Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich und rufe unseren Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat uns als Thema der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Jahresabrüstungsbericht
2014.
Für den einleitenden Bericht steht der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zur Verfügung. Anschließend werden Fragen dazu und gegebenenfalls sonstige
Fragen an die Bundesregierung aufgerufen.
Herr Minister, bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute hat das Bundeskabinett den 32. Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung verabschiedet. Wie Sie wissen, fällt dieser Bericht in eine außen- und sicherheitspolitisch äußerst brisante Zeit: Konflikte in der Ukraine,
in Syrien und im Irak sowie der Vormarsch von Terrorgruppen wie ISIS im Mittleren Osten oder Boko Haram
in Afrika. Wir sind mit einer Vielzahl von internationalen Krisen konfrontiert, wie es in der jüngeren Vergangenheit geradezu beispiellos ist.
Was den Einsatz der OSZE im Rahmen der UkraineKrise angeht, wird deutlich, welch große Bedeutung der
Rüstungskontrollpolitik in der Tat zukommt. Es wird
aber auch klar, mit welchem Einsatz und welchen Risiken sie verbunden ist. Denken Sie zum Beispiel an die
Geiselnahme deutscher und internationaler Inspektoren
im Frühjahr 2014 in der Region von Luhansk, die am
Ende glücklich ausgegangen ist. Ich will die Gelegenheit
nutzen, um allen beteiligten Soldatinnen und Soldaten
sowie den zivilen Helferinnen und Helfern an dieser
Stelle für ihren Einsatz recht herzlich zu danken.
({0})
Den Dank an die Bundeswehr will ich auf ihre Hilfe,
Unterstützung und maßgebliche Rolle bei der Vernichtung von Chemiewaffen aus Syrien ausweiten. In Kürze
werden hier in Deutschland in der Tat die letzten Reste
von insgesamt 360 Tonnen Senfgas aus syrischen Chemiewaffenbeständen vernichtet sein. Gerade jetzt, wo in
Syrien die neue Bedrohung der ISIS-Banden wütet, wird
vielleicht umso deutlicher, wie unendlich wichtig es ist,
dass wir diese Waffen - hoffentlich noch rechtzeitig aus der Welt geschafft haben.
Auch in den Iran-Verhandlungen gibt es vorsichtige
Anzeichen für Hoffnung. Wer die Verhandlungen der
letzten zehn Jahre in Erinnerung hat, der muss zugeben
- das wurde auch gestern in Genf gesagt -: In den neun
Jahren zuvor sind wir nicht so weit gekommen wie in
den letzten zwölf Monaten. - Zum ersten Mal habe ich
den Eindruck, dass auch die iranische Seite wirklich
ernsthaft mit dem Ziel eines Abschlusses verhandelt. Es
sind nicht alle Hürden überwunden. Aber angesichts des
bisherigen Fortschritts lohnt es sich, um auch die letzten
Hürden in Angriff zu nehmen. Man muss hoffen, dass
Mut, Kreativität, aber auch Bereitschaft aufseiten des
Iran, tatsächlich auf Atomwaffen zu verzichten, ausreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all das sind Krisenherde, auf die wir natürlich aktuell reagieren müssen.
Aber zugleich müssen wir uns fragen: Ist es eigentlich
Zufall, dass so viele und so komplexe Krisen zur gleichen Zeit stattfinden? Ich glaube, es entladen sich systematisch Spannungen in einer Welt, in der uns bekannte
internationale Ordnungsstrukturen an Prägekraft verloren haben und die auf der einen Seite enger zusammenwächst, in der auf der anderen Seite Gegensätze umso
häufiger aufeinanderprallen. Deutschland ist als global
vernetztes Land wie kein anderes auf den Erhalt bzw. die
Stärkung einer regelbasierten Ordnung angewiesen. Deshalb bemühen wir uns um die Stärkung der internationalen Ordnung.
In diesem Zusammenhang sehe ich auch das heutige
Thema Abrüstung. Ganz bewusst habe ich deshalb gestern den Weg nach Genf angetreten und habe dort vor
der Abrüstungskonferenz geredet. Aufgrund der Abrüs8536
tung entstehen seit Jahrzehnten Verträge, Prozesse und
Bausteine der internationalen Ordnung. Vor zwei Monaten trat der internationale Waffenhandelsvertrag ATT in
Kraft, ein Meilenstein für die internationale Regulierung
von Rüstungsexporten, insbesondere von Kleinwaffen.
Genauso wie viele andere Fälle zeigt dieser Fall: In der
Abrüstung findet seit Jahrzehnten das wichtigste Prinzip
für die internationale Ordnung umfassend Anwendung,
nämlich der Multilateralismus. Die Abrüstung ist Teil
der Arbeit an der internationalen Ordnung und Teil der
Arbeit bei der Schaffung internationaler Regeln, die wir
erneuern und stärken müssen.
Zum Schluss. In diesem Hohen Hause genießt die Arbeit für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung seit Jahren einen hohen Stellenwert und breite Unterstützung von allen Seiten. Dafür bedanke ich mich
und setze darauf, dass dies auch im größeren Kontext der
internationalen Friedensordnung und in den wahrhaftig
schwierigen Fragen, die noch auf uns zukommen werden, der Fall sein wird.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Minister. - Ich habe bereits eine
ganze Reihe von Wortmeldungen notiert und bitte die
Geschäftsführer, zu helfen, dass wir niemanden übersehen. Als Erster Herr van Aken.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr
Steinmeier. - Abrüstung fängt bekanntlich zu Hause an;
sonst findet sie gar nicht statt. Ich finde erwähnenswert,
dass Sie in Ihren Ausführungen, aber auch bei den
Schwerpunkten Ihres Jahresrüstungsberichtes 2014 zum
Beispiel auf die Nuklearwaffen im Iran hinweisen, aber
nicht auf die in Deutschland.
Ich frage Sie, Herr Steinmeier: Sind die amerikanischen Atomwaffen mittlerweile aus Deutschland abgezogen, oder sind sie immer noch in Büchel stationiert?
Ich weiß, dass der ehemalige Bundesaußenminister Herr
Westerwelle dies wenigstens zum Thema gemacht hat.
Er hat zwar überhaupt nichts getan, hat es aber wenigstens zum Thema gemacht. Davon finde ich bei Ihnen gar
nichts mehr wieder. Heißt das, dass sie weg sind oder
dass Sie das Thema aufgegeben haben? Sie müssen sich
hier selbst einmal an die Nase fassen. Was tut die Bundesregierung für die nukleare Abrüstung nicht nur im
Iran - es ist völlig richtig, was dort passiert -, sondern
auch in Deutschland?
Herr Minister.
Herzlichen Dank für die Frage. - Das Thema ist keineswegs aufgegeben. Es ist nach wie vor virulent, aber
es ist ebenso schwierig wie in den letzten Jahren. Die
Bundesregierung setzt sich - das wissen Sie; die meisten
wollen es auch wissen - gegenüber den USA und Russland dafür ein, dass Verhandlungen zu verifizierbarer und
vollständiger Abrüstung im substrategischen Nuklearbereich tatsächlich beginnen. Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung dafür, dass der
Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Atomwaffen tatsächlich stattfindet. Wir selbst
sind in der Frage unverändert engagiert. Das Auswärtige
Amt hat gerade erst im letzten Jahr, im März 2014, gemeinsam mit der Stiftung Wissenschaft und Politik ein
internationales Seminar veranstaltet, bei dem Experten
darüber diskutiert haben, auf welche Weise und in welchen Schritten nichtstrategische Nuklearwaffen unter
russischer und amerikanischer Beteiligung abgerüstet
werden können. Immerhin: Das Gute daran war, dass
sich Russen und Amerikaner an dieser Debatte beteiligt
haben.
Frau Finckh-Krämer.
Ich habe drei kurze Fragen. Die erste Frage zur Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative, NPDI. Wird es
dazu vor der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag ein Außenministertreffen geben, und, wenn
ja, mit welchen Themen bzw. welchem Ziel?
Zweitens, Vertrag über den Offenen Himmel. Wie ist
der Stand bei der Beschaffung eines eigenen deutschen
Beobachtungsflugzeuges?
Drittens, der sogenannte P-5-Prozess, der nach der
letzten Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag entstanden ist. Welche Bedeutung für die Überprüfungskonferenz misst die Regierung diesem Prozess
bei?
Erstens. Was ein Außenministertreffen vor der nächsten Konferenz angeht, so wird noch geprüft, ob das sinnvoll ist. Es macht, glaube ich, nur Sinn, die Außenminister
zusammenzubringen, wenn wir von der Expertenebene
das Signal bekommen, dass es Fortschritte auf der Arbeitsebene gegeben hat. Um es in aller Offenheit zu sagen: Das ist bisher noch nicht der Fall. Insofern ist die
Frage nach dem Treffen der Außenminister noch nicht
abschließend mit Nein zu beantworten; aber es muss sich
bis dahin noch etwas bewegen.
Zweitens. Was die Anschaffung eines eigenen Überwachungsflugzeugs angeht, so ist dazu bisher keine abschließende Entscheidung innerhalb der Bundesregierung getroffen.
Drittens. Der P-5-Prozess geht voran. Er widmet sich
den Fragen, die eben in der ersten Frage von Herrn van
Aken schon angesprochen worden sind, und weiteren
noch offenen Fragen, insbesondere der Frage, wie wir
die Staaten, die zwar Atomwaffenstaaten, aber nicht UnBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
terzeichner des Atomwaffensperrvertrages sind, nach
und nach in das Kontrollregime einbeziehen.
Frithjof Schmidt.
Danke. - Herr Außenminister, Sie haben in Ihrem
Vortrag auch die Bedeutung von Kleinwaffen angesprochen, gerade auch die Proliferation von Kleinwaffen.
Die Bundesregierung selbst sagt, dass gerade Staaten mit
fragiler Staatlichkeit besonders unterstützt werden sollten. Welche konkreten Überlegungen gibt es, den Export
von Kleinwaffen restriktiv zu gestalten? Gibt es Fortschritte bei der Markierung von Kleinwaffen? Gibt es
Überlegungen, bestimmte Staaten oder Staatengruppen
zu listen und dann generell den Export von Kleinwaffen
dorthin nicht mehr zu genehmigen? Welche konkreten
Schritte zur Umsetzung der Beschränkung von Kleinwaffenexporten wollen Sie also unternehmen?
Zunächst zu unserem multilateralen Engagement, das
durchaus über die Grenzen unseres eigenen Landes hinaus anerkannt wird. Deutschland hat in den wichtigsten
multilateralen Foren - dazu gehören natürlich zuvörderst
die Vereinten Nationen, aber auch die OSZE - durch inhaltliche und finanzielle Beiträge nicht nur zur Verbesserung der Kontrolle des illegalen Handels, sondern auch
- Waffen sind ja im Verkehr - zum besseren, sicheren
Umgang mit Kleinwaffen ein hohes Profil erworben. Beispiel dafür ist der Einsatz beim letzten Staatentreffen zum
VN-Kleinwaffenaktionsprogramm für den vermehrten
Gebrauch neuer Technologie zur Sicherung von Kleinwaffen vor Diebstahl und unberechtigter Benutzung;
dazu gehört auch die Kennbarmachung der Herkunft von
Waffen.
Das Auswärtige Amt engagiert sich mit über 5 Millionen Euro bei konkreten Projekten zur weltweiten Umsetzung der Vorgaben des Kleinwaffenaktionsprogramms.
Die wichtigen Partner sind dabei das Abrüstungsbüro
der Vereinten Nationen, die OSZE und die NATO.
In dem Abrüstungsbericht selbst, der Ihnen vorliegt,
sind verschiedene Projekte aufgeführt, die wir bilateral
unterstützen, zum Beispiel die langfristige Förderung einer nationalen Kleinwaffenkommission an der Elfenbeinküste, aber auch Projekte in anderen afrikanischen
Staaten, wo Kleinwaffen ein großes Problem sind.
Ansonsten darf ich darauf hinweisen, dass sich diese
Bundesregierung nicht nur einer größeren Transparenz
beim Rüstungsexport, sondern auch einer sehr nachhaltigen Kontrolle möglicher Empfängerländer, gerade bezüglich des Missbrauchs von Kleinwaffen, verschrieben
hat.
Ich möchte noch einmal auf die Zeitvorgaben aufmerksam machen. Ich weiß, dass es bei komplexen Themen ein bisschen schwierig ist, diese einzuhalten. Aber
es gibt so viele Nachfragen, dass gegebenenfalls ergänzende Informationen noch bei der Beantwortung der
nächsten oder übernächsten Frage vermittelt werden
können. - Frau Vogler ist die nächste Fragestellerin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, ich
möchte an das anknüpfen, was Sie eben gesagt haben.
Wie verträgt es sich mit dem Engagement der Bundesregierung gegen die weitere Verbreitung von Kleinwaffen, dass kürzlich bei einem Besuch des Wirtschaftsstaatssekretärs Beckmeyer in Indien auch die Firma
Heckler & Koch Teil der Delegation gewesen ist? Wie
verträgt sich die Tatsache, dass viele Mitglieder dieses
Hauses und auch Mitglieder der Bundesregierung noch
kurz vorher beim Red Hand Day gegen den Einsatz von
Kindersoldaten eingestanden sind, damit, dass die Bundesregierung offensichtlich den Export von Kleinwaffen
durch die Beteiligung dieser Firma an der Wirtschaftsdelegation fördert, und zwar in ein Land, in dem nachweislich Minderjährige in bewaffneten Konflikten eingesetzt werden? Wie verträgt sich das mit der von Ihnen
gerade postulierten Transparenz, dass genau dieser Teil
der Staatssekretärsreise vor der Öffentlichkeit geheim
gehalten wurde?
Ich nehme an, dass Sie diese Frage unmittelbar an
Herrn Staatssekretär Beckmeyer richten wollen. - Wenn
das nicht der Fall ist, dann antworte ich Ihnen gerne wie
folgt: Ich begrüße es sehr, dass sich viele Abgeordnete
nicht nur an der Red-Hand-Diskussion beteiligen, sondern auch Gesicht zeigen und deutlich machen, dass sie
den Export und die Benutzung von Kleinwaffen in falschen Händen möglichst gering halten, wenn nicht sogar
ausschließen wollen.
Was die Reise von Angehörigen der Bundesregierung
in Drittländer angeht: Bei den Reisen von Ministern und
Staatssekretären sind neben Abgeordneten des Deutschen Bundestages Delegationen - in meinem Fall
häufig Kulturdelegationen -, selbstverständlich auch
Wirtschaftsdelegationen, dabei. Daran ist, finde ich,
überhaupt nichts auszusetzen.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Außenminister,
Sie haben in Ihrem kurzen Bericht ein paarmal den Iran
angesprochen. Mich interessiert, ob Sie die Auffassung
Ihres Kabinettskollegen Gabriel teilen, der im Hinblick
auf den Blogger Badawi am Wochenende gesagt hat,
dass man Herrn Badawi am besten helfen könne, indem
man öffentlich nicht über den Fall spricht. - Das ist auch
eine versteckte Kritik an dem unglaublich starken Engagement von Amnesty International und vieler internationaler NGOs, die den Fokus der Öffentlichkeit auf die
dramatische Situation dieses Bloggers in Bezug auf die
Menschenrechtsverletzungen gerichtet haben. Daher interessiert mich: Teilen Sie die Auffassung von Herrn
Gabriel, dass wir das lieber ausschweigen sollten? - Das
betrifft allerdings Saudi-Arabien und nicht den Iran.
Ich glaube, Sie unterstellen Herrn Gabriel etwas, was
er so gar nicht zum Ausdruck bringen wollte. Wenn Sie
mit Ihrer Frage zum Ausdruck bringen wollen, dass es
nur einen richtigen Weg gibt, um den Bedrängten und
- wie in diesem Fall - den Geschlagenen zu helfen, dann
will ich Ihnen sagen: Ich habe gerade gestern Nachmittag in Genf ganz offen mit Amnesty International gesprochen. Es ging nicht nur um den von Ihnen genannten
Fall, sondern auch um die unterschiedlichen Möglichkeiten und Wege, die wir nehmen müssen, um solchen
Menschen in ihrer jeweiligen Situation zu helfen.
Jenseits der etwas plakativen Gegenüberstellungen,
was richtig ist, die öffentliche Pressekonferenz oder der
Versuch, die Kontakte in diese Regionen oder diese Länder zu nutzen,
({0})
wissen die NGOs sehr genau, dass wir sowohl sichtbar
machen müssen, welches Schicksal einzelnen Menschen
in dieser Region droht, als auch andere Möglichkeiten
nutzen müssen, die nicht jeder zur Verfügung hat, um auf
das Schicksal derjenigen anzusprechen und möglichst
Besserung zu erreichen. Ich glaube, das eine gegen das
andere auszuspielen, bringt nichts und hilft insbesondere
den Menschen dort nicht.
({1})
Kollege Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich finde es sehr angemessen, dass wir heute noch einmal daran erinnern, dass
Deutschland einen sehr wichtigen Beitrag bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen geleistet hat,
umso mehr, als sich eine Fraktion mehrheitlich nicht zu
einem Ja durchringen konnte. Das zeigt im Grunde genommen, dass die Abrüstung sehr stark zur Schau gestellt wird, dann aber, wenn es hart auf hart kommt, eine
Zustimmung verweigert wird.
Mich interessiert, Herr Bundesaußenminister, wie
Deutschland gerade hier eine weitere Unterstützung der
Vereinten Nationen bei dem gemeinsamen internationalen Anliegen betreffend Abrüstung und Rüstungskontrolle leisten kann. Vielleicht können Sie insbesondere
darauf noch einmal Bezug nehmen, dass wir leider vor
einigen Monaten erleben mussten, dass durch die Annexion der Krim auch das Budapest-Abkommen verletzt
wurde, wodurch möglicherweise der Verbreitung der
Atomwaffen Vorschub geleistet wurde, weil damals die
Ukraine im Zusammenhang mit dem Budapest-Abkommen die russischen Atomwaffen nach Moskau zurückgegeben hat. An diesen Anlass und diesen Zusammenhang
muss man immer wieder erinnern.
Vielen Dank für die Erinnerung an zurückliegendes
Abstimmungsverhalten, das manchmal merkwürdig
kontrastiert mit den Vorwürfen, die an uns oder die Bundesregierung gerichtet werden. - Ich erinnere daran, dass
wir seit Beginn der Regierungstätigkeit unablässig dafür
geworben haben, dass trotz der schwieriger gewordenen
Zeiten zum Beispiel ein Militärbündnis wie die NATO
das Thema Abrüstung nicht als Projekt verwirft, wohl
wissend, dass es im Augenblick nur schwer vorankommt. Wir haben beim letzten NATO-Gipfel im
Grunde genommen noch einmal die Formulierung aufrechterhalten, dass die in der NATO verbündeten Staaten
über mehr Transparenz und gegenseitige Kontrolle bei
Rüstungsverfahren miteinander ins Gespräch kommen;
dieses Angebot gilt auch für Russland.
Aus den Gründen, die eben genannt worden sind, dem
Völkerrechtsverstoß bei der Annexion der Krim, dem
Verstoß gegen das Budapester Abkommen, sind wir jetzt
in einer Situation, die auch gestern in der Genfer Abrüstungskonferenz eine große Rolle gespielt hat. Das alles
hat in kurzer Zeit so viel Vertrauen zerstört, dass wir auf
vielen anderen Wegen, selbst da, wo in letzter Zeit
leichte Fortschritte erkennbar waren wie beim Umgang
mit spaltbarem Material, im Augenblick zurückfallen.
Insofern müssen wir uns bei der Entschärfung der
Ukraine-Krise möglichst auf eine politische Lösung konzentrieren, um auf anderen Feldern der Rüstungspolitik,
der Rüstungskontrollpolitik und der Abrüstungspolitik
wieder voranzukommen.
Frau Brugger.
Herr Präsident, vielen Dank. - Herr Minister, ich
würde gern an eine Frage anknüpfen, die der Kollege
van Aken gestellt hat. Ich freue mich, zu hören, dass sich
die Bundesregierung dem Ziel des Abzugs der USAtombomben aus Deutschland noch verpflichtet fühlt.
Das konnte man in den letzten Monaten nicht so stark
wahrnehmen. Es ist auch sicherlich gut, dass Sie Verhandlungen zwischen den USA und Russland unterstützen wollen, auch wenn sie derzeit als nicht besonders
wahrscheinlich erscheinen. Trotzdem gibt es weitere
Fragen, die damit zusammenhängen und bei denen sich
die Bundesregierung endlich einmal positionieren
müsste; denn die USA modernisieren ihre Atomwaffen.
Davon sind auch die in Büchel gelagerten betroffen.
Für Deutschland stellt sich ganz konkret die Frage,
wie sich die Bundesregierung zu diesen Modernisierungsplänen verhält. Wird es dadurch, dass diese Waffen
für Milliardenbeträge modernisiert werden, nicht unwahrscheinlicher, dass diese Waffen abgezogen werden?
Ich frage auch vor dem Hintergrund, dass es in den USA
eine Debatte darüber gibt, dass sich die Staaten, in denen
diese Waffen gelagert sind, an den Kosten beteiligen sollen. Dazu, dass Deutschland Bundeswehrpiloten entsprechend ausbildet und den Tornado als Trägermittel für einen möglichen Abwurf dieser Waffen bereitstellt - diese
Modernisierung würde viele Millionen kosten -, hüllt
sich die Bundesregierung aber in Schweigen. Ich glaube,
es wäre wichtig, die Position der Bundesregierung dazu
zu hören; auch das hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu
tun.
Ich darf noch einmal alle Beteiligten bitten, gelegentlich auf die Lampen zu schauen, die der zeitlichen
Orientierung dienen sollen. - Herr Minister.
Abrüstungspolitik hat auch etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun, und ich versuche, Ihnen hier nichts vorzumachen. Deshalb sage ich: Es bleibt ein langfristig anzustrebendes Ziel, möglichst eine nuklearwaffenfreie Welt
zu schaffen und auf dem Weg dahin den deutschen Boden von Nuklearwaffen zu befreien. Aber es muss verhandelt werden. Niemand kann sich Abrüstungsziele
herbeiwünschen, sondern sie müssen, auch hinsichtlich
der Nuklearwaffen, politisch durchgesetzt, also in Verhandlungen erreicht werden. Das ist so einfach nicht
möglich.
Auch wenn Sie daraus einen Vorwurf ableiten, ist es,
glaube ich, verantwortungsvolle Außenpolitik, wenn wir
bezüglich der Ziele, die wir kurzfristig leider nicht erreichen können, nicht täglich mahnend an die Öffentlichkeit treten, sondern uns auf die Bereiche konzentrieren,
in denen wir etwas bewegen können. Deshalb sage ich
noch einmal, genauso wie in meiner Antwort auf die vorangegangene Frage: Wer nicht zur Kenntnis nimmt,
dass der Ukraine-Konflikt im Augenblick der Konflikt
ist, der uns an vielen anderen außen- und verteidigungspolitischen Verabredungen mit Russland hindert, der
sieht nicht, wie bedrohlich dieser Konflikt für die weitere Entwicklung ist, auch in der Abrüstungspolitik. Deshalb müssen wir im Augenblick leider viel Zeit und
Engagement auf die Lösung dieses Konflikts verwenden. Ob der Abzug von substrategischen Nuklearwaffen
dadurch leichter wird, kann ich Ihnen nicht versprechen;
aber das Ziel gerät nicht dadurch aus den Augen, dass
wir uns im Augenblick auf noch drängendere Konflikte
konzentrieren müssen.
Herr Gehrcke.
Schönen Dank, Herr Präsident. - Ich bin friedlich gestimmt in diesen Saal gekommen. Nach der Frage des
Kollegen Mützenich möchte ich zum Ausdruck bringen,
dass ich der Meinung bin, dass wir hier verabreden sollten, über den Jahresabrüstungsbericht im Plenum gemeinsam und seriös zu diskutieren.
({0})
Eine solche Debatte fände ich völlig richtig. Dazu gehören dann auch unser Abstimmungsverhalten und vieles
andere. Wir brauchen völlige Offenheit. Es wäre unseriös, sich schon jetzt intensiv zum Jahresabrüstungsbericht zu äußern, den wir gerade erst erhalten haben.
Ich möchte einer Grundthese, die der Herr Außenminister vorgetragen hat, in Form einer Frage widersprechen. Für mich gehört zur Abrüstung immer auch die
Bereitschaft zur einseitigen Abrüstung. Wenn man Prozesse voranbringen will, muss man bereit sein, in bestimmten Bereichen einseitig voranzugehen, um andere
dazu zu bewegen, dasselbe zu tun. Herr Außenminister,
der Vorstand Ihrer Partei hat beschlossen, ein Konzept
für eine neue Entspannungs- und Ostpolitik vorzulegen.
Das Gleiche hat der Vorstand meiner Partei beschlossen.
Meinen Sie nicht auch, dass es Teil der Abrüstungspolitik ist, über Entspannungs- und neue Ostpolitik gerade
jetzt zu diskutieren? Sie sagen zu Recht - damit komme
ich zum Ende meiner Frage -, dass die Ukraine vieles
blockiert, was eigentlich notwendig ist.
Ich bin nicht nur der Meinung, dass wir darüber diskutieren müssen, sondern ich diskutiere darüber, auch
auf öffentlichen Veranstaltungen, und es gibt Papiere der
SPD dazu. Am liebsten würde ich die Frage an Sie zurückgeben und Sie fragen: Glauben Sie wirklich, dass
der Aufruf nach einseitiger Abrüstung in der jetzigen
Situation, in der sieben Jahrzehnte nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs einseitig durch Russland Grenzen
verschoben werden, richtig ist? Glauben Sie, dass das
das richtige Fundament ist für einseitige Schritte seitens
der NATO, des Westens?
Insofern kann ich nur sagen: Es ist leider ein bisschen
komplizierter. Wenn es uns gelingt, den gegenwärtigen
Konflikt zu entschärfen, wäre das viel. Damit sind wir
noch lange nicht bei einer politischen Lösung. Aber um
das in den letzten zwölf Monaten verlorengegangene
Vertrauen wiederaufzubauen, werden wir möglicherweise Jahre brauchen. Bevor das nicht erreicht ist, befürchte ich, werden die Staaten, die wir meinen, zu einseitigen Schritten nur sehr schwer bereit sein.
Herr Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Außenminister,
Sie hatten vorhin neben der Ukraine noch ein anderes
Thema erwähnt, nämlich die aktuelle Diskussion um den
Iran. Ich komme gerade aus Washington, wo man in den
letzten Tagen sehr viel über eine Rede diskutiert hat und
vor allen Dingen über die Differenzen des israelischen
Premierministers und des amerikanischen Präsidenten
hinsichtlich der Frage, wie der Verhandlungsstand zum
Iran-Deal einzuschätzen ist. Das Einzige, worüber man
Volker Beck ({0})
sich einig ist, ist, dass ein „bad deal“ schlimmer ist als
kein Deal.
Jetzt ist aber natürlich die Frage - das ist ja da auch
strittig -: Welche Kriterien setzt man an, um zu sagen,
dass es ein hinreichender oder guter Deal ist? Ich würde
gerne die Position der Bundesregierung dazu erfragen.
Denn es ist ja ein zentraler Punkt, dass man, um weitere
atomare oder nukleare Aufrüstung in dieser Region zu
verhindern, hier zu einem Ergebnis kommen muss. Ich
würde gerne wissen, welche Vorstellungen von Anforderungen an einen solchen Deal Sie haben, also etwa hinsichtlich Break-out-Zeit für den Iran, Vertragsdauer einer solchen Vereinbarung
Herr Beck.
({0})
- oder Rückbau der jetzt vorhandenen Fähigkeiten
und nuklearen Möglichkeiten des Iran.
Herr Beck, Sie kommen gerade aus den USA. Ich
werde in wenigen Tagen auf dem Weg in die USA sein.
Dort besteht in der Tat großes Interesse, über unsere, die
deutsche Haltung zu dem gegenwärtigen Stand der IranVerhandlungen zu sprechen.
Ich habe vorhin eine Tendenz angedeutet, und ich
sehe, dass es sich lohnt, die jetzt verbleibenden dreidreiviertel Monate, die wir noch bis zur Jahresmitte haben,
zu nutzen. Klar muss sein: Es wird darüber hinaus keine
weitere Verlängerung des Verhandlungsszenarios geben,
weder der Iran ist dazu bereit noch die Amerikaner noch
Dritte. Insofern gilt es jetzt. Was in den nächsten dreidreiviertel Monaten nicht gelingt, wird danach nicht
mehr gelingen. Wir werden dann in einer weiteren Region Zuspitzungen erleben. Dies würde ich gerne vermeiden. Deshalb beteilige ich mich auch nicht an diesen
schlagwortartigen Auseinandersetzungen, wie sie gerne
in der Öffentlichkeit geführt werden. Ein bisschen gehört dazu auch die These: Ein schlechter Deal ist noch
schlechter als gar kein Deal.
({0})
Denn man muss sich ja fragen: Wer ist wirklich auf der
Suche?
Dahinter steckt ja ein Vorwurf, den ich nur ungern tragen möchte, nämlich dass irgendjemand bereit wäre, einen schlechten Deal abzuschließen. Deshalb sage ich
auch in öffentlichen Reden in Israel immer: Es wird keinen guten und keinen schlechten Deal geben, es wird nur
ein Verhandlungsergebnis geben, das ausschließt, dass
sich der Iran in den Besitz von Atomwaffen bringen
kann. Dafür gibt es verschiedene Kriterien, die in Bezug
zueinander stehen. Und ich plädiere tatsächlich dafür,
dass wir nicht jedes dieser Kriterien öffentlich diskutieren.
Vielen Dank.
So, ich habe jetzt noch Wortmeldungen von Frau
Hänsel, Frau Keul, Frau Höger, Frau Brugger und Herrn
van Aken notiert. Damit würde ich gerne die Fragen zu
diesem Bericht abschließen, zumal es noch weitere angemeldete Fragen an die Bundesregierung zu der heutigen Kabinettssitzung gibt und wir uns jetzt schon dem
Ende des Zeitformats, das üblicherweise für die Regierungsbefragung vorgesehen ist, nähern. Wir verlängern
sie dann entsprechend.
Für diese weiteren jetzt angemeldeten und genannten
Fragen halte ich dann aber an unserem Zeitregime für
die Fragen und für die Antworten fest: jeweils eine Minute, danach Ende.
({0})
So, Frau Hänsel.
Danke schön, Herr Präsident. - Es geht hier jetzt ja
um den Jahresabrüstungsbericht. Gleichzeitig, Herr
Minister, erleben wir, dass in der öffentlichen Diskussion massiv die Forderung nach Aufrüstung erhoben
wird, vor allem nach mehr Geld für Militärausgaben. Die
NATO-Mitgliedstaaten sollen 2 Prozent ihres BIP pro
Jahr für Rüstung bzw. für Militär ausgeben. Meine
Frage: Wie beurteilen Sie diese Bestrebungen der
NATO? Denken Sie, dass sie in irgendeiner Form zur
Abrüstung beitragen? Es geht ja auch um die Modernisierung von Waffen usw.
Gleichzeitig erleben wir einen Aufwuchs der Präsenz
von NATO-Truppen in den Nachbarstaaten Russlands
und auch die Verbringung von Kriegsmaterial bzw. von
Waffen in diese Region. Wie wollen Sie denn angesichts
dieses Gebarens der NATO und ihrer Mitgliedstaaten
verhindern, dass es zu einer neuen Aufrüstungsspirale in
Europa kommt?
Ich muss zugeben: Bei dieser Frage ist es schwer, die
Nerven zu behalten.
({0})
Als ob die Aufrüstung vom Westen ausgegangen sei! Sie
vergessen bei der ganzen Beschreibung der gegenwärtigen Entwicklung - auch ich wünschte mir, sie verliefe
anders -, dass dem etwas vorangegangen ist.
({1})
Die Korrektur von Grenzen hat, wie ich vorhin gesagt
habe, sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges stattgefunden, und zwar durch Annexion der
Krim. Dem Nachbarland Russlands, der Ukraine, ist ein
Teil des Staatsgebietes entrissen worden. Sie beklagen
sich aber im Wesentlichen darüber, dass es zu einer verstärkten Präsenz, nicht einmal einer Aufrüstung, der
NATO am Ostrand des NATO-Gebietes - übrigens nicht
darüber hinaus - gekommen ist.
Die NATO bewegt sich also im Rahmen des vertraglich Zulässigen, und zwar im Rahmen des Auftrages, den
sie hat und der darin besteht, ihre Mitglieder tatsächlich
zu schützen.
Vielen Dank.
Insofern kann ich nur sagen: Ich kann verstehen, dass
Sie das Thema Aufrüstung gerne als Thema der NATO
adressieren möchten.
({0})
Nur: Ich befürchte, in Wahrheit ist es ein bisschen andersherum.
({1})
Frau Keul.
Herr Minister, wir sind uns ja völlig einig über die
Bedeutung von Abrüstungsmaßnahmen auch als vertrauensbildende Maßnahmen, gerade in der heutigen Zeit.
Aber genauso einig dürften wir uns über die Bedeutung
der Vereinten Nationen in der heutigen Zeit sein. Deswegen frage ich Sie, wie es vor diesem Hintergrund dazu
passt, dass Sie im Auswärtigen Amt - das haben wir gerade gehört - umstrukturiert haben. Die Abteilung „Abrüstung“ ist zu einer Unterabteilung geworden und mit
der Abteilung „Vereinte Nationen“ zusammengelegt
worden. Können Sie uns versichern, dass die dadurch
freiwerdenden Mittel dem Thema Abrüstung erhalten
bleiben?
Ich darf Ihnen versichern: Mit finanziellen Mitteln hat
das überhaupt nichts zu tun. Die für Abrüstung zur Verfügung stehenden Mittel werden in keiner Weise eingeschränkt. Mit Unterstützung des Hohen Hauses werde
ich auch in den kommenden Haushaltsverhandlungen
darum bemüht sein, die Mittelausstattung weiter zu verbessern.
Die Zusammenfügung der beiden Kompetenzen „Internationale Ordnung“ und „Abrüstung“ stellt keine Abwertung beider Teile dar, sondern nach meiner festen
Überzeugung - ich freue mich darüber, dass das in den
meisten Expertenkommentaren, wie ich vernommen
habe, genauso gesehen wird - eine Verbesserung und
Aufwertung.
Dass es eine eigenständige Abrüstungsabteilung gab,
stammt im Grunde genommen aus einer Zeit, in der wir
noch in Ost-West-Kategorien gedacht haben. Inzwischen
haben wir andere Konfliktlagen. Darum habe ich in meinen Eingangsbemerkungen vorhin gesagt: Abrüstung
liefert im Grunde genommen Bausteine für den Bau einer neuen und hoffentlich stärkeren internationalen Ordnung. Deshalb gehören diese Bereiche zusammen, auch
aufgrund der Kompetenzen, die in der Abteilung „Internationale Ordnung“ vorhanden sind. Ich finde, das war
eine richtige Entscheidung. Ich bin dankbar dafür, dass
die meisten in der Öffentlichkeit das so sehen.
Frau Höger.
Vielen Dank. - Herr Steinmeier, Sie haben auf die
Fragen nach Abrüstung bisher nicht konkret geantwortet. Sie haben keine konkreten Ziele benannt und nicht
gesagt, wo die Bundesregierung wirklich abrüsten will.
Sie haben nur mit Verweis auf Russland erwähnt, dass
jetzt keine Zeit für Abrüstung ist. Sie legen uns somit
heute einen Abrüstungsbericht vor - wir alle haben ihn
noch nicht gelesen -, der wohl nur aus Sprechblasen besteht. Was ist mit der Verpflichtung, pro Jahr im Umfang
von 2 Prozent des BIP aufzurüsten, die die NATO beschlossen hat? Was ist mit den neuen Panzern, die Frau
von der Leyen beschaffen möchte? Ist das Aufrüstung
oder Abrüstung? Wir fordern Abrüstung. Damit fängt
man zu Hause an.
({0})
Ich finde, wenn Sie fragen und ich antworte, dann
sollten Sie meine Antworten wenigstens zur Kenntnis
nehmen. Wenn Sie meine Antworten zur Kenntnis genommen haben, dann verstehe ich nicht, wie Sie sagen
können, dass ich auf Ihre Fragen bisher nicht geantwortet habe. Im Gegenteil!
In der Vorbemerkung habe ich gesagt: Fast unerwartet
und im Vergleich zu den Jahren davor überraschend ist
uns in einem Feld eine Abrüstungsmaßnahme in einer
Größenordnung gelungen, mit der niemand gerechnet
hätte, nämlich die Vernichtung von Chemiewaffen in
Syrien. Das war sogar mit der Bereitschaft Syriens verbunden, dem internationalen Chemiewaffenabkommen
beizutreten. Gelänge uns - jetzt muss ich im Konjunktiv
sprechen - eine Vereinbarung mit dem Iran, wäre das
von der Bedeutung her ein noch größerer Beitrag zur
weltweiten Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Wer vor diesem Hintergrund sagt, ich würde nicht
konkret auf Ihre Fragen antworten, der, finde ich,
({0})
spricht nicht ganz die Wahrheit.
({1})
Frau Brugger.
Herr Präsident! Herr Minister, nochmals vielen Dank.
Leider muss auch ich behaupten, dass Sie auf meine
Frage nicht geantwortet haben. Ich habe vorhin nämlich
nicht nach der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des
Abzuges der US-Atomwaffen aus Deutschland gefragt,
sondern nach der Position der Bundesregierung zu den
US-amerikanischen Modernisierungsplänen, wodurch
diese Waffen ja leistungsfähiger gemacht werden sollen.
Ich habe gefragt, wie sich das auf die Wahrscheinlichkeit
des Abzuges auswirkt und was das finanziell für die
Bundesrepublik heißt - auch vor dem Hintergrund, dass
die SPD das in den vergangenen Jahren ebenfalls sehr
stark kritisiert und gesagt hat: Wir wollen nicht die Trägermittel für noch leistungsfähigere Atomwaffen modernisieren. Das widerspricht auch dem Ziel, diese Waffen
abzuziehen.
({0})
Vielleicht wissen Sie hier mehr als ich. Nach allem,
was ich weiß und was mir an Informationen vorliegt, soll
es keine technischen Verbesserungen im Sinne von
Reichweitenverlängerung und optimierter Einsatzmöglichkeit geben, sondern einen lebensverlängernden Austausch von Materialien, die sozusagen technisch an ihr
Lebensende gekommen sind.
Insofern ist das, was Sie in Ihrer Frage unterstellen,
nämlich dass wir vor einer neuen Aufrüstungsrunde stehen, schlicht und einfach nicht mit den Informationen
übereinstimmend, die ich zur Verfügung habe.
({0})
Herr van Aken.
Herr Steinmeier, um auf den letzten Punkt einzugehen: Ihre Informationen sind da offenbar tatsächlich
nicht ganz korrekt. Es geht auch um eine Erweiterung
der Einsatzszenarien dieser taktischen Atomwaffen. Sie
sollten sich da noch einmal ordentlich briefen lassen.
Das wird dann tatsächlich etwas anderes sein als das,
was bis jetzt dort in Büchel steht.
Ich habe aber eine ganz andere Frage, bei der es um
Drohnen und vollautomatische bzw. vollautonome Waffen geht. Das erwähnen Sie auch in den Schwerpunkten
Ihres Jahresabrüstungsberichtes.
Ich habe mit Freude vernommen, dass Sie sich für
eine internationale Ächtung der vollautonomen Waffensysteme einsetzen. Hier würde mich interessieren: Was
heißt das konkret? Sind Sie als Bundesregierung auch
bereit, hier einen einseitigen Schritt zu machen und die
Entwicklung, den Bau und den Einsatz vollautonomer
Waffensysteme zu verbieten?
Viel spannender finde ich aber, dass Sie im gleichen
Satz im Jahresabrüstungsbericht schreiben, dass das von
den Drohnen völlig zu trennen ist. Das kann ich überhaupt nicht verstehen; denn Sie wissen genauso gut wie
ich, dass bewaffnete Drohnen und Kampfdrohnen
({0})
- ich bin in fünf Sekunden fertig, Herr Lammert - das
Einsatzszenario verändern und dass so natürlich neue
Kriege möglich werden.
Jetzt sind wir in der elften Sekunde.
Sie haben die Frage verstanden, Herr Steinmeier.
Ich bedanke mich.
Bitte.
({0})
Ich habe die Frage verstanden, aber ich bin nicht ganz
einverstanden mit der Unterstellung, dass es notwendigerweise ein und dasselbe ist, wenn wir von Drohnen
und vollautonomen Waffensystemen reden. Das ist möglicherweise die Sprachregelung in Ihrer Fraktion, aber in
den internationalen Debatten, an denen ich mich beteilige, wird hier sehr wohl ein Unterschied gemacht.
Vollautomatische Waffensysteme sind Systeme, die
dem Soldaten die Entscheidung darüber, ob auf den
roten Knopf gedrückt wird oder nicht, abnehmen. Das ist
bei Drohnen nicht notwendigerweise der Fall. Drohnen
- jedenfalls die, die heute im Einsatz sind - können das
nicht und sollen das nach unserer Auffassung auch nicht
können. Deshalb haben wir diesem Punkt schon im Koalitionsvertrag eine sehr herausgehobene Bedeutung zugemessen und dort in Bezug auf die vollautomatischen
Waffensysteme sehr sorgfältig formuliert. Wir entwickeln sie auch nicht. Insofern, glaube ich, besteht kein
Anlass zur Sorge.
Vielen Dank. - Jetzt haben sich zu anderen Themen
der heutigen Kabinettssitzung der Kollege Wunderlich
und die Kollegin Hein zu Wort gemeldet. - Herr Kollege
Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - In der heutigen Kabinettssitzung ging es auch um den Fünften Zwischenbericht
der Bundesregierung zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes. Nun wissen wir seit diesem Zwischenbericht - er liegt uns ja inzwischen vor -: Es fehlen
185 000 Kitaplätze. Die Qualität der Kitas wird darin
überhaupt nicht diskutiert. Uns steht möglicherweise ein
Kitastreik bevor, weil die Beschäftigten mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden sind: zu wenig Personal, zu
große Gruppen.
Durch alle Medien geistert ja immer wieder, dass das
Sondervermögen für den Kitaausbau um 550 Millionen
Euro aufgestockt wird. Diese Maßnahme ist ja schon
längst beschlossen, aber trotzdem fehlen Plätze. Und bis
die weiteren 30 000 Betreuungsplätze realisiert sind,
werden die Kinder der jetzigen Hortkinder selbst schon
einen Anspruch auf einen Kitaplatz haben. Ich frage
jetzt: Was plant die Bundesregierung über die bereits beschlossenen Maßnahmen hinaus, um dem Anspruch insbesondere im Hinblick auf Umfang und Qualität der
Kinderbetreuung gerecht zu werden?
Herr Minister.
Die Frage unterstellt ein wenig, dass wir bisher nicht
auf Qualität geachtet hätten.
({0})
Das ist schlicht und einfach nicht wahr. Wir haben durch
die Maßnahmen, die wir seit 2004 zur Verbesserung der
Betreuungssituation eingeleitet haben, inzwischen
300 000 Kinder mehr in der Betreuung und 65 000 Kinder mehr als noch 2013. Insofern geht der Aufwuchs
schneller voran, als das in den Jahren davor der Fall war.
Vergleicht man die Betreuungsquoten für die unter
Dreijährigen, so stellt man fest: Die Quote ist von
17,6 Prozent im Jahr 2008 auf 32,2 Prozent gestiegen.
({1})
Sie haben recht: Das reicht noch nicht. Eigentlich brauchen wir eine Betreuungsquote von 41,5 Prozent.
Aber was nicht eingetreten ist, ist, dass die Ausweitung der Quantität zulasten der Betreuungsqualität gegangen ist. Es hat keine Absenkung des Qualifikationsniveaus beim pädagogischen Personal gegeben,
({2})
was viele bei dem beschleunigten Aufwuchs befürchtet
haben. Es hat auch keine Verschlechterung des Personalschlüssels gegeben.
({3})
Die Redezeit ist sowieso abgelaufen, sodass der
Streit, ob das alles, teilweise oder gar nicht falsch ist,
müßig ist.
({0})
Wenn Sie die Antwort nicht hören wollen, hätten Sie
das vorher sagen können. Dann hätte ich verzichtet.
({0})
Frau Hein hat die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, ich
frage trotzdem noch einmal nach der Qualität, und zwar
anhand der Personalschlüssel. In dem Zwischenbericht
heißt es, im Durchschnitt komme auf 4,1 Kinder eine
Lehrkraft. Wir wissen aber alle, dass die Personalstandards in den östlichen Ländern deutlich schlechter als in
den westlichen Ländern sind. Wir alle wissen auch, dass
in den westlichen Ländern deutlich mehr Plätze fehlen
als in den östlichen Ländern.
Ich frage Sie: Wie wollen Sie bei der derzeitigen
Personalsituation verhindern, dass sich die Personalschlüssel am Ende doch noch verschlechtern, um den
quantitativen Ausbau hinzubekommen, dass also die
Personalschlüssel eher den östlichen Standards angeglichen werden, anstatt dass umgekehrt die östlichen Standards den westlichen Standards angeglichen werden?
Viele haben am Beginn unseres Vorhabens zum Ausbau der Kinderbetreuung vorausgesagt, dass das notwendigerweise zum Absinken des Qualifikationsniveaus
führen müsse. Viele haben vorausgesagt, dass das zu einer negativen Veränderung bei den Personalschlüsseln
führen würde. Beides ist nicht eingetreten. Seien Sie versichert: Wir werden auch beim Ausbau der noch fehlenden 8, 9 oder 10 Prozent darauf achten, dass das Qualitätsniveau nicht sinkt.
({0})
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Außenminister,
ganz kurze Frage zur Kabinettssitzung: Wie erklären Sie
sich, dass das Programm zur energetischen Gebäudesanierung, dessen Abgesang nun eingeleitet wurde, nicht
auf der Tagesordnung des Kabinetts stand? Der Stopp
für den geplanten Steuerbonus wird ja dazu führen, dass
wir die Klima- und Energieziele, die wir uns gesetzt haben, nicht einhalten werden.
Nicht alles, was heute nicht auf der Tagesordnung
war, ist deshalb als Ziel aufgegeben.
({0})
Das gilt auch für die energetische Gebäudesanierung. Ich
kann versichern, dass der Vizekanzler und zuständige
Minister für Wirtschaft und Energie nicht nur besorgt
sein wird, sondern sich auch darum kümmert, dass es
eine Anschlussregelung geben wird. Details dazu liegen
zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vor, aber sie
wird kommen.
In der Abteilung drei unserer Regierungsbefragung
gibt es die Möglichkeit, sonstige Fragen an die Bundesregierung zu richten. - Herr Kollege Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Im aktuellen Spiegel
steht, dass Sie, Herr Steinmeier, was ich außerordentlich
begrüße, sich mit der Bitte an Frau Grütters gewandt haben, die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische
Gedenkstätten in Dresden weiter zu finanzieren. Diese
Gedenkstätte hat eine Dokumentationsstelle, bei der man
sich nach sowjetischen Kriegsgefangenen erkundigen
kann und über deren Verbleib Auskunft erhält, ähnlich
wie dies früher auch beim Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes in Bad Arolsen für NS-Opfer war.
Diese Stelle wird nun aktuell nicht mehr finanziert; Anfragen werden seit Wochen nicht mehr beantwortet.
Ich möchte wissen, ob Sie innerhalb der Bundesregierung eine Lösung für die Finanzierung sehen und ob Sie
es im 70. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
für ein richtiges Zeichen halten, wenn diese Stelle ihre
Arbeit nicht fortsetzen kann. Das ist ja vielleicht auch
ein wenig Begleitmusik bei allen außenpolitischen
Schwierigkeiten, die gegenüber Russland und der
Ukraine bestehen, sodass man ein bisschen darauf achten sollte, welche Zeichen man setzt.
Vielen Dank. - Richtig ist, dass die Finanzierung bei
der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien in diesem Jahr ausläuft. Gleichwohl spielt das Thema im
deutsch-russischen Verhältnis im Augenblick eine wachsende Rolle, weil auf russischer Seite wenig Verständnis
dafür herrscht, dass im 70. Jahr nach Kriegsende die Forschungen, jedenfalls im gegenwärtigen Format, nicht
weiter finanziert werden; sie könnten möglicherweise
über das Bundesarchiv oder andere vergleichbare Einrichtungen weiter finanziert werden.
Wir sind gegenwärtig bemüht, eine Lösung zu finden,
und werden dazu sicherlich auch in der nächsten Woche
noch einmal zusammenkommen. Ich selbst habe großes
Interesse, dass es eine Lösung geben wird.
({0})
- Ja, gerne.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Außenminister,
meine Frage bezieht sich auf ein außenpolitisches
Thema. Ich würde gern Ihre Einschätzung zu der Agentur zur Modernisierung der Ukraine hören, an der ja die
Kollegen Steinbrück und Wellmann aus dem Deutschen
Bundestag beteiligt sein sollen und die privat von drei
Oligarchen aus der Ukraine finanziert wird, die nicht unbekannt sind. Dazu interessiert mich Ihre Einschätzung
als Außenminister, welche Bedeutung dies sowohl für
uns als auch für die Ukraine hat.
Wir haben vorhin über die außenpolitische Dimension
gesprochen, und ich habe gesagt, prioritär sind im Augenblick die Entschärfung des militärischen Konfliktes
und die Einleitung von Schritten zur politischen Lösung.
Aber wir sollten nicht vergessen: Das große Thema
der kommenden zwölf Monate wird, wenn uns die Entschärfung tatsächlich gelingt, die wirtschaftliche Stabilisierung sein, die aus mindestens zwei Dimensionen besteht: erstens der Reformarbeit innerhalb der Ukraine
und zweitens der Unterstützung durch die internationale
Staatengemeinschaft, die EU, die Vereinigten Staaten,
den IWF und andere, die möglicherweise in Betracht
kommen. Für dieses Vorhaben, die Modernisierung und
Reform der eigenen Wirtschaft, braucht die Ukraine internationale Unterstützung.
Dazu, was mit diesem Gremium, das Sie eben genannt haben, im Einzelnen an Vorhaben und Ideen verbunden ist, weiß ich nicht mehr als das, was auch Sie aus
der Zeitung wissen.
Wir sind damit am Ende der Regierungsbefragung.
Vielen Dank, Herr Minister.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
- Habe ich eine Frage übersehen?
({1})
Herr Minister, dürfen wir die Frage des Kollegen
Koenigs noch aufrufen? - Bitte schön, Herr Koenigs.
Danke sehr, Herr Präsident. - Herr Minister, ist heute
über die rechtliche Grundlage des Deutschen Instituts für
Menschenrechte im Kabinett ein Beschluss gefasst worden? Wenn nein, was ich befürchte: Ist dem Kabinett
klar, welche Blamage uns da droht?
Zum zweiten Teil der Frage: ja. Zum ersten: in den
nächsten Wochen.
Eigentlich hätte diese Frage etwas eher gestellt werden müssen, Herr Koenigs, nämlich im Rahmen der Fragen zur heutigen Kabinettssitzung. Aber wir sind großzügig, und wir haben es so oder so jetzt im Protokoll.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
Drucksache 18/4139
Wir rufen die mündlichen Fragen in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Justizministeriums. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Martina Renner auf:
Sind dem Generalbundesanwalt für das wiederaufgenommene Ermittlungsverfahren zum Oktoberfestattentat inzwischen alle beim Bundesamt für Verfassungsschutz, BfV, und
beim Bundesnachrichtendienst, BND, vorhandenen Akten
und Quellenmeldungen zum Komplex übergeben worden?
Herr Präsident, liebe Kollegin Renner, ich würde
gerne, wenn Sie erlauben, wegen des Sachzusammenhangs die Fragen 1 und 2 gemeinsam beantworten. Gestatten Sie das?
({0})
- Wunderbar. Dann mache ich das gerne.
Dann rufe ich auch die Frage 2 auf:
Sind dem Generalbundesanwalt für das wiederaufgenommene Ermittlungsverfahren zum Oktoberfestattentat die Identitäten sämtlicher V-Personen des BfV und der Landesämter
für Verfassungsschutz und des BND im Komplex offengelegt
worden?
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
hat am 11. Dezember 2014 entschieden, die Ermittlungen wegen des Oktoberfestattentats vom 26. September
1980 wieder aufzunehmen. Anlass hierfür sind die Angaben einer bislang nicht bekannten Zeugin. Bei einer
Befragung hat sie Aussagen getroffen, die auf bislang
unbekannte Mitwisser hindeuten könnten. Die Ermittlungen werden sich nicht auf die Zeugin beschränken.
Der Generalbundesanwalt wird allen Ansatzpunkten erneut und umfassend nachgehen.
Der Generalbundesanwalt hat mit Schreiben vom
17. Februar dieses Jahres sowohl das Bundesamt für
Verfassungsschutz wie auch den Bundesnachrichtendienst um umfassende Mitteilung dort vorliegender Erkenntnisse sowie um Auflistung der dortigen Aktenbestände mit Bezug zum Sprengstoffanschlag auf dem
Oktoberfest in München am 26. September 1980 gebeten. Eine Entscheidung über eine Anforderung konkreter
Aktenteile wird auf Grundlage der entsprechenden Antworten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des
Bundesnachrichtendienstes getroffen werden.
Inwieweit die Ermittlungen im Einzelnen die Offenlegung der Identität von V-Personen erfordern, wird der
Generalbundesanwalt zu gegebener Zeit prüfen. Grundlage hierfür werden insbesondere die Antworten auf die
oben genannten Erkenntnisanfragen sein, die der Generalbundesanwalt zeitgleich neben dem Bundesamt für
Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst
auch an alle Landesämter für Verfassungsschutz gerichtet hat.
Bitte schön, Ihre Zusatzfragen.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, so erfreulich es ist, dass die Generalbundesanwaltschaft die
Wiederaufnahme beschlossen hat und, was längst überfällig war, endlich wenigstens als Option von der Einzeltäterthese abweichen will, so schwierig finde ich Ihre
Antwort insofern, als ich in einer Kleinen Anfrage zu
den im BfV und BND vorliegenden Akten gefragt habe.
Dort gibt es sowohl Bestände zur Wehrsportgruppe
Hoffmann als auch zum Oktoberfestattentat selbst, und
es wird auch auf Quellenmeldungen zum Oktoberfestattentat hingewiesen. Sie werden allerdings in der Antwort
auf die Kleine Anfrage nicht weiter präzisiert. Ich denke,
das sind wichtige Beweismittel, die beim Bundesamt
nicht nur angefragt werden sollten, sondern dringend
beigezogen werden müssen, damit sich der Generalbundesanwalt weitere Tatbeteiligte - auch in der Tatvorbereitung - und einen möglichen auch organisatorischen
neonazistischen Hintergrund dieser Terrortat deutlicher
erschließen kann. Warum ist da noch nicht mehr passiert,
obwohl eigentlich klar ist, was im BfV und im BND zu
der Sache vorliegt?
Frau Kollegin, der Generalbundesanwalt hat sich erst
vor zwei Wochen, am 17. Februar dieses Jahres, mit der
Bitte um umfassende Auskunft an den Bundesnachrichtendienst und an den Verfassungsschutz gewandt. Die
Antworten liegen noch nicht vor. Ich bitte, diese abzuwarten. Danach kann ich Ihnen gerne Bericht erstatten.
Weitere Zusatzfrage.
Ich habe tatsächlich noch zwei weitere Zusatzfragen. - Wir haben das Thema auch schon im Justizausschuss besprochen. Auch dort wurde die Frage der
Quellenmeldungen bzw. Akten im BfV, BND oder möglicherweise MAD schon erörtert. Mir erscheint es relativ
spät, dass man sich erst jetzt schriftlich an die entsprechenden Sicherheitsbehörden gewandt hat. Warum ist da
so viel Zeit verflossen? Diese Frage stellt sich ja nicht
nur aus der Materie selbst, sondern auch aus dem Zusammenhang heraus, dass wir heute, nach der Terrorserie des NSU, einen anderen Blick auf die Aktenführung
in den entsprechenden Behörden haben.
Meine zweite Frage wäre: Inwieweit erwägt der
GBA, ähnlich wie es das BKA im Kontext einer sogenannten NSU/NSDAP-CD getan hat - das BKA ist
selbst ins BfV nach Köln gegangen und hat in den dort
hinterlegten Materialien, also CDs oder Schriften, auch
Quellenberichten, zu möglichen neuen Beweismitteln
recherchiert -, zum Beispiel auch im BfV selbst nach
möglichen weiteren Beweismitteln im Zusammenhang
mit dem Oktoberfestattentat zu suchen?
Frau Kollegin, Sie wissen, dass der Generalbundesanwalt allen anderen neuen Hinweisen nachgehen wird.
Das hat er sowohl in den von Ihnen genannten Ausschusssitzungen als auch öffentlich erklärt. Dem hat
mein Haus nichts hinzuzufügen. Was die einzelnen Ermittlungsschritte anbelangt, nach denen Sie mehr oder
weniger gefragt haben, so wissen Sie, dass die Bundesregierung zu einzelnen Schritten eines noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens nicht Stellung
nimmt.
Sie hatten noch eine weitere Frage? - Nicht. Dann ist
Frau Keul jetzt an der Reihe.
Vielen Dank. - Zu dem Komplex des Oktoberfestattentats habe ich die Nachfrage, ob das Bundesjustizministerium der Auffassung ist, dass der Verfassungsschutz
dann, wenn V-Leute konkret unter Mordverdacht stehen,
Auskunft über diese V-Leute an die Ermittlungsbehörden weitergeben muss.
Sie wissen, Frau Kollegin, dass die Bundesregierung
zu spekulativen Fragen nicht Stellung nimmt.
({0})
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, ich hatte schon einmal mehrere
schriftliche Fragen zu diesem Komplex gestellt. Die haben Sie nur zu einem ganz geringen Teil beantwortet;
insbesondere haben Sie nicht die Frage beantwortet, ob
der Rechtsextremist, der in Niedersachsen ein bzw. mehrere größere Waffenlager seinerzeit unterhalten hat, der
dann festgenommen wurde und im Gefängnis unter mysteriösen Umständen umgekommen ist, Mitarbeiter einer
Verfassungsschutzbehörde gewesen ist. Können Sie der
Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag sagen,
warum dieses Faktum, das Sie mir nicht benannt haben
- Sie haben die Frage nicht beantwortet, ob er das war -,
nach so vielen Jahrzehnten immer noch eine geheimhaltungsbedürftige Information sein soll?
Herr Kollege, auch hier kann ich nur wiederholen,
dass wir uns zu den Verfahren, die der Generalbundesanwalt durchführt, erst nach abgeschlossenen Ermittlungen
äußern. Zu einzelnen Verfahrensschritten äußern wir uns
ebenfalls nicht. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass
ich Ihre Frage insofern nicht beantworten kann.
Frau Pau.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Es kann sein,
dass Sie jetzt Amtshilfe des Kollegen Krings brauchen.
Ich mache Sie nur darauf aufmerksam.
Haben Sie Kenntnis davon, ob beim BND oder auch
im Bundesamt für Verfassungsschutz, nachdem die Wiederaufnahme der Ermittlungen angeordnet wurde, entsprechende Arbeitsgruppen oder Organisationen gebildet wurden, die sämtliches Material, welches infrage
kommt, noch einmal daraufhin sichten, ob gegebenenfalls Beweismittel, die sie benötigen, die aber noch unausgewertet sind oder irgendwo gelagert werden - wir
haben im Fall „Corelli“ Parallelen -, in diesen Ämtern
zur Verfügung stehen und jetzt in dieses laufende Ermittlungsverfahren eingeführt werden können?
Meine zweite Frage in diesem Zusammenhang: Ist
man in Kontakt mit den gegebenenfalls noch lebenden
V-Mann-Führern aus der damaligen Zeit? Befragt man
gegebenenfalls auch diese? Auch hier haben wir eine
NSU-Parallele; denn offensichtlich sind Führer von gewichtigen V-Leuten im NSU-Komplex erst in den Jahren
2014 und 2015 nach neuen Aspekten befragt worden.
Liebe Frau Kollegin Pau, Sie fragen immer wieder
nach einzelnen Ermittlungsschritten des Generalbundesanwaltes, zu denen wir nicht Stellung nehmen können.
Was die Frage nach der Amtshilfe des Bundesinnenministers anbelangt, hat mir der Kollege gerade zugerufen, dass er dazu, jedenfalls spontan, nicht Stellung nehmen kann.
({0})
Frau Haßelmann.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, für mich erschließt sich nicht, warum Sie die Frage meiner Kollegin
nicht beantworten. Frau Keul hat eine ganz konkrete
Frage gestellt, und zwar nach der Auffassung des Bundesjustizministeriums und nicht nach irgendwelchen
Spekulationen. Sie hat ganz klar nach einem Sachverhalt
und der Bewertung des Justizministeriums gefragt. Ich
möchte Sie bitten, jetzt dazu etwas zu sagen.
Frau Kollegin, ich habe Ihrer Kollegin Keul korrekt
geantwortet, dass auf eine Wenn-dann-Frage,
({0})
die sich im Augenblick nicht stellt und die im Übrigen
auf Ermittlungen Bezug nimmt, das Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz nicht Stellung
nimmt.
({1})
Herr Kollege Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Auch ich muss da
nachhaken. Meine Kollegin Pau hat überhaupt nicht
nach Ermittlungsschritten des Generalbundesanwalts gefragt. Sie hat nach „Kenntnis der Bundesregierung“ gefragt: ob der Bundesregierung bekannt ist, dass beim
Bundesnachrichtendienst oder beim Verfassungsschutz
Arbeitsgruppen gebildet worden sind, die diese Akten
sichten und zusammenstellen etc. pp., wie es in ähnlich
gelagerten Fällen auch schon der Fall war. Da gab es
keine Ermittlungen vom Generalbundesanwalt, sondern
die Kenntnis der Bundesregierung zu den mutmaßlich
gebildeten Arbeitsgruppen in den Behörden.
Darauf habe ich Ihnen geantwortet, dass mir der Kollege aus dem Bundesinnenministerium, der hier sitzt, zugerufen hat, dass er dazu nicht Stellung nehmen kann.
({0})
Ich sehe hierzu jetzt keine weiteren Nachfragewünsche.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Anette Kramme zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Klaus Ernst auf:
Würde sich die Bundesregierung der Meinung der Gewerkschaft Verdi anschließen, dass die Praxis der Deutschen
Post AG, befristeten Beschäftigten, deren Arbeitsverträge zum
31. März 2015 auslaufen, eine schlechter bezahlte unbefristete
Anstellung in der neu gegründeten Tochtergesellschaft Delivery anzubieten und damit den gültigen Tarifvertrag zwischen
Deutscher Post AG und Verdi zu umgehen, einen Fall von Tarifflucht darstellt ({0})?
Ich bitte die Staatssekretärin Kramme, die Frage zu
beantworten.
Gerne, Herr Präsident. - Herr Ernst, mir fällt es immer schwer, Fragen zu beantworten, die im Konjunktiv
gestellt sind. Aber ich versuche einmal, Ihre Frage zu
übersetzen. Ich vermute, Sie fragen, ob sich die Bundesregierung einer Kommentierung der Gewerkschaft Verdi
zu tariflichen Vorgängen bei der Post AG anschließt.
Die Vorgänge und ihre Beurteilungen liegen in der
Verantwortung der Tarifvertragsparteien. Mit Rücksicht
auf die grundgesetzlich gewährte Tarifautonomie kommentiert die Bundesregierung grundsätzlich keine Tarifauseinandersetzungen.
Bitte schön, Herr Ernst.
Dann muss ich einfach die Feststellung treffen, dass
die Post zum Teil im Eigentum des Bundes ist. Kann ich
davon ausgehen, dass es der Bundesregierung egal ist,
dass die Post, die zum Teil im Eigentum des Bundes ist,
einen großen Teil ihrer Beschäftigten ausgliedert,
schlechter bezahlt? Wie ist das in Einklang zu bringen
mit der Aussage der Bundesregierung, die Tarifautonomie zu stärken? Ist das nicht ein eklatanter Punkt, an
dem die Tarifautonomie unterlaufen wird und an dem die
Bundesregierung offensichtlich zusieht, wie das passiert?
Herr Ernst, Sie wiederholen nur Ihre Frage. Ich kann
an dieser Stelle wieder nur antworten, dass die Bundesregierung Tarifauseinandersetzungen nicht kommentiert.
Im Übrigen nehmen Sie die Frage 4 vorweg. Aber ich
kann Frage 4 mit Einverständnis des Präsidenten gerne
jetzt schon beantworten.
Von mir aus gerne. Herr Ernst hat dann entsprechend
viele Zusatzfragen.
Ich rufe also die Frage 4 des Abgeordneten Klaus
Ernst auf:
Welche Schritte plant die Bundesregierung angesichts des
Vorhabens der Deutschen Post AG, bestehende Mitbestimmungsrechte und Tariflöhne durch die Tochtergesellschaft
Delivery zu umgehen, um „mit einer klugen Arbeitsmarktpolitik die Weichen für … eine starke Sozialpartnerschaft von
Arbeitgebern und Gewerkschaften“ zu stellen, wie im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD angekündigt?
Bitte schön, Frau Kramme.
Auch an dieser Stelle kann ich nur antworten, dass die
Bundesregierung nicht in Tarifauseinandersetzungen
eingreift, im Übrigen ihre Arbeitsmarktpolitik fortsetzt,
die wir durchaus erfolgreich mit dem Tarifpaket gestartet
haben.
Herr Ernst.
Ich möchte Sie einfach darauf hinweisen, dass es sich
hier nicht um die Kommentierung einer Tarifauseinandersetzung handelt, sondern um die Rolle der Bundesregierung als Miteigentümer der Deutschen Post. Sehe ich
es richtig, dass Sie sich weigern, Ihrer Funktion als Arbeitgeber bei der Deutschen Post in der Weise gerecht zu
werden, dass Sie dem Deutschen Bundestag Rechenschaft darüber ablegen, welche Politik die Bundesregierung bei der Post eigentlich betreibt?
Herr Ernst, Sie bezeichnen das Ganze unter Bezugnahme auf Verdi als „Tarifflucht“ und als Verstoß gegen
einen Tarifvertrag. Insoweit sind dann allerdings tatsächlich die Tarifvertragsparteien zuständig, können gegebenenfalls Klagen einreichen etc. Wir befinden uns also
tatsächlich in der Situation einer Tarifauseinandersetzung. Diese kommentiert die Bundesregierung nicht.
Weitere Frage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, Sie sollen ja auch nicht die Tarifauseinandersetzung kommentieren, sondern das Verhalten der Bundesregierung gegenüber einem Unternehmen, das sich im Eigentum des Bundes befindet und in
dem es Aufsichtsratsmitglieder gibt, die von der Bundesregierung maßgeblich beeinflusst werden. Ich nehme zur
Kenntnis, dass Sie nicht bereit sind, dieses Verhalten des
Arbeitgebers - nicht das Verhalten der Tarifparteien,
sondern ein Verhalten, für das Sie als Bundesregierung
Mitverantwortung haben - vor dem Deutschen Bundestag zu diskutieren. Oder liege ich da jetzt falsch?
Herr Ernst, Sie treffen eine eigene Bewertung. Das
steht Ihnen an dieser Stelle natürlich frei. Es handelt sich
im Übrigen nach Auffassung der Bundesregierung um
die laufenden Geschäfte eines Unternehmens.
({0})
Ich glaube, dass Sie bereits vier Zusatzfragen gestellt
haben, Herr Ernst.
({0})
- Ja, das ist so.
Weitere Wortmeldungen dazu sehe ich nicht.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die
Fragen 5 und 6 des Kollegen Ebner werden schriftlich
beantwortet.
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Zur Beantwortung der
Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Ferlemann zur Verfügung.
Die Frage 7 des Kollegen Hunko wird schriftlich beantwortet.
Dann rufe ich die Frage 8 des Kollegen Krischer auf:
Aus welchem Grund werden vom Bundesministerium für
Verkehr und digitale Infrastruktur gleich drei verkehrspolitische Modellversuche - Ladesäulen für Elektroautos, selbstfahrende Autos, Warnhinweise für Geisterfahrer - an der
Bundesautobahn 9 durchgeführt, und welche konkreten Bedingungen weist diese Autobahn im Unterschied zu anderen
Autobahnen in Deutschland auf, die die Durchführung von
diesen Modellversuchen hier sinnvoll erscheinen lassen bitte für jeden der drei genannten Modellversuche einzeln erläutern?
Herr Ferlemann, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich gebe folgende Antwort auf die
Frage:
Im Straßenverkehr nimmt die digitale Kommunikation einen zunehmend größeren Stellenwert ein. Durch
den Einzug neuer Technologien und Kommunikationssysteme in moderne Fahrzeuge findet eine Vernetzung
statt, die neue Möglichkeiten eröffnet und Mobilität im
Individualverkehr verändert. Um die sich daraus ergebenden Herausforderungen strukturiert und zielgerichtet
analysieren zu können, wird ein digitales Testfeld Autobahn eingerichtet, auf dem die Wirkungen von Innovationen einzeln, aber auch im Zusammenspiel bewertet
werden können. Unter anderem sollen hier automatisierte Fahrfunktionen erprobt werden. Das ist nicht das
autonome Fahren; das fahrerlose Fahren ist nicht Gegenstand dieser Erprobung.
Das Testfeld soll auf der BAB 9 zwischen München
und Nürnberg eingerichtet werden. Bei der BAB 9 handelt es sich um eine hochbelastete Autobahn, die zwei
Metropolregionen miteinander verbindet. Sie ist auf
zahlreichen Abschnitten mit moderner Verkehrsbeeinflussung ausgestattet, die von einer leistungsfähigen Verkehrsrechnerzentrale aus gesteuert wird.
Das Projekt „Schnellladen auf der A 9“ wird im Rahmen des Schaufensters Bayern-Sachsen ELEKTROMOBILITÄT VERBINDET umgesetzt. Es war nicht
Gegenstand einer individuellen Vorauswahl durch das
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, sondern Teil eines umfassenden Gesamtpakets der
Bewerbung der Bundesländer Bayern und Sachsen im
Rahmen des Wettbewerbs zum Schaufensterprogramm
des Bundes 2012. Vergleichbare Projekte bzw. Maßnahmen gibt es auch in anderen Regionen bzw. an anderen
Bundesautobahnen.
Herr Krischer.
Herr Staatssekretär Ferlemann, herzlichen Dank für
diese Ausführungen. - Ich habe nach drei konkreten Projekten gefragt - das basiert auf Pressemitteilungen Ihres
Hauses -: selbstfahrende Autos, Ladesäulen/Elektromobilität und Warnanlagen für Geisterfahrer. Alle wurden
von Ihnen in Verbindung mit der A 9 kommuniziert.
Sie haben jetzt dargelegt: Dieser Autobahnabschnitt
hat besondere Belastungen, weist eine besondere Technik auf. - Ich würde sagen: Wir haben in Deutschland
wahrscheinlich Dutzende Autobahnabschnitte, auf die
ähnliche Kriterien zutreffen. Warum konzentrieren Sie
das an einer Stelle? Wieso werden mehrere Dinge, die
nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen - mir
kann niemand erläutern, was Elektromobilität mit Geisterfahrern zu tun haben soll, außer dass beides auf Autos
bezogen ist -, auf diesem Streckenabschnitt gemacht,
und warum werden die Versuche nicht an anderen Streckenabschnitten gemacht?
Wir können die Versuche - da haben Sie recht - auch
auf anderen Streckenabschnitten machen. Es gibt auf anderen Strecken andere Versuche zur Elektromobilität.
Hier ist es so, dass wir elektronisch versuchen wollen,
Geisterfahrer vom Falschfahren abzuhalten. Weil wir die
technologische Ausstattung an dieser Strecke haben und
das sehr gut darstellen können, wollen wir es an dieser
Strecke ausprobieren. Das schließt aber nicht aus, dass
wir Modellprojekte auch noch an anderen Autobahnstrecken machen, wo gegebenenfalls ähnliche technologische Voraussetzungen bestehen. Nur: Hier ist es besonders gut für diese Modellprojekte.
Bitte.
Noch eine weitere Nachfrage: Wäre das Ministerium
in der Lage, uns eine Auflistung zu geben, welche weiteren Modellprojekte an anderen deutschen Autobahnen
stattfinden, damit wir anhand einer Gesamtübersicht sehen können, welche Modellprojekte in welchen anderen
Regionen bzw. an welchen anderen Autobahnen es gibt?
Das Auskunftsrecht des Parlaments ist unendlich. Der
Aufgabe wollen wir uns gerne stellen. Es handelt sich allerdings um eine sehr große Arbeit. Ich gebe ein Beispiel: An der A 2 testen wir, ob wir mit Telematik nicht
deutlich geringere Unfallzahlen erreichen und die Verkehrsmenge deutlich stärker beeinflussen können. Das
geschieht in diesem Streckenzug über ein ganzes Bundesland - in diesem Fall das schöne Niedersachsen hinweg.
Es gibt viele Projekte, die wir auf den Autobahnen
durchführen. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen alle möglichen Modellprojekte aufzuzeigen. Das ist allerdings, wie
schon gesagt, eine erhebliche Arbeit.
Die Fragen 9 und 10 des Kollegen Stephan Kühn werden ebenso wie die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten
Matthias Gastel schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zu den Fragen 13 und 14 des Kollegen Herbert Behrens. - Er ist nicht anwesend. Es wird
verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Fragen 15 und 16 des Kollegen Dr. André Hahn
werden schriftlich beantwortet.
Wir sind dann mit diesem Geschäftsbereich fertig.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit.
Die Fragen 17 und 18 der Kollegin Sylvia KottingUhl werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 19
der Kollegin Katrin Kunert.
Ich rufe nun die Frage 20 der Kollegin Höhn auf:
Hält die Bundesregierung weiterhin am Ziel fest, wonach
sie eine „Halbierung der CO2-Emissionen der Bundesregierung einschließlich Geschäftsbereich bis 2020 gegenüber
1990“ ({0}) erreichen will, und wie viel CO2-Reduktion
wurde bis zum Jahr 2014 bereits erreicht?
Herr Staatssekretär Pronold, bitte.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte
Frau Höhn, das Ziel der „Halbierung der CO2-Emissionen der Bundesregierung einschließlich Geschäftsbereich bis 2020 gegenüber 1990“ wurde im Maßnahmenprogramm „Nachhaltigkeit“ der Bundesregierung am
6. Dezember 2010 beschlossen. Dies knüpft an die
Selbstverpflichtungserklärung der Bundesregierung vom
18. Oktober 2000 an.
Zahlen zu Emissionen von Treibhausgasen für 2014
liegen bislang generell nicht vor, daher auch nicht für
den Bereich der Bundesregierung. Laut „Energie- und
CO2-Bericht Bundesliegenschaften“ des damaligen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
aus dem Jahr 2012 wird für die Dienstliegenschaften des
Bundes, also die unmittelbare Bundesverwaltung, eine
Senkung der CO2-Emissionen um 66 Prozent gegenüber
1990 ausgewiesen. Der Bericht soll in diesem Jahr durch
unser Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit als energetischer Sanierungsfahrplan Bundesliegenschaften vorgelegt werden. Für 2014
wird ein weiterer Rückgang der CO2-Emissionen in unseren Liegenschaften erwartet.
Frau Höhn.
Danke, Herr Präsident. - Hier geht es um eine Vorbildfunktion. In diesem Sinne möchte ich gerne auf einen Artikel hinweisen, der gestern in der taz stand. Die
Überschrift dieses Artikels lautet: „Schlupflöcher beim
Klimaschutz“. In dem Artikel geht es um einen internen
E-Mail-Verkehr bezüglich der Umweltministerkonferenz, die jetzt auf EU-Ebene stattfinden wird. Offensichtlich ist es so, dass das Wirtschafts- und das Finanzministerium Schlupflöcher eruiert haben. Mit allen
diesen Schlupflöchern würde der Bedarf nach Emissionsreduzierungen bei Verkehr, Landwirtschaft und
Haushalten - so wird aus diesen internen Mails zitiert „sich um etwa 47 bis 103 Prozent verringern“.
Ist dem Ministerium dieser interne E-Mail-Verkehr
des Finanz- und Wirtschaftsministeriums bekannt - ja
oder nein?
Mir ist er zumindest nicht bekannt. Auch in der Vorbereitung auf die Beantwortung dieser Frage ist er mir
nicht bekannt geworden. Den Hinweis auf den Pressebericht nehme ich zur Kenntnis. Ich kann Ihnen aber versichern, dass in unserem Hause geplant ist, den Gebäudebestand weiterhin energetisch zu optimieren. Hierfür
haben wir Nachhaltigkeitskriterien, die wir sehr ernst
nehmen. Wir wollen ohne Rechentricks eine bessere
CO2-Einsparung im Gebäudebestand erreichen.
Frau Höhn, bitte.
Können Sie denn einfach einmal ganz konkret sagen,
wie viele und welche Ministerien inklusive Kanzleramt
Ökostrom beziehen?
Ich kann Ihnen nur anbieten, die Antwort auf diese
Frage nachzureichen. Dies gehört meines Wissens nach
zu den Aufträgen, die im Rahmen des energetischen Sanierungsplanes bearbeitet werden. Wir werden entsprechende Ergebnisse noch dieses Jahr vorlegen. Wenn es
möglich ist, werde ich das eruieren und Ihnen die Antwort umgehend zukommen lassen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 21 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Ab wann wird nach Informationen der Bundesregierung
der Leseraum zur Einsicht in vertrauliche TTIP-Dokumente
- TTIP: Transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen
der Europäischen Union und den USA - in der Berliner USBotschaft eingerichtet sein, und plant die Bundesregierung, an
die US-amerikanische Botschaft auch die Namen nationaler
Parlamentarier als Zugangsberechtigte zu übermitteln, wie
dies die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Transparenzinitiative vorgeschlagen hat?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Frau Höhn, Sie stellen eine Frage zum Thema TTIP
und zur Einrichtung von Leseräumen in der US-Botschaft. Die Antwort der Bundesregierung lautet wie
folgt: Wie andere Mitgliedstaaten hat auch die Bundesregierung dem US-Handelsbeauftragten eine Liste von
Regierungsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern übermittelt, die Zugang zum Leseraum erhalten sollen, und
dabei auch gefordert, Abgeordneten des Deutschen
Bundestages Zugang zu den konsolidierten TTIP-Verhandlungstexten zu ermöglichen. Bislang liegt allerdings
keine Rückmeldung der US-Seite vor.
Auf Wunsch des Deutschen Bundestages ist die Bundesregierung auch bereit, Namen nationaler Parlamentarier an die USA zu melden. Allerdings ist derzeit offen,
ob von der US-Seite nationalen Parlamentariern der Zugang zu Leseräumen gewährt wird.
Herr Präsident, darf ich noch eine Nachfrage stellen?
Ja, klar.
Okay, danke. - Heute Abend findet eine Veranstaltung des Landwirtschaftsministeriums zum Thema TTIP
statt. Nach der Eröffnung durch den Minister ist ein Vortrag von Friedrich Merz als Gastredner zum Thema
„TTIP - Chancen für eine neue Partnerschaft mit den
USA“ vorgesehen. Nun wissen wir, dass Friedrich Merz
seit 2005 für die Kanzlei Mayer Brown LLP arbeitet, die
sich unter anderem auf internationale Schiedsverfahren
spezialisiert hat. Halten Sie das für eine vertrauensbildende Maßnahme?
Ich denke, dass er möglicherweise auch aufgrund seiner vielen anderen Funktionen an dieser Veranstaltung
teilnimmt. Mir obliegt es nicht, dies weiter zu kommentieren. Ich bin nicht der Verantwortliche für Herrn Merz.
Nein, aber der Bundesregierung! Sie sind ein Vertreter der Bundesregierung. Aber ich habe ja kein Recht auf
eine gute Antwort, sondern ich kriege hoffentlich noch
eine gute Antwort.
Aber Sie haben das Recht auf eine Zusatzfrage. Bitte
schön.
Meine zweite Zusatzfrage lautet: Wir wissen, dass es
bei CETA Bereiche gibt, die liberalisiert werden sollen.
Es gibt Negativlisten, die die Bereiche umfassen, die von
der Liberalisierung ausgenommen werden. Jetzt bittet
die EU-Kommission ihre Mitglieder, einige dieser Ausnahmen wieder von der Liste zu nehmen, zu schauen,
was andere Mitgliedstaaten gemeldet haben, und darauf
zu achten, dass möglichst wenig Bereiche auf diese Negativliste kommen. Wie sieht das die Bundesregierung?
Wird sie hier Abstriche machen, was die Ausnahmen bei
CETA angeht?
Die aktuelle Situation bei CETA ist wie folgt, liebe
Frau Kollegin: Im Grunde befinden wir uns in einer abgeschlossenen Verhandlungssituation, in der es ein nachträgliches Verhandeln als solches nicht gibt. Gleichwohl
gibt es natürlich einen Prozess des Legal Scrubbings, in
dem wir uns zurzeit befinden. Wir werden als Bundesregierung alle unsere Möglichkeiten ausnutzen, und zwar
in dem Sinne, den wir gegenüber den Ausschüssen und
dem Parlament auch artikuliert und vertreten haben. Der
Minister ist an dieser Stelle prononciert befragt worden
und hat auch prononcierte Antworten gegeben. Wir werden unsere Möglichkeiten ausnutzen und die deutsche
Interessenlage nachdrücklich vertreten. Dazu gehört
möglicherweise auch das, was Sie angesprochen haben.
Herr Kollege Ströbele.
Herr Staatssekretär, das ist zwar nicht mein Fachgebiet. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, werden
in der US-Botschaft endlich Dokumente zur Kenntnisnahme zur Verfügung gestellt. Jetzt geht es darum, dass
auch deutsche Parlamentarier davon Kenntnis bekommen können. Da verstehe ich nicht: Hat die Bundesregierung diese vertraulichen Unterlagen nicht? Warum
stellt die Bundesregierung diese vertraulichen Unterlagen den Abgeordneten nicht direkt zur Verfügung? Das
gehört doch zu ihren Verpflichtungen.
Herr Abgeordneter Ströbele, es ist etwas komplizierter, als Sie es in Ihrer Frage dargestellt haben. Wir haben
den Abgeordneten des Deutschen Bundestages bereits
zwei Komplexe zur Verfügung gestellt. Das sind faktisch
Papiere über Ergebnisse von abgeschlossenen Verhandlungen. Zurzeit finden wir EU-Papiere mit - parallel
dazu - noch nicht ausverhandelten US-Texten vor. Die
US-Seite hat öffentlich und gegenüber der Kommission
Bedenken geäußert und gesagt, dass sie die US-amerikanischen Verhandlungstexte zurzeit nicht öffentlich kommuniziert wissen möchte. Das ist die aktuelle Lage. Vor
dieser Situation stehen wir.
Nun gibt es eine Verabredung mit Brüssel, dass möglicherweise über US-Botschaften Leseräume eingerichtet werden. Ich persönlich sage Ihnen an dieser Stelle:
Aus meiner Sicht ist es eine Zumutung, von europäischen und deutschen Repräsentanten zu verlangen, in irgendwelche Leseräume zu gehen. Eigentlich gehört es
sich, solche Papiere dem Parlament direkt zur Verfügung
zu stellen. Das ist unser Verständnis davon, wie wir unsere Arbeit tun und tun wollen.
Es ist unser Ziel, dass Europa die Konsultationen mit
den USA vorantreibt. Unsere Position ist - das vertreten
wir auch gegenüber der Europäischen Kommission -,
dass die deutschen Vertreter mit Nachdruck darauf hinweisen, dass in dieser Frage Klarheit hergestellt werden
muss.
Es liegen hierzu keine weiteren Zusatzfragen vor. Mit diesem Thema, Herr Kollege Ströbele, sind wir regelmäßig im Ältestenrat befasst. Mein Eindruck ist, dass
wir da keine unterschiedliche Interessenlage vertreten
und sicherstellen, dass das Parlament über den jeweiligen Verhandlungsstand zeitnah und authentisch unterrichtet wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Frage 22 des Kollegen Oliver Krischer wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Heike Hänsel
auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
Fakt, dass mit Geld aus den Rettungspaketen für Griechenland Rüstungsgüter in Milliardenhöhe von Rüstungsfirmen
gekauft wurden ({0})?
Frau Kollegin Hänsel, Sie fragen mit Blick auf Griechenland nach der Finanzierung von Rüstungsgütern.
Ich antworte für die Bundesregierung wie folgt: Der
Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor,
dass Griechenland derzeit neue Kaufverträge über Rüstungsgüter in Milliardenhöhe, wie Sie es formuliert haben, abschließt, die mit Geld aus den Rettungspaketen finanziert werden sollen.
Der Bundesregierung liegt eine Pressemitteilung eines deutschen Unternehmens vor, aus der hervorgeht,
dass Griechenland 2014 einen Vertrag über den Kauf
von Panzermunition aus deutscher Produktion im Wert
von 52 Millionen Euro abgeschlossen hat. Bei der bestellten Munition handelt es sich um die Erstausstattung
für die von Griechenland gekauften Panzer des Typs
Leopard 2. Ein etwaiger Antrag auf Ausfuhrgenehmigung würde nach den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern vom 19. Januar 2000 sowie den
geltenden Gesetzen und Bestimmungen zur Rüstungsexportkontrolle beurteilt werden.
Frau Hänsel.
Danke schön. - Dann frage ich noch einmal ganz konkret: Können Sie ausschließen, dass die griechische Regierung in der Vergangenheit, seitdem sie im Hilfsprogramm der Euro-Gruppe ist, Geld aus ihrem Budget für
Rüstungskäufe ausgegeben hat?
Aktuell liegen mir dazu keine Erkenntnisse vor.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich möchte dazu die Information geben, dass viele
Rüstungskäufe Griechenlands bei deutschen Firmen mit
massiven Schmiergeldzahlungen in Verbindung standen.
Hier hätte ich gerne eine Bewertung der Bundesregierung, wie sie diese massiven Schmiergeldzahlungen und
die Rolle der deutschen Rüstungsfirmen im Zusammenhang mit den Rüstungskäufen der griechischen Regierung in den letzten Jahren - auch während des Hilfsprogrammes - bewertet. Macht sich die Bundesregierung
im Zusammenhang mit dem Memorandum zum Hilfsprogramm dafür stark, dass keinerlei weitere Rüstungskäufe mit diesen Geldern getätigt werden?
Frau Hänsel, wir haben bereits diverse Fragen zu diesem Thema schriftlich beantwortet. Ich will Ihnen gerne
die Haltung der Bundesregierung, wie sie in den schriftlichen Antworten zu diesem Thema vorgetragen worden
ist, erneut vortragen. Wir verfolgen mit Aufmerksamkeit, was in Medienberichterstattungen über den Vorwurf
rechtswidriger Zahlungen zu lesen ist.
Sollten Zweifel an der Zuverlässigkeit eines der genannten Unternehmen bestehen, u. a. aufgrund belastbarer und konkreter Anhaltspunkte für strafrechtlich relevantes Fehlverhalten,
so werden wir, denke ich, handeln; dann wäre eine solche Ausfuhrgenehmigung nicht gegeben.
Die Bundesregierung sieht hierzu vor dem Hintergrund der bekannten Informationen jedoch derzeit
keine Veranlassung. Auch der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen … ist vergaberechtlich nur möglich, wenn eine rechtskräftige Verurteilung … vorliegt; der Ausschluss aufgrund eines mutmaßlichen
Gesetzesverstoßes ist nicht zulässig.
Frau Keul, bitte sehr.
Ich habe eine Nachfrage und bin der Bundesregierung
bezüglich der Kenntnisse über die U-Boot-Käufe Griechenlands gerne behilflich. Parallel dazu, dass wir hier
im Mai 2010 über die ersten Hilfen für Griechenland diskutiert haben, wurden im Hintergrund neue Verträge
über den Kauf von U-Booten der Howaldtswerke-Deutsche Werft verhandelt. Diese sind nach Verabschiedung
des ersten Rettungspakets gekauft worden:
Von 2002 bis 2013 kaufte der griechische Staat vier
U-Boote der Howaldtswerke-Deutsche Werft im
Wert von 1,14 Milliarden Euro. Dazu 170 Panzer
vom Typ Leopard-2 im Wert von 1,7 Milliarden Euro
sowie dutzende Militärfahrzeuge von Mercedes
Benz. Heute besitzt Griechenland mehr Panzer als
Frankreich, Deutschland und Großbritannien zusammen.
Meine Frage bezieht sich auch auf den EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren. Darin sind bestimmte
Kriterien angelegt. Kriterium acht besagt: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes sollte bei der
Genehmigung von Exporten berücksichtigt werden.
Können wir uns jetzt darauf verlassen, dass wenigstens
zukünftig - ab jetzt - keine Exporte von Rüstungsgütern
nach Griechenland mehr genehmigt werden, die die
Staatsschulden dieses Landes noch weiter erhöhen würden?
Frau Abgeordnete, weil Sie im Grunde wiederum unterstellen, dass das Geld gezahlt worden ist, um damit
Rüstungsgüter zu bezahlen, will ich als Erstes feststellen: Die Euros haben keine Bänder. - Früher haben wir
immer gesagt: Die Mark hat keine Bänder. Insofern: Es
entzieht sich meiner Kenntnis, womit was bezahlt worden ist. Dass es solche Verkaufsprozesse gegeben hat, ist
in den Medien nachzulesen; da haben Sie recht. Mit welchen Mitteln bezahlt worden ist,
({0})
entzieht sich meiner Kenntnis,
({1})
weil ich über den tatsächlichen Staatshaushalt Griechenlands zu wenig Kenntnisse besitze.
({2})
Was ich feststellen kann und muss, ist: Es gibt Politische Grundsätze der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus
dem Jahr 2000. Das ist im Grunde der zu beachtende und
auch vom Wirtschaftsministerium genutzte Maßstab für
die Beurteilung der Ausfuhr von Rüstungsgütern. Insofern haben wir hier Griechenland so zu behandeln wie
einen NATO-Staat; denn Griechenland ist und bleibt
Mitglied der NATO. Insofern haben wir hier eine klare
Rechtssetzung, an die wir uns halten.
({3})
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Ich rufe Frage 24 der Kollegin Hänsel auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der Absichtserklärung, dass die US-Armee ukrainische Einheiten, wie es am 11. Februar 2015 der Oberkommandeur der
US-Streitkräfte in Europa, Ben Hodges, für März 2015 angekündigt hat, ausbilden wird ({0}) und ein weiteres Training plane ({1})?
Frau Professor Böhmer.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, ich
beantworte Ihnen die Frage: Der Bundesregierung sind
die Ankündigungen des US-Militärs bekannt. Darüber
hinausgehende Kenntnisse zu Einzelheiten der geplanten
Ausbildungskooperation hat sie nicht. Die Bundesregierung setzt sich gemeinsam mit der US-Regierung für
eine politische Lösung des Konflikts ein. Grundlage dafür ist die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarung.
Danke schön, Frau Staatsministerin. - Nun haben die
USA angekündigt, dass sie ein Bataillon von Fallschirmjägern in die Ukraine entsenden und auch ukrainische
Artillerieeinheiten ausbilden wollen. Hier geht es also
um eine militärische Ausbildung der ukrainischen Armee. Deshalb möchte ich noch einmal ganz konkret
nachfragen: Wie passt das zu Ihrer Aussage, dass Sie
sich gemeinsam mit den USA für eine politische Lösung
einsetzen wollen? Inwiefern erleichtert die militärische
Ausbildung der ukrainischen Armee vonseiten der USRegierung eine politische Lösung, oder wirkt sie nicht
umgekehrt weiterhin eskalierend?
Frau Kollegin, ich kann für die Bundesregierung nur
erneut betonen: Für uns ist klar, dass es für diesen Konflikt keine militärische Lösung gibt. Daher setzen wir
uns mit allem Nachdruck für eine politische Lösung ein.
Das spiegelt sich in unserem Handeln wider. Das spiegelt sich in der Initiative der Bundeskanzlerin wider. Das
spiegelt sich auch im nachdrücklichen Einsatz unseres
Bundesaußenministers wider. Sie wissen, dass allein
deshalb die jüngsten Minsker Vereinbarungen zustande
gekommen sind, und ich kann nur an alle Partner appellieren, diese Minsker Vereinbarungen auch wirklich umzusetzen.
Wenn Sie sagen, dass es eine enge Abstimmung mit
dem NATO-Partner USA gibt, heißt das dann, dass die
Bundesregierung ihr Einverständnis gegeben hat, dass
die US-Regierung Soldaten zur Unterstützung der militärischen Ausbildung in die Ukraine schickt? Ich frage
Sie ganz konkret: Ist die Bundesregierung damit einverstanden?
Frau Kollegin, wenn ich schon am Anfang sage, dass
uns die Ankündigungen bekannt sind, wir aber keine darüber hinausgehenden Kenntnisse haben, dann erschließt
sich doch, dass die von Ihnen gestellte Frage nur mit
Nein beantwortet werden kann. Wir haben keine Kontakte, wir sind auch nicht gefragt worden.
Ich möchte eines hinzufügen: Mir liegt eine Meldung
von Reuters von gestern vor, in der es heißt:
Russland unterstützt die Separatisten im Osten der
Ukraine nach Einschätzung des US-Militärs mit
etwa 12 000 Soldaten.
({0})
Es handle sich um eine Mischung aus russischen
Militärberatern, Bedienpersonal für Waffen und
Kampftruppen …
Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu zitieren.
Weitere Zusatzfragen hierzu gibt es nicht.
Die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Omid
Nouripour sowie die Frage 27 der Abgeordneten Sevim
Dağdelen werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Die Frage 28 der Abgeordneten Sevim Dağdelen, die
Frage 29 des Abgeordneten Volker Beck, die Frage 30
der Abgeordneten Katrin Kunert und die Frage 31 der
Abgeordneten Ulla Jelpke werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Welche Sofortmaßnahmen ergreift die Bundesregierung
nach den Berichten, dass die Geheimdienste National Security
Agency, NSA, und Government Communications Headquarters, GCHQ, 2010/2011 die Chips, „Encryption Keys“, in
SIM-Karten von Telekommunikationsgeräten sowie mutmaßlich auch Reisepässe und Personalausweise ausspähten ({0}) - was entgegen der Annahme des betroffenen Herstellers Gemalto weder kurzfristig festgestellt noch durch Verschlüsselungsalgorithmus ausgeschlossen werden könne ({1}) -, um
nun der Gefahr zu begegnen, dass diese Dienste auch Kommunikation von Personal in Bundesregierung und Bundesbehörden mit bislang als sicher geltenden Geräten ausforschen
sowie Dokumente mit solchen Chips missbrauchen können,
und inwieweit waren unter Umständen auch deutsche Stellen
an der erstgenannten Ausspähung zusammen mit jenen ausländischen Diensten beteiligt?
Zur Beantwortung steht Staatssekretär Krings zur
Verfügung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Ströbele, zunächst einmal
vielen Dank dafür, dass Sie - im Gegensatz zu den anderen sechs Fragestellern, deren Fragen schriftlich beantwortet werden - bei der Stange geblieben sind und dass
ich die Gelegenheit bekomme, Ihre Frage mündlich zu
beantworten. Das tue ich gerne.
In Ihrer Frage geht es um den sogenannten GemaltoHack, also um den vermeintlichen oder tatsächlichen
Angriff auf SIM-Karten, worüber wir alle in den Medien
gelesen haben. Ich darf dazu wie folgt antworten: Es ist
bekannt, dass handelsübliche, nur durch schwache Verschlüsselungsverfahren geschützte Mobilfunktelefonie
mit gewissen Aufwänden abgehört werden kann. Für die
Übertragung von sensiblen Informationen in der Bundesverwaltung ist derartige Mobilfunktelefonie daher
nicht geeignet, sofern keine zusätzlichen Schutzmaßnahmen ergriffen werden.
In der Bundesverwaltung werden - um derartigen Risiken zu begegnen - für die sensible Kommunikation
seit Jahren moderne und vom BSI zugelassene Kommunikationsgeräte eingesetzt, mit denen sicher verschlüsselt und folglich gesichert kommuniziert werden kann.
Die Sicherheit dieser Geräte ist nach hier vorliegenden
Kenntnissen durch den genannten Angriff nicht beeinträchtigt. SIM-Karten des Herstellers Gemalto werden in
diesen Geräten nämlich nicht eingesetzt.
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, ich finde es ja schön, was Sie für
die Bundesregierung und die Bundesbehörden gesagt haben. Aber gerade gestern oder heute, glaube ich, ging
eine Meldung durch die Zeitungen, dass selbst bei sogenannten Kryptotelefonen, von denen ich auch eines
besitze und über das auch der Vorsitzende eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses offensichtlich
verfügt, der Verdacht besteht, dass jemand versucht hat,
sich da Zutritt zu verschaffen. Damit nicht genug: Als er
das dann zur Untersuchung zum BSI nach Bonn geschickt hat, ist dieses Päckchen sogar noch von irgendjemandem geöffnet worden.
Die Frage ist also: Woher nehmen Sie die Sicherheit,
dass die SIM-Karten, die in diesen Telefonen angeblich
noch über das Normale hinaus gesichert sein sollen,
auch funktionieren?
Sie haben ja ganz konkret danach gefragt, ob es
Sofortmaßnahmen im Anschluss an den sogenannten
Gemalto-Hack gibt. Darauf habe ich geantwortet, dass
wir diese SIM-Karten nicht benutzen, sondern andere Instrumente nutzen, die davon nicht betroffen sind, die
auch höheren Sicherheitsanforderungen genügen, die
kryptieren. Niemand kann eine hundertprozentige Sicherheit geben; das ist, glaube ich, auch ganz klar. Bei
Fragen der IT-Sicherheit und -Absicherung befinden wir
uns natürlich in einer Art Katz-und-Maus-Spiel: Wir
versuchen, immer stärkere Sicherheitsmaßnahmen einzubauen, und umgekehrt gibt es verschiedenste Akteure
von außen, die versuchen, diese Sicherheitsmaßnahmen
zu durchbrechen. Insofern gibt es natürlich keine hundertprozentige Sicherheit.
Aber zu dem, was von Ihnen hier als konkreter Sachverhalt noch einmal zitiert worden ist, also dem, was die
in den Niederlanden sitzende und in Frankreich produzierende Firma als Angriff offenbar hat erleiden müssen,
wobei nicht klar ist, wie erfolgreich dieser Angriff war,
gibt es auch unterschiedliche Aussagen. Diese Art von
Angriff betrifft die Handys und Kommunikationsmittel
innerhalb der Bundesregierung, nach denen Sie gefragt
haben, nicht; da können Sie sicher sein.
Eine weitere Zusatzfrage.
Nun behauptet ja die Firma Gemalto, dass sie es bei
ihren Chips ausschließt, nachdem sie es überprüft hat.
Dies wird aber von Fachleuten bestritten; die Quellen
habe ich in meiner Frage genannt. Welche Auffassung
hat denn die Bundesregierung dazu? Kann diese Auskunft der Firma Gemalto überhaupt stimmen? Kann man
in kurzer Zeit tatsächlich feststellen, ob so etwas millionenfach passiert ist oder nicht?
Die Aussage der Firma Gemalto geht in die Richtung:
Wir wurden zwar als Unternehmen angegriffen; aber nur
unsere Bürokommunikation ist angegriffen wurde, nicht
unsere Fertigungsteile. Man konnte zwar offenbar in unsere Bürosysteme hineingehen oder hat es jedenfalls versucht; aber da, wo diese SIM-Karten produziert worden
sind - die sind ja das sensible Teil, das auch in vielen
deutschen Handys eingebaut ist -, hat der Angriff nicht
stattgefunden, jedenfalls nicht erfolgreich. - So die Aussage der Firma Gemalto.
Wir sind zurzeit in Gesprächen und in intensiver Abstimmung mit unseren Partnerbehörden in den Niederlanden, wo die Firma ihren Sitz hat, und in Frankreich,
wo die Produktionsstätten sind, um dies zu verifizieren
oder zu falsifizieren. Noch können wir Ihnen also keine
Antwort darauf geben, ob die Aussage von Gemalto zutrifft oder nicht.
Frau Hänsel.
Danke schön. - Ich habe noch einmal eine generelle
Frage, weil ich es natürlich als etwas absurd empfinde,
dass Sie sich jetzt hier in die Einzelheiten des Forschens
hineinbegeben müssen, wie man diese SIM-Karten vielleicht wieder sicher machen kann usw. Wie bewertet
denn die Bundesregierung eigentlich die Meldungen,
dass es vonseiten des US-amerikanischen und des britischen Geheimdienstes dieses Knacken der SIM-Cards
gegeben hat? Ich habe in den Medien eigentlich so gut
wie keine Bewertungen, Stellungnahmen der Bundesregierung gelesen. Vielleicht können Sie mich da noch einmal auf den aktuellen Stand bringen. Wie ist die politische Bewertung dieses Vorgehens der Geheimdienste?
Ich habe eben darauf hingewiesen, dass wir bisher
nicht einmal wissen, wie erfolgreich dieser Angriff bezogen auf die SIM-Karten war. Das Gleiche gilt für die
Urheberschaft dieses Angriffs. Natürlich gibt es Vermutungen, die auch in den Medien kursieren. Da gibt es ja
die üblichen Verdächtigen, die dann genannt werden,
vielleicht mit Anhaltspunkten, vielleicht auch ohne Anhaltspunkte. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht
sagen, wo die Urheberschaft eines solchen Angriffes zu
sehen ist, zumal wir gar nicht wissen, welches Ausmaß
er angenommen hat.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Ströbele auf:
Welche Angaben macht die Bundesregierung zur Entwicklung und zum derzeitigen Stand der „automatisierten und systematischen Gewinnung, Verarbeitung und Auswertung von
Massendaten aus dem Internet“, wie „zentral“ vor allem etwa
„Kontaktlisten und Beziehungsgeflechte in … sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder YouTube“, durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz ({0}), welches solche
selbst so formulierte Überwachung im Rahmen seiner neuen
Referatsgruppe „Erweiterte Fachunterstützung Internet“ Berichten zufolge ({1})
mindestens seit 2013 betreibt, und inwieweit berücksichtigt
das BfV dabei - neben politischen Bedenken dagegen - auch
die Rechtslage, dass es keine Massendaten über solche Kommunikation abfangen darf, sondern sich lediglich gemäß § 3
des Artikel-10-Gesetzes ({2}) die Überwachung von ({3})Verbindungen einzelner Teilnehmer durch
die G-10-Kommission genehmigen lassen darf?
Herr Präsident! Herr Kollege Ströbele! Meine Damen
und Herren! In der Frage geht es um eine Arbeitseinheit
beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Einleitend möchte
ich eine Mitteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 26. Juni 2014 zur Einrichtung der in der
Frage thematisierten Referatsgruppe „Erweiterte Fachunterstützung Internet“, EFI, zitieren:
Ziel ist es, die bereits vorhandenen Daten besser
auszuwerten. Im Bereich der digitalen Kommunikation handelt es sich dabei um Daten, die das BfV
gemäß seinen Befugnissen nach dem G 10-Gesetz
bereits erhoben hat. Die Datenerhebungsgrundlage
selbst wird dadurch nicht ausgeweitet.
Das BfV führt Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen ausschließlich bezogen auf Einzelpersonen
und auf Grundlage des § 3 G-10-Gesetz oder des § 8 a
Absatz 2 Nummer 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes - Auskunftsersuchen zu Telekommunikationsverkehrsdaten - durch. Zwingende Voraussetzung für beide
Maßnahmen ist das Vorliegen bestimmter einzelner
Kommunikationskennungen. Das sind beispielsweise
Rufnummern oder E-Mail-Adressen, die überwacht werden sollen. Zudem müssen die entsprechenden materiellen Voraussetzungen gemäß § 3 G-10-Gesetz bzw. § 8 a
Bundesverfassungsschutzgesetz im Einzelfall vorliegen.
Bei jeder einzelnen Maßnahme bedarf es der Prüfung
und Zustimmung durch die G-10-Kommission als unabhängigem parlamentarischem Kontrollorgan. Dementsprechend führt das Bundesamt für Verfassungsschutz
gerade keine massenhaften, anlasslosen, verdachtsunabhängigen oder sonst ungezielten Maßnahmen gegen eine
Vielzahl oder beliebige Grundrechtsträger durch.
Die genannte Referatsgruppe „Erweiterte Fachunterstützung Internet“ befindet sich im Aufbau. Ein entsprechender Aufbaustab wurde am 1. April 2014 gegründet.
Die Arbeit der Referatsgruppe - das gilt insbesondere
für die Auswertung und Analyse von Internetdaten, zum
Beispiel der Kommunikation in sozialen Netzwerken basiert ausschließlich auf Daten, die auf geltender
Rechtsgrundlage erhoben werden.
Herr Kollege Ströbele.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden?
Sie behaupten, dass lediglich die Daten aus Facebook
und den anderen sozialen Netzwerken analysiert und
verarbeitet werden, die vorher aufgrund einer Anweisung der G-10-Kommission erhoben wurden?
Es gibt keine strategische Netzüberwachung, wie wir
das aus den USA gehört haben. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist nicht die NSA. Beide haben ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Das dürfen Sie ruhig
für bare Münze nehmen. Das heißt, dass es immer eine
konkrete Rechtsgrundlage gibt. Ich habe das G-10-Verfahren angesprochen. Die Daten, die auf Basis dieser
Rechtsgrundlage vor einigen Monaten oder einigen Jahren erhoben wurden, sollen durch diese Referatsgruppe
besser ausgewertet und analysiert werden können.
Ich will das noch einmal präzisieren: Es werden keine
persönlichen Daten aufgenommen, ausgewertet und
möglicherweise gespeichert, deren Erhebung nicht durch
die G-10-Kommission angeordnet und legitimiert
wurde?
Ich habe die Norm eben zitiert.
({0})
Nach meinem Kenntnisstand sind alle Daten im Rahmen
eines G-10-Verfahrens erhoben worden. Wichtig ist - ich
sage das, um nicht aufs Glatteis zu geraten -, dass überall eine Rechtsgrundlage vorhanden sein muss. Nach
meinem Kenntnisstand ist das ein G-10-Verfahren. Es
mag auch Rechtsgrundlagen geben, bei denen ein G-10Verfahren nicht erforderlich ist. Aber alle Daten, die auf
Basis der bisherigen Rechtsgrundlage, die im Rahmen
eines rechtsstaatlichen Verfahrens erhoben werden konnten, sollen jetzt mithilfe dieser neuen Arbeitseinheit ausgewertet werden. Das ist eine Umorganisation innerhalb
des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Daten, die ohnehin auf rechtmäßiger Grundlage erhoben werden, werden nun vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der
Erkenntnisse und mit moderner Technik ausgewertet.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Die Frage 34 des Abgeordneten Andrej Hunko und
die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Hubertus
Zdebel werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Wir unterbrechen die Sitzung bis zum Beginn der Aktuellen Stunde, bis 15.30 Uhr.
({0})
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Auswirkung der Ermordung des russischen
Politikers Boris Nemzow auf die Politik Russlands
Ich eröffne die Aussprache. - Als erster Redner hat
der Abgeordnete Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern haben wir Abschied vom russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow genommen. Es war ein eindrucksvoller Akt der Trauer, als Tausende von russischen Menschen an dem aufgebahrten Leichnam im
Andrej-Sacharow-Zentrum in Moskau vorbeizogen, um
Boris Nemzow die letzte Ehre zu erweisen. Viele von ihnen haben dafür stundenlang in der Kälte ausharren müssen. Es waren auch zahlreiche Ausländer dabei, darunter
Teilnehmer aus allen 28 EU-Staaten.
Ich habe als Vertreter der Bundesregierung an der
Panichida, der russisch-orthodoxen Totenmesse, für
Boris Nemzow teilgenommen, gemeinsam mit unseren
ehemaligen Bundestagsmitgliedern Sabine LeutheusserSchnarrenberger und Wolfgang Gerhardt von der FDP
sowie dem deutschen Botschafter von Fritsch.
Unser allererster Gedanke der Anteilnahme gilt der
Familie, den Angehörigen und den Freunden von Boris
Nemzow, aus deren Mitte er plötzlich und unerwartet
durch einen feigen und heimtückischen Mord herausgerissen wurde. Dann fällt unser Blick auf den Verlust, den
diese vier Kugeln der russischen Opposition, aber auch
ganz Russland zugefügt haben.
Ich habe Boris Nemzow persönlich schon Anfang der
90er-Jahre als blutjungen Gouverneur von Nischnij
Nowgorod mit seinem unbändigen Lockenkopf, mit seiner schwarzen Lederjacke, von der er sich nie trennen
wollte, und seiner Reformbegeisterung, mit der er westliche Investoren für seine Region zu gewinnen versuchte,
kennengelernt. Persönlich war er in diesen Jahren erfolgreich. Er stieg 1997/98 zum Vize-Ministerpräsidenten
auf, aber auch er wurde wie seine wirtschaftsliberalen
Mitstreiter Gajdar, Tschubajs, Jawlinskij und andere Opfer einer tragischen Entwicklung, dass nämlich die Menschen in Russland die ersten Schritte zur Demokratie
und Marktwirtschaft als Verlust ihrer sozialen Sicherheit
verbunden mit Rubelabsturz und Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern erleben mussten.
Diese Schulterlast konnte die Reformergeneration
von Nemzow nie mehr abwerfen. Da half auch nicht die
Gründung immer neuer oppositioneller Parteien, die
eher zur Zersplitterung beitrugen. Boris Nemzow hat
sich trotzdem nie entmutigen lassen. Er wurde zu einer
unerschrockenen Stimme der Kritik am politischen Establishment. Er machte all denen Mut, die sich ein künftiges Russland ohne Demokratie, ohne Bürgerrechte, ohne
Freiheitsrechte nicht vorstellen konnten. Zuletzt hat er
schonungslos die aktuelle Ukraine-Politik von Präsident
Putin öffentlich angegriffen. Vielleicht musste er deshalb
sterben. Es gibt viele Spekulationen. Sich an ihnen zu
beteiligen, hat keinen Sinn.
Aber eines ist mit Händen zu greifen: Dieser zynische
Mord hat etwas mit der künstlich aufgeheizten und aggressiven Atmosphäre in einem Land zu tun, in dem sich
NGOs mit internationalen Verbindungen selber zu ausländischen Agenten erklären müssen und in dem der Präsident alle, die seinen Kurs kritisieren, als Nationalverräter und Anhänger einer fünften Kolonne ins Abseits
stellt. Wo ein unerklärter Krieg im Nachbarland geführt
wird, können Nationalverräter nicht geduldet werden.
Eine solche Sprache allein kann tödliche Folgen haben,
wenn sie unbequeme Stimmen kriminalisiert und letztlich für vogelfrei erklärt. Deswegen ist es unverzichtbar,
die russische Führung aufzufordern, alles nur Mögliche
zu veranlassen, um den Mörder und seine Hintermänner
dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen.
({0})
Aber es ist ebenso unverzichtbar, eine Änderung der
gesellschaftlichen Atmosphäre einzufordern, die Hemmungen abbaut, auf vermeintliche Vaterlandsverräter
loszugehen, auf Bürgerinnen und Bürger, die in Wirklichkeit nur von ihrem verbrieften Recht, eine andere
Meinung zu haben und diese auch öffentlich kritisch zu
äußern, Gebrauch machen. Von dieser Debatte im Deutschen Bundestag sollte - das wünschte ich mir - ein starkes politisches Signal in diese Richtung ausgehen.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Danke sehr, Herr Präsident. - Ich glaube, dass es gestattet sein muss, zu Beginn dieser Debatte ein Wort über
die eigenen Gefühle zu sagen. Die Nachricht vom Mord
an Boris Nemzow - ich denke, dass man den Begriff
„Mord“ benutzen muss
({0})
und nicht nur von „Tod“ reden darf - hat bei mir Entsetzen, Nachdenklichkeit, den Versuch, etwas innezuhalten,
Fassungslosigkeit und Trauer ausgelöst. Ich denke, es
war richtig, dass sich der Bundestag entschlossen hat,
heute eine Aktuelle Stunde dazu durchzuführen, damit
wir darüber reden.
Ich möchte gern, dass die Bürgerinnen und Bürger in
Russland verstehen, dass diese Aktuelle Stunde nicht gegen sie gerichtet ist, sondern dass wir im Rahmen dieser
Aktuellen Stunde Trauer und Nachdenken mit ihnen teilen wollen. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger
Russlands nicht belehren, sondern wir möchten mit ihnen zusammen auf eine Veränderung des politischen Klimas hinwirken. Das ist mir sehr wichtig.
({1})
Ich will sehr deutlich sagen, was ich von der russischen Regierung und vom russischen Präsidenten erwarte. Präsident Putin muss das einlösen, was er gestern
in der Öffentlichkeit gesagt hat. Er sagte, dass dieser
Mord eine Schande ist. Ich erwarte von ihm und von der
russischen Regierung - das würde ich von jeder Regierung in der Welt erwarten -: Es muss aufgeklärt werden,
und zwar rasch und mit rechtsstaatlichen Mitteln - das
betone ich ausdrücklich: mit rechtsstaatlichen Mitteln -,
und es müssen Transparenz und Öffentlichkeit geschaffen werden. Das ist das, was man von der russischen Regierung und von Präsident Putin erwarten muss. Ich
möchte, dass der Deutsche Bundestag zu einer Entwicklung in diese Richtung beiträgt.
({2})
Es ist bestimmt nicht entscheidend, was wir dazu meinen. Es ist entscheidend, dass in Russland verstanden
wird, dass es um die Verfasstheit des Landes geht, dass
es um die Verfasstheit Europas geht, dass es um die Zukunft Russlands geht. Wenn man das betont, dann bleibt
es dabei: Wenn dieser Mord nicht aufgeklärt wird, dann
behält Russland eine offene Wunde. Eine offene Wunde
sollte Russland aber nicht behalten. Deswegen müssen
dieser Mord und all seine Umstände aufgeklärt werden.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin kein Freund
von Verschwörungstheorien - noch nicht einmal dann,
wenn sie in meiner eigenen Umgebung verbreitet werden -,
({4})
weil sie meistens überhaupt nichts erklären.
({5})
Ich finde auch alle Verschwörungstheorien rund um diesen Mord unnütz. Ich bin der Auffassung, dass es, wenn
man die Ansprüche stellt, die Sie gestellt haben, nicht
klug ist, ein Klima zu bereiten, in dem von Anfang an
feststeht, dass am Ende Putin schuld ist, nur er und kein
anderer.
({6})
Das ist keine Aufklärung und sorgt nicht für ein Nachdenken über das gesellschaftliche Klima.
({7})
Ich möchte Aufklärung und aufklärerisches Wirken.
Aufklärerisches Wirken muss nach vorne gerichtet sein.
Ich will Ihnen einige Punkte nennen, die für mich unverzichtbar sind. Angesichts der aktuellen Situation möchte
ich betonen: Man muss zur Entspannung zurückkehren,
auch wenn das heute fast unmöglich erscheint. Man
braucht innenpolitische Entspannung in Russland, und
man braucht politische Entspannung in Europa. Das
wäre ein vernünftiger Weg. Wir sollten darauf hinwirken, dass alle Vereinbarungen von Minsk umgesetzt
werden.
Im Krieg um die Ukraine und in der Ostukraine darf
es nicht wieder zu offener Gewalt kommen, weil Gewalt
immer auch staatliche Gewalt in den entsprechenden
Ländern zeitigt, und das war die Voraussetzung dafür,
dass so etwas wie der Mord an Boris Nemzow in Russland passieren konnte. Entspannung ist heute denkbar,
und die Ergebnisse von Minsk könnten ein Weg zur Entspannung sein.
({8})
Ich denke sehr darüber nach und bitte Sie, sich in
diese Richtung auch ein Stück weit selbst zu überprüfen:
Die Isolation und die Selbstisolation Russlands müssen
dringend aufgehoben werden. Isolation und Selbstisolation führen immer zu innenpolitischen Verschärfungen
und Verengungen. Ich glaube, dass wir Russland einen
Weg zurück nach Europa weisen und die Tore weit aufmachen müssen, weil das und nichts anderes demokratisiert.
({9})
Ich möchte Ihnen in dieser Situation auch gerne
sagen: Wenn der Deutsche Bundestag Verstand und
Courage hat, dann müssen wir die Visafrage erneut auf
die Tagesordnung setzen. Ich möchte, dass wir die russischen Bürgerinnen und Bürger einladen. Kommt in unser Land! Kommt nach Europa! Wir haben eine gemeinsame Gestaltungsaufgabe in Europa. Wir müssen eine
neue Ostpolitik und eine europäische Entspannungspolitik entwickeln.
Wenn wir so damit umgehen, ein Stück weit innehalten und nicht immer mehr zuspitzen, dann könnte der
Mord an Boris Nemzow ein Signal zur Umkehr werden.
Diese Umkehr ist in Europa dringend notwendig.
Das wollte ich Ihnen sagen.
Herzlichen Dank.
({10})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dr. Franz Josef Jung, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am letzten
Freitag wurde der russische Regimekritiker Boris
Nemzow in unmittelbarer Nähe des Kremls heimtückisch
ermordet. Herr Erler hat darauf hingewiesen: Er wurde
gestern unter Teilnahme von Tausenden Bürgerinnen
und Bürgern zunächst aufgebahrt und dann beigesetzt.
Ich denke, wir sind uns in diesem Parlament einig,
dass wir erwarten, dass dieser hinterhältige Mord umfassend aufgeklärt wird und die Täter zur Verantwortung
gezogen werden. Täter, Auftraggeber und Motive des
Verbrechens dürfen aus unserer Sicht nicht wieder im
Dunkeln bleiben, wie das beispielsweise bei den Morden
an Anna Politkowskaja, an Natalja Estemirowa und an
Aleksandr Litwinenko geschehen ist.
Ebenso, denke ich, müssen wir uns über die Auswirkungen der Ermordung von Boris Nemzow auf die Politik in Russland unterhalten. Ich finde, hier ist es schon
von Bedeutung, dass der konfrontative Kurs von Präsident Putin gegenüber den Regierungsgegnern und Oppositionellen ein Klima von Hass und Hysterie geschaffen
hat - unterstützt durch die entsprechenden Staatsmedien,
die hier Aggression und Feindschaft schüren -, ein
Klima, das hier letztlich den dunkelsten Kräften in die
Hände spielt. Deshalb ist es, denke ich, dringend notwendig und geboten - auch im Interesse Russlands -,
dass Präsident Putin dafür sorgt, dass dieses Klima der
Repression beendet wird und die Freiheitsrechte der
Bürgerinnen und Bürger gewährleistet werden.
({0})
Meine Damen und Herren, ich finde schon, dass der
Mord an Boris Nemzow ein besonderes und bezeichnendes Licht auf die innere Entwicklung Russlands wirft.
Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit
und Bürgerrechte werden unterdrückt. Von einem lupenreinen Demokraten kann wahrlich keine Rede sein.
Wer in Russland Präsident Putin und sein Regime kritisiert, der muss den Sicherheitsapparat nicht nur persönlich fürchten, sondern er muss auch damit rechnen, dass
seine Nächsten in Gefahr geraten, wie es das Beispiel
des Bruders des Kremlkritikers Nawalnyj zeigt, und er
muss mit den Schlägern des sogenannten Anti-Maidan
rechnen, die jede Opposition gegen Präsident Putin mit
Gewalt im Keim ersticken.
Die Tatsache aber, dass in Moskau am vergangenen
Sonntag Zehntausende im Rahmen eines Trauermarsches für Boris Nemzow auf die Straße gegangen sind,
macht deutlich, dass es viele mutige Bürger in Russland
gibt, die gegen dieses Klima der Einschüchterung ihre
Stimme erheben und auf die Straße gehen. Ich denke,
diese mutigen Bürgerinnen und Bürger haben unsere Solidarität und unsere Unterstützung verdient.
({1})
Die Politik der Repression, des Rechtsbruchs oder
auch der kriegerischen Auseinandersetzung in der
Ukraine schadet aus meiner Sicht Russland. Deshalb
wäre es im Interesse Russlands, wenn Präsident Putin
eine derartige Politik beendete, die Freiheitsrechte umfassend gewährleistete, das Minsker Abkommen in die
Tat umsetzte und partnerschaftliche Beziehungen zu Europa wieder aufnähme.
Der wirtschaftliche Niedergang Russlands zeigt aus
meiner Sicht, wie notwendig es ist, diese falsche und undemokratische Politik zu beenden. Wir wollen ein demokratisches, ein modernes, ein freiheitliches Russland, mit
dem wir gut zusammenarbeiten können. Hier gilt die
Hoffnung von Boris Nemzow, die auch gestern viele
Menschen zum Ausdruck gebracht haben: Russland wird
frei sein - im Interesse der Menschen, im Interesse der
Sicherheit, im Interesse von Frieden und Freiheit in Europa.
Besten Dank.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Boris Efimowitsch Nemzow war ein brillanter Kopf. Er
war widerständig und unerschrocken. Er war ein Volkstribun, und - ich glaube, das darf ich sagen - er war auch
ein Draufgänger. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Sie hieß: in der Wahrheit leben - ohne Rücksicht auf Gefahr und ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Und er
wusste, dass er in Gefahr war.
Die Liste der Menschen, die für ihre Aufrichtigkeit in
den vergangenen Jahren ermordet wurden, ist lang - viele
sind schon genannt worden -: Anna Politkowskaja,
Natalja Estemirowa - ich habe sie noch hier in Berlin
getroffen -, Stanislaw Markelow, Sergej Magnitskij. All
diese Morde sind nie aufgeklärt worden. Diese Wunden,
Herr Kollege Gehrcke, sind alle noch offen. Alle diese
Menschen stehen für den Wunsch nach Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie stehen für ein anderes Russland und für eine Alternative zu der Machtpyramide, an
deren Spitze Präsident Putin steht.
Der eindrucksvolle Gedenkzug für Boris Nemzow
zeigt uns, dass in der russischen Gesellschaft mehr Lebendigkeit und Widerspruchsgeist stecken, als Putins
Propaganda uns glauben lassen will. Auch wir selber
sollten an diese Kräfte glauben und nicht zu zaghaft sein.
({0})
Nemzow war in ungewöhnlich jungem Alter - der
Kollege Erler hat das schon gesagt - Gouverneur und
später Vizepremier unter Jelzin und mit Aufgaben betraut, die eigentlich eine „Mission impossible“ waren. In
diesen tumultuösen Zeiten wurden auch viele Fehler gemacht: Viele Menschen gerieten in Not, und die Oligarchen konnten ihr System in vielen rechtsfreien Räumen
errichten.
Tatsächlich schien es so zu sein, als würde mit Putin
die Ordnung in das Land zurückkehren. Doch heute wissen wir, dass seine Herrschaft zu einem System aus Geheimdienst und Oligarchie geworden ist, überwölbt von
Korruption, die alles zusammenhält. In diesem System
muss jeder etwas abbekommen. Dazu gehört auch Willkür - ohne Chance auf Gerechtigkeit, ohne eine freie
Justiz, an die sich Bürgerinnen und Bürger wenden können.
Dieses System hat auch immer schon zu Gewalt gegriffen - daran erinnern wir uns nicht mehr so gut -: der
Krieg in Tschetschenien - er war gnadenlos -, der Krieg
in Georgien und jetzt der in der Ukraine.
Je deutlicher wurde, dass Putin kein Modernisierer ist
und dass ihm die ökonomische Modernisierung nicht gelingt, desto stärker baute er an seiner Propagandamaschine, an den Feindbildern von äußeren und inneren
Gegnern, und desto schärfer wurde die Repression. Die
Bürgergesellschaft im eigenen Land - das konnte man
Jahr für Jahr sehen - wurde immer stärker stranguliert;
kritische Nichtregierungsorganisationen sollten gezwungen werden, sich selber mit der stalinistischen Figur des
„ausländischen Agenten“ zu belegen.
Derzeit rollt in der Duma das nächste Gesetz an, nämlich das Verbot der Zusammenarbeit mit unerwünschten
Organisationen. Das ist der nächste Strangulierungsschritt, der in der Pipeline ist, und die Feindpropaganda
durchdringt das ganze Land.
Nun hat Präsident Putin heute selber den Mord an
Boris Nemzow als einen politisch motivierten bezeichnet. Was bedeutet das? Es legt vielleicht offen, dass es
tatsächlich die Vertikale der Macht schon gar nicht mehr
gibt, sondern dass sie beginnt, Putin zu entgleiten, hin zu
Kräften, die nationalistischer, die extremistischer sind,
hin zu einer kruden Mischung aus Nationalbolschewismus und faschistoiden Tendenzen. Eine Person mit zwei
Namen steht für diese Kombination, nämlich Strelkow
und Girkin. Es kann sein, dass Putin bereits ein Teil seines Apparates zu entgleiten beginnt und dass diese
Schüsse direkt vor der Kremlmauer auch eine Botschaft
an ihn gewesen sind. Ebenso kann er einen Kadyrow
nicht mehr steuern; auch Kadyrow ist ihm schon entglitten. Wenn wir heute auf Russland und auf diesen entfesselten Hass schauen, so stellen wir fest, dass er tatsächlich zu einem Drama für das russische Volk selber
geworden ist.
Putin hat das Land in diese Isolation geführt. Keiner
von uns weiß derzeit, wie und durch wen das Land wieder zurück auf den Weg in die europäische Familie und
Marieluise Beck ({1})
in unser gemeinsames Haus Europa findet. Aber Boris
Nemzow war einer der profiliertesten Oppositionspolitiker Russlands; er hatte Pläne für die Rückkehr in die
Duma, und er war eine Hoffnung für viele Bürgerinnen
und Bürger, weil er so ganz unterschiedslos gegen Korruption vorgegangen ist. Nun ist dieser mögliche Opponent nicht mehr da.
Wir sollten - das ist unsere Aufgabe - all diejenigen
Menschen treffen und sie ermutigen, die ohne Ansehen
der eigenen Person diese zarten Pflänzchen der Bürgergesellschaft in Russland trotz aller Widerstände aufrechterhalten, und dies - da gebe ich dem Kollegen
Gehrcke recht - ohne umständliche und teure Visaprozeduren, wir sollten sie reisen lassen, wir sollten sie als unsere Partner begreifen. Das wäre die beste Art, Boris
Nemzow zu ehren.
Schönen Dank.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt
viele Merkwürdigkeiten bei diesem Mord unter den Augen des Kreml, in der sensibelsten russischen Sicherheitszone schlechthin, unter Augen, denen sonst überhaupt nichts entgeht. Hängen Sie da mal ein Plakat auf;
es ist in Sekunden wieder weg. Exakt zum Tatzeitpunkt
versperrt ein Müllauto die Sicht, exakt zum Tatzeitpunkt
sind 15 Überwachungskameras ausgeschaltet, weil sie
angeblich gewartet werden. Wie idiotisch ist denn dieses
Märchen, meine Damen und Herren? Ein FSB-Sicherheitschef, der dies verantwortete, wäre nicht einen Tag
länger im Amt, wenn er so etwas machte.
Von der Kollegin Beck und dem Kollegen Jung wurde
schon auf das völlig vergiftete Meinungsklima hingewiesen, in dem Hass und Verfolgung gegen Andersdenkende blühen und sich natürlich einige ermutigt fühlen,
den Ruhm und die Größe Russlands durch solche Mordtaten wiederherzustellen.
Meine Damen und Herren, Russlands Regierung und
eine Mehrheit der Bevölkerung sehen sich in einem vermeintlichen Abwehrkampf gegen äußere Feinde, und ihr
Präsident will nicht zulassen, dass die Ehre Russlands
von Feinden beleidigt wird. Die Frage ist, wie wir jetzt
eigentlich auf so etwas reagieren.
Ich möchte vorsichtig daran erinnern, dass das Verhältnis zu Russland in erster Linie eine außenpolitische
Fragestellung ist. Es geht leider nicht darum, menschlich
sehr verständlichen Regungen der Empörung und des
Abscheus Genüge zu tun, sondern darum, wie wir außenpolitisch damit umgehen und praktische Politik betreiben können. Das hat für mich zwei Konsequenzen.
Erstens. Wir müssen immer darauf achten, dass wir
die Diplomatie nicht vernachlässigen. Russland ist und
bleibt unser größter östlicher Partner. Für Russland gilt
übrigens umgekehrt: Wir sind und bleiben dessen größter westlicher Partner.
Wir müssen auch darauf achten, dass unsere Außenpolitik nicht durch Empfindungen und Gefühle geleitet
wird, so schwierig das manchmal ist. Wir tun das an anderer Stelle auch nicht, zum Beispiel gegenüber China,
wo die Menschenrechtslage noch schwieriger ist als in
Russland.
Zweitens. Wir müssen leider von unserer Konvergenzvermutung, also von unserer Sicht der Dinge, dass
andere Staaten so werden wie wir, wenn wir nur lange
genug mit ihnen zusammenarbeiten, Abschied nehmen.
Wir haben keinen Hebel zur Durchsetzung unserer
Werte. Wir müssen aufpassen, dass unsere Verstörung
über die Zustände in Russland nicht auf die Außenpolitik
durchschlägt. Die Akzeptanz unserer Werte durch andere
darf nicht Bedingung für unsere Außenpolitik sein. An
dieser Erkenntnis kommen wir leider nicht vorbei; sonst
können wir zwei Drittel der Staaten dieser Welt nicht
mehr besuchen oder mit ihnen den Kontakt aufrechterhalten.
Wir haben sehr oft über den Begriff der „wertebezogenen Außenpolitik“ gesprochen. Aber damit geraten
wir - wir sehen das in der Ukraine, in Belarus und in
Russland - leider zu oft auf Traumpfade statt auf Wege,
die in die Zukunft führen. Wir werden von außen leider
wenig verändern. Wo das versucht wurde, ist es meistens
furchtbar schiefgegangen: in Libyen, Irak, Syrien und
anderswo. Viele Probleme, die wir jetzt haben, sind aus
der Vorstellung entstanden, wir könnten einen Regime
Change bewirken.
Die russische Innen- und Außenpolitik ist nicht mit
den Anforderungen des 21. Jahrhunderts kompatibel.
Man glaubt in Russland offenbar, einen äußeren und inneren Feind zu brauchen. Das ist - das sage ich ganz
deutlich - kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche.
Gestern hat der russische Finanzminister, Herr
Siluanow, die Haushaltsplanung für die nächsten drei
Jahre vorgestellt. Ich empfehle sehr, sich das anzugucken. Er höchstpersönlich, nicht etwa die CIA oder jemand anderes, erklärt, dem Staat gehe das Geld aus; sie
müssten das Haushaltsbudget kürzen und nicht nur die
Rüstungsausgaben senken, sondern auch Renten und Sozialleistungen kürzen. Die Wirtschaft schrumpft dieses
Jahr um 3 Prozent. Die Inflationsrate beträgt 16 Prozent,
und es gibt, so der russische Finanzminister, einen Kapitalabfluss von 30 Milliarden Dollar im ersten Quartal
dieses Jahres. Bezogen auf das ganze Jahr rechnet er mit
90 Milliarden bis 100 Milliarden Dollar. Das kennzeichnet exakt den Schwächezustand, in dem sich Russland
befindet und der nur zu einem kleinen Teil durch Sanktionen verursacht wurde.
Das moralische Koordinatensystem in Russland ist
durcheinandergeraten. Vor allem das steht der dringend
notwendigen Modernisierung Russlands entgegen, ist
aber mit Mitteln unserer Außenpolitik nicht zu ändern.
Ich habe keine Sorgen: Die westliche Wirtschaftskraft
und Innovationskraft sind denjenigen Russlands haushoch überlegen. Wir müssen uns darüber keine Sorgen
machen, sondern nur auf die veränderte Lage reagieren.
Wenn man auf russischer Seite glaubt, ökonomische
Schwäche durch militärische Kraftmeierei kompensieren
zu können, so müssen wir uns auch sicherheitspolitisch
darauf einstellen, und ich habe den Eindruck, dass wir
das tun.
Der Vorrang der Diplomatie in der Außenpolitik gibt
uns im Verhältnis zu Russland vor, erstens die Lage realistisch zu beurteilen und die notwendigen Schlüsse zu
ziehen und zweitens Russland weiter das Angebot einer
Zusammenarbeit zu machen, sofern selbstverständlich
die Regeln der europäischen Nachkriegsordnung eingehalten werden. Dies tut die Bundesregierung offensichtlich, auch wenn das Gedränge auf der Regierungsbank
im Moment nicht gerade furchterregend ist.
({0})
Wir werden deshalb die aktuelle Krise gemeinsam mit
unseren Freunden und Verbündeten bestehen. Daran
habe ich keinen Zweifel.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Stefan Liebich, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Unsere Reden klingen heute sehr ähnlich, und in einer solchen Debatte muss das nichts Schlechtes sein. Wenn Außenminister Steinmeier und auch viele andere sagen,
dass das Wichtigste ist, dass die Urheber dieses Verbrechens gefunden und in einem transparenten und rechtsstaatlichen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden
müssen, dann benennen sie das, was jetzt notwendig ist.
Trotzdem klingt hier bei vielen Rednern ein gewisser
Zweifel an. Herr Jung hat das angesprochen, auch Frau
Beck hat das angesprochen. Die Liste derjenigen, die ihr
Leben in Russland bereits verloren haben, ist genannt
worden. Man muss natürlich besorgt sein, ob die Aufklärung dieses Mordes gelingt. Nur dadurch wird es möglich sein, den jeweiligen Mutmaßungen, die es jetzt auf
allen Seiten gibt, etwas entgegenzusetzen.
Auch ich möchte, wie Herr Erler es am Beginn seiner
Rede gemacht hat, darüber sprechen, wie sich das Klima
in Russland entwickelt hat. Ich denke, das gehört zu diesem Thema; denn das raue Klima in Russland in diesen
Tagen ist der Nährboden, auf dem diese Gewalt entsteht.
Ich möchte jemanden zitieren, der Russland und Moskau
deutlich besser kennt als ich: Wladimir Kaminer hat dieser Tage im ZDF ein Interview gegeben, das sehr deutlich war. Sie kennen Wladimir Kaminer: in Moskau geboren, in Berlin Erfinder der „Russendisko“.
Er sagte: Menschen sterben. Zuerst wurde in der
Ukraine scharf geschossen, und Tausende Russen und
Tausende Ukrainer haben dort ihr Leben gelassen, und
jetzt wird auch vor dem Kreml scharf geschossen. Die
Macht der vom Staat gelenkten Medien trägt ganz sicher
daran Schuld. Beinahe jede Woche, jeden Tag wird die
politische Opposition diffamiert. Sie haben jede vernünftige Kritik an der Politik der Regierung gleich als
Heimatverrat abgestempelt und haben diese Menschen
als fünfte Kolonne und als amerikanische Spione geschmäht. Durch diese Propaganda, durch diese unsägliche Propaganda, die alles Böse in den Menschen hervorgerufen hat, Homophobie, Fremdenfeindlichkeit, diese
Hetze gegen westliche Werte, drehen viele Menschen
durch. - So hat Kaminer es beschrieben.
({0})
Ja, es ist schrecklich, dass so ein Klima in Russland
entstanden ist, und das hat Konsequenzen. Lew
Schlossberg, der Verleger der Zeitung Pskovskaya
Guberniya, wurde am 29. August letzten Jahres krankenhausreif geprügelt. Die drei Angreifer wurden nicht
identifiziert. Elena Klimowa, die Gründerin des Onlineportals Children 404, das sich um lesbische, schwule
und Transgender-Jugendliche kümmert, wurde wegen
„Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen“ angeklagt. Auch Folter ist ein Thema in Russland. Im aktuellen Jahresbericht von Amnesty International heißt es zu Russland:
Nach wie vor wurden Menschen gefoltert und misshandelt, ohne dass die Täter mit Bestrafung rechnen
mussten.
Folter, deren Straflosigkeit, Einschränkung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Hasspropaganda gegen Andersdenkende und Minderheiten das gibt es nicht nur in Russland, aber das gibt es auch
dort. Wir messen nicht mit zweierlei Maß. Wir kritisieren das, wo immer es geschieht.
({1})
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, es ist
richtig, Kritik zu üben, und es ist notwendig, Kritik zu
üben, aber - da möchte ich an Herrn Wellmann anknüpfen - wir werden Nachbarn bleiben, wer immer dort oder
hier gerade regiert. Wir müssen einen Weg finden, miteinander umzugehen, auch wenn es manchmal nicht leicht
ist. Da erscheint es mir notwendig, dass Gesprächskanäle genutzt und nicht geschlossen werden. Es ist ein
Fehler aus meiner Sicht, die G-8-Runde in eine G-7Runde zu verwandeln, es ist ein Fehler aus meiner Sicht,
den NATO-Russland-Rat gerade dann zu suspendieren,
wenn man ihn am dringendsten braucht.
({2})
Ich finde es richtig, dass sich die Obleute im Auswärtigen Ausschuss und der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses entschieden haben, gerade jetzt die Duma
und auch die Rada zu besuchen. Es ist notwendig, weiter
im Gespräch zu bleiben.
Ich möchte mit einem Punkt schließen, den Herr
Gehrcke und Frau Beck hier angesprochen haben. Wir
können selber etwas tun. Wir sollten endlich die Visafreiheit einführen. Wir haben das in der letzten Wahlperiode diskutiert, und wir waren schon ziemlich weit.
Es geht nicht um ein Lob für Wladimir Putin oder für
seine Regierung. Weltanschauung entsteht dadurch, dass
man sich die Welt anschauen kann. Ich denke, wir sollten diese Chance den Russinnen und Russen einräumen.
({3})
Haben wir keine Angst vor unseren Nachbarn, öffnen
wir uns!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Franz Thönnes, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Schüsse auf Boris Nemzow waren ein kaltblütiger und
kalkulierter Mord. Dieser Mord macht es schwierig für
eine friedliche Entwicklung in Russland, er macht es
schwierig für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der notwendig ist, und er macht es auch schwierig
für uns, mit einem Russland umzugehen, in dem ein derartiges Klima herrscht.
Wir denken an Boris Nemzow heute, an seine Familienangehörigen, mit denen wir trauern, und an seine
mutigen Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Russland.
Unser Mitgefühl ist bei ihnen. Boris Nemzow ist mit seinem Tod auch ein Opfer des in den letzten Jahren sich
zunehmend verschlechternden Klimas geworden.
Die Vorredner haben darauf hingewiesen: wachsender
Nationalismus, Wahrheiten, Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten und
der Medienrechte, die Unterdrückung von zivilgesellschaftlichen Bewegungen bis hin zu der Notwendigkeit,
sich zu einem ausländischen Agenten zu erklären, wenn
man bürgerrechtlichen Selbstverständlichkeiten nachkommen will. Hinzu kam der propagandistische und mediale Aufbau einer Mehrheitsmeinung, die diejenigen,
die nur etwas abweichen, die Fragen stellen, die etwas
infrage stellen, die andere Vorschläge haben, am Ende zu
Staats- oder Volksfeinden erklärt.
Medienberichten nach soll der angesehene ehemalige
Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin dazu gesagt
haben, der Mord an Boris Nemzow zeige, dass die Gesellschaft krank vor Hass sei. Das sind Worte, die aus
Russland selbst kommen und den Zustand beschreiben.
Ich will mich nicht wie andere auch - es ist gut, dass wir
das nicht machen - an irgendwelchen Spekulationen
über mögliche Täter beteiligen. Die Aufklärung und die
Strafverfolgung liegen bei den verantwortlichen Behörden in Russland selbst. Ich hoffe, dass die Aufklärung
diesmal konsequenter und ergebnishaltiger erfolgt als
bei den Morden im politischen Bereich, die wir in den
vergangenen Jahren erlebt haben.
Auch deswegen stellt sich jetzt die Frage, die heute an
uns alle gestellt wird: Welche Auswirkungen hat dies auf
die Politik Russlands? Daran knüpft nämlich der Titel
unserer heutigen Debatte an. Ich habe hier keine Glaskugel vor mir. Vielmehr glaube ich, wir müssen bei dem
Versuch, dies zu beantworten, natürlich auf die Geschichte der letzten acht bis zehn Jahre zurückblicken.
Aber ich will auch dazu sagen: Keiner von uns, auf beiden Seiten, kann behaupten, zu jeder Zeit an jedem Tag
alles richtig und nichts falsch gemacht zu haben. Umso
mehr knüpfe ich an dem an, was jetzt eine gute Grundlage ist, nämlich am Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015. Dieses Abkommen sollte uns die Möglichkeiten geben, schrittweise in eine friedlichere Zukunft in
Europa zu gehen. Das, was die vier Staatschefs, aus
Frankreich, aus der Ukraine, aus Russland und die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, unterzeichnet haben, ist
eine gute Grundlage als Ergänzung zu dem Maßnahmenpaket und als Hilfe zu dessen Umsetzung.
Weil das die erste Debatte dazu ist, die wir nach dem
12. Februar 2015 führen, will ich an dieser Stelle der
Bundesregierung, der Bundeskanzlerin, dem Bundesaußenminister einen großen Dank sagen für die Beharrlichkeit der Bemühungen, hier eine neue Vereinbarung
zustande zu bringen, die eine gute Grundlage für eine
friedlichere Entwicklung bietet.
({0})
In dieser Vereinbarung heißt es unter anderem:
Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich unverändert zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis
zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien
der OSZE.
Das ist das, was wir mit russischen Kolleginnen und
Kollegen diskutieren müssen: Wie soll das ausgefüllt
werden? Was bedeutet das konkret für uns? Wie stärken
wir gemeinsam die OSZE? Wie kommen wir gemeinsam
dazu, diese Vorstellungen auch umzusetzen? - Das ist
nicht nur eine Frage von Putin. Dies ist auch eine Frage
für die Parlamentarier, dies ist eine Frage, die ebenso in
die Gesellschaften hinein gestellt werden muss.
Das bedeutet, neues Vertrauen zu entwickeln, und das
bedeutet, daran zu arbeiten, wie wir es jetzt in der OSZE
machen, wenn wir Ende dieses Monats in der Pfalz mit
ukrainischen Kollegen, mit russischen Kollegen, mit
deutschen Kollegen, mit französischen Kollegen zusammenkommen und auch vor dem Hintergrund von Kriegserfahrungen diskutieren, wie sich eine friedlichere ZuFranz Thönnes
kunft entwickeln kann. Vielleicht setzen wir das im
Herbst in der deutsch-dänischen Grenzregion fort.
Das bedeutet auch, mehr Besuche zu organisieren,
mehr Diskussionen mit Parlamentariern durchzuführen.
Das bedeutet, gemeinsame Interessen auszuloten, damit
wieder Kalkulierbarkeit entsteht, damit man weiß, was
der andere denkt und wie der andere denkt und welche
Zukunftsperspektiven man hat und wie Konflikte friedlich gelöst werden können. Eigentlich sollte das im
40. Jahr nach Helsinki eine der Hauptaufgaben sein, die
zu erfüllen sind.
Die 6 000 deutschen Unternehmen, die gut 1 000
deutsch-russischen Schulpartnerschaften, die 90 deutschrussischen Städtepartnerschaften, die Weiterentwicklung
des Petersburger Dialoges, all das können gute Grundlagen sein, die auch nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfen. Deswegen bin ich sehr dafür, dass auch die Hindernisse ausgeräumt werden. Das ist jetzt keine Idee nur
von den Kolleginnen und Kollegen der Linken oder auch
der Grünen. Vielmehr waren wir Außenpolitiker uns alle
gemeinsam einig; schließlich haben wir schon in den
vergangenen Jahren in einer Arbeitsgruppe gemeinsam
dafür gearbeitet, dass Visaliberalisierung und Visafreiheit stattfinden müssen,
({1})
damit die Menschen kennenlernen können, wie Gesellschaften funktionieren, damit man unterschiedliche
Wahrheiten und unterschiedliche Sichtweisen kennenlernt.
Herr Kollege.
Deswegen will ich schließen:
Gut.
- Der Tod von Boris Nemzow mahnt nicht nur Russland, sondern er mahnt die Verantwortlichen in Russland, dass es Sicherheit in einer Gesellschaft nur geben
kann, wenn ein Klima des guten Umgangs und der Offenheit da ist, wo Regierung und Opposition um den
richtigen Weg streiten, wo sich die Zivilgesellschaft frei
und ohne Angst und ohne Repression bewegen kann und
wo die Menschen ihre Bürgerrechte nutzen können. Daran gilt es zu arbeiten, und darüber gilt es mit russischen
Kolleginnen und Kollegen sehr intensiv zu diskutieren.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Boris
Nemzow, das war heimtückischer Mord. Hier ist jemand
umgebracht worden - das lässt uns fassungslos zurück wegen seines politischen Wirkens, wegen seiner Überzeugung. Wir wissen nicht, wer dafür verantwortlich ist.
Wir sind pessimistisch, ob das aufgeklärt werden wird,
aber wir beharren auf der Forderung, dass es eine rückhaltlose und umfassende Aufklärung geben muss.
Wir wissen aber auch, in welchem gesellschaftlichen
Klima dieses passiert ist. Die Abgrenzung Russlands
nach außen spiegelt sich in einer innergesellschaftlichen
- nicht nur innerstaatlichen - Feinderklärung gegen alles
Abweichende wider.
({0})
Und dann gehört das ganze System dazu: dass die Pressefreiheit nicht mehr gewährleistet ist, dass kritische
Medien verstaatlicht, gleichgeschaltet oder so unter
Druck gesetzt wurden, dass sie schließen mussten. Dazu
gehört, dass diejenigen, die bei der dritten Amtseinführung von Präsident Putin beim „Marsch der Millionen“
zu Tausenden auf die Straße gegangen sind - viele von
denen haben bei den ersten beiden Wahlen noch Putin
gewählt -, massiv kriminalisiert worden sind, wie es
Alexej Nawalnyj geschehen ist.
Dann fragt man sich, wie es kommen kann, dass es
unter solchen Bedingungen nach wie vor so ist, dass
Putin, ja, die Zustimmung einer breiten Mehrheit der Bevölkerung - manche sagen: 85 Prozent - hat. Aber es gilt
der Satz „Propaganda tötet“. Das stand auf einem der
Plakate beim Gedenkmarsch am Sonntag. - Das ist der
Kern des Problems. Boris Nemzow wusste das sehr gut.
Er hat gesagt:
… die Zensur muss beendet werden, damit die
schreckliche Propaganda aufhört. Die Lügen haben
der russischen Bevölkerung den Verstand geraubt.
({1})
Das war übrigens einer seiner letzten Sätze, nur knapp
vier Stunden vor seinem Tod.
Was heißt das - Sie haben ja recht, Herr Thönnes; wir
können nicht in eine Glaskugel gucken, aber wir können
uns das selber fragen - für eine Politik in Europa, die zu
Recht immer wieder betont hat, dass Russland ein Partner, kein Gegner ist, die von der Erkenntnis, ich glaube,
aller Fraktionen dieses Hauses, ausgeht, dass es Sicherheit und Frieden in Europa nur mit und nicht gegen
Russland geben wird? Ich glaube, es müssen auch Positionen überprüft werden.
Manche haben gesagt: Putin, war das nicht ein Fortschritt gegenüber Jelzin, da er doch das Chaos beendet
hat? Ja, er hat das Chaos beendet; nur: Wenn man die
Bandenkriege der Oligarchen durch eine Tyrannei und
die umfassende Macht des Geheimdienstes beendet,
({2})
dann herrscht noch keine Ordnung.
({3})
Ordnung herrscht erst auf der Basis des Rechts.
Es hat diejenigen gegeben, die gesagt haben: Man
muss Russland wirtschaftlich öffnen, und dann entsteht
so etwas wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
({4})
Dieser Mechanismus ist in Russland widerlegt worden.
Die politische Legitimation hat sich abgelöst vom wirtschaftlichen Wohlergehen.
({5})
Ich glaube, das zeigt uns: Wir müssen uns in unserer
Politik gegenüber Russland auch ein Stück überprüfen.
({6})
Das heißt nicht, dass man alles glauben muss, was von
Russland kommt: die Märchen von der Einkreisung, das
„sie“ und „wir“, mit dem Putin sich rechtfertigt. Es ist
nicht wahr, dass es ein böser Akt der Aggression gewesen ist, dass die baltischen Staaten der NATO beigetreten
sind. Vielmehr ist dies mit Zustimmung Russlands, der
höchstpersönlichen Zustimmung Wladimir Putins, und
zusammen mit der Einrichtung des NATO-Russland-Rates geschehen.
({7})
Ich sage auch - da mag ich mich von manchen Stimmen jenseits des Atlantiks unterscheiden - sehr deutlich:
Wir haben kein Interesse an einem wirtschaftlich ruinierten Russland. Ein „wirtschaftliches Wettrüsten“ liegt
nicht in unserem Interesse. 145 Millionen Russen, die
sich von Europa ausgegrenzt und abgegrenzt fühlen das kann nicht in unserem Interesse sein.
({8})
Deswegen gilt für uns: Ja, machen wir die Tore auf, stehen wir nicht nur zu Minsk 2, sondern reißen wir endlich
die bisher praktizierte Form der Visapolitik ein, öffnen
wir uns den russischen Bürgerinnen und Bürgern, schaffen wir Luft unter der Miefglocke, unter dieser Betondecke der Propaganda, die über Russland gelegt worden
ist!
({9})
Ich will ausdrücklich sagen: Ich halte den Vorschlag
der Bundeskanzlerin, des Bundesaußenministers und des
Bundeswirtschaftsministers für richtig, so etwas wie
eine Freihandelszone zu schaffen. Ich finde es fahrlässig,
wenn in der Europäischen Kommission versucht wird,
die Frage des Handels aus dem Zusammenhang der Assoziierung mit der Ukraine herauszunehmen. Das ist das
falsche politische Signal.
Aber ich füge hinzu: Freihandel wird es nachhaltig
und dauerhaft nur dort geben, wo die Herrschaft des
Rechts gilt. Das gilt nicht automatisch. Wir müssen offen
sein gegenüber den russischen Bürgerinnen und Bürgern, aber auch fest auf der Grundlage des Rechts und
der Menschenrechte stehen. So geht Europa.
({10})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Tod von
Boris Nemzow ist der Opposition in Russland - insbesondere der außerparlamentarischen Opposition - eine
Identifikationsfigur genommen worden. Der russischen
Bevölkerung ist Hoffnung genommen worden - Hoffnung auf die Aussicht, sich zivilgesellschaftlich in der
Opposition für ein besseres Russland engagieren zu können.
Er war kein Angehöriger der Nomenklatura, sondern
jemand, der sich, ausgehend von Tschernobyl 1986, um
Missstände in Russland gekümmert hat. Ihm lag Korruptionsbekämpfung und Bekämpfung von Machtmissbrauch von Anfang an am Herzen. Nun ist er der vorläufig letzte politisch Ermordete in einer langen Kette.
Namen wurden genannt; ich erwähne nur: Politkowskaja
und Magnitskij. Er war jemand, der sich im Bewusstsein
engagiert hat, Risiko auf sich nehmen zu müssen und
- auch wider Willen - Identifikationsfigur zu sein.
Wir haben heute geradezu fraktionsübergreifend ein
Signal nach Russland gesendet. Am 25. September 2001
hat Putin von dieser Stelle aus die gemeinsame europäische Kultur beschworen. Er hat seinerzeit - sicherlich
noch unter dem Eindruck des 11. September - Sicherheitsherausforderungen angesprochen. Auch im Jahr
2007, wo er in München sprach, deutete er an, dass er
Felder der Zusammenarbeit sieht. Er hat sich von dem
seinerzeit von Gorbatschow vorgeschlagenen „gemeinsamen Haus Europa“ nicht nur verabschiedet, sondern
die russische Gesellschaft von den europäischen Werten
der Toleranz, der Meinungsvielfalt und vor allen Dingen
der Rechtsstaatlichkeit abgegrenzt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir zeigen
heute in Richtung Russland, dass wir noch Hoffnung für
die russische Zivilgesellschaft sehen, dass wir nicht wolRoderich Kiesewetter
len, dass Russland in eine Diktatur der Dunkelheit und
der Unterdrückung zurückfällt.
Die russische Außenpolitik läuft Gefahr, sich noch
mehr zu isolieren. Der Mord hat gezeigt, dass das Gewaltmonopol - wer auch immer dafür verantwortlich
ist - offensichtlich nicht in den Händen des Rechtsstaates liegt, sondern dass der russische Staat durch das
Klima der Unterdrückung, das er geschaffen hat, zugelassen hat, dass so etwas passieren konnte.
Ich beteilige mich nicht an Verschwörungstheorien.
Wir müssen aber Antworten finden, Antworten, mit denen wir uns nicht auf das Niveau der gegenwärtigen russischen Politik begeben. Diese Antworten müssen - ich
sage das ganz bewusst - asymmetrisch sein. Unser Außenminister und unsere Bundeskanzlerin haben bereits
Antworten gegeben, die deutlich machen, dass wir auf
Verhandlungen setzen und dass wir gegenüber Russland
klarmachen: Es geht darum, Rechtsstaatlichkeit und
Menschenwürde durchzusetzen. Vielleicht müssen wir
mit Blick auf den Europarat andere Antworten geben als
in den letzten Monaten: Möglicherweise muss man
Russland dort Sitz und Stimme wiedergeben und es zur
Verantwortung ziehen. Möglicherweise muss man den
Europarat beauftragen, entsprechende Untersuchungen
durchzuführen, und auch den europäischen Menschengerichtshof einbeziehen.
Es ist heute mehrfach das Thema der Visaliberalisierung angesprochen worden. Das ist kein Wert an sich.
Aber: Was wirkt denn mehr, als wenn junge russische
Menschen, Wissenschaftler, junge Familien, die Chance
haben, für einige Wochen Mitteleuropa kennenzulernen,
zu spüren, was es heißt, in einer Stadt wie Berlin, München oder Paris Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Vielfalt zu erleben und kein Klima der Unterdrückung? Es
stimmt mich auch sehr nachdenklich, wenn in einer
Stadt mit 12 Millionen Einwohnern aus Anlass der Ermordung Nemzows gerade einmal 50 000 Menschen auf
die Straße gehen, während in Paris, das deutlich kleiner
ist, 2 Millionen Menschen gegen die Anschläge gegen
Charlie Hebdo und jüdische Einrichtungen demonstrieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Antwort kann nur heißen: Fortsetzung der Verhandlungen,
Verschärfung der Sanktionen, Aufklärung des Verbrechens, Stärkung der russischen Zivilgesellschaft und
- mit Blick auf unsere eigene Gesellschaft - uns aufzustellen gegen die Desinformation und Propaganda Russlands, die nicht Meinungsvielfalt ist, sondern die Verhinderung von Meinungsvielfalt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns den Weg, den die Bundeskanzlerin und Außenminister Steinmeier mit dem Minsker Abkommen eingeschlagen haben, fortsetzen. Das Minsker Abkommen muss
umgesetzt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein charismatischer, ein glaubwürdiger Oppositionsführer ist
am vergangenen Freitag in Moskau in Sichtweite des
Kremls ermordet worden. Boris Nemzows gewaltsamer
Tod ruft allen, die an den Geschehnissen in Russland
und der Entwicklung des Landes Anteil nehmen, die anderen in Erinnerung, die unter nie befriedigend geklärten
Umständen dort und im Ausland zu Tode gekommen
sind und die durch ihre oppositionelle Haltung gegenüber der Staatsmacht miteinander verbunden waren. Es
war deswegen gut und richtig, dass mehrere Kollegen
heute - Frau Beck, Herr Jung, Herr Kiesewetter - an
Persönlichkeiten wie Anna Politkowskaja und Natalja
Estemirowa erinnert haben.
Die starke öffentliche Reaktion in Russland selbst
- die Menschen in Moskau sprechen davon, dass weit
mehr als die offiziell geschätzten 20 000 an dem Trauerzug für Nemzow teilgenommen haben - und die Reaktionen von Präsident Putin und Ministerpräsident
Medwedew zeigen, dass der Tod Nemzows ein Ereignis
von besonderer Bedeutung ist. Theorien über die Urheber und die Nutznießer kursieren reichlich, die einen mit
der Tendenz, die Staatsmacht, ihre selbsternannten Helfershelfer und letztlich Präsident Putin für Nemzows Tod
verantwortlich zu machen. Andere tragen Entlastungsangriffe, Gegenangriffe vor. Es hat überhaupt keinen Sinn,
dass wir uns an solchen Mutmaßungen beteiligen.
Für uns ist doch wichtig, zu prüfen und darüber nachzudenken, was gerade diesen Mord zu diesem Zeitpunkt
so bedeutungsvoll erscheinen lässt. Uns allen ist doch
klar - das zeigt auch das von Herrn Liebich angeführte
Zitat von Kaminer -, dass der Ukraine-Konflikt den
Rahmen dafür abgibt. Es ist dieser Konflikt, dem Präsident Putin seinen zurzeit großen Rückhalt in der russischen Bevölkerung verdankt. Und es ist dieser Konflikt,
weswegen Nemzow den Präsidenten immer wieder mit
scharfen Worten angegriffen hat. Er war einer der wenigen, die das wagten. Schon dieser Umstand genügt, um
die Trauer um Nemzow auch mit Wut und Misstrauen
aufzuladen.
Stark muss der Mord an Nemzow aber auch auf diejenigen wirken, die von außen auf Russland schauen und
denen sich seit Beginn des Ukraine-Konflikts der erschreckende Eindruck vermittelt, dass dieser große
Nachbar unberechenbar geworden ist. Dies sind außer
der Ukraine selbst vor allem die baltischen Staaten, besonders Estland und Lettland. Diese kleinen Länder, die
seit den livländischen Kriegen im 16. Jahrhundert als
Russlands Tor zur Ostsee zum Imperium gehörten, können ja gar nicht anders, als die Geschehnisse in der
Ukraine auch als unmittelbare Bedrohung für ihre junge
Unabhängigkeit aufzufassen. In beiden Ländern gibt es
nennenswerte russischsprachige Minderheiten, die als
Vorwand für eine hybride Kriegsführung nach dem Vorbild der Besetzung der Krim herhalten könnten. Jedes
Signal der Instabilität aus Moskau wird hier aufmerksam
registriert, immer verbunden mit der Frage, ob irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem sie zur Zielscheibe
einer Regierung werden, die mit einem auswärtigen
Konflikt ihre inneren Probleme zuzudecken versucht.
Diese Sorge motiviert unterschwellig die Außen- und
Bündnispolitik im Baltikum seit seiner Unabhängigkeit.
Hier liegt doch der Grund für das Streben in die NATO,
das zugleich von russischer Seite als schlagender Beleg
für deren Einkreisungstheorie angeführt wird.
Hier liegt auch der Grund, warum Estland vor acht
Tagen seine Unabhängigkeit mit einer Militärparade ausgerechnet in der russischsprachigen Grenzstadt Narva
gefeiert und dazu auch britische und amerikanische Soldaten eingeladen hat.
({0})
Es ging darum, sich selbst, der eigenen Bevölkerung und
natürlich auch dem potenziellen Gefährder, Herr
Gehrcke, zu signalisieren, dass Estland im Notfall eben
nicht alleine dastünde. Am folgenden Tag, heute vor einer Woche, antwortete Russland dann auf diese NATOParade zum estnischen Nationalfeiertag mit grenznahen
Manövern.
Heute treffen sich in Riga die Außen- und Verteidigungsexperten der europäischen Parlamente und unterstreichen so auf Einladung der lettischen Ratspräsidentschaft
die Solidarität der EU mit den baltischen Mitgliedstaaten. Mitten in diesem sensiblen Umfeld erreicht uns die
Nachricht vom Mord an Boris Nemzow.
Meine Damen und Herren, in einer solchen Zeit, in
der das scheinbar Festgefügte bedrohlich zu wanken beginnt, ist es an uns, durch eine Politik der Verlässlichkeit
unseren Verbündeten Rückhalt zu geben. Mit Sanktionen
reagiert Europa auf die Verletzungen der völkerrechtlichen Sicherheitsgarantien für die Ukraine und auf die
Verletzung der KSZE-Schlussakte, und die NATO hat
den Aufbau einer Eingreiftruppe beschlossen, die in der
Lage sein wird, sehr schnell auf jede Bedrohung in Osteuropa zu reagieren. Beides ist richtig. Wir zeigen damit,
dass wir Unrecht nicht hinnehmen, uns selbst aber an das
gebunden fühlen, was die NATO mit Russland vereinbart hat. Ob es ausreicht, muss die Zukunft zeigen.
Die EU wird immer bestrebt sein, Russland für eine
europäische Friedensordnung zurückzugewinnen.
Europa braucht ein nach innen wie nach außen stabiles,
in sich ruhendes Russland als zuverlässigen Partner.
Aber die Ermordung des bedeutenden Oppositionsführers Nemzow trägt nicht dazu bei, Vertrauen in den russischen Staat und seine Führung wiederaufzubauen. Wir
wollen uns deshalb umso mehr wünschen, dass dieser
Staat die Kraft findet, das Verbrechen vollständig aufzuklären.
Dem Toten selbst, der eine in vielfältiger Hinsicht beeindruckende Persönlichkeit war, sei aus dem Deutschen
Bundestag mit Worten Puschkins für seine Lebensleistung gedankt. Boris Nemzow hat „in grausamer Zeit die
Freiheit gepriesen“ - „w swoj schestokij wek on wosslawil
swobodu“ -, und er hat dafür mit seinem Leben bezahlt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der Name Boris Nemzow reiht sich in eine
lange Liste von motivierten und engagierten Politikern,
Journalisten und Bürgerrechtlern ein. Ich halte es für
richtig und angemessen, ihre Namen immer wieder, auch
in dieser Aktuellen Stunde, zu wiederholen, um ihrer zu
gedenken: Sergej Juschenko, Paul Klebnikov, Aleksandr
Litwinenko, Anna Politkowskaja, Stanislaw Markelow,
Natalja Estemirowa. Sie alle mussten für ihre kritischen
Worte mit ihrem Leben bezahlen.
Kurz vor seinem Tod gab Nemzow dem Radiosender
Moskauer Echo sein letztes Interview. Darin übte er
scharfe Kritik am Kreml. Er verurteilte die Annexion der
Krim als Verletzung des Völkerrechts, die Sanktionen,
denen Russland ausgesetzt ist, und die damit verbundene
Kapitalflucht - all das wegen Putins unsinniger Aggression gegen die Ukraine, so Nemzow. Redefreiheit, Gedankenfreiheit, Versammlungsfreiheit - für diese Freiheitsrechte musste er sterben.
Der Mord an Nemzow beleuchtet schonungslos den
aktuellen Zustand Russlands. Die russische Gesellschaft
ist tief gespalten. Es gibt eine winzige Minderheit, die
auf hemmungslose Weise ihren Reichtum demonstriert,
und demgegenüber eine überwältigende Mehrheit der
russischen Bevölkerung, die in trostloser Armut lebt.
Doch jegliche Diskussion darüber, jegliche Kritik wird
im Keim erstickt. Durch die Kriminalisierung der Opposition bei gleichzeitiger Stärkung nationalistischer
Kräfte entsteht ein aggressives Klima von Hass und Hysterie. Der Kollege Vaatz wies mich gerade auf ein Zitat
des Vizedekans der Moskauer Hochschule hin. Dieser
sagte zum Tod von Nemzow allen Ernstes: „Ein Miststück weniger“, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen. So viel, um Ihnen ein Bild zu geben von dem Hass
und der Hysterie in diesem Russland von heute. Wie
kann ein Dekan einer Hochschule so etwas sagen?
Das ist der Nährboden, auf dem politischer Mord gedeiht. Wer immer diesen Mord begangen haben mag:
Die politische Verantwortung für dieses Klima trägt das
herrschende Regime im Kreml. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die gewaltige staatliche Propagandamaschinerie in der Bevölkerung durchaus Wirkung
zeigt. Die klassische Rhetorik vom Freund-Feind-Denken mündet in einer Selbstisolation Russlands, in einer
Abschottungspolitik, weil man sich von ausländischen
Feinden bedroht fühlt. Der erfolgreiche Kampf gegen
die vorgegebene Dekadenz des Westens mit den damit
verbundenen Wertvorstellungen kann allein durch das
russische Volk geführt werden; das ist der Gegenstand
der Propaganda. Es heißt, der russische Bär werde von
allen bedroht und von den Truppen der NATO eingekreist. „Die ganze Welt hat sich gegen unser Russland
verschworen“, so wird dort geredet.
Jeder vernünftige Mensch erkennt das Zerrbild der
Wirklichkeit. Dennoch bleibt uns nichts anderes übrig
- mehrere Redner, und zwar parteiübergreifend, haben
dies zu Recht gefordert, und das ist auch gut so -, als den
Dialog mit Russland zu suchen, den Dialog mit den
Herrschenden, aber besser noch: den Dialog mit den Beherrschten, mit der Zivilgesellschaft. Das müssten wir
tun.
({0})
Dabei kommt der Reform des Petersburger Dialogs eine
entscheidende Bedeutung zu.
({1})
Das ist das Format - das ist von einigen zu Recht gesagt
worden -, das wir jetzt für eine konstruktive Verständigung brauchen.
Deutschland hat ein Interesse an einem gesunden
Russland. Deutschland hat ein Interesse an einem Russland in Frieden und Freiheit in einem zusammenwachsenden Europa; alles andere wäre töricht. Hoffnung und
Mut, immer neue Anläufe zu wagen, gibt der Protestmarsch Zehntausender von Bürgern am letzten Sonntag
in Moskau. Wir sollten nicht beklagen, dass es nur wenige Zehntausend waren. Bei diesem Klima von Hass
und Hysterie ist das kein Wunder. Wir sollten froh sein,
dass es so viele waren, die den Mut und die Zivilcourage
aufgebracht haben, auf die Straße zu gehen. Diese Menschen mit ihren Fahnen, die Patrioten Russlands dürfen
wir in Europa nicht enttäuschen.
Danke schön.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Seit etwa 17, 18 Jahren reise ich regelmäßig in unterschiedlichster Funktion - auch privat - nach
Russland. In diesen Tagen muss ich oft an eine Begegnung aus dem Jahre 1998 denken: In einer Kellerwohnung in Moskau hatte sich eine Gruppe aus der Region
Trier/Luxemburg spontan mit der Touristenführerin getroffen, die uns vorher die Stadt nahegebracht hat. Ich erinnere mich daran, mit welcher Begeisterung diese junge
Frau davon sprach, in ihrem Land endlich wieder frei reden zu können. Sie hielt 1998 förmlich eine politische
Rede. Vor allen Dingen war sie davon überzeugt - das
sagte sie damals -, dass dies Russland auch nie wieder
zu nehmen sei. Unsere Touristenführerin hat sich allerdings gewaltig getäuscht, und ich gebe zu, ich auch.
Der hinterhältige politische Mord an Boris Nemzow
führt der Welt erneut vor Augen, in welchem innenpolitischen Klima sich Russland wieder befindet. Mehr denn
je drohen gesellschaftliche Spaltungen, Ausgrenzungen
und Repressalien für alle diejenigen, die dem Hauptstrom jetzt nicht mehr folgen. So viele Nachrichten, die
uns aus Russland erreichen, sind schlichtweg bedrückend, vor allen Dingen für die Menschen, die eine enge
Beziehung zu diesem Land haben. Wir empfinden es als
bedrückend, was wir dort hören. Wir ringen in Europa
mit der unberechenbar gewordenen Außenpolitik Putins.
Doch auch im Innern hat sich vieles verändert: rückwärts und nicht zum Guten gewandt. Viele Menschen in
Russland leiden unter dieser Politik des letzten Jahrhunderts. Russland ist wieder an einem Punkt angekommen,
an dem es eben gefährlich ist, im Land frei zu reden.
Trotz des wachsenden nationalen Stolzes, den man vor
Ort in Russland jetzt tatsächlich erleben kann, bin ich
davon überzeugt, dass die Kreml-Spitze kein Spiegelbild
der russischen Gesellschaft ist. Die russische Gesellschaft war schon seit langem und ist auch heute weiter
als die Kreml-Spitze und ihr Präsident. Man muss nur
mit Studenten, mit der Wirtschaft, mit NGOs, mit denen,
die Zusammenarbeit miteinander pflegen, sprechen.
Im Umgang mit Russland bleiben nur Gespräche und
Diplomatie. Gestern und heute sind Kollegen der russischen Duma bei uns im Bundestag zu Gast gewesen. Wir
halten diesen Kontakt auch vor Ort in Russland. Wir suchen den Dialog mit Gesprächspartnern, mit unseren
Kollegen in der Duma, aber auch außerhalb der Duma
mit der Opposition, mit NGOs. Diese Gespräche und
Kontakte mit der Opposition, mit kritischen Medien und
Gesellschaftsgruppen werden wir unbeirrt fortsetzen.
Bei allen Schwierigkeiten, die dabei oft entstehen, und
gerade in einem Klima der wachsenden Angst müssen
wir alle diejenigen stärken, die weiterhin in Russland für
Freiheit und Demokratie eintreten.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor zwei Jahren waren wir bereits alarmiert, als die Büros der KonradAdenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung - im
Visier war auch das Goethe-Institut - durchsucht und
Unterlagen und Computer beschlagnahmt wurden. Zu
genau diesem Zeitpunkt war ich damals in Moskau. Ich
habe erlebt, dass es meinen Gesprächspartnern aus der
Wirtschaft, aus der kommunalen Administration und von
NGOs schlichtweg peinlich war, was sich damals dort
abgespielt hat.
Aktuell sind wir erneut mit einem solchen Fall konfrontiert. Einem Vertreter einer unserer politischen Stiftungen soll die Arbeit in Russland unmöglich gemacht
werden. Mit Thomas Schneider von der KonradAdenauer-Stiftung hat Russland diesmal ausgerechnet
den Leiter eines Projektes, das die Förderung des Dialogs zwischen der Europäischen Union und Russland
zum Ziel hat, mit einem Einreiseverbot für viele Jahre
belegt. Dieses Projekt wendet sich vor allem dem Jugendaustausch zu. Das ist ein ganz fatales Signal. Das ist
ein Schlag ins Gesicht aller, die sich abseits der großen
politischen Differenzen um ein friedliches Miteinander
der Völker bemühen.
({1})
Gerade in Anbetracht dieser großen Differenzen auf
politischer Ebene gewinnt der Austausch im Bereich der
Zivilgesellschaft an Bedeutung. Viele Kolleginnen und
Kollegen haben das in der heutigen Debatte gesagt. Sie
haben den Jugendaustausch, die Zusammenarbeit der
Universitäten, die Städtepartnerschaften, all das, was wir
da haben, angesprochen. In diesem Bereich gibt es angesichts der derzeitigen Situation aber viel Verunsicherung. Diejenigen, die sich in diesem Bereich engagieren,
müssen wir ermutigen und stärken, weil gerade dieser
Austausch in dieser Zeit so wichtig ist.
Der brutale Mord an Boris Nemzow muss aufgeklärt
werden. Wir müssen den Dialog mit all denjenigen stärken, die nach wie vor mutig für Demokratie, Freiheit und
Völkerverständigung eintreten und für die es jetzt so viel
schwerer geworden ist.
Vielen Dank.
({2})
Wir sind am Ende der Aktuellen Stunde, aber erst am
Anfang der Klärung grundlegender Fragen, die die Rednerinnen und Redner heute, wie ich finde, in sehr eindringlicher und nachdrücklicher Weise angesprochen haben.
({0})
Ich denke, die Aktuelle Stunde, wie wir sie heute durchgeführt haben, tut dem Deutschen Bundestag sehr gut.
Ich möchte für uns sagen: Der Deutsche Bundestag wird
die Aufklärung dieses Verbrechens, des Mordes an Boris
Nemzow, mit wachen Augen weiterverfolgen. - Danke.
({1})
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 5. März 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.