Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Reform des Wohngeldrechts und zur Änderung des
Wohnraumförderungsgesetzes.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit, Frau Dr. Barbara Hendricks. Bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wohnen ist ein Thema, das alle Menschen betrifft. Wohnen ist, wie wir alle wissen, ein Grundbedürfnis. Wenn
Wohnen also ein Grundbedürfnis ist, bedeutet das auch,
dass dieses Grundbedürfnis für alle Menschen bezahlbar
sein muss. Natürlich meine ich damit nicht, dass sich jeder eine Wohnung in den Toplagen der Innenstädte leisten können muss. Ich meine damit, dass es nicht sein
kann, dass Menschen mit kleineren Einkommen irgendwo außerhalb leben müssen, weit entfernt von Arbeitsort, Schulen oder sonstigen sozialen Infrastrukturen,
weil sie sich nirgends sonst die Mieten leisten können.
Eine Stadt muss für alle Einkommensschichten
Wohnraum bereithalten. Wir wollen deshalb für mehr
Wohnungsneubau in Deutschland sorgen, um die Mietsteigerung zu dämpfen. Aus dem gleichen Grund haben
wir die Mietpreisbremse und das Bestellerprinzip eingeführt. Mit der Wohngeldreform erhöhen wir jetzt das
Wohngeld, und wir vergrößern auch den Kreis der Berechtigten deutlich. Damit helfen wir denjenigen, die angesichts von gestiegenen Mieten und Nebenkosten auf
unsere Solidarität und Unterstützung angewiesen sind.
Die Wohngeldreform ist nur eine von mehreren notwendigen Maßnahmen, mit denen wir für bezahlbares
Wohnen in Deutschland sorgen; auf andere hatte ich
eben schon hingewiesen. Mit der Reform werden wir die
Wohngeldleistung erhöhen. Dies spiegelt sich in den sogenannten Tabellenwerten wider. In dieser Steigerung
haben wir auch den Anstieg der Bruttowarmmieten mitberücksichtigt. Zum anderen heben wir die Miethöchstbeträge regional gestaffelt an; denn die Mieten haben
sich regional sehr unterschiedlich entwickelt.
Von der Reform werden rund 870 000 Haushalte mit
niedrigen Einkommen profitieren. Zum Beispiel wird
ein Zweipersonenhaushalt monatlich statt bisher rund
112 Euro künftig durchschnittlich rund 186 Euro Wohngeld erhalten. Rund 325 000 Haushalte davon werden
erstmals oder wiederum wohngeldberechtigt. Unter diesen sind rund 90 000 Haushalte, die nicht mehr auf
Grundsicherung angewiesen sind.
Zur Leistungsverbesserung beim Wohngeld sind Änderungen des Wohngeldgesetzes und der Wohngeldverordnung notwendig. Da das Wohngeld je zur Hälfte von
Bund und Ländern gezahlt wird, brauchen wir natürlich
auch die Zustimmung des Bundesrates. Mit dieser Zustimmung, die höchstwahrscheinlich so erfolgen wird
- denn wir haben das im Vorhinein abgestimmt -, kann
die Wohngeldreform zum 1. Januar 2016 in Kraft treten.
Die Zeit bis dahin wird in den Ländern und auch in den
örtlichen Wohngeldstellen dafür genutzt werden müssen,
die IT entsprechend umzustellen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Wohngeld ist in den letzten sechs Jahren nicht verändert worden. Im gleichen Zeitraum sind die Verbraucherpreise
um durchschnittlich 8 Prozent und die Warmmieten um
durchschnittlich 9 Prozent gestiegen. Wir sollten uns daher darüber im Klaren sein, dass viele Menschen auf
diese Reform gewartet haben.
Herzlichen Dank.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin. - Das Wort zur
ersten Frage hat die Kollegin Heidrun Bluhm.
Frau Ministerin, Sie haben am Ende Ihrer Ausführungen zum Ausdruck gebracht, dass wir das Wohngeld seit
sechs Jahren nicht angepasst haben. Ich erinnere daran,
dass die letzte Änderung 2001 war. Wir stellen also fest,
dass wir uns immer nur in sehr großen Abständen hier
mit diesem Thema beschäftigen und diese Frage überprüfen. Aus meiner Sicht haben Sie durchaus deutlich
gemacht, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Deshalb
meine erste Frage an Sie: Wie wollen Sie mit der neuen
Überarbeitung der Wohngeldtabelle sicherstellen, dass
die Mieterhöhungen der letzten Jahre - Sie selbst sprachen von 9 Prozent in diesem Zeitraum - tatsächlich
ausgeglichen werden können? Wie erhöht sich die Zahl
derer, die jetzt Anspruch auf Wohngeld haben? Die
Frage, die damit in direktem Zusammenhang steht, ist:
Wo ist die Bemessungsgrenze?
Die Bemessungsgrenze ist sowohl von der Einkommenshöhe als auch von der Höhe der Miete und der Anzahl der Familienmitglieder abhängig. Deswegen kann
man keine Einkommensgrenze für alle denkbaren Haushalte ansetzen. Ich hatte eben schon gesagt: Es werden
rund 325 000 Haushalte erneut oder neu in die Wohngeldberechtigung hineinwachsen. Insgesamt profitieren
870 000 Haushalte. Diejenigen, die schon im Wohngeldbezug waren, bekommen im Prinzip höhere Leistungen.
Rund 325 000 Haushalte kommen zu denjenigen hinzu,
die in diesem Jahr aktuell zum Wohngeldbezug berechtigt sind.
Die Tabellenwerte im Wohngeld werden im Schnitt
insgesamt um rund 39 Prozent angehoben. Das gleicht
durchaus die Steigerungen aus, die in den vergangenen
fünf Jahren - ich sagte Ihnen, die Warmmieten sind in
diesem Zeitraum um 9 Prozent angestiegen - stattgefunden haben. Es gibt insgesamt sechs verschiedene Mietenstufen je nach Miethöhe. In den Ballungsräumen, in
denen die Mieten am stärksten gestiegen sind, wird auch
ein überproportionaler Anstieg des Wohngeldes vorgesehen, sodass im Schnitt eine Erhöhung von 39 Prozent herauskommt. In den Stufen I bis III ist diese Erhöhung
niedriger. Das ist aber auch in Ordnung, weil dort die
Mieten nicht in dem Maße angestiegen sind.
Prophylaktisch mache ich darauf aufmerksam, dass
bei der Befragung der Bundesregierung die Frage eine
Minute umfasst und die Antwort ebenfalls. Uns unterstützt das optische Signal: Wenn es rot aufleuchtet, ist
die Minute in jedem Fall überzogen.
Zur nächsten Frage hat der Kollege Christian Kühn
das Wort. - Bitte.
Danke, Frau Präsidentin. Danke, Frau Ministerin, für
Ihre Ausführungen. - Sie haben gesagt: Das Wohngeld
wird erhöht, der Kreis der Berechtigten erweitert sich. Wenn ich die Geschichte des Wohngeldes betrachte,
dann stelle ich fest, dass zum Beispiel im Jahr 2009, als
Schwarz-Gelb regierte, die Bundesrepublik für 860 000
Berechtigte 1,56 Milliarden Euro Wohngeld ausgab.
Jetzt entnehme ich Ihren Presseäußerungen, dass Sie für
das Jahr 2016 1,43 Milliarden Euro ausgeben wollen und
wir 870 000 Berechtigte haben. Ich weiß nicht, wieso
Sie aufgrund dieser Zahlen davon ausgehen, dass wir
eine deutliche Wohngeldsteigerung haben. Wir sind unter dem Niveau von Schwarz-Gelb; denn die Mieten und
Heizkosten sind in Deutschland gestiegen. Deswegen
verstehe ich nicht, dass Sie sagen, dass das Wohngeld erhöht worden ist. Ich frage Sie: Sehen Sie es auch so, dass
wir eigentlich unter dem Niveau von 2009 sind?
Zunächst darf ich Sie darauf hinweisen, dass das Jahr
2009 erst im Herbst eine neue Regierung gesehen hat
und dass die Wohngeldreform nicht zum Ende des Jahres
2009 durchgeführt wurde, sondern in der ersten Hälfte
des Jahres 2009. Deswegen ist sechs und nicht fünf Jahre
lang nichts geändert worden. Darauf habe ich eben hingewiesen.
In der Tat ist es so: Solange das Wohngeld nicht dynamisiert wird, wird es immer wieder dazu kommen, dass
Menschen in dem Zeitraum, bis es zu einer Anpassung
kommt, aus der Berechtigung herausfallen und erst dann
wieder hineinkommen, wenn es eine Anpassung gibt, so
wie jetzt auch. Ich darf Sie aber darauf hinweisen, dass
das Ist beim Wohngeld im Jahr 2014 - ich suche die genaue Zahl heraus - insgesamt 845 Millionen Euro betrug. Das heißt, dieser Betrag ist in der Tat gesunken,
weil die Zahl der Anspruchsberechtigten zurückgegangen ist. Wir heben es jetzt an und werden im Jahr 2016
1,43 Milliarden Euro zur Verfügung haben - Bund und
Länder zusammen. Wir werden 870 000 anspruchsberechtige Haushalte haben, 325 000 mehr als bisher.
Ja, es sind Haushalte aus der Anspruchsberechtigung
herausgefallen. Darum habe ich ja auch davon gesprochen, dass es sowohl erneute als auch neue Anspruchsberechtigungen geben wird. „Erneut“ bedeutet: Haushalte, die zuletzt vor zwei oder drei Jahren einen
Anspruch auf Wohngeld hatten und dann nicht mehr,
können jetzt wieder einen Anspruch haben; sie kommen
erneut in den Anspruch hinein. Es gibt natürlich auch
Haushalte, die jetzt neu in den Anspruch hineinkommen.
Bei diesem System wird es bleiben, solange das Wohngeld nicht dynamisiert wird.
Jetzt kann man sich eine Dynamisierung wünschen.
Ich habe aber durchaus Verständnis für die Position des
Bundesfinanzministers, der - ich will mal sagen - ganz
allgemein Dynamisierungen scheut wie der Teufel das
Weihwasser.
Frau Ministerin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt die Antwortzeit verdoppelt haben?
Ja. So ist der Mechanismus.
Es ist klar: Sie haben sehr viel zu sagen. Aber ich
habe hier auch noch sehr viele Kolleginnen und Kollegen auf der Frageliste. Das heißt, Sie werden all das sicherlich loswerden. - Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Matthias Miersch.
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Meine Frage bezieht
sich nicht auf das Wohngeld, aber auf die heutige Kabinettssitzung.
({0})
Die entsprechenden Fragen werden gesondert aufgerufen. Deswegen bitte ich darum, mich auf der Frageliste
nach hinten zu setzen.
Ach so. Gut. - Dann bitte ich jetzt darum, dass nur
diejenigen sich melden, die tatsächlich zu dem vorgetragenen Thema Fragen haben. Alles andere rufe ich, so
wie immer, im Anschluss auf. - Die nächste Frage stellt
die Kollegin Frau Dr. Julia Verlinden.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, ich habe eine Frage
zum Thema „Klimakomponente im Wohngeld“. Sie haben im Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 angekündigt, dass das Wohngeld um eine Klimakomponente erweitert werden soll. Das ist im jetzigen Entwurf leider
nicht enthalten. Deswegen frage ich: Warum wird dies
nicht in der jetzt im Kabinett beschlossenen Wohngeldanpassung enthalten sein, sondern erst in der übernächsten Novelle? Wann soll es zu dieser übernächsten Novelle kommen? Mit anderen Worten: Wann wird es so
weit sein, dass eine Klimakomponente im Wohngeld enthalten ist, die Sie selbst angekündigt haben und die wir
Grüne sehr wichtig finden?
Wir hatten in der Tat im Rahmen unseres Aktionsprogramms Klimaschutz 2020 angekündigt, die Einführung
einer Klimakomponente im Wohngeld durch eine Differenzierung der Miethöchstbeträge nach energetischer
Gebäudequalität zu prüfen. Das ist ein Prüfauftrag, den
wir uns selber erteilt haben. Wir wussten, dass wir das
bei dieser Novellierung nicht umsetzen können.
Ich bin sehr sicher, dass wir in dieser Legislaturperiode keine zweite Wohngeldreform haben werden. Eine
Voraussage für die nächste Legislaturperiode wage ich
nicht, weil ich die Verantwortlichkeiten vor den Wahlen
nicht vorhersagen kann.
Danke. - Die nächste Frage stellt der Kollege Ralph
Lenkert.
Frau Ministerin, Sie führten aus, dass die Wohngeldsteigerungen in den Stufen I bis III nicht so hoch sind.
Jetzt erfolgt eine Einstufung der Städte anhand ihrer
Größe. Da gibt es einige Städte, im Osten insbesondere
die Stadt Jena, in denen die Mietpreissteigerungen weit
über 30 Prozent liegen, die aber bei den Wohngeldsteigerungen nur in die Mietenstufe III eingeordnet sind,
weil sie einfach zu klein sind. Wie wollen Sie den Mieterinnen und Mietern in diesen Regionen, die es auch in
anderen Bundesländern gibt - Regionen mit einer dynamischen Entwicklung und kleineren Städten -, gerecht
werden, wenn die Einstufung so bleibt, wie sie ist?
Herr Kollege, die Einstufung erfolgt nicht anhand der
Größe der Städte - das ist kein Kriterium -, sondern es
wird die durchschnittliche Miethöhe der Wohngeldhaushalte zugrunde gelegt. Die Einstufung erfolgt nach feststehenden statistischen Vorgaben. Im bundesweiten Vergleich ist die Einstufung in Stufe III von insgesamt sechs
Stufen eine mittlere Einstufung - III und IV sind die
klassischen mittleren Einstufungen -, und in diesem Bereich werden sich die Mieten in der Stadt Jena sicherlich
noch bewegen.
Die Kollegin Britta Haßelmann stellt die nächste
Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, ich
habe eine Frage zum Heizkostenzuschuss. Es wird immer wieder gesagt, dass die Abschaffung des Heizkostenzuschusses falsch gewesen sei. Aber warum wird der
Heizkostenzuschuss nicht wieder eingeführt, obwohl allein die Bruttowarmmieten seit der letzten Wohngeldreform 2009 um insgesamt 9 Prozent gestiegen sind?
Frau Kollegin Haßelmann, Sie haben recht: Der Heizkostenzuschuss wird nicht wieder eingeführt. Aber die
Entwicklung der Bruttowarmmieten geht in die Berechnung der Tabellenwerte ein.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Heidrun Bluhm.
Frau Ministerin, Sie haben in einer Ihrer Antworten
die Dynamisierung des Wohngeldes angesprochen. Sie
äußern Verständnis dafür, dass der Bundesfinanzminister
einer Dynamisierung des Wohngeldes, also der jährlichen Anpassung, der ordentlichen Überprüfung im Ein8818
zelfall, wegen der Haushaltsklarheit nicht so sehr gewogen ist. Meine Frage ist: Sollten wir nicht vielmehr
Verständnis für die Mieterinnen und Mieter haben, die
von einer nicht vorgenommenen Anpassung betroffen
sind? Wenn wir keine Dynamisierung der Leistungen
vorsehen, dann ist die Konsequenz, dass erst 2021 oder
später eine nächste Überprüfung stattfinden wird. In der
Zwischenzeit wird es aber zwei oder drei Mieterhöhungen gegeben haben, die zu kompensieren sind. Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Menschen dann noch genügend Geld für übrige Konsumtion haben und nicht
mindestens 50 Prozent ihres Einkommens für Wohnen
ausgeben müssen?
Unter sozialen Gesichtspunkten ist die Dynamisierung sozialer Leistungen wünschenswert. Aber aufgrund
der haushalterischen Verantwortung, die wir als Bundestagsabgeordnete zu tragen haben, habe ich Verständnis
dafür, dass nicht alle Sozialleistungen dynamisiert werden können.
Das Wort für die nächste Frage hat der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Frau
Ministerin, für die Beantwortung der bisherigen Fragen.
Ich möchte an die letzte Frage anknüpfen. In einigen Bereichen der Sozialleistungen gibt es eine Dynamisierung,
zum Beispiel bei der Grundsicherung. Ein wesentliches
Ziel des Wohngeldes ist es, zu vermeiden, dass Menschen wegen hoher Mietkosten in die Grundsicherung
rutschen. Wenn es bei der Grundsicherung eine von der
Lohn- und Preisentwicklung abhängige Dynamisierung
gibt, beim Wohngeld aber nicht, dann ist absehbar, dass
wir in ein paar Jahren wieder vor der gleichen Situation
stehen wie jetzt, nämlich dass Wohngeld nicht vor
Grundsicherungsbezug schützt. Insofern ist der Verweis
darauf, dass eine Dynamisierung „wünschenswert“ sei,
meines Erachtens sehr schwach. Vielmehr muss man
deutlich machen, dass das ein zentrales Ziel des Wohngeldes ist. Aber dieses Ziel wird durch den Gesetzentwurf leider verfehlt. Könnten Sie dazu Stellung nehmen?
Denn das zieht nicht nur Probleme für Mieterinnen und
Mieter nach sich, sondern das verschiebt auch Kosten
vom Bund hin zu den Kommunen. Irgendwie muss das
alles bezahlt werden. Das ist auch problematisch.
Herr Kollege, das Hauptziel des Wohngeldes ist, es
den Menschen zu ermöglichen, tragbare Mieten zu zahlen. Es ist ein wirklich erfreulicher Effekt, dass zum Beispiel durch die geplante Wohngeldnovelle in der Tat
etwa 90 000 Haushalte wieder aus dem Grundsicherungsbezug herauskommen. Gleichwohl bitte ich Sie, zu
bedenken, dass wir uns im Rahmen der Grundsicherung
in einem Bereich befinden, in dem es um die verfassungsrechtlich gebotene Sicherstellung des Existenzminimums geht. Beim Wohngeld befinden wir uns nicht in
diesem Bereich. Deswegen ist eine Differenzierung der
Vorgehensweise, rechtlich gesehen jedenfalls, gut zu begründen. Dass man sich das anders wünschen kann, das
will ich nicht in Abrede stellen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Christian Kühn das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, ich habe
vorhin schon einmal gefragt, wie Sie darauf kommen,
dass das Wohngeld insgesamt erhöht worden ist und die
Anzahl der Berechtigten zunimmt, da wir im Augenblick
auf dem Niveau von 2010 - damals regierte SchwarzGelb - gelandet sind. Damals wurde deutlich mehr Geld
ausgegeben, und auch die Anzahl der Berechtigten war
ähnlich hoch wie die Zahl, die heute in Ihrer Pressemitteilung verkündet worden ist.
Aber wenn wir nun davon ausgehen, dass Sie quasi
einige Zuwüchse haben, heißt das natürlich auch, dass es
einige Herabstufungen gibt, dass es also zu einer Umverteilung innerhalb des Wohngeldes kommt. Deswegen
frage ich Sie: Wie viele Gemeinden und Kommunen
werden in Deutschland durch die Neuberechnung der
Mietenstufen herabgestuft? Anders kann ich mir nicht
erklären, wie es sonst zu mehr Berechtigten und einer
Ausweitung des Wohngeldes für Einzelne in manchen
Regionen kommen soll.
Herr Kollege, Herabstufungen sind nicht die Regel.
Ich muss einmal sehen, ob ich das hier in meinen Unterlagen noch finde. Jedenfalls führt das nicht dazu, dass im
Einzelfall Wohngeldberechtigte, die in solchen Gemeinden leben, die herabgestuft werden, tatsächlich auf Anteile des Wohngeldes verzichten müssten, weil das
Wohngeld insgesamt so erhöht wird, dass auch ein
Wohngeldbezieher, der in einer Gemeinde lebt, deren
Mietenstufe gesenkt wird, auf der Basis des Wohngeldes
bleiben kann, das er schon hatte; er bekommt zwar keine
Erhöhung, aber keinesfalls kommt es zu einer Senkung.
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin,
ich möchte auf die Frage der Kollegin Verlinden zum
Thema Klimakomponente zurückkommen. Ich habe gerade einmal im Klimaaktionsprogramm der Bundesregierung nachgesehen. Im Kapitel 4.5.4 steht in der Tat,
dass Sie die Einführung einer Klimakomponente prüfen
wollen. Allerdings steht auch darin, dass diese Prüfung
bis 2017 abgeschlossen werden soll, und es wird auch
schon ein konkreter Emissionsminderungsbeitrag dieser
Klimakomponente in diesem Zeitraum mit eingerechnet.
Dies widerspricht diametral dem, was Sie uns gerade
hier erklärt haben, dass nämlich dieser Prüfauftrag zwar
abgearbeitet wird, es definitiv aber keine Klimakomponente in dieser Legislaturperiode mehr geben wird.
Muss ich also davon ausgehen, dass das Klimaaktionsprogramm an dieser Stelle - möglicherweise an anderen dann auch - schon von vornherein mit Ankündigungen und Maßnahmen arbeitet, die Bundesregierung
gar nicht umzusetzen beabsichtigt?
Nein, Herr Kollege, davon müssen Sie nicht ausgehen; dann wären Sie auf der falschen Spur. Sie können
aus den Daten, die Sie gerade selber genannt haben,
schon ersehen, dass die Maßnahmen dann, wenn wir
prüfen, wie wir das bis zum Jahr 2017 umsetzen wollen,
sinnvollerweise zum Beispiel ab dem Jahr 2018 umgesetzt werden. Das ist nach dem, was wir wissen, die
nächste Legislaturperiode.
Die nächste Frage stellt der Kollege Max Straubinger.
Frau Ministerin, nachdem eher kritische Fragen von
der Opposition gekommen sind, was ich auch verstehe,
glaube ich, dass man doch herausstellen muss, dass es
ein großer Erfolg ist, wenn über 800 000 Haushalte von
der Reform profitieren. Das hat auch eine große soziale
Komponente. Das Wohngeld sollte nicht statisch betrachtet werden, wie die Opposition es getan hat, zum
Beispiel der Kollege Strengmann-Kuhn, der sagte, dass
das Wohngeld dynamisiert werden soll.
Es wachsen manche Haushalte, die möglicherweise
jetzt zum Wohngeldbezug berechtigt sind, aus dem Programm wieder heraus, weil vielleicht bessere Einkommensverhältnisse gegeben sind. Umgekehrt ist der Mietmarkt auch nicht einheitlich. Es gibt Regionen, in denen
die Mieten sinken, wie es bei uns im ländlichen Raum
der Fall ist, während in anderen Gegenden wiederum die
Mieten steigen. Deshalb ist es meines Erachtens gar
nicht notwendig, das Wohngeld zu dynamisieren; es
muss vielmehr immer wieder neu überprüft werden.
Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege. Es ist in der Tat
so: 870 000 Haushalte sind von diesem Wohngeld, wie
wir es jetzt vorlegen, begünstigt, hiervon kommen
325 000 Haushalte neu oder erneut hinzu. Selbstverständlich gibt es Mietmärkte, die überhaupt nicht dynamisch sind. Davon gibt es viele. Es gibt viele Haushalte,
die seit vielen Jahren keine Mieterhöhung hatten.
Gleichwohl verzeichnen viele Haushalte Einkommenssteigerungen, wenn auch nicht exorbitante. Das gilt, eine
durchschnittliche Einkommensentwicklung vorausgesetzt, auch für Rentnerinnen und Rentner. Die Haushalte
sind unterschiedlich stark betroffen. Die Frage der Bezahlbarkeit von Wohnraum in der Bundesrepublik
Deutschland ist daher außerordentlich differenziert zu
betrachten.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
Frau Ministerin, Sie führten in Ihrer Antwort auf
meine Frage nach der Situation in kleineren Städten mit
hohen Mietpreisen vorhin aus, dass die Mieten in Jena
durchschnittlich sein müssten. Sie stimmen mir sicher
zu, dass die Mieten in Berlin nicht durchschnittlich sind.
Die Durchschnittsmiete in Berlin betrug im Jahr 2013
8,50 Euro, in der Stadt Jena 8,60 Euro. Demzufolge
möchte ich von Ihnen noch einmal wissen, was das Bundesbauministerium unternimmt, um die Situation der
Mieterinnen und Mieter in solchen Kleinstädten, in denen aufgrund der Einwohnerzahl eine Herabstufung erfolgt, zu verbessern.
Herr Kollege, ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, dass die Einstufung der Städte und Gemeinden
nach statistischen Vorgaben erfolgt ist. Ich kann jetzt
nichts zur Miethöhe in Jena sagen. Die habe ich nicht im
Kopf; aber ich bin sicher, dass die durchschnittliche
Miete in Berlin auch heute noch nicht 8,60 Euro beträgt,
sondern bei vielleicht - der Kollege Mindrup kann mich
vielleicht korrigieren, wenn ich etwas Falsches sage 6,80 Euro liegt, zumindest in dieser Größenordnung,
aber nicht bei 8,60 Euro.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Christian Kühn das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, wir haben
gerade über die Dynamisierung gesprochen, die nicht
vonstattengeht. Die strukturelle Schwäche des Wohngelds wird also nicht behoben. Das heißt, dass viele von
denen, die ab dem nächsten Jahr zum Wohngeldbezug
berechtigt sind, schrittweise aus dem Wohngeldbezug
fallen werden. Wie viele Personen werden nach den Berechnungen Ihres Ministeriums bis zum Ende dieser Legislaturperiode aus dem Wohngeldbezug wieder herausfallen, und wie viele Personen werden im Jahr 2017
noch Wohngeld beziehen?
Herr Kollege, ich kann das nicht in absoluten Zahlen
sagen. Aber es ist in der Tat so, dass diese Beobachtung
- bezogen auf die Finanzmittel - bestätigt wird. Das ist
im System so angelegt. Da haben Sie recht. Wenn wir
also für das Jahr 2016 von 1,43 Milliarden Euro Wohn8820
geld ausgehen, bezahlt von Bund und Ländern, so gehen
wir für das Jahr 2019 von 1,2 Milliarden Euro aus, wenn
nicht in der Zwischenzeit eine erneute Anpassung erfolgt. Das heißt, 230 Millionen Euro - diese Lücke
würde ohne Neuanpassung entstehen - kämen einer entsprechenden Anzahl von Haushalten nicht mehr zugute.
Ja, das ist die logische Folge, wenn es keine Dynamisierung gibt. Das habe ich Ihnen ja selber freimütig vorgetragen.
Die Kollegin Britta Haßelmann hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin
Hendricks, ich habe noch eine Nachfrage zu der Frage
meines Kollegen Krischer: Wie wollen Sie das im Klimaplan vorgesehene Reduktionsziel einhalten? In Ihrer
Antwort auf die Frage, in der es um die Einführung des
Klimabonus ging, haben Sie gesagt, dass Sie einen Prüfauftrag formuliert haben. Sie haben aber bereits eine dezidierte Einsparsumme genannt, und zwar bis 2017 und
nicht ab 2017. Deshalb lautet meine Frage: Mit welcher
Maßnahme wollen Sie das Problem ersatzweise lösen?
Nein, Frau Kollegin, nicht die Einsparung soll bis
2017 erfolgen, sondern bis 2017 soll die Prüfung durchgeführt werden. Wir haben nach dem Klimaaktionsprogramm dann noch bis zum Jahr 2020 Zeit.
({0})
Wir sind jetzt gerade nicht im Dialog. Sie können sich
aber gerne gleich noch einmal melden, wenn es Unklarheiten gibt. - Jetzt hat der Kollege Max Straubinger das
Wort.
Frau Ministerin, der Kollege Lenkert hat mit der
Durchschnittsmiete argumentiert. Das ist meines Erachtens ein falscher Ansatz. Die Höhe des Wohngeldes ist
auf die individuellen Bedürfnisse des Antragstellers zurückzuführen. Deshalb kann mit einer Durchschnittsmiete nicht argumentiert werden; denn in Berlin gibt es
sicherlich Wohnungsmieten von 4 Euro pro Quadratmeter und natürlich auch von 20 Euro pro Quadratmeter.
Von daher ist die Argumentationskette hier meines Erachtens falsch.
In der Tat. Durchschnittsmieten sind dort nicht aussagekräftig; da stimme ich Ihnen zu. Ich hatte Ihnen ja
schon gesagt, dass da die Komponenten Haushaltseinkommen, Anzahl der Personen, die im Haushalt leben,
und Höhe der Miete zusammenkommen. Es handelt sich
also nicht um eine festgesetzte Obergrenze.
Der Kollege Oliver Krischer hat das Wort.
Frau Ministerin, ich muss noch einmal auf das Thema
Klimakomponente und das Kapitel 4.5.4 des Aktionsprogramms Klimaschutz zurückkommen. In diesem Kapitel mit der Überschrift „Klimafreundliches Wohnen für
einkommensschwache Haushalte“ formulieren Sie das
Ganze; in der Tat wird da all das beschrieben. Am Ende
des Kapitels steht:
Treibhausgasreduktion 0,4 Mio. t CO2-Äq.
Zeitplan bis 2017
Ich kann das nur so verstehen, dass Sie in Ihrem Klimaaktionsprogramm den Eindruck erwecken, eine Maßnahme in dieser Wahlperiode umzusetzen, obwohl überhaupt nicht beabsichtigt ist, sie umzusetzen, wie Sie uns
jetzt hier ja erklärt haben. Daher ist für mich eindeutig,
dass das Klimaaktionsprogramm hier falsche Tatsachen
vorspiegelt; denn Sie sagen uns jetzt ja etwas anderes.
Ich möchte deshalb an Sie die Frage richten: An welchen
anderen Stellen im Klimaaktionsprogramm müssen wir
davon ausgehen, dass die Maßnahmen nicht umgesetzt
werden?
Sie müssen an gar keinen Stellen davon ausgehen,
weder hier noch an anderen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Christian Kühn das Wort.
Ich habe noch einmal eine Nachfrage zu den Geldsummen. Sie haben gerade ausgeführt, dass wir am Ende
dieser Legislaturperiode - ich habe die Zahl leider nicht
mitschreiben können - ungefähr 1,2 Milliarden Euro für
Wohngeld ausgeben werden. Im Jahr 2011 hat SchwarzGelb 1,5 Milliarden Euro ausgegeben, also mehr als wir
am Ende dieser Legislaturperiode für Wohngeld ausgeben. Würden Sie mir daher recht geben, wenn ich sage,
dass die Große Koalition am Ende dieser Legislaturperiode mit ihrer Wohngeldreform weniger Geld ausgibt
als Schwarz-Gelb?
({0})
Nein, Herr Kollege, ich stimme Ihnen nicht zu, weil
Sie allenfalls die Sollausgaben im Haushalt haben, aber
nicht die Istausgaben.
Gehe ich recht in der Annahme, dass ich keine Meldung zu dem Thema, zu dem vorgetragen wurde, übersehen habe? - Wenn das so ist - ich habe Sie nicht vergessen, Kollege Miersch -, habe ich jetzt erst einmal die
hohe Ehre, auf der Ehrentribüne unseres Parlamentes
den Präsidenten des Parlaments der Mongolei, Herrn
Zandaakhuu Enkhbold, und seine Delegation zu begrüßen.
({0})
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie herzlich. Die Kollegen haben das eben schon mit ihrer spontanen Beifallsbekundung unterstrichen.
Mit einigen unserer Kolleginnen und Kollegen sind
Sie in den letzten Tagen zu intensiven Gesprächen zusammengetroffen. Für Ihren nunmehr zu Ende gehenden
Aufenthalt bei uns wie auch für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten Sie unsere allerbesten Wünsche.
({1})
Das Wort zu einer Frage zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung hat der Kollege Dr. Matthias
Miersch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, in
den letzten Tagen war der Presse zu entnehmen, dass
sich das Kabinett auch heute mit einem großen Investitionsprogramm für Kommunen befasst hat und Entscheidungen dazu herbeiführen wollte. Können Sie uns etwas
zu diesem Konzept und seinen Parametern sagen?
Ja, gerne, Herr Kollege. - Finanzschwache Kommunen können erforderliche Investitionen, zum Beispiel zur
Instandhaltung, zur Sanierung oder zum Umbau der örtlichen Infrastruktur, häufig nicht finanzieren. Damit ist
die Gefahr einer Verfestigung der Unterschiede in der
wirtschaftlichen Entwicklung zwischen strukturstarken
und strukturschwachen Kommunen und Regionen verbunden. Das Kabinett hat deswegen heute einen Gesetzentwurf beschlossen, der dieser Entwicklung durch die
Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommunen durch den Bund begegnet.
Der Bund wird 3,5 Milliarden Euro in ein Sondervermögen einbringen, mit denen in den Jahren von 2015,
also ab jetzt, bis 2018 Investitionen in infolge von Strukturschwäche finanzschwachen Kommunen mit einem
Fördersatz von bis zu 90 Prozent gefördert werden können. Im Wesentlichen geht es dort zum Beispiel um
energetische Sanierung, um Lärmsanierung etc.
Zudem wird der Bund im Jahr 2017 weitere 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um den Kommunen
weitere Spielräume zu eröffnen.
Außerdem wird der Bund in den Jahren 2015 und
2016 jeweils 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen,
um die Unterbringung von Asylbewerbern zu erleichtern.
Das heißt also, es wurde ein Investitionsförderprogramm bzw. ein Kommunalförderprogramm in der Größenordnung von zusätzlich 5 Milliarden Euro ab diesem
Jahr beschlossen. Hinzu kommt 1 Milliarde Euro zur
Förderung der Unterbringung von Asylbewerbern und
Flüchtlingen. Das ist in der Tat sehr bemerkenswert und
wird den Kommunen vor dem Hintergrund ihrer manchmal durchaus schwierigen Haushaltslage sehr entgegenkommen.
Eine weitere Nachfrage zu sonstigen Inhalten der
heutigen Kabinettssitzung hat der Kollege Christian
Kühn.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, Sie haben
gerade ausgeführt, dass 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden, um die Unterbringung von Asylbewerbern zu erleichtern. Heißt das, dass die Bundesregierung damit ein Bauprogramm aufgelegt hat? Und wie
gedenkt die Bundesregierung, den Kommunen dieses
Geld zukommen zu lassen? Soll das über die Städtebauförderung geschehen, oder über welchen Weg werden die Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge vor Ort konkret unterstützt?
Wir haben dazu heute einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Gemäß diesem werden wir im Zusammenhang mit dem,
was ich gerade auf die Frage des Kollegen Miersch ausgeführt habe, den Kommunen dieses Geld über die Länder zur Verfügung stellen, nicht über die Städtebauförderung.
Das Wort hat der Kollege Hubertus Zdebel.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin,
ich habe die Frage, ob sich das Bundeskabinett heute mit
der Sicherung bzw. der Sicherheit der Atomrückstellungen befasst hat. Am Wochenende war ja in einer führenden Wochenzeitschrift zu lesen, dass die Atomrückstellungen möglicherweise nicht so sicher sind, wie bisher
angenommen wurde, und dass das aus bisher nicht vorliegenden Gutachten, die einerseits Sie und andererseits
das Wirtschaftsministerium in Auftrag gegeben haben,
hervorgeht. Außerdem wurde berichtet, dass die Atomrückstellungen möglicherweise Teil eines Deals mit den
Atomkonzernen werden könnten. Vor diesem Hintergrund stelle ich meine Frage.
Herr Kollege Zdebel, das Kabinett hat sich heute
nicht mit dieser Frage befasst. Aber sicherlich werden
sich das Kabinett und auch der Deutsche Bundestag
noch in diesem Jahr mit diesen Fragen beschäftigen
müssen.
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin
Hendricks, ich habe eine Nachfrage zu den zweimal
500 Millionen Euro bzw. zu der 1 Milliarde Euro für die
Unterbringung von Flüchtlingen. Auf welchem Weg soll
dieses Geld denn, wenn nicht über die Städtebauförderung, gezielt für ein Bauprogramm verwendet werden?
Diese Mittel werden den Kommunen über die Länder
zugeleitet.
({0})
- Es wird in den Ländern darauf zu achten sein - auch
der Bund wird natürlich darauf achten -, dass die Finanzmittel in der Tat zielgerichtet bei den Kommunen
ankommen, ja.
({1})
Der Kollege Ralph Lenkert hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, Sie
haben gerade das Investitionsförderprogramm für die
Kommunen, das wir begrüßen, vorgestellt. Mich würde
interessieren, wie die Aufteilung auf die einzelnen Bundesländer erfolgen wird, sowohl bei dem Investitionsprogramm für die Kommunen als auch bei dem Unterstützungsprogramm für Flüchtlinge.
Die Unterstützungsleistungen für Flüchtlinge erfolgen nach dem bekannten Königsteiner Schlüssel. Weil
die Flüchtlinge nach diesem Schlüssel den einzelnen
Ländern zugewiesen werden, bietet es sich natürlich an,
genau diesen Schlüssel anzuwenden.
Bei der Investitionsunterstützung für Kommunen in
besonderer Finanznotlage gehen wir nach einem anderen
Schlüssel vor. Dieser berücksichtigt zum Beispiel die
Höhe der Kassenkredite, die Einwohnerzahlen und die
Arbeitslosenzahlen. Der Schlüssel, der auf diese Weise
zustande kommt, entspricht also nicht dem Königsteiner
Schlüssel, sondern nimmt die besonderen Notlagen von
Kommunen in einzelnen Bundesländern ins Blickfeld.
Die Kollegin Haßelmann hat das Wort.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, ich habe noch eine
Frage zu einem anderen Punkt, der im Kabinett behandelt wurde, nämlich zum Deutschen Institut für Menschenrechte. Damit haben Sie sich heute ja auch befasst.
Gehen Sie aufgrund der Tatsache, dass jetzt anscheinend eine Einigung erfolgt ist, davon aus, dass der A-Status zu halten ist, obwohl die Frist für die Anerkennung
des A-Status am 16. März 2015 eigentlich abgelaufen ist
und das Gesetz erst jetzt kommt, und hat die Bundesregierung schon entsprechende Dinge in die Wege geleitet,
um mit Dritten Gespräche darüber zu führen?
Ja, das hat die Bundesregierung getan. Heute ab
15 Uhr steht nämlich in der Tat die Re-Akkreditierung in
Bezug auf die Beibehaltung des A-Status an. Insofern
war es notwendig, dass die Bundesregierung heute Vormittag durch die Beschlussfassung über den Entwurf ein
deutliches Signal gegeben hat.
({0})
Der Kollege Lenkert hat das Wort.
Vielen Dank für das Angeben der Kriterien für das Investitionsförderprogramm. - Ich frage Sie, wie Sie zu
der Meinung der Thüringer Landesregierung stehen,
dass nicht nur die Arbeitslosenzahlen, die Höhe der Kassenkredite und die Einwohnerzahlen zum Bewertungskriterium gemacht werden sollten, sondern auch - das ist
gerade in strukturschwachen Gegenden natürlich ein
wichtiges Kriterium - die Finanz- und die Wirtschaftskraft der entsprechenden Kommunen, die in vielen Gebieten deutlich niedriger ist. Planen Sie, auch dieses Kriterium bei der Vergabe zu berücksichtigen, oder lehnen
Sie dies explizit ab?
Der Entwurf der Bundesregierung sieht ein weiteres
Kriterium nicht vor.
Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall. - Herzlichen
Dank, Frau Ministerin.
Ich beende die Befragung der Bundesregierung.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/4295
Ich rufe die mündlichen Fragen in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Steffen
Kampeter zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Mit welcher rechtlichen Argumentation begründet die
Bundesregierung die Ablehnung der Diskussion über Forderungen auch der neuen griechischen Regierung nach Reparationszahlungen Deutschlands insbesondere mit Blick darauf,
dass seit 1990 fast jede griechische Regierung betont hatte,
diese Ansprüche seien auch nach der Wiedervereinigung und
durch Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages, an dem Griechenland nicht beteiligt war, keineswegs abgegolten und es
habe auch nie einen Verzicht auf Reparationszahlungen gegeben ({0}), und ist die Bundesregierung nicht wenigstens bereit,
mit der griechischen Regierung darüber zu verhandeln, wie
im Sonderfall des Zwangskredits von 476 Millionen Reichsmark, die die deutschen Besatzer der griechischen Notenbank
im Jahr 1942 abpressten, eine Rückzahlung erfolgen soll
({1})?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ströbele, die Bundesregierung hat wiederholt verdeutlicht - beispielsweise zuletzt und sehr
umfassend in der Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, Bundestagsdrucksache 18/451 vom 6. Februar 2014 -, dass der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland vom 12. September 1990, der sogenannte
Zwei-plus-Vier-Vertrag, die endgültige Regelung der
durch den Krieg entstandenen Rechtsfragen enthält und
diese nach unserer Auffassung damit gelöst sind, da der
genannte Vertrag in der KSZE-Charta von Paris aus dem
Jahre 1990 zustimmend - weit über den ursprünglichen
Teilnehmerkreis hinaus - zur Kenntnis genommen
wurde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Bedanken kann ich mich für die Antwort nicht, Herr
Kampeter. All das konnte man ja auch schon in der Zeitung lesen. Deshalb meine Zusatzfrage: Soweit ich informiert bin, war der Bundesfinanzminister Schäuble an der
Ausarbeitung der Verträge zur Deutschen Einheit beteiligt und war deshalb, wie ich annehme, auch über alles
informiert. Ist bei der Abfassung dieses Zwei-plus-VierVertrages berücksichtigt worden, dass Reparationszahlungen, unter anderem an Griechenland, ausstehen, und
war Griechenland an der Abfassung dieses Vertrages in
irgendeiner Weise beteiligt oder auch nur darüber informiert? Oder war das ein einfacher Vertrag zulasten Dritter, zulasten des griechischen Volkes?
Die Intention des Zwei-plus-Vier-Vertrages, Herr
Kollege Ströbele, war eine umfassende Regelung zum
Abschluss des Kalten Krieges. Auf dem Treffen der
KSZE-Außenminister am 1. Oktober 1990 wurden diese
Sachverhalte innerhalb der KSZE zustimmend zur
Kenntnis genommen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, hier geht es nicht um den Kalten
Krieg, sondern um einen brutal heißen Krieg, nämlich
um den bis 1945. Ist Ihnen bekannt und können Sie bestätigen, dass dieser Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht „Friedensvertrag“ genannt worden ist, um berechtigte Reparationsforderungen, unter anderem von Griechenland,
unmöglich zu machen? Sieht die Bundesregierung diesen Zwei-plus-Vier-Vertrag in Wahrheit als einen Friedensvertrag, so wie der damalige Außenminister HansDietrich Genscher dies in seinen Memoiren mitgeteilt
hat, und ist also dieser Vertrag nur deshalb nicht „Friedensvertrag“ genannt worden, um sich der Sorge zu entledigen, Reparationszahlungen zu leisten?
Herr Kollege Ströbele, ich habe Ihnen hier die Auffassung der Bundesregierung zum Geltungsbereich des
Zwei-plus-Vier-Vertrages und der Charta von Paris dargelegt. Sie unterscheidet sich von Ihrer Interpretation.
Damit haben wir in dieser Frage unterschiedliche Auffassungen. Aber die Auffassung der Bundesregierung ist
diejenige, die ich hier zu vertreten habe.
Die Kollegin Haßelmann hat das Wort zu einer Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
muss ich also davon ausgehen, dass dies die abgestimmte Auffassung der Bundesregierung ist? Ich frage
das deshalb, weil vor zwei Wochen im Auswärtigen
Ausschuss noch eine andere, sehr viel differenziertere
Auffassung vertreten wurde. Also noch einmal meine
Frage: Gibt es innerhalb der Bundesregierung keine Diskussion über eine politisch-moralische Verpflichtung,
mit Griechenland über die Zwangsanleihe und die
Zwangskredite zu reden?
Frau Kollegin Haßelmann, ich habe darauf hingewiesen, dass wir in der Drucksache 18/451 auf eine Reihe
von Nachfragen aus der Fraktion Die Linke umfassend
und auf breiter Front geantwortet haben. In 60 Sekunden
kann ich nicht all das, was in dieser differenzierten und
umfassenden Rechtsdarlegung steht, wiederholen. Aber
zusammenfassend sehe ich juristisch keine Grundlage,
auf der wir mit anderen Staaten verhandeln können.
({0})
Andere Fragen, die Sie in einem nichtjuristischen
Kontext stellen, können im politischen Bereich und
durch Mehrheitsentscheidungen des Deutschen Bundestages jederzeit geklärt werden. Aber die Bundesregierung sieht keinerlei rechtliche Grundlage für Verhandlungen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
Sie vertreten ja die Meinung, dass Griechenland die gewährten Kredite an Deutschland zurückzuzahlen hat. Da
stelle ich die Frage, ob aus Ihrer Sicht nicht gleiches
Recht für alle gilt.
Mit Blick auf die Zwangsanleihe von 1942 sind aus
meiner Sicht folgende Fragen berechtigt: Wie steht die
Bundesrepublik dazu, dass eingegangene Kreditverpflichtungen zu erfüllen sind, also zur Einhaltung des
genannten Kriteriums? Will die Bundesregierung eingegangene Kreditverpflichtungen in diesem Punkt nicht erfüllen und damit einen Präzedenzfall schaffen? Dann
könnten auch andere sagen: Okay, dann erfüllen auch
wir unsere Verpflichtungen nicht.
Ich halte Ihren Vergleich zwischen dem Sachverhalt,
den Sie als „Zwangsanleihe“ charakterisieren, und der
Kreditvereinbarung zwischen Ländern der Euro-Zone
und den griechischen Autoritäten für nicht zutreffend.
Folgerichtig glaube ich, dass Gleiches unterschiedslos
und Ungleiches unterschiedlich behandelt werden muss.
Dies ist die Auffassung der Bundesregierung.
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Annalena Baerbock
auf:
Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu den Plänen der bundeseigenen Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH, LMBV, für ein Eisenhydroxidlager im Altdöberner See ein, wonach jährlich bis zu
200 000 Kubikmeter in den See gekippt werden sollen
({0})?
Frau Kollegin Baerbock, die Entscheidung zählt zum
operativen Geschäft der Lausitzer und Mitteldeutschen
Bergbau-Verwaltungsgesellschaft, welches die Geschäftsführung dieser GmbH zu verantworten hat.
Folgende Gründe spielten bei dieser Entscheidung
eine Rolle: Infolge des Grundwasserwiederanstiegs in
den ehemaligen Braunkohlebergbaugebieten und des
Zutritts in Fließgewässern kommt es zum Eintrag von
Eisenfrachten, die zu der bekannten Verockerung der
Fließgewässer und zu Verschlammungen der Gewässersohlen führen. Eine Beräumung der eisenhaltigen Sedimente ist oft unerlässlich zur Verhinderung einer Verschlechterung des Gewässerzustandes. Des Weiteren
fallen bei der Behandlung eisenbelasteter Wässer in
technischen oder in naturräumlichen Anlagen Eisenhydroxidschlämme verschiedener Konsistenz und Reinheit
an, welche einer gesicherten Verbringung bedürfen.
Vor diesem Hintergrund hat die LMBV alle technischen und wirtschaftlich umsetzbaren Maßnahmen zur
Entnahme, zur Behandlung, zum Transport und zur sicheren Verbringung von Eisenhydroxidschlämmen untersucht. Als eine mögliche wirtschaftliche Variante
wurde neben der Verwertung oder der Entsorgung auf einer Deponie auch eine Verspülung der Eisenhydroxidschlämme in den Altdöberner See herausgearbeitet.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. - Das ist ja nicht so ganz Ihr Themenkomplex. Das BMU hat sich das auch schon einmal vor
Ort angeguckt. Gibt es denn Gutachten, die garantieren
können, dass es ökologisch korrekt ist, was dort passiert?
Wir kennen ja andere Tagebauseen, bei denen gerade gegensätzlich verfahren wird. Da werden Seen, in denen
sich Eisenhydroxid befindet, bekalkt, damit sich das
Ganze setzt und der pH-Wert nicht ansteigt.
Nun kippt man in einen ökologisch intakten See dieses Eisenhydroxid ein, obwohl es die Alternative der Deponierung gibt. Warum hat man diese Alternative hier
nicht gewählt?
Frau Kollegin, die chemische Veränderung der Wasserqualität von Seen durch die Einleitung von neutralen
Eisenhydroxidschlämmen ist als sehr gering einzuschätzen und liegt meist im Bereich unterhalb der Nachweisgrenze. Neutrale Wasserkörper verhindern dabei eine
Rücklösung von Schlammbestandteilen. Großvolumige
und tiefe Seen sind aus ökologischer Sicht daher für eine
Einspülung zu bevorzugen. Die ökologische Beeinflussung durch Trübstoffe hat allenfalls eine sehr geringe
Relevanz.
({0})
Die Eisenhydroxidschlammeinleitung erfolgt über
eine Schlammleitung in die tiefen Bereiche des Sees.
Aufgrund der jahrzehntelangen Erfahrungen bei der Einspülung solcher Schlämme in Bergbaufolgeseen sind
keinerlei negative Auswirkungen bekannt. Deswegen
hat die Geschäftsleitung diese Option vorgeschlagen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Es gab ja vor Ort eine Anhörung mit der LMBV zu
diesen Plänen, in der deutlich gemacht wurde, dass es
nicht jahrzehntelange Erfahrungen gibt, sondern dass es
von zwei anderen Seen, wo so verfahren wurde, bisher
keine nachteiligen Testergebnisse gibt. Wir wissen aber
von Seen aus der Lausitz, wie zum Beispiel dem Senftenberger See, dessen Restloch aus den 70er-Jahren
stammt, dass es jetzt, also mehrere Jahrzehnte danach,
Probleme mit Eisenhydroxid gibt.
Sie haben gerade gesagt, dass es relativ unwahrscheinlich ist, dass es negative Auswirkungen geben
könnte. Deswegen noch mal die Frage: Auf welcher
ökologischen Grundlage wird diese Maßnahme vorgeschlagen? Warum wählt man nicht die Alternative der
Deponierung?
Frau Kollegin, im Rahmen einer Gesamtabwägung
hat sich diese Vorgehensweise als eine mögliche herausgestellt. Selbstverständlich werden stets neue Erkenntnisse zu berücksichtigen sein; aber unter den bekannten
Optionen ist dies eine zulässige.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Annalena Baerbock
auf:
Auf Basis welcher Gutachten und Erkenntnisse wählte die
LMBV den Altdöberner See als bestmöglichen Ort, und was
gab den Ausschlag, sich gegen Alternativen wie Deponierung
oder Verwertung zu entscheiden?
Die LMBV als die operative und zuständige Geschäftsführung hat mir hierzu Folgendes mitgeteilt:
Der aus einem Tagebaurestloch entstehende Altdöberner See befindet sich im Eigentum der LMBV. Die beabsichtigte Einleitung von Eisenhydroxidschlamm kann
erst nach Vorliegen der erforderlichen Genehmigungen
erfolgen. Die Einleitung von Eisenhydroxidschlämmen
in den Altdöberner See ist durch folgende Gutachten abgedeckt: Gutachten von Herrn Professor Luckner aus
dem Juli 2013 und Gutachten aus dem August 2014 von
Dr. Uhlmann. Eine anderweitige Verwertung der anfallenden Mengen ist nach dem derzeitigen Stand der Technik entweder nicht möglich oder nicht finanzierbar.
Sie haben das Wort zu einer ersten Nachfrage.
Ich habe eine Nachfrage zur Finanzierbarkeit. Das betrifft wieder die Deponierung; es gibt nämlich diese Alternative. Die Deponierung wird im Gutachten der
LMBV auch als die bessere Alternative ausgewiesen,
weil es zu der anderen Alternative, der Versenkung in
Seen, noch keine wirklichen Erkenntnisse gibt. Ist das
Argument der Finanzierung, das Sie eben angesprochen
haben, ausschlaggebend dafür, dass man jetzt die Einlagerung in Seen plant? Die LMBV gibt selber an, dass die
Deponierung des Eisenhydroxidschlamms 70 Euro pro
Kubikmeter kosten würde. Bei welchem Betrag läge
denn das Kostenlimit für eine Deponierung?
Frau Kollegin Baerbock, die LMBV hat namens der
Geschäftsführung mitgeteilt, dass es sich um eine Gesamtabwägung handelt und dass sie die Einleitung unter
Berücksichtigung der verschiedenen Dimensionen, die
ich hier auch dargestellt habe, als Instrument der Wahl
akzeptiert. Genauere Kostenabschätzungen oder Grenzwertbetrachtungen liegen mir leider nicht vor.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Angesichts der großen Problematik und der Aussage
der LMBV, dass sie selber dafür keine Lösung haben,
schließt sich für mich eine weitere Frage an. 2017 wird
das fünfte Verwaltungsabkommen zur Sanierung der Tagebaue auslaufen. Die Probleme sind nach wie vor ungelöst. Das zeigt das Beispiel des Schlammes. Wird die
Bundesregierung ein sechstes Verwaltungsabkommen
auflegen, und wird sie 2015 - auch angesichts der Kosten für die Beseitigung dieser Schlämme, die wir gerade
diskutieren - die Mittel für die Tagebausanierung und
insbesondere für die Spree-Verockerung noch einmal erhöhen?
Frau Kollegin Baerbock, zu den beiden angesprochenen Sachverhalten gibt es derzeit noch keine abschließende Festlegung innerhalb der Bundesregierung.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Lemke
das Wort.
Herr Staatssekretär, können Sie uns in diesem Zusammenhang erläutern, welche Maßnahmen die Bundesregierung zu ergreifen beabsichtigt, um die Anforderungen der Wasserrahmenrichtlinie umzusetzen, zu deren
Einhaltung sich die Bundesregierung ja im europäischen
Rahmen verpflichtet hat? Was ist diesbezüglich als Vorsichtsmaßnahme vorgesehen?
Ich gehe davon aus, dass im Rahmen des Genehmigungsverfahrens, das ich angesprochen habe, alle notwendigen nationalen wie internationalen für das Gebiet
des Sees geltenden rechtlichen Anforderungen erfüllt
werden.
({0})
Die LMBV lässt auch keinen Zweifel daran, dass sie
sich selbstverständlich an das geltende Recht hält.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums der Finanzen. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Corinna Rüffer auf:
Wie ist aus Sicht der Bundesregierung sichergestellt, dass
bei einer Neufassung der Arbeitsstättenverordnung in dem
Sinne, dass nur noch die Räume barrierefrei gestaltet sein
müssten, die von Beschäftigten mit Behinderungen genutzt
werden, berufliche Einsatzmöglichkeiten, Beförderungen und
Versetzungswünsche von behinderten Beschäftigten innerhalb
des Unternehmens nicht eingeschränkt werden?
Frau Kollegin Rüffer, ich beantworte Ihre Frage sehr
gerne. Grundlage für den Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit ist das Arbeitsschutzgesetz. Nach dessen § 4 Nummer 6 hat der Arbeitgeber bei seinen Schutzmaßnahmen spezielle Gefahren
für besonders schutzbedürftige Beschäftigungsgruppen
besonders zu berücksichtigen.
Die Arbeitsstättenverordnung ist Bestandteil des Arbeitsschutzrechts und wurde auf der Grundlage des Arbeitsschutzgesetzes erlassen. Sie dient ausschließlich
dem Schutz der Beschäftigten beim Einrichten und
Betreiben von Arbeitsstätten. Mit den Regelungen zur
barrierefreien Gestaltung in § 3 a Absatz 2 dieser Verordnung wird Ziffer 20 des Anhangs I der EU-Arbeitsstättenrichtlinie umgesetzt, in dem es heißt - ich zitiere -: „Die
Arbeitsstätten sind gegebenenfalls behindertengerecht
zu gestalten.“
Mit einer Änderungsverordnung zur Arbeitsstättenverordnung wird nun konkret vorgeschlagen, dass Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen, nicht
nur für die barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen sowie von zugehörigen Türen, Verkehrswegen, Fluchtwegen, Notausgängen, Treppen, Orientierungssystemen,
Waschgelegenheiten und Toilettenräumen zu sorgen haben, sondern künftig auch - so der Verordnungsentwurf barrierefreie Sanitär-, Pausen- und Bereitschaftsräume,
Kantinen, Erste-Hilfe-Räume und Unterkünfte bereitzustellen haben, die von Beschäftigten mit Behinderungen
benutzt werden. Wenn durch berufliche Veränderungen
wie zum Beispiel durch Beförderung ein Beschäftigter
mit Behinderung seinen räumlichen Arbeitsbereich innerhalb des Unternehmens wechselt, so ist auch der neue
Arbeitsbereich vom Arbeitgeber barrierefrei einzurichten. Die Novellierung der Arbeitsstättenverordnung wird
derzeit noch innerhalb der Bundesregierung abgestimmt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank für die Beantwortung der Frage so
weit. - Sie hätten natürlich die Möglichkeit, nicht beim
Minimum dessen zu bleiben, was gefordert ist, sondern
darüber hinauszugehen. Warum haben Sie davon abgesehen, Regelungen, die weitergehend sind, zu treffen?
Der Vorschlag, den wir unterbreiten und der nun in
der Abstimmung ist, stellt weder Maximum noch Minimum dar. Vielmehr ist er sachgerecht, weil er auf jede
Weise Belange behinderter Beschäftigter berücksichtigt,
auch einer Versetzung oder Beförderung nicht im Wege
steht. Er sieht sachgerechte Lösungen vor.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Offensichtlich sehen viele Arbeitgeber, wenn sie die
Möglichkeit haben, davon ab, Menschen mit Behinderung einzustellen. Ich glaube, wir sind uns darin einig,
dass hier Nachholbedarf besteht. Uns liegt die Stellungnahme des Sozialverbands Deutschland vor, der zu einer
anderen Einschätzung als Sie kommt. Mich interessiert
nun: Befinden Sie sich im Austausch mit dem Sozialverband, um zu einer Lösung zu kommen, die vielleicht
noch sachgerechter ist als das, was uns bisher vorliegt?
Frau Kollegin Rüffer, inwieweit man „sachgerecht“
steigern kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber ich
will Ihnen sagen: Wir befinden uns sehr wohl in einem
engen Austausch mit dem Sozialverband und anderen
Verbänden, die zu Recht ihr Augenmerk darauf richten,
möglichst viele Menschen mit Schwerbehinderung in
Arbeit zu bringen. Das ist eine Aufgabenstellung, der
sich auch die Bundesregierung auf vielfältige Art und
Weise widmet. Wir haben dazu besondere Programme.
Ich will Sie nur auf Folgendes hinweisen: In § 26 der
geltenden Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung geht es um Leistungen zur behindertengerechten
Einrichtung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. In
Absatz 1 unter Ziffer 1 heißt es: „die behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten“
- also nicht nur des Arbeitsplatzes - „einschließlich der
Betriebsanlagen, Maschinen und Geräte“ kann bezuschusst werden. Ich denke, das ist - im Wortsinn - sachgerecht.
Danke, Frau Staatssekretärin. - Wir sind damit schon
am Ende Ihres Geschäftsbereiches.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Peter Bleser zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Auf welchen Betrag belief sich das an Friedrich Merz bezahlte Honorar für seinen Beitrag auf der TTIP-Dialogveranstaltung ({0}) am 4. März
2015 im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, und welche Erkenntnisse zum Thema Agrarhandel
wurden an dem Abend für die weitere politische Debatte um
die geplanten Abkommen gewonnen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Höhn, Friedrich Merz
hat für seinen Vortrag weder ein Honorar verlangt noch
eines erhalten. Ziel der Veranstaltung war, die Teilnehmer über Ziele und Chancen des Transatlantischen Freihandelsabkommens, TTIP, grundsätzlich und mit einem
besonderen Blick auf die Chancen im Bereich landwirtschaftlicher Produkte und Lebensmittel zu informieren
und über die weitere Umsetzung zu diskutieren. Die Diskussion während und nach der Veranstaltung war lebhaft. Wir haben neue Erkenntnisse gewonnen und gehen
von einem großen Erfolg aus.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Heute Morgen
hat der Chefunterhändler der USA zu TTIP, Mister
Mullaney, im Wirtschaftsausschuss gesagt, es gebe bestimmte Bereiche, in denen man die Standards gar nicht
gegenseitig anerkennen könne. In diesem Zusammenhang hat er auch den Chemiebereich genannt. Das heißt,
das betrifft in erheblichem Maße die Landwirtschaft.
Sind Sie auch dieser Auffassung, oder wie wollen Sie
mit einer solchen Aussage umgehen?
Frau Höhn, in dem Verhandlungsmandat der Europäischen Union sind unsere Standards als schützenswert
aufgenommen. Dieses Verhandlungsmandat wurde bislang nicht geändert. Also wird es eingehalten.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Heute Morgen hat der Chefunterhändler gesagt, dass
die USA ein Gremium für regulatorische Kooperation
gar nicht wollen. Eine regulatorische Kooperation sei die
Forderung der EU. Wie ist da die Haltung des Ministeriums? Können Sie die Position der USA unterstützen,
die gar keine Regulatory Corporations wollen, oder tun
Sie das nicht?
Wir bleiben bei unserer Position, die in Europa abgestimmt ist. Darüber hinaus gibt es bisher keine Zugeständnisse. Wir bleiben bei den Schutzstandards, die wir
in Europa haben. Unabhängig davon ist es natürlich jedem Verhandlungspartner freigestellt, Forderungen zu
stellen. Ob sie erfüllt werden, ist eine andere Frage.
Das Wort zu einer Nachfrage hat der Kollege Harald
Ebner.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, ich
versuche heute Mittag etwas, was heute Morgen erfolglos war. Im Bericht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft zum Agrar- und Fischereirat
bezüglich der internationalen Handelsfragen war zu lesen, eine weitere Liberalisierung des Agrarhandels
bleibe ohne Wirkung auf die Agrarwirtschaft in
Deutschland. Meine Frage an Sie ist: Wie kommen Sie
zu dieser Auffassung, und wie wollen Sie sie begründen
angesichts der Tatsache, dass wir erhebliche Unterschiede haben - ich verweise nur auf das Vorsorgeprinzip und das Haftungsprinzip -, auch hinsichtlich der Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen und
der Kennzeichnungsfrage? Wie kommen Sie angesichts
dessen zu der Auffassung, dass eine weitere Liberalisierung ohne jede Wirkung bleibt?
Ich würde diese Aussage noch ein Stück weit relativieren. Ich sehe bei einer weiteren Liberalisierung eine
positive Wirkung auf die deutsche Landwirtschaft; denn
die Lebensmittel, die wir in Deutschland herstellen, sind
weltweit hoch anerkannt. Ich will nur das Beispiel „Babynahrungsmittel in China“ anführen. Wir haben einen
tollen Ruf. Sie bestätigen ihn quasi, indem Sie gerade im
Zusammenhang mit TTIP den hohen Standard unserer
Lebensmittel loben und den anderer eher als minderqualifiziert betrachten. Ich sehe da keine Probleme auf uns
zukommen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
Sie führten aus, dass in dem Mandat für Verhandlungen
mit den Vereinigten Staaten zu TTIP steht, dass die Standards der EU erhalten bleiben sollen. Dem widersprechen
wir nicht. Aber gleichzeitig treten Sie in den Verhandlungen dafür ein, dass die anderen Standards anerkannt
werden. Das führt zwangsläufig dazu, dass niedrigere
Standards, zum Beispiel die in den Vereinigten Staaten,
für Unternehmen gelten, die einen Sitz in den Vereinigten Staaten haben oder daher kommen. Demzufolge hätten wir parallel zwei Rechtsnormen: die Standards aus
Europa für europäische Unternehmen und die Standards
aus den USA für amerikanische Unternehmen bzw. für
Unternehmen mit amerikanischen Wurzeln.
In diesem Zusammenhang stellt sich für mich in Bezug auf den Mais folgende Frage: Der Pollenflug ist
grenzenlos, die Rechtsstandards in den USA sind anders,
und die USA wollen gerade auch die Lizensierung anpassen. Dort verklagt Monsanto Unternehmen, bei denen
in dem von ihnen produzierten Mais Genpartikel aus ihren geschützten Pflanzen nachgewiesen wurden. Das
Gleiche könnte trotz Opt-out-Klausel in Europa passieren. Können Sie sicher ausschließen, dass zum Beispiel
dann, wenn genveränderter Mais in den Niederlanden
angebaut wird und - trotz Opt-out-Klausel - in Deutschland durch Pollenflug Genveränderungen in Maispflanzen nachgewiesen werden, eine Klage von Monsanto gegen die hiesigen Landwirte erfolgt?
Ich glaube, Sie haben zwei Fragen gestellt. Alle Produkte, die in Europa und in Deutschland auf den Markt
kommen, müssen den Bedingungen, die dort herrschen,
entsprechen. - Punkt! Darüber hinaus wird kein Verbraucher gezwungen werden, Produkte zu kaufen, die er
nicht möchte.
Eine Antwort auf den dritten Punkt wird sicher mit
der Beantwortung einer weiteren Frage, die Herr Kollege Ebner gestellt hat, gegeben werden können. Es gibt
in Europa ein klares Gentechnikkennzeichnungsrecht,
das in der damaligen rot-grünen Koalition unter Ministerin Künast abgestimmt worden ist. Darin ist vorgesehen,
dass alle Produkte, die einen Anteil von mehr als
0,9 Prozent gentechnisch veränderter Bestandteile haben, zu kennzeichnen sind.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Peter
Meiwald das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ich beziehe mich auf die Antwort, die Sie gerade meinem Kollegen Herrn Ebner gegeben haben. Wenn Sie die
Hochwertigkeit der landwirtschaftlichen Produkte in
Deutschland - bei einiger Kritik, die wir an manchen
Stellen auch haben - herausstellen, dann frage ich Sie:
Wie wollen Sie denn vor dem Hintergrund dessen, dass
in Amerika nicht alle Produkte in dieser Qualität erzeugt
werden, gewährleisten, dass die Produkte der hiesigen
Landwirte überhaupt noch eine Chance auf dem gemeinsamen Markt haben - gegen auf sehr großen Flächen
agierende Billigproduzenten aus den Vereinigten Staaten?
Vielen Dank, auch für das Kompliment, was die Qualität unserer Lebensmittel angeht. Ich werde die Stelle
im Protokoll später dick markieren.
Inhaltlich ist Ihre Frage relativ einfach zu beantworten. Die Märkte sind offen. Wir glauben, dass wir mit
unseren Lebensmitteln auf vielen Märkten große Chancen haben; das bestätigen auch die Erfolge im Export.
Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass unsere Bevölkerung bei ihren Kaufentscheidungen zu unterscheiden
weiß, was die Frage angeht, welche Qualitätsstandards
jeweils angeboten werden. Die Lebensmittel müssen natürlich die Anforderungen des europäischen Rechts und
des deutschen Rechts erfüllen.
Damit kommen wir zur Frage 6 des Kollegen Harald
Ebner:
Inwieweit nimmt die Bundesregierung die Studie zu deutlich erhöhten Flugweiten von Maispollen ({0}) sowie die darauf
basierende Entscheidung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, eine Überprüfung der Risikobewertung
für den gentechnisch veränderten Mais 1507 vorzunehmen,
zum Anlass, diesen Erkenntnissen durch eine Novellierung
des Gentechnikgesetzes bzw. der Gentechnik-Pflanzenerzeugungsverordnung hinsichtlich erweiterter Abstandsregelungen sowie weiterer Koexistenzmaßnahmen zum Schutz der
gentechnikfreien Landwirtschaft Rechnung zu tragen, und
wenn nicht, warum sieht die Bundesregierung hier keinen
Handlungsbedarf?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege Ebner, neue
wissenschaftliche Erkenntnisse müssen bei der Bewertung von gentechnisch veränderten Organismen mit einbezogen werden. Dies gilt auch für die im Oktober 2014
veröffentlichte Studie. Die wissenschaftliche Bewertung
dieser Studie hat der zuständige GVO-Ausschuss der
Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit in seiner bereits im Dezember 2014 vorgeschlagenen Selbstbefassung angeregt. Auf Basis der Ergebnisse dieser Bewertung durch die zuständige europäische Behörde wird
die Bundesregierung über das weitere Vorgehen entscheiden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Herr Staatssekretär. - Sie haben allerdings
nicht auf die explizite Frage nach erweiterten Abstandsregelungen und weiteren Koexistenzmaßnahmen geantwortet. Ich hätte auch ganz gern noch gewusst, ob Sie
denn vor dem Hintergrund der genannten Studienergebnisse Ihren Plan überdenken, bei der Umsetzung der
Opt-out-Klausel die Entscheidung über Gentechnikanbauverbote ausschließlich den Ländern zu überlassen.
Natürlich ist das Risiko einer unerwünschten Verunreinigung durch GVO-Pollenflug wesentlich größer, wenn es
zu einem Flickenteppich von Regionen mit und ohne
Gentechnikanbau kommt, als wenn es zu der von uns favorisierten bundeseinheitlichen Lösung kommt. Werden
Sie daraus Konsequenzen ziehen?
Herr Kollege Ebner, ich habe Ihnen schon berichtet,
dass die neue Studie von der EFSA einer Bewertung unterzogen wird. Diese Bewertung wird - damit rechnen
wir - im Juni dieses Jahres vorliegen und dann Grundlage für unsere Positionierung sein. Bisher hat die EFSA
ein mathematisches Modell herangezogen. Die von Ihnen angesprochene Studie hat eine Power-Function-Vorgehensweise - so wird es jedenfalls beschrieben -, bei
der experimentell gewonnene Daten als Grundlage für
die Entscheidung über Abstände herangezogen werden.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Lieber Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt von Juni
gesprochen. Sie haben aber zur Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie einen Gesetzentwurf zur Novellierung
des Gentechnikgesetzes vorgelegt. Wenn ich den Zeitplan dazu richtig im Kopf habe, dann hilft die Bewertung der EFSA im Juni nichts mehr. Deshalb frage ich
Sie jetzt noch einmal, wie schon in der ersten Nachfrage:
Welche Konsequenzen werden Sie für das aktuell laufende Gesetzgebungsverfahren ziehen? Werden Sie die
Verschiebung der Zulassung beispielsweise der Maislinie auch zum Anlass nehmen, zu sagen: „Jetzt ist dieser
Druck erst einmal raus; jetzt können wir nicht nur neue
Erkenntnisse, sondern auch Gutachten, die noch nicht
vorliegen, berücksichtigen“?
Ich frage insbesondere deshalb, weil das Umweltministerium nach Aussage der Frau Staatssekretärin
Schwarzelühr-Sutter erst vor kurzem ein eigenes Gutachten zur rechtssicheren bundeseinheitlichen Umsetzung der Gentechnikanbauverbote in Auftrag gegeben
hat. Da wäre es doch nur recht und billig, wenn Sie mit
Blick auf neue Erkenntnisse so viel Zeit einräumten,
dass man darauf Rücksicht nehmen kann.
Herr Kollege Ebner, Sie vermischen da einige Tatbestände. Das eine ist die Zulassung einer Sorte, und das
andere ist die Regelung der Abstände. Weder das eine
Gutachten, das ich vorhin angesprochen habe, noch das
vom Umweltministerium liegt vor, sodass wir hier keine
Entscheidungsmöglichkeit haben. Wir haben aber ein
geltendes Gentechnikgesetz, das aufgrund bisheriger
wissenschaftlicher Bewertung Abstände von 50 bis
80 Metern empfiehlt. Wir haben seinerzeit 150 Meter
und bei ökologischem Anbau 300 Meter ins Gesetz geschrieben.
Die Frage der Zulassung und die Frage der Regelung
der Abstände sind zwei verschiedene Dinge.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Bärbel Höhn das
Wort.
Herr Staatssekretär, heute im Agrarausschuss ging es
um die Anbaugenehmigung einer herbizidtoleranten
Rapslinie der Firma Cibus. Da ist mit neuen gentechnischen Methoden gearbeitet worden. Im Februar hat das
BVL festgestellt, der Raps sei nicht gentechnisch verändert.
Nun wissen wir aber: Rapspollen fliegen mit den Bienen mindestens so weit wie Maispollen. Die Vertreterin
des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat im Agrarausschuss gesagt, es habe auch
eine Minderheitenmeinung gegeben. Gibt es also Stellungnahmen von anderen Bundesbehörden, die diese
Rapssorte kritisch sehen?
Der letzte Teil Ihrer Frage kann von mir jetzt nicht beantwortet werden. Aber wir haben schon seit einigen
Jahren Rapssorten, die gegen ein bestimmtes Pflanzenschutzmittel resistent sind, die auch in Deutschland auf
mehreren Tausend Hektar angebaut werden. Wir haben
seit 2008 sogar eine Maissorte im Anbau, die eine gewisse Resistenz aufweist. Diese Sorten sind aber nicht
gentechnikbasiert gezüchtet und fallen insofern nicht unter das Gentechnikrecht.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Lemke
das Wort.
Herr Staatssekretär, die diesem Raps zugrundeliegende Technik, die Oligonukleotid-Technik, ist ja eine
neue Technik, die von der Europäischen Kommission
momentan daraufhin überprüft wird, ob sie unter die Regelungen des Gentechnikgesetzes fällt. Können Sie mir
beantworten, wie die Bundesregierung dazu kommt, dieser Prüfung der EU-Kommission vorzugreifen und zu erklären, es sei keine gentechnische Veränderung und
demzufolge sei das Gentechnikgesetz hier nicht anzuwenden?
Frau Kollegin Lemke, Sie sagen es selber: Die Europäische Kommission prüft, ob es ein gentechnisches
Verfahren ist. Bevor diese Prüfung nicht abgeschlossen
ist, sehen wir keinen Grund, eine andere Definition vorzunehmen.
({0})
- Bisher war es halt keine gentechnisch veränderte
Sorte.
({1})
Wie gesagt, insbesondere bei Raps ist diese Sorte in
Deutschland schon weit verbreitet; sie wird auch in meiner Heimatgemarkung seit einigen Jahren angewendet,
und es gibt keine Probleme.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Meiwald
das Wort.
Vielen Dank, Frau Vorsitzende. - Ich beziehe mich
noch einmal auf den eben geführten Dialog zu der Frage,
welche Konsequenzen denn die bisher noch nicht vorliegenden Dinge, wie Sie eben dem Kollegen Ebner geantwortet haben, in Bezug auf den Zeitplan der Novellierung des Gentechnikgesetzes haben. Planen Sie, den
Zeitplan bis Juni auszudehnen, bis die entsprechenden
Regelungen oder die entsprechenden Erkenntnisse vorliegen, oder wollen Sie das Gesetzesverfahren vorher so
durchziehen, wie es bisher geplant war?
Wir bleiben bei dem Verfahrensstand und auch bei der
zeitlichen Planung, was natürlich nicht ausschließt, dass
im parlamentarischen Verfahren noch Verzögerungen
entstehen.
Ich habe ja vorhin schon mehrfach angedeutet und
auch beschrieben, dass es sich um zwei unterschiedliche
Dinge handelt: zum einen um die Zulassung und zum anderen um die notwendige Abstandsregelung, die aufgrund anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse durch
eine Prüfung eventuell anders geregelt werden muss. Ich
weise aber darauf hin, dass nicht nur die Verbreitungsmöglichkeit von Pollen zu bewerten ist, sondern auch,
ob deren Fruchtbarkeit bei größeren Entfernungen noch
gegeben ist.
Eine weitere Nachfrage stellt der Kollege Kühn.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, auf
welcher Grundlage hat sich denn die Bundesregierung
für eine Genehmigung dieser Sorten ausgesprochen?
Die Bundesregierung hat im Rahmen der Zulassung
von Sorten gehandelt. Da es sich hier nach Definition
nicht um gentechnisch veränderte Sorten handelt, war
eine andere Vorgehensweise nicht notwendig.
({0})
Wir befinden uns nicht im Dialog. Das wird nicht im
Protokoll landen, solange das Mikrofon nicht an ist. Tut
mir leid, Kollege Kühn.
({0})
Es gibt noch eine letzte Nachfrage zur Frage 6 von
der Kollegin Kotting-Uhl.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Da Dialoge in diesem Frageverfahren nicht möglich sind, möchte ich an
das eben Gesagte anschließen. Eines verwundert mich
schon, Herr Staatssekretär: Wir haben in Deutschland
und in der EU das Vorsorgeprinzip verankert. Das heißt,
wenn wir im Zweifel sind, dann gelten erst einmal Vorsicht und Abwarten. Genau das scheint die Bundesregierung in diesem Fall aber nicht zu tun. Es gibt offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber, ob diese
Sorte unter Gentechnik fällt oder nicht. Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen handelt die Bundesregierung nicht gemäß dem Vorsorgeprinzip; sie wartet nicht
ab, was eine ohnehin gestartete Prüfung ergibt, sondern
genehmigt die Zulassung. Das verstehe ich nicht. Ich
bitte Sie daher um Aufklärung darüber, wie das sein
kann und wie es zur Umkehrung des bisherigen Verhaltens gekommen ist.
Ich habe bereits angedeutet, dass sich diese Sorten
schon einige Jahre im praktischen Anbau befinden. Insofern ist das keine neue Erkenntnis, die Sie jetzt hier aufwerfen.
({0})
- Bei den Rapssorten - das habe ich ja selber erlebt gibt es bereits eine mehrjährige Anbauerfahrung.
({1})
Wir kommen damit zur Frage 7 des Kollegen Harald
Ebner:
Welche Position vertritt die Bundesregierung bezüglich
der Entscheidung des Bundesamtes für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit, BVL, die Einsatzgenehmigung
für die Insektizide Dipel ES und Karate Forst in Naturschutzgebieten in das Ermessen der Behörden der Bundesländer zu
stellen, ohne die bisher zwingende Voraussetzung einer Notfallzulassung durch das BVL vorzusehen ({0}), und wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass die bis zum 19. Februar 2015
gültigen Einsatzbeschränkungen für Insektizidausbringung
mit Luftfahrzeugen ({1}) durch neu geschaffene
Ausnahmetatbestände im Rahmen der Neuregelung aufgeweicht wurden ({2})?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Ebner, das BVL, also
das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, hat die Anwendungsbestimmungen mit einer
Öffnungsklausel für die Länder versehen, die ein sachgerechtes Handeln vor Ort ermöglicht, wenn von der
Grundannahme für die Voraussetzungen einer Genehmigung abweichende Bedingungen vorliegen. Es handelt
sich hier ohnehin um ein Verfahren, bei dem das BVL
die grundsätzliche Eignung eines zugelassenen Pflanzenschutzmittels für die Anwendung mit Luftfahrzeugen
feststellt, die Zuständigkeit für die Genehmigung der
Anwendung vor Ort aber den Ländern obliegt. Die Länder müssen dem BVL ausführlich berichten, wenn sie
von der Öffnungsklausel Gebrauch machen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, spannend wird es, wenn wir einen Schritt zurückgehen und
die Ursachen dafür betrachten, warum man überhaupt
der Meinung ist, diese Pflanzenschutzmittel im Wald zu
benötigen. Deshalb frage ich Sie, welche Initiativen und
Maßnahmen die Bundesregierung ergreifen wird, um
den Ausbau des ökologischen Waldumbaus zu fördern
und so dank einer erhöhten ökologischen Stabilität des
Waldökosystems dem Auftreten der extrem großen
Baumschädlingspopulationen in Wäldern vorzubeugen.
Herr Kollege Ebner, wir haben eine Waldstrategie beschlossen, die die nachhaltige Waldwirtschaft beschreibt. Darin werden im Grunde genommen die Fragen beantwortet, die Sie gestellt haben.
Sie haben eine zweite Nachfrage. Bitte.
Über die Waldstrategie haben wir schon mehrmals
diskutiert. Da gibt es offenbar unterschiedliche Auffassungen. Ich bin nicht der Meinung, dass die Waldstrategie meine Fragen beantwortet; sonst hätte ich nicht fragen müssen, Herr Staatssekretär. Ich habe nach weiteren
Schritten gefragt. Dann müssten wir uns die Frage nach
den Pflanzenschutzmitteln an dieser Stelle nicht stellen,
sondern könnten sagen, dass alles auf einem guten Wege
ist.
Sie haben die Kriterien angesprochen, die die Bundesumweltbehörden vorgelegt haben, beispielsweise die
naturschutzfachlichen Kriterien; diese sind zu beachten.
Ich frage Sie: Durch welche Maßnahmen wird der Bund
sicherstellen, dass die vorgelegten Kriterien von den zuständigen Länderbehörden bei ihrer Entscheidung über
die Anwendung in der Praxis uneingeschränkt umgesetzt
werden?
Ich habe schon berichtet, dass das BVL, also das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, erst einmal die Zulassung erteilt und dass die
Anwendung dann von den Ländern genehmigt oder gegebenenfalls auch versagt wird. Ich nehme an, dass die
Länder eine Einschätzung der Notwendigkeit eines Einsatzes durchaus vornehmen. Im Übrigen ist das BVL die
Zulassungsbehörde. Sie wird die Einschätzung der von
Ihnen angesprochenen Institute anhören. Sie muss sie
nicht in der Entscheidungsfindung berücksichtigen.
Die Kollegin Lemke hat das Wort zu einer Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe noch eine Nachfrage
zum BVL. Es hat am 5. Februar 2015 - also nicht jahrelang zurückliegend, sondern das ist eine ganz aktuelle
Entscheidung - den sogenannten RTDS-Raps als nicht
als Gentechnik im Sinne des Gentechnikgesetzes eingestuft. Das heißt, wir reden über eine brandaktuelle und
zeitnahe Einstufung, die erfolgt ist, obwohl, wie ich ausgeführt hatte, die Europäische Kommission im Moment
prüft, ob diese spezielle Technik unter Gentechnikrecht
fällt oder nicht. Können Sie mir noch einmal erklären,
warum Sie hier vorgeprescht sind? Es geht nicht um das
Weiterbestehen von zugelassenen Dingen, sondern um
eine aktuelle Entscheidung, obwohl die EU-Kommission
sich diesbezüglich in einem Prüfverfahren befindet.
Nach meiner Auffassung versuchen Sie, da Fakten zu
schaffen und die Prüfung der EU-Kommission zu unterlaufen; es geht nicht darum, althergebrachte Sorten weiterlaufen zu lassen.
Meine Aussage bezog sich nicht auf den aktuellen
Fall,
({0})
sondern auf eine schon vor Jahren zugelassene Rapssorte
mit dem Namen Clearfield. Noch einmal: Die geltende
Rechtslage lässt die von mir getroffene Aussage zu. Eine
andere Einstufung ist nicht erfolgt. Entsprechend ist hier
zu handeln. Man kann hier auch nicht aufgrund einer
nichtexistenten Rechtslage eine Genehmigung versagen.
({1})
Wir sind damit am Ende der Geschäftsbereiches. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Caren Marks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 der Kollegin Steffi Lemke auf:
Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung aus
Anlass des Rücktritts des Bürgermeisters in Tröglitz zur Stärkung der Zivilgesellschaft, und wie kann nach Auffassung der
Bundesregierung das bereits vorhandene Angebot der vom
Bund geförderten Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus verstetigt und ausgebaut werden?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank. - Ich möchte die Frage meiner Kollegin
Frau Lemke wie folgt beantworten: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert
seit 2007 das zivile Engagement im Burgenlandkreis, zu
dem auch der Ort Tröglitz gehört. Seit Anfang des Jahres
erhält der Landkreis aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt
und Menschenfeindlichkeit“ Mittel in Höhe von
55 000 Euro, um den vormaligen „Lokalen Aktionsplan“
als „Partnerschaft für Demokratie“ weiterzuentwickeln.
Der Landkreis selber sieht als Themenschwerpunkte die
Demokratiestärkung im ländlichen Raum und die Arbeit
gegen rechtsextreme Orientierungen und Handlungen.
Des Weiteren fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit 400 000 Euro in
diesem Jahr das Landes-Demokratiezentrum in SachsenAnhalt, welches unter anderem zur Aufgabe hat, eine
nachhaltige Beratungs-, Informations- und Vernetzungsstruktur auf Landesebene zu etablieren. Über das Landes-Demokratiezentrum werden auch die Mobilen Beratungsteams finanziert.
Das zuständige regionale Beratungsteam von Miteinander e. V. hat seit Beginn des Jahres die Ereignisse
in Tröglitz beobachtet und auch Kontakt zu kommunalen
Akteuren gehalten. Von daher ist es sehr bedauerlich,
dass es zum Rücktritt des Bürgermeisters, Herrn Nierth,
kam. Aus verschiedenen Bundesländern wird uns vermehrt berichtet, dass die mobilen Beratungsteams wegen
Protestkundgebungen gegen die Unterbringung von
Flüchtlingen verstärkt um Rat gebeten werden.
Die Bundesregierung fördert also bereits seit längerem das zivilgesellschaftliche Engagement gegen
Rechtsextremismus im Burgenlandkreis und ist gerade
dabei, dieses Engagement im Rahmen des im Januar neu
gestarteten Bundesprogramms „Demokratie leben!“ mit
seiner fünfjährigen Laufzeit auch in Sachsen-Anhalt zu
verstetigen und auszubauen. Auf der Bundesebene plant
zudem das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement mit Unterstützung meines Ministeriums ein Treffen
mit ehrenamtlichen Bürgermeistern, um neue Herausforderungen bei der Demokratiestärkung in kleinen Kommunen zu besprechen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Frau Staatssekretärin, vor allem auch dafür, dass Sie hier das Engagement von Miteinander e. V. und von anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen noch einmal ausdrücklich
würdigen und auch - ich interpretiere Ihre Aussage zumindest so - eine Verstetigung der Mittel für diese zivilgesellschaftlichen Organisationen in Aussicht stellen
bzw. versprechen. Das ist nicht immer so gewesen. Sie
kennen die Situation, dass man sich dort häufig von Jahr
zu Jahr gehangelt hat. Von daher nehme ich diese Ausführungen, wie gesagt, wirklich mit Dankbarkeit zur
Kenntnis.
Ich wollte mit meiner Frage eigentlich primär einen
Diskurs anstoßen; denn es hat mich gestört, dass nach
dem Rücktritt von Herrn Nierth primär darüber diskutiert worden ist, was wir am Versammlungsrecht ändern
können und müssen. Ich finde es richtig, diese Debatte
zu führen, und habe auch das Schreiben von Bundestagspräsident Lammert und die Ausführungen von Herrn
Gauck heute zur Kenntnis genommen. Ich glaube nur,
dass dem Problem nicht dadurch Abhilfe geschaffen
wird, dass die Demonstration in Zukunft 100 Meter vom
Haus des Bürgermeisters entfernt verläuft. Vielmehr
müsste die Kernreaktion auf den Rücktritt von Herrn
Nierth im Burgenlandkreis, in Tröglitz, eigentlich sein,
das zivilgesellschaftliche Engagement und auch die öffentliche Debatte darüber zu befördern.
Das war eigentlich der Anlass meiner Frage. Denn
Herr Maas, der Innenminister Sachsen-Anhalts und viele
andere haben sich, wie gesagt, zum Demonstrationsrecht
geäußert, obwohl die Debatte um das Zurückdrängen
von rassistischen Einstellungen aus meiner Sicht viel
wichtiger, entscheidender und notwendiger ist. Von daher sollten Sie meine Äußerungen nicht als Nachfrage
verstehen, sondern als Bitte und Ermunterung, sich stärker mit diesen Punkten in den Diskurs einzubringen, damit das Thema nicht hinten runterfällt und sich nach dem
Schreiben von Herrn Lammert nicht nur der Innenausschuss mit Tröglitz beschäftigt, sondern auch die anderen Ausschüsse. - Danke, Frau Präsidentin. Ich habe dafür keine zweite Nachfrage.
({0})
Gut. - Konnten Sie eine Frage identifizieren, auf die
Sie antworten möchten?
Ja, das kann ich, Frau Präsidentin.
Bitte.
Sehr geehrte Kollegin, ich bedanke mich ganz herzlich für Ihr Statement, das mit einer Aufforderung verbunden ist. Auch wir halten es - genau in dem Sinne,
wie Sie es formuliert haben - für wichtig, nicht ausschließlich über das Versammlungsrecht zu diskutieren.
Damit verbindet sich sicherlich auch eine wichtige
Frage, der nachgegangen werden muss; aber es ist eben
ganz besonders wichtig, das zivile Engagement zu stärken. Genau so haben wir das Programm „Demokratie leben!“ im Ministerium aufgestellt und die Bundes- und
Landesinitiativen sowie die mobilen Beratungsnetzwerke wie Miteinander e. V., die ich eben genannt habe,
gestärkt. Genau das sind die Antworten, die wir geben,
um das zivile Engagement zu stärken, um Menschen zu
ermutigen, zu stärken und dazu zu ertüchtigen, im Sinne
unserer Demokratie unterwegs zu sein und sich im
Kampf gegen rechtsextremistische Anfeindungen zu
Wort zu melden. - Vielen Dank.
Da die Frage 9 der Kollegin Scharfenberg schriftlich
beantwortet werden soll, sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereiches. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach zur
Verfügung.
Die Frage 10 der Kollegin Scharfenberg soll schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 11 der Kollegin Corinna Rüffer auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung angesichts der Berichterstattung über die Probleme in der bedarfsgerechten Versorgung von älteren, erkrankten oder behinderten Menschen mit Windeln ({0}), im Sinne der Betroffenen tätig zu werden und zu
verhindern, dass diese sich im Einzelfall an das Bundesversicherungsamt wenden oder geeignete Produkte selbst finanzieren müssen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Frau Kollegin Rüffer, ich danke Ihnen für die Frage, weil sie mir
die Möglichkeit gibt, in meiner Antwort deutlich zu machen, in welcher Rechtslage wir uns befinden. Deswegen
beantworte ich Ihre Frage wie folgt:
Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung
haben gemäß § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit
die Hilfsmittel nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen sind oder durch
Rechtsverordnung ausgeschlossen sind.
Im Bereich der Versorgung mit aufsaugenden Inkontinenzhilfen werden zwischen den Kassen und den Leistungserbringern überwiegend Versorgungspauschalen
vereinbart. Diese sind eine im Rahmen der gesetzlichen
Regelungen zulässige und in der Praxis auch bei anderen
Hilfsmitteln übliche vertragliche Gestaltungsmöglichkeit. Die Höhen der Versorgungspauschalen beruhen auf
einer Mischkalkulation, da sie sowohl Versorgungsfälle
mit leichter Inkontinenz als auch solche mit mittlerer
und schwerer Inkontinenz erfassen. Bei dieser Vertragsart trägt der Leistungserbringer ein hohes Maß an Verantwortung für Art, Umfang und Qualität der von der
Monatspauschale umfassten Leistungen. Daher sind detaillierte vertragliche Regelungen und eine Überprüfung,
ob diese eingehalten werden, besonders wichtig.
Nach dem Kenntnisstand des Spitzenverbandes Bund
der Krankenkassen wird diesem Grundsatz in den Verträgen grundsätzlich ausreichend Rechnung getragen. In
diesen Verträgen wird der Leistungserbringer zur Sicherstellung einer bedarfsgerechten, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Versorgung verpflichtet. Art und Umfang der
Versorgung haben sich indikationsbezogen und nach
dem jeweiligen Bedarf des Versicherten im Einzelfall zu
richten, bzw. die Versorgung muss in Qualität und Quantität dem konkreten Bedarf des Anspruchsberechtigten
gerecht werden.
Es ist Aufgabe der Krankenkasse, zu überprüfen, ob
die von den Leistungserbringern erbrachten Leistungen
den vertraglichen Anforderungen auch entsprechen. Versicherte, die den Eindruck haben, dass sie oder ihre Angehörigen unzureichend versorgt werden, sollten sich
mit ihrer Krankenkasse in Verbindung setzen. Sollte deren Reaktion den Versicherten nicht zufriedenstellen, besteht darüber hinaus die Möglichkeit, sich an die jeweilige Aufsichtsbehörde zu wenden. Dies ist für die
bundesunmittelbaren gesetzlichen Krankenkassen das
Bundesversicherungsamt. Bundesunmittelbar sind die
Krankenkassen, deren Zuständigkeit sich über mehr als
drei Bundesländer erstreckt. Krankenkassen, deren Zuständigkeit sich nicht über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, unterliegen regelmäßig der Landesaufsicht.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für die Beantwortung der Frage. - Ich
möchte darauf hinweisen - ich habe mich in meiner
Frage auf einen Artikel bezogen, der vor kurzem im
Spiegel veröffentlicht wurde -, dass es sich nicht um
Einzelfälle handelt, sondern dass es sehr viele Menschen
gibt - in der Bundesrepublik sind es 1,5 Millionen Menschen -, die auf entsprechende Rezepte angewiesen sind.
Ich bin nicht nur die behindertenpolitische Sprecherin
meiner Fraktion, sondern auch im Petitionsausschuss tätig, und ich kann Ihnen sagen, dass diese Beschwerden
keine Einzelfälle sind, sondern massiv auftreten; das ist
in dem von mir genannten Artikel, den ich Ihnen zur
Lektüre empfehle, sehr schön zusammengefasst.
Wie die Krankenkassen mit den Pauschalen umgehen,
das ist sehr unterschiedlich. Aber es kommt häufig vor,
dass Betroffene über 100 Euro pro Monat aus eigener
Tasche zuschießen müssen. Die Kassen sind auf der einen Seite zwar zur Sparsamkeit, auf der anderen Seite
aber auch zur Qualitätssicherung verpflichtet. Ich stelle
Ihnen daher die Frage: Sind Sie der Meinung, dass diesem Anspruch Genüge getan wird bzw. dass die Beschwerdemöglichkeiten, die Sie geschildert haben, ausreichend sind, um das Problem, das perspektivisch
zunehmen wird, in den Griff zu bekommen?
Ich bin der Meinung, dass die geltenden rechtlichen
Regelungen zur Hilfsmittelversorgung grundsätzlich geeignet sind, eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung mit Inkontinenzhilfen sicherzustellen. Allerdings - und da gebe ich Ihnen recht - muss
den Einzelbedarfen der Versicherten Rechnung getragen
werden. Deswegen ist es richtig und, wie ich denke,
auch nachvollziehbar, dass dann das Bundesversicherungsamt als Aufsichtsbehörde eingeschaltet wird und
das Ganze überprüft. Nach meiner Kenntnis liegen dem
Bundesversicherungsamt fünf Beschwerden vor, sodass
es sich jetzt damit beschäftigen und klären kann, ob dem
Anspruch der Versicherten nachgekommen wird.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Danke noch einmal. Das ist auch die Empfehlung, die
Herr Laumann gegeben hat. - Ich für meinen Teil bin
mit der Beantwortung dieser Frage noch nicht zufrieden.
Es ist richtig, dass die Zuständigkeit für bundesunmittelbare Kassen beim Bundesversicherungsamt und für landesunmittelbare Kassen wie AOK bei den Landesbehörden liegt. Sie sprechen von fünf Beschwerden. Dies halte
ich für ziemlich tief gestapelt; denn der Petitionsausschuss hat schon mehr entsprechende Petitionen vorliegen. Das ist also merkwürdig.
Im Jahresbericht des Bundesversicherungsamtes sind
diese Probleme bei der Qualität der Hilfsmittelversorgung nicht einmal aufgeführt. Wenn man im Internet
stichprobenartig recherchiert, dann findet man, was die
Landesbehörden angeht, auch keine Ansprechmöglichkeiten. Ich muss einfach sagen, dass der Patient im Einzelfall ziemlich aufgeschmissen ist, wenn er sich mit seiner Beschwerde irgendwohin wenden möchte, um eine
Lösung zu finden.
Sehen Sie das auch so, können Sie das nachvollziehen, und was gedenken Sie zu tun? Oder haben Sie aus
Ihrer Sicht einfach keine Handlungsspielräume?
Zunächst einmal habe ich von fünf Eingaben beim
Bundesversicherungsamt gesprochen. Das hat nichts damit zu tun, wie viele Petitionen eingegangen sind; das
sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Ich kann nur
darüber berichten, wie viele Eingaben dem Bundesversicherungsamt vorliegen.
Die Aufgabe der Qualitätskontrolle obliegt auch den
Krankenkassen. Ich sehe die Krankenkassen daher schon
in der Verantwortung, dieser Qualitätskontrolle nachzukommen. Dadurch, dass das Ganze öffentlich wird - ich
halte es für richtig, dass Versicherte, die in einer solchen
Situation sind, diese Beschwerden auch öffentlich machen -, haben wir jetzt die Möglichkeit, herauszufinden,
ob eine einzelne Krankenkasse Probleme hat, es bei anderen Kassen anders ist oder ob es ein generelles Problem ist. Dann müsste darüber nachgedacht werden, mit
welchen Möglichkeiten, zum Beispiel auch mithilfe der
Vertragspartner der Bundesmantelverträge, Veränderungen möglich und wie es zum Beispiel bei der Versorgung
mit Hörgeräten war.
Der Kollege Wunderlich hat das Wort zu einer Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, ich sehe es ähnlich wie meine Kollegin Rüffer; ich
denke auch, Sie haben die Frage nicht hinreichend beantwortet. Es ist danach gefragt worden, welche Möglichkeiten die Bundesregierung sieht, um eben gerade zu
verhindern, dass sich Betroffene an das Bundesversicherungsamt wenden müssen. Sie haben hier die Situation
dargestellt; Sie haben geschildert, wie die Pauschalen
zustande kommen, dass sie auf einer Mischkalkulation
beruhen und dass für den Einzelfall die Betroffenen die
Möglichkeit haben, sich bei bundesunmittelbaren Kassen an das Bundesversicherungsamt und ansonsten an
die zuständigen Landesbehörden zu wenden. Die Frage
ist aber, welche Möglichkeiten die Bundesregierung
sieht, diese Situation zu verhindern.
Herr Kollege Wunderlich, ich habe sehr deutlich gemacht, dass wir bei der gesetzlichen Regelung, die es im
Moment gibt, davon ausgehen, dass sie grundsätzlich geeignet ist, den Anforderungen im Bereich der Hilfsmittel
zu entsprechen. Erster Ansprechpartner - das habe ich
auch gesagt - sind die Krankenkassen und erst im zweiten Schritt das Bundesversicherungsamt. Es ist legitim,
dass der Bundesgesetzgeber auf die geltende Rechtslage
verweist, wenn er den Eindruck hat, dass sie ausreichend
ist. Dies ist zurzeit der Fall. Es gab einen Artikel im
Spiegel. Wir verfolgen jetzt, welche Informationen das
Bundesversicherungsamt bekommt und ob es weiteren
Handlungsbedarf gibt.
Im Moment - ich sage es noch einmal; das habe ich
sehr deutlich gemacht - gehen wir davon aus, dass die
derzeitige gesetzliche Grundlage ausreichend ist.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches. Herzlichen Dank.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Zur
Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Norbert Barthle zur Verfügung.
Die Fragen 12 und 13 des Kollegen Gastel sollen
schriftlich beantwortet werden wie auch die Fragen 14
und 15 des Kollegen Stephan Kühn.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Herbert Behrens
auf:
Wird die Bundesregierung die im Gesetzentwurf zur Einführung einer Infrastrukturabgabe für die Benutzung von
Bundesfernstraßen ({0}) prognostizierte Haushaltswirkung „ohne Erfüllungsaufwand“, welche
auf der „Prognose der Einnahmen aus dem Verkauf von Vignetten an Halter von im Ausland zugelassenen Fahrzeugen im
Rahmen der Einführung einer Infrastrukturabgabe“ basiert, im
Rahmen des laufenden Gesetzgebungsprozesses vor allem vor
dem Hintergrund abweichender Schätzungen ({1}) umfassend plausibilisieren und validieren lassen
({2}), und wenn ja, wann soll die eingehende
Überprüfung der Haushaltswirkung abgeschlossen werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die vom Kollegen
Behrens geforderte Plausibilisierung der Einnahmeprognose hat bereits stattgefunden, und zwar durch die „Wissenschaftliche Überprüfung der BMVI-Prognose der
Mauteinnahmen durch ausländische Pkw“ von Herrn
Universitätsprofessor Dr. Wolfgang H. Schulz und anderen.
({0})
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Die Nachfrage bezieht sich auf die Anhörung heute
Morgen. Wir haben heute Morgen Herrn Schulz mit am
Tisch gehabt, aber eben auch andere, die insbesondere
die Methodik von Herrn Schulz infrage gestellt haben
und zu anderen Ergebnissen gekommen sind. Nach Auffassung dieser Sachverständigen werden nicht bis zu
700 Millionen Euro allein durch ausländische Mautzahler eingenommen. Deren Schätzungen für die Einnahmen liegen zwischen 170 Millionen Euro und 240 Millionen Euro. Das sind exorbitante Abweichungen.
Deshalb frage ich noch einmal: Ist nach dem Vortrag,
den wir heute Morgen gehört und diskutiert haben, nicht
jetzt eine Situation entstanden, in der es sinnvoll ist, sich
noch einmal den Stresstest von Herrn Professor Schulz
vorzunehmen und ihn hinsichtlich seiner Plausibilität
kritisch zu hinterfragen?
Herr Kollege Behrens, es gab nicht nur heute Morgen
eine öffentliche Anhörung im Verkehrsausschuss. Am
Montag fand bereits eine öffentliche Anhörung im
Finanzausschuss zu diesem Themenkreis statt. Beide
Anhörungen ergaben, dass es unterschiedliche Auffassungen unterschiedlicher Experten gibt. Das ist nicht
verwunderlich. Die Bundesregierung sieht sich in keiner
Weise veranlasst, ihre Auffassung zu revidieren, sondern
sie sieht sich durch diese Anhörungen bestätigt.
Herr Kollege Behrens.
Sie sehen sich also nicht veranlasst, nochmals zu
überprüfen, weil Sie das aus Ihrer Sicht ausreichend gemacht haben. Fakt ist aber, dass erheblich andere Zahlen
vorgelegt wurden und die angewandten Methoden erhebliche Abweichungen bei den Ergebnissen zur Folge
hatten. Auch das veranlasst das Ministerium nicht, noch
einmal zu überlegen, ob die Faktenlage nicht doch ein
bisschen dünn ist, wenn man sich nur auf den Gutachter
Schulz konzentriert?
Noch einmal, Herr Kollege Behrens: Andere Studien,
zum Beispiel die Studie von Herrn Ratzenberger, legen
zum Beispiel hinsichtlich der Fahrtzwecke bestimmte
Annahmen zugrunde. Wir legen unseren Untersuchungen andere Annahmen zugrunde. Die Untersuchungen
von Herrn Ratzenberger und anderen machen wir uns
nicht zu eigen. Auch die neuesten Äußerungen von
Schmid Mobility Solutions machen wir uns nicht zu eigen, da sie nach unserer Auffassung Rechenfehler enthalten. Insofern sehen wir uns nicht veranlasst, unsere
Annahmen infrage zu stellen.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Behrens auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der Kritik an der Pkw-Maut seitens der Europäischen Kommission ({0}),
die Pkw-Mautpläne der Bundesregierung würden gegen das
europäische Diskriminierungsverbot verstoßen, und welchen
Einfluss hätte nach Ansicht der Bundesregierung die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens auf ein Ausschreibungsverfahren bezüglich der vom Bundesministerium für
Verkehr und digitale Infrastruktur favorisierten Übertragung
der Berechnung, Erhebung und Verwaltung der Infrastrukturabgabe an einen privaten Dritten ({1})?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Der erwähnte Artikel ist der Bundesregierung bekannt. Die darin erwähnten Bewertungen, dass die Gesetzentwürfe zur Einführung einer Infrastrukturabgabe
und für ein Zweites Verkehrssteueränderungsgesetz
nicht EU-rechtskonform seien, decken sich jedoch nicht
mit der Rechtsauffassung der Bundesregierung. Vor diesem Hintergrund stellt sich aus der Sicht der Bundesregierung die Frage der Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht.
Herr Behrens.
Herr Barthle, ich meine, Sie waren dabei, als der
Europarechtler Professor Mayer sein Statement zu der
Frage der Europarechtskonformität abgab. Er hat gesagt,
dieser Gesetzentwurf sei im Kern nicht europarechtskonform. Hat diese eindeutige Aussage eines renommierten
Professors nicht auch bei Ihnen Nachdenken ausgelöst
und die Frage aufgeworfen, ob mit dem einen Gutachter,
den Sie herangezogen haben, wirklich die volle Breite
der juristischen Meinungen erfasst wird?
Herr Kollege Behrens, Sie waren dabei, als ein anderer anerkannter Rechtsprofessor uns in unserer Auffassung vollumfänglich bestätigt hat. Deshalb wiederhole
ich meine Aussage: Wir sehen uns durch die Ergebnisse
der beiden öffentlichen Anhörungen in dieser Woche in
unserer Rechtsauffassung bestätigt.
Herr Behrens.
Muss ich dann aus diesen Antworten, die Sie mir jetzt
geben, schließen, dass es eigentlich egal ist, ob wir weitere Anhörungen mit Experten durchführen oder nicht,
weil Sie auf jeden Fall Ihre Rechtsauffassung durch eigene Experten bestätigt sehen?
Dass es zu einem bestimmten Sachverhalt unterschiedliche juristische Auffassungen gibt, ist nichts
Neues und nicht verwunderlich. Wir sehen aber unsere
Auffassungen in den Expertenmeinungen, die auch zu
hören waren, bestätigt. Deshalb sehen wir uns nicht veranlasst, unsere Auffassung zu ändern.
Ich bedanke mich.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf. Die Beantwortung der Fragen wird der
Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold übernehmen.
Ich rufe zunächst die Frage 18 der Abgeordneten
Steffi Lemke auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die beschriebene Erleichterung des Insektizideinsatzes in Naturschutzgebieten
hinsichtlich der Aussagen des Gemeinsamen Informationspapiers von Bundesamt für Naturschutz ({0}) und Umweltbundesamt ({1}) zu Pflanzenschutz im Wald ({2}), wonach der großflächige Einsatz sowohl von Dipel ES als auch
von Karate Forst eine erhebliche Gefährdung für Nichtzielorganismen darstellt, da das Risiko einer deutlichen Reduktion
bis hin zur lokalen Ausrottung von Populationen ökologisch
sensibler Arten besteht sowie eine ökologische Gefährdung
durch die genannten Wirkstoffe auch Wochen nach der
Anwendung existiert, und welche Konsequenzen zieht die
Bundesregierung aus der Feststellung der genannten Bundesumweltbehörden, dass die Auswirkungen der genannten
Insektizide in Naturschutzgebieten auf gefährdete bzw.
geschützte Arten auch bei Einhaltung der Anwendungsbestimmungen „unvertretbar hoch ausfallen“ können?
Herr Pronold.
Die Anwendung der in Ihrer Frage angesprochenen
Pflanzenschutzmittel in Naturschutzgebieten bleibt nach
wie vor grundsätzlich verboten. Den vom Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit erteilten
Bestimmungen zufolge dürfen Genehmigungen von den
zuständigen Landesbehörden nur im Ausnahmefall und
nur nach naturschutzfachlicher Prüfung durch die zuständigen Naturschutzbehörden erteilt werden. Das genannte Informationspapier vom Bundesamt für Naturschutz und vom Umweltbundesamt dient der fachlichen
Unterstützung dieser Prüfung.
Eine Anwendung darf auch nur dann genehmigt werden, wenn sie im Sinne der Zweckbestimmung des Naturschutzgebietes unbedingt erforderlich ist, also dem
Naturschutz dient. Die Bundesländer müssen die Ausnahmegenehmigung an das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit berichten, wie wir bereits vorhin in der Beantwortung durch meinen Kollegen
gehört haben, sodass der Umfang der Nutzung der Ausnahmemöglichkeiten transparent bleibt.
Frau Lemke.
Herr Staatssekretär, vielen Dank. - Ich habe die Ausführungen von BfN und UBA ein bisschen als Alarmruf,
als Warnruf verstanden, dass es dort die Sorge gibt, dass
der Einsatz dieser Insektizide in Naturschutzgebieten in
der kommenden Saison deutlich erhöht sein könnte. Wie
ist Ihre Einschätzung, Ihre Prognose diesbezüglich?
Es ist so, dass sich eine Zuständigkeitsverlagerung ergeben hat. Bisher mussten diese Genehmigungen, die in
Notfallsituationen möglich waren, durch das zuständige
Amt auf Bundesebene erfolgen. Jetzt ist die Zuständigkeit auf die Länder verlagert worden. Wie ich dargestellt
habe, müssen dabei die naturschutzfachlichen Bewertungen der Naturschutzbehörden mitberücksichtigt werden.
Natürlich gibt es in solchen Fällen, vor allem angesichts
des Einsatzes dieser Mittel in der Vergangenheit, immer
Debatten und Sorgen. Deswegen ist diese erhöhte Transparenz durch eine Berichtspflicht gegenüber den Bundesbehörden unheimlich wichtig. Auch das von Ihnen
angesprochene Papier macht ja die hohen Anforderungen, die für solche Genehmigungen durch Landesbehörden gelten müssen, deutlich.
Frau Lemke.
Vielen Dank. - Sie haben es jetzt geschafft, drei
Minuten lang nicht auf meine Frage einzugehen. Diese
bezog sich darauf, ob Sie erwarten, dass es jetzt einen erhöhten Einsatz dieser Insektizide geben wird. Ich vermute, auch Sie haben im letzten Jahr die extrem emotional aufgeladenen und kontroversen Debatten über die
Frage des Einsatzes verfolgt. Ich deute Ihre Nichtantwort auf die Frage, ob der Einsatz von den Landesbehörden in Zukunft häufiger erlaubt werden wird, jetzt einmal als eine Zustimmung zu der Vermutung, dass das so
sein wird.
Deshalb versuche ich, noch einmal nachzufragen. Es
ist ja öffentlich bekannt, dass es diesbezüglich einen
Dissens zwischen Landwirtschaftsbehörden, Forstbehörden und den Umwelt- und Naturschutzbehörden gibt.
BfN und UBA sind ja nicht irgendwelche sorgenäußernden Umweltschützer, die Sie vielleicht nicht allzu sehr
ernst nehmen würden, sondern es sind die obersten Bundesbehörden, die für diese Thematik zuständig sind.
Dort wird diese Sorge geäußert. Der Staatssekretär aus
dem Landwirtschaftsministerium hat hier aber vor einer
Viertelstunde geantwortet: Das wird genauso weitergehen; die Landesbehörden machen das schon alles.
Da Sie die Praxis der Landesbehörden und die Konflikte vor Ort kennen, frage ich Sie noch einmal, ob das
Bundesumweltministerium Maßnahmen einleitet, um
dafür Sorge zu tragen, dass in Zukunft nicht mehr als
bisher gesprüht wird.
Die Zuständigkeit dafür liegt, wie vorhin ausgeführt
worden ist, beim BVL. Sie ist jetzt an die entsprechenden Landesbehörden delegiert worden. Dabei müssen
aber hohe Anforderungen gelten, die mit der bisherigen
Ausnahmegenehmigungsmöglichkeit auf Bundesebene,
den sogenannten Notfallzulassungen, vergleichbar sind.
Ich tue mich mit Prognosen immer schwer, weil sie,
wie Karl Valentin einmal festgestellt hat, auf die Zukunft
gerichtet sind. Ich will aber der Einschätzung des Landwirtschaftsministeriums, dass es, auch aufseiten der Landesbehörden, weiterhin zu einer sehr restriktiven Anwendung kommen wird, nicht widersprechen.
Herr Ebner, möchten Sie eine weitere Frage stellen?
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, haben
die Bundesbehörden denn Möglichkeiten, auf die Entscheidungen der Landesbehörden Einfluss zu nehmen,
sollten die genannten naturschutzfachlichen Kriterien
nicht im erforderlichen Maße beachtet werden? Wenn ja,
welche haben sie? Wenn nein, warum haben sie diese
Möglichkeiten nicht, und wäre das nicht höchst bedenkenswert?
Ich habe vorhin dargestellt, dass es eine Berichtspflicht gibt und dass es darüber hinaus eine Verlagerung
hin zu den fachlich zuständigen Behörden in den Ländern gegeben hat. Im Rahmen der Berichtspflicht werden wir erkennen, ob es zu einem vermehrten Einsatz
kommt. Wenn hier Handlungsbedarf besteht, wird man
sich das - das gilt auch für den Gesetzgeber - noch einmal anschauen müssen.
Herr Ebner, haben Sie noch eine Frage?
Wenn ich darf, gerne. - Ich bin jetzt etwas verwirrt.
Ich hatte ja gefragt: Haben die Bundesbehörden die
Möglichkeit, auf eine Entscheidung, bei der die naturschutzfachlichen Kriterien nicht beachtet wurden, direkt
Einfluss zu nehmen? Wenn diese Kriterien nicht beachtet werden, hat das für den Naturhaushalt erhebliche
Konsequenzen. Dann muss man doch nachjustieren können, und das nicht erst in zwei Jahren, wenn der Bericht
vorliegt.
Noch einmal: Auch die Landesfachbehörden sind an
die naturschutzrechtlichen Vorgaben gebunden. Wir gehen davon aus, dass die zuständigen Länderfachbehörden ebenso wie die Fachbehörden des Bundes - hier gilt
das Gebot der Unabhängigkeit, und in die fachlichen
Entscheidungen der Fachbehörden wird vonseiten der
Bundesregierung nicht eingegriffen - den gesetzlichen
Grundlagen und Normierungen entsprechend entscheiden werden.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Die Fragen 19 und 20 der Abgeordneten
Heike Hänsel werden schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes.
Wir kommen zur Frage 21 der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl:
Auf wessen Veranlassung hin wurde der kanzleramtsinterne Vermerk „Einstweilige Stilllegung nach § 19 Abs. 3
S. 2 Nr. 3 AtG“ in seinen zwei Fassungen vom Frühjahr 2011
erstellt ({0}), und
welche Erinnerung an eine etwaige Nutzung des Vermerks in
der Hausleitung jenseits des damaligen Abteilungsleiters 3 haben die damals an dem Vorgang beteiligten Personen, die
heute noch im Bundeskanzleramt tätig sind, wie beispielsweise der Gruppenleiter 32 und das Referat 321 ({1})?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin Kotting-Uhl,
der Umgang mit dem in der mündlichen Frage genannten Schriftstück war bereits Gegenstand einer schriftlichen Frage von Ihnen, die von der Bundesregierung
kürzlich beantwortet wurde; Sie weisen in Ihrer Frage
selbst darauf hin. Daher bleibt mir jetzt eigentlich nur, zu
sagen: Über die Information hinaus, die Sie vonseiten
der Bundesregierung in der Antwort auf die schriftliche
Frage 1 auf Bundestagsdrucksache 18/4246 erhalten haben, liegen dem Bundeskanzleramt nach meinem Kenntnisstand keine weiteren Erkenntnisse zum Sachverhalt
vor.
Frau Kotting-Uhl.
Danke schön. - Frau Staatsministerin, ein bisschen
anders war meine neue Frage schon formuliert. Weil ich
auf meine vorherige Frage keine befriedigende Antwort
bekommen habe, habe ich sie bewusst anders formuliert
und gefragt, auf wessen Veranlassung hin dieser kanzleramtsinterne Vermerk denn gefertigt wurde.
Weil in diesem Vermerk kurz nach dem Ereignis von
Fukushima festgehalten wurde, dass das BMU und die
Länder die Anordnung aufgrund eines Gefahrenverdachts begründen würden - es ging um das Moratorium,
also um die vorübergehende Stilllegung der Atomkraftwerke -, und weil das Ganze derzeit eine ziemlich öffentlich geführte Debatte ist, erscheint es mir etwas unglaubwürdig und unwahrscheinlich - erlauben Sie mir,
dies zu sagen -, dass sich mit diesem Vermerk intern niemand befasst. Daneben erscheint es mir auch unwahrscheinlich, dass dieser Vermerk damals zwischen dem
Unterabteilungsleiter und dem Abteilungsleiter hin- und
hergereicht wurde, aber niemand Weiteres davon Kenntnis genommen und darauf reagiert haben soll. Deshalb
lautet meine Frage jetzt: Auf wessen Veranlassung und
für wen wurde dieser Vermerk geschrieben?
Frau Staatsministerin.
Ich kann Ihnen gerne noch einmal das sagen, was Sie
im Grunde ja schon wissen:
Aus den Akten des Bundeskanzleramtes ergibt sich,
dass ein Schriftstück mit der Überschrift „Einstweilige Stilllegung nach § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG“
am Mittwoch, den 16. März 2011, per E-Mail von
dem zuständigen Gruppenleiter 32 an den Abteilungsleiter 3 weitergeleitet wurde. Nach Prüfung
innerhalb des Bundeskanzleramtes liegen zum weiteren Umgang damit, der Aufschluss über eine Befassung der Hausleitung
- das ist ja das, was Sie fragen im Sinne der Feststellung geben könnte, keine Informationen vor. Ein Rücklauf o. Ä. findet sich in
den Akten nicht. Dasselbe gilt für eine aktualisierte
Fassung, die undatiert ist, aber offenbar einige Wochen später erstellt wurde.
Diese Antwort ist weiterhin gültig.
Frau Kotting-Uhl.
Danke. - Sie entschuldigen bitte, dass ich sage, dass
mich das etwas an den Begriff des Mauerns erinnert.
Der zweite Teil meiner Frage bezog sich nicht auf
Akten, sondern ausdrücklich auf die Erinnerung der
Menschen, die sich mit diesem Vermerk damals befasst
haben, also zum Beispiel auf den Gruppenleiter 32 und
die Menschen im Referat 321. All diese Menschen sind
noch da; das kann man dem Organisationsplan entnehmen. Es kann ja nicht sein, dass sich auch diese Menschen nicht mehr an diesen Vermerk erinnern - weder
daran, wer ihn veranlasst hat, noch daran, für wen er geschrieben wurde.
Auch das will ich noch hinzufügen: Die Aktualisierung wurde offensichtlich nach Gesprächen mit den
Energieversorgern vorgenommen; denn es wird sich in
der aktualisierten Variante auf eine Kritik der Energieversorger bezogen. Wer hat also die Gespräche mit den
Energieversorgern geführt?
Nach all dem frage ich im zweiten Teil meiner Frage.
Welche Erinnerung an eine etwaige Nutzung des Vermerks in der Hausleitung haben die Personen, die sich
nachweislich mit dem Vermerk befasst haben, weil sie
ihn geschrieben haben? Das muss man eigentlich beantworten können. Wenn man das nicht tut, dann will man
das nicht.
Wie Sie wissen, war ich damals noch nicht im Bundeskanzleramt.
({0})
Deswegen schaue ich natürlich auf die Aktenlage. Es liegen im Bundeskanzleramt keine weiteren Erkenntnisse
dazu vor.
Nach Aktenlage wurde das Schriftstück an den damaligen Abteilungsleiter 3 geleitet; das habe ich schon gesagt. Ob es von ihm oder von jemand anderem erbeten
wurde, konnte nicht ermittelt werden.
Vielen Dank.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwortung steht die Staatssekretärin Iris Gleicke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 22 der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl auf:
Hat die Bundesregierung im Jahr 2015 und im Jahr 2014
im Zuge von Gesprächen mit den vier großen Energieversorgungsunternehmen, die vorrangig nichtnukleare oder zumindest nichtnuklearspezifische energiepolitische Fragen wie
Versorgungssicherheit, Netzstabilität oder Kapazitätsmechanismen betreffen, auch über den weiteren Umgang mit deren
Rückstellungen für Rückbau und Entsorgung von Atomkraftwerken und Atommüll gesprochen, und, falls ja, wann genau
({0})?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Kollegin
Kotting-Uhl, die Bundesregierung pflegt aufgabenbedingt Kontakte zu einer Vielzahl von Unternehmen,
ohne diese systematisch zu erfassen. Eine lückenlose
Aufstellung von sämtlichen Kommunikationsvorgängen
einschließlich der tatsächlichen Gesprächsinhalte kann
daher grundsätzlich nicht übermittelt werden. Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund die erbetene
Abfrage durchgeführt.
Zu Gesprächen mit Vertretern der vier großen Energieversorgungsunternehmen verweist die Bundesregierung auf ihre Antwort auf die Kleine Anfrage betreffend
„Kontakte der Bundesregierung zur Energiewirtschaft
im Rahmen der Marktliberalisierung der Ökostromförderung“, Bundestagsdrucksache 18/2078.
Über die Kleine Anfrage hinaus wurden nach den
vorliegenden Unterlagen die unten stehenden Gespräche
mit Vertretern der vier großen Energieversorgungsunternehmen im Jahr 2015 und im Jahr 2014 geführt. Für
sämtliche Termine ist nicht auszuschließen, dass neben
anderen Themen auch die Rückstellungen für Stilllegung
und Rückbau von Kernkraftwerken und die Entsorgung
radioaktiver Abfälle angesprochen wurden.
Nun die Auflistung:
13. Oktober
2014: Gespräch mit einem Vertreter der RWE AG.
Chef des Bundeskanzleramts und Bundesminister für
besondere Aufgaben, Peter Altmaier: 27. März 2014:
Gespräch mit einem Vertreter der Eon SE; 1. Dezember
2014: Gespräch mit Vertretern der RWE AG; 5. Dezember 2014: Gespräch mit Vertretern der Eon SE; 3. Februar 2015: Gespräch mit einem Vertreter der EnBW AG;
17. Februar 2015: Gespräch mit einem Vertreter der
RWE AG; 16. März 2015: Gespräch mit einem Vertreter
der Eon SE.
Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen,
Werner Gatzer: 19. Dezember 2014: Gespräch mit Vertretern der RWE AG.
Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit, Frau Dr. Barbara Hendricks, gemeinsam mit Staatssekretär Jochen Flasbarth: 5. Dezember
2014: Gespräch mit Vertretern von Eon SE. Die Thematik der Atomrückstellungen wurde als aktueller Punkt
am Rande angesprochen.
Der Bundesminister für Wirtschaft und Energie,
Sigmar Gabriel, hat nachfolgend genannte Gespräche
geführt, die vorrangig nichtnukleare oder zumindest
nichtnuklearspezifische energiepolitische Fragen wie
Versorgungssicherheit, Netzstabilität oder Kapazitätsmechanismen betrafen. Dabei ist teils auch in allgemeiner
Form und am Rande über den weiteren Umgang mit den
Rückstellungen für Stilllegung und Rückbau von Kernkraftwerken und die Entsorgung radioaktiver Abfälle gesprochen worden: 13. Februar 2014: Gespräche mit Vertretern der Eon SE; 18. Februar 2014: Gespräch mit
einem Vertreter der RWE AG; 14. März 2014: Gespräch
unter anderem mit Vertretern der RWE AG, der Vattenfall GmbH und der EnBW AG; 11. November 2014: Gespräch mit Vertretern der Vattenfall GmbH; 24. November 2014: Gespräch unter anderem mit Vertretern von
Eon, RWE, EnBW und Vattenfall. - Sie bekommen das
natürlich, wie üblich, schriftlich.
Ich habe eben im Interesse der Klarheit des Sachverhaltes zugelassen, dass die Redezeit deutlich überschritten wurde.
Aber es ging um das Fragerecht des Parlaments.
({0})
Deshalb sage ich ja: Ich habe das zugelassen, weil ich
denke, es dient der Sache. Ich bitte trotzdem darum, für
die Zukunft zu versuchen, die Redezeit einzuhalten. Frau Kotting-Uhl.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, für die Großzügigkeit. - Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Vorhalt, die
Fragen in Zukunft anders zu verfassen, richtig ist; denn
falls die Frage richtig gelesen und beantwortet wurde,
heißt das, dass bei all diesen Gesprächen, die Sie in Ihrer
langen Liste aufgeführt haben, auch über die Rückstellungen gesprochen wurde. Das war schließlich meine
Frage.
Ich habe eingangs gesagt, unter welchen Voraussetzungen wir die Abfrage gemacht haben, liebe Frau Kollegin Kotting-Uhl,
({0})
und habe ganz klar gesagt, dass nicht auszuschließen ist,
dass auch dieses Thema am Rande angesprochen wurde.
Gut. - Dann beziehe ich mich in meiner ersten Nachfrage auf den Koalitionsvertrag.
Frau Kollegin.
Entschuldigung, Frau Präsidentin, Sie geben mir das
Wort.
Ich gebe Ihnen das Wort für Ihre zweite Nachfrage.
Gut, dann eben meine zweite Nachfrage. - Ich habe
schon zweimal schriftlich die Antwort bekommen:
Entsprechend dem Koalitionsvertrag beabsichtigt
die Bundesregierung, mit den Kernkraftwerke betreibenden Energieversorgungsunternehmen Gespräche über die Umsetzung ihrer rechtlichen Verpflichtung zur Tragung der Kosten für … den
Rückbau der Kernkraftwerke und die Entsorgung
der radioaktiven Abfälle zu führen. Eine konkrete
Planung für derartige Gespräche liegt derzeit nicht
vor.
Das heißt also: Konkret liegt die Planung nicht vor.
Aber es gibt nach dem Koalitionsvertrag ganz klar die
Absicht, diese Gespräche zu führen, und zwar nicht irgendwie nebenbei oder vielleicht zufällig, sondern ganz
konkret. Beim zweiten Mal bekam ich noch den Hinweis
darauf, dass man die Expertenanhörung von Anfang
März noch auswerten und einfließen lassen wolle. Das
ist sicherlich schon passiert.
Insofern die Frage für die nächste Zukunft: Wann sind
diese konkreten Gespräche genau zu dem Punkt „Rückstellungen“ geplant, und in welche Richtung geht die
Auswertung der Anhörung im Wirtschaftsausschuss?
Über die Ihnen gerade vorgelesenen schriftlichen
Antworten der Bundesregierung zu den Planungen dieser Gespräche hinaus liegen keine weiteren Planungen
vor.
Frage 23 der Abgeordneten Bärbel Höhn wird schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich jetzt die Frage 24 der Abgeordneten
Dr. Verlinden auf:
Welche Initiativen hat die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass ein zentraler Bestandteil des NAPE der Bundesregierung die Top-Runner-Strategie ist, diesbezüglich seit
Beschluss des NAPE sowohl national als auch bei der Europäischen Union gestartet, um die im NAPE angenommenen
Effizienzpotenziale dieses Instruments zu heben?
Frau Staatssekretärin.
Liebe Kollegin Dr. Verlinden, unter dem Dach der
nationalen Top-Runner-Initiative bündelt die Bundesregierung verschiedene Maßnahmen, um die EU-ordnungsrechtlichen Aktivitäten für produktbezogene Energieeffizienz im Rahmen der Ökodesign- und der
Energieverbrauchskennzeichnungs-Richtlinie national
zu unterstützen und konzeptionell weiterzuentwickeln.
Ziel der Initiative ist es, die Kompetenz und Motivation für Stromeffizienz, produktbezogene Energieeffizienz und rationelle Energienutzung bei den entscheidenden gesellschaftlichen Effizienzakteuren, also
Geräteherstellern, Handel und Verbrauchern, zu stärken
und energieeffiziente Produkte, Top-Runner, schnell und
nachhaltig in den Markt zu bringen.
Die Bundesregierung setzt sich zudem in den Diskussions- und Abstimmungsprozessen auf europäischer
Ebene für eine ambitionierte Umsetzung und Weiterentwicklung der Instrumente Ökodesign und Energieverbrauchskennzeichnung, also Labelling, ein.
Im Rahmen der nationalen Top-Runner-Initiative sollen neue Ansätze zur Förderung des intelligenten und
systemorientierten Einsatzes von energieeffizienten ProParl. Staatssekretärin Iris Gleicke
dukten entwickelt und integriert werden. Ansätze hierfür
sind etwa die Entwicklung einer Onlinedatenbank zur
verbesserten Information von Verbraucherinnen und
Verbrauchern und Handel, ein Forum für StakeholderDialoge mit den verschiedenen Effizienzakteuren zu aktuellen und konzeptionellen Fragestellungen oder eine
„Open Innovation Plattform“ zur Entwicklung neuer
Produktideen.
Derzeit werden die einzelnen Elemente mit den betroffenen Akteuren diskutiert und ausgestaltet. Das Detailmanagement der Initiative wird in den nächsten Monaten ausgeschrieben.
Frau Dr. Verlinden.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Ich habe jetzt
leider nicht allzu viel Neues im Vergleich zu dem gehört,
was schon im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz
steht. Deswegen war meine Frage, wie es jetzt konkret
weitergeht.
Mich interessiert vor allem, inwiefern die Bundesregierung Verschärfungen plant. Wie möchte die Bundesregierung die Ökodesign-Richtlinie weiterentwickeln?
Wie möchten Sie dafür sorgen, dass noch mehr Energie
eingespart wird? Welche ganz konkreten Änderungen
haben Sie bei der Ökodesign-Richtlinie vor? Und vor allen Dingen: Welche Strategie verfolgen Sie, um die anderen EU-Mitgliedstaaten von Ihren Vorstellungen zu
überzeugen? Es ist schließlich wichtig, dass man in
Brüssel dafür wirbt. Wollen Sie zum Beispiel bei den
Lampen die geplante sechste Verordnungsstufe wie im
ursprünglichen Zeitplan vorgesehen umsetzen? Welche
anderen Ideen gibt es, mit denen Sie bei der ÖkodesignRichtlinie vorangehen können, um gerade in Brüssel zu
zeigen, dass es Ihnen ernst ist mit dem Thema?
Wir setzen uns gerade bei der Ökodesign-Richtlinie
- Sie wissen, das ist im Prinzip die Mindestanforderung,
die gestellt wird - für ambitionierte Ziele ein, sodass die
Projektgruppenebene regelmäßig angepasst wird.
Sie wissen, dass im Herbst zum Beispiel neue Standards gesetzt werden, was Heizanlagen und auch Warmwasseraufbereitung angeht.
({0})
- Das sind aber wichtige Dinge. Das ist eine Daueraufgabe.
Sie sprechen nur die Ökodesign-Richtlinie an. Deshalb will ich Ihnen sagen: Für uns ist es wichtig, dass wir
mit den Herstellern, also mit denjenigen, die solche Produkte entwickeln, im Gespräch bleiben, damit wir diese
ambitionierten Ziele, also den neuesten Stand der Technik, in diesen Design-Richtlinien implementieren können und immer mit im Auge behalten, damit es auch
zielführend ist.
Vielleicht ganz kurz zur Energieverbrauchskennzeichnung. Dabei geht es uns natürlich auch darum, dass
die Aussagefähigkeit dieser Label angepasst wird und
wirklich gegeben ist.
Frau Dr. Verlinden.
Frau Gleicke, ich muss gestehen, ich habe nicht herausgehört, wie Sie die Ökodesign-Richtlinie substanziell verbessern wollen. Sie haben gesagt, dass Sie zur
Ökodesign-Richtlinie stehen, dass die weiteren Produktgruppen überarbeitet werden müssen usw. Aber das
ist ein Prozess, der bereits in Brüssel in Gang gesetzt
wurde, auf den sich alle Mitgliedstaaten geeinigt haben
und den wir von Ihnen erwarten. Worin liegt das substanziell Neue, mit dem wir zusätzlich Energie einsparen
können, wie es im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz angekündigt wurde und das über das hinausgehen
soll, das ohnehin im Impact Assessment der Europäischen Union vorgesehen ist? Das habe ich bei Ihren Ausführungen nicht herausgehört. Im Gegenteil: Auf meine
explizite Nachfrage, was die Lampen angeht, haben Sie
eher drum herumgeredet. Ein Beispiel könnte sein, dass
man absolute Obergrenzen für den Verbrauch einzelner
Produkte anspricht. Das sind alles Punkte, die in der Debatte sind. Dazu würde ich gerne etwas ganz Konkretes
von Ihnen hören.
Das kann ich gut verstehen. Allerdings sind wir zwar
sehr findig und auch pfiffig, aber wir erfinden nicht die
Geräte, und wir sind nicht die Akteure in all den Produktgruppen. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass
wir durch das nationale Top-Runner-Programm mit den
Akteuren wie den Herstellern und Verbrauchern im Gespräch sind, damit wir wissen, was bei ihnen stattfindet,
und das auch auf die europäische Ebene tragen können.
Ich verstehe Sie gut. Es geht uns oft ähnlich, wenn auf
europäischer Ebene etwas sehr langwierig ist, aber wir
sind bei diesen Prozessen darauf angewiesen, dass ein
europäischer Richtlinienvorschlag erstellt wird. Wir jedenfalls drängen in den Gesprächen darauf, dass wir ordentliche Standards bekommen, und zwar in beiden
Richtlinien.
Herr Kühn, Sie haben das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin,
meine Nachfrage zielt auf Folgendes: Die nationale TopRunner-Initiative soll Einspareffekte bringen, die im Nationalen Aktionsplan enthalten und beschrieben sind. Sie
haben drei Maßnahmen aufgeführt: Neben der Daten8842
Christian Kühn ({0})
bank und dem Dialog soll eine zusätzliche Plattform entstehen. Wann rechnen Sie mit CO2-Einspareffekten daraus, und wie hoch sind sie voraussichtlich bis 2020?
Die im Nationalen Aktionsplan geschätzten Einspareffekte - wie Sie wissen, sind entsprechende Mittel zugewiesen worden - sind auf wissenschaftlicher Basis errechnet worden. Wir haben das aber nicht sozusagen in
Jahresscheiben scharfgestellt. Denn Sie wissen genauso
gut wie ich, dass es beispielsweise bei neuen Geräten,
die auf den Markt kommen, auch darauf ankommt, dass
sie bei den Verbrauchern auf Akzeptanz stoßen, damit
sie diese Geräte kaufen. Insofern kann ich jetzt keine
Zahlen und Schätzungen darstellen, und schon gar nicht
jahresscheibenscharf.
Ich glaube, dass eine Datenbank, wie wir sie auch sozusagen als Blaupause für die Europäische Union entwickeln wollen, ein ganz entscheidender Faktor ist, damit
Verbraucherinnen und Verbraucher in den Suchmaschinen nicht nur abfragen können, wo der billigste Kühlschrank zu finden ist, sondern auch der effizienteste.
Darum muss es gehen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben bereits ein ausgeprägtes Bewusstsein,
was die Energieeffizienz angeht, und wir wollen ihnen
Möglichkeiten eröffnen, auf entsprechende Produktinformationen zurückzugreifen. Das wird auch zur Minderung der CO2-Emissionen beitragen und Energieverbräuche senken.
Vielen Dank. - Ich rufe jetzt die Frage 25 der Abgeordneten Dr. Verlinden auf:
Hat die Bundesregierung inzwischen weitere Maßnahmen
identifiziert und bzw. oder entschieden, wie sie die Einsparlücke schließen will, die nach wie vor besteht, um das Ziel,
20 Prozent des Primärenergieverbrauchs bis zum Jahr 2020
einzusparen, zu erreichen, selbst wenn der NAPE komplett
umgesetzt werden sollte?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Liebe Kollegin Frau Dr. Verlinden, mit dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz, NAPE, wird ein maßgeblicher Beitrag zur Erreichung des Ziels, den Primärenergieverbrauch bis 2020 um 20 Prozent zu senken,
erbracht. Der NAPE umfasst die Maßnahmen, die auf
der Seite der Energienachfrage, das heißt beim Energieverbrauch, wirken. Dies ist der Schwerpunkt der Energieeffizienzpolitik, und dies sind oftmals auch die besonders kosteneffizienten Maßnahmen.
Darüber hinaus enthalten die energie- und klimapolitischen Beschlüsse vom Dezember 2014 unter anderem
für den Verkehrsbereich und den Stromsektor weitere
Maßnahmen, die ebenfalls zu einer Verringerung des
Primärenergieverbrauchs beitragen werden.
Darüber hinaus sind die im NAPE zitierten Prognosen
konservativ gerechnet. So lag die im vergangenen Jahr
erreichte tatsächliche Reduktion des Primärenergiebedarfs über dem in den einschlägigen Szenarien prognostizierten Wert. Daher sind wir zuversichtlich, das Ziel zu
erreichen.
Frau Dr. Verlinden.
Es ist interessant, dass Sie das letzte Jahr ansprechen.
Die Zahlen werden von einigen Wissenschaftlern so interpretiert, dass es vor allem an dem sehr milden Winter
lag.
Er hat mit Sicherheit dazu beigetragen.
Genau. Insofern wäre ich vorsichtig und würde nicht
sagen, dass wir auf jeden Fall auf dem richtigen Weg
sind, im Gegenteil.
Sie haben zu Recht gesagt, dass der Nationale Aktionsplan Energieeffizienz nur einen Teil der Einsparungen abdeckt und dass Sie weitere Maßnahmen planen.
Sie haben auch gesagt, in welchen Sektoren diese Maßnahmen ergriffen werden sollen. Genau darauf bezog
sich meine Frage. Welche Maßnahmen genau wollen Sie
in den entsprechenden Sektoren umsetzen? Wann wird
die Bundesregierung hierzu Beschlüsse fassen und Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen? Über welche
Maßnahmen werden wir noch vor der Sommerpause beraten? All das ist interessant, um abzuschätzen, ob Sie
Ihr eigenes Energieeinsparziel bis zum Jahr 2020 überhaupt erreichen können.
Unabhängig davon, dass das Senken des Energieverbrauchs und die Minderung des CO2-Ausstoßes Dauerthemen sind, will ich deutlich sagen, dass wir uns im
Strombereich mitten in einer Debatte über ein Weißbuch
befinden. Die Konsultationen darüber, wie das Strommarktdesign im Erzeugerbereich zukünftig aussehen soll,
haben wir gerade abgeschlossen. Eng damit verknüpft ist
die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung der KraftWärme-Kopplung, KWK. Es geht darum, dass die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung zum zukünftigen
Strommarktdesign passt. Deshalb wollen wir beide Entscheidungen miteinander verzahnen. Wenn die Grundsatzentscheidung gefallen ist, werden wir sehr rasch das
KWK-Fördergesetz anpassen; darüber werden wir dann
hier debattieren.
Um das nationale Klimaschutzziel bis 2020 zu erreichen, müssen alle Sektoren einen zusätzlichen Minderungsbeitrag erbringen. Weitere 22 Millionen Tonnen
CO2 werden unter besonderer Berücksichtigung des
Stromsektors und des europäischen Zertifikatehandels
erbracht. Dazu werden wir im Sommer einen Regelungsvorschlag vorlegen. Wir haben heute im Ausschuss
schon darüber debattiert, dass Bundesminister Gabriel
am Zertifikatehandel auf europäischer Ebene sehr ambitioniert mitwirkt. Wir werden also wahrscheinlich zu einer rechtzeitigen Lösung kommen.
Frau Dr. Verlinden.
Sie können sich sicherlich vorstellen, dass ich mit Ihren Antworten noch immer nicht ganz zufrieden bin. Ich
möchte genauer wissen, was Sie dort planen. Vielleicht
können Sie darauf eingehen, wann wir damit rechnen
können, dass wir hier im Plenum über die KWK-Novelle
beraten werden. Es ist sehr wichtig, die Kraft-WärmeKopplung voranzubringen. Es ist allerhöchste Zeit, den
Betreibern von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen Planungssicherheit zu geben, damit sie wissen, was auf sie
zukommt.
Meine andere Frage lautet: Plant die Bundesregierung, im Bereich der Bürgerenergiewende Maßnahmen
zugunsten der Energieeffizienz durchzuführen, zum Beispiel Bürgerenergieeffizienz-Contracting und Bürgerenergieeffizienzgenossenschaften zu unterstützen? Welche Instrumente sieht die Bundesregierung dafür vor?
Vielleicht können Sie auch darauf eingehen, wie viele
Energieeffizienznetzwerke sich bislang gegründet haben; auch das ist ein Punkt Ihres Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz. Sie wollen, dass sich innerhalb
der nächsten Jahre 500 Netzwerke gründen und bei diesem Thema entsprechend aufstellen. Mich interessiert,
wie viele Gründungen es schon gibt.
Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Das
muss ich schriftlich nachreichen; ich weiß jetzt nicht,
wie viele sich schon gegründet haben. Wie Sie wissen,
legen wir bei den Ausgaben auf Contracting und entsprechende Maßnahmen Wert; das haben wir immer wieder
deutlich gemacht. Im Laufe der nächsten Zeit wird es
Diskussionen zum Beispiel darüber geben, welche Effekte im Verkehrsbereich dadurch entstehen, dass die
Lkw-Maut auf Bundesstraßen ausgeweitet wurde, was
dazu führt, dass Ausweichverkehre nicht mehr stattfinden. Auch das kann natürlich einen Beitrag leisten. Das
wird sich aber erst nach einer gewissen Zeit quantifizieren lassen. Ich will solche Maßnahmen nur mit ansprechen, weil wir in unserer Lebensumwelt an vielen Stellen die Möglichkeit haben, Energie einzusparen, ja,
Energieeffizienz zu leben, will ich einmal sagen.
Was die Vorlage des KWK-Gesetzes angeht: Ich habe
gerade gesagt: Wir sind dabei, die öffentlichen Anhörungen zum Strommarktdesign auszuwerten. Wir verknüpfen aber KWK und Strommarktdesign, weil beides zusammenpassen muss; sonst haben diejenigen, die damit
umgehen sollen, keine ordentliche Handhabbarkeit. Ich
kann Ihnen im Moment das genaue Datum für eine Vorlage nicht nennen.
({0})
- Liebe Frau Dr. Verlinden, wir arbeiten mit Hochdruck
daran.
Eine Nachfrage noch des Kollegen Lenkert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, Energieeffizienz gibt es ja in vielen Bereichen. Über
20 Terawattstunden bzw. etwa 6 Prozent des in Deutschland erzeugten Stromes gehen allein durch den Transport, also durch das Hin- und Herschieben des Stromes
zwischen Nord und Süd oder Ost und West, verloren.
Dies alles wird nicht bezahlt von den Stromhändlern
- sie brauchen für die Transportverluste nicht aufzukommen -, es wird nicht von der Großindustrie und auch
nicht von den Erzeugern des Stromes gedeckt; vielmehr
müssen für diese Verluste die normalen Stromkunden
über die Netzentgelte, also mit der Stromrechnung, bezahlen. Wir reden hier über eine Gesamtsumme, die im
letzten Jahr etwa 134 Millionen Euro betrug.
Ich frage Sie: Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um zum einen die Energieverluste durch das
Hin- und Herschieben des Stromes zu reduzieren, sprich:
diese Verluste zu beseitigen, und um gleichzeitig eine
der Ursachen dieser ineffizienten Wirtschaftsweise zu
bekämpfen, dass man im Prinzip sowohl die Erzeuger
als auch die Großkunden und die Händler an den Transportkosten beteiligt, damit dadurch der Transportbedarf
sinkt und unter anderem Materialeffizienz entsteht, sodass wir nicht so viele neue Stromtrassen brauchen?
Herr Kollege Lenkert, ich kann die Ihrer Frage zugrundegelegten Zahlen weder bestätigen noch dementieren; da bin ich im Moment ein bisschen überfragt, ob das
so stimmt, was Sie jetzt in den Raum gestellt haben.
({0})
Was die einzelnen Maßnahmen angeht, kann ich demzufolge natürlich auch nicht adäquat antworten. Vielleicht
schreiben Sie mir ein Brieflein dazu; dann kann ich das
ein bisschen ausführlicher tun.
Eins werden wir allerdings nicht schaffen: Wir werden die physikalischen Gesetze nicht außer Kraft setzen
können, nicht einmal mit Bundestagsbeschluss.
({1})
Eine weitere Nachfrage des Kollegen Kühn.
Frau Staatssekretärin, die Frage 25 bezog sich ja darauf, dass der NAPE komplett umgesetzt wird. Nun wissen wir, dass die steuerliche Förderung, die im NAPE
ebenfalls vorgesehen und dort mit erheblichen Einsparpotenzialen benannt ist, nicht kommen wird. Wie planen
Sie, diesen Ausfall zu kompensieren, falls es eben nicht
zu einer steuerlichen Förderung kommt, wovon mittlerweile auch Minister Gabriel ausgeht, wie öffentlich zu
hören war?
Wir prüfen derzeit Alternativen. Wir werden die
165 Millionen Euro, die der Bundesanteil einer steuerlichen Förderung ausgemacht hat, investiven Maßnahmen
zugutekommen lassen, um die Energieeffizienz weiter
voranzutreiben.
({0})
Wir kommen zur nächsten Frage, zur Frage 26 des
Abgeordneten Christian Kühn:
Inwiefern stellt die Bundesregierung einem Programm zur
energetischen Quartierssanierung, wie vom Bundesminister
für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, angekündigt,
3 Milliarden Euro zur Verfügung ({0}), und welche Haushaltstitel soll das
umfassen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Kollege Kühn, Sie beziehen sich auf einen Artikel, zu finden unter www.deutsche-handwerks-zeitung.de. Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Bundesminister Sigmar Gabriel hat auf der Internationalen
Handwerksmesse in München gesagt, dass 3 Milliarden
Euro für Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung bereitgestellt werden.
Herr Kühn.
Frau Staatssekretärin, ich stelle diese Zusatzfrage,
weil Sie meine Frage wie soeben geschehen beantwortet
haben: Wie setzen sich diese 3 Milliarden Euro im Bundeshaushalt denn zusammen?
Ich schicke Ihnen die entsprechende Liste gerne zu.
Da geht es zum Beispiel um das aufgestockte CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das mit 2 Milliarden Euro
zu Buche schlägt. Es geht um die Einführung von Ausschreibungsmodellen. Es geht um das Thema Contracting, das wir eben behandelt haben. Es geht um weitere
Maßnahmen, die sich aus dem NAPE ergeben. Es gibt
also eine ganze Menge an Fördermöglichkeiten. Aber
für das Thema „energetische Sanierung“ stehen, wie gesagt, 3 Milliarden Euro zur Verfügung.
Noch eine Nachfrage dazu. Sie haben gerade Maßnahmen im NAPE benannt.
Ja, ich habe es gemerkt.
Maßnahmen im NAPE haben mit dem aktuellen
Haushalt nichts zu tun.
Herr Gabriel hat gesagt, wie die Deutsche Handwerks
Zeitung berichtet, er verstehe gar nicht die Aufregung
darüber, dass der Steuerbonus nicht kommt - sehr viele
Menschen in Deutschland sind aber wirklich enttäuscht -;
er sehe auch keinen Stopp bei der energetischen Gebäudesanierung, weil 3 Milliarden Euro zur Verfügung stünden; das sei das größte Programm, das es je gegeben
habe. Ich frage nun noch einmal nach. Ich kenne den
Haushalt auch. Ich sehe das nicht.
Sie haben gerade noch einmal Maßnahmen im NAPE
angeführt. Wie setzt sich die zusätzliche 1 Milliarde
Euro für die energetische Gebäudesanierung, also über
die 2 Milliarden Euro hinaus, die es für die KfW-Programme gibt, zusammen? Ich sehe das nicht. Darauf
hätte ich gern Antworten von Ihnen.
Sie fragten allerdings - das will ich nur noch einmal
klar sagen - nach der Quartierssanierung. Da liegt die
Zuständigkeit beim BMUB. Dafür stehen 50 Millionen
Euro zur Verfügung.
In der Deutschen Handwerks Zeitung wird Herr
Gabriel ganz korrekt zitiert:
Gründe, dies zu dramatisieren, sieht Gabriel indes
nicht. Auch über Zuschussprogramme könne die
energetische Gebäudesanierung vorangebracht werden. „Einen Stopp der energetischen Gebäudesanierung gibt es nicht“, so Gabriel. Drei Milliarden
Euro stünden dafür zur Verfügung.
({0})
Das größte Programm, das es dafür je gegeben
hatte.
Ich zitiere das nur deshalb noch einmal, damit wir es
auch korrekt im Protokoll haben.
Ich schicke Ihnen aber gern die Liste der einzelnen
Maßnahmen zu, aus denen sich das 3-Milliarden-Programm zusammensetzt.
({1})
- Gern.
Vielen Dank. - Die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Oliver Krischer werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Frau Staatsministerin Professor
Dr. Maria Böhmer übernimmt die Beantwortung.
Ich rufe die Frage 29 der Abgeordneten Katja Keul
auf:
Inwiefern steht die Bundesregierung mit der algerischen
Regierung oder anderen algerischen oder internationalen Stellen in Kontakt, um die vom World Food Programme befürchtete Krise der Nahrungsmittelversorgung in den Lagern der
Westsahara-Flüchtlinge ({0}) zu verhindern, und welche konkreten Maßnahmen plant sie auf nationaler, EU- und UN-Ebene zur Verhinderung dieser Krise zu unternehmen bzw. zu initiieren?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Frau Kollegin, der Bundesregierung
ist die humanitäre Notlage in den Flüchtlingslagern für
die Sahrauis in Algerien bekannt. Sie hat gegenüber dem
Welternährungsprogramm angeregt, eine mögliche Umschichtung zugunsten von humanitären Hilfsmaßnahmen
für Westsahara-Flüchtlinge in Algerien zu prüfen.
Die humanitären Bedarfe in einer humanitären Krise
werden in den meisten Fällen anhand sogenannter Hilfsaufrufe der Vereinten Nationen und der Rotkreuz- und
Rothalbmondbewegung bestimmt. Da viele Spender
dazu tendieren, ihre Budgets auf sichtbare Krisen zu verwenden, können die humanitären Bedarfe in „vergessenen Krisen“ häufig nicht ausreichend gedeckt werden.
Die Bundesregierung thematisiert die Problematik unterfinanzierter Hilfsaufrufe regelmäßig in den jährlich stattfindenden Planungsgesprächen mit internationalen humanitären Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen.
Frau Keul.
Vielen Dank. - Ich war im letzten Monat mit der Delegation der Parlamentariergruppe in Algerien. Wir haben dort die Gelegenheit gehabt, mit Vertreterinnen und
Vertretern der Welthungerhilfe zu sprechen. Sie haben
uns sehr glaubhaft versichert, dass aufgrund der weltweit
steigenden Zahl von Flüchtlingskatastrophen die Möglichkeiten der Umschichtung ausgeschöpft sind und dass
selbst bei Einsatz aller erdenklichen Mittel spätestens im
Juli die Lager leer sind. - Das war der Wortlaut der Leiterin, mit der wir dort gesprochen haben.
Wir alle wissen, dass die Flüchtlinge in diesen Lagern, überwiegend Frauen und Kinder, wirklich zu
100 Prozent von der Auswärtsversorgung abhängig sind.
Denkt die Bundesregierung darüber nach, was getan
werden kann? Vor allen Dingen: Welche Ideen hat sie
dazu, was man denn bis Juli machen könnte, wenn die
Umschichtungen ausgeschöpft sind und um die 100 000
Flüchtlinge ohne Nahrungsmittelversorgung in der
Wüste sitzen?
Frau Kollegin, die Situation treibt uns ebenfalls sehr
um. Wir sind damit konfrontiert, dass sich der Bedarf an
humanitären Maßnahmen weltweit seit 2012 verdoppelt
hat. Krisenregionen sind neu hinzugekommen. Deshalb
habe ich eben ganz bewusst von Krisen gesprochen, die
aktuell im Blick sind, und solchen, die eher aus dem
Blick geraten sind. Ich bin sehr froh, dass Sie sich dieser
Frage so annehmen. Das war auch Gegenstand von Gesprächen, die ich in meinem Haus geführt habe. Ich kann
Ihnen versichern: Wir sind in dieser Frage hochsensibilisiert.
Vielen Dank.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. - Einige
der eingereichten Fragen werden schriftlich beantwortet,
sodass wir diesen Tagesordnungspunkt hiermit abschließen können.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in der ehemaligen DDR am 18. März
Ich freue mich, dass ich zu dieser vereinbarten Debatte zahlreiche damalige Mitglieder der Volkskammer
auf unserer Tribüne hier im Deutschen Bundestag begrüßen kann,
({0})
und ich möchte stellvertretend für die vielen ehemaligen
Kolleginnen und Kollegen die damalige Präsidentin der
Volkskammer, Frau Bergmann-Pohl, und den Ministerpräsidenten Lothar de Maizière hier bei uns begrüßen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenen
November haben wir an den Fall der Mauer vor 25 Jahren erinnert; im Oktober dieses Jahres werden wir zum
25. Mal den Tag der Deutschen Einheit feiern. Zwischen
diesen beiden markanten historischen Daten steht ein
weiteres bedeutendes Ereignis, das es verdient, in ähnlich lebhafter Erinnerung behalten zu werden, nämlich
die erste freie Volkskammerwahl in der DDR vom
18. März 1990, die heute vor 25 Jahren stattgefunden
hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Für den friedlichen, demokratischen, aber keineswegs
selbstverständlichen Weg vom 9. November 1989 zum
3. Oktober 1990 hat die Volkskammer einen herausragenden Beitrag geleistet - in einer ungewöhnlich kurzen
Zeit, unter außerordentlich bescheidenen Arbeitsbedingungen. Dafür verdienen alle diejenigen, die an dieser
Arbeit damals unmittelbar beteiligt waren, unseren ganz
besonderen Respekt.
({2})
An der ersten freien Wahl zu einer Volkskammer der
DDR haben damals 93,4 Prozent der Wahlberechtigten
teilgenommen.
({3})
- Ja, das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
höchste Wahlbeteiligung, die es bei freien Wahlen in der
deutschen Geschichte auf Bundes- bzw. Reichsebene jemals gegeben hat, und sie zeigt, wie sehr die Menschen
in der DDR dies damals auch als außerordentliches Ereignis empfunden haben, und es wäre allzu schön, wenn
das Bewusstsein der Errungenschaft, in freien Wahlen
selbst darüber befinden zu können, wie die eigenen Angelegenheiten geregelt werden sollen, in dieser Gesellschaft lebendig bliebe.
({4})
Wir hatten, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
damaligen Volkskammer, ja gestern und heute in einer
Veranstaltung im Deutschen Historischen Museum die
Gelegenheit, den Ablauf und die Bedeutung dieser Ereignisse im historischen Kontext zu würdigen, und ich
will gerne zu Beginn unserer Debatte noch einmal bekräftigen, dass die damals frei gewählte Volkskammer
der DDR sich mit ihrem Beitrag zu einem historisch
ebenso beispiellosen wie beispielhaften Veränderungsprozess in Deutschland und Europa einen herausragenden Platz in der deutschen Parlamentsgeschichte gesichert hat; und auch das verdient es, heute festgehalten zu
werden.
({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch; also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen: Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen aus der letzten frei gewählten Volkskammer!
Verehrte Gäste! Herr Ministerpräsident! Liebe Frau
Dr. Bergmann-Pohl! Ja, die Wahl am 18. März 1990 war
eine echte freie Wahl. Wir hatten es mit keinem Block
der Nationalen Front zu tun, sondern hatten die Wahl aus
24 Listen bzw. Parteien, die sich um 400 Mandate beworben hatten. Zwölf Listen haben dann gezogen, wie
wir sagen. Wir waren 409 Volkskammerabgeordnete,
und ich war dabei.
Als ich an so einem Frühlingstag wie heute, am
18. März 1990, in meinem kleinen Ort zur Wahl ging,
war etwas ungewöhnlich: Die Presse stand vor dem
Wahllokal. Das gab es vorher nicht.
({0})
Der Tag war voller Fröhlichkeit und voller Hoffnung.
Wer drei Wochen Wahlkampf - mehr waren es nicht gemacht hatte, der wusste, dass die Allianz für Deutschland große Chancen hatte, die Mehrheit zu bekommen.
Wer mit den Leuten geredet hat, der wusste, was sie denken.
Viele haben es anders eingeschätzt; manchmal haben
wir uns von diesen Einschätzungen beflügeln lassen. Jedenfalls war es für mich dann trotzdem eine Überraschung, dass ich Volkskammerabgeordnete wurde. Wir
hatten kein Handy; wir hatten kein Fax. Wir hatten in
meinem Bautzen auch kein ZDF oder ARD. Wir hatten
zwar die Aktuelle Kamera, aber dass ich gewählt wurde,
habe ich erst am darauffolgenden Montag erfahren.
Ich darf hier feststellen: Diese Volkskammer war ein
wahres Arbeitsparlament. Sie war nicht zum Repräsentieren gewählt worden. Wir repräsentierten zwar unsere
Bevölkerung, die uns gewählt hat, aber wir waren von
Anfang an ein großes Arbeitsparlament.
Als wir die erste Fraktionssitzung hatten - das war am
27. März 1990; ich war mit meinem alten Wartburg hier
nach Berlin gekommen - und wir uns im ehemaligen
Haus des Zentralkomitees der SED - heute ist es das
Auswärtige Amt - zur Fraktionssitzung versammelten,
da kannte ich - das kann man gar nicht glauben - niemanden. Vom Sehen kannte ich meinen Nachbarn und
Kollegen aus Kamenz, den Herrn Tillich, den Sie sicherlich alle kennen. Er ist heute Ministerpräsident im Freistaat Sachsen. Aber ansonsten waren wir gar nicht so
vernetzt und konnten es auch gar nicht sein. Wir waren
gewählt und hatten die Aufgabe - die hatten alle -, eine
Fraktion zu bilden.
In der ersten Fraktionssitzung wurde ein Fraktionsvorsitzender gewählt: Das war unser späterer Ministerpräsident, den ich natürlich aus dem Fernsehen und vom
Parteitag kannte. Aber es war klar: Er wird Ministerpräsident, und wir brauchen einen neuen Fraktionsvorsitzenden. Günther Krause ist es dann geworden.
Als es dann darum ging, eine Präsidentin oder einen
Präsidenten zu nominieren, weil wir die stärkste Fraktion waren, wurde Frau Dr. Bergmann-Pohl mit der Begründung vorgeschlagen: Sie hat schon große Kongresse
geleitet - wer hatte das schon von uns? -, und sie ist anerkannte Ärztin. - Da sie hinter mir saß, konnte ich sie
kurz anschauen und dachte mir: Ja, sie ist sympathisch.
Die wähle ich.
({1})
Das waren die Konstellationen.
Ich will noch einmal feststellen: Diese Volkskammerwahl war historisch. Alle waren sich einig, bis auf die
Linke, die damalige PDS bzw. SED-PDS, die das nicht
wollte. Herr Gysi hat immer wieder versucht, irgendwo
in den Anträgen einen Halbsatz hineinzumogeln, um die
Souveränität der DDR im Nachhinein zu legitimieren.
Wir haben das aber gemerkt.
({2})
Alle Fraktionen wussten im Grunde genommen: Die
Volkskammer ist angetreten, um sich aufzulösen. Das
Ziel war die deutsche Einheit. Der Weg dahin war mit
vielen Fragezeichen versehen.
Damals habe ich begonnen, ein Notizbuch zu führen.
Es ist zufällig grün,
({3})
weil ich aus Sachsen komme. Ich habe darin praktisch
alles aufgeschrieben, was mir die Leute so erzählt haben
und wie sie denken.
Da gibt es ein Zitat von einem Herrn, das mich sehr
nachdenklich gestimmt hat. Er hat ungefähr gesagt: Bei
meiner ersten Wahl habe ich rechts gewählt; das führte
ins Verderben. Bei meiner zweiten Wahl habe ich links
gewählt; das war auch Beschiss. Jetzt wähle ich Mitte,
und das ist die Allianz für Deutschland. Sie können sicher sein, sie bekommt die Mehrheit.
({4})
Mit diesem Votum - ja, muss man sagen - waren wir
sehr gestärkt. Trotzdem weiß jeder von uns, dass wir
versucht haben, miteinander zu reden. Wir haben die
Große Koalition gebildet, eine große Allianz für die
deutsche Einheit. Wir haben versucht, viele Wünsche
und Vorstellungen unter einen Hut zu bekommen.
Wir haben gemerkt, wie schwer es ist, mit Geschäftsordnungen umzugehen. Ich erinnere mich mit Staunen
an die kleine Festrunde, die am 17. Juni 1990, zu diesem
historischen Tag, stattfand - da haben wir aus der Verfassung alle Symbole der DDR und alles, was damit zu
tun hatte, gestrichen -, und daran, wie ein Kollege von
der DSU aufstand und sagte: Sofortiger Beitritt. - Wir
haben gesagt: Ja, den wollen wir auch, aber nicht sofort.
Es muss geordnet sein. Wir haben noch keine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Wir sind mit dem
Einigungsvertrag noch nicht fertig. - Wie man mit einem
solch simplen Antrag umgeht - dazu brauchten wir fünf
Auszeiten. Stellen Sie sich vor: An diesem historischen
Tag hatten wir Besuch aus Bonn: Helmut Kohl, Rita
Süssmuth, die Präsidentin des Bundestages, und weitere
waren da. Und die Volkskammer verließ immer wieder
halbstündlich diesen Raum und tagte in Nebenräumen.
Ich erinnere mich an große Vorhänge im Palast der Republik. Es waren wahrscheinlich irgendwelche Probebühnen. Es war nicht ganz sicher, wer da eigentlich noch
mithört; denn wir waren immer noch ein Stück weit geprägt von den Erfahrungen, dass „Horch und Guck“
überall war. Trotzdem haben wir da unsere Strategie entwickelt. Gewöhnungsbedürftig!
Eine andere Sache - ich will das einfach einmal aus
dem Erleben erzählen -: Heute tagen wir im Deutschen
Bundestag von 9 Uhr bis manchmal halb zwölf in der
Nacht. - Wir haben damals eine Mittagspause eingehalten. Wissen Sie, wie erhebend es für uns Volksvertreter
war, in diesem Palast der Republik, in dem Salon, in dem
die SED-Herrschaften ihre Speisen einnahmen, eine
halbe Stunde Pause machen zu dürfen? Auch das war
wichtig und richtig. Dort haben wir uns beim Mittagstisch überfraktionell das eine oder andere gesagt und
Netzwerke gegründet.
Wichtig ist für uns, dass wir sagen können: Wir haben
mit aller Kraft versucht, diesen bedeutenden Auftrag zu
erfüllen. Wir hatten zunächst kein Büro. Mein erstes
Büro bekam ich irgendwann Ende April. Wir haben aus
Koffern gelebt. Wir hatten kein Bett. Man hat uns die
Mannschaftsunterkunft der Stasi in der Ruschestraße zugewiesen. Wir hatten auch keine Infrastruktur. Ich kann
mich an junge Kollegen erinnern. Sie hatten, wie wir
alle, ihre Arbeit aufgegeben, da wir jeden Tag und jede
Woche in Berlin tagten, und bekamen kein Geld. Das
erste Geld gab es im Mai. All das haben die Familien der
Abgeordneten mitgetragen. Deshalb ist es wichtig, dass
wir allen von Herzen danken, die ihre ganz persönliche
Situation nicht in den Vordergrund gestellt haben, sondern sich um das Gemeinwohl bemüht - ich als Christin,
andere aus anderen Motiven - und sich in diese Entwicklung eingebracht haben, ohne danach zu fragen: Was
habe ich denn eigentlich davon? Deshalb allen ein herzliches Dankeschön.
({5})
Zum Schluss - ich bin gleich am Ende meiner Rede will ich Ihnen meinen letzten Eintrag, den ich in jenem
Jahr in dieses grüne Büchlein schrieb, vorlesen - wir
hatten über Geld gesprochen -:
Der Staatshaushalt muss ausgeglichen sein. Die öffentlichen Schulden müssen verringert werden. Die
Arroganz der Behörden muss gemäßigt und kontrolliert werden. Die Zahlungen an ausländische
Regierungen müssen reduziert werden, wenn der
Staat nicht bankrottgehen soll. Die Leute sollen
wieder lernen zu arbeiten, statt auf öffentliche
Rechnung zu leben.
Dieses Zitat war das letzte, das ich mir in der Volkskammerzeit aufgeschrieben habe; aber es stammt von Cicero
- 55 Jahre vor Christus - und gilt heute noch. Das sollte
uns das Vermächtnis wert sein.
Vielen Dank.
({6})
Ich habe gerade gesehen, Frau Kollegin Michalk, dass
der Zettel, der neben dem Eintrag lag, den Sie vorgele8848
Präsident Dr. Norbert Lammert
sen haben, die schöne Parole enthält: Gebt dem Chaos
eine Chance!
({0})
Das wird wohl nicht die Parole der Allianz für Deutschland gewesen sein. Jedenfalls vermute ich das.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße besonders herzlich Sie, liebe Ehrengäste, liebe Mitglieder der Volkskammer, die am
18. März 1990 gewählt worden ist - bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent. Es waren geheime, demokratische und vor allen Dingen freiwillige Wahlen. Das war
für viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger ein unglaubliches Erlebnis. Es waren Wahlen, die gut zwei Monate
nach vorne verlegt worden sind, weil man sich die Situation ohne ein gewähltes, legitimiertes Parlament gar
nicht mehr vorstellen konnte, weil die Situation gar nicht
mehr handelbar gewesen wäre. Das heißt, es war ein
Wahlkampf von nur wenigen Wochen. Man kann sagen:
Das war demokratischer Ausnahmezustand im besten
Sinne. Darauf folgten gut 200 Tage deutsche echt demokratische Republik. Ich finde, darauf können wir alle
miteinander stolz sein. Es war der Eintritt in eine neue
Welt der Freiheit und der Demokratie.
Ich selbst war damals zehn Jahre alt. Ich habe an die
Wahlen selber keine Erinnerung, sehr wohl aber an die
Stimmung, die damals im Land geherrscht hat. Mir persönlich wird immer in Erinnerung bleiben: Die Demokratie ist etwas Wunderbares, eigentlich fast ein Wunder,
und dieses Wunder ist nicht vom Himmel gefallen, sondern erkämpft worden. Dementsprechend ist sie wenig
alltäglich und sehr zerbrechlich.
({0})
Demokratie ist harte Arbeit. Jedes Gespräch mit den
Kolleginnen und Kollegen der Volkskammer, die damals
für diese 200 Tage gewählt worden ist, zeugt davon. Ich
möchte Sie an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich
begrüßen. Es ist für uns alle eine große Ehre, dass Sie
alle heute gekommen sind. Ich wage es gar nicht, mit
dem Aufzählen von Namen anzufangen. Insofern: Seien
Sie alle ganz herzlich in unserer Mitte begrüßt!
({1})
Es gab damals ganz unterschiedliche Motive für die
Wahlentscheidung. Viele Menschen wollten in der Tat
die schnelle deutsche Einheit, wollten eine massive Abkehr vom System der DDR. Es war aber für viele eben
auch ein magischer Moment, die Geschicke des eigenen
Landes in die eigenen Hände zu nehmen und das Land,
in dem man aufgewachsen, groß geworden ist, zu reformieren.
Der 1983 ausgebürgerte Roland Jahn sitzt auch auf
der Tribüne. Er war am Tag der Volkskammerwahl gar
nicht wahlberechtigt. Vor wenigen Tagen hat er formuliert:
Es war ein Tag der Genugtuung, denn es ging von
dieser Wahl auch international das Signal aus: Diktatur ist überwindbar.
Wahlgewinner - das ist erwähnt worden - war die Allianz für Deutschland. Sie hat mit dem Slogan „Nie wieder Sozialismus“ und einer sehr zügigen deutschen Einheit geworben. In der Tat galt schon damals: Umfragen
sind keine Wahlen. Für viele Parteien, inklusive der
SPD, war der Wahlausgang - nicht die Wahl selber eine Enttäuschung. Auch viele Akteure der friedlichen
Revolution waren vom Wahlausgang enttäuscht. Reform
der DDR - das war es, wofür sie auf die Straße gegangen
waren. Das konnte schon in diesen frühen Tagen des
Jahres 1990 nicht mit der Idee der rasanten, möglichst
schnellen deutschen Einheit mithalten.
Die Volkskammerwahl von 1990 war aber nicht nur
aufgrund der unvorstellbar hohen Wahlbeteiligung und
der Umstände etwas Besonderes. Norbert Lammert hat
die Volkskammer einmal als eines der fleißigsten Parlamente der Geschichte bezeichnet. Mit dabei waren auch
sehr viele parlamentarische Neulinge. Viele von ihnen
sitzen auf der Tribüne. Sie hatten als mutige Revolutionäre eine Diktatur zu Fall gebracht, pragmatisch an runden Tischen dafür gesorgt, dass das Land überhaupt irgendwie am Laufen gehalten wurde - dass der Müll
abgeholt worden ist, und andere solche banalen, aber
wichtigen Dinge -, und sind dann in die Volkskammer
gewählt worden. Auch dort hatten sie große Aufgaben
vor sich: das Parlament überhaupt erst zum Laufen, zum
Funktionieren zu bringen, und zwar ganz ohne historische Schablone - Kollegin Michalk hat das gerade in
eindrücklichen Worten geschildert -, historische Weichen zu stellen für das ganze Land und für die Zukunft
der Menschen und sich selbst direkt wieder abzuschaffen. Das ist eine einzigartige Geschichte, und wir ziehen
vor den Kolleginnen und Kollegen dieser Volkskammer
unseren Hut.
({2})
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das war auch
Anfang 1990 spürbar: Dieser jungen Demokratie wohnte
ein Zauber inne. Und danach? Unsere Beauftragte für
die neuen Länder, Iris Gleicke, hat das in der Debatte
zum 25. Jahrestag des Mauerfalls sehr einfühlsam und
differenziert ausgedrückt: Sie hat auf die Gewinner der
Einheit hingewiesen, aber auch auf die Verlierer, die sich
auch heute oftmals nicht verstanden und gehört fühlen.
Es gibt nur eine Miniminimini-Minderheit, die die DDR
zurückhaben möchte, aber eben sehr viele, die ambivalente, also sehr gute, aber gleichzeitig auch negative, Gefühle zur Einheit und - ganz eng damit verknüpft - zur
Demokratie haben, und wir tun gut daran, uns damit auseinanderzusetzen. Die Aufbruchstimmung ist längst verflogen, die Demokratie ist längst erwachsen geworden,
aber auch als erwachsene Demokratie ist sie geprägt von
dieser Geschichte und auch von der Vorgeschichte.
Wenn ich an die Demokratie Ostdeutschlands denke,
dann denke ich an viel Licht und auch an viel Schatten.
Ich würde mir wünschen, dass wir auch über das Licht
sprechen. Die Zustimmung zur Demokratie steigt in Ost
und West, und Ostdeutschland holt auf. Die Zustimmung
zur Demokratie ist von erschreckenden 47 Prozent im
Jahr 2003 auf immerhin 74 Prozent im Jahr 2013 gestiegen - unter jungen Menschen gibt es eigentlich kaum
noch einen Unterschied zwischen Ost und West; Deutschland ist dort im besten Sinne zusammengewachsen -, aber
gleichzeitig haben wir eine erschreckend niedrige
Wahlbeteiligung, zum Beispiel bei den letzten Landtagswahlen nur um die 50 Prozent. Gerade die Jungen
gehen erschreckend selten zur Wahl. Man muss leider
konstatieren, dass sich Ost und West an dieser Stelle im
Negativen einander annähern. Das Gefühl, etwas mit
Wahlen verändern zu können, scheint - im scharfen
Kontrast zu 1990 - für viele verloren gegangen zu sein.
Auch das Phänomen Pegida hat uns aufmerken lassen. Da schleudern uns, also „denen da oben“, die Demonstranten in Dresden schweigend ihre ganze Verachtung entgegen. Es ist symptomatisch, dass sie den Ruf
„Wir sind das Volk!“ nutzen. Das ist einerseits eine Anknüpfung an die Tradition der friedlichen Revolution
und auch ein bisschen der Versuch, diese Kraft aufzunehmen, andererseits ist das aus meiner Sicht eine massive Anmaßung. Laut Forsa waren nur 3 Prozent der
Dresdener bisher bei einer Pegida-Demonstration,
89 Prozent lehnen eine Teilnahme strikt ab, und drei
Viertel der Dresdener antworten auf die Frage, was das
größte Problem der Stadt sei: Pegida. - Ich sage diesen
Demonstranten: Ihr habt das Recht, zu demonstrieren
und eure Meinung zu sagen - dafür sind in der Tat im
Jahr 1989 Hunderttausende auf die Straße gegangen -,
aber anders, als ihr das zum Ausdruck bringt, habt ihr
keinen Anspruch auf Applaus. Im Gegenteil: Viele Argumente, gerade die, die sich gegen die Schwächsten der
Gesellschaft, etwa Flüchtlinge, richten, haben massiven
Widerspruch verdient, und ich freue mich, dass sie ihn
auch erhalten.
({3})
Demokratie ist eben kein „Wünsch dir was“, sondern
harte Arbeit, Auseinandersetzung, Miteinander-Reden,
Geduldsprobe und manchmal Zumutung.
Ich möchte mich zum Abschluss gerade bei denjenigen, für die das 1990 nur ein kurzer Ausflug in die große
Politik war, die eigentlich Ingenieure, Ärzte oder was
auch immer waren, herzlich dafür bedanken, dass sie den
Sprung ins kalte Wasser der Demokratie gewagt haben.
Sie sind ein großes Vorbild für uns alle, und ich würde
mir wünschen, dass sich ganz viele junge Menschen in
unserem Land an ihnen ein Vorbild nehmen.
Demokratie ist harte Arbeit, aber sie lohnt auch. Das
sieht man, wenn man heutzutage eine beliebige Stadt in
Ostdeutschland besucht und mit den Menschen dort
spricht.
Herzlichen Dank.
({4})
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Gründung der DDR in ihrem 41. Lebensjahr fanden die ersten
freien und demokratischen Wahlen am 18. März 1990
statt.
({0})
Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger waren ungeheuer
bewegt, gespannt, aufgeregt, politisch hochmotiviert und
sensibilisiert. Es ist schon mehrfach auf die Wahlbeteiligung von über 90 Prozent hingewiesen worden. Das ist
heute kaum vorstellbar, und wir sollten uns einmal Gedanken machen, wie wir es schaffen, sie zu erhöhen.
({1})
Viele wollten damals schnell die D-Mark, schnell die
deutsche Einheit, schnell eine funktionierende und demokratische Ordnung. Die Allianz für Deutschland,
nicht etwa die SPD, siegte aus verschiedenen Gründen.
Viele dachten, es werde nichts, wenn in Bonn die Union
und in Ostberlin die SPD regierte; gleiche oder ähnliche
Regierungskoalitionen versprachen größere Erfolge. Außerdem wurden ja die Wahlkämpfer auch von Helmut
Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher geführt,
während wir natürlich keinen Westimport zur Unterstützung bekamen. Aber macht ja nichts.
({2})
- Ich hatte darauf gehofft. - Helmut Kohl hat -
Es ist auch nicht erinnerlich, dass er angefordert gewesen wäre, Herr Gysi.
({0})
Es hat sich keiner gemeldet, Herr Bundestagspräsident. Wie dem auch sei. - Helmut Kohl hat bewusst oder
unbewusst eine DDR-Mentalität bedient. Er sagte nicht:
Ihr müsst euch jetzt selbst helfen, sondern er sagte: Ich
mache das für euch. Auch das hat zum Erfolg der Allianz
beigetragen.
Der Wahlkampf war übrigens sehr spannend; die
meisten Plakate waren beschmiert und zerstört. Ich
selbst erlebte nur tiefe Zuneigung oder tiefe Ablehnung
und stellte fest, beides ist sehr anstrengend. Die Prognosen für die PDS lagen bei 4 bis 8 Prozent. Wir erhielten
dann 16,4 Prozent und durften mit dem Ergebnis durchaus zufrieden sein. Bündnis 90 schnitt eher schlecht ab,
die Parteien aus der Bürgerbewegung waren bitter enttäuscht. Ich besuchte sie noch am gleichen Abend; sie
waren traurig und auch wütend. Sie fühlten sich als Befreier, die ihre Schuldigkeit getan hätten und nun nicht
mehr gebraucht würden. Ich sagte ihnen, die Leute wollten Befreiung, empfänden sie aber irgendwie als ihre
Richterinnen und Richter. Die wählt man nicht so gern.
Die Zeit in der Volkskammer war auch spannend. Die
Abgeordneten wurden immer als Laienspieler bezeichnet. Das stimmt insofern, als es keine Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker waren. Aber die Situation war
herausfordernd. Alle Abgeordneten kamen aus DDRStrukturen und mussten über die Art und Weise des
Endes beraten und entscheiden. Es gab lebendige Debatten, abgelehnte Anträge, Änderungen von Anträgen. Es
war richtig etwas los, während hier doch gelegentlich
auch Langeweile herrscht, wenn ich das einmal sagen
darf.
Lothar de Maizière gab eine viel beachtete und erstaunlich gute Regierungserklärung ab.
Aber Schritt für Schritt bekamen fast alle Fraktionen
Vormünder: die CDU für die Ost-CDU und die anderen
Parteien der Allianz, die SPD für die SPD, die FDP für
die Liberalen, die Grünen für das Bündnis 90. Nur wir
fanden keinen Vormund in der Bundesrepublik. Aber Sie
brauchen nicht zu weinen: Deshalb wurden wir zunächst
etwas komisch, aber auch eigenständig und irgendwie
liebenswert.
({0})
Aber es ging um zwei Grundfragen: Beitritt gemäß
Artikel 23 des Grundgesetzes oder Vereinigung gemäß
Artikel 146 des Grundgesetzes, der für den Fall der Herstellung der deutschen Einheit eine neue Verfassung
durch Volksentscheid verlangte, die das Grundgesetz abgelöst hätte? Letzteres wollte die Bundesregierung nicht,
und auch die SPD stimmte der Änderung des Artikels 146
zu, sodass dort jetzt kein Zeitpunkt und kein Anlass für
eine neue Verfassung mehr geregelt sind. Es setzte sich
der Weg über den Artikel 23 durch.
Dies hatte gravierende politische und juristische Folgen. Ich habe es immer so beschrieben, dass ein armer
Neffe zu seiner reichen Tante zieht. Da gibt es zwei
Möglichkeiten: Entweder beziehen sie gemeinsam eine
neue Wohnung, dann hat auch der arme Neffe den einen
oder anderen Vorschlag zu unterbreiten, oder aber er
zieht in ihre Wohnung ein, dann hat er nichts zu verändern, sondern sich nur ein- und unterzuordnen.
({1})
Man entschied sich halt für den Weg, dass wir einziehen
müssen.
Ein weiterer spannender Streit fand in der Wirtschaftspolitik statt: Die Treuhand entscheidet, wer wann
wie gefördert wird, oder - das war der andere Vorschlag man ersetzt allen Unternehmen in der damaligen DDR
per 1. Juli ein Jahr lang 100 Prozent der Lohnkosten,
dann 90 Prozent, dann 80 Prozent, dann 70 Prozent, bis
0 Prozent runter, also eine degressive Lohnsubvention.
Dann hätten alle Unternehmen die Chance bekommen,
ihre Produkte umzustellen, Reklame zu machen, bekannt
zu werden etc. Aber man entschied sich für die Treuhandanstalt.
Drei Geschichten aus der Volkskammer muss ich Ihnen erzählen: Erstens. Sie werden es nicht glauben, aber
es war so: Die FDP kam gerne mit ihren Anträgen zu
mir. Ich hatte immer eine gegensätzliche Ansicht, aber
sie verlangten von mir, dass ich ihnen das juristisch aufarbeitete. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, warum, aber
ich habe es getan.
({2})
Auch das ist heute undenkbar.
Zweitens. Nach dem Beschluss der Volkskammer
zum Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik Deutschland gab ich eine kurze Erklärung ab. Der
erste Satz begann wie folgt: „Sie haben soeben nicht
mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik …“ Weiter kam ich
nicht.
({3})
Meine Rede wurde durch nicht enden wollende Ovationen der Abgeordneten der CDU unterbrochen.
({4})
Jetzt kommt das Nächste. Vor etwa einem Jahr ist hier
bei einer Veranstaltung ein Video eingespielt worden. Da
wurde dieser Satz gezeigt. Wieder bekam ich Beifall von
der Union - eben auch. Das ist aber der einzige Fall, bei
dem ich Beifall von der Union bekomme - immerhin.
({5})
Drittens. Als es dann um den Beitritt ging, beschloss
die Volkskammer folgenden Text - ich zitiere ihn wörtlich -: Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen
Republik beschließt gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes
der Bundesrepublik Deutschland. - Daraufhin sagte ich
zum damaligen Vizepräsidenten der Volkskammer, dem
späteren Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, dem inzwischen leider verstorbenen Reinhard
Höppner von der SPD, und zwar unmittelbar danach,
dass die Volkskammer nur ihren eigenen Beitritt beschlossen hätte, was für die DDR gerade noch hinnehmbar sei. Der Text hätte natürlich lauten müssen, dass die
Volkskammer den Beitritt der DDR beschließt. Daraufhin beging Reinhard Höppner in gewisser Hinsicht eine
kleine, von ihm später eingestandene Urkundenfälschung, indem er nach dem Wort „Beitritt“ handschriftlich „der Deutschen Demokratischen Republik“ einfügte,
({6})
sodass die Volkskammerpräsidentin, Frau BergmannPohl, einen Text als beschlossen verlas, der so aber gar
nicht beschlossen war. Ich hätte es am nächsten Tag als
Bonmot nutzen können. Es wäre eine neue Tagung der
Volkskammer einberufen worden. Ganz erstaunlich bei
meinen Wesen: Ich habe darauf verzichtet.
({7})
Mit anderen Worten: Der Beitritt und damit die Einheit
sind formalrechtlich nicht wirklich von der Volkskammer beschlossen worden, aber immerhin, meinen Beitrag
zur deutschen Einheit haben Sie bisher völlig unzureichend gewürdigt, wenn ich das einmal sagen darf.
({8})
Was mich wirklich stört, ist etwas anderes: Die Bundesregierung hatte kein Interesse am Osten und hat
nichts übernommen. Ich sage einmal, worüber man hätte
nachdenken können: über das flächendeckende Netz an
Kindertagesstätten,
({9})
über die Nachmittagsbetreuung an Schulen, über die
Polikliniken, über die Berufsausbildung mit Abitur, über
eine hervorragende belletristische Literatur und über
hervorragende Sachbücher, über bezahlbare und herausragende Oper- und Theaterinszenierungen, über monatliche
Poesiealben mit hervorragenden Gedichten für 90 Pfennige, über eine Romanzeitung mit allen klassischen Romanen, auch monatlich erscheinend, für 80 Pfennige, damit jede und jeder Zugang zu Kultur und Literatur hat.
({10})
Andererseits - warten Sie es ab -: Die Zensur, die politische Ausgrenzung, die Freiheitsbeschränkungen, die
Nichtexistenz demokratischer Strukturen, das fehlende
Reiserecht, all das musste überwunden werden. Das
heißt, das meiste musste überwunden werden, aber einiges hätte übernommen werden können.
Ich nenne Ihnen zwei Folgen, die das gehabt hätte:
Die erste Folge wäre gewesen, dass die Ostdeutschen
mehr Selbstbewusstsein gehabt hätten, weil sie gesagt
hätten: Es gab viel Mist, aber einige Dinge waren so gut,
dass sie von der Bundesrepublik übernommen worden
sind. Die zweite Folge wäre gewesen, dass die Menschen in den alten Bundesländern mit dem Tag der
Deutschen Einheit verbunden hätten, dass durch das
Hinzukommen des Ostens sich in einigen Punkten ihre
Lebensqualität erhöht hat. Dieses Erlebnis haben Sie
keiner Westdeutschen und keinem Westdeutschen gegönnt.
({11})
Ich komme als Letztes auf den Bundestag zu sprechen. Ich habe nicht genug Zeit, viel darüber zu sagen.
Nur so viel: Die Atmosphäre hier, also noch in Bonn,
war zunächst schlimm, so schlimm, dass ein kritischer,
bescheidener, charakterlich höchst angenehmer Abgeordneter wie Professor Gerhard Riege sich das Leben
nahm. Viele Ostdeutsche genießen inzwischen die Freiheit und die Demokratie. Sie wollen aber mehr Frieden,
mehr soziale Gerechtigkeit, Erwerbsarbeit und ökologische Nachhaltigkeit. Sie haben sich bewährt, haben sich
Respekt erarbeitet, sind inzwischen in der Gesellschaft
anerkannt. Sie wissen, woher der Bundespräsident
kommt. Sie wissen, woher die Bundeskanzlerin kommt.
({12})
Sie ahnen vielleicht auch, woher der Oppositionsführer
kommt. Mehr will ich dazu nicht sagen.
({13})
Interessant ist, dass es noch fünf Mitglieder des Bundestages gibt, die Mitglieder der ersten demokratisch gewählten und letzten Volkskammer der DDR waren. Da
ist kein Abgeordneter der SPD dabei,
({14})
da ist kein Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen
dabei, sondern nur von der CDU und den Linken.
({15})
Es handelt sich um Katharina Landgraf und Maria
Michalk und bei uns um Kerstin Kassner, Roland Claus
und um mich. Ich weiß nicht, aber irgendetwas Besonderes müssen die fünf doch an sich haben, oder?
Danke schön.
({16})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin GöringEckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ehrlich gesagt, ich habe immer bedauert, dass ich nicht
bei dieser ersten frei gewählten Volkskammer dabei gewesen bin. Wenn es aber die war, Herr Gysi, von der Sie
gerade gesprochen haben, bedaure ich das nicht mehr.
Aber wir alle wissen: So war es nicht. Es war keine
Spaßveranstaltung, es war eine verdammt ernste, verdammt anstrengende Angelegenheit.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, liebe Freunde und
Freundinnen auf der Tribüne, Sie sind die Helden eines
Parlaments gewesen, das sich selbst abgeschafft hat. Ihnen gebührt bis heute der Dank dafür.
({0})
Man muss sich schon noch einmal die Zeit in Erinnerung rufen: Am 7. März 1989 haben einige Bürgerinnen
und Bürger der DDR ihre Angst vor Repressalien eines
unfreien Systems überwunden und dokumentierten öffentlich die Fälschung der damaligen Kommunalwahl.
An diesem Tag hätte wohl niemand in der DDR auch nur
eine Flasche Club-Cola - das ist übrigens die kleine böse
Schwester der Vita Cola, die wir später alle toll fanden,
weil sie fast wie Pepsi schmeckte - darauf verwettet,
dass nur 315 Tage später die begonnene friedliche Revolution ein erfolgreiches Ende finden würde. 40 Jahre Unfreiheit wurden am 18. März 1990 mit den ersten freien
Wahlen beendet, Unfreiheit, die man im Lebensalltag
immerzu zu spüren bekam, Unfreiheit, die man bei der
Lebensplanung, bei der Berufswahl, bei der Reisefreiheit
zu spüren bekam. Über all das haben wir hier am 9. November intensiv und ausführlich diskutiert.
Es war ganz bestimmt die eigentliche Leistung der
Bürgerinnen und Bürger der DDR, dass wir irgendwann
gemeinsam die Angst vor Repressalien, vor großen und
vor kleinen, die Angst davor, eingesperrt zu werden,
überwunden haben. Das war der Beginn der inneren
Freiheit. Erst waren es tatsächlich nur wenige, aber es
wurden immer mehr. Mit der Dokumentation der Wahlfälschung wurde eben auch für das DDR-Regime unübersehbar: So geht es nicht weiter. Man traf sich zu
Friedensgebeten, man traf sich zu Gesprächskreisen,
manche reisten im Sommer 1989 über Ungarn, über
Tschechien aus, erst zu Hunderten, dann zu Hunderttausenden. Die DDR-Bürger ließen die Mauer einstürzen
und erzwangen freie Wahlen.
({1})
Um diese freien Wahlen geht es. Es geht darum, frei
wählen zu können und zu dürfen. Es geht dabei nicht um
die Selbstgerechtigkeit, Herr Gysi, mit der Sie hier geredet haben.
({2})
Ich glaube ganz sicher, dass die große Veränderung darin
bestand. Natürlich kann man gute Errungenschaften in
der DDR benennen. Aber auch der Kindergarten, aber
auch die Schule, all das, was Sie aufgezählt haben, war
davon gekennzeichnet, dass es in einer Diktatur stattgefunden hat. Dass Sie das immer weglassen, Herr Gysi,
finde ich, ist eines Demokraten nicht würdig, schon gar
nicht in diesem Haus.
({3})
Mit friedlichen Mitteln haben sich die Bürgerinnen
und Bürger ihre Freiheit erkämpft, übrigens anders als
fast 150 Jahre zuvor. Am 18. März 1848 gingen die
Menschen in Berlin auf die Barrikaden, wurde in Preußen, in Österreich, in Baden, in Bayern, in Sachsen und
in Schleswig gewaltsam für bürgerliche Freiheiten, für
Demokratie, für die nationale Einheit Deutschlands gekämpft. Wir wissen: Diese Revolution wurde niedergeschlagen. Aber ihre Ideale prägten die deutsche Geschichte, und zwar nachhaltig. Was 1848 scheiterte,
gelang eben 1990: Freie Bürgerinnen und Bürger wählten ein freies Parlament. Vielleicht war das die wichtigste Erkenntnis dieser Wochen: dass Freiheit errungen
werden muss, aber auch, dass sie erfolgreich errungen
werden kann, und zwar jeden Tag wieder.
Wie verteidigen wir aber diese Freiheit jeden Tag aufs
Neue? Für viele Bürgerinnen und Bürger ist die freie
Wahl augenscheinlich so banal geworden, dass bei manchen mehr als die Hälfte zu Hause bleibt. Der Präsident
hat darauf hingewiesen: Am 18. März 1990 waren es
93,4 Prozent, die hingingen, bei der letzten Bundestagswahl - immerhin - 71,5 Prozent, bei der letzten Europawahl nur 47,9 Prozent. Gewiss, zur Freiheit gehört auch,
nicht zur Wahl gegen zu müssen. Wir wollen nie wieder
einen Wahlzwang wie in der DDR. Aber eine lebendige
Demokratie bedarf eben einer ständigen und aktiven Erneuerung.
({4})
Dafür muss klar sein, was der Unterschied ist. Der
Unterschied darf nicht die Entscheidung zwischen Wählen und Nichtwählen sein. Es gibt immer eine Alternative. Vielleicht braucht es manchmal sogar Mut, sie auszusprechen. Aber das Einlullen führt doch irgendwann
zu Desinteresse. Es führt irgendwann zu dem Eindruck,
dass die da oben angeblich nicht mehr wissen, was die
da unten denken. Irgendwann führt es auch zu rechten
Parolen.
({5})
Ja, der Runde Tisch und die frei gewählte Volkskammer waren nicht nur fleißig, sondern sie standen auch für
Konsens. Das war richtig; denn damals ging es um die
Systemfrage. Heute geht es darum, wie wir die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen können. Dazu gehört Debatte, und dazu gehört auch Streit. Der Bundestag muss die politische Mitte dieser Auseinandersetzung
sein, meine Damen und Herren, und eben nicht die Talkshow.
({6})
Ehrlich, ich finde es immer noch bitter, dass Sie die Vorschläge des Präsidenten dazu einfach mit einem Handstreich vom Tisch gewischt haben.
({7})
Sie schützen Regierungsmitglieder vor Fragen, die sie
ohnehin gestellt bekommen, und opfern dafür ein weiteres Stück lebendiger Demokratie und mehr freie Entscheidungen. Sorry, dass die Wahllokale ein bisschen
länger aufgemacht werden, ist jedenfalls nicht die Lösung für dieses Problem.
({8})
Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen ist
Markus Nierth, der ehrenamtliche Bürgermeister von
Tröglitz in Sachsen-Anhalt, zurückgetreten, weil er vom
brauen Mob bedroht wurde. Freiheit - das sehen wir
auch daran - muss bis heute verteidigt werden, nicht nur
gegenüber Diktatoren, die sich rühmen, dass sie ihren
Gästen die Hand brechen könnten, sondern auch gegenüber allen, die unsere Werte und unsere Freiheit infrage
stellen: Nazis, Islamisten oder Menschen, die für sich in
Anspruch nehmen, „das Volk“ zu sein, aber mit ihren
Forderungen Flüchtlinge und Minderheiten ausgrenzen.
Manchmal vergessen wir das. Aber das heutige Jubiläum
erinnert uns wohl daran.
Heute vor 25 Jahren haben Menschen zum ersten Mal
eine freie Wahlentscheidung getroffen. Auch wenn sie
für mich und meine Freunde mitnichten wie gewünscht
ausgegangen ist: Diese Erfahrung gehört zur Demokratie. Ich jedenfalls weiß, dass man für Demokratie und
Freiheit kämpfen muss. Ich kenne das Gefühl, wie es ist,
wenn man am Ende gewinnt - und das ist unbeschreiblich.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin wohl die Einzige unter den Rednern, die nicht in der
DDR aufgewachsen ist und damals, in der Zeit der
Wende, schon in politischer Verantwortung im Deutschen Bundestag war. Gerade deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, all jenen, die damals in der Volkskammer Verantwortung getragen und in den paar
Monaten intensivster Arbeit und politischer Entscheidungen ihre Arbeit gemacht haben und damit die Weichen für die - richtige - Einheit in Freiheit in unserem
Vaterland gestellt haben, dafür meinen Respekt und
meine Dankbarkeit auszusprechen.
({0})
Genau heute vor 25 Jahren konnten die Menschen in
der ehemaligen DDR ihre Abgeordneten zum ersten Mal
frei wählen. Zum ersten Mal war das Kreuz auf dem
Wahlzettel auch etwas wert, und damit die 40-jährige
SED-Herrschaft Geschichte. Das war in Deutschland
wirklich eine historische Zeitenwende.
Warum aber ist dieser 18. März 1990 im Bewusstsein
der Menschen nicht so stark verankert wie zum Beispiel
der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls? Dafür
gibt es Gründe.
Die Mauer teilte eine Stadt, sie teilte ein Land, und sie
war das Symbol für den Kalten Krieg. Sie war ein
Schandmal der Geschichte und stand für Leid, für Trennung und auch für Tod. Als sie endlich fiel, war das eine
Befreiung nicht nur für die Menschen und für unser
Land, sondern auch für ganz Europa und die Welt.
({1})
Die Volkskammer der ehemaligen DDR war dagegen
jahrzehntelang nie mehr als ein entmachtetes Scheinparlament. Deshalb können wir die große Bedeutung dieses
18. März 1990 nicht isoliert nur für den 18. März sehen,
sondern wir müssen sie immer im Zusammenhang mit
der friedlichen Revolution im Ganzen sehen.
40 Jahre gab es in der DDR keine freien Wahlen, kein
freies Mandat, keine unabhängigen Kandidaten. Jede
dieser sogenannten Wahlen reihte sich in eine lange
Liste von dreisten Wahlfälschungen ein; darauf wurde
vorhin hingewiesen. So war dies auch bei den Kommunalwahlen im Mai 1989. Nur wenige haben damals die
Wahlfälschungen öffentlich gemacht. Aus den wenigen
wurden aber immer mehr. Es wurden Hunderte, es wurde
Tausende, es wurden Hunderttausende. So war es letztlich das mutige Engagement einzelner Weniger, die so
freie Wahlen für alle ermöglicht haben.
Die ersten echten Wahlen in der DDR waren deshalb
keine Laune der Geschichte, sondern eine Errungenschaft, die sich die Menschen in der DDR buchstäblich
selbst errungen haben - auf den Straßen in Dresden, in
Leipzig und in vielen anderen Städten. Das war die erste
Leistung, die dazu führte, worauf wir heute so stolz und
wofür wir heute so dankbar sind.
Heute erscheint uns der Lauf der Dinge in diesen
Wendejahren so selbstverständlich, manchen auch als alternativlos, so, als hätte es gar keine Diskussionen über
den Weg zur Einheit gegeben. Zur historischen Wahrheit
gehört aber, es gab auch andere Vorschläge. Die einen
wollten warten und eine Vereinigung erst nach einer
Übergangszeit, die anderen wollten einen Staatenbund,
und über die rechtlichen Fragen ist gestritten worden.
Es waren - auch das gehört zur historischen Wahrheit - die Allianz für Deutschland, der Zusammenschluss der CDU-Ost, der DSU und des Demokratischen
Aufbruchs, im Osten und die Union im Westen, die sich
am klarsten für eine rasche Wiedervereinigung ausgesprochen haben. Das dürfen wir nicht vergessen.
({2})
Der Wahlausgang war nicht vorherzusehen. Das Ergebnis war: Fast die Hälfte der Wählerinnen und Wähler
hatte sich für die Allianz für Deutschland entschieden.
Es war klar: Die Menschen in der DDR wollten nicht die
DDR reformieren, sie wollten sie überwinden. Sie wollten Freiheit statt Sozialismus. Sie wollten soziale Marktwirtschaft statt sozialistischer Mangelwirtschaft. Sie
wollten Menschen- und Bürgerrechte statt Ideologie und
Klassenkampf. Sie wollten die Einheit, und zwar nicht
irgendwann, sondern so schnell wie möglich. So waren
die Wahlen am 18. März 1990 nicht nur ein beispielloser
Akt der Selbstbefreiung, sondern sie waren auch ein Plebiszit für die Wiedervereinigung, und zwar für die
schnelle Wiedervereinigung in Freiheit.
({3})
Der erste frei gewählte Ministerpräsident Lothar de
Maizière hat in seiner Regierungserklärung im April
1990 die Losung für diesen Weg ausgegeben - ich
zitiere -:
Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur
wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten.
Die gerade gewählten Abgeordneten mussten dafür
politisches Neuland betreten. Es wurde vorhin eindrucksvoll geschildert: Es gab in der Tat keine Erfahrungen. Es gab keine Rezepte. Es gab keine demokratischen
Strukturen. Der überwiegende Teil der Abgeordneten
war zum ersten Mal überhaupt in einem Parlament. Viele
mussten auch privat große Opfer bringen. Gerade deshalb ist die dort erbrachte Leistung umso bemerkenswerter.
Diese Volkskammer hat in wenigen Monaten mehr als
150 Gesetze verabschiedet und drei große Staatsverträge
geschlossen. Die alten und stolzen Länder wurden wieder eingeführt und die Einheit auf den Weg gebracht. In
diesem halben Jahr sind letztlich die rechtlichen Voraussetzungen für die Einheit in Freiheit geschaffen worden;
eine unglaubliche Leistung, ja ein Vermächtnis für die
Demokratie in unserem Land schlechthin.
({4})
Diese erste frei gewählte Volkskammer wurde so eher
zur politischen Herzkammer, wenn man so will, der sich
friedlich vollziehenden Revolution. Ich möchte all jenen
Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich danken, die damals Verantwortung getragen haben, mit der Präsidentin
der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl und dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière an der Spitze.
Ohne Ihre Leidenschaft für das Land, ohne die Leidenschaft für die Demokratie wäre die Wiedervereinigung
so nicht möglich gewesen.
({5})
Sie wäre auch nicht möglich gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne die enge Zusammenarbeit und
die Weichenstellung durch die Bundesregierung und den
damaligen Bundestag und Bundesrat. Es war ein Zusammenwirken, das alle miteinander gefordert hat, das aber
alle miteinander in großer Verantwortung unter immensem Arbeits- und Zeitdruck bewerkstelligt haben. Deshalb gilt es auch an diesem Tag daran zu erinnern.
Bundeskanzler Helmut Kohl ergriff die Initiative, die
große Wunde unseres Vaterlandes zu heilen. Er wird zu
Recht als „Kanzler der Einheit“ bezeichnet. Theo Waigel
gestaltete den Vertrag über die Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion und Wolfgang Schäuble den Einigungsvertrag. Damit waren die Weichen dafür gelegt, dass die
deutsche Einheit zu einer Einheit auf Augenhöhe wurde.
Ein Blick auf unser Vaterland insgesamt, im Osten und
im Westen, ein Blick auf die Zusammenarbeit in diesem
Parlament zeigt, diese 25 Jahre waren nicht umsonst,
sondern sie waren erfolgreich: für die Menschen in unserem Land.
({6})
Mich ganz persönlich erfüllt an diesem 18. März,
25 Jahre nach der ersten freien Wahl im Osten unseres
Landes, ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und des Respekts, vor allem auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die ich als damalige Bundesministerin in den
Wahlkämpfen und danach bei der Gestaltung der deutschen Einheit in den neuen Ländern gemacht habe, ein
tiefes Gefühl der Dankbarkeit und des Respekts gegenüber den Menschen, die mit ihrem Mut und mit ihrer
Hartnäckigkeit für die Freiheit gekämpft haben, aber
auch gegenüber all jenen, die in den Monaten des Übergangs mit Fleiß, mit Engagement, mit Weitsicht die Weichen für die Einheit gestellt haben. Das war letztlich die
Grundlage dafür, dass wir heute gemeinsam nicht nur
diesen Tag begehen können, sondern dass wir uns gemeinsam über das, was in den 25 Jahren geleistet wurde,
auch freuen können.
Dieser 18. März 1990, liebe Kolleginnen und Kollegen, war ein guter, ein sehr guter Tag für Deutschland.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Lengsfeld für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal über
die politische Einordnung der ersten und einzigen freien
Volkskammerwahl der DDR reden; denn um die Ereignisse rund um den friedlichen Umsturz in der DDR ranken sich auch eine Anzahl von Mythen, an denen schon
damals gestrickt wurde, die aber auch 25 Jahre danach
von dem einen oder anderen wiederholt werden.
Zuerst: Mit der freien Volkskammerwahl - und das
klang bei Katrin Göring-Eckardt schon an - wurde die
friedliche Revolution in der DDR vollendet. Es gab von
Anfang an, also seit Sommer, dann Herbst 1989, zwei
zentrale Forderungen gegen das SED-System: die Forderung nach Reise- und Ausreisefreiheit und die Forderung
nach freien Wahlen. Dies waren die zentralen Forderungen der Demonstranten und nichts anderes. Die erste
Forderung erfüllte sich am 9. November 1989, und die
zweite Forderung erfüllte sich mit dem 18. März 1990.
Wie bedeutsam diese Wahl für die Menschen in der
DDR war - das wurde auch schon angedeutet -, zeigen
die Kennzahlen, die ich gerne wiederhole: 93,4 Prozent
Wahlbeteiligung, davon 99,5 Prozent gültige Stimmen,
maximal 0,1 Prozent Stimmen für unernste Wahlvorschläge - die gab es auch - wie zum Beispiel die Deutsche Biertrinker Union oder Ähnliches.
Ich sage Ihnen: Ich hätte auch sehr gerne mit abgestimmt. Ich war aktiv dabei in dieser Zeit. Aber ich bin
leider erst drei Tage später volljährig geworden. Ich
durfte am 18. März 1990 noch nicht wählen.
Dann kam der Abend, und das ist auch ein Mythos:
Das Ergebnis der Volkskammerwahl war eigentlich
überhaupt keine Überraschung - jedenfalls nicht für
Leute, die eine ehrliche Analyse der Lage vorgenommen
hatten. Jeder, der einen nüchternen Blick auf die Situation geworfen hatte, musste einen klaren Wahlsieg der
Allianz für Deutschland vorhersagen; denn es ging nicht
mehr um das Ob der Vereinigung, sondern nur noch um
das Wann und Wie. Selbst die PDS hatte sich schon opportunistisch auf den Weg in eine deutsche Föderation
gemacht. Vor diesem Hintergrund war die klare Linie der
Allianz für Deutschland das mit Abstand beste Angebot
an die Wählerinnen und Wähler in der DDR.
({0})
Trotzdem war es so, dass die medial-politische Öffentlichkeit in Westdeutschland ein völlig anderes Wahlergebnis vorhergesagt hatte.
({1})
Aber waren es nicht auch die gleichen Leute, die den Zusammenbruch des SED-Systems und den Fall der Mauer
auch nicht vorhergesagt hatten?
({2})
Der 18. März 1990 war in Westdeutschland auch das
Ende vieler Illusionen vom DDR-System,
({3})
und das muss leider auch gesagt werden: Der Abend des
18. März 1990 markiert auch den Anfang eines offenen
Ossi-Bashings durch Teile der westdeutschen Eliten, basierend auf der Enttäuschung, dass die Ostler anders gewählt hatten und sich anders verhielten als gewünscht.
Erinnert sei nur an die vielleicht spontane und später von
ihm auch bereute Aktion des frisch zur SPD gewechselten Otto Schily, der am Abend des 18. März das
schlechte Abschneiden der SPD mit dem Zücken einer
Banane kommentierte. Das war die Realität.
Dabei war es eigentlich ganz einfach: Die SPD hat am
18. März so schlecht abgeschnitten, weil sie das schlechtere Konzept für den Weg zur deutschen Einheit hatte
- das war der Grund ({4})
und weil die DDR-Bürger spürten, dass das Verhältnis
zur PDS ein Problem wird.
1990 gab es glasklare Absagen an eine Zusammenarbeit mit der frisch geretteten SED. Aber es gab Zweifel,
und die waren mehr als berechtigt. Denn nur vier Jahre
später haben sich diese Zweifel leider aufs Bitterste bewahrheitet. Das sogenannte Magdeburger Modell, die
Inthronisierung von Rot-Grün in Sachsen-Anhalt durch
Duldung der PDS, war meines Erachtens der Kardinalfehler der SPD in Ostdeutschland. Denn dies hat der
PDS eine Legitimität verliehen, die sie als direkte SEDNachfolgepartei nicht hätte bekommen dürfen.
({5})
Nur als historische Anmerkung: Auch das zu gute
Abschneiden der PDS 1990 war nüchtern betrachtet
keine Überraschung. Die PDS hat 1990 mit 1,9 Millionen Stimmen weniger Stimmen bekommen, als die SED
ein Jahr zuvor Mitglieder hatte, und dies trotz geschickter Strategie und Werbung, trotz eines Medienstars als
Spitzenkandidat und trotz einer Manpower, die viel größer und viel besser ausgebildet war als bei jeder anderen
Partei. Sie brauchten überhaupt keine Unterstützung aus
dem Westen, Herr Gysi, und das wissen Sie ganz genau.
({6})
Zum guten Schluss noch eine Bemerkung zum Abschneiden der Bürgerrechtler. Auch hier hilft ein nüchterner Blick. Aus verschiedenen Gründen hatten diese
mutigen Menschen nicht den wirklichen Willen zur
Macht und wollten im Land in der Umbruchzeit nicht die
volle Verantwortung übernehmen. Dies hätten sie im Dezember 1989 gekonnt. Aber die SED wurde nicht aufgelöst, sondern man gab den alten Eliten mit der ModrowRegierung die Möglichkeit, sich einige Pfründe zu sichern. Insofern ist das Abschneiden von Bündnis 90 und
der Grünen Partei der DDR nicht verwunderlich, sondern folgerichtig, und war mit zusammen knapp 5 Prozent auch gar nicht so schlecht. Das sage ich nicht nur,
weil meine Mutter, die damalige Spitzenkandidatin der
Grünen, auf der Tribüne sitzt.
Trotzdem - auch das gehört zur Wahrheit dazu - haben die Bürgerrechtler mit der Sicherung der MfS-Akten
und der schonungslosen Aufarbeitung der DDR-Diktatur, für die die gesetzlichen Grundlagen in der Volkskammer gelegt wurden, einen unschätzbaren Beitrag zur
deutschen Einheit geleistet.
({7})
Dafür gebühren ihnen unser Dank und unser Respekt.
Dieses Erbe halten diese Koalition und eine übergroße
Mehrheit in diesem Haus bis in die Reihen der Linksfraktion hinein in Ehren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Die Kollegin Iris Gleicke erhält nun das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
- Ich beziehe in diese Anrede die Abgeordnetenkollegen
der letzten und der einzigen frei gewählten Volkskammer ein. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Volkskammerwahl vom 18. März 1990 war ein Ereignis
von historischer Tragweite, nicht nur, weil sie die erste
und zugleich einzige freie, gleiche und geheime Volkskammerwahl war, die in der DDR je stattgefunden hat.
Alle vorherigen Volkskammerwahlen waren eine lächerliche Farce. Dazu ist im Mai des vergangenen Jahres alles und sehr viel Richtiges gesagt worden.
1990 gab es eine Wahlbeteiligung, von der wir heute
nur noch träumen können. Damals sind über 93 Prozent
der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen. Über
93 Prozent: Eine so hohe Wahlbeteiligung hat es bei
Bundestagswahlen in der alten Bundesrepublik nie gegeben.
1972, nach dem berühmten Willy-Brandt-Wahlkampf,
erreichte man 91,1 Prozent. Nur zum Vergleich: Bei der
letzten Bundestagswahl haben wir gerade einmal
71,5 Prozent erreicht. Mich macht das sehr nachdenklich, auch im Hinblick darauf, welche großen Hoffnungen wir Ostdeutschen damals mit der ersten und einzigen
freien Volkskammerwahl verbunden haben.
Die Demokratie war uns unglaublich wichtig.
Schließlich hatten wir sie mit einer friedlichen Revolution erstritten und die Mauer niedergerissen, die damals
die Deutschen von Deutschen trennte. Wie man eine
Diktatur abschüttelt, wie man Mauern überwindet, das
hatten wir gelernt; das wussten wir im März 1990. Von
der ganz praktischen Arbeit in einem Parlament, von
parlamentarischen Verfahren und von der knochenharten
Auseinandersetzung mit den Details einer Gesetzgebung
wussten die meisten von denen, die 1990 in die Volkskammer gewählt wurden, nicht allzu viel. Umso größer
muss heute unser Respekt vor diesen Frauen und Männern sein, die zum Teil Tag und Nacht geschuftet haben,
um sich einzuarbeiten, um ihre Ideen zu verwirklichen,
um den großen Ansprüchen gerecht zu werden, die mit
ihrer Wahl verbunden waren.
({0})
Auch darin sind sie uns ein Vorbild.
Es wurde damals sehr schnell klar, dass das wichtigste Ziel des Parlaments eigentlich darin bestand, sich
selbst abzuschaffen, so paradox das auch klingen mag.
Denn nur fünf Monate später war es so weit. Da erklärte
die Volkskammer den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zum 3. Oktober 1990. Die innerste und tiefste Bedeutung dieser historischen Entscheidung vom 23. August 1990 liegt für mich darin,
dass das eine Entscheidung in Freiheit war. Für mich ist
deshalb der 23. August 1990 der eigentliche Tag der
deutschen Einheit. Die Ostdeutschen sind nicht erst
durch die staatliche Wiedervereinigung zu freien Bürgern geworden. Man hat uns diese Freiheit nicht geschenkt oder gnädig zugestanden. Wir haben sie uns
selbst erkämpft.
({1})
Das - vielleicht vor allem das - ist es, worauf wir Ostdeutsche stolz sein dürfen und worauf wir eigentlich
über alle Parteigrenzen hinweg stolz sein müssen.
Wir haben in Ostdeutschland in den letzten 25 Jahren
unglaublich viel erreicht, trotz einiger Fehler im Einigungsvertrag, trotz Treuhand, trotz Deindustrialisierung,
trotz Massenarbeitslosigkeit, trotz Abwanderung. Es ist
noch längst nicht alles gut, aber vieles ist in den zurückliegenden 25 Jahren gut geworden. Bei der Wirtschaftskraft, bei den Löhnen, beim Steueraufkommen, überall
hinkt der Osten dem Westen hinterher. Aber es gibt eine
gute Perspektive, immer unter der Voraussetzung, dass
man den Osten nach den Einheitsfeiern nicht im Regen
stehen lässt.
Es geht aber nicht immer nur ums Geld, auch wenn
man manchmal fast den Eindruck gewinnen könnte. Wir
haben bei der Aufarbeitung der Vergangenheit viel erreicht. Aber auch hier ist noch nichts beendet und vorbei.
Wir müssen weiter über die Opfer der Diktatur reden.
Wir müssen vor allem mit diesen Opfern reden, mit den
Opfern von staatlicher Willkür, von Stasi und Zwangsarbeit. Das Geschrei der Feinde kann man vielleicht vergessen. Den Verrat der Freunde, der Nachbarn, der Kollegen, der Lehrer, ja selbst den der eigenen Eltern, einen
solchen Verrat vergisst man nie. Es ist nämlich auch da
wirklich noch längst nicht alles gut. Es sind noch längst
nicht alle Wunden verheilt. Bei manchen, bei viel zu vielen, weiß ich, dass sie niemals verheilen werden. Das
sind Wunden, die eitern und schwären und immer wieder
aufbrechen. Das liegt auch daran, dass viele nach 25 Jahren endlich zur Normalität und zur Tagesordnung übergehen möchten. Da sage ich laut und deutlich: Nein.
({2})
Ich höre sie doch, diese subtilen und versteckten Botschaften. Diese Botschaften lassen sich im Grunde doch
so zusammenfassen: Das alles tut uns wirklich leid, aber
wir können und wir wollen das Reden über das Leid
nicht mehr ertragen, jedenfalls nicht außerhalb der
würde- und weihevollen Feierstunden. - Das kann und
das darf nicht sein. Das darf diese Gesellschaft, das darf
dieses gesamtdeutsche Parlament nicht zulassen. Auch
das gehört zum Erbe der Volkskammer, dass wir nicht
aufhören dürfen, uns zu erinnern.
({3})
Ich habe vor kurzem die Studie „Deutschland 2014“
vorgestellt, die klare Belege dafür liefert, wie sehr Ost
und West seit der Wiedervereinigung ganz im Sinne
Willy Brandts schon zusammengewachsen sind. Aber
diese Studie stellt leider auch fest, dass das Vertrauen in
Politiker und Parteien in beiden Teilen Deutschlands
gleich schlecht ist. Das ist schon eine ziemliche Klatsche
für uns Volksvertreter. Die Ostdeutschen sind da durchweg noch skeptischer, kritischer und distanzierter als die
Westdeutschen. Die Politik hat im Osten nur 25 Jahre
nach der Volkskammerwahl ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Das sollte uns alle sehr nachdenklich machen.
({4})
Das würde ich mir jedenfalls wünschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, die frei gewählten Abgeordneten der Volkskammer haben eine Entscheidung in Freiheit getroffen, für
freie Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer ganz großen
Mehrheit schon in den Zeiten der Diktatur versucht haben, ein anständiges Leben zu führen. Das gilt es endlich
anzuerkennen.
Herzlichen Dank.
({5})
Zum Schluss dieser Debatte erhält die Kollegin
Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Auch für mich war der 18. März vor
25 Jahren ein besonderer Tag, der genauso bei wunderschönem Frühlingswetter stattfand. Es war auch meine
erste demokratische Wahl in der DDR. Aber wir dürfen
natürlich nicht vergessen: Wir haben uns das auch selber
hart erarbeitet.
({0})
Ich etwa war in Leipzig aktiv bei den Montagsdemonstrationen. Ein Jahr vorher hätte sich niemand
vorstellen können, welch rasante Entwicklung dieses
Land genommen hat. Deshalb habe ich diesen Tag in guter Erinnerung behalten. Ich war damals 22 Jahre jung
und habe meinen bescheidenen Beitrag im Wahllokal geleistet. Ich war mit im Wahlvorstand und wurde auch
gleich zur Vorsitzenden gewählt. Wir hatten ja alle keine
Ahnung, wie das alles so läuft; aber es hat trotzdem gut
geklappt.
Der Wahltag selber war natürlich voll guter Stimmung. Die Leute strömten ins Wahllokal, was heute leider nicht mehr ganz so ist. Wir fieberten der Auszählung
entgegen; denn diesmal wollten wir beweisen, dass wir
richtig auszählen können. Ehrlich gesagt, umso deprimierender war für Leute wie mich das Ergebnis.
({1})
Selbstverständlich konnte sich die CDU freuen: Die
Allianz für Deutschland hatte überwältigend gewonnen.
Aber alle, die damals dabei waren, haben noch die gigantische Materialschlacht im Hinterkopf, die im Wahlkampf geschlagen wurde.
({2})
Mit dem bisschen, mit dem die Westgrünen uns unterstützt haben, konnte nicht aufgewertet werden, was alles
an CDU-Prominenz und -Material den DDR-Bürgern
vorgesetzt wurde.
({3})
Die DDR-Bürger haben das natürlich gern angenommen.
Man soll nicht über Ergebnisse schimpfen, wenn man
schon frei wählen kann. So war das nun einmal. Aber für
mich war das die erste kleine Klatsche. Man strengt sich
an, sorgt dafür, dass sich ein Land ändert, und dann
spielt man wieder keine Rolle. Aber das ist in der Demokratie so: Opposition und Regierung gehören dazu. Das
Schöne war natürlich, dass wir eine so wunderbar hohe
Wahlbeteiligung hatten.
Umso unverständlicher ist es, dass die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland seitdem so stark abgenommen
hat. Angesichts dessen, dass wir 1989 für freie Wahlen
auf die Straße gegangen sind, ist es auch für mich persönlich schwer erträglich, wenn man gerade jetzt an Infoständen steht und die Leute sagen: Ach nein, Wahlen,
das ist jetzt doch nichts mehr für mich. - Alle, die hier
sitzen, und alle, die für politische Ämter kandidieren,
wir alle müssen uns an die eigene Nase fassen und überlegen: Wie können wir unsere Demokratie attraktiver
machen? Die Vorschläge, die bis jetzt im Raum stehen,
haben mich da noch nicht wirklich überzeugt.
({4})
Das ist eine gemeinsame Aufgabe, der wir uns alle
stellen müssen. Wir sehen es im internationalen Maßstab: Demokratie ist nicht automatisch ein Dauerzustand; sie muss jeden Tag hart errungen werden. Ich
glaube, wir alle sollten uns darüber einig sein, dass wir
uns Gedanken darüber machen müssen, die Vorzüge zu
benennen, sodass die Wählerinnen und Wähler nicht nur
häufiger, sondern auch überzeugter zur Wahl gehen und
für die Demokratie eintreten. Ich glaube, auch das ist
eine Lehre aus dieser ersten freien Wahl in der DDR.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende dieser Debatte angekommen.
Ich darf mich bei allen bedanken, auch für die Erinnerungen, die uns allen immer guttun. Ich bedanke mich,
dass Sie alle da waren, und denke, dass wir uns in der einen oder anderen Formation heute noch wiedersehen.
Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die noch wichtige Gespräche zu führen haben, bitte ich jetzt, diese außerhalb des Plenarsaals zu führen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Pläne der Bundesregierung für einen nationalen Alleingang bei der Vorratsdatenspeicherung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe SPD,
({0})
wie sehr müssen Umfragewerte eigentlich schmerzen,
dass Sie glauben, diese Schmerzen mit Vorratsdatenspeicherung lindern zu können?
({1})
80 Millionen Menschen in Deutschland sollen unter Generalverdacht gestellt werden.
({2})
Jedes einzelne SPD-Mitglied, Sie und ich und alle anderen, wir alle sind dann gleich verdächtig, ohne Anlass einer Straftat, ohne die Chance, die Überwachungsmaschine irgendwie zu kontrollieren, meine Damen und
Herren. Am Ende werden Sie die Daten von Menschen
speichern, die weder Terroristen sind noch jemals welche werden,
({3})
von Menschen, die noch nicht einmal je welche getroffen haben. Der Anruf beim Psychologen, der Anruf beim
Enkelkind mit Schulstress,
({4})
der Anruf beim Insolvenzberater, das alles wird künftig
gespeichert.
({5})
Aber - ich finde, da sollten Sie wirklich zuhören - geschultes Personal, um die 280 Gefährder, die aus Syrien
zurückgekehrt sind, zu überwachen, haben Sie nicht, und
dieses Ungleichgewicht prangern wir an.
({6})
Mal ehrlich: Was soll jetzt an der Vorratsdatenspeicherung plötzlich gut sein, die gestern noch schlecht
war? Die furchtbaren Terroranschläge von Paris und Kopenhagen können nicht der Grund sein; denn Frankreich
hat die Vorratsdatenspeicherung, Dänemark auch. Die
Täter waren beide Male polizeibekannt.
({7})
Ihre Antwort auf Fehler in der Überwachung ist „mehr
Überwachung“, und das ist absurd.
({8})
Fakt ist, meine Damen und Herren: Man findet die
Nadel im Heuhaufen doch nicht besser, wenn man den
Heuhaufen vergrößert.
({9})
Doch genau das verkündet jetzt der Vizekanzler und
Bundeswirtschaftsminister seinen leicht verschreckten
Genossen via Deutschlandfunk am Wochenende.
Ihre Generalsekretärin hatte gerade noch gesagt:
Es ist völlig unklar, inwiefern eine Vorratsdatenspeicherung nach dem Urteil des EuGH überhaupt
noch möglich ist.
({10})
Und sie hat gesagt: Keine Schnellschüsse.
Am Montag erklärte sie dann: Ja, ein Vorschlag wird
„relativ zügig, vermutlich noch in der ersten Jahreshälfte“ vorgelegt. - Wieder steht Ihre Generalsekretärin
komplett düpiert da.
Der Bundesjustizminister lässt sein Einknicken noch
dementieren, nachdem er schon längst über den Preis
verhandelt hat. Heiko Maas, Sie sind doch schon vor
Wochen bei den Law-and-Order-Fans der Union unter
die Decke gekrochen.
({11})
Dank Ihrem Parteivorsitzenden weiß das jetzt auch noch
jeder.
Liebe SPD, die Wahrheit ist doch: Sie haben eine
Weile ein kleines bisschen Bürgerrechtspartei gespielt.
Jetzt hat der Parteivorsitzende Sie als solche komplett
abgemeldet.
({12})
Man könnte auch sagen: Wir sind jetzt quasi bei Maut 2;
denn jetzt müssten Sie ja ein Gesetz vorlegen, das europarechtskonform und noch dazu verfassungskonform ist.
Erinnern Sie sich noch? Die Vorratsdatenspeicherung ist
sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom
Europäischen Gerichtshof gestoppt worden, und jetzt
können Sie sich nicht einmal mehr auf eine EU-Richtlinie berufen. Eine Klage gegen Ihre VorratsdatenspeiKatrin Göring-Eckardt
cherung wird genauso schnell sein wie Ihr Gesetz; das
jedenfalls ist sicher. Deshalb ist es auch so unnötig und
so ärgerlich.
({13})
Ich sage Ihnen eines: Die Freiheit, die wir alle gemeinsam am Brandenburger Tor beschworen haben, verteidigt man bestimmt nicht, indem man die Freiheit der
Bürger überwacht, sondern, indem man für sie kämpft.
Darum geht es doch.
({14})
Sonst haben doch die gewonnen, die uns Angst machen
wollen.
Herr Gabriel, je nach Umfrage sind es knapp über die
Hälfte bis zu zwei Drittel der Deutschen, die die Vorratsdatenspeicherung ablehnen. Übrigens ist unter sozialdemokratischen Wählerinnen und Wählern die Ablehnung
fast mit am höchsten. Das Drittel, das die Datenspeicherung will, wird am Ende bestimmt nicht SPD wählen,
weil Sie an einem Wochenende umgekippt sind.
Bis zwölf Monate nach der Bundestagswahl hatte
man ja das Gefühl, dass die SPD inhaltlich die treibende
Kraft der Koalition wäre: Sie haben den Mindestlohn
durchbekommen, Sie haben mit der Rente mit 63 sich
kräftig eins eingeschenkt.
({15})
Bis Ende letzten Jahres hatte man nach allgemeiner Auffassung den Eindruck, die SPD sei der inhaltlich stärkere
Part in der Koalition.
({16})
Das hat Sie in den Umfragen auf 25 Prozent gebracht.
Manche von Ihnen fanden das ungerecht; vielleicht ist es
das auch.
({17})
Jetzt räumen Sie das letzte bisschen Unterschied weg.
Dass Sie nicht mehr glauben, den Kanzler stellen zu
können, haben wir vernommen. Ich sage Ihnen nach diesem ganzen Drama: Sie können es auch nicht.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Strobl,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Man muss den Grünen
ausdrücklich dankbar sein, dass sie diese Aktuelle
Stunde beantragt haben,
({0})
damit wir mit ein paar Falschinformationen aufräumen
können
({1})
und ein paar Informationen zum Thema Vorratsdatenspeicherung geben können.
Schon der Titel „Pläne der Bundesregierung für einen
nationalen Alleingang bei der Vorratsdatenspeicherung“
ist mehr Irreführung als Aufklärung, weil es, wenn über
20 EU-Staaten Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung
haben, schon sehr sportlich ist, von einem nationalen Alleingang zu sprechen, um nicht zu sagen, eine falsche Information ist, und das ist die erste, die wir hier beseitigen.
({2})
Warum, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind wir
für die Vorratsdatenspeicherung und halten wir dieses
Instrument für die Aufklärung schwerer und schwerster
Straftaten für notwendig? Nicht weil wir Obsessionen
haben,
({3})
sondern, weil wir das, was uns alle Sicherheitsbehörden,
alle Polizistinnen und Polizisten, alle Ermittler sagen
und raten, ernst nehmen. Wir in der Union nehmen ernst,
was uns die Polizei und die Ermittlungsbehörden raten.
({4})
Im Übrigen kenne ich auch keinen SPD-Innenminister, der gegen die Vorratsdatenspeicherung ist. Alle SPDInnenminister - die amtierenden, der ehemalige SPDBundesinnenminister -, alle, die etwas von der Sache
verstehen, sind für die Vorratsdatenspeicherung, und das
ist richtig, weil uns das die Experten auch so raten.
({5})
Wie ist denn die Lage heute, was die Verbindungsdaten angeht? Ein Wildwuchs. Das eine Telekommunikationsunternehmen speichert die Daten, das andere Telekommunikationsunternehmen speichert die Daten nicht.
Bei dem einen Kunden werden die Daten gespeichert,
bei dem anderen Kunden werden die Daten nicht gespeichert.
Thomas Strobl ({6})
Es wäre doch einmal ein Beitrag, diese Daten „safe“
zu machen: Für alle Telekommunikationsunternehmen,
({7})
für alle Kunden gelten die gleichen Regeln.
({8})
Die Daten werden für einen bestimmten Zeitraum gespeichert. Wir regeln auch, wo die Daten gespeichert
werden - es ist ein Unterschied, ob der Server in
Deutschland steht oder auf den Cayman-Inseln oder in
Indonesien -, und das sollten wir einheitlich regeln. Die
Daten werden einheitlich bei allen Unternehmen für eine
gewisse Zeit gespeichert, und dann werden sie auch bei
allen Unternehmen zum gleichen Zeitpunkt endgültig
gelöscht.
({9})
Wir wollen Datensicherheit in diesem Bereich gewährleisten. Deswegen werden wir auch in diesem Bereich zu
einer Regelung kommen.
({10})
Ganz im Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen und den Linken: Wenn uns die Fachleute im
Edathy-Untersuchungsausschuss sagen, dass diejenigen,
die Kinderpornografie nutzen, ganz genau wissen, zu
welchem Telekommunikationsanbieter sie gehen müssen, damit ihre Daten nicht gespeichert werden, und wir
nichts dagegen unternehmen, dann schützen wir die Falschen. Deswegen werden wir das auch beenden.
({11})
Ein weiterer Punkt ist: Was passiert dann mit diesen
Daten? Ich möchte Ihnen ehrlich sagen, Frau GöringEckardt: Von einer Totalüberwachung zu sprechen,
({12})
ist wirklich perfide; damit spielt man mit den Ängsten
der Bürgerinnen und Bürger. Um was geht es denn hier?
({13})
- Jetzt bleiben Sie doch mal ganz ruhig, und hören Sie
einen Moment zu!
({14})
Es geht darum, dass Dauer, Zeit, Rufnummer und IPAdressen gespeichert werden. Es geht nicht darum, dass
Inhalte gespeichert werden. Nicht einmal bei den Grünen regt sich jemand darüber auf, dass zur Aufklärung
schwerer und schwerster Straftaten Telefongespräche
nach einem Richtervorbehalt abgehört werden dürfen.
({15})
Das geschieht in der Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich. Hier geht es aber um deutlich weniger. Es
geht nicht um die Inhalte der Gespräche, sondern lediglich um die Verbindungsdaten: Wer hat wann mit wem
kommuniziert? - Wenn Sie sagen, dass es auf der einen
Seite in Ordnung ist, dass man Gespräche abhört, aber
auf der anderen Seite sagen,
({16})
wir dürften nicht auf Verbindungsdaten zugreifen, dann
fehlt dem jede Logik.
({17})
Ehrlich gesagt, Frau Göring-Eckardt, auf Paris zu rekurrieren und zu sagen, dass die Vorratsdatenspeicherung den Anschlag, die schrecklichen Morde nicht verhindert hat, ist, mit Verlaub gesagt, perfide.
({18})
Niemand hat behauptet, dass die Vorratsdatenspeicherung ein Allheilmittel ist.
({19})
Gerade Paris ist ein gutes Beispiel dafür, dass durch die
Vorratsdatenspeicherung Dinge aufgeklärt werden konnten, dass das terroristische Umfeld aufgeklärt werden
konnte, dass Netzwerke aufgeklärt werden konnten und
dass dadurch möglicherweise weitere Anschläge verhindert werden konnten. Das ist ein gutes Beispiel dafür,
dass die Vorratsdatenspeicherung hilfreich ist.
({20})
Eine letzte Bemerkung: Es sind doch nicht unsere
Polizistinnen und Polizisten, es sind doch nicht unsere
Sicherheitsbehörden in Deutschland, die die Freiheit bedrohen, sondern es sind die Terroristen, die organisierte
Kriminalität, die Kinderpornografie.
({21})
Thomas Strobl ({22})
Das bedroht uns. Wir sollten denjenigen, die unsere Freiheit schützen, auch die Instrumente an die Hand geben,
dass sie ihre Arbeit machen können.
Herzlichen Dank.
({23})
Vielen Dank. - Jetzt hat die Kollegin Petra Pau überwiegend das Wort.
({0})
- Dürfen wir uns darauf verständigen, dass jetzt die Kollegin Pau das Wort hat, Ihr Einverständnis vorausgesetzt? - Danke schön.
Bitte schön, Frau Kollegin Pau.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Da ist sie also wieder, die Vorratsdatenspeicherung, dank CDU/CSU und, wie man hört und liest,
auch dank der SPD. Nicht, dass ich oder die Linke sie
vermisst hätte, im Gegenteil. Wir hatten 2006 gegen die
Vorratsdatenspeicherung gestimmt, und ich hatte Ihnen
damals schon prophezeit: Sollte Ihr Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft treten, so werden wir uns in
Karlsruhe wiedersehen.
Und so kam es dann auch: Wir - und mit uns Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger - bekamen recht.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte Ihre Vorratsdatenspeicherung für null und nichtig, weil sie schlichtweg
grundgesetzwidrig war.
({0})
Dann wurde versucht, bei der prophylaktischen Speicherung aller Telekommunikationsdaten über EU-Bande
zu spielen. Aber das Nein des Europäischen Gerichtshofes war ebenso klar wie vordem das Nein der Bundesverfassungsrichter. Nun wollen es CDU/CSU und SPD also
erneut versuchen. In der Alltagssprache nennt man so etwas „Wiederholungstäter“.
Geradezu symbolisch kommt hinzu: Wir schreiben
heute den 18. März. Ich komme gerade vom Brandenburger Tor, wo der Revolution von 1848 gedacht wurde,
übrigens parteiübergreifend, von der Union bis zur Linken.
({1})
Damals ging es um Bürgerrechte und Demokratie. Die
geplante Vorratsdatenspeicherung indes schwächt Bürgerrechte und Demokratie. Und deshalb: Man kann nicht
sonntags das Grundgesetz loben und es werktags attackieren. Das macht auf Dauer einfach unglaubwürdig.
({2})
Auch an der Begründung für die Vorratsdatenspeicherung hat sich nichts geändert. Es gehe um Kriminalitätsund Terrorbekämpfung, heißt es. Auch hier wiederhole
ich Ihnen gern, was ich schon 2007 gesagt hatte:
Die Hauptattacken gegen Bürger- und Freiheitsrechte hierzulande kommen nicht von … Extremisten. Sie kommen von Spezialisten, die auf das
Grundgesetz geschworen haben.
({3})
Wo das hinführen kann, wurde uns dank Edward
Snowden gerade erst anhand der totalen NSA-Datengier
vorgeführt. Die ungebrochene Praxis der NSA ist übrigens der größte Angriff auf Bürgerrechte und Demokratie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Dagegen gäbe es tatsächlich genügend zu tun.
({5})
Wenn die schwarz-rote Bundesregierung meint, mehr
zur Verteidigung westlicher Werte unternehmen zu müssen: Engagieren Sie sich, dass in der EU endlich ein Datenschutzrecht gilt, das dem 21. Jahrhundert angemessen
ist. Dabei hätten Sie die Linke auf Ihrer Seite, bei der
Vorratsdatenspeicherung definitiv nicht.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Lars
Klingbeil, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Freunde von den Grünen, ich freue mich, dass wir
hier im Hohen Hause so leidenschaftlich über Grundrechte diskutieren. Ich halte das für wichtig. Ich will
mich dem Dank des Kollegen Strobl an die grüne Fraktion anschließen, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat.
Ich finde, wir Parlamentarier tragen eine große Verantwortung, wenn es darum geht, über Freiheit und Sicherheit zu diskutieren und dabei die richtige Balance zu
finden. Eine der wichtigsten Aufgaben, die wir in diesem
Haus haben, ist, uns diesen Fragen zu stellen: Was darf
der Staat? Was darf er mit den Daten der Bürger machen? Wie stark darf er eingreifen? Ich finde es gut und
richtig, dass wir das heute diskutieren. Es wird sicherlich
nicht die letzte Diskussion bleiben, die wir hier im Haus
zu diesem wichtigen Komplex führen.
({0})
Frau Göring-Eckardt, ich will Ihnen aber sagen: Ich
habe keine Angst vor dieser Diskussion. Wenn ich höre,
was Sie hier als „Streit“ beschrieben haben,
({1})
dann muss ich sagen: Nein, es ist eine politische Diskussion, die wir zu führen haben.
({2})
Davor haben wir Sozialdemokraten keine Angst.
({3})
Gehen Sie davon aus: Wir werden diese Diskussion auch
in der Koalition verantwortungsvoll führen.
Es ist kein Geheimnis, dass es in der Koalition eine
ganze Bandbreite von unterschiedlichen Positionen gibt.
Ich glaube, das ist einer der Gründe, weswegen wir das
heute hier in der Aktuellen Stunde diskutieren. Da gibt
es auf der einen Seite Herrn Strobl, auf der anderen Seite
vielleicht Lars Klingbeil.
({4})
Aber gehen Sie davon aus: Wir werden diese Diskussion, die keine leichte ist, in der Großen Koalition verantwortungsvoll führen. Wir werden diese Debatte in
dem Bewusstsein führen, dass es einen Paradigmenwechsel gegeben hat. Dieser Paradigmenwechsel wurde
mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs eingeleitet,
({5})
mit dem die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für
obsolet erklärt wurde.
Ich bin Heiko Maas ausdrücklich dankbar dafür, dass
er damals besonnen reagiert hat, dass er erklärt hat: Es
kommt nicht zu nationalen Schnellschüssen, sondern wir
schauen uns an, was auf der europäischen Ebene passiert.
({6})
Wir werten das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
aus und werden dann besonnen und konstruktiv in die
nationale Debatte einsteigen. - Genau das tun wir jetzt,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Der Paradigmenwechsel ist da
({8})
- hören Sie doch bitte einmal zu -, weil wir uns erstmalig in einer anderen Situation befinden. Über Jahre hinweg mussten die Gegner der Vorratsdatenspeicherung
erklären, warum sie dagegen sind. Jetzt müssen die Befürworter sagen, warum sie dafür sind.
({9})
Mit der europäischen Richtlinie gibt es keine Gründe
mehr. Mit den Strafzahlungen gibt es keine Gründe
mehr.
Wir als Parlament können jetzt entscheiden, was wir
wollen. Die Diskussion darüber werden wir in den
nächsten Wochen und Monaten führen, und ich freue
mich auf diese Diskussion, weil es eine Diskussion der
Argumente sein wird und nicht mehr eine der europäischen Regeln und der Zwänge, in denen wir uns bewegen.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sehen, ob es gelingt, die Begriffe „anlasslos“, „flächendeckend“ und „grundrechtskonform“ zusammenzubringen. Ich prognostiziere: Das kommt einer Quadratur des
Kreises gleich.
({10})
Das ist eine schwierige Aufgabe, die vor uns liegt. Aber
wir wollen diese Diskussion führen, und ich rate auch
den Grünen, sich einer Diskussion über eine effiziente
Strafverfolgung, über eine effiziente Strafaufklärung
nicht zu verweigern.
({11})
Wir müssen diese Diskussion in turbulenten Zeiten
wie diesen führen. Ich würde mir wünschen - auch das
will ich anmerken -, dass wir ebenso leidenschaftlich
und emotional, wie wir über die Frage der Vorratsdatenspeicherung diskutieren, auch darüber diskutieren, ob
wir die Strafermittlungsbehörden personell und technisch nicht besser ausstatten müssten.
({12})
Wir werden über die sehr unterschiedlichen Vorschläge, die im Raum stehen, debattieren.
({13})
- Ich spreche doch gerade für die Koalition. - Es wird
darüber zu diskutieren sein, ob wir die Anlässe definieren, ob wir die Speicherdauer verkürzen, ob wir Unterschiede bei den Datenarten machen und ob wir Berufsgruppen aus der Vorratsdatenspeicherung herausnehmen,
wenn sie denn kommt.
Ich will zum Ende nur noch eines sagen: Egal welche
Position nachher auf dem Tisch liegt, egal wie das Parlament entscheidet, wir als Parlamentarier müssen am
Ende zwei Fragen beantworten. Die eine Frage ist, ob
die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Die zweite
Frage ist, ob die hohen Hürden, die uns vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof vorgegeben wurden, eingehalten werden oder ob wir nicht
Gefahr laufen, mit Anlauf und mit erhöhter Geschwindigkeit wieder gegen die Wand eines Gerichtsurteils zu
laufen. Davor kann ich nur warnen.
({14})
Eine solche Situation sollten wir verhindern.
({15})
Ich freue mich auf die konstruktive Diskussion, die
wir in den nächsten Monaten mit vielen guten Argumenten führen werden.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
die Kollegin Elisabeth Winkelmann-Becker das Wort.
({0})
Liebes Präsidium! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörer!
„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine Vorratsdatenspeicherung brauchen … “
({0})
Das ist ein Zitat des SPD-Innenministers von BadenWürttemberg, Reinhold Gall.
Vorratsdatenspeicherung ist hilfreich in den späteren
Ermittlungen, da haben wir uns als Innenminister klar
positioniert. - Das sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger im Morgenmagazin im Januar.
({1})
Dietmar Pistorius hält sie für ein wichtiges Instrument.
({2})
- Boris, Entschuldigung. - Der SPD-Innenminister von
Rheinland-Pfalz, aktueller Vorsitzender der Innenministerkonferenz, will ebenfalls prüfen, wie die Vorratsdatenspeicherung in Zukunft geregelt werden kann. Er hat
gesagt: Wir brauchen Waffengleichheit. - Sigmar
Gabriel steht mit seiner Aussage, dass wir Vorratsdatenspeicherung brauchen, also keineswegs allein da in der
SPD, sondern er wird gerade von denen unterstützt, die
Ahnung haben,
({3})
von denen, die wissen, wie die Sicherheitslage in
Deutschland ist
({4})
und woran es scheitert, dass Ermittlungen erfolgreich
geführt werden können und dass Straftaten verhindert
werden.
({5})
Ich nehme gerne den Faden von Thomas Strobl auf,
der gesagt hat, wir müssten einige Irrtümer ausräumen.
Ein Irrtum, den ich hier gerne ausräumen möchte, ist,
dass das Bundesverfassungsgericht jegliche Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt hat. Das ist
schlichtweg falsch.
({6})
Lesen Sie bitte schön einmal die Entscheidung.
({7})
Das Verfassungsgericht hat uns sehr detaillierte Vorgaben gemacht. Das hätte es sich sparen können, wenn die
Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich verfassungswidrig wäre.
({8})
Wir wollen eine Regelung, die genau all diese Vorgaben einhält; das ist möglich.
({9})
Dann haben wir immer noch eine sehr effiziente Hilfe
für unsere Ermittlungsbehörden bei der Bekämpfung
schwerer Kriminalität.
Um noch einmal klarzustellen, worum es geht: Wir
reden nur von Verbindungsdaten, also von dem, was früher auf der Rechnung stand, die man von der Telekom
bekommen hat. Wir reden - das muss man allerdings
auch ehrlicherweise sagen - zusätzlich von IP-Adressen,
und wir reden von den Ortungsdaten, von den Funkzellendaten von Handys; das kommt hinzu.
({10})
Wir reden aber eindeutig nicht von Inhalten, wie sie zum
Beispiel auf Facebook gespeichert werden. Wir reden
nicht von Inhalten der gesamten Kommunikation, sondern nur von diesen technischen Daten.
Wie belastend ist denn nun der Eingriff für die Bürger, wenn wir wirklich all die Vorgaben einhalten und
ins Gesetz schreiben, wenn wir sicherstellen, dass nur
unter engen Voraussetzungen auf die Daten zugegriffen
werden kann, wenn in aller Regel der Normalfall ist,
dass sie völlig unbeachtet, ungelesen nach einer definierten Frist gelöscht werden, die wir in der Tat festsetzen
sollen? Dann gibt es keine Überwachung, sondern es
passiert schlichtweg gar nichts mit diesen Daten. Wir
müssen sie allerdings - das hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem moniert - auch noch sicherer machen. An dieser Stelle haben wir an der falschen Ecke
gespart; bei der Datensicherheit müssen wir sicherlich
nachbessern. Aber wenn das alles eingehalten wird, dann
weiß ich nicht, wo das ganz große Problem liegt.
Mir hat eine junge Frau erzählt, dass sie aufgrund einer Funkzellenabfrage als mögliche Zeugin vernommen
worden ist. Sie hat aber nichts dazu beitragen können,
den Fall aufzuklären.
({11})
Aber vielleicht haben andere es getan, die ebenfalls in
dieser Funkzelle waren, vielleicht hat eine brauchbare
Spur zum Täter geführt. Jedenfalls hat das bei dieser jungen Frau offenbar keine Traumatisierung ausgelöst. Das
hat auch mit Generalverdacht überhaupt nichts zu tun.
({12})
Wir müssen all den Leuten, die immer sagen, mit Kinderpornografie oder Terroranschlägen hätten sie persönlich nichts zu tun, klarmachen, dass auch ihnen die Internetkriminalität viel näher ist, als sie vielleicht denken. Es
gibt zunehmend Delikte, die auch bei den Normalbürgern erheblichen Schaden anrichten und für die es
keinen Ermittlungsansatz gibt, wenn wir nicht auf IPAdressen und Kommunikationsdaten zurückgreifen können. Ein Studienkollege von mir, der jetzt Landrat in
Nordrhein-Westfalen ist, hat mir gerade in dieser Woche
noch Beispiele genannt.
Ein Fall war, dass eine Geschädigte eine Abmahnung
wegen angeblicher Urheberrechtsverstöße bekam. Es ging
um behauptete Redtube-Porno-Streaming-Kosten. Die
IP-Adresse konnte nicht nachvollzogen werden, es gab
erheblichen Schaden und keinen Ermittlungsansatz, weil
man eben überhaupt nicht nachvollziehen konnte, von
wem das kam, was da so viel Schaden angerichtet hatte.
In einem anderen Fall wurden mit Daten des Geschädigten Dienste bestellt, unter anderem bei Sky. Auch hier
gab es keinerlei Ermittlungsansätze, weil man eben nicht
nachvollziehen konnte, wer das gemacht hat.
({13})
Auch bei dem Enkeltrick, bei dem Banden meist ältere Menschen per Telefon auffordern, ihnen Geld zu geben oder zu überweisen, gibt es keine Möglichkeit, an
die Täter heranzukommen.
({14})
Um auf die schwere Kriminalität zurückzukommen:
Ich war Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss. Damals hätte uns so etwas wirklich weitergeholfen; es wäre
zielführend gewesen, zu wissen, mit wem die Täter in
den Monaten vor ihrem Selbstmord telefonierten und
Kontakt hatten. Das hätte uns sofort geholfen, uns ein
besseres Bild zu machen, wie weit ihr Netzwerk reichte.
Die Diskussion über Kinderpornografie habe ich auch
noch in sehr guter Erinnerung. Wir haben da wirklich
den strafrechtlichen Schutz erhöht. Aber man muss die
Täter auch erst haben. Wenn man sie gar nicht ermitteln
kann, dann nützt es nichts, dass die Strafe zwei oder drei
Jahre gewesen wäre.
({15})
Sie bleiben unbehelligt, und wer an dieser Stelle den
Kampf gegen Kinderpornografie ernst nimmt, muss
auch da für die Vorratsdatenspeicherung sein.
Ich bin sehr dankbar für den konstruktiven Ansatz des
Kollegen Lars Klingbeil. Es ist in der Tat eine Abwägung; aber den schmalen Grat, den die Urteile aus Karlsruhe und aus Brüssel uns lassen, den sollten wir gemeinsam gehen und eine entsprechende verfassungsfeste
Regelung erarbeiten.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank. - Das war im Übrigen die Kollegin
Winkelmeier-Becker und nicht Winkelmann-Becker, wie
ich fälschlicherweise gesagt habe. Ich bitte um Entschuldigung; aber dafür war ich bei der Redezeit großzügig.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Tempel, Fraktion Die Linke.
({1})
- Bitte nicht.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Das Thema Vorratsdatenspeicherung ist ein
Dauerthema in der Innen- und Rechtspolitik. Um Missverständnisse auszuschließen: Wenn Polizeibeamte fordern, alle Mittel zur Verfügung zu haben, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig sind, halte ich diese
Forderung grundsätzlich erst einmal für legitim. Wenn
Polizeigewerkschaften sich zum Sprachrohr dieser Forderung machen, halte ich das grundsätzlich erst einmal
für legitim. Aber unser Rechtsstaat kennt das System der
Gewaltenteilung, und dieses System hat sich sehr bewährt; darüber sind wir uns sicher alle einig.
Die Exekutive, insbesondere die Polizei, muss zur Erfüllung ihrer Aufgaben in die Grundrechte der Bürger
eingreifen. Wenn der Staat in die Grundrechte seiner
Bürger eingreifen muss, dann muss das - das hat Verfassungsrang - verhältnismäßig sein, also geeignet, erforderlich und angemessen. Dieser Eingriff muss also nicht
nur geeignet sein, Herr Strobl, sondern es gibt ein paar
Kriterien mehr. Dabei geht es nicht um ein Bauchgefühl,
sondern um klare, überprüfbare Kriterien.
Ich möchte ein Bild benutzen, damit man das auch
verstehen kann, wenn man nicht Innen- oder Rechtspolitiker ist: Wenn ich ein Gartenhaus bauen möchte, kann
ich tolle Werkzeuge benutzen, die es heute zu kaufen
gibt. Trotzdem würde ich sehr genau darauf achten, dass
das Verhältnis zwischen Nutzen, Aufwand und Preis irgendwie noch stimmt. Wenn dieses Gartenhaus die Sicherheitsarchitektur unseres Landes symbolisiert, dann
heißt das, dass wir darauf achten müssen, dass die erforderlichen Mittel in einem angemessenen Rahmen bleiben. Eingriffe in die Bürger- und Freiheitsrechte sind ein
sehr hoher Preis. Deswegen muss man dreimal überlegen, ob man darauf zurückgreifen möchte oder nicht.
({1})
Darauf zu achten, ist nun einmal Aufgabe des Parlaments. Diese Aufgabe kann das Parlament nicht nach
Belieben ausführen, sondern es muss sich dabei im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. Im Zweifel - das haben wir insbesondere bei dieser Thematik schon erlebt überprüft das das Bundesverfassungsgericht. Dem Bundesverfassungsgericht sollte man hier mit etwas mehr
Respekt begegnen.
({2})
Seit Jahren fordern die Innenminister - das überrascht
nicht - immer wieder die Vorratsdatenspeicherung. Damit haben sie eine sehr schöne Dauerdebatte, die auch
ganz schnell von anderen Themen der Innenpolitik ablenkt. Dass die Gewerkschaft der Polizei gegenwärtig
wieder täglich vor dem Kanzleramt auftaucht, hat nichts
mit der Vorratsdatenspeicherung zu tun, sondern mit immensen Defiziten bei der Ausrüstung, der Ausstattung
und beim Stellenpool der Polizei. Deswegen sind sie
dort. Sie sagen, dass es an diesen Stellen Bedarf gibt. Sie
fordern keine Vorratsdatenspeicherung.
({3})
Wenn es um diese anderen Themen geht, sind die Innenminister zurückhaltender, dann sprechen sie seltener
von der Sicherheit des Landes. Hier wird mit Taschenspielertricks gearbeitet. Der Investitionsstau wird ignoriert, und die Zahlen werden einfach schöngerechnet. Es
gibt keinerlei Aktivitäten in diesem Bereich. Die Gewerkschaft steht alleine. Ich habe die Gewerkschaftsvertreter gestern bei ihrer Demonstration aufgesucht. Außer
mir war kein Abgeordneter des Bundestages dort, obwohl alle Fraktionen angeschrieben worden sind. Man
kann sich ruhig einmal anhören, was Polizeibeamte zur
Erfüllung ihrer Aufgaben tatsächlich brauchen.
({4})
Der Gesetzentwurf, um den es hier geht, muss nicht
vom Innenministerium vorgelegt werden, sondern vom
Justizministerium. Das Justizministerium, das etwas Verfassungskonformes vorlegen muss, führt einen Schattenboxkampf. Man muss sich schon einmal überlegen, warum es seit Jahren nicht gelungen ist, etwas vorzulegen,
das geeignet und verfassungskonform ist. Vielleicht liegt
das ganz einfach daran, dass die Kriterien nicht zusammenzuführen sind.
Das Schattenboxen wird jetzt intensiver und unsauberer. Man setzt Laienboxer ein. Herr Gabriel möchte jetzt
nicht mehr um die Kanzlerschaft boxen, sondern kämpft
jetzt ebenfalls für die Vorratsdatenspeicherung. Diesen
Kampf wird er übrigens ebenfalls verlieren, es sei denn,
er lässt sich noch etwas ganz Besonderes einfallen oder
hat noch etwas in der Hinterhand, was er uns bisher verheimlicht hat. Mit „unsauber“ meine ich natürlich auch,
dass wir hier eine Angstdebatte führen. Ich lese täglich
die Ausführungen von diversen Leuten über eine immer
gefährlicher werdende Welt, eine Welt, in der das Allheilmittel der Vorratsdatenspeicherung unbedingt notwendig ist.
({5})
Uns werden der Reihe nach Delikte genannt, bei denen
die Vorratsdatenspeicherung angeblich unbedingt notwendig sei, bei der man ohne die Vorratsdatenspeicherung gar nicht mehr weiterkomme. Allerdings ist selbst
das BKA diesen Nachweis bis zum heutigen Tag schuldig geblieben. Dieser Nachweis wurde nicht erbracht.
Herr Strobl, ein Hinweis für Sie: Beim Vorliegen einer
schweren Straftat, bei der eine Telefonüberwachung
stattfindet, haben wir eben kein anlassloses Vorgehen,
sondern einen konkreten Anfangsverdacht.
({6})
Das ist ein völlig anderes Rechtskriterium.
({7})
Deswegen müssen wir auch andere Maßstäbe anlegen, wenn wir überlegen, welche Mittel wir hier zur Verfügung stellen. Bei einer anlasslosen Speicherung fallen
300 bis 500 Datensätze pro Tag an, die gespeichert werden sollen. Einmal ganz nebenbei: Die organisierte Kriminalität und auch Terroristen zum Beispiel werden sicherlich keine registrierten, namentlich identifizierbaren
Handys benutzen, sondern sich sehr schnell auf die Vorratsdatenspeicherung einstellen.
({8})
Der normale Bürger, der natürlich gar nicht auf die
Idee kommt, dass seine Daten missbraucht werden können, wird sich aber nicht darauf einstellen.
({9})
In der Vergangenheit haben wir häufig gesehen, dass Daten missbraucht werden. Wie viele Datenskandale hatten
wir denn in der letzten Zeit?
({10})
NSA wurde schon genannt, aber es gibt in vielen Bereichen Datenskandale, gerade bei privaten Unternehmen,
wo die Daten auf privaten Servern gespeichert sind und
wo sie eben nicht sicher waren.
({11})
- Ja, die werden schon gespeichert, aber gerade hier
brauchen wir mehr Datenschutz.
Herr Kollege Tempel, denken Sie an die Zeit.
Ja, danke, ich sehe das. - Hier sollten wir mehr Datenschutz einführen und entsprechende Regelungen finden, statt die Mindestspeicherfristen verlängern zu wollen. Daten, die gelöscht werden sollen, noch länger zu
speichern, das ist ein völlig falscher Ansatz. Dieses
Schattenboxen muss beendet werden.
Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Polizei richtig
ausstatten, dass sie die Ermittler bekommt, die notwendig sind, um bekannte Fakten zu verarbeiten. Dann
werden wir uns alle gemeinsam an einem Tisch wiederfinden. Insofern ist die Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung nach wie vor völlig unsinnig.
({0})
Vielen Dank. - Nur für die Zukunft, Herr Kollege
Tempel: Es reicht nicht, wenn Sie das Signal sehen, sondern Sie müssen dann auch reagieren. - Jetzt hat die
Kollegin Kampmann, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Grüne, liebe Frau Göring-Eckardt, Sie glauben
doch nicht ernsthaft, dass die gute Arbeit der SPD in der
Großen Koalition auch nur ansatzweise durch unsere
sehr konstruktive Diskussion zur Vorratsdatenspeicherung geschmälert wird.
({0})
Ich kann nicht verhehlen, dass auch ich gehofft hatte,
dass mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes die
Vorratsdatenspeicherung für immer begraben ist.
({1})
Aber spätestens seit den Schüssen in Paris, seit diesem
feigen Attentat auf die Meinungs- und Pressefreiheit war
uns allen wohl klar: Die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist neu eröffnet.
Es ist keine leichte Debatte, nicht in der SPD, aber
auch nicht in der Gesellschaft; denn wenn eine Bedrohung durch Terrorismus faktisch vorhanden ist, wenn
Menschen Angst davor haben, Opfer eines Anschlags zu
werden, dann hat Politik die klare Verantwortung, alles
dafür zu tun, um die Menschen in diesem Land zu schützen.
({2})
Die Instrumente, die wir dafür in die Hand nehmen,
müssen aber auch dazu geeignet sein, dieses Ziel von
mehr Sicherheit zu erreichen.
({3})
Ob die Vorratsdatenspeicherung diesen Nachweis erbringen kann, ist bis heute zweifelhaft. Diesem zweifelhaften Nutzen steht auf der anderen Seite ein Eingriff in
verfassungsmäßig garantierte Rechte gegenüber, der
gleichzeitig auch ein Risiko für unser demokratisches
System darstellt.
({4})
Denn Demokratie braucht einen Raum, in dem Meinungsfreiheit unabhängig von der latenten Möglichkeit
staatlicher Kontrolle bestehen kann. Demokratie muss
Kommunikation frei von staatlicher Überwachung möglich machen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Das muss
unsere Richtschnur für alles politische Handeln sein.
({5})
- Das wird es, Herr von Notz, seien Sie sich sicher.
Mein Anspruch an die weitere Debatte zur Vorratsdatenspeicherung ist zum einen, dass wir uns nach dem
Anschlag auf die Freiheitsrechte, den wir alle beklagt
haben, bewusst sind, dass wir diese Werte nicht verteidigen, indem wir sie gleichzeitig einschränken.
({6})
Ich wünsche mir aber auch, dass wir diese Diskussion
über die Vorratsdatenspeicherung nicht so führen, als
hätte es ein Urteil des höchsten europäischen Gerichts
nicht gegeben.
({7})
Der EuGH hat die Hürden für einen erneuten Anlauf
zur Vorratsdatenspeicherung unglaublich hoch gelegt.
Man muss sich wirklich klarmachen: Nach diesem Urteil
kann es eine anlasslose Speicherung von Daten auf VorChristina Kampmann
rat nur noch sehr schwer geben, sodass ich mir eine
grundrechtskonforme Ausgestaltung, die den Namen
Vorratsdatenspeicherung auch verdient, nur sehr schwer
vorstellen kann.
({8})
Allerdings gab es auch schon andere Sachen, die meine
Vorstellungskraft überstiegen haben und trotzdem eingetreten sind.
({9})
Zum Beispiel konnte ich mir am Anfang der Legislatur nicht vorstellen, dass wir zusammen mit der Union
einen Mindestlohn und eine Frauenquote beschließen
würden.
({10})
Das ist eingetreten, und darüber bin ich unglaublich froh.
({11})
Als ich noch klein war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es jemals einen anderen Kanzler als Helmut
Kohl geben kann - bis Gerhard Schröder kam und ich
merkte: Es geht auch noch besser.
({12})
All diese Dinge sind eingetreten, obwohl sie meine
Vorstellungskraft deutlich überstiegen haben. Seien wir
also gespannt, wie es mit der Vorratsdatenspeicherung
weitergeht. Fest steht in jedem Fall - das sage ich auch
in Richtung Union -: Eine nationale Gesetzgebung, die
hinter dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes zurückbleibt, darf es in Deutschland nicht geben.
({13})
Trotz all dieser problematischen Aspekte gibt es einen
Punkt, der mich dennoch positiv in die Zukunft blicken
lässt. Das ist die Tatsache, dass ich die Debatte in den
Händen eines Justizministers weiß, der in den vergangenen Monaten mehr als deutlich gemacht hat, dass Bürgerrechte für ihn nichts sind, was man leichtfertig aufs
Spiel setzt, dass Bürgerrechte nicht nur Orientierung,
sondern auch Grundlage politischen Handelns sein müssen. Heiko Maas hat in den letzten Monaten deutlich gemacht, dass wir als SPD ein klares bürgerrechtliches
Profil haben,
({14})
das wir in Zukunft weiter stärken und für das wir auch
weiter kämpfen werden.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte um
Freiheit und Sicherheit in einer Welt, die zunehmend von
Brutalität, Grausamkeit und Terrorismus geprägt ist, ist
sicher nicht einfach. Es gibt keine leichten politischen
Antworten auf globale Bedrohungen, die unser gesamtes
Wertesystem infrage stellen. Was es aber gibt, sind
Rechte, die jedem Einzelnen von uns zustehen, weil sie
das garantieren, was uns als Menschen ausmacht.
Freiheit ist ein großes Wort. Das, was Freiheitsrechte
umfasst, gilt es zu bewahren; denn es ist Teil der Würde
jedes Einzelnen von uns.
({16})
Ich glaube daran und vertraue darauf, dass sich diejenigen, die nun in der Verantwortung sind, sicherheitspolitische Antworten auf internationale Bedrohungen zu
formulieren, dieser Grundlage unserer Verfassung und
unserer Demokratie bewusst sind und verantwortungsvoll damit umgehen werden.
Danke schön.
({17})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Katja Keul,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kreativität sind offensichtlich keine
Grenzen gesetzt,
({0})
dem Rechtsstaat allerdings schon, und das ist gut so.
({1})
Nachdem der EuGH klargestellt hat, dass eine anlasslose
Datenspeicherung grundrechtswidrig ist,
({2})
überlegen die Kreativen in der Koalition, man könne ja
mal eine anlassbezogene Vorratsdatenspeicherung prüfen. Das ist dann fast schon lustig; denn auf Vorrat speichert, wer ohne Anlass speichert.
({3})
Eine Speicherung mit Anlass erfolgt eben nicht auf
Vorrat und ist auch jetzt schon im Rahmen der bestehenden Gesetze möglich.
({4})
Allerdings scheinen führende Sozialdemokraten nicht zu
wissen, was ein Anlass ist, und denken jetzt laut darüber
nach, welche akzeptablen Anlässe denn so infrage kommen könnten. Da lesen wir etwas von Großereignissen
mit Gefahrenpotenzial oder regional auffälligen Gefährdungslagen. All das sind aber doch keine Anlässe, die
Eingriffe in die Grundrechte eines unbeteiligten Bürgers
rechtfertigen!
({5})
- Zu Paris komme ich noch.
Der Anlass, den der EuGH und das Verfassungsgericht meinen, ist immer ein individueller, auf die Person
bezogener Anlass, also zumindest ein Anfangsverdacht,
der die Aufnahme von Ermittlungen rechtfertigt, nicht
mehr und nicht weniger.
({6})
Dann bekommen Sie auch einen richterlichen Beschluss.
Mit dem können Sie die Daten nicht nur speichern, sondern auch für die Ermittlungen nutzen.
Also insgesamt kann einem der Justizminister wirklich leidtun. Was seine Parteikollegen da von ihm erwarten, ist schlicht nicht möglich und die Quadratur des
Kreises - von der Union einmal ganz abgesehen.
({7})
- Wenn man Ihnen zuhört, Herr Strobl, dann fragt man
sich, wie wir die letzten Jahre ohne Vorratsdatenspeicherung überhaupt überleben konnten. Danach steht
Deutschland ja kurz vor dem Abgrund.
({8})
Aber zurück zur SPD. Die Vorschläge der Parteiführung lassen an deren Rechtsverständnis zweifeln.
({9})
Der Parteivorsitzende schlägt vor, die Nutzung der gespeicherten Daten von einer richterlichen Genehmigung
abhängig zu machen. Ja, was für eine revolutionäre Idee!
({10})
Das ist aber leider eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Es gilt nämlich schon viel mehr: Nicht erst für
die Nutzung, sondern schon für die Speicherung der Daten braucht man eine richterliche Genehmigung. Herr
Strobl, das ist im EuGH-Urteil unmissverständlich klargestellt.
({11})
Auch die Generalsekretärin der SPD will uns jetzt mit
der Notwendigkeit des Richtervorbehaltes beruhigen.
Fakt ist aber: Es gibt keinen Richtervorbehalt auf Vorrat.
Ein richterlicher Beschluss ist niemals für eine unbestimmte Zahl von Personen vorstellbar, gegen die nicht
einmal ein Tatverdacht behauptet wird.
({12})
Wir lesen aber noch mehr Erstaunliches in diesen Tagen: Die SPD prüfe Ausnahmen für Anwälte, Ärzte und
Priester. Auch hier muss ich leider sagen: Den Geheimnisschutz brauchen Sie für diese Gruppen nicht neu zu
erfinden. Der steht im Gesetz und gilt selbst dort, wo es
einen Anlasse gäbe, nämlich auch für den einer Straftat
verdächtigten Mandanten - und zwar gerade für den.
({13})
Wie wollen Sie eigentlich die IP-Adressen der
160 000 Anwältinnen und Anwälte ermitteln, um sie
dann aus dem technischen Speichervorgang herauszufiltern? Das ist auch interessant!
({14})
Am Ende ist diese ganze Kreativität der Unbelehrbaren leider auch noch völlig sinnlos. Man kennt schon
jetzt mehr potenzielle Gefährder, als man überhaupt
sinnvoll überwachen kann. So war es auch bei den Attentätern von Paris. Man hat deren Überwachung aus
Ressourcengründen eingestellt, bevor sie zur Tat schritten. Das zeigt uns doch deutlich, wo wir ansetzen müssen: beim Personal und von mir aus auch beim Geld,
({15})
aber nicht bei der unbegrenzten Vermehrung von Daten.
({16})
Auch bei der Kinderpornografie nützt uns die Speicherung auf Vorrat nur wenig. Wenn die Ermittler einen
Vorgang live im Netz entdecken, können sie wegen Gefahr im Verzug unmittelbar telefonisch einen gerichtlichen Beschluss gegenüber dem Telekommunikationsanbieter erwirken und den Nutzer der IP-Nummer
identifizieren. Geht es um archivierte Vorgänge, hilft
auch eine kurze Speicherfrist nicht weiter.
({17})
Das Fazit lautet also: Die Vorratsdatenspeicherung
löst keine Probleme und stellt dafür unnötig rechtsstaatliche Grundsätze infrage.
({18})
Wir leben offensichtlich in einer Zeit gefühlter Unsicherheit.
({19})
Aber schauen wir uns doch einmal um in der Realität: In
Deutschland geht die Gewaltkriminalität zurück. Mir
fällt kaum ein anderes Land auf dieser Welt ein, in dem
ich mich so sicher bewegen kann wie hier,
({20})
obwohl wir keine Vorratsdaten speichern. Tausende von
Menschen wollen gerne unbedingt genau hierher, um
sich endlich einmal sicher zu fühlen; und ich kann sie
gut verstehen. Und bei allem Respekt für meine amerikanischen Freunde: Auf deutschen Straßen fühle ich
mich nicht nur freier, sondern auch erheblich sicherer als
auf amerikanischen Straßen, obwohl die Menge der dort
gespeicherten Daten wohl kaum noch zu toppen ist.
Machen wir uns doch nichts vor: Ein funktionierender
Rechtsstaat ist allemal besser als eine falsche Illusion
von Sicherheit.
Vielen Dank.
({21})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
Dr. Volker Ullrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unsere Freiheit ist ein zerbrechliches Gut, welches durch organisierte Kriminalität, Terroristen und Extremisten bedroht wird. Der wehrhafte Rechtsstaat hat
verantwortungsvoll und besonnen Antworten auf diese
Bedrohungen zu geben.
({0})
Im Grundsatz gilt: Unsere Freiheit bleibt nur bestehen, wenn sie geschützt und verteidigt wird. Daher
schließen sich Freiheit und Sicherheit nicht gegenseitig
aus, sondern sie bedingen sich.
({1})
Wer Freiheit und Sicherheit gegeneinander ausspielt,
dem ist im Ergebnis weder an dem einen noch an dem
anderen gelegen.
({2})
Wer im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung von einer Massenüberwachung spricht, der schürt
durch diese unwahre Behauptung gezielt Ängste - in einer Situation, in der Besonnenheit und Mäßigung angebracht wären.
({3})
Die Vorratsdatenspeicherung als Instrument der Aufklärung und Prävention wird von vielen Fachleuten und
Experten im Bereich der inneren Sicherheit aus guten
Gründen empfohlen. Diese Empfehlung ist übrigens
nicht von der Parteizugehörigkeit, sondern vom Grad der
Verantwortung abhängig. Im Regelfall gilt: Wer mehr
Verantwortung für die innere Sicherheit in diesem Land
trägt, erkennt umso deutlicher die Notwendigkeit von
Mindestspeicherfristen von Verbindungsdaten.
({4})
Das erklärt plausibel, weshalb gerade die verantwortungsbewussten Innenminister, auch die der SPD, diesbezüglich eine klare Haltung besitzen.
({5})
Gewiss, Mindestspeicherfristen von Verbindungsdaten sind kein Allheilmittel. Damit dürften sich nicht alle
schweren Straftaten verhindern und aufklären lassen.
Aber dieses Ziel wird durch gar keine Ermittlungsmethode erreicht. Die Speicherung von Verbindungsdaten
ist zur Entdeckung von kriminellen Netzwerken
schlichtweg notwendig und dient der Aufklärung von
schwersten Straftaten.
({6})
Es kann doch niemandem erklärt werden, weswegen
sich relevante Teile des alltäglichen Lebens ganz selbstverständlich in der digitalen Sphäre vollziehen, der Staat
aber bei der Aufklärung von schwersten Straftaten selbst
in sehr engen Grenzen und nach richterlichem Beschluss
nicht einmal auf Verbindungsdaten zurückgreifen kann,
die zur Rechnungsstellung ohnehin gespeichert werden.
Das versteht niemand.
({7})
Die Debatte ist auch ein willkommener Anlass, um
mit der Legende einer grundsätzlichen Verfassungswidrigkeit der Vorratsdatenspeicherung aufzuräumen. Weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische
Gerichtshof haben die Vorratsdatenspeicherung für
gänzlich unzulässig erklärt.
({8})
Das Bundesverfassungsgericht hat einen möglichen
Rahmen für eine zukünftige Regelung aufgezeigt. Und
eine verantwortungsvolle Politik wird sich daran messen
lassen, ob sie diesen Rahmen einhält und ein verfassungsgemäßes Gesetz vorlegt. Wir werden das tun.
({9})
Wir werden auch nicht auf einen neuen Richtlinienvorschlag der Europäischen Union warten.
({10})
Für manche ist Warten eine taugliche Alternative. Wenn
es aber um die innere Sicherheit und einen wehrhaften
Rechtsstaat geht, dann gilt - das spreche ich deutlich aus -:
Warten ist der falsche Weg. Wir haben die rechtlichen
Möglichkeiten und wir haben die Pflicht, jetzt durch eine
Regelung Flagge zu zeigen. Wir werden nicht sehenden
Auges zulassen, dass die notwendigen Maßnahmen auf
die lange Bank geschoben werden.
({11})
Abschließend sei angemerkt: Die Speicherung von
Verbindungsdaten muss natürlich durch eine bedarfsgerechte Erhöhung der Stellen bei Polizei, BKA und Verfassungsschutz ergänzt werden.
({12})
Der Bund wird nächstes Jahr die Mittel im Haushalt für
Sicherheitsbehörden deutlich aufstocken. Das ist das
richtige und notwendige Signal.
({13})
Meine Damen und Herren, wir stehen zu einem wehrhaften, starken und grundrechtsorientierten Rechtsstaat,
der den Menschen dient, weil er ihre Freiheit schützt.
Wir werden es uns nicht nehmen lassen, das Gebotene
und Notwendige für die Sicherheit der Menschen zu unternehmen.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt
Christian Flisek das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Frage nach der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland
und Europa ist eine seit vielen Jahren hoch emotional geführte Debatte, so auch heute. Das hat Gründe, gute
Gründe. Bereits die ersten gesetzgeberischen Umsetzungsversuche waren von äußerst kontroversen Diskussionen geprägt. Man muss ja aus heutiger Sicht von Umsetzungsversuchen sprechen; denn sowohl der deutsche
Ansatz als auch die europäische Richtlinie wurden von
den jeweils höchsten Gerichten - man kann es nicht anders sagen - in der Luft zerrissen.
({0})
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat bei seiner
Entscheidung im Jahre 2010 klare Worte gefunden. Es
hat in Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung von
„Grundrechtseingriffen“ gesprochen, die mit einer
„Streubreite“ verbunden sind, wie sie die Rechtsordnung
bisher nicht kennt.
({1})
Dass das höchste deutsche Verfassungsgericht hier den
Begriff „Streubreite“ verwendet, zeigt eines deutlich:
dass den ursprünglichen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung etwas nicht Kontrollierbares, etwas Willkürliches anhaftete. Und willkürliche, nicht kontrollierbare staatliche Maßnahmen sind nach unserem
Grundrechtsverständnis unverhältnismäßig und daher
auch nicht mit den Grundsätzen unseres Grundgesetzes
vereinbar.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine uneingeschränkte, anlasslose und flächendeckende Speicherung von Daten
verfassungswidrig ist. Auch wenn sich unser Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof vielleicht nicht immer in allen Fragen einig sind, so sind sie
es zumindest bei der Vorratsdatenspeicherung.
Der EuGH hat in seiner Entscheidung aus dem letzten
Jahr kritisiert, dass die Vorratsdaten-Richtlinie der EU
auch Personen erfasst, bei denen keinerlei Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihr Verhalten in einem auch
nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit
schweren Straftaten stehen könnte.
Gleichwohl haben beide Gerichte - das ist heute auch
schon deutlich geworden - nicht von einem generellen
Verbot jeglicher Vorratsdatenspeicherung gesprochen.
({3})
Es verbleibt also ein sehr enger Möglichkeitsraum, ein
Raum, der durch sehr restriktive verfassungsrechtliche
und europarechtliche Vorgaben abgesteckt ist.
({4})
Insofern verwundert es mich auch nicht, dass nunmehr
die Befürworter einer Vorratsdatenspeicherung - ich
hoffe, Sie hören heraus, dass ich nicht zu den eifrigsten
Befürwortern gehöre ({5})
in Konsequenz dazu aufrufen, diesen Möglichkeitsraum
auch auszuloten.
Ich sage, das kann man machen. Aber jeder, der das
will, muss sich auch darüber im Klaren sein, welche unverhandelbaren Kriterien aufgrund der klaren rechtlichen Vorgaben hierbei zu erfüllen sind.
({6})
Da geht es um kurze Speicherfristen und um eine Differenzierung je nach Art der erhobenen Daten. Da geht
es um eine klare Zweckbestimmung, Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker, also um einen bestimmten Katalog
schwerster Straftaten. Lassen Sie mich auch das sagen:
Dazu gehören Urheberrechtsverletzungen, so wichtig
deren Ahndung auch ist, nicht.
({7})
Da geht es um einen umfassenden Schutz von Berufsgeheimnisträgern, und da geht es auch um die Lösung
des Problems - das wurde heute schon angesprochen -,
dass bereits das erste Speichern der Daten, also die Anlage des großen Heuhaufens, wenn Sie so wollen, den eigentlichen Grundrechtseingriff darstellt. Wir dürfen
nicht so tun, als würden die obersten Gerichte dieses
Landes das anlasslose Sammeln solcher Daten auf Vorrat
ohne Restriktionen erlauben und quasi erst den Griff in
den Heuhaufen als Eingriff bewerten. Das ist eine falsche Auslegung der Urteile.
Wenn das aber so ist, dann stellen die genannten Restriktionen in ihrer Umsetzung erhebliche Probleme dar.
Wie soll ein Berufsgeheimnisträgerschutz bereits beim
anlasslosen Sammeln der Daten gewährleistet sein? Wie
ist ein wirksamer Richtervorbehalt umzusetzen, der
nicht nur die Abfrage von Daten durch Behörden aus
Anlass eines Einzelfalles erlaubt, sondern bereits das Ob
der Speicherung selbst regeln muss?
Vielleicht sind dies alles keine unlösbaren Probleme.
Aber man wird im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung am Ende die Frage stellen müssen: Wenn schon
die alte, große Vorratsdatenspeicherung den Beweis
schuldig geblieben ist, dass sie zur Verbrechensbekämpfung beigetragen hat, dann stellt sich diese Frage erst
recht für eine Vorratsdatenspeicherung light. Wenn am
Ende die Geeignetheit eines solchen Gesetzes infrage
steht, dann sollte man in der Tat einen kurzen Moment
innehalten und sich die Frage nach der richtigen Antwort
auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes stellen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eines
sagen: Die Welt hat sich seit 2006 und 2007 erheblich
verändert. Im NSA-Untersuchungsausschuss arbeiten
wir den gesamten Komplex der Enthüllungen von
Edward Snowden aktuell auf, und wir werden bis zum
Ende der Legislaturperiode brauchen. Doch eines wird
man heute schon sagen können, nämlich dass sich bei
der NSA mit aller Wahrscheinlichkeit die größte Vorratsdatenspeicherung befunden hat, die die Welt je gesehen
hat. Und das hat Konsequenzen - zumindest die, dass die
Bürger in diesem Land sehr genau beobachten, was von
staatlicher Seite, aber auch vonseiten der IT-Unternehmen mit ihren persönlichen Daten passiert. Und das tun
sie völlig zu Recht.
Die Koalition hat vereinbart, dass namentlich der
Bundesinnenminister und der Bundesjustizminister den
sehr engen Möglichkeitsraum nun ausloten sollen. Das
ist kein leichtes Unterfangen. Wir als Parlamentarier
werden diesen Prozess intensiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Alexander
Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir am Ende der Debatte, noch den einen oder anderen Gesichtspunkt, der
formuliert wurde, herauszugreifen. Zunächst einmal
glaube ich, dass trotz aller Emotionen und Zwischenrufe
eine große Gemeinsamkeit über alle Fraktionen hinweg
erkennbar war. Ich glaube, die Gemeinsamkeit ist, dass
wir alle internationalen Terrorismus und schwere Kriminalität wie zum Beispiel Kinderpornografie effektiv
bekämpfen wollen. Wenn das das Ziel ist, meine sehr
verehrten Damen und Herren, dann kann, meine ich, in
einem Rechtsstaat sehr wohl darüber nachgedacht werden, ob dazu die Speicherung von Verbindungsdaten benötigt wird. Bei dieser Frage gibt es zwei Ebenen.
Da ist zunächst die Frage des Ob, also die Frage: Darf
der Staat überhaupt eine Speicherung der Daten vorschreiben? Dass es darüber heute noch, nach zwei
höchstrichterlichen Entscheidungen, ernsthafte Diskussionen gibt, wundert mich.
Erstens können ja diverse Beispiele aus der Praxis
den tatsächlichen und praktischen Nutzen aufzeigen. Ich
will Ihnen ein Beispiel nennen. Mitte 2006 hatte die bayerische Polizei begonnen, gegen einen Pädophilenring
zu ermitteln. Es kam im Folgenden zu circa 1 000 Festnahmen und zur Sicherstellung von circa 1 000 PCs,
1 800 Videos und 45 000 Datenträgern. Allein ein Film
mit hartem kinderpornografischem Material wurde
48 000-mal heruntergeladen. Es war klar - das ließ sich
ermitteln -, dass 7 500 Nutzer aus Deutschland kamen.
Es konnten aber in Deutschland nur 987 Nutzer ausfindig gemacht werden. Das sind gerade einmal 13 Prozent.
Die Zahl hätte sich auch nicht allein dadurch verändert,
dass mehr Ermittler zur Verfügung gestanden hätten.
Zweitens ist bei der Frage des Ob für mich die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wichtig. Denn
er äußert sich - Herr von Notz, Sie haben es vorhin angezweifelt - an zwei Stellen relativ dezidiert zur Frage
des Ob. Er sagt nämlich zum einen, dass die Vorratsdatenspeicherung eben nicht den Wesensgehalt von Grund8872
rechten antastet. Das bedeutet, dass grundsätzlich eine
verfassungskonforme Regelung möglich ist.
({0})
Zum anderen vertritt er die Auffassung, dass die Vorratsdatenspeicherung eine Zielsetzung darstellt, die dem
Gemeinwohl dient, nämlich der Bekämpfung schwerer
Kriminalität und der Herstellung der öffentlichen Sicherheit.
({1})
Wer, meine Damen, meine Herren, auf dieser Ebene
tatsächlich die rechtliche Zulässigkeit bestreitet, der
muss sich die Frage gefallen lassen, ob er ernsthaft
schwere Kriminalität, internationalen Terrorismus und
Kinderpornografie bekämpfen will.
({2})
Denn wer sich dauerhaft die Augen und Ohren zuhält
- und da bleibe ich bei meinem Satz -, der darf sich
nicht wundern, wenn er nichts sieht und nichts hört.
({3})
Nun, meine Damen, meine Herren, kommen wir zur
zweiten Ebene, der Ebene des Wie. Das ist - es ist vorhin angeklungen - durchaus komplexer, weil uns der
EuGH schon Hausaufgaben ins Heft geschrieben hat,
Kollege Flisek hat es angesprochen.
({4})
Aber ich glaube nicht, dass es dabei um Hexerei geht,
und ich glaube auch nicht, dass es die Quadratur des
Kreises ist. Ich will kurz die Gelegenheit nutzen, die fünf
wesentlichen Gesichtspunkte aufzuzeigen, die der EuGH
als Parameter aufgestellt hat.
Er fordert zunächst eine Differenzierung bezüglich
des Personenkreises, der Kommunikationsmittel und der
Verkehrsdaten.
Er fordert dann, dass das Gesetz objektive Kriterien
benennen muss, in welchem Verfahren nationale Behörden auf die Daten zugreifen können. Da steht selbstverständlich der Richtervorbehalt im Raum.
Außerdem ist erforderlich, eine Differenzierung hinsichtlich der Dauer der Speicherung vorzunehmen. Ein
grobes Raster, also etwa „zwischen 6 und 24 Monaten“,
genügt nicht, sondern es bedarf bezogen auf die Straftat
einer verhältnismäßigen Zeitspanne.
Des Weiteren - das, denke ich, ist unser aller Interesse
geschuldet - muss das Gesetz eine Grundlage dafür
schaffen, dass es zu keinem Missbrauch der gespeicherten Daten beim Anbieter kommt.
({5})
Schließlich - das ist der fünfte Gesichtspunkt - ist sicherzustellen, dass die Daten im Gebiet der Europäischen Union gespeichert werden und damit die europäischen Standards für Datensicherheit und Datenschutz
gelten.
Meine Damen, meine Herren, Sie sehen: Wir haben
uns sehr dezidiert damit auseinandergesetzt, was unsere
Hausaufgaben sind.
({6})
Ich bin zuversichtlich, dass wir genau diese Hausaufgaben erfüllen können. Darauf freue ich mich.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Dr. Tim Ostermann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich zu Beginn meiner Rede sagen: Diejenigen Redner,
die sich in der Debatte vehement gegen die Vorratsdatenspeicherung gewandt haben,
({0})
gehen offenbar von einer Grundannahme aus, die wir
nicht teilen können. Diese Redner sehen den Staat als
potenziellen Gefährder, als ein Subjekt, vor dem man die
Bürger schützen muss, ein Subjekt, das die Bürger ausspäht. Ich sage deutlich: Dieses Verständnis steht unserem Verständnis diametral entgegen.
({1})
Denn nicht der Staat ist derjenige, vor dem die Bürger
Angst haben müssen. Nein, es sind die Terroristen, die
Waffenhändler, die Drogenkartelle und die Kinderpornoringe dieser Welt. Hiervor müssen wir unsere Bürger
schützen.
({2})
Es ist der Staat, der die Pflicht hat, zum Schutz und an
der Seite der Bürger alle Mittel zu ergreifen, die sinnvoll
und mit unseren rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar
sind.
({3})
Zu diesen Mitteln gehört auch die Vorratsdatenspeicherung.
({4})
Niemand behauptet, dass es sich dabei um ein Allheilmittel handelt. Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht die
eierlegende Wollmilchsau.
({5})
Ich kenne keinen, der behauptet, dass sie es wäre. Aber
die Vorratsdatenspeicherung ist in viel zu vielen Fällen
das einzige Instrument, das einen Ermittlungserfolg verspricht.
({6})
Dazu ein Beispiel aus der Praxis. Gelegentlich gelingt
es Ermittlungsbehörden auf der ganzen Welt, Kinderpornoringe auszuheben.
({7})
Wir reden hier von sichergestelltem Material, für das
Kinder auf bestialische, kaum vorstellbare Weise gequält
worden sind. Die ermittelten Internetverbindungsdaten
stellen die Behörden dann anderen Staaten zur Verfügung. Die meisten anderen Länder können mit diesen
Daten bis zu 90 Prozent der Verdächtigen überführen.
({8})
In Deutschland sind es regelmäßig nur 10 bis 20 Prozent.
In einem aktuellen Fall konnte von 400 Verdächtigen nur
eine Zahl von knapp 80 Personen tatsächlich ermittelt
werden.
({9})
320 Tatverdächtige konnten nicht behelligt werden,
({10})
in der Hauptsache deshalb nicht, weil es in Deutschland
derzeit keine Vorratsdatenspeicherung gibt. Das ist nicht
hinzunehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({11})
Und nein, die Vorratsdatenspeicherung bringt keine
Generalüberwachung unschuldiger Bürger mit sich. Der
Zugriff erfolgt nur im Einzelfall - bei einem konkreten
Verdacht - und nach richterlicher Anordnung. Ich habe
den Eindruck, dass viele Gegner eine sehr selektive
Wahrnehmung haben. Die Banken beispielsweise müssen sämtliche Kontostammdaten speichern. Der Staat
darf hierauf Zugriff nehmen. Daran stört sich kaum einer
der Gegner. Das hat schon etwas mit Doppelmoral zu
tun.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch einmal zur Erinnerung: Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung nicht per se für verfassungswidrig erklärt. Dies gilt allein für die konkrete damalige
Regelung. Die Auffassung des Gerichts kann man wie
folgt zusammenfassen: Zulässig und sinnvoll, aber nicht
so. - Das gilt im Übrigen auch für die Entscheidung des
EuGH. Dankenswerterweise hat das Gericht gleich auch
konkrete Leitplanken für eine verfassungskonforme
Umsetzung mitgeliefert. Damit steht für uns fest: Bei
Einhaltung dieser Vorgaben kann die Vorratsdatenspeicherung so geregelt werden, dass sie vor dem Verfassungsgericht Bestand hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für das in dieser
Debatte angesprochene Verhältnis von Sicherheit und
Freiheit gilt auch heute noch ein Ausspruch von
Wilhelm von Humboldt. Er hat bereits im 19. Jahrhundert gesagt:
Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine
Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu
genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.
Vielen Dank.
({13})
Danke schön. - Mit diesem Redebeitrag ist nicht nur
die Aktuelle Stunde beendet, sondern wir sind auch am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 19. März 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.