderung tatkräftig und vielfältig tätig.
Die Al-Schabab-Miliz kann mit militärischen Mitteln
kaum vollständig besiegt werden. Ihre Bedeutung und
Anziehungskraft werden nur dann nachlassen, wenn es
stabilere politische Verhältnisse gibt und Bildung und
Ausbildung für die jungen Menschen möglich sind.
Somalia soll ein schönes Land sein und hat Potenzial
für eine Zukunft ohne Bürgerkrieg, Hunger und Terror;
ein wahrlich großes Projekt. Unser Engagement, in
diesem Fall bei der Mission EUTM, ist ein kleiner, aber
absolut notwendiger Beitrag zu diesem wichtigen Projekt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen:
Deutschland nimmt bereits deutlich mehr internationale
Verantwortung wahr und engagiert sich entsprechend
mehr, als wir dies noch vor wenigen Jahren vermutet
haben. Das ist ganz in unserem eigenen Interesse notwendig und richtig geworden.
Mehr Engagement und mehr Verantwortung bedeuten
aber auch mehr Engagement bei den Mitteln, die dafür
zur Verfügung gestellt werden müssen. Es ist deswegen
konsequent, dass die Regierung bei ihrer Budgetplanung
Erhöhungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, der Diplomatie und der Verteidigung vorsieht und
damit dieser Entwicklung Rechnung trägt. Das begrüße
ich ausdrücklich.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege Nouripour.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Hahn, Herr Staatssekretär Brauksiepe, Sie haben mich
gerade darauf hingewiesen, dass ich einen falschen Eindruck erweckt hätte, nämlich den Eindruck, Großbritannien sei kein Teil von EUTM Somalia. Ich habe noch
einmal nachgeschaut: Sie haben recht. Erstens habe ich
diesen Eindruck erweckt, ich weiß, und zweitens: Ich bin
von einer falschen Faktenlage ausgegangen. Ich bitte um
Entschuldigung dafür.
Aber der zentrale Punkt, auf den ich hinauswollte, ist
trotzdem nicht ausgeräumt. Großbritannien unterhält in
Mogadischu jenseits von EUTM Somalia eine eigene
Ausbildungsmission, bei der ein anderer Clan als der,
der von EUTM Somalia ausgebildet wird, ausgebildet
wird. Das heißt, das, was ich im Kern kritisiert habe,
nämlich dass zwei völlig verschiedene, parallele Strukturen faktisch gegeneinander arbeiten, muss ich leider weiterhin aufrechterhalten. Das ist ein riesengroßes Problem.
Vielen Dank. - Dann ist der nächste Redner Michael
Vietz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Situation in Somalia ist sicherlich schwierig. Zwar hat das Land dank der gemeinsamen Bemühungen der somalischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft einige Fortschritte erzielt, aber immer
noch steht die Bevölkerung vor einem Berg an Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Ein nicht nur in
Somalia bekanntes und gültiges Sprichwort sagt: Zerstören geht schnell, Bauen langsam.
In den letzten Jahren haben sich Deutschland und die
Europäische Union im Rahmen eines umfassenden strategischen Ansatzes in Kooperation auch mit den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union am Neuaufbau Somalias beteiligt: Demokratieförderung, Stärkung
der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen,
Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Es gilt, den
Somaliern Perspektiven für eine gute und sichere Zukunft zu geben. Zu diesem mannigfaltigen Paket gehört
auch die Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Somalia, über deren Fortsetzung wir heute in erster Lesung debattieren.
Jeder Staat steht in der Pflicht, das Wohlergehen und
die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Wir kennen dies als Responsibility to Protect. Dieses Prinzip internationaler Politik wurde 2005 von den meisten Staaten der Erde allgemein anerkannt. Union und SPD
bekennen sich im Koalitionsvertrag zu diesem Prinzip
und seiner weiteren Ausgestaltung. Wenn wir dies ernst
nehmen und weiter mit Leben erfüllen wollen, so dürfen
wir nicht einfach an der Seitenlinie verharren, wenn ein
Staat hierfür Unterstützung sucht, wenn die Regierung
und die Bevölkerung um Hilfe bitten, dieser Verpflichtung gerecht zu werden. Die somalische Regierung hat
um diese Unterstützung nachgesucht. Entsprechende
Beschlüsse des Rates der Europäischen Union und des
Sicherheitsrates der UN liegen vor. Deutschland leistet
im Rahmen einer Vernetzung mit weiteren regionalen
Missionen sowie unseres Engagements beim Aufbau der
zivilgesellschaftlichen und nichtmilitärischen Sicherheitsstruktur einen guten und wichtigen Beitrag.
Die Herausforderungen, die Somalia nach wie vor zu
bewältigen hat, sind enorm: fragile Staatlichkeit, fundamentalistischer Terror, organisierte Kriminalität, große
Armut, Flüchtlinge, eine schwierige humanitäre Notlage. Mit Blick auf diese Gemengelage dürfen wir Somalia nicht alleinelassen. Dies liegt auch in unserem eigenen Interesse. Das Land liegt zwar Luftlinie rund
6 300 Kilometer von diesem Hohen Haus entfernt, doch
die Herausforderungen, denen sich unsere somalischen
Partner stellen müssen, sind keineswegs Probleme, die
nur auf das Horn von Afrika beschränkt sind.
Es ist noch nicht so lange her, dass uns die Piraterie
vor Somalias Küste in Atem gehalten hat. Die Grundprobleme hierfür liegen an Land und sind noch lange nicht
gelöst. Gerade als Handelsnation sind wir ebenso wie
unsere Partner in der Welt auf sichere Handelsrouten angewiesen, mithin auf Stabilität in der Region.
Fundamentalistischer Terror kümmert sich nicht um
staatliche Grenzen. In Zeiten des sogenannten „Islamischen Staats“ und al-Qaidas bleibt es eine unserer größten und wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforderungen, diese einzudämmen und damit auch unsere
Bürger zu schützen.
Darüber hinaus sollte uns auch klar sein: Wenn die
Lage aufgrund der fragilen Staatlichkeit in Somalia so
prekär bleibt, werden auch die Flüchtlingsströme nicht
versiegen. Flucht und Vertreibung begegnen wir am besten, wenn wir den Menschen vor Ort Schutz und vor allem Perspektiven bieten. Deswegen ist es unser wichtigstes Ziel, unsere somalischen Partner zu befähigen,
für ihre eigene Sicherheit in einem durch sie selbst gestalteten stabilen Staat zu sorgen. Wir wollen beraten
und mit unserem Know-how beistehen.
Wir leisten einen Beitrag, um das Fundament für eine
nachhaltige Verbesserung der Situation für die Menschen Somalias zu errichten. Zivile Aufbauhilfe und Unterstützung wollen nicht nur geleistet werden, Entwicklungshilfe muss nicht nur bezahlt werden. Es braucht
auch ein entsprechendes Umfeld, um langfristig wirksam sein zu können. Hilfe zur Selbsthilfe - das ist im
deutschen und europäischen Interesse.
Diese Unterstützung leistet die Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM Somalia. Seit 2010 wurden bekanntermaßen 4 800 somalische Soldaten ausgebildet,
auch durch unsere engagierten Soldatinnen und Soldaten, denen ich an dieser Stelle für ihren unermüdlichen
Einsatz nachdrücklich danken möchte. Die im Rahmen
dieser Mission ausgebildeten somalischen Soldaten haben seitdem einen wichtigen Beitrag dafür geleistet, die
Sicherheit ihres Landes zu gewährleisten und dem AlSchabab-Terror entgegenzutreten. Wir empfinden es als
selbstverständlich, dass das Gewaltmonopol beim Staat
liegt. Mit dieser Mission helfen wir dabei, diese Selbstverständlichkeit auch für Somalia zu verwirklichen, um
weiterhin den Aufbau ziviler Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen zu ermöglichen.
Ein wichtiges Ziel sind die für 2016 geplanten Wahlen. Für einen Erfolg der Bemühungen um Frieden und
Stabilität kommt es darauf an, bis dahin sichtbare und
für die Bevölkerung auch spürbare Fortschritte zu erzielen. Daher begrüßt die somalische Regierung ausdrücklich die Fortsetzung dieser Mission als wichtigen Bestandteil für den Wiederaufbau ihres Landes. Zerstören
geht schnell, Bauen langsam. Somalia braucht noch
mehr Zeit und wünscht unsere Hilfe. Lassen wir sie nicht
in einer halbfertigen Baustelle stehen.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Vietz war der letzte Redner in dieser
Aussprache, die ich damit schließe.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4203 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Nachdem sich kein
Widerspruch erhebt, gehe ich davon aus, dass Sie alle
damit einverstanden sind und die Überweisung so be-
schlossen ist.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Transparenz herstellen - Einführung eines
verpflichtenden Lobbyistenregisters
Drucksache 18/3842
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Volker Beck ({1}), Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Johannes Singhammer
Transparenz schaffen - Verbindliches Register für Lobbyistinnen und Lobbyisten einführen
Drucksache 18/3920
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Dann können wir auch die Aussprache eröffnen. Ich
erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin
Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
({3})
Recht schönen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen
und Herren! Ich habe vor einiger Zeit, wie vermutlich
auch andere Abgeordnete, eine Einladung von Umweltministerin Barbara Hendricks und Daimler-Chef Dieter
Zetsche bekommen. Unterschrieben hatte ein Herr
Eckart von Klaeden. Das ist der Cheflobbyist von
Daimler. Selbiger war bis zum Herbst vorvergangenen
Jahres Staatsminister im Bundeskanzleramt. An dem besagten Abend sollte es um Elektroautos gehen; das ist ja
auch okay. Diese werden bekanntermaßen mit sehr vielen öffentlichen Fördermitteln subventioniert, aber die
Erfolge bleiben sehr mager. Zeit also für einen guten
Lobbyisten, dafür zu sorgen, dass die Politik nicht etwa
von der Stange geht. Der Storch möchte schließlich seinen Platz vor dem Krötentunnel nicht verlieren.
Jede und jeder von uns kennt das: Uns erreichen in
vielfältigster Form Wünsche, die letztlich direkt oder indirekt politische Entscheidungsprozesse, Gesetze, Programme und Richtlinien beeinflussen sollen. Um den
Bundestag herum gibt es ungefähr 5 000 Lobbyisten.
2 221 Organisationen sind allein in der sogenannten Verbändeliste registriert. Das ist zugegebenermaßen ein
Dschungel, bei dem Abgeordnete schon einen ausgesprochen guten Orientierungssinn brauchen oder, um es
für die Union zu übersetzen, fest im Glauben sein müssen.
({0})
Lobbyismus ist - das will ich als Linke ausdrücklich
sagen - nicht nur Teufelswerk.
({1})
Verbände, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Anwaltskanzleien, PR-Agenturen, sogenannte Denkfabriken und Politikberater
({2})
ringen bei uns fast jede Sitzungswoche gewaltig um
Aufmerksamkeit.
({3})
Freilich geht es dabei auch um Verteilungskämpfe im
Hinblick auf öffentliche Mittel. Insofern werden durch
Politik natürlich auch Interessen umgesetzt. Aber in erster Linie steht Politik in der Verantwortung, für das Gemeinwohl zu sorgen und damit eben auch für Interessenausgleich.
({4})
Da ist es nicht verwunderlich, wenn am Ende auch Widersprüche bleiben.
Grundsätzlich dürfte es nach unser aller Verständnis
von guter Politik dazugehören, dass wir mit Betroffenen
reden, sie zu unseren Anhörungen einladen und die verschiedenen Perspektiven kennenlernen.
Problematisch wird Lobbyismus, wenn er Einzelinteressen unlautere Vorteile verschafft, beispielsweise
durch viel Geld, das in Kampagnen gesteckt wird, oder
durch einen privilegierten Zugang zu Ministerien, insbesondere dann, wenn strategische Planungen anstehen. In
diesen Fällen bestimmen nämlich dann die Vertreter von
Firmen oder Verbänden Problembeschreibungen. Nachdem sie das getan haben, machen sie konkrete Vorschläge zur Lösung dieser Probleme, und sie konzipieren
Gesetzentwürfe und Richtlinien. Schließlich werden
dann Förderprogramme aufgelegt, die für sie maßgeschneidert sind. Das heißt, die Antragstellerinnen und
Antragsteller werden am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das öffentliche Geld bekommen.
Von solchen Vorgängen, beispielsweise im Rahmen
der strategischen Planung, erfahren wir Abgeordnete so
gut wie nie etwas - wie es bei den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen ist, weiß ich nicht genau; aber ich
habe schon gehört, dass es da auch so sein soll -,
({5})
oder wir erfahren viel zu spät etwas. Dann liegt die
Hochglanzbroschüre sozusagen schon vor. Deshalb sagen wir: Transparenz muss oberstes Prinzip sein. Es geht
um Chancengleichheit für alle.
({6})
Die Linke ist für ein verpflichtendes Lobbyistenregister. Es soll durch eine Ombudsstelle beim Bundestag geführt werden. Öffentlich sollen Auftraggeber, Verbände,
Organisationen oder Unternehmen werden. Öffentlich
soll das Finanzbudget werden, und öffentlich soll auch
die Personalausstattung werden. Öffentlich sollen auch
Einflussformen und Ziele werden. Das heißt also, die
Beiträge, die beispielsweise von Lobbyisten zu Gesetzentwürfen oder anderen Vorlagen geleistet wurden, müssen für das Parlament deutlich werden, und zwar bevor
wir diese Gesetze hier behandeln.
({7})
Sobald also Dritten wie beispielsweise Lobbyisten
eine Regierungsvorlage zugeht - zur Kommentierung
oder zu welchem Zweck auch immer -, bedeutet dies
nach unserer Lesart eigentlich, dass der entsprechende
Gesetzentwurf, die Richtlinie oder die Verordnung automatisch auch den anderen im gesellschaftlichen Raum
tätigen Akteuren zugehen muss.
Was ich bemerkenswert finde, ist, dass es nicht wenige Lobbyisten gibt, die mittlerweile sagen: Ja, wir unterstützen ein verpflichtendes Lobbyistenregister. - Das
tun sie vor dem Hintergrund, dass sie es auch als Ausweis ihrer eigenen Seriosität verstehen.
({8})
Ich will noch einmal anfügen: Die bisherige Verbändeliste, die wir beim Bundestag haben, kann all das nicht
leisten. Da stehen nur die Verbände drin, aber wichtige
Zusatzinformationen, etwa über Ressourcen und Aufwendungen, eben nicht; deshalb kann man dann auch gar
nicht richtig einschätzen, was das für ein Verband, was
das für eine Organisation ist.
Insofern muss auch transparent werden, welche Lobbyisten hier im Bundestag Hausausweise bekommen.
Ich muss ehrlich sagen: Ich staune manchmal, wer hier
so alles über die Gänge geistert und dass die Leute dann
auch einen Hausausweis haben.
Schließlich, meine Damen und Herren: Ein Lobbyistenregister ist kein linksavantgardistisches Projekt. In
den USA, in Kanada und auch bei der Europäischen
Union gibt es ein solches Lobbyistenregister, und die Interessenvertreter müssen sich dort eintragen.
Linke, Bündnisgrüne und SPD setzen sich seit langem
für ein solches verpflichtendes Lobbyistenregister ein.
Nur die Union und die gottselige FDP haben sich nie
dazu durchringen können. Aber wir haben jetzt eine
neue Chance. Es geht nämlich hier essenziell um Glaubwürdigkeit von Politik, es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Dafür müssen wir aktiv etwas tun.
({9})
Schließlich gibt uns Transparenz natürlich auch die
Möglichkeit, viel mehr Informationen in unsere Gesetzesberatungen, in unsere Ausschusssitzungen und dergleichen aufzunehmen, und dann versetzt es uns auch in
die Lage, Entscheidungen insgesamt gerechter zu fällen.
Danke schön.
({10})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Bernhard
Kaster.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! 2008, 2009, dann 2011
({0})
und jetzt 2015: Da sind sie wieder, die Anträge zum
Lobbyistenregister.
({1})
Man kann festhalten: Ihre Wiedervorlage für alte Hüte
funktioniert.
({2})
Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Transparenz
im Deutschen Bundestag ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Wenn dennoch in der Öffentlichkeit gelegentlich der Eindruck aufkommt, in der Gesetzgebung würden Interessen einseitig gegenüber anderen Interessen
bevorzugt oder die unterschiedlichen Interessen nicht
richtig abgewogen, müssen wir darüber debattieren und
darauf reagieren.
({3})
Wir müssen dann aber auch ehrlich und fair zu uns selber sein: Es macht doch keinen Sinn, ständig mit beliebten politischen Kampfbegriffen umzugehen, dabei bewusst die tatsächlichen parlamentarischen Abläufe ganz
auszublenden,
({4})
dann populistisch einen klassischen Schaufensterantrag
zu stellen
({5})
und diesen wiederholt vorzulegen. Klassische Schaufensteranträge sind das, wider besseres Wissen!
({6})
Ein paar Fakten: Erstens. Seit 1972 besteht auf der
Grundlage der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ein bis heute fortgeführtes und immer wieder
aktualisiertes Lobbyistenregister. Dort werden aktuell
von rund 2 000 Verbänden die Namen, die Zusammensetzung von Vorstand und Geschäftsführung, der Interessenbereich, die Mitgliederzahl, die Namen aller Verbandsvertreterinnen und Verbandsvertreter, die Anschriften etc.
geführt. Die Eintragung im Lobbyistenregister ist beispielsweise auch zwingende Voraussetzung für die Teilnahme an Anhörungen. Das ist das, was wir hier im
Deutschen Bundestag praktizieren.
Es ist für uns überhaupt kein Problem - da kann der
Antrag der Grünen durchaus eine Basis sein -, über
mögliche Zusatzangaben oder Weiterungen zu diskutieren, soweit nicht andere Schutzbereiche berührt werden
wie beispielsweise das informationelle Selbstbestimmungsrecht, die Berufsfreiheit oder die Koalitionsfrei8996
heit nach unserem Grundgesetz. Das war aber immer das
Problem der Vorschläge, die Sie hier unterbreitet haben.
({7})
Zweiter Fakt: Interessenvertretung gehört zum Wesen
der parlamentarischen Demokratie. Interessenvertretung
ist für jeden Abgeordneten Hauptwesensmerkmal seiner
Tätigkeit. Das fängt bei den Interessen und Wünschen
aus dem Wahlkreis an. Aber bei Ihren Anträgen lassen
Sie immer den Eindruck aufkommen, Sie möchten gerne
unterscheiden zwischen guten Interessen und bösen Interessen.
({8})
Oder, wie es einmal in der Kommentierung einer großen
Zeitung formuliert war: Böse Interessenvertreter nennt
man Lobbyisten, gute Interessenvertreter nennt man
Nichtregierungsorganisationen.
({9})
Fakt Nummer drei, den ich gerne in diese Debatte einbringen möchte: Mir fällt kein anderes Parlament ein,
das so sehr auf Transparenz und Öffentlichkeit achtet
wie der Deutsche Bundestag. Die öffentlichen, kontroversen Debatten zu wirklich fast jedem Gesetz beweisen
das doch. Kaum ein Gesetz wird ohne öffentliche Anhörung unterschiedlichster Interessenvertreter beschlossen;
und die Durchführung einer Anhörung ist im Übrigen,
wie so vieles im Deutschen Bundestag, ein Minderheitenrecht.
({10})
Allein am vergangenen Montag fanden hier im Bundestag sechs öffentliche Anhörungen statt.
({11})
Bei diesen Anhörungen wurden zwischen drei und elf
Sachverständige gehört, wie Verbrauchervertreter, Vertreter des Deutschen Städtetages und vom Deutschen
Gewerkschaftsbund oder, um Beispielsfälle aus dem
Verbandsregister zu nennen, der Geschäftsführer von
Ärzte ohne Grenzen und andere mehr. Insgesamt wurden
zu den Anhörungen allein am vergangenen Montag
51 Sachverständige der verschiedensten Institutionen
- also auch Interessenvertreter - geladen. Diese Anhörungen sind öffentlich, und das gilt nicht nur für die Anhörungen als solche, sondern auch für die Protokolle und
die eingereichten Stellungnahmen. Alles wird ins Netz
gestellt und ist öffentlich.
({12})
- Auf das Thema komme ich auch noch.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, über all dies und
darüber, wie wir Öffentlichkeit noch weiter perfektionieren können, lässt sich noch weiter streiten. Was aber
nicht geht - und das finde ich auch beschämend -, ist,
dass solche Anträge, wie beispielsweise der von den
Grünen heute, so begründet werden - es geht um einen
Antrag im Deutschen Bundestag -, dass man schreibt,
die „Durchsetzung von Interessen“ gehe „mit illegitimen
Vorteilen oder Geldzahlungen“ einher. „Korruption,
Klüngelwirtschaft und undurchsichtige Mauscheleien
beschädigen die demokratischen Institutionen und zerstören das Vertrauen in die Politik.“ Sie wissen ganz genau, dass das im Deutschen Bundestag nicht so ist. Wider besseres Wissen sollten wir, auch wenn es um die
Begründung eines solchen Antrags geht, so nicht über
unser Parlament sprechen. Wir sollten stolz darauf sein,
welche Kultur wir im Deutschen Bundestag haben und
wie auch dieses Thema hier behandelt wird.
({13})
Im Übrigen hat diese Koalition erst im vergangenen
Jahr zusätzlich zu der schon im Strafgesetzbuch verankerten Strafbarkeit des Stimmenkaufs die Abgeordnetenbestechung ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Das war
im vergangenen Jahr.
({14})
Vollkommen irreführend und an der Wirklichkeit vorbei gehen aber auch die Passagen - Sie haben sie eben
erwähnt -, mit denen Sie tatsächlich den Eindruck erwecken wollen, dass sich per Register oder Ausweisregime
die einzelnen Gesprächspartner der Abgeordneten - vom
Besucher aus dem Wahlkreis bis zum Verbandsvertreter bestimmen ließen. Jeder Abgeordnete - das gehört zum
Wesen eines freien Abgeordneten und eines freien Parlamentes - muss zu jedem Zeitpunkt und egal an welchem
Ort Gespräche führen dürfen und können, und zwar mit
wem und über was er will. Das muss die Grundlage der
Tätigkeit eines einzelnen Abgeordneten sein und bleiben.
({15})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anführen,
bei dem wir Ihnen im Grundsatz zustimmen: Unsere
Ministerien und die Bundesregierung müssen immer so
viel unabhängige Fachkompetenz selbst vorhalten, dass
die Gesetzgebungsarbeit alleine dort vorbereitet wird.
Der wünschenswerte Austausch zwischen Wirtschaft
und Politik sowie zwischen Politik und Wirtschaft darf
natürlich nicht so weit getrieben werden, dass man zu
missverständlichen Auslegungen gelangt.
({16})
Zum Schluss erlaube ich mir, wie Sie mit Ihrem ganzen Antrag, auch eine Wiederholung, und zwar die Wiederholung eines Zitates unseres Bundestagspräsidenten
aus einer Rede in der Dresdner Frauenkirche. Das
Thema war: „Interessen gegen Gemeinwohl - Gerechtigkeit in der Politik“. Es ging darum, dass die meisten
Menschen mit der Wahrnehmung von Interessen - auch
in organisierter Form - kein Problem haben - jetzt
kommt das wörtliche Zitat -,
wenn es sich um ihre
- das heißt, die eigenen Interessen handelt, während dann, wenn eigene Interessen mit anderen kollidieren, die ärgerlicherweise auch noch organisiert vertreten werden, sich
beinahe reflexhaft Empörung einstellt.
Das Zitat geht weiter:
Und die inzwischen handelsübliche Form der
Empörung ist heutzutage mit dem Begriff „Lobbyismus“ verbunden.
Ende des Zitates und auch Ende meiner Rede.
Ich bedanke mich.
({17})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Herr Kaster, die Tatsache, dass
wir diesen Antrag 2007, 2008 und 2011, damals noch
gemeinsam mit der SPD - ich bin auf die Redebeiträge
der Kolleginnen und Kollegen von der SPD gespannt
und darauf, ob sie sich noch daran erinnern, dass auch
sie für die Einführung eines Lobbyregisters waren und
dazu sogar einen Gesetzentwurf eingebracht haben -,
schon einmal in den Bundestag eingebracht haben, zeigt
doch nur, wie wichtig und notwendig das ist.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso Sie diese
Forderung als alten Hut oder als Wiederholungsklamotte
abtun. Die Einführung eines Lobbyregisters ist eine ganz
zentrale Maßnahme im Sinne der Transparenz, die hier
im Deutschen Bundestag gelten sollte. Das sollte eine
Selbstverständlichkeit sein; denn Transparenz bedeutet
für unser Parlament einen Schutz; denn so ist Nachvollziehbarkeit gewährleistet. Diese Pflicht, mit Informationen offen umzugehen, zu der wir uns verpflichten, gilt
dann auch für Unternehmen, für Verbände, für Institutionen, für die Kirchen, für Gewerkschaften. Insgesamt
profitieren wir alle gemeinsam davon. Das sollte Ihnen
endlich einmal klar sein.
({0})
Die Tatsache, dass wir diesen Antrag auch 2015 einbringen, ist dem Umstand geschuldet, dass wir Sie von
der Unionsfraktion bisher leider nicht davon überzeugen
konnten, die gute Praxis im Zuge von Gesetzgebungsverfahren des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, der Parlamente Kanadas und der
USA zu übernehmen. Sie alle verfügen über ein solches
Lobbyregister, weil sie wissen, dass sowohl Politik als
auch Parlament, Regierung, NGOs und Verbände davon
etwas haben.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger könnten dann nämlich klar
nachvollziehen: Wer wirkt auf die eine oder andere Art
an der Gesetzgebung mit?
Es geht auch nicht darum, zu sagen: Wir diskreditieren die einen, erklären aber die anderen zu guten Verbänden oder Organisationen. - Das hat niemand gemacht.
Es ist nur so, dass wir immer wieder mit dem Thema der
unlauteren Beeinflussung konfrontiert werden. Auch das
Thema Korruption kann man in diesem Kontext des Zusammenspiels von Politik, Wirtschaft und Dritten ruhig
einmal erwähnen. Es ist doch nichts Schlimmes, das auszusprechen.
({2})
Deshalb werbe ich doch so sehr für ein Register. Es
würde uns nämlich allen nützen. Wir haben im Moment
einfach keine klaren Regelungen.
Selbstverständlich haben wir die Verbändeliste. Aber
denken Sie doch an die Auseinandersetzung, die wir gerade über die Hausausweise führen. Wer bekommt einen
Hausausweis? Diejenigen, die in der Verbändeliste stehen. Aber was ist mit den Hausausweisen, die wir über
die Fraktionen ausstellen? Da läuft im Moment sogar
eine Klage gegen den Deutschen Bundestag. Das ist
doch ein Problem.
Wir müssen immer wieder erfragen: Welche Verbände, welche Unternehmen haben an Gesetzgebungsverfahren mitgewirkt, und zwar in welchem Stadium?
Natürlich muss die Arbeit der Gesetzgebung eigentlich
von den Ministerien geleistet werden. Aber Sie wissen
genauso gut wie ich, dass das nicht immer der Fall ist.
Wir müssen jedes Mal wieder nachfragen: Wer hat an
welchen Gesetzen mitgewirkt? Welche Externen waren
daran beteiligt? - Diese Fragen könnten wir uns allen
und den Bürgerinnen und Bürgern mit der Einführung
eines solchen verbindlichen Registers ersparen.
Wir wollen keine Misstrauenskultur. Wir wollen
durch Transparenz einfach offenlegen: Es ist normal und
eine legitime Interessenvertretung, wenn Lobbyisten aktiv werden und wenn Verbände und NGOs für ihre Sache
werben. Wir müssen dies nur nachvollziehen können
und für die Leute transparent machen.
({3})
Das gilt dann für den Gewerkschaftsbund genauso wie
für die Autoindustrie, wie für die Pharmalobby, wie für
die Naturschutzverbände oder wie für den Bundesverband Erneuerbare Energien. Kein Mensch bei uns in der
Fraktion - das ist eine massive Unterstellung - würde sagen: Das eine ist ein guter Verband, das andere ist ein
schlechter Verband. Ein solches Lobbyregister würde für
alle gelten.
({4})
Ich frage mich: Warum verstehen wir als Parlament
und Regierung nicht, dass es in unser aller Interesse sein
könnte, ein solches Register endlich verbindlich einzuführen und uns damit an der Europäischen Kommission
und der Praxis in Brüssel ein Beispiel zu nehmen? Das,
was sie dort mit dem Transparenzregister machen, ist
doch gut.
({5})
Lassen Sie uns deshalb über die wichtigen und guten
Argumente in diesem Kontext diskutieren und ins Verfahren gehen.
({6})
Vielen Dank. - Für die SPD spricht jetzt die Kollegin
Sonja Steffen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne!
Brauchen wir in Deutschland ein verpflichtendes Lobbyistenregister? Wir beraten heute zwei entsprechende Anträge der Opposition, und ich sage es Ihnen gleich: Es
sind gute Anträge, Frau Haßelmann und Frau Sitte. Denn
die SPD-Fraktion - das haben wir vorhin schon gehört hat in der 17. Wahlperiode, also in der letzten Wahlperiode, einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem
die Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters gefordert wurde. Damals war es die schwarz-gelbe
Regierung, die diesem Antrag nicht gefolgt ist, sodass
wir dafür keine Mehrheit bekommen konnten.
Die Forderung ist nach wie vor aktuell. Ich teile auch
in dem Punkt Ihre Meinung: Es handelt sich nicht um einen alten Hut. Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Ich bin Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses.
In diesem Ausschuss hat man nicht so viel mit Verbänden und Beratern zu tun. Aber ich bin auch Mitglied des
Haushaltsausschusses, in dem ich für die Entwicklungszusammenarbeit zuständig bin. Wir haben heute schon
viel über NGOs und verschiedene Verbände gehört.
Aber um ein praktisches Beispiel zu nennen: Ich hatte
gestern Besuch von der Hilfsorganisation Ärzte ohne
Grenzen. Heute habe ich mich mit Vertretern von
Misereor getroffen. Diese Gespräche - ich glaube, das
sehen Sie alle in Ihrem jeweiligen Geschäftsbereich genauso - sind für mich sehr wichtig. Niemand in diesem
Saal wird ernsthaft behaupten wollen, dass dieser Austausch einen unseriösen Charakter hätte.
({0})
Im Gegenteil: Wir brauchen diese Informationen, um
Interessen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen.
Denn, Frau Sitte, wir sind keine Lämmer, die sich von
Verbänden, NGOs und Politikberatern die Gesetze vorschreiben lassen.
({1})
Wir haben bereits das Verbänderegister. Das ist heute
schon öfter angesprochen worden. Schon seit 1972 gibt
es eine öffentliche Liste, in der sich die Verbände eintragen. Aber zum einen werden in dieses Register nur Verbände aufgenommen. Das heißt, in diesem Register sind
keine Kommunikationsagenturen aufgeführt, und darin
sind auch keine Anwaltskanzleien zu finden. Zum anderen ist die Aufnahme in das Verbänderegister freiwillig.
Man muss die Aufnahme von sich aus beantragen. Deshalb, meine ich, reicht das Verbänderegister nicht aus.
({2})
Es ist in der Tat richtig: Auf europäischer Ebene ist
man schon viel weiter. Ich finde, das ist ein ganz entscheidendes Argument. Es gibt dort ein neues Transparenzregister. Ich empfehle allen einen Blick auf das Onlineportal. Das ist wirklich gut aufgebaut und sehr
transparent - so wie es sein muss. Inzwischen haben sich
dort schon 8 000 Organisationen eingetragen. Es werden
jeden Tag mehr. Man kann das gut verfolgen.
Gleich auf der ersten Seite des Portals werden drei
Kernfragen aufgeworfen, die in diesem Zusammenhang
entscheidend sind. Erstens soll deutlich werden: Welche
Interessen werden verfolgt? Zweitens: Wer verfolgt
diese Interessen? Und drittens: Wer bezahlt dafür?
Das Register ist zudem mit einem Verhaltenskodex
und mit Sanktionen im Falle von Verstößen gegen den
Kodex verknüpft.
Es gibt noch ein Manko; aber ich habe den Eindruck,
dass man in Brüssel darüber aktuell sehr viel und laut
diskutiert. Das Manko ist, dass zurzeit die Eintragung
noch freiwillig ist. Ich bin jedenfalls froh, dass wir jetzt
auch im Deutschen Bundestag darüber debattieren. Ich
glaube, es ist wirklich an der Zeit.
({3})
Schauen wir einmal in die Bundesländer: Es gibt inzwischen drei Bundesländer, die so etwas haben, nämlich Brandenburg, Rheinland-Pfalz - sie sind noch nicht
so weit, wie wir es gerne hätten, aber inzwischen auf einem guten Weg - und Sachsen-Anhalt, das meines Wissens sogar schon ganz weit vorne liegt.
Und was sagen Meinungsumfragen bei den NGOs
und den Politikberatern selbst, zum Beispiel im Tagesspiegel vom November 2014? Die Politikberater selber
sagen, dass sie ein solches Register befürworten. Seriöse
Politikberater scheuen kein Register, weil es die Transparenz ihrer Arbeit betont und den Ruf der Interessenvertreter in der Öffentlichkeit nur verbessern kann. AuSonja Steffen
ßerdem hilft es uns Politikern, zu erkennen, welcher
Auftraggeber hinter einem Lobbyisten steckt. Denn wer
von uns hatte nicht schon einmal eine Gesprächsanfrage
von Beratern, von denen er nicht genau wusste, wer der
Auftraggeber ist?
Was am wichtigsten ist - das wurde heute noch nicht
angesprochen -: Unsere Bürgerinnen und Bürger haben
ein berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, welchen
Einflüssen die Gesetzgebung unterliegt. „Mehr Demokratie wagen“ ist ein sehr berühmter Satz von Willy
Brandt, ein Satz, den wir uns alle auf die Fahne schreiben sollten, gerade in Zeiten der Politikverdrossenheit.
Ich meine - ich glaube, meine Fraktion steht dabei hinter
mir -, dass wir durch ein verbindliches Lobbyregister
dazu beitragen können, dem Vorwurf der Hinterzimmerklüngelei entgegenzutreten. Ein Lobbyregister macht
nämlich nur Sinn, wenn es verpflichtend ist, und zwar
für alle. Das treibt die schwarzen Schafe vom Markt und
beugt Misstrauen vor.
({4})
Ich will noch einmal betonen: Lobbyarbeit ist kein
Teufelswerk. Sie ist gut und richtig, weil sie uns, dem
Gesetzgeber, eine Informationsbreite verschafft. Deshalb
gehört Lobbyarbeit nicht in die Schmuddelecke. Wir
können mit einem verbindlichen Lobbyregister viel dazu
beitragen. Man muss sicherlich nicht alles von den USA
übernehmen, aber in Sachen Lobbyregister ist man uns
dort weit voraus; denn dort gibt es ein verpflichtendes
Lobbyregister schon seit langem.
Die SPD-Fraktion verschließt sich Ihren Anträgen
nicht, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition; denn die SPD-Fraktion steht für transparentes politisches Handeln. Nach den gesetzlichen Regelungen zur
Abgeordnetenbestechung - darauf hat der Kollege
Kaster schon hingewiesen - und zu den Karenzzeiten für
politische Akteure nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik ist es ein konsequenter Weg - vor allem ist es
dafür an der Zeit -, ein verbindliches Lobbyregister einzuführen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir die Kollegen von der Union an dieser Stelle bewegen können.
Herr Kaster, Sie haben vorhin vorsichtig formuliert, dass
Sie für den einen oder anderen Vorschlag offen sind.
Lassen Sie uns in eine offene Diskussion einsteigen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Gegenstand von Politik sind Interessen. Die
Politik muss mit Interessen umgehen. Organisierte Interessenwahrnehmung, auch Lobbyismus genannt, gehört
selbstverständlich zur parlamentarischen Demokratie.
Einflussnahme von Interessengruppen auf den politischen Diskurs ist also legitim, bedarf aber der Transparenz und der Korrektur, und zwar durch uns Parlamentarier. Wir sind die Vertreter des ganzen Volkes. Wir sind
die Vertreter des Gemeinwohls.
In unserem lernenden System der parlamentarischen
Demokratie brauchen wir das Gespräch mit Interessenvertretern bzw. Lobbyisten. Wir brauchen Expertenanhörungen und Veranstaltungen, auf denen wir uns den
Sachverstand herbeiholen, den wir nicht haben können.
Aber nur bei uneigennütziger Gewichtung verschiedenster Partikularinteressen wird das Gemeinwohl zum Gesetz. Nicht immer spiegelt die parlamentarische Wirklichkeit dieses Ideal wider; das wissen wir alle nur zu
gut.
Die größte Gefahr geht nicht - das ist der Grund, warum wir Ihre Anträge ablehnen - von der Zahl der Lobbyisten aus, sondern sie liegt in der Struktur der Einflussnahme auf die politische Entscheidungsfindung. Ich
nenne als Beispiele die Bildung von Kommissionen sowie die Einrichtung von Räten und Sachverständigengremien mit Sitz selbst in den Ministerien. Wenn die Ergebnisse der Beratungen solcher Kommissionen vom
Parlament eins zu eins umgesetzt werden - das alles gab
es schon; ich erinnere nur an die Hartz-IV-Gesetzgebung -,
dann wird das Parlament auf eine bloße Ratifikationsinstanz reduziert.
Wenn also in hochkomplexen Entscheidungen, die
wir ja immer wieder zu treffen haben, der Aktionismus
der Politik uns auch noch zu raschem Handeln zwingt
und wir die Dinge gar nicht prüfen können, wenn zur
Unterstützung des Parlaments von Spezialisten fertig
ausgearbeitete Gesetze uns auch noch als alternativlos
präsentiert und sie zur Abstimmung gestellt werden, spätestens dann sind wir weit entfernt von einer parlamentarischen Demokratie, wie sie sein sollte.
({0})
Lassen Sie mich jetzt zu den Lösungen kommen, die
die Grünen und die die Linken anbieten. Die Lösung für
beide Fraktionen sei - auch die Kollegin von der SPD
hat mit dieser Idee geliebäugelt - ein strafbewehrtes
Lobbyistenregister, ein verpflichtendes Lobbyistenregister - ein ungeheures bürokratisches Monstrum, in dem
alles über Lobbyisten und Lobbyismus stehen muss:
({1})
der Name und die Adresse des Lobbyisten, sein Arbeitgeber und sein Gehalt, der Betrag, den seine Firma für
Lobbyarbeit ausgibt, seine Gesprächspartner, seine Gesprächsthemen von morgens bis abends. Dies alles muss
natürlich alle drei Monate von der Bundestagsverwaltung auf den neuesten Stand gebracht und ins Internet
gestellt werden. Meine Damen und Herren, da kann Datenschutz selbstverständlich nur noch stören. Es geht ja
um den Kampf gegen Lobbyismus. Der Zweck heiligt
hier jedes Mittel. Es fehlt nur noch, dass Sie jedem Lobbyisten ein „L“ auf die Stirn tätowieren wollen. Das
wäre vielleicht noch eine Bereicherung.
({2})
- Überhaupt nicht.
({3})
- Aber nur wenn sie von ihrem Vorschlag abrückt.
Diese Anträge sind ein hilfloser oppositioneller Aktionismus. Diese Anträge lehnen wir ab, weil sie keinen
Lösungsbeitrag leisten. Wir lehnen sie nicht ab, weil wir
das Problem leugnen. Das Problem ist natürlich vorhanden, dass Lobbyisten ungerechtfertigten Einfluss auf unsere Arbeit nehmen können. Wir meinen aber, mit einer
Stigmatisierung dieser Menschen, die ja unsere Gesprächspartner sind und sein müssen, durch ein solches
Register tragen wir nicht bei zu einer Lösung des Problems.
Nein, meine Damen und Herren, die Lösung liegt
nicht darin, dass wir diese Menschen, die man Lobbyisten nennt, kujonieren. Die Lösung liegt bei uns Parlamentariern.
({4})
Denn es ist unsere Aufgabe, mit dem, was uns als Partikularinteressen angeboten wird, richtig umzugehen,
diese Interessen zu gewichten, sie zu bewerten und mit
anderen, vielleicht widersprechenden oder widerstreitenden Partikularinteressen zu vergleichen und aus diesem
gesamten Strauß von Interessen eine Politik zu machen,
die dem Gemeinwohl dient, die den sozialen Frieden erhält,
({5})
und diese Politik dann zum Gesetz werden zu lassen.
Das ist die Arbeit des Parlamentariers und dafür werden wir gewählt. Dafür werden wir bezahlt. Wir müssen
dafür arbeiten, dass wir das Vertrauen der Bevölkerung
in unsere Arbeit erhalten können.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. - Abschließende Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Katarina
Barley, SPD.
({0})
Ganz herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als
abschließende Rednerin kann ich feststellen, dass wir
uns in einigen Punkten einig sind, nämlich dass in unserer politischen Kultur die Vertretung von unterschiedlichen Interessen gut und richtig ist, dass wir auch darauf
angewiesen sind, weil wir hier nicht in einem politischen
Elfenbeinturm leben können und wollen, dass die Kontakte, die wir haben, Ausdruck einer funktionierenden
Verbindung zwischen Staat, Politik und Zivilgesellschaft
sind. Das wollen wir auch nicht ändern. Ich glaube, das
will keiner von uns. Es ist unsere originäre Aufgabe, die
verschiedenen Interessen aus dem Wahlkreis aufzunehmen und zu bündeln. Da stimme ich mit dem Kollegen
Kaster absolut überein; schließlich vertreten wir die Interessen desselben Wahlkreises.
({0})
- Ja, wir sind uns in diesem Punkt sehr einig.
Wir haben auch festgestellt, dass dann, wenn von
Lobbyisten die Rede ist, viele Menschen eine unterschiedliche Auffassung haben, was darunter zu verstehen ist: Das sind die multinationalen Großkonzerne. Das
sind Menschen mit viel Geld im Rücken. - Wir sind uns
einig, dass es so nicht ist, sondern dass es auch NGOs,
gemeinnützige Vereine, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände sind. Alle diese sind Lobbyisten, und alle diese
gehören auch nach meiner Auffassung in ein Lobbyistenregister.
({1})
Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die
Vertretung der Interessen sich in den letzten Jahren zu einem eigenen Wirtschaftszweig gemausert hat, dass zusätzlich zu dem Kreis der Personen, die ein eigenes Interesse haben, auch ein immer größer werdendes Heer von
Anwälten, Agenturen, Kanzleien und PR-Vertretungen
Lobbyismus betreibt, teilweise mit einem gewaltigen finanziellen Budget im Hintergrund. Wir müssen gleichzeitig feststellen, dass mehr und mehr Menschen ein ungutes Gefühl beschleicht, weil politische Prozesse für sie
nicht mehr nachvollziehbar sind. Manche stellen dann
schon das gesamte politische System und die Demokratie infrage. Ich glaube, wir alle führen in unseren Wahlkreisen Diskussionen über CETA und TTIP. Da wird das
ganz besonders deutlich.
Dieses wachsende Bedürfnis müssen wir ernst nehmen. Da hat sich seit 1972, als eine - natürlich - sozialdemokratisch geführte Regierung das bestehende Lobbyregister eingeführt hat, einiges verändert. Dem
müssen wir uns stellen.
({2})
Dafür haben wir in dieser Legislaturperiode auch
schon einiges getan. Wir hätten gern noch mehr getan,
aber wir haben ja auch noch ein bisschen Zeit. Es ist
schon erwähnt worden: Den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung haben wir neu geregelt und verschärft. Die Offenlegungspflichten für Nebentätigkeiten
und Nebenverdienste von Abgeordneten wurden ausgeweitet. Eine Karenzzeitregelung für den Wechsel von
Politikern in die Wirtschaft wurde eingeführt.
({3})
- Ich sage ja: Wir sind auf dem Weg.
Ein Lobbyregister wäre jetzt ein weiterer Baustein.
Wir unterstützen deshalb die Forderung nach einem verpflichtenden Lobbyregister. Meine Kollegin Sonja
Steffen hat es schon gesagt: Da haben wir bei den Freunden von der Union noch ein dickes Brett zu bohren. Ich
möchte den Appell wiederholen. Ich glaube, dass ein
Lobbyregister uns allen dabei helfen würde, diesen wabernden Mythos „Lobbyismus“ ein Stück weit zu entzaubern.
({4})
Wenn wir den Menschen deutlich machen und offenlegen, was sich dahinter verbirgt - wie ich eingangs
sagte, sind das nicht nur die multinationalen Großkonzerne und die Konzerne mit ganz viel Geld im Rücken,
sondern dazu gehören auch ganz viele Verbände, gemeinnützige Organisationen und Menschen, zu denen
wir alle Vertrauen haben -, dann würde dieser Kampfbegriff „Lobbyismus“ vielleicht auch ein wenig an Kraft
verlieren.
Aber uns ist auch klar: Ein Lobbyregister kann nur
mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit beschlossen werden. Wir brauchen da ein kräftiges Zeichen des
Bundestages. Deswegen müssen wir noch ein bisschen
werbend tätig werden.
An die Adresse der Linken und vor allen Dingen der
Grünen möchte ich nur noch sagen: Ich würde vor übersteigerten Erwartungen an ein Lobbyregister warnen. In
der Einleitung zu dem Antrag steht sinngemäß: Dadurch
können wir Waffengleichheit und vollständige Transparenz herstellen. - Ich wäre da vorsichtig. Ich glaube, es
ist ein Schritt, ein Baustein. Aber ein Lobbyregister wird
die Versuche der unlauteren Einflussnahme auf die Politik nicht verhindern. Es wird auch nicht für ein Gleichgewicht bei den finanziellen Möglichkeiten der Interessenvertretungen sorgen.
Wie wir einen fairen Zugang unterschiedlicher Interessen zum Gesetzgebungsprozess gewährleisten, bleibt
am Ende vor allen Dingen, glaube ich, eine Frage der
Haltung, und zwar unserer ganz persönlichen Haltung.
Wir als Abgeordnete müssen durch unser Handeln sowohl hier im Hohen Hause als auch in den Wahlkreisen
deutlich machen, dass wir unsere Aufgabe sehr ernst
nehmen, dass wir alle Interessen aufnehmen und abwägen. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nur
jeder selber arbeiten.
Vielen Dank.
({5})
Danke schön. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3842 und 18/3920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind, weil
sich kein Widerspruch erhebt. Dann sind die Überweisungen auch so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 11, den
ich hiermit aufrufe:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
Drucksache 18/4202
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe,
dass Sie alle damit einverstanden sind. Dann ist das auch
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Bundesregierung dem Parlamentarischen
Staatssekretär Enak Ferlemann das Wort.
({1})
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sie alle kennen die Bilder, die zeigten,
wie circa 80 nicht zugelassene Züge vor Berlin standen.
Sie alle kennen die Szenarien, dass viele andere Zulassungen bei vielen Bahnprodukten nicht pünktlich erteilt
wurden, sodass man in ganz Deutschland, vor allem im
Bereich des Nahverkehrs, sehnsüchtig auf die neuen
Züge wartete. Die DB wartete außerdem auf die Zulassung von Zügen, die im Fernverkehrsbetrieb gebraucht
wurden.
Woraus resultierte das? Die Industrie sagte: Andauernd ändern sich die Richtlinien, die Regeln, sodass wir
immer wieder neu nacharbeiten müssen. - Die Genehmigungsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt, führte aus,
dass die Industrie die Leistung nicht immer so erbringe,
wie sie das Eisenbahn-Bundesamt nach den aktuellen
Richtlinien verlangen müsse. Die Bundesregierung war
unzufrieden, weil das ganze System nicht vernünftig lief.
Die Bahnbetreiber waren letztlich auch unzufrieden,
weil sie nicht rechtzeitig das Wagenmaterial, das ihnen
eigentlich schon zugesagt worden war, auf die Gleise bekommen konnten. Leidtragende waren am Ende auch die
Reisenden, die mit älterem oder nicht ausreichendem
Wagenmaterial fahren mussten. All das hatte zur Folge,
dass die Qualität und die Zugfolge nicht dem entsprachen, was man eigentlich erwartet hatte. Das war ein
sehr unbefriedigender Zustand.
Daraufhin hat das Bundesverkehrsministerium die
Initiative ergriffen, alle Beteiligten an einen Tisch geholt
und versucht, die Frage zu beantworten, was in diesem
Sektor falsch läuft. Wir haben uns sehr an der Flugzeugindustrie orientiert, die es ja im Grunde genommen mit
einem ähnlich komplexen System zu tun und ähnliche
Probleme zu lösen hat, und haben gefragt: Wie läuft da
das Zulassungsverfahren?
So haben wir uns nach und nach mit allen Beteiligten
darauf verständigen können, wie wir diese Zulassung
vereinfachen und beschleunigen können. Dabei ist als
Ergebnis eine freiwillige Vereinbarung zwischen allen
Beteiligten herausgekommen, nach der wir jetzt schon
seit einiger Zeit sehr erfolgreich arbeiten. Sie werden
keine Bilder mehr von nicht zugelassenen Zügen sehen,
die irgendwo in den Hangars stehen, und nichts mehr
von großen Problemen hören, die es gab, als das Wagenmaterial nicht rechtzeitig auf die Strecke kam.
Diese freiwillige Vereinbarung, nach der wir jetzt
schon arbeiten, wollen wir aber in eine dauerhafte Lösung gießen, in ein Gesetz. Das legen wir Ihnen heute als
Entwurf vor. Ich glaube, es ist ein sehr gelungener Entwurf. Was ist der Kern? Der Kern ist, dass nach wie vor
kein Zug zugelassen wird ohne Genehmigung durch das
Eisenbahn-Bundesamt. Mich hat es sehr gestört, dass das
Eisenbahn-Bundesamt in der Diskussion vor Jahren immer als eine verstaubte Behörde in die Ecke gestellt
wurde, die die Probleme nicht in den Griff bekommt und
es gar nicht kann. Das ist falsch. Wir haben ein sehr gut
aufgestelltes Eisenbahn-Bundesamt, dessen Mitarbeiter
aber nun einmal nach den Richtlinien und Regularien
des öffentlichen Dienstes arbeiten müssen. Man kann
den Kolleginnen und Kollegen dort nur sehr dankbar
sein für den guten Job, den sie unter den Bedingungen,
wie sie nun einmal sind, machen.
({0})
Aber wir haben Beschleunigungselemente evaluiert
und haben gesagt - ähnlich wie es in anderen Bereichen
auch ist -: Lasst doch private Prüfer zum Zuge kommen,
die vielleicht flexibler und schneller bestimmte Teile
prüfen können. So können wir der Industrie die Möglichkeit geben, schneller die Prüfverfahren durchlaufen
zu können. Deswegen legen wir in diesem Gesetz fest,
dass das Eisenbahn-Bundesamt alle Prüfer aus dem privaten Bereich zertifizieren muss, bevor diese dann ihre
Prüfungen durchführen. Daran schließt sich die Endprüfung durch das Eisenbahn-Bundesamt an, die notwendig
ist, um einen Zug zulassen zu können. Ich glaube, das ist
ein sehr gutes und effizientes Verfahren.
Mit diesem Gesetz legen wir die Grundlage, dass wir
in Zukunft in Deutschland, so wie wir es jetzt schon seit
einigen Monaten praktizieren, schnelle Zulassungsverfahren haben, um der Industrie Sicherheit zu geben, um
aber auch den Passagieren, den Menschen, die mit den
Zügen fahren, Sicherheit zu geben, und vor allem, um
diese Züge schneller auf die Strecke zu bekommen.
Mit diesem Gesetz regeln wir auch eine Entbürokratisierung im Bereich der Werkstätten. Bei den Werkstätten
haben wir festgestellt, dass wir die Regulierung so, wie
wir sie haben, nicht brauchen, weil wir einen Markt vorfinden, auf dem Konkurrenz herrscht, sodass wir ihn
durch Regulierung nicht künstlich abbilden müssen und
diesen Sektor sozusagen in die Freiheit entlassen können. Es ist eine gute Lösung, dass wir in diesem Bereich
zu einer Entbürokratisierung kommen.
Ich glaube, dass unsere Vorschläge für diesen Sektor
sinnvoll sind, und hoffe auf zügige Beratung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die
Kollegin Sabine Leidig.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das Problem haben wir gerade schon gehört: lange Zulassungszeiten für Schienenfahrzeuge. Dass das Problem
schon weitgehend gelöst ist, haben wir ebenfalls gehört.
Da es unterschiedliche Schuldzuweisungen gibt, möchte
ich feststellen: Die Bahnindustrie sagt, das EisenbahnBundesamt sei schuld. Das Eisenbahn-Bundesamt erklärt, dass die Prüfunterlagen der Bahnunternehmen oft
nicht rechtzeitig vorliegen, nicht vollständig sind oder in
sich nicht schlüssig sind, und bemängelt außerdem, dass
nicht genug Personal vorhanden ist, um schnell zu prüfen, wie es verlangt wird.
Ich glaube, dass es ein noch tieferes Problem gibt, das
ein bisschen aus den Augen geraten ist. In früheren Zeiten gab es eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen der
Bahnindustrie und der - damals noch - Deutschen Bundesbahn. Diese Zusammenarbeit bot ausreichend Zeit
für lange Testphasen, in denen neue Züge auf der
Schiene, also in der Praxis, ausprobiert wurden. Man hat
gemeinsam geschaut, was wo verbessert werden muss.
Heute steht die Deutsche Bahn AG als Konzern den
Fahrzeugherstellern gegenüber. Jede Seite will Gewinn
machen, muss Gewinn machen. Es passiert immer wieder, dass die Züge, die bereitgestellt werden, nicht alle
Anforderungen erfüllen. Wir haben in der Anhörung den
Ausdruck gehört, dass die Fahrzeuge beim Kunden reifen wie Bananen. Aber Schienenfahrzeuge - Eisenbahnen, Straßenbahnen - sind keine Bananen, und deshalb
muss man andere Maßstäbe anlegen.
({0})
Die Bundesregierung schlägt nun nicht vor, dass wie
bisher einzelne spezielle Aufträge vom Eisenbahn-Bundesamt an Spezialwerkstätten vergeben werden können
- das wäre nicht so schlimm -, sondern Sie schlagen vor,
dass das Zulassungsverfahren insgesamt weitgehend privatisiert wird und dass das EBA am Schluss nur noch
den Stempel draufdrückt. Dazu sagen wir Nein.
({1})
Die Unternehmen, die Sie ins Spiel bringen, sind gewinnorientiert und müssen bei ihrer Arbeit 6 bis 10 Prozent Gewinnmarge erwirtschaften. Das kann man ihnen
gar nicht vorwerfen. So sind sie konstruiert. Deshalb
wird die Arbeit entweder nachher um diesen Gewinn
teurer, oder die Anbieter drücken die Kosten, indem sie
beim Personal sparen. Wir kennen dieses Problem. Wir
haben es übrigens auch bei der Deutschen Bahn AG erlebt. Gerade für diese sicherheitsrelevanten Bereiche ist
es eine gefährliche Konstruktion, wenn an solchen Dingen gespart wird. Deshalb lehnen wir eine Privatisierung
dieser eigentlich hoheitlichen Aufgabe ab.
({2})
Man kann auch die Zulassung von Automobilen nicht
unbedingt als gutes Vorbild nehmen; denn Sie alle wissen, dass sich die Rückrufaktionen auch der großen Autohersteller in den letzten Jahren häufen. Wir wissen,
dass die immer komplexere Technik eine besonders
sorgfältige und eine unabhängige Prüfung notwendig
macht, ohne Zeit- und Kostendruck.
({3})
Deshalb fordern wir, dass das Eisenbahn-Bundesamt
eine starke Rolle als Aufsicht für die Deutsche Bahn AG
haben und behalten muss und dass deshalb auch mehr
Personal beim Eisenbahn-Bundesamt eingestellt werden
muss. Wir brauchen ebenfalls eine Veränderung der Abläufe. Die Beschäftigten im EBA wissen sehr genau, wo
es klemmt. Es wäre sehr sinnvoll, viel stärker mit den
Beschäftigten aus der Praxis zusammenzuarbeiten.
Ich bin gespannt, Kollege Burkert von der SPD, ob
Sie uns in dieser Linie unterstützen. Vor zwei Jahren, als
Sie als Vorstandsmitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft an den früheren Verkehrsminister geschrieben haben, haben Sie genau diese Position vertreten. Ich glaube, dass sie richtig ist und war.
({4})
Ich will noch einige Vorschläge machen, wie man die
Probleme lösen kann und neue Züge und Straßenbahnen
schneller und besser auf die Schiene bringt:
Erstens - das sagte ich bereits -: mehr Personal für
das EBA.
Zweitens soll die Bahn wieder enger mit den Zugherstellern zusammenarbeiten, anstatt gegen sie zu arbeiten.
Es gibt schon eine Tendenz in diese Richtung: Beim
neuen ICx wird es besser gemacht.
Drittens. Es muss ausreichend Zeit zwischen der Bestellung und der Auslieferung von Zügen bleiben. Bei
Ausschreibungen für den öffentlichen Nahverkehr muss
ein solcher Zeitplan möglich sein, das heißt, die Finanzierung muss sichergestellt sein.
Schließlich könnte man auch die Sonderwünsche der
Nahverkehrsträger ein bisschen reduzieren. Warum muss
die Zugtoilette in Hessen vorne sein und in Sachsen hinten? Wenn man die Standards und die Ausstattung einheitlicher gestaltet, dann braucht man weniger Geld und
Zeit und hat einen geringeren Zulassungsaufwand.
Kurz gesagt, kommt es für uns als Linke auf Folgendes an:
Erstens. Prüfung und Zulassung von Eisenbahnfahrzeugen sollen öffentliche Aufgaben bleiben. Das Eisenbahn-Bundesamt muss für diese Aufgabe besser ausgestattet werden.
({5})
Zweitens. Es braucht mehr Zusammenarbeit und nicht
Konkurrenz zwischen den beteiligten Unternehmen.
Diese Zusammenarbeit kann und soll auch politisch unterstützt werden.
Vielen Dank.
({6})
Danke, Frau Kollegin Leidig. - Nächste Rednerin ist
für die SPD die Kollegin Kirsten Lühmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Schon die erste Betriebsordnung für Haupteisenbahnen
in Deutschland aus dem Jahre 1892 stellte fest: „Neue
Wagen dürfen erst in Gebrauch genommen werden,
nachdem sie untersucht und als sicher befunden sind.“
Diese Vorschrift hatte noch nicht festgelegt, wer sie prüfen soll. Allerdings stieg mit den Sicherheitserfordernissen auch die Zahl der Konstruktions- und Ausrüstungsvorschriften. Von deren unabhängiger Prüfung vor der
Zulassung der Eisenbahnen hängt auch das Vertrauen in
das Verkehrsmittel ab, und zwar ein Vertrauen, das angesichts der geringen Unfallzahlen durchaus gerechtfertigt
ist.
Was im Automobil- und Flugzeugsektor selbstverständlich ist, nämlich die qualifizierte, schnelle und unbürokratische Zulassung unter anderem in Form einer
europäischen Typgenehmigung, geschieht bei der Zulassung von neuen, noch sichereren Bahntechniken zu langsam und ist verbesserungswürdig. Die daraus resultierende mangelnde Planungssicherheit, die hohen Kosten
und der hohe Zeitbedarf gehen zulasten aller: der herstellenden Unternehmen, der Betreibenden und nicht zuletzt
der Fahrgäste. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wollen wir ändern.
({0})
Mit der Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie, die wir mit dem heute in das Parlament eingebrachten Gesetzentwurf vollziehen, tragen wir dem
Leitgedanken Rechnung, die operative Prüfung von
Bahntechnik in bestimmtem Umfange - nicht komplett auch Privaten zu ermöglichen. Mit dem seit Juni 2013
geltenden sogenannten Memorandum of Understanding
durften in Deutschland erstmals private Organisationen
die Voraussetzungen für die Zulassung von Schienenfahrzeugen in größerem Umfange prüfen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird für
dieses erfolgreiche Übergangsmodell nun endgültig ein
rechtlich verbindlicher Rahmen geschaffen. Damit wird
die Zulassung von Bahntechnik in Deutschland beschleunigt und vereinfacht. Allerdings: Abstriche bei der
Sicherheit des Schienenverkehrs wird es dabei nicht geben. Die technischen Vorgaben, liebe Kollegen und Kolleginnen, werden ebenso sorgfältig überprüft, wie es
zum Beispiel im Pkw-Bereich schon lange Jahre gang
und gäbe ist.
Was ist nun neu? Bislang war das Eisenbahn-Bundesamt die allein zuständige Prüfbehörde. Das EBA beschäftigt inzwischen mehr als 1 000 Mitarbeitende, die sehr
kompetent und verantwortungsvoll viele Themen des Eisenbahnwesens in Deutschland bearbeiten. Ich nenne nur
die Planfeststellungen, die Fahrgastrechte, die Betriebsüberwachungen. Anfang des Jahres haben wir ihm auch
die verantwortungsvollen Aufgaben der Lärmkartierung
und der Erstellung des Lärmaktionsplans übertragen.
Mit den technischen Fragen der Schienenfahrzeugzulassung befassen sich etwa 50 Mitarbeitende, also 5 Prozent der Gesamtbelegschaft. Die Anzahl der Schienenfahrzeugprojekte pro Jahr, die eine Zulassung benötigen
- dazu gehört auch die Wiederzulassung nach der Modernisierung eines Zuges -, ist dagegen allein in den
letzten zehn Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Das
EBA und seine Beschäftigten leisten also eine hervorragende und gewissenhafte Arbeit - allein ihre Kapazität
ist begrenzt.
({1})
Es ist daher ein Gebot der Zeit, das heute im Eisenbahnsektor verteilte Wissen - auch in der Zulassung nutzbar zu machen, um das EBA an dieser Stelle zu entlasten und das umfassende Fachwissen ihrer Mitarbeitenden für die tiefergehende Plausibilitätsprüfung, die
vor einer Zulassung am Ende stehen muss, zu nutzen.
Ähnliche Strukturmodelle funktionieren in der Luftfahrt
seit Jahrzehnten - und das sehr erfolgreich.
Wie läuft nun diese Zertifizierung in der Zukunft ab?
Wie schon in der Übergangszeit praktiziert, wird in Zukunft das EBA private Organisationen nach strengen
Auswahlkriterien als sogenannte Designated Bodies anerkennen. Diese Anerkennung als projektunabhängige
und weisungsfreie Organisation zur Prüfung der nationalen Vorschriften befähigt diese private Organisation, die
Untersuchung durchzuführen. Das Eisenbahn-Bundesamt bleibt dabei aber - das ist uns wichtig - die Behörde,
die nach der abschließenden Überprüfung der Zulassung
von Bahntechnik Rechtskraft verleiht; und das ist auch
gut so.
({2})
Das EBA hat sich in den letzten Jahren international
einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Wir werden hier
nach einer gewissen Zeit jedoch überprüfen müssen, ob
eine internationale Anerkennung auch in Staaten außerhalb der EU funktioniert oder ob wir dazu noch weitere
Schritte unternehmen müssen.
Gestern hat die Deutsche Bahn ihr neues Fernverkehrskonzept vorgestellt. Es beinhaltet 12 Milliarden
Euro Investitionen in den nächsten 15 Jahren. Knapp
100 zusätzliche Züge sollen 50 Millionen Bahnreisende
zusätzlich transportieren.
Das heute von der Bundesregierung eingebrachte Gesetz wird mit dafür sorgen, dass das erforderliche rollende Material zeitgerecht zur Verfügung steht - für
mehr grüne Mobilität, für mehr Komfort und für mehr
Sicherheit.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Gastel für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften“ - das klingt
langweilig. Es klingt nach einem Spielfeld für Paragrafenentwickler. Bei näherer Betrachtung ist es aber mehr:
Es geht um die Einsparung von Kosten für die Eisenbahnindustrie, für die Betreiber und letztlich natürlich
auch für die Fahrgäste, und es geht um die schnellere
und umfassendere Zugverfügbarkeit.
Anerkannte private Stellen sollen Prüfaufgaben vom
Eisenbahn-Bundesamt übernehmen. Das EBA bleibt zuständig für die Überwachung der Verfahren und die abschließende Erteilung der Inbetriebnahmegenehmigung.
Durch diese Neugestaltung erhofft man sich erhebliche
Beschleunigungs- und Synergieeffekte im gesamten Zulassungsverfahren. Die vorgelegten Gesetzesänderungen werden von den Verbänden positiv beurteilt.
Wie wichtig die Beschleunigung der Zulassungsverfahren durch eine Entlastung des EBA ist, zeigt die Vergangenheit. Im Jahr 2012 lag fast ein Drittel des Jahresumsatzes der deutschen Bahnindustrie wegen laufender
Zulassungsverfahren auf Eis. Die Züge fehlten auf der
Schiene.
Wie wichtig die Beschleunigung der Zulassungsverfahren ist, zeigen aber auch die aktuellen Pläne der Deutschen Bahn für die Zukunft. Das gestern vorgestellte
Fernverkehrskonzept der Deutschen Bahn sieht die Ausweitung der Angebote vor. Dafür braucht es mehr Züge für den Regelbetrieb wie auch für die Reserve.
Wir haben lange darauf gewartet, dass sich dieser
träge Konzern endlich bewegt. Wir haben lange darauf
gewartet, dass dieser tranfunzelige Apparat endlich mal
so etwas wie eine Leidenschaft für die Interessen seiner
Fahrgäste entwickelt.
({0})
Da hat der Wettbewerb wie ein kräftiger Tritt in den Hintern des Eisenbahnkonzerns gewirkt:
({1})
Deutschland im Takt, Agenda für grüne Mobilität - da
schlägt das Herz der grünen Bahnpartei höher und
schneller.
({2})
Der ICE-Verkehr soll, was die Kilometer angeht, um
25 Prozent zulegen. Mehr Städte sollen an den IC angebunden werden, und die DB nähert sich, zumindest vorsichtig, dem integralen Taktfahrplan. Bis zum Jahr 2030
sollen pro Jahr 50 Millionen zusätzliche Fahrgäste für
die Schiene gewonnen werden.
Man muss aber auch etwas Wasser in den Wein gießen. Es fehlt nämlich vor allem eine Strategie für mehr
Pünktlichkeit. Ein Drittel der Züge hat Verspätung. Die
DB definiert Pünktlichkeit zwar als Basisqualität, was
ich aber vermisse, ist ein Konzept für mehr Pünktlichkeit
auf der Schiene.
({3})
Was ich außerdem vermisse, ist ein Konzept für einen
funktionierenden Gastronomiebetrieb auf der Schiene;
denn auch in diesem Bereich gibt es Defizite.
({4})
Die Bahn kann punkten, wenn das funktioniert. Ein Konzept ist aber nicht vorhanden.
Unklar ist auch die Finanzierung. Auf wie viele Regionalisierungsmittel möchte die Deutsche Bahn zurückgreifen? Es ist Aufgabe der Bundesregierung, sicherzustellen, dass die Länder nicht in die Verantwortung für
die Finanzierung des Fernverkehrs geraten. Genauso ist
die Bundesregierung gefordert, endlich für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit zu sorgen, sodass die Schiene nicht
mehr weiter benachteiligt ist; denn sie muss im grenzüberschreitenden Verkehr 19 Prozent Umsatzsteuer zahlen, der Flugverkehr zahlt nichts. Ähnlich sieht es im Bereich Emissionshandel aus. Auch hier ist die Schiene
gegenüber der Straße und dem Luftverkehr benachteiligt.
({5})
Die Bundesregierung ist gefordert, die Gewinn- und
Dividendenerwartung, die sie an den Konzern Deutsche
Bahn hat, zu korrigieren und trotzdem zu ermöglichen,
dass die notwendigen Investitionen in die Schiene finanziert werden, Ersatzinvestitionen genauso wie die Schließung von Lücken, auch wenn die Gewinne im Konzern
schrumpfen.
({6})
Um ihr Fernverkehrskonzept umsetzen zu können, ist
die DB dringend auf neue Züge angewiesen. Insofern ist
die Änderung des Zulassungsrechts eine Grundvoraussetzung für die Umsetzung der Fahrgastoffensive. Wir
begrüßen die hier vorgelegte Gesetzesänderung,
({7})
und wir plädieren für eine möglichst schnelle Umsetzung, damit das System Schiene trotz Kostensenkungen
besser funktionieren kann als bisher, damit die Bahnunternehmen schneller zu ihren Zügen kommen und damit schließlich mehr Menschen und mehr Güter auf der
umweltfreundlichen und energieeffizienten Schiene unterwegs sind.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Oliver Wittke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Gastel, nachdem Sie zu Beginn Ihrer Rede den Tagesordnungspunkt noch einmal
ausdrücklich vorgelesen haben, nämlich „Entwurf eines
Neunten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften“,
({0})
habe ich gedacht, Sie würden zum Thema reden. Aber
dann haben Sie über Gastronomie bei der Deutschen
Bahn, über Pünktlichkeit und über die Umsatzsteuerproblematik gesprochen. Das war nun wirklich nicht Regelungstatbestand dessen, was heute auf dem Tisch liegt,
was wir zu beraten und zu beschließen haben.
({1})
Herr Gastel, es hat nur noch gefehlt, dass Sie sich über
die Sauberkeit der Toiletten bei der Deutschen Bahn beschweren. Das hätte wahrscheinlich auch noch in diesen
Gesetzentwurf hineingehört.
({2})
Das war am Thema vorbei.
Ich weiß, es ist schwer, zum Thema zu reden und damit fünf Minuten zu füllen, weil es ein sperriges Thema
ist, aber Ihr Versuch ist in der Tat gescheitert.
({3})
Ich bin froh, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, damit zumindest die ersten anderthalb Minuten
meiner Rede zu diesem sperrigen Thema zu bestreiten.
({4})
Die Liberalisierung des Eisenbahnwesens in Europa
zu Beginn der 90er-Jahre und im Übrigen auch die
Bahnreform in Deutschland 1994 sind eine große Erfolgsgeschichte. Die Bahnen transportieren seitdem
mehr Menschen und mehr Güter. Sie machen das auch
mit einem größeren Komfort.
Vor allem hat Europa auch auf der Schiene Grenzen
überwunden. Europa ist zusammengewachsen, weil viele
Verkehre über die alten Nationalgrenzen hinweg stattfinden. Es ist schön, dass heute der Thalys nach Köln fährt,
dass die ÖBB nach München fährt und dass der ICE in
Amsterdam hält. Das sind große Erfolge. Europa wächst
eben auch auf der Schiene zusammen.
Neue Unternehmen sind entstanden, und der Wettbewerb belebt in der Tat das Geschäft, Frau Leidig. Wir
sind nicht diejenigen, die sich die alte Reichsbahn wieder wünschen. Wir wollen nicht eine alte verstaubte
Bahn, sondern wir wollen Wettbewerb auf der Schiene,
weil das den Verkehr steigert, weil das den Menschen
nutzt und weil wir damit eine bessere Leistung zu besseren Preisen bekommen. Das ist auch Teil der Erfolgsgeschichte der Bahnreform und der Liberalisierung des Eisenbahnwesens in Europa.
({5})
Diese dynamische Entwicklung ist bei weitem noch
nicht abgeschlossen, und das ist gut so. Wir werden noch
besser werden, und wir wollen unseren Beitrag dazu
leisten, dass die Bahn in Deutschland noch leistungsfähiger werden kann. Ich freue mich darüber, dass gerade die
Deutsche Bahn, unser bundeseigenes Eisenbahnunternehmen, diesen Wettbewerb aufgenommen und mit Bravour bestanden hat und auch besser geworden ist. Das ist
auch ein Erfolg der Bahnreform und der Liberalisierung
des Eisenbahnwesens.
Es ist völlig klar, dass die gesetzlichen Regelungen
nicht so schnell hinterhergekommen sind. Darum ist es
gut, dass wir heute das Allgemeine Eisenbahngesetz ändern mit dem Ziel, Zulassungsverfahren zu beschleunigen und eine europäische Harmonisierung voranzutreiben.
({6})
Die Folgen davon werden eine erhebliche Beschleunigung und größere Synergieeffekte sein. Das ist insbesondere auch für deutsche Unternehmen eine Wettbewerbsverbesserung, nicht nur für die Hersteller von
Eisenbahnen, sondern gerade auch für die Eisenbahnunternehmen in unserem Land.
Ich will an dieser Stelle für die Unionsfraktion ausdrücklich begrüßen, dass private Stellen künftig wesentliche Prüfaufgaben übertragen bekommen. Teilsysteme
der Fahrzeuge, Leit-, Sicherungs- und Energietechnik
können künftig auch von privaten Unternehmen geprüft
werden. Das bedeutet übrigens keine Reduzierung des
Qualitätsstandards; denn am Ende steht immer noch eine
staatliche Institution, nämlich das Eisenbahn-Bundesamt, das nicht nur einen Stempel daruntersetzt, sondern
ausdrücklich prüft, ob ordentliche Arbeit geleistet worden ist. Das können private Unternehmen genauso gut
wie staatliche Stellen. Die letztendliche Verantwortung
liegt jedoch beim Staat. Es ist klug und richtig, dass das
Eisenbahn-Bundesamt das letzte Wort auch bei Untersuchungen und bei Arbeiten von privaten Unternehmen
hat.
Ich sage aber ganz deutlich, dass wir darauf achten
müssen, dass die Qualität nicht darunter leidet. Das
heißt, wir wollen weiterhin ein Vieraugenprinzip haben.
Wir wollen weiterhin eine Weisungsunabhängigkeit haben. Wir wollen weiterhin eine Amtshaftung haben. Wir
wollen auch eine Vergütungsverordnung haben, die genau das verhindert, Frau Leidig, was Sie gerade hier vorgetragen haben, dass es nämlich zu irgendwelchen Dumpinglöhnen kommt und damit zu Minderleistungen.
Nein, das alles wird es mit uns nicht geben. Ich sage das
hier auch deshalb, weil wir es nicht unmittelbar im Gesetz regeln. Vielmehr wird das, was ich hier vorgetragen
habe, in einer Sachverständigenverordnung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur geregelt werden. Damit werden die Qualitätsstandards so,
wie es notwendig ist und wie wir es bisher gewohnt sind,
eingehalten.
Fazit. Mit diesem Gesetz folgen wir einer Entwicklung, die mit einem rasanten Tempo mehr Qualität, mehr
Wettbewerb und eine bessere Leistung in den vergangenen Jahren im Bahnsektor bewirkt hat. Wir passen gesetzliche Regelungen an, die notwendig sind, um die
deutsche Wirtschaft und deutsche Unternehmen zu stärken. Die Entwicklung der Bahnen - ich sage ausdrücklich „Bahnen“ und meine damit die Deutsche Bahn, aber
eben auch die Privatbahnen in unserem Land - in den
vergangen Jahren war eine Erfolgsgeschichte. Diese Erfolgsgeschichte wollen wir weiterschreiben. Dabei ist
die Änderung der eisenbahnrechtlichen Vorschriften
jetzt ein ganz wichtiger Schritt.
Darum bin ich sicher, dass es eine breite Zustimmung,
wenn auch nicht eine allumfassende Zustimmung gibt.
Denn eines habe ich in der mittlerweile anderthalbjährigen Zugehörigkeit in diesem Haus mitbekommen: Es
gibt eine Fraktion, die, egal was hier passiert, immer
Nein sagt. Das ist die Linke. Werden Sie da ruhig Ihrem
Motto gerecht.
({7})
Sachgerecht ist das, was Sie hier vortragen, nicht. Darum freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss und
in der zweiten und dritten Lesung in diesem Haus.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Martin Burkert spricht jetzt für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, wir sind uns hier im Haus einig, dass
wir die Züge schneller aufs Gleis bringen müssen - da
gibt es Konsens -, weil wir es uns schlichtweg nicht
mehr leisten können, dass Züge direkt von der Fabrik
aufs Abstellgleis fahren. Deswegen ist es gut, dass wir
heute hier die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs haben.
Von der Bestellung bis zur Auslieferung eines Zuges
vergingen in Deutschland in der Vergangenheit vier
Jahre; zwei Jahre davon dauerte allein der Zulassungsprozess. Wenn sie ins Ausland gingen, dann waren diese
Zeiten noch länger. Das müssen wir ändern, weil die
langen Wartezeiten erhebliche negative Folgen für die
Fahrgäste haben - das haben wir schon gehört -, aber
auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes negativ
beeinflussen und den Wirtschaftsstandort Deutschland
damit nicht voranbringen.
Bislang - auch das alles haben wir schon gehört - oblag es allein dem Eisenbahn-Bundesamt - abgekürzt:
dem EBA -, für die neu entwickelten Züge die Zulassung und Inbetriebnahmegenehmigung zu erteilen. Im
Eisenbahn-Bundesamt sitzen die Leute, die den nötigen
Sachverstand und die Erfahrung haben, um unser hohes
Sicherheitsniveau im Bahnverkehr zu gewährleisten.
({0})
Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben unser
großes Lob verdient, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ich muss noch eines sagen: Ob die Probleme, die es in
der Vergangenheit bei den Nahverkehrszügen gab, zum
Beispiel beim Talent 2, wie in meiner Heimatstadt Nürnberg, oder beim ICE 3, immer durch das EisenbahnBundesamt verursacht wurden, kann man hinterfragen.
Es liegt mir fern, heute einen Sündenbock zu suchen.
Aber Fakt ist, dass manche Kritik am EisenbahnBundesamt unangebracht war, da es auch auf der Herstellerseite Fehler gegeben hat.
({2})
Doch dass der Zulassungsprozess dringend modernisiert
werden muss, können meine Fraktion und ich klar unterschreiben.
Um das Verfahren zu verkürzen, wird nun im vorliegenden Gesetzentwurf geregelt, dass auch externe Gutachter eingeschaltet werden dürfen. Mit diesem neuen
Bahn-TÜV - so nenne ich ihn einmal - sollen künftig
Dritte wie die DEKRA oder auch der TÜV selber sämtliche Prüfinhalte kontrollieren und die Prüfungen abnehmen. Grundlage für diese Neuerung ist eine Vereinbarung zwischen Herstellern, dem Eisenbahn-Bundesamt,
dem Bundesverkehrsministerium und den Betreibern.
Dieses sogenannte Memorandum of Understanding, bei
dem alle wichtigen Akteure eingebunden waren, wird
hier mit der nötigen gesetzlichen Grundlage verankert.
Entscheidend und wichtig ist für uns und für mich, dass
das Eisenbahn-Bundesamt bei der abschließenden Erteilung der Inbetriebnahmegenehmigung weiterhin den Hut
aufhat.
({3})
Das soll im Klartext heißen: Das EBA soll sich in Zukunft im Regelfall darauf konzentrieren können, festzustellen, ob die durch den TÜV und andere vorgelegten
Nachweise vollständig und eindeutig sind. Ob es mit
dieser neuen Praxis tatsächlich zu einer Beschleunigung
des Zulassungsverfahrens kommt, werden wir bei der
angekündigten Evaluierung sicher feststellen können.
Aufgrund der neuen Strukturen entstehen ja auch höhere
Kosten. Erst auf lange Sicht soll es durch das erhoffte erhebliche Beschleunigungsverfahren zu einer Kostensenkung kommen.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch auf mögliche
Risiken hinweisen. Mit dem System der Privatisierung
im Zulassungsverfahren werden wieder hoheitliche Aufgaben privatisiert - das ist uns klar -, mit denen grundsätzlich, auch beim EBA, Geld verdient werden könnte.
Das gilt auch für die Sachverständigen, die künftig die
Prüfaufgaben des EBA übernehmen werden. Dabei geht
es um geschätzte 500 Externe, die - auch das ist schon
gesagt worden - gewinnorientiert arbeiten wollen und
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, es muss vermieden werden, dass
wir am Ende höhere Kosten, aber keinen Mehrwert
haben. Wir wollen nicht, dass es zu Erfahrungen wie
beispielsweise in der Abfallwirtschaft kommt. Hier machen die Kommunen die Abgabe an private Dritte derzeit wieder rückgängig, weil sie am Ende trotzdem noch
billiger sind als die privaten Anbieter und unter dem
Strich genauso gut arbeiten.
({4})
Die Verlagerung der Aufgaben auf Externe macht nur
Sinn, wenn Züge später nachweislich schneller zugelassen werden.
Zur Überwachung der Sachverständigen ist eine Aufstockung der Stellen im BMVI und beim EBA laut
Gesetz bereits vorgesehen. Es geht um 15 zusätzliche
Personen. In Richtung der Bundesregierung sage ich:
Herr Ferlemann, ich gehe davon aus, wir sind uns einig,
dass diese 15 Stellen vom Haushaltsausschuss genehmigt und dann auch besetzt werden. Das ist ganz wichtig, weil das alles am Ende sonst nicht hinhaut.
({5})
Wir müssen die Schiene weiter stärken. Völlig klar:
Ein effizientes Zulassungsverfahren gehört ganz sicher
dazu. Das steht und fällt aber mit sachkundigem Personal. Wir müssen nachhaltig investieren. Ich wünsche
uns, dass dieses Gesetz ohne Wenn und Aber umgesetzt
wird. Ich freue mich, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das auch so sieht. Ich freue mich auf den Ausschuss und hoffe, dass wir zügig in die zweite und dritte
Lesung kommen.
Vielen Dank.
({6})
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Daniela Ludwig, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr viel und sehr viel Richtiges ist zu diesem Thema
schon gesagt worden. Es ist berechtigterweise darauf
hingewiesen worden, dass unser Zug-TÜV, wenn ich es
mal salopp so nennen darf, schneller werden muss, effizienter, besser, in Teilen mit mehr Personal ausgestattet.
Lieber Herr Burkert, da appelliere ich an Sie: Jeder
spricht mal mit seinen Haushältern und sorgt für Sensibilität an dieser Stelle. Ich glaube, dann kriegen wir auch
das richtig hin; denn es ist ein berechtigtes Anliegen,
ohne Frage.
Wir tun damit Gutes für die Hersteller, weil sie künftig Kosten und Aufwand sparen, wenn sie neue Züge
nicht länger monatelang sozusagen auf dem Abstellgleis
auf Halde halten müssen, bis diese endlich in Betrieb genommen werden dürfen. Wir tun etwas für die Auftraggeber, für die Deutsche Bahn und andere. Wir tun etwas
für die Kunden. Wir tun aber auch etwas - das kam heute
noch etwas zu kurz; ich möchte es der Vollständigkeit
halber erwähnen - für die Anwohner von Bahnstrecken,
weil sie nun schneller in den Genuss modernerer, aber
vor allem leiserer Züge kommen. Dieser Aspekt ist auch
nicht ganz von der Hand zu weisen.
Wenn wir, lieber Herr Staatssekretär, die Horrormeldungen der letzten Jahre Revue passieren lassen - erinnern wir uns, welche guten, modernen Züge nicht in
Betrieb gehen konnten, weil entweder, berechtigterweise, Bedenken an der Sicherheit bestanden oder aber
meistens das EBA einfach nicht schnell genug war -,
dann sollte dieses nun tatsächlich der Vergangenheit angehören.
Es ist gesagt worden: Es gab einen runden Tisch mit
allen Beteiligten. Man hat sich ausgetauscht. Man hat in
einer Übergangsphase verschiedene Verfahren und
Modelle ausprobiert. Jetzt, denke ich, sind wir tatsächlich so weit - ich bedanke mich ausdrücklich auch für
die Unterstützung der Grünen -, dass wir das Ganze in
Gesetzesform gießen können.
Dazu, dass wir hier Private beteiligen: Ich warne
schon davor, immer gleich Ausschlag zu bekommen,
wenn die Wörtchen „privat“ oder „gewinnorientiert“ irgendwo vorkommen.
({0})
- Bei Ihnen muss ich mir die Sorge schon machen, Frau
Leidig; es tut mir leid. - Der Ansatz, zukünftig auch private Stellen Prüfaufgaben übernehmen zu lassen, ist tatsächlich nur gut für das gesamte Verfahren. Wir sehen
das bei anderen Verkehrsträgern. Es war überhaupt nicht
einleuchtend, warum es auf der Schiene nicht funktionieren sollte. Deswegen bin ich schon der festen Überzeugung, dass wir hier einen zukunftsfähigen Schritt hin
zu einem besseren, moderneren und leiseren Schienenverkehr tun. In diesem Sinne vielen Dank für diesen Gesetzentwurf.
({1})
Deswegen ist mir auch nicht bange, dass wir, wenn
wir es dann beschlossen haben nach der zweiten und
dritten Lesung, gut beobachten werden, wie es läuft.
Wenn es am Anfang vielleicht das eine oder andere Problemchen gibt, ist das, denke ich, völlig normal. Aber
ich bin voll bei Ihnen, Herr Burkert: Wir werden es natürlich evaluieren, wir werden uns anschauen: Wo gibt es
noch die eine oder andere Stelle, die wir ein bisschen
schleifen müssen? - Aber im Großen und Ganzen bin ich
sehr zuversichtlich, dass wir - schon schlau geworden
aus den Übergangsphasen - hier ein sehr, sehr gutes
neues System im wahrsten Sinne des Wortes auf die
Gleise setzen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und hoffe, dass wir unser Gesetzgebungsverfahren
etwas einfacher und etwas schneller zu Ende führen können als so manches Zulassungsverfahren für den einen
oder anderen Zug.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4202 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Männliche Eintagsküken leben lassen
Drucksache 18/4328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Vizepräsident Johannes Singhammer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Weil sich
kein Widerspruch erhebt, ist das auch so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als
erstem Redner das Wort dem Kollegen Friedrich
Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank, dass Sie den
richtigen Titel des Antrages - „Männliche Eintagsküken
leben lassen“ - genannt haben. Wir haben uns extra
Mühe damit gegeben, und jetzt ist doch wieder das Wort
„Tötung“ auf der Medienwand erschienen. Genau das
wollten wir nicht.
Schon seit vielen Jahren - immer wieder einmal steht das Dilemma des Tötens der männlichen Küken
von hochspezialisierten Legehennenhybriden auf der Tagesordnung. Jährlich werden über 40 Millionen Tiere am
Tage des Schlupfes aus wirtschaftlichen Gründen getötet.
Über die Art und Weise der Tötung möchte ich an dieser Stelle gar nicht sprechen. CDU-Kollege Stier und
ähnlich gelagerte Abgeordnete
({0})
werden uns Grünen auch sicher so die moralischen Bedenken als übertriebene Emotionalität auslegen. Herr
Stier, sparen Sie sich diese Redezeit! Wir müssen das
Problem bereden.
Bei den vernunftbegabten Kolleginnen und Kollegen
wird hingegen bekümmert genickt und beteuert, dass der
Missstand des Tötens gerade erst geschlüpften Lebens
beendet werden müsse, aber es gebe ja leider keine Alternative dazu.
Die Zucht eines Zweinutzungshuhnes wird als Zeitvertreib für Ökos belächelt. Dabei ist dieser Weg der einzig Richtige. Es ist doch absurd, zu welchen extremen
Auswüchsen die Hochleistungszucht bei den Nutztieren
in den vergangenen Jahrzehnten geführt hat, nämlich so
weit, dass mit der männlichen Hälfte der Population eines Tieres nichts anzufangen ist. Es wird Leben produziert, um es wenige Minuten nach dem Schlüpfen wieder
zu vernichten. Das ist nichts anderes als Qualzucht, und
die ist laut Tierschutzgesetz verboten.
({1})
Die Methode der Wahl für die großen Geflügelhaltungen ist die Früherkennung des Geschlechts im bebrüteten Ei; denn dann könnte die extreme Situation der
Hochleistungszucht so bleiben, wie sie ist, aber immerhin wäre das sinnlose Sterben der männlichen Küken beendet. Das wäre doch schon mal etwas. Sie werden uns
gleich aber erklären, dass man weiter forschen, forschen,
forschen müsse, bis diese Methode praxisreif sei. Das
tun wir schon seit vielen Jahrzehnten und sind nicht richtig weitergekommen.
Natürlich gibt es die Alternativen nicht, wenn der
Druck nicht spürbar, das Töten der Tiere kostengünstiger
und der Verzicht darauf sehr mühsam ist. Natürlich werden keine Anstrengungen unternommen, dies abzustellen, wenn sowieso kein Hahn danach kräht. Umso erfreulicher ist es, dass der gesellschaftliche Druck so
stark geworden ist, wenn es um die Behandlung und
Nutzung von Tieren geht.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss es um
mehr als um Rentabilität und Stückzahlen gehen; denn
bei rein ökonomischer Betrachtung ist das Verfahren
mehr als schlüssig. Es gibt Hennen, die viele Eier legen,
und es gibt andere Rassen, die sehr schnell sehr schwer
werden. Das ist Pech für die männlichen Nachkommen
der Legehennen. Hier geht es jedoch nicht um überzähliges Material wie beim Zuschnitt von Autoblechen, sondern es geht um Lebewesen. Wir Grünen sind nicht
länger bereit, uns diese ewigen Hinhaltereden weiter anzuhören.
({3})
Minister Schmidt gibt gerne den wertkonservativen,
ethisch geprägten Christenmenschen. Er kündigt große
Taten an, die dann dem Vergessen anheimgegeben werden. So hat er auch für Ostern 2015 einen Plan zum Beenden des Kükenschredderns angekündigt.
({4})
Nehmen wir einmal bestenfalls an, ein solcher Plan
käme tatsächlich an die Öffentlichkeit. Wer glaubt denn
nach dem ersten Jahr mit dem Minister noch, dass er irgendetwas Substanzielles abliefert, das über Absichtsbekundungen für den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgeht?
({5})
Seit vielen Jahren führen wir diese Diskussion nun
schon. Egal welche Argumente und Ausflüchte wir
gleich wieder hören werden: Jede Markteinführung, jede
Innovation, geht so schnell vonstatten, wie die Umstände
es notwendig machen.
Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund
Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
Kollege Stier, das steht in § 1 des Tierschutzgesetzes und
sei für Sie und für alle, die mit diesem Text nicht so vertraut sind, noch einmal gesagt. Wir sind gerne bereit, die
Diskussion darüber zu führen, ob die Wirtschaftlichkeit
eines Verfahrens einen vernünftigen Grund darstellt oder
nicht. Aber, meine Damen und Herren, diesen Grund
gibt es nicht. Von daher ist die Entscheidung klar.
({6})
Unsere Forderung: Es ist an der Zeit. Forschung ist
lange genug betrieben worden. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Handeln Sie endlich!
({7})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Dieter Stier.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen „Männliche Eintagsküken
leben lassen“ behandeln wir heute ein sehr sensibles
Thema, welches nachvollziehbarerweise viele Menschen
in unserem Land berührt. Gleichzeitig, lieber Kollege
Ostendorff, ist uns aber auch bewusst, dass sich dieses
Thema - das zeigt mir auch der Beginn Ihrer Rede - hervorragend dafür eignet, in bekannter Weise von Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der antragstellenden Fraktion, für eine wiederholte Ideologisierung der
Agrarbranche missbraucht zu werden.
({0})
Darin, dass wir bei dem von Ihnen angesprochenen
Thema vor einer Herausforderung stehen, sind wir uns
mit Ihnen sehr wohl einig. Allein der vorgeschlagene
Weg der Lösung unterscheidet uns, wie immer, voneinander.
Deutschlands Brütereien stehen in ihrem alltäglichen
Geschäft vor demselben Problem: Auf 100 befruchtete
Eier kommen rund 50 weibliche und 50 männliche Küken, und das ist durch uns nicht veränderbar. Die männlichen Vertreter der Legerassen verfügen aber über einen
sehr geringen Fleischansatz. Dies veranlasst die Betriebe
vor dem Hintergrund der Praktikabilität und der Wirtschaftlichkeit, ihren Bestand nach der Geschlechterfeststellung zu verringern.
({1})
Dieses Vorgehen weckt bei jedem tierschutzverbundenen Halter, bei jedem Produzenten, bei jedem in der
Gesellschaft und selbstverständlich auch bei uns Politikern nicht unbedingt großes Wohlbehagen. Und ja,
meine Damen und Herren, ich meine, es passt auch nicht
mehr in unsere heutige Zeit.
({2})
Aber für Veränderungen brauchen wir realistische Lösungen, die es weiterhin erlauben, in gewohnter Qualität
für ganz Deutschland produzieren zu können, ohne dabei
die Betriebe ins wirtschaftliche Aus zu drängen.
({3})
Ihr Antrag, liebe Oppositionspartei, ist, mit Verlaub,
sowohl für die Beschreibung der gegenwärtigen Situation als auch für das Aufzeigen echter Lösungen untauglich.
({4})
Mit Ihrer Wortwahl appellieren Sie erneut an die Gefühle. Sie schüren Horrorvorstellungen, die die Alltagspraxis völlig verkennen.
({5})
Sie reden einzig über Verbote, nicht aber zum Beispiel
über vorgeschriebene Betäubungsdosierungen. Sie sind
auch nicht bereit, über die Auslegung des in unserem
Tierschutzgesetz vorgesehenen „vernünftigen“ Grundes
für Ausnahmen - das haben Sie gerade gesagt - von der
Generalklausel des Verbots von Schmerzen, Leiden oder
Schäden für ein Tier zu diskutieren.
In Nordrhein-Westfalen versucht Ihr Minister
Remmel, das Problem mit der Brechstange zu lösen, was
aus unserer Sicht aber nicht zum Erfolg führen wird. Das
hat ihm auch das Verwaltungsgericht Minden mit Urteil
vom 30. Januar 2015 ins Stammbuch geschrieben, indem
es diese Ordnungsverfügung für rechtswidrig erklärt hat.
Herr Kollege Stier, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Maisch?
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Stier, dass Sie meine
Frage zulassen. - Sie haben ja gesagt, die beiden Lösungsansätze, die wir in unserem Antrag vorgeschlagen
haben, also das Geschlecht bereits im Ei zu erkennen
und ein Zweinutzungshuhn zu züchten, seien untauglich.
Es gibt eine schwarz-grüne Landesregierung in Hessen. Sie hat den Weg der Geschlechtserkennung im Ei
als Königsweg bezeichnet. Jetzt möchte ich Sie fragen:
Finden Sie, dass auch die schwarz-grüne Landesregierung eine untaugliche Agrarpolitik im Bereich der Küken macht?
Liebe Kollegin Maisch, lassen Sie mich noch etwas
weiterreden. Ich komme dann auf genau diese beiden
Methoden zu sprechen. Ich habe nicht gesagt, dass ich
diese als untauglich empfinde, sondern ich habe Ihren
ersten Vorschlag, das regelmäßige Verbot, das Sie fordern, für untauglich erklärt.
({0})
Jetzt möchte ich Ihnen das gerne weiter erklären.
Ein vorschnelles Verbot, meine Damen und Herren,
hätte nichts weiter als den planmäßigen Entzug von
Wirtschaftlichkeit in den Betrieben bis zur letztendlichen Schließung zur Folge. Ich sage Ihnen auch: Das
Problem würde nicht bereinigt, sondern nur ins Ausland
verschoben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt
deshalb - jetzt komme ich dazu - auch auf die Weiterentwicklung von Methoden zur frühzeitigen Geschlechtsbestimmung im befruchteten Ei als Strategie
zur Vermeidung der bisherigen Praxis.
Herr Kollege Stier, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Ebner?
Aber sicher lasse ich auch noch die Frage des Kollegen Ebner zu.
Das Mikro möchte nicht.
Das hat seinen Grund.
({0})
Herr Kollege Stier, Sie hatten gesagt, Minister
Remmel in Nordrhein-Westfalen wollte das mit der
Brechstange machen und sei deshalb dann auch vom Gericht zurückgepfiffen worden. Meine Frage ist, ob Sie
bereit wären, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Gericht
lediglich festgestellt hat, dass für diese Verfügung eine
spezielle Ermächtigungsgrundlage gefehlt hat. Das Gericht hat also gar nicht festgestellt, dass insgesamt mit
der Brechstange vorgegangen worden ist, sondern nur,
dass eine spezielle Ermächtigungsgrundlage gefehlt hat,
die das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft schaffen müsste. Damit ist der Ball wieder bei Ihnen. Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Ich nehme das gerne zur Kenntnis. Das hätten Sie
gern, dass der Ball bei uns ist. Selbstverständlich fehlt
die spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage für dieses Ansinnen, das Sie verfolgen. Das ist aber noch nicht
das Ansinnen, mit dem man eine Lösung herbeiführen
könnte. Deshalb erachte ich den Beschluss des Gerichtes
als außerordentlich vernünftig.
({0})
Wir waren bei der Geschlechtsbestimmung im befruchteten Ei. Vielleicht kann ich ja auch einen Satz
noch zu Ende führen. Ich will ausdrücklich unserem
Minister Christian Schmidt und auch Ihnen, liebe Frau
Staatssekretärin, danken, dass Sie sich des Themas in besonderer Weise annehmen. Die Koalition stellt nämlich
zum Beispiel über das BMEL Mittel im Umfang von
mehr als 2 Millionen Euro bis 2015 für gezielte Verbundforschungsprojekte der Universität Leipzig zur Verfügung. Nach unseren Erkenntnissen soll in absehbarer
Zeit eine entsprechende Technologie zur Verfügung stehen.
Ich will auch auf die Bruderhahn Initiative Deutschland e. V. hinweisen. Auch die Züchtung wird - darin
sind wir gar nicht so weit auseinander - ihren Beitrag
auf dem Weg zu Zweinutzungsrassen leisten.
({1})
Wie Sie sehen, haben wir wesentliche Forderungen Ihres
Antrages bereits erfüllt.
({2})
Allerdings müssen hierfür noch flächendeckend anwendbare Verfahren entwickelt werden, die eine Feststellung des Geschlechts vor dem Einsetzen des
Schmerzempfindungsvermögens des Hühnerembryos ermöglichen. Da man nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand vor dem zehnten Bebrütungstag
keine Schmerzempfindlichkeit des Hühnerembryos annimmt, sind also Forschungsergebnisse abzuwarten, die
ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung vor diesem
zehnten Bebrütungstag ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind also sehr
wohl bereits auf einem Weg, die von Ihnen beschriebene
Thematik einer Lösung zuzuführen. Deshalb ist für mich
der vorliegende Antrag entbehrlich.
Ich will zum Schluss eine Aussage Ihrer grünen Parteikollegin und hessischen Landwirtschaftsministerin
Priska Hinz aus einem Interview mit Agra-Europe zitieren: „Immer mehr Menschen haben die Nase voll von einer ständigen Schwarz-Weiß-Malerei.“ Das hat sie richtig erkannt. Sie sollten auch im Bund auf Ihre eigene
Kollegin hören. Ich lade Sie jedenfalls zur Mitwirkung
bei der Lösung der vorliegenden Problematik mit der gebotenen Sachlichkeit ein.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die SPD, Entschuldigung, für die Fraktion Die
Linke spricht jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
Sie haben das Wort.
({0})
Auf die Koalition warte ich noch, bei der ich für euch
mitreden kann.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass jährlich allein in Deutschland über 45 Millionen Eintagsküken getötet werden, ist
bekannt. Sie werden getötet, weil sie genetisch für eine
hohe Eierleistung gezüchtet werden, aber als Hähnchen
diese Leistung nicht erbringen können.
Diese männlichen Eintagsküken haben doppeltes
Pech. Denn da sie aus einer Legelinie stammen, haben
sie eine so geringe Fleischleistung, dass sie mit ihren
Brüdern und Schwestern aus den Mastlinien nicht mithalten können. Keine Eier und zu wenig Fleisch: Das ist
bisher ihr Todesurteil.
Nun steht im Tierschutzgesetz eindeutig - das wurde
schon gesagt -, dass Wirbeltiere nicht ohne einen vernünftigen Grund getötet werden dürfen. Das ist natürlich
eine sehr unbestimmte Formulierung. Aber fehlende
Profitabilität kann ganz sicher kein vernünftiger Grund
sein, Tiere zu töten.
({1})
Deshalb hat Nordrhein-Westfalen das Töten von Eintagsküken verboten. Aber dieses Verbot wurde vom Verwaltungsgericht einkassiert; davon war gerade die Rede.
Dasselbe Gericht fordert aber eine umsetzbare Alternative zum Töten. Die Frage an uns lautet also nach meiner
Überzeugung: Was muss getan werden, damit wir das
Töten der Küken rechtssicher verbieten können?
({2})
Ich denke, dass die Antwort zügig gegeben werden
muss; denn schon 2001 standen ethische Bedenken gegen diese Praxis im Tierschutzbericht der damaligen rotgrünen Bundesregierung. Es muss endlich etwas getan
werden. Bisher hat sich zu wenig Greifbares ergeben,
weil - das ist durchaus eine These, die wichtig ist - zu
viele von diesem System profitieren. Deswegen brauchen wir heute ganz klar die Botschaft: Die Zeit der Duldung ist vorbei. Wir wollen als Gesetzgeber endlich Lösungen auf dem Tisch haben.
({3})
Man kann zwar bei Hühnern leider das Geschlecht
nicht beeinflussen, wie es bei Kühen gängige Praxis ist.
Vielleicht können bald deutlich vor dem Schlupf die Eier
identifiziert werden, aus denen männliche Küken
schlüpfen würden. Aber das ist aus unserer Sicht nur
eine sehr begrenzte Lösung. Wir sind für eine grundsätzliche Lösung. Entweder schafft man eine Möglichkeit,
die männlichen Küken aus den Legelinien zu mästen und
zu vermarkten, oder wir halten wieder Hühner, die sowohl eine gute Legeleistung als auch eine gute Mastleistung erbringen, also sogenannte Zweinutzungshühner.
Dazu gibt es bereits Projekte. Selbst die Geflügelzüchterbranche ist unterdessen bereit, hier Angebote zu machen. Aber bisher ist das eine Nische für Idealisten, weil
die hohen Erzeugungskosten die Vermarktung erschweren, erst recht unter dem Preisdiktat des Lebensmitteleinzelhandels. Die Erfahrungen, die dort gesammelt
werden, sind sicherlich sehr wichtig. Wenn das aber
keine Nische bleiben soll, müssen wir anders ansetzen.
Die Züchtung muss sicherlich vorangebracht werden.
Aber am Ende muss das eigentliche Problem gelöst werden. Wer Küken retten will, muss faire Marktregeln einführen; denn die Erzeugungskosten steigen natürlich,
wenn pro Tier weniger Eier und weniger Fleisch mit einem höheren Futteraufwand produziert werden. Deswegen müssen dann höhere Erzeugerpreise gezahlt werden.
Das heißt aber gerade für mich als Linke nicht zwangsläufig, dass auch die Lebensmittel teurer werden müssen. Denn aus unserer Sicht würde das Geld dann wieder
in den falschen Taschen landen. Wer faire Erzeugerpreise und bezahlbare Lebensmittel will, muss die
Marktmacht der Lebensmittelkonzerne und der Supermarktketten beschränken und sie zwingen, an einer Lösung mitzuarbeiten.
({4})
In den Niederlanden geht das sogar freiwillig. Dort
bietet eine Supermarktkette zum Beispiel nur fair gehandelte Bananen an und verzichtet auf Gewinn, damit der
Preisabstand zu den herkömmlichen Bananen nicht zu
groß wird. Auf den Hühnerbereich übertragen hieße das:
Eier und Fleisch von Zweinutzungshühnern werden
beim Erzeuger fair bezahlt und im Supermarkt durch Gewinnverzicht bezahlbar angeboten. Es geht also. Jetzt
muss man nur noch handeln.
Vielen Dank.
({5})
So, Frau Kollegin Jantz, jetzt haben Sie das Wort für
die SPD.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Homogenisator“
hören? Dieses Wort hat etwas Klinisches. „Homogenisieren“ bedeutet im weitesten Sinne ein Gleichmachen
oder ein Vermischen von zerkleinerten Bestandteilen.
Der Homogenisator ist eine Maschine, die durch rotierende Messer oder Walzen tagtäglich männliche Eintagsküken tötet. Ich danke den Grünen für das Signal, gemeinsam mit uns dieses Thema anzugehen. Nicht nur im
Sinne des Tierschutzes ist das massenhafte, sinnlose Töten männlicher Küken nicht mehr hinnehmbar. Vielmehr
sollte eine moderne Gesellschaft grundsätzlich auf solche Praktiken verzichten und zumindest den Ausstieg
daraus ganz massiv vorantreiben.
({0})
Ich möchte einmal grundsätzlich die Dimension des
Problems klarmachen. Wir kennen die genaue Zahl der
getöteten Küken nicht; denn darüber gibt es gar keine
konkreten Statistiken. Hochgerechnet, nimmt man eine
50-zu-50-Verteilung weiblicher und männlicher Küken
an, können wir davon ausgehen, dass pro Jahr mindesChristina Jantz
tens 45 Millionen männlicher Eintagsküken geschreddert oder vergast werden.
({1})
Da drängt sich natürlich die Frage nach dem Warum
auf. Die Zucht von Legehennen ist einzig auf die maximale Eierproduktion ausgerichtet. In einem solchen System werden die männlichen Küken als überflüssig betrachtet. Sie sind der Überschuss einer im industriellen
Maßstab produzierenden Branche. Obendrein setzen die
männlichen Tiere dieser Hybridrasse im Vergleich zu
normalen Hühnern kaum Fleisch an. Dafür werden wiederum extra Masthähnchen gezüchtet.
Nur um die Dimension zu verdeutlichen: Den gut
45 Millionen Legehennen stehen mehr als 600 Millionen
sogenannte Broiler oder, besser gesagt, Brathähnchen
gegenüber. Das sind gewaltige Zahlen. Sie werfen nicht
nur, finde ich, ein schlechtes Licht auf die Produzenten,
sondern auch auf das Konsumverhalten. Wir konsumieren inzwischen zu viel Fleisch und vergessen dabei, was
es bedeutet, ein Lebewesen zu essen. Wir müssen die
Menschen stärker sensibilisieren bei ihrer Entscheidung
beim Eierkauf, an der Fleischtheke, am Grillhähnchenstand vor dem Supermarkt.
({2})
Denn insbesondere ein Umdenken beim Einkauf wird
dazu beitragen, das Leben der Tiere zu verbessern.
Deshalb kann, wie es so schön heißt, die Einführung
der Möglichkeiten der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung
beim Haushuhn nur ein erster Schritt auf einem langen
Weg sein. Leider ist derzeit noch keine praxisreife Technologie verfügbar, die sich für den flächendeckenden
Einsatz zum Nachweis des Geschlechts des Embryos im
befruchteten Hühnerei eignet. Die Erkennung muss
- das ist angesprochen worden - vor dem zehnten Bebrütungstag erfolgen, da die Embryonen nur bis dahin
noch kein Schmerzempfinden haben; so der bisherige
wissenschaftliche Kenntnisstand.
Daher befördert die Bundesregierung nach wie vor
mit hoher Priorität das noch nicht abgeschlossene Verbundforschungsprojekt der Universität Leipzig zur ImEi-Geschlechtsbestimmung. Eine entsprechende Technologie wird voraussichtlich in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen, die sich dann auch für einen breiten Einsatz eignen wird.
Doch dies kann nach meiner Meinung nur der Einstieg sein. Wir müssen dazu kommen, dass keine Küken
mehr getötet werden müssen; denn, wie schon richtig gesagt wurde, nach § 1 Satz 2 des Tierschutzgesetzes bedarf es eines vernünftigen Grundes für das Töten von
Tieren. Dies gilt auch für das Töten von männlichen Küken von Legelinien. Nach § 15 Absatz 1 Satz 1 des Tierschutzgesetzes obliegt die Durchführung des Tierschutzgesetzes und der aufgrund des Gesetzes erlassenen
Rechtsverordnungen den nach Landesrecht zuständigen
Behörden. Daher ist im Falle des Tötens von Tieren in
jedem Einzelfall vor Ort von den zuständigen Behörden
zu entscheiden, ob ein vernünftiger Grund für das Töten
vorliegt. Die Tötung männlicher Küken darf dabei nur
das allerletzte Mittel sein.
({3})
Wir brauchen allerdings auch praxisgerechte, realisierbare Lösungen. Ein generelles Tötungsverbot würde
zu einer Verlagerung der Tierschutzproblematik in andere Länder führen. Ich sehe insbesondere auch die
Wirtschaft in der Verantwortung, sich dieser Problematik
intensiv anzunehmen und ihren Beitrag zur Entwicklung
von Alternativen zur Tötung männlicher Küken zu leisten.
({4})
In meinen Augen ist zum Beispiel das Zweinutzungshuhn die Alternative zum Status quo. Zweinutzung bedeutet, dass das Huhn sowohl zum Eierlegen als auch
zum Fleischverzehr genutzt werden kann. Derzeit werden beispielsweise am Institut für Tierernährung des
Friedrich-Loeffler-Instituts Fütterungsversuche mit dem
Zweinutzungshuhn „Lohmann Dual“ - so heißen diese
Rassen tatsächlich - durchgeführt. Platt formuliert: Es
wird daran geforscht, wie Hähnchen besser Fleisch ansetzen können.
Ich finde, Stigmatisierungen und Verbote helfen uns
nicht weiter. Wir müssen zu praxisnahen, tierschutzgerechten und verbindlichen Regelungen kommen
({5})
und aktiv den Dialog mit allen Beteiligten fortschreiben.
Im Sinne des Tierschutzes lade ich die Grünen ein, diesen Weg mit uns gemeinsam zu gehen.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Artur Auernhammer
für die CDU/CSU.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die Änderung der Tagesordnung
bekannt geworden ist - in diesem Zusatzpunkt geht es
um das Leben der männlichen Küken -, hat sich der eine
oder andere Kollege, der nicht vom Fach ist, gefragt:
Was ist denn das für ein Thema? Die breite Debatte
heute - darin ist schon viel Richtiges gesagt worden hat gezeigt: Es geht darum, dass in zehn Jahren über 400
Millionen Küken getötet worden sind. Das ist eigentlich
das Thema. Das sollte uns auch bewegen. Ich bin dankbar für die offene und ehrliche Debatte hier. Aber den
Lösungsweg, den Königsweg, haben wir noch nicht gefunden. Daran müssen wir noch arbeiten.
Die Zucht von Zweinutzungstieren - das ist angesprochen worden - ist außerordentlich zu begrüßen. Wir kennen das von der Rinderhaltung. Wir kennen das auch von
anderen Zuchtbereichen. Die Zweinutzungszucht ist
weiter nach vorn zu bringen und wird mit Sicherheit einen großen Beitrag leisten. Ich bitte in erster Linie die
gesamte Ökobranche, in diese Richtung zu züchten, in
diese Produktion einzusteigen; denn sie als Vorreiter dieser Lösung sollte mit gutem Beispiel vorangehen.
({0})
Es ist auch schon die Möglichkeit der Geschlechtsbestimmung bereits im Ei angesprochen worden. Wir sind
dabei auf dem Weg. Ich gehe auch davon aus, dass der
Herr Bundesminister noch vor Ostern etwas ankündigen
wird, Herr Kollege Ostendorff.
({1})
- Wenn ein CSU-Minister etwas ankündigt, dann kommt
auch etwas Vernünftiges dabei heraus.
({2})
- Ein gewisser parteipolitischer Touch sei auch in dieser
wichtigen Diskussion erlaubt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
hier auch die Rolle der Verbraucher ansprechen und an
die Verbraucher appellieren. Warum sind wir denn so
weit gekommen? Die Eier können nicht billig genug
sein. Das Brathähnchen kann nicht billig genug sein.
Wer im Supermarkt zehn Eier kauft und dafür gerade
mal 1 Euro bezahlt, der hat für mich keinerlei Berechtigung mehr, über tote Küken zu diskutieren. Es muss ein
Mehr an Erlös für die Erzeuger da sein, damit die Zweinutzungszucht auch wirtschaftlich darstellbar ist.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
diese innovativen Vorschläge der Grünen umsetzen wollen, stellt sich die Frage: Wozu wird es führen, wenn wir
zu schnell an die Thematik herangehen? Ich erinnere an
die Erfahrung, die wir bereits bei der Legehennenhaltungsverordnung gemacht haben: Die Hühner sitzen
nicht mehr in deutschen Käfigen, sondern in irgendwelchen ausländischen Käfigen, und die Eier sind trotzdem
im deutschen Supermarkt.
({4})
Wir brauchen eine Lösung, die die Produktion im Land
hält, die unsere Eierproduzenten und unsere Geflügelfleischproduzenten im Land stärkt. Sie sollen mit dieser
Produktion auch ihr Geld verdienen dürfen.
({5})
Ich möchte auch noch das Flüssigei erwähnen. Dies
wird in Lebensmitteln verarbeitet; das sieht der Verbraucher gar nicht mehr. Woher dieses Flüssigei kommt, ist
manchmal sehr zu hinterfragen. Deshalb warne ich vor
nationalen Alleingängen. Das ist das Lieblingsthema unserer Verbotspartei hier. Ich warne vor solchen nationalen Alleingängen. Wir brauchen eine gemeinsame Lösung, einen europäischen Ansatz. Wenn Sie als Grüne
dabei den Vorreiter machen wollen, dann machen Sie
das gern. Bitte! Ich unterstütze Sie.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4328 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Weil ich keinerlei
Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie damit
einverstanden sind. Damit ist die Überweisung auch so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
Drucksache 18/4281
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache ebenfalls 25 Minuten vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch dieses so
beschlossen.
Damit kann ich die Aussprache eröffnen. Erster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege
Patrick Schnieder, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Kernkennzeichen der Verkehrspolitik der Unionsfraktion lässt sich
mit der Umschreibung zusammenfassen: Wir wollen
Mobilität ermöglichen. Da, wo Verkehr stockt, wo es
Hindernisse gibt, wollen wir alle Maßnahmen ergreifen,
um diese Hindernisse zu beseitigen, damit Mobilität
möglich wird. Dem soll das Gesetz, über das wir hier beraten, dienen, und zwar bezieht es sich auf einige Ausnahmefälle. Der Gesetzentwurf enthält zunächst einmal
die Rheinbrücke bei Leverkusen im Zuge der A 1. Der
Bundesrat hat angeregt, dass wir auch die Rader HochPatrick Schnieder
brücke bei der A 7 einbeziehen. Wir werden in der Koalition und im Ausschuss sicherlich noch über einen
Änderungsantrag dahingehend beraten, ob wir nicht zusätzlich auch die Brücke im Zuge der A 40 bei Duisburg
und möglicherweise auch die Neckartalbrücke im Zuge
der A 6 aufnehmen.
Wir wollen den Rechtsweg beim Bundesverwaltungsgericht konzentrieren. Das Bundesverwaltungsgericht
soll erste und letzte, also einzige, Instanz bei der Überprüfung von Planfeststellungsbeschlüssen sein. Hintergrund ist, dass wir das Verfahren beschleunigen wollen.
Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht bei den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit. Bei den genannten
Projekten gibt es eine große Eilbedürftigkeit; sie müssen
schnell umgesetzt werden. Dort sind Ersatzneubauten erforderlich. Da haben wir nicht viel Zeit zu verlieren.
Ganz im Gegenteil: Die Zeit drängt sehr. Deshalb müssen wir jeden Versuch unternehmen, um dort zu einer
Beschleunigung zu kommen.
({0})
Das Bundesverwaltungsgericht ist Rechtsmittelgericht. Deshalb können wir auch keine allgemeine gesetzliche Regelung dahin gehend erlassen, dass wir das für
eine Vielzahl von Projekten machen wollen. Wenn wir
das Bundesverwaltungsgericht hier als erstinstanzliches
und sogar einziginstanzliches Gericht einsetzen wollen,
dann geht das nur in begründeten Ausnahmefällen.
Diese liegen hier meines Erachtens aufgrund der hohen
Eilbedürftigkeit, die gegeben ist, vor.
Am Beispiel der Rheinbrücke im Zuge der A 1 bei
Leverkusen kann man das, glaube ich, sehr deutlich sehen. Wir haben eine hohe Verkehrsbelastung. Die Brücke ist heute schon für den Schwerlastverkehr gesperrt,
das heißt nicht nur für die 40-Tonner, sondern auch für
alle Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen. Es ist also auch
der Handwerksbetrieb betroffen, der Umwege in Kauf
nehmen muss. Wir können tagtäglich Staus und Verkehrsbehinderungen erleben. Der volkswirtschaftliche
Schaden ist also hoch, und auch Schaden einzelner Unternehmen ist gegeben. Deshalb muss schnell gehandelt
werden. Bei den anderen Vorhaben, die ich genannt
habe, ist das genauso. Insofern ist hier dieser Ausnahmetatbestand gegeben, sodass diesbezüglich auch keine
verfassungsrechtlichen Probleme bestehen.
Ich will aber betonen, dass das natürlich nur ein Baustein ist bei der Aufgabe, die mit diesen Sonderfällen auf
uns zukommt. Deshalb bin ich dem Bundesverkehrsminister sehr dankbar, dass wir nicht nur die Mittel für Brückenertüchtigung und Brückenneubau im Verkehrsetat
deutlich erhöht und auf über 1 Milliarde Euro verdoppelt
haben - das wird auch in den nächsten Jahren erforderlich sein -, sondern dass wir auch ein Sonderprogramm
Brückenmodernisierung aufgelegt haben, um bei den
Brücken, die in die Jahre gekommen sind und bei denen
Sanierungs- oder Neubaubedarf besteht, handeln zu können. Und auch das wird letztlich nicht ausreichen.
Alle müssen an einem Strang ziehen. Wir müssen
auch an die Länder appellieren, die letztlich für das Baurecht zuständig sind, dass dort keine Hindernisse in den
Weg gelegt werden, sondern dass man die Verfahren
möglichst schnell und zielgerichtet durchführt. Was
sonst passiert, sehen wir heute beispielhaft an der
Schiersteiner Brücke. Dort hat der Bund frühzeitig seine
Hausaufgaben gemacht; er hat erkannt, dass die Brücke
neu gebaut werden muss. Auch Hessen hat seine Hausaufgaben gemacht. Nur in Rheinland-Pfalz hat man viel
zu lange darüber gestritten, ob man diese sechsspurig
oder mit einer anderen Breite weiterführt.
({1})
Daran sieht man beispielhaft, dass alle an einem
Strang ziehen müssen, um solche Vorhaben vernünftig
zum Ende führen und damit die Bedürfnisse der Menschen und der Wirtschaft bedienen zu können.
({2})
Ich verstehe die Aufregung von Ihrer Seite, weil dort
beispielhaft gezeigt wird, wie ideologische Kämpfe und
das Verzögern aus politischen Gründen zu einem Riesenschaden in einer Region führen. Das kann man in und
um Mainz tagtäglich besichtigen.
Deshalb bitte ich darum, dass wir das, was im Gesetzentwurf steht und was wir mit den Änderungsanträgen
noch einbringen werden, im Ausschuss intensiv diskutieren, damit wir hier schnell zu vernünftigen Lösungen
kommen.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Matthias Birkwald.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Als Kölner Bundestagsabgeordneter der Linken
weiß ich aus eigener Erfahrung: Die Leverkusener Brücke, Baujahr 1965, ist zwar vier Jahre jünger als ich;
aber sie ist völlig marode, und darum muss sie dringend
neu gebaut werden.
({0})
Vor kurzem konnte ich mich noch freuen, wenn ich,
vom Bergischen Land kommend, den Kölner Dom sah.
Da dachte ich: Gleich bist du zu Hause. Heute denke ich
stattdessen: Jetzt musst du bremsen. Denn hier beginnt
der durch die Teilsperrungen der maroden Brücke verursachte Rückstau.
Der Kölner Stadt-Anzeiger listete am vergangenen
Montag zwischen Emmerich und Bonn sage und
schreibe 13 marode Rheinbrücken auf und kommentierte
- Zitat -:
An manchen Tagen reicht die Lkw-Wand auf dem
rechten Fahrstreifen … bis weit hinter Burscheid
zurück.
13 von 28 Rheinbrücken marode - unglaublich! Deshalb
sagt die Linke: Ja, die Leverkusener Brücke muss
schnell saniert werden.
({1})
Meine Damen und Herren, bereits 2012 attestierten
Fachleute der Brücke, sie sei in einem kritischen Bauwerkszustand. Seitdem ist nichts passiert - seit drei Jahren. Jetzt wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die Klagemöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf eine
einzige Instanz verkürzen, um die Sanierung zu beschleunigen. Erst nichts tun und dann die Rechte der
Bürgerinnen und Bürger einschränken?
({2})
So, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Union, geht das nicht.
({3})
Die Bürgerinnen und Bürger sind doch nicht schuld
an den maroden Brücken in Köln, Duisburg oder Mainz.
Die völlig verfehlte Investitions- und Verkehrspolitik
dieser Großen Koalition, die ist schuld. Ihr Investitionsprogramm von gestern kommt viel zu spät und ist immer
noch viel zu mickrig. Die Verantwortung dafür trägt
Wolfgang Schäuble, weil er als Finanzminister mit dem
Bleifuß auf der Schuldenbremse steht. Dieser Bleifuß
zwingt die Menschen, ihre Lebenszeit im Investitionsstau rund um die Leverkusener Brücke oder in verspäteten und überfüllten Nahverkehrszügen zu vergeuden.
Das muss aufhören.
({4})
CDU/CSU und SPD tanzen ums Goldene Kalb der
schwarzen Null. Sie verzichten auf eine Vermögensteuer, und dafür nehmen Sie billigend in Kauf, dass
Brücken, Schienen und Straßen verrotten. Und dann
wollen Sie auch noch demokratische Bürgerrechte beschneiden! Das alles geht gar nicht. Das ist eine völlig
planlose und gefährliche Politik.
Was sind die Folgen? Der Kölner IG-Metall-Chef,
Dr. Witich Roßmann, beklagt, dass Tausende Kolleginnen und Kollegen von Ford tagtäglich bis zu einer
Stunde länger zur Arbeit brauchen. Die FAZ vom 10. Februar dieses Jahres beziffert die Reparatur- und Folgekosten durch längere Fahrzeiten und erhöhten Spritverbrauch allein an der Leverkusener Brücke auf insgesamt
250 Millionen Euro - ohne die zusätzlichen Umweltbelastungen übrigens.
Dabei sind die drei gesperrten Rheinbrücken in
Köln, Duisburg und Mainz erst der Anfang. 6 000 der
39 000 Brücken des Bundes gelten als sanierungsbedürftig - 6 000! Für die kommunalen Brücken sieht das
Deutsche Institut für Urbanistik bis zum Jahr 2030 einen
Investitionsbedarf von 17 Milliarden Euro. Den gesamten kommunalen Investitionsstau beziffert es übrigens
auf 118 Milliarden Euro: für Schulen, Straßen, Bäder
usw. Gemessen daran reicht das gestrige Investitionsprogramm des Bundes von 10 Milliarden Euro bis 2018
vorne und hinten nicht.
Für Köln heißt das: 2017 gibt es 52 Millionen Euro
zusätzlich vom Bund. Das klingt viel; aber schon die Sanierung der Mülheimer Brücke kostet die Stadt mindestens 65 Millionen Euro. Die ist nämlich kaputt, weil sie
als Ausweichstrecke für die marode Leverkusener Brücke herhalten musste.
Meine Damen und Herren, das alles ist eine völlig
verfehlte Verkehrspolitik. Es wird immer deutlicher: Wir
brauchen nicht nur Geld für die Sanierung von kaputten
Brücken. Nein, wir brauchen auch einen Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Wir müssen Schiene
und Wasserstraßen als Alternativen zum Lkw-Verkehr
ausbauen, und wir brauchen mehr Rechte für die Bürgerinnen und Bürger und nicht weniger.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Gustav Herzog von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich vermute, es steht im Arbeitsvertrag des Generalsekretärs der rheinland-pfälzischen CDU, dass er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit das Land
kritisieren muss.
({0})
Das kann ich noch verstehen. Aber es wäre gut, wenn er
sich vorher in der Sache schlaugemacht hätte, Herr Kollege Schnieder. Ich will Ihnen aus einem Brief zitieren,
den die Staatssekretärin Bär meinem Kollegen Held geschrieben hat, weil er darum gebeten hatte, eine weitere
Maßnahme in Rheinland-Pfalz zu finanzieren. Die Kollegin Bär schreibt:
Das Gesamtvolumen der Bedarfsplanmaßnahmen,
für die ein unanfechtbares Baurecht vorliegt, belief
sich vor der Entscheidung für die zugesagten Baubeginne im Juli dieses Jahres bundesweit auf rund
4,7 Milliarden Euro. Daher konnten nicht alle baureifen Projekte für eine Baufreigabe berücksichtigt
werden.
Jetzt kommt es:
Aus diesem Grund, aber auch vor dem Hintergrund
des außerordentlich hohen Finanzvolumens der bereits in Rheinland-Pfalz laufenden Bauvorhaben
mit entsprechend hohen Vorbelastungen in den Folgejahren, war eine Zustimmung zu Baubeginn …
nicht möglich.
Das heißt: Rheinland-Pfalz hätte gerne, der Bund hat
aber nicht. Nehmen Sie das bitte einmal mit in das Verkehrsministerium.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorredner von
der Linken hat die Verkehrspolitik der Koalition insgesamt kritisiert. Das hängt sicherlich mit seiner heutigen
Anwesenheit im Verkehrsausschuss zusammen. Dort
habe ich ihn so noch nicht gesehen. Ich will ihn einmal
darauf hinweisen, dass diese Koalition einiges auf den
Weg gebracht hat.
({2})
Sie haben die Binnenschifffahrt genannt. Wir haben dafür gesorgt, dass die WSV-Reform in ruhigem, aber stetigem Fahrwasser vorangeht.
({3})
Wir haben dafür gesorgt, dass mit der LuFV der Bahn
genügend Mittel zur Verfügung stehen, noch mehr für
den Lärmschutz zu machen. Wir werden auch mit dem
Bundesverkehrswegeplan einen Kurswechsel vollziehen, nämlich weg von den Spatenstichen hin zu mehr
Nachhaltigkeit.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Kurs im
Bundesverkehrswegeplan heißt: Erhalt vor Neu- und
Ausbau. Deswegen ist heute dieser Gesetzentwurf auch
ein klares Symbol für diesen Kurswechsel, der notwendig ist, nämlich mehr Erhalt vor Neu- und Ausbau. Uns
hat mit der A 1 das Alltagsgeschäft eingeholt. Ich habe
einmal nachgeschaut: Allein in Nordrhein-Westfalen
sind in der Zeit von 1960 bis 1980 sehr viele Brücken
gebaut worden. In der Zwischenzeit hat aber in diesem
bedeutenden Land der Verkehr gegenüber dem, was damals an Steigerung gesehen worden ist, über 50 Prozent
zugenommen. Allein über die A 1, die einmal für
40 000 Fahrzeuge konstruiert war, rollen jeden Tag
140 000 Fahrzeuge; darunter ein entsprechender Anteil
an Schwerlastverkehr. Deswegen kann man den Planern
von früher keinen Vorwurf machen. Sie konnten nicht
wissen, dass der Verkehr, insbesondere der Schwerlastverkehr, so zunehmen würde.
Die Schwierigkeit ist: All diese Bauwerke müssen sozusagen unter rollendem Rad saniert werden. Das ist
eine wahnsinnige Aufgabe für die entsprechenden Planungsbehörden. Herr Kollege Birkwald, vielleicht hätten
Sie einmal ins Internet unter Straßen.NRW geschaut.
Dort ist sehr umfangreich und sehr leicht nachvollziehbar erklärt worden, was in den letzten Jahren geleistet
worden ist,
({5})
bis hin zu den Probebohrungen, die notwendig sind, weil
es sowohl in Bezug auf Altlasten bzw. Chemie als auch
von der Natur ein hochsensibles Gebiet ist. Man kann
nicht einfach sagen: Hier baue ich eine neue Brücke. Die
leisten gute Arbeit, und wir werden sie dabei von Berlin
aus unterstützen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es kein einfaches Thema ist, sieht man daran, dass der Bundestag 1991
mit einem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
begonnen hat, dann ein Planungsvereinfachungsgesetz
folgte, 1996 ein Genehmigungsbeschleunigungsgesetz,
2006 das grundlegende Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz und 2013 ein Planungsvereinheitlichungsgesetz. Wir haben uns also immer angestrengt, zu
schauen, wie wir es schneller machen können, auch weil
der Umfang der Untersuchungen und Überprüfungen
immer größer geworden ist.
Kollege Schnieder hat recht: Das Bundesverwaltungsgericht als erste und einzige Instanz vorzusehen, ist
nun nicht der goldene Weg.
({7})
Klagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse werden von
nur einer Instanz in der Sache überprüft und entschieden.
Wir haben es uns bei entsprechenden Entscheidungen in
der Vergangenheit nicht leicht gemacht. Auf der Liste
finden sich 57 Projekte, die dort entweder wegen der
Herstellung der deutschen Einheit, der Einbindung der
neuen Mitgliedstaaten in die EU, der Verbesserung der
Hinterlandanbindung der deutschen Seehäfen, ihres
sonstigen internationalen Bezuges oder - das ist jetzt für
die bereits erwähnten Straßen wichtig - der besonderen
Funktion zur Beseitigung schwerwiegender Verkehrsengpässe aufgeführt sind. Nur wenn eines dieser
Kriterien zutrifft, nehmen wir ein Projekt in die Liste in
der Anlage des Bundesfernstraßengesetzes auf. Ich
denke, das trifft für das Projekt an der A 1 zu, für die Neckarbrücke an der A 6, ganz sicher auch für die A 7 über
dem Nord-Ostsee-Kanal, ebenso für das Projekt an der
A 40 in Duisburg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 2006
eine Entschließung angenommen, nach der im Zusammenhang mit dem Bundesverkehrswegeplan überprüft
werden soll, ob die Kriterien und die Auswahl der Projekte noch zeitgemäß sind. Ich glaube, das ist eine gute
Aufgabe, die wir gerne in die Diskussion zum Bundesverkehrswegeplan aufnehmen. Wir schauen auch hier:
Stimmen die Kriterien noch? Sind die Projekte noch die
richtigen, oder gibt es auch andere Möglichkeiten, dort,
wo es dringend notwendig ist, schneller zu bauen? An
diese Arbeit wollen wir uns gerne machen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Dr. Wilms vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf der Tribüne! Kollege Herzog, da haben
Sie ja wieder richtig viel weiße Salbe draufgeschmiert,
um Ihr Versagen auf allen Ebenen zu verdecken.
({0})
Sie reden da über eine Neukonzipierung des Bundesverkehrswegeplans, den Sie mit neuen Kriterien versehen
wollen. Und was hören wir tatsächlich von Ihrem lieben
Koalitionspartner? „Wir müssen die Ortsumfahrungen
retten, wir müssen die Wahlkreisbindung wieder stärken.“ Damit machen wir mit der Wünsch-dir-was-Liste
genauso weiter wie bisher. So läuft das nicht, Kollege!
({1})
Wir reden heute aber über etwas ganz anderes. Das
Verkehrsministerium traut sich in die Tiefen der Juristerei. Es geht um ein beschleunigtes Planungsverfahren für
Bundesfernstraßen, Herr Ferlemann. Darüber sollten wir
uns heute sicherlich unterhalten, damit diese Schrotthaufen wie die Leverkusener Rheinbrücke oder auch die Rader Hochbrücke zügig erneuert werden können. Aber ich
stelle die Frage: Reicht das allein wirklich aus, um die
Verkehrsinfrastruktur in diesem Lande vor dem Zerbröseln zu bewahren? Was Sie mit diesem Gesetzentwurf
vorhaben, ist das Herausnehmen einer Ebene der Gerichtsbarkeit. Ich sage Ihnen: Das bringt nicht viel. Es
wird deutlich, wo wir alle bisher geschlampt haben. Statt
die Ursachen für das Desaster bei unserer vorhandenen
Verkehrsinfrastruktur zu bekämpfen, doktern Sie jetzt
nur noch an den Symptomen herum. Dass Sie sich wirklich einmal trauen, einen großen Wurf zu machen, sehe
ich hier nicht.
({2})
Das scheint Ihnen etwas zu viel Aufwand zu sein, Herr
Kollege Ferlemann; denn dazu gehören Mumm und auch
die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen. Aber daran fehlt
es Ihnen ja, wie wir an der leidigen Ausländermautdebatte, Bauart CSU, sehen.
({3})
Zu lange wurde der Erhalt unserer Straßen sträflich
vernachlässigt; aber dafür haben Sie lieber immer neue
Straßen eingeweiht. Gerade Sie sind ja häufig genug auf
Bildern, Herr Kollege Ferlemann. Nun sind Sie dabei,
diese falsche Politik weiter fortzusetzen. Unsere großen
Brückenbauwerke aus den 60er- oder 70er-Jahren kommen in die Jahre - Kollege Birkwald hat es schon gesagt,
und ich lege noch ein paar Jährchen obendrauf - und
müssen Schritt für Schritt repariert oder erneuert werden. Das hätte eigentlich vorhersehbar sein müssen,
wenn Sie sich endlich einmal wie ein ehrbarer
Kaufmann verhalten würden. Dann hätten Sie schon
längst die Abschreibung auf das Anlagevermögen der
Straßen ermittelt. Damit hätten Sie einen sauberen Hinweis auf den Bedarf an Investitionen gehabt, um die vorhandenen Straßen in ihrem Wert zu erhalten. So arbeitet
jeder Kaufmann, oder er geht pleite - und Sie gehen
pleite, auch politisch.
({4})
Ohne dieses Frühwarnsystem wurden unsere Brückenbauwerke jahrelang abgenutzt. An die Zukunft
wurde nicht gedacht, immer nur neuen Beton gießen,
mehr nicht.
({5})
Vor allem beginnen Sie jetzt, viel zu spät, mit ersten kleinen Schritten zu handeln,
({6})
mit dem Herausnehmen einer Ebene in der Rechtsprechung. Das heißt, Sie sagen unseren Bürgern: Wir haben
Murks gemacht, aber ihr sollt darunter leiden. Ihr dürft
euch zukünftig nicht mehr so intensiv beteiligen.
({7})
Gehen Sie also lieber den anderen Weg! Gehen Sie auf
die Menschen vor Ort zu, binden Sie sie in die Lösungsfindung ein! Das erwarten die Menschen von der Politik
heute, und nicht die Nummer, die Sie hier ablaufen lassen.
({8})
Machen Sie nicht nur länger die Politik der kleinen
Schritte. Setzen Sie Zeichen, dass Ihnen der Erhalt der
Verkehrswege wirklich wichtig ist. In Ihrem Privatisierungsnebel, werte Kolleginnen und Kollegen dieser Riesengroß-Koalition des Stillstandes, kann ich davon
nichts erkennen.
Danke.
({9})
Vielen Dank. - Als nächster Kollege hat Gero
Storjohann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das war ja eben ein starker Auftritt, Frau
Dr. Wilms.
({0})
Ich habe nur nicht verstanden, was Sie eigentlich sagen
wollten.
({1})
- Die ganze Zeit habe ich zugehört. - Sind Sie nun für
diesen Gesetzentwurf, oder sind Sie dagegen?
({2})
Man muss wissen, dass die Grünen auch in Schleswig-Holstein in der Landesregierung sind, und ich habe
einen Brief vom Verkehrsminister Meyer bekommen,
der eindringlich darum gebeten hat, dass die Rader
Hochbrücke in Schleswig-Holstein bitte in die Anlage
dieser Liste aufgenommen werden soll.
({3})
Wir haben uns als Landesgruppe CDU SchleswigHolstein auch dafür eingesetzt, dass dies so erfolgt, und
ich bin dankbar, dass es von der Bundesregierung aufgenommen worden ist. Nun sehe ich meine Kollegin aus
Schleswig-Holstein, die das nicht zu würdigen weiß. Das
passt nicht, Frau Kollegin.
({4})
Ich wollte Sie hier loben, dass die Grünen endlich einmal dafür sorgen, dass Planungsverfahren beschleunigt
werden. Wir wissen sehr wohl, dass wir Beteiligungsrechte in diesem Augenblick reduzieren. Aber vor die
Alternative gestellt, dass die Rader Hochbrücke, eine
leistungsfähige 1 500-Meter-Stahlkonstruktion aus dem
Jahr 1972,
({5})
irgendwann nicht mehr zu benutzen ist, müssen wir jetzt
dort einsteigen, und das wollen wir auch.
({6})
Wenn Sie dagegen sind, sagen Sie das, und sagen Sie es
auch laut in Schleswig-Holstein.
Den ganzen Sommer über gab es lange Staus, nicht
nur von Pendlern, nicht nur von der Wirtschaft, auch von
Touristen, die nach Dänemark wollten oder von Dänemark zurückkamen oder in Schleswig-Holstein Urlaub
machen wollten. Es war gang und gäbe, dass man über
eine Stunde in diesem Stau stand. Wir haben nicht so
viele Brücken wie am Rhein. Bei uns muss man 70,
80 Kilometer fahren, um die nächste Brücke zu erreichen, um sie mit einem Lkw zu überqueren. Wir haben
zwar leistungsfähige kleine Fähren, aber auch da waren
die Staus enorm.
Wir standen also vor der Entscheidung: Machen wir
nichts, oder beschleunigen wir ein wenig?
({7})
Deshalb bin ich dankbar, dass die Bundesregierung hier
die Rader Hochbrücke aufgenommen hat, und wir weisen darauf hin, dass wir zurzeit immer noch keinen
Schwerlastverkehr über diese Brücke führen können.
Schleswig-Holstein ist ein Windland. Dort werden
nicht nur Windanlagen gebaut, sie werden auch transportiert. Ich habe nun gehört, Herr Birkwald, wir sollen in
Alternativen denken. Wir sollen neue Wasserwege und
neue Schienenwege schaffen. Aber auch wenn wir das
versuchen, sind die Linken dagegen.
({8})
Wenn wir die Fehmarnbeltquerung machen wollen, eine
neue wunderbare Schienenverbindung, um auf diesem
Wege etwas zu transportieren, dann sind die Grünen dagegen. Also, egal was wir machen, es ist nie richtig.
({9})
Nun machen wir einen kleinen Schritt, der einer Lösung
entgegenkommt, und auch dagegen sind Sie noch. Ich
bin maßlos enttäuscht von Ihnen, Frau Wilms, sonst sind
Sie so eine nette Kollegin.
({10})
Dass es überhaupt nicht einfach war, den vorliegenden Gesetzentwurf in seinem Umfang auf den Weg zu
bringen, wissen wir auch. Wir hatten massiven Widerstand aus dem Justizministerium zu überwinden, zu
Recht, weil die Ausnahme begründet werden muss. Aber
ich bin dankbar, dass sich der Justizminister auf den Weg
begeben hat und das Problem als so wichtig erkannt hat,
dass wir jetzt zu einer Lösung kommen. Die Grünen
kann ich heute also leider nicht loben.
({11})
- Das stimmt ja überhaupt nicht, Frau Wilms. Bei der
Wasser- und Schifffahrtsdirektion waren wir uns am Anfang doch verhältnismäßig einig.
({12})
Wichtig ist, dass wir mit diesem Gesetzentwurf für
eine erhebliche Zeitersparnis sorgen,
({13})
und dass lange Klageverfahren, deren Dauer womöglich
die Restnutzungsdauer der alten Brücke, der Rader
Hochbrücke, erheblich überschreiten, vermieden werden.
({14})
Wir haben das Problem erkannt, einen Lösungsvorschlag
erarbeitet, und an die zügige Umsetzung gehen wir jetzt
im Ausschuss und dann wieder hier im Plenum.
Danke schön.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4281 an den Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren
Lay, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Privatisierung von Ackerland und
Wäldern durch die Bodenverwertungs- und
-verwaltungs GmbH
Drucksachen 18/1366, 18/2036
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Dr. Kirsten Tackmann von der Linken das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Wir sind im UN-Jahr des Bodens, und ich
bin froh, dass das nicht eine leere, plakative Kampagne
ist, sondern dass dieses Thema offensichtlich viele
Menschen bewegt, und zwar weit über die Landwirtschaft hinaus.
Boden ist eine natürliche Ressource, die begrenzt ist.
Sie ist die Grundlage für unsere Versorgungssicherheit
bei Lebensmitteln und Energie. Deswegen müssen wir
mit Boden schonend umgehen.
({0})
Aber neben der Bodenfruchtbarkeit und den Flächenverlusten durch Siedlungs- und Straßenbau bewegt viele vor
allen Dingen eine Frage: Wer kann sich Bodeneigentum
eigentlich noch leisten?
„Kaufen Spekulanten den Osten auf?“, fragte der
Tagesspiegel 2013 und brachte die Befürchtungen auf
den Punkt. Als Linke haben wir das Problem schon viel
länger thematisiert. Im Zentrum steht die Kritik an der
bundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs
GmbH, der BVVG. Sie verwaltet und privatisiert im
Auftrag des Bundestages die Flächen der volkseigenen
Güter der DDR, die kostenfrei in Bundesvermögen übergegangen sind.
Bis 2014 hat die BVVG 800 000 Hektar Landwirtschafts- und knapp 600 000 Hektar Forstflächen privatisiert - insbesondere seit 2007 mit fatalen Folgen. Das
sagt übrigens nicht nur die Linke. Till Backhaus, SPDAgrarminister in Mecklenburg-Vorpommern, bezeichnete kürzlich die Privatisierung von Grund und Boden
als Kardinalfehler der deutschen Einheit. Besser wäre
eine treuhänderische Übernahme eines Teils der Flächen
durch das Land gewesen, um sie an Agrarbetriebe weiterzuverpachten.
Genau das fordert die Linke schon ganz lange,
({1})
weil wir vor allem zwei fatale Folgen der Bodenprivatisierung sehen. Erstens steigen spätestens seit 2007 die
Bodenpreise in eine Höhe, die durch landwirtschaftliche
Arbeit nicht mehr zu bezahlen ist. Das hat mit der Kapitalflucht in feste Werte im Zuge der Finanzkrise zu tun,
aber auch mit der BVVG, die unterdessen Flächen europaweit ausschreibt und zum Höchstgebot verkauft. Die
Folge: Zwischen 2007 und 2013 stiegen die Bodenpreise
in Ostdeutschland um 154 Prozent. Dies geschah sehr
zur Freude des Finanzministers, der jährlich etwa
500 Millionen Euro von der BVVG überwiesen bekommt, für ostdeutsche Äcker, die er kostenfrei übernommen hat, und auf Kosten der ortsansässigen Landwirtschaftsbetriebe, die ihre Produktionsgrundlage, den
Boden, zu Wucherpreisen kaufen müssen. Ich finde das
unanständig, erst recht, weil das Geld für gute Löhne
und mehr Tierwohl fehlt.
({2})
Ja, auch in Westdeutschland steigen die Bodenpreise,
aber mit 54 Prozent deutlich geringer. Ja, die Bodenpreise sind in Westdeutschland höher als in Ostdeutschland, aber dort gibt es auch eine höhere Wertschöpfung.
Deswegen kann man die absoluten Summen nicht
vergleichen. Es ist vor allen Dingen die Dynamik, die so
beunruhigt. Ursache ist zwar nicht nur die Bodenprivatisierung, aber 2013 erfolgten immerhin 44 Prozent aller
Bodenverkäufe in Ostdeutschland durch die BVVG. Für
Mecklenburg-Vorpommern wurde gerade berichtet, dass
die Bodenpreise bei der BVVG am allerhöchsten waren.
Ich finde das inakzeptabel.
({3})
Das hat vor allen Dingen eine zweite fatale Folge. Immer häufiger kauft landwirtschaftsfremdes Kapital die
Äcker, Wiesen und gleich ganze Betriebe. Auch davor
hat die Linke lange vergeblich gewarnt. Gerade hat eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe geschätzt, dass zwischen
20 und 35 Prozent der Flächen an Nichtlandwirte gehen.
Verlierer sind die ortsansässigen Betriebe, egal ob es
kleine Familienbetriebe oder große Familienbetriebe
sind, Genossenschaften oder GmbH. Das Problem sind
Kapitalgesellschaften, die Zehntausende Hektar in verschiedenen Regionen Ostdeutschlands aus der Ferne bewirtschaften lassen und aggressiv, zum Beispiel auch
über Anteilskäufe, expandieren.
Lassen wir also wenigstens die restlichen BVVGFlächen in öffentlicher Hand. Um noch einmal mit Till
Backhaus zu sprechen: Dann hätten auch Familienbetriebe und Junglandwirte, Biobauern und arbeitsintensive Unternehmen eine Chance.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
von der Marwitz das Wort von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.
So steht es in Artikel 14 des Grundgesetzes. Seit 1990
verfolge ich als Wiedereinrichter eines ostdeutschen
Landwirtschaftsbetriebes, wie sehr nach dem Mauerfall
dieses Grundrecht in den fünf neuen Bundesländern
strapaziert wurde. Enteignungen und Zwangskollektivierung in der Zeit des Sozialismus haben den ostdeutschen
Bauernstand nahezu ruiniert - ein Faktum, wissenschaftlich belegt und vielfach beschrieben.
Doch weniger bekannt ist die Tatsache, dass Funktionäre und Lobbyisten der ostdeutschen Agrarbetriebe in
den Nachwendejahren nichts unversucht ließen, eine
Wiederbelebung bäuerlich geführter Betriebe und Rückführungen von Flächen an Enteignete zu verhindern. Die
ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nutzten die Gunst der Stunde und formierten
sich mithilfe des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
neu. Nur wenige behielten den Genossenschaftsstatus.
Die meisten firmierten um in juristische Personen. Wie
wir heute wissen, wurden im Zuge dieser Umwandlung
vielen ehemaligen Genossen ihre Ansprüche mehr oder
weniger entzogen.
Es sind die sozialistischen Agrarstrukturen, Frau
Dr. Tackmann, die den Konzentrationsprozess in der ostdeutschen Landwirtschaft bereitet haben.
({0})
Die umgewandelten Gesellschaften sind es, die den außerlandwirtschaftlichen Investoren als Einstieg in die
Urproduktion dienen.
Mit Blick auf diese geschichtliche Entwicklung
möchte ich feststellen, dass die Verbindung von Besitz,
Tradition und Unternehmertum im Sinne des Artikels 14
Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes Eckpfeiler unseres
wirtschaftlichen Wohlstands in Deutschland sind. Deshalb warne ich vor einer staatlichen Reglementierung
des Bodenmarkts.
Nun zu Ihrem Antrag und zum weiteren Umgang mit
der BVVG. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bodenmarkt hat in ihrem Abschlussbericht festgestellt, dass die
BVVG mit ihrem stetig sinkenden Flächenbestand kaum
noch Einfluss auf agrarstrukturelle Entwicklungen nehmen kann. 187 000 Hektar Äcker und Wiesen befinden
sich noch im Eigentum der BVVG, gerade einmal rund
3,5 Prozent der ostdeutschen landwirtschaftlichen Nutzfläche. Hinzu kommt, dass diese Flächen mittlerweile
lang- und mittelfristig verpachtet sind.
Natürlich können Ausschreibungen eine preistreibende Wirkung haben. Wir sollten jedoch zwischen Ursache und Wirkung genauer differenzieren. Ich denke,
dass der zweifelsohne sprunghafte Preisanstieg auf dem
Pacht- und Bodenmarkt im Wesentlichen eine Folge fehlender Anlagealternativen ist. Die Kapitalzinsen sind ins
Bodenlose gefallen, und im Ost-West-Vergleich sind
landwirtschaftliche Flächen in Ostdeutschland nach wie
vor sehr günstig zu haben. Sie haben von Steigerungen
in Höhe von 54 Prozent gesprochen; der Preis der ostdeutschen landwirtschaftlichen Nutzfläche ist aber nur
halb so hoch wie in Westdeutschland.
Um der BVVG einen stärkeren agrarstrukturellen
Fokus zu geben, haben wir bei den Privatisierungsgrundsätzen bereits nachgebessert und zum Beispiel die
Losgrößen reduziert. In einer Lebensverlängerung im
Hinblick auf die BVVG über das Jahr 2025 hinaus sehe
ich jedenfalls keinen gesellschaftlichen Mehrwert. Ganz
im Gegenteil: Das Dilemma der BVVG bleibt bestehen.
Sie steht zwischen Baum und Borke. Auf der einen Seite
gibt es den Druck des Finanzministers und die Notwendigkeit, nicht gegen Wettbewerbs- und Haushaltsrecht zu
verstoßen. Auf der anderen Seite soll die Flächenprivatisierung nach § 1 des Treuhandgesetzes auch ökologischen und strukturellen Gegebenheiten Rechnung tragen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist die
Quadratur des Kreises. Das führt dazu, dass von allen
Seiten auf den Sack eingedroschen wird, obwohl man
doch eigentlich den Esel meint.
Auch eine Übertragung der BVVG-Flächen auf die
Bundesländer ist aus meiner Sicht eine sinnlose Kompetenzverschiebung. Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern planen, die verbleibenden BVVG-Flächen
zu erwerben. Wenn ich höre, dass zum Beispiel die
Landgesellschaft Sachsen-Anhalt bei entsprechenden
Losen einen ähnlichen Verkaufspreis wie die BVVG erzielt, sehe ich mich bestätigt, dass wir es in erster Linie
mit marktwirtschaftlichen Anpassungsprozessen und
nicht mit einer gezielten Preistreiberei der BVVG zu tun
haben.
Lassen Sie mich noch kurz auf einen weiteren Punkt
Ihres Antrags eingehen. Sie fordern die Einführung einer
Vermögensteuer, einer Steuer auf hohe Vermögen. Abge9022
sehen davon, dass Vermögen aus bereits versteuerten
Einnahmen gewachsen sind, kann ich Ihnen garantieren,
dass sich das mobile Privatvermögen alsbald vor dem
Zugriff des Staates retten wird. Betroffen werden am
Ende die immobilen Vermögensgegenstände sein, allen
voran die der deutschen Bauern. Denn deren Kapital ist
in ihrer Produktionsgrundlage - in Boden, Maschinen,
Arbeit und Vieh - gebunden.
Dass man mit Forderungen auch zu weit gehen kann,
konnten Sie kürzlich bei unseren französischen Nachbarn
beobachten. Dort haben die Sozialisten die Reichensteuer
klammheimlich auslaufen lassen. Die Einnahmen blieben
nämlich deutlich hinter den Erwartungen zurück, ganz
zu schweigen vom immensen Imageschaden.
({1})
Meine Damen und Herren, meiner Ansicht nach ist es
geradezu aberwitzig, mit einem Griff in die Substanz der
Betriebe Strukturpolitik betreiben zu wollen. Als Landwirt sage ich Ihnen: Wer Kühe melken möchte, muss sie
ordentlich füttern und nicht schlachten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Friedrich Ostendorff von Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass wir im UN-Jahr des Bodens auch über den Aspekt der BVVG reden. Denn Boden ist die Quelle des
Lebens, des Wachstums. Boden ist die Grundlage des
Wirtschaftens in der Landwirtschaft. Boden ist uns gegeben, damit wir sorgsam mit ihm umgehen und ihn bewahren, sodass er auch zukünftigen Generationen noch
zur Verfügung steht: für zukünftiges Leben, für zukünftiges Wachstum und für zukünftiges Wirtschaften. Boden
ist eine natürliche Ressource, die nicht vermehrbar ist.
Boden ist Kapital. Aber ist Boden auch eine Kapitalanlage? Oder: Sollte Boden eine Kapitalanlage sein? Wir
erleben einen enormen Ansturm auf Boden, verbunden
mit einer Preissteigerung, die ihresgleichen sucht. Seit
der Weltfinanzkrise 2008 wurden Boden und Landwirtschaft als sogenannte Anlageklassen, als Asset Class
oder auch als Real Investment, entdeckt. Nichts ist so
real, so bodenständig, so lebensnotwendig wie Landwirtschaft. Aber wollen wir diese Lebensgrundlage verkaufen und verramschen, wollen wir diese Lebensgrundlage
aufs Spiel setzen?
Der Preis für landwirtschaftliche Flächen - Kollegin
Tackmann wies richtig darauf hin - stieg seit der Weltfinanzkrise um 64 Prozent, in den neuen Bundesländern
- es gibt unterschiedliche Zahlen - um weit über
100 Prozent. Die Preise für BVVG-Flächen des Bundes
stiegen allein innerhalb eines Jahres in Sachsen-Anhalt
um 21 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern um 25 Prozent. Viele kleine und mittlere Landwirte können bei
diesen Preisen nicht mehr mithalten. Das schafft keine
ausgewogene Agrarstruktur, und das bringt keine nachhaltige ländliche Entwicklung.
({0})
Die falsche Verkaufspraxis der BVVG führt zu einem
Ausverkauf des Bodens an kapitalkräftige Investorengruppen und landwirtschaftliche Großunternehmen.
Deshalb stimmen wir Grünen dem Verkaufsstoppantrag
der Linken zu.
({1})
Warum werden die verbleibenden Bundesflächen
nicht dazu genutzt: etwa als Flächenpool für die Förderung von Junglandwirten oder als Ergänzung für aufstockungsbedürftige kleine Landwirte oder für eine langfristige, günstige Verpachtung an Betriebe mit einem
hohen Mehrwert für die Region? So kämen wir weiter,
lieber Hans-Georg von der Marwitz.
Aber eins muss auch noch gesagt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es reicht leider nicht aus, nur über
die Flächen der BVVG zu reden, es geht um viel mehr:
Wir müssen letztlich zu einer anderen, vielfältigeren Agrarstruktur kommen. Wir brauchen zum Beispiel richtige
- bäuerliche - Genossenschaften für lebendige, lebenswerte Dörfer, keine Agrarunternehmen, die nur juristisch
eine eingetragene Genossenschaft sind.
({2})
Ungesunde Bodenverteilung wollen wir Grüne beenden. Eine ungesunde Bodenverteilung besteht heute,
wenn sich der Besitz oder die Bewirtschaftung von Land
in einem Dorf oder in einer Region in den Händen von
wenigen Agrarunternehmen konzentriert, egal in welcher Rechtsform.
({3})
Wir brauchen ein agrarisches Leitbild, das Leitplanken
setzt für eine sinnvolle zukünftige Entwicklung in der
Landwirtschaft für Vielfalt auf dem Lande und in den
Dörfern. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann
Boden seine Funktion bewahren als Quelle des Lebens,
des Wachstums und als Grundlage des Wirtschaftens in
der Landwirtschaft.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Pflugradt von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD heißt es:
In Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
wird geklärt, ob die noch in der Hoheit des Bundes
verbliebenen Treuhandflächen interessierten Ländern übertragen werden können.
So weit, so gut.
Die Bedingungen für eine Übertragung der Flächen
müssen so gestaltet sein, dass sie den spezifischen agrarstrukturellen, umweltpolitischen sowie verfassungs- und
haushaltsrechtlichen Voraussetzungen gerecht werden;
das haben wir heute Abend schon mehrfach gehört.
Interesse an einer Übernahme der von der bundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH,
BVVG, verwalteten Flächen haben die Länder SachsenAnhalt und Mecklenburg-Vorpommern schon zu Beginn
des letzten Jahres bekundet. Hierüber sind der Bund und
die genannten Länder bereits lange im Gespräch. Das
Bundesfinanzministerium erklärte dazu, dass der Bund
seine grundsätzliche Bereitschaft zum Verkauf erneuern
würde. Noch konnte leider keine Einigung erzielt werden; denn einige Fragen gestalten sich als schwierig, vor
allem rechtliche Fragen sind noch offen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Übertragung der vorhandenen
Flächen ist unter anderem, dass sich Bund und Länder
über einen geeigneten Kaufpreis verständigen. An diesem Punkt sind wir derzeit aber noch nicht.
Bevor die Länder in derart konkrete Preisverhandlungen mit dem Bund einsteigen, muss im Vorfeld im Detail
geklärt sein, worüber verhandelt wird. Außerdem müssen die Verkaufsobjekte definiert und wertsteigernde sowie wertmindernde Faktoren berücksichtigt werden. Das
nimmt eine Menge Zeit in Anspruch und befindet sich
weiter im laufenden Verhandlungsprozess.
Aufgrund der komplizierten und komplexen Materie
ist eine tiefgreifende Vorarbeit notwendig. Ein Ende der
Vorgespräche ist momentan nicht in Sicht, und der Ausgang der Verhandlungen ist zurzeit völlig offen.
In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern
lag der Durchschnittspreis im Jahre 2014 mit rund
19 730 Euro pro Hektar ein Fünftel über dem des Jahres
2013. Damit hat der Verkaufswert wieder einen deutlichen Sprung nach oben gemacht.
Rund 60 700 Hektar Landfläche hatte die BVVGNiederlassung am Ende des Jahres 2014 verpachtet.
Viele Flächen sind demnach verpachtet und können gar
nicht unmittelbar verkauft werden. Die Verpachtung ist
wiederum an besondere Kriterien gebunden, die auf den
Erhalt von Arbeitsplätzen und auf die Wertschöpfung im
ländlichen Raum abzielen. Das sind zwei ganz wichtige
Punkte. Davon profitieren vor allem ökologisch wirtschaftende Betriebe. Eine Forderung Ihres Antrages ist
damit bereits erfüllt - zumindest in Mecklenburg-Vorpommern.
({0})
- Auch praktisch.
({1})
Der Preisdruck bei den Landverkäufen ist nicht nur
auf die Verkaufspraxis der BVVG zurückzuführen, sondern auch auf den Automatismus von Angebot und
Nachfrage.
Die BVVG benutzt in ihren Ausschreibungen das
Vergleichspreissystem. Damit wird der anzuwendende
Flächenpreis für jeden Verkauf gesondert festgesetzt,
wobei die relevanten Daten aus ähnlichen früheren Veräußerungen zum Vergleich herangezogen werden. Das
Vergleichspreissystem ist laut einem Gutachten der EUKommission mit den einschlägigen Vorschriften und
Grundsätzen für eine Grundstücksbewertung vereinbar.
Gerade beim Verkauf von Flächen der BVVG und auch
beim Verkauf kleinerer Flächen sollten unabhängige
Sachverständige aber direkt von der BVVG Auskunft
über den Verkaufswert der Fläche erhalten, um Intransparenz bei der Vergabe zu vermeiden. Ich glaube, das ist
ein wichtiger Punkt.
Die Privatisierung der ehemals volkseigenen landund forstwirtschaftlichen Flächen geht momentan in die
letzte Phase. Die Übertragung an die Alteigentümer, bei
der die BVVG als Privatisierungsstelle des Bundes fungiert, soll in den nächsten Jahren abgeschlossen werden.
Der Verkauf von Forstobjekten wird voraussichtlich bereits in diesem Jahr weitestgehend beendet sein.
Die Naturschutzflächen sind schon so gut wie komplett veräußert worden. Gegenwärtig hat die bundeseigene Gesellschaft knapp 187 000 Hektar Landfläche und
rund 19 000 Hektar Wald im Bestand. Davon will die
BVVG noch in diesem Jahr rund 23 000 Hektar Land
und circa 6 000 Hektar Waldfläche verkaufen. Bis zum
Jahr 2025 sollen alle Flächen verkauft werden - das bedeutet, rund 20 000 Hektar im Jahr.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten deshalb an
der Vereinbarung im Koalitionsvertrag fest, dass in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern geklärt werden
solle, ob die betroffenen Länder Interesse haben, die
noch in der Hoheit des Bundes verbliebenen Flächen
vom Bund zu erwerben. Die Länder hätten somit die
Möglichkeit, ein Existenzgründerprogramm unter anderem für Junglandwirte zu etablieren.
({2})
Die SPD-Bundestagsfraktion erklärt sich hinsichtlich
weiterer Forderungen gesprächsbereit. Im Zentrum steht
dabei vor allem eine Verschiebung des aktuell auf 2025
datierten Endes der Privatisierung und damit eine weitere zeitliche Streckung des Privatisierungsprozesses.
Dies würde eine stärkere räumliche und zeitliche Trennung der einzelnen Ausschreibungen ermöglichen.
Bei gleichzeitig kleineren Losgrößen würde auch
kleineren und mittleren Landwirtschaftsbetrieben die
Möglichkeit eröffnet werden, sich erfolgversprechend an
Ausschreibungen zu beteiligen. Der Kaufdruck würde
vermindert, sodass die Liquidität der Betriebe, die sich
um Bodenerwerb bemühen, weniger stark beansprucht
würde. Vorstellbar ist demnach eine Obergrenze der aus9024
geschriebenen Lose. Im Jahr 2014 lag die durchschnittliche Losgröße der unbeschränkt alternativ zur Pacht bzw.
zum Kauf ausgeschriebenen Lose bei rund 17 Hektar.
Kleine Lose sind tendenziell unattraktiver für große
außerlandwirtschaftliche und überregionale Investoren.
Somit können passgenauere Lose für einzelne Betriebe
in die Ausschreibung gelangen. Außerdem sind beschränkte Ausschreibungen für arbeitsintensive Betriebe
und Junglandwirte sowie Existenzgründer ein wichtiges
Element zur Steuerung des Flächenerwerbs im Sinne agrarstruktureller Zielvorstellungen. Es sind damit positive
Effekte für die Beschäftigung in ländlichen Räumen sowie der für die Zukunft des Sektors wichtigen Junglandwirte oder Existenzgründer verbunden.
Ein Verbleib der gebliebenen Treuhandflächen beim
Bund, also ein Privatisierungsstopp, wie Sie es, meine
lieben Kollegen von den Linken, in Ihrem Antrag fordern, schließen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aus.
({3})
Die Privatisierungspflicht ist Bestandteil des Treuhandgesetzes und wird weiter verfolgt.
Schönen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Stauche von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Einer meiner ersten Gedanken beim Lesen des heute zu behandelnden Antrags war: Hier fehlt
eigentlich noch das Schlagwort: „Junkerland in Bauernhand“. - Das hatten wir schon.
({0})
Auch die Tatsache, dass es das linke Mantra von der Vermögensteuer in den Antrag geschafft hat, passt genau ins
Bild.
Zum besseren Verständnis des vorliegenden Antrags
möchte ich gern kurz über den Tellerrand schauen, nämlich ins Parteiprogramm der Partei Die Linke. Dort heißt
es unter anderem:
Wir wollen eine demokratische Vergesellschaftung
weiterer strukturbestimmender Bereiche auf der
Grundlage von staatlichem, kommunalem, genossenschaftlichem oder Belegschaftseigentum.
({1})
So unkonkret, wie das formuliert ist, so deutlich ist die
Absicht:
({2})
Nicht nur Einrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge sollen vergesellschaftet sein, sondern darüber hinaus auch wichtige Wirtschaftsbereiche.
Wohin soll das führen? Ich kann nur so viel sagen:
Das hat schon einmal nicht funktioniert.
({3})
Mein Kollege Hans-Georg von der Marwitz hat eben bereits deutlich gesagt: Die heutige Diskussion findet nur
statt, weil es eine solche Vergesellschaftung schon einmal gegeben hat. - Mit deren Folgen müssen wir uns
heute noch befassen.
({4})
Es ist natürlich lobenswert, wenn sich heute die Nachfolgepartei der Verantwortlichen von damals darum bemüht, die Lage zum Besseren zu verändern.
({5})
- Na ja, ihr seid trotzdem Nachfolger. - Aber ich kann
nur noch einmal betonen: Dann soll man es nicht noch
einmal mit den gleichen Methoden probieren.
({6})
Sie werfen der BVVG vor, Preistreiberei auf dem Bodenmarkt zu betreiben. Dazu einige Zahlen: Im Jahr
2013 sind die Agrarpreise in den neuen Bundesländern
im Durchschnitt tatsächlich um 10 Prozent gestiegen, in
den alten Bundesländern allerdings um 13 Prozent. Dort
ist die BVVG nicht am Markt aktiv gewesen. Der
Durchschnittspreis für 1 Hektar landwirtschaftlicher Fläche lag damals im Osten bei 10 500 Euro, im Westen bei
25 200 Euro. Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass
Preisbildung auf verschiedenen Faktoren beruht, wie
zum Beispiel Bodengüte, Nutzungsart und regionale
Lage.
({7})
Wir leben in der sozialen Marktwirtschaft, auch wenn
die Linke das nicht akzeptiert. Das heißt, Preise bilden
sich durch Angebot und Nachfrage. Hieran ist die
BVVG natürlich beteiligt; denn sie ist ein Anbieter. Allerdings verfügt sie nur noch über 3 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in den neuen Bundesländern.
Lediglich ein Drittel der landwirtschaftlichen Bodenverkäufe in den neuen Bundesländern geht auf das Konto
der BVVG, wenn Übertragungen nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, EALG, nicht betrachtet werden. Direktverkäufe an Pächter berühren den
freien Markt ebenfalls nicht, da diese ohne Ausschreibung verkauft werden. Wenn wir auch diese herausrechnen, beträgt der Anteil der BVVG-Verkäufe in den
neuen Bundesländern nur noch zwischen 12 und 15 Prozent.
Es erscheint mir also etwas übertrieben, die BVVG
als Hauptverantwortliche für den Preisanstieg im Agrarbereich zu bezeichnen. Ich habe den Eindruck, das versteckt sich auch im Antrag der Linken. Dort heißt es:
Insbesondere die durch die Privatisierungsregeln
unterstellte Mitverantwortung für den Anstieg der
Preise für Bodenpacht und -kauf in Ostdeutschland
sorgt für Protest.
Der Verfasser des Antrags schreibt also selbst, dass es
sich um nicht mehr als eine Vermutung handelt, dass die
BVVG für den massiven Preisanstieg verantwortlich sei.
Auf dieser Grundlage die Arbeit der BVVG torpedieren
zu wollen, erscheint mir sehr weit hergeholt.
Auch rein praktisch ergibt der Antrag keinen Sinn. In
Sachsen und Thüringen ist die Arbeit der BVVG bereits
nahezu abgeschlossen. Hier würde er ohnehin keine Wirkung mehr entfalten. Der größte Teil der verbleibenden
BVVG-Flächen ist derzeit verpachtet und kann deshalb
nicht ohne Weiteres verteilt werden. Ein Verkaufsmoratorium würde die Alteigentümer benachteiligen - man
bedenke das bitte auch -, die bisher keine Möglichkeiten
zum Rückkauf nach dem EALG hatten. Denn auch an
sie müssen wir denken.
Die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern stehen zurzeit mit dem Bund in Verhandlungen über eine Flächenübertragung. Der Prozess läuft
also bereits. Dafür bedarf es des vorliegenden Antrags
nicht.
Ich komme zu dem Schluss: Die Arbeit der BVVG
beruht auf der bewussten Entscheidung für die soziale
Marktwirtschaft. Die Forderung, BVVG-Flächen nicht
weiter zu privatisieren, ist unnötig und verkennt die Realitäten des Jahres 2015. Deshalb werden wir den Antrag
ablehnen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Privatisierung
von Ackerland und Wäldern durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2036, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/1366 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Agrar- und Fischereifonds-Informationen-Gesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes
Drucksache 18/4278
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4278 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg,
Volker Beck ({2}), Hans-Christian Ströbele,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermögli-
chen
Drucksachen 18/905, 18/4137
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) - Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich
sehe.
Wir kommen deshalb jetzt gleich zur Abstimmung.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4137, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/905 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.
Wir sind damit am Schluss unserer Tagesordnung,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, zumindest was noch davon übrig
ist.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. März 2015, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.