Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Ich begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung und möchte
Sie davon in Kenntnis setzen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, in der nächsten Sitzungswoche
keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden stattfinden zu
lassen. Der Hintergrund ist schlicht die übliche Vereinbarung, dass in Haushaltswochen oder bei Regierungserklärungen mit ganzwöchiger Plenardebatte Fragestunde
und Regierungsbefragung entfallen. Ich vermute einmal,
dass Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden sind. Das ist offenkundig der Fall.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 15 auf:
Vereinbarte Debatte
zum Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
25. Mai 2014 wird das Europäische Parlament direkt gewählt. Als Ergebnis dieser Wahl wird der Präsident der
EU-Kommission ins Amt gebracht. Das ist eine historische Entscheidung. Deshalb wird das eine historische
Wahl sein. Es ist gut, dass wir uns alle darauf vorbereiten. Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen in
diesem Haus für die Bereitschaft, aus Respekt vor dieser
Wahl und auch aus Respekt vor dem Europäischen Parlament unsere eigene Sitzungswoche im Mai zu verschieben, damit auch wir als Abgeordnete zeigen können, wie wichtig uns dieser Tag ist und dass wir uns an
den Wahlkämpfen unserer Parteien beteiligen wollen.
({0})
An 25. Mai finden in Deutschland - das gab es nie zuvor - Kommunalwahlen in insgesamt zehn Ländern
statt. Auch da wollen wir deutlich machen - unabhängig
von den Inhalten und auch den Verschiedenheiten, die es
hier im Haus gibt -, dass Europa vor Ort beginnt und
dass wir dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Die SPD hat sich vorgenommen, Europa zu verbessern.
({1})
Wir tun das nach der Melodie zur Kinderhymne von
Bert Brecht:
Und weil wir dies Land verbessernLieben und beschirmen wir’s.Und das Liebste mag’s uns scheinenSo wie andern Völkern ihrs.
Das gilt genauso für Europa; so wollen wir es halten.
({2})
Die Europäische Kommission hat jetzt ein Arbeitsprogramm vorgelegt, über das wir diskutieren. Es ist
eine gute Tradition und es ist auch eine Notwendigkeit,
dass wir abgleichen, was unsere Politik sein soll - für
uns ist das natürlich im Koalitionsvertrag festgehalten und was wir gegenüber der Bundesregierung dabei an
Kontrollrechten in der Umsetzung nutzen. Gleichzeitig
ist zu klären, wo wir uns als Parlamentarier rechtlich zur
Kooperation mit unseren Kolleginnen und Kollegen im
Europäischen Parlament verpflichten. Es ist gut, dass wir
Parlamentarier aus diesem Hause direkt am Montag damit anfangen, nach Art. 13 des Fiskalpakts gemeinsam
mit Parlamentarierkollegen aus Brüssel an diesem Europa zu arbeiten.
Wir werden das auf der Grundlage der Übereinstimmung in Sachfragen tun, was in diesem Haus selten vorkommt. Dieses Haus - in der letzten Legislaturperiode
Axel Schäfer ({3})
gab es hier fünf Fraktionen, jetzt sind es vier - hat es geschafft, die Rechte des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung in einer gemeinsamen Anstrengung, verbunden mit einem Kompromiss im
Rahmen von Begleitgesetzen wie dem EUZBBG, zu regeln. Das sollten wir gemeinsam nutzen, egal wer aktuell
die Regierungs- oder die Oppositionsrolle innehat.
Bezogen auf das Arbeitsprogramm der Kommission
heißt das konkret: Ja, wir wollen darauf drängen, dass
dieses Programm auf Ausbildung und Beschäftigung,
auf Qualifikation und Weiterbildung ausgerichtet wird.
Das muss im Mittelpunkt stehen. Ziel ist ein soziales Europa der Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Chancen für die Jugend. Das ist
unser Anliegen als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
({4})
Deshalb haben wir uns in diesem Koalitionsvertrag
eine ganz konkrete Selbstverpflichtung auferlegt. Sie
lautet: Wir wollen ein deutsch-griechisches Jugendwerk
nach dem Vorbild des Deutsch-Französischen und des
Deutsch-Polnischen Jugendwerkes schaffen. Das ist
wirklich eine Innovation. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie mit uns alle Anstrengungen für eine zügige Umsetzung unternimmt. Hier wird ein praktisches
Zeichen von Solidarität gesetzt und nicht nur darüber geredet. Das ist unser gemeinsames Interesse.
({5})
Wir müssen das im kritischen Bewusstsein dessen
tun, was erreicht und was nicht erreicht worden ist. Es ist
erreicht worden, dass mit Lettland das 18. Land Mitglied
der Euro-Zone geworden ist. Das ist deshalb so wichtig,
weil noch vor einigen Jahren viele Menschen behauptet
haben, dass am 31. Dezember 2011, 2012 oder 2013 die
Euro-Zone zusammenbrechen werde, dass das keine Zukunft habe, dass wir zu nationalen Währungen zurückkommen würden. Wir praktizieren das Gegenteil, indem
wir Europa tatsächlich zu einer Währungsgemeinschaft
ausbauen. Diese funktioniert aber nur, wenn dieses Europa gleichzeitig eine Sozialgemeinschaft wird - von der
Sache her, aber auch durch die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger.
({6})
Deshalb ist es so wichtig, dass sich jetzt alle Parteienfamilien für die Europawahl aufstellen. Ich finde es gut,
dass die Grünen europaweit im Rahmen von Onlineabstimmungen etwas ganz Neues ausprobieren und dabei
natürlich auch die Mühen der Ebene erleben. Ich finde es
auch richtig, dass die Mühen auf höherer Ebene bei der
Suche der EVP nach einem Spitzenkandidaten bzw. einer Spitzenkandidatin fortgesetzt werden. Das dokumentiert: Wir rücken davon ab, dass das Europäische Parlament letztendlich nur dem zustimmt, was die Staats- und
Regierungschefs entschieden haben, und kommen dahin,
dass das Europäische Parlament aus seiner Mitte aufgrund des Wahlergebnisses den Kommissionspräsidenten wählt. Wir Sozialdemokraten haben das ja bekanntlich vorgemacht.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken haben
jetzt einen Programmentwurf vorgelegt. Ich zitiere mit
Genehmigung des Herrn Präsidenten:
({7})
Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wurde
die EU zu einer neoliberalen, militaristischen und
weithin undemokratischen Macht …
Für alle, die es schon vergessen haben: In dem zentralen Reformvertrag von Maastricht wurden 1992 nicht
nur die Chancen für ein sozialeres Europa mit aufgenommen, sondern wir haben es erstmals in der modernen
Staatsgeschichte geschafft - das ist nämlich Demokratie -,
dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger auf kommunaler Ebene, egal ob sie aus Griechenland, Portugal,
Spanien oder Frankreich stammen - jetzt muss man noch
hinzufügen: Polen und Tschechien -, wählen und gewählt werden können. Das gibt es nirgendwo auf der
Welt. Darauf sind wir gemeinsam stolz, und das praktizieren wir auch.
({8})
Als Gewerkschafter sage ich: Wir haben 1994 mit den
Europäischen Betriebsräten etwas erreicht, was Gewerkschaften immer gefordert haben, nämlich den multinationalen Konzernen einen Machtfaktor der gewählten
Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertreter entgegenzusetzen. Das war nur in Europa möglich.
Dass das natürlich weiter verbessert werden muss, ist
klar. Aber wir entscheiden bei Europa nicht über die Institution; wir entscheiden bei Europa darüber, wie viel
eher linke oder eher konservative Politik es gibt. Dass
wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
diese nach links führen wollen, ist selbstverständlich.
Darum werden wir uns auch bemühen.
({9})
- Im Koalitionsvertrag steht zu Recht: Die wichtigste
Aufgabe deutscher Politik bleibt das europäische Einigungswerk.
Wir leisten auch hier einen ganz praktischen Beitrag.
Kollege Strobl und ich sind uns einig - ich glaube, für
die Kolleginnen und Kollegen von Grünen und Linkspartei gilt das auch -: Wir wollen nach der Europawahl
den von Deutschland vorzuschlagenden Kandidaten für
den Kommissar wieder im Europaausschuss oder im
Bundestag öffentlich anhören. Wir haben es mit Günther
Oettinger so gemacht; das war ein großer Erfolg. Ich
hoffe, wir werden es mit Martin Schulz so machen, weil
es Zeit ist, dass wir nach dem Christdemokraten Walter
Hallstein wieder einen deutschen Kommissionspräsidenten, den Sozialdemokraten Martin Schulz, bekommen.
Das wäre gut für unser Land. Das wäre gut für die Europäische Union.
Glück auf!
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schäfer, Sie haben hier von historischen Europawahlen geredet. Da Sie sich solcher Worte bedienen,
muss ich sagen: Die gegenwärtige Situation der Europäischen Union ist historisch schlecht. Der soziale Zusammenhalt ist historisch schlecht. Die Zustimmung zur Europäischen Union ist historisch niedrig.
({0})
Das ist das Ergebnis der Politik der Troika und insbesondere der Bundesregierung in den letzten Jahren. Für die
aktuelle Bundesregierung hat man im Koalitionsvertrag
das Weiter-so festgeschrieben.
Anfang 2013 hat Kommissionspräsident Barroso die
Krise für beendet erklärt. Hier einmal ein paar Zahlen,
damit klar ist, über was wir reden:
In Portugal ist die Wirtschaftsleistung wieder um
1,8 Prozent gesunken. Die griechische Wirtschaftsleistung ist um 4 Prozent und die zyprische ist um weitere
8,7 Prozent gesunken.
Die öffentliche Verschuldung ist in allen ESM-Programmländern weiter gestiegen. In Griechenland beträgt
sie mittlerweile 175 Prozent. Als die Troika aus EUKommission, EZB und IWF angefangen hat, Griechenland - in Anführungszeichen - „zu retten“, waren es
107 Prozent. Einen deutlicheren Beweis dafür, dass die
Troika-Politik die Krise verschärft und nicht bekämpft,
gibt es nicht.
({1})
In Spanien zahlen kleine und mittlere Unternehmen
immer noch rund 6 Prozent Zinsen auf mittelfristige
Kredite. Dort gibt es heute über 200 000 Unternehmen
weniger als zu Beginn der Krise. Viele sind pleite, weil
die Kreditklemme immer noch nicht überwunden ist.
Entsprechend steigt die Arbeitslosigkeit. Ende 2013
betrug sie in Griechenland 27,4 Prozent, in Spanien
26,7 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in den
Ländern bei über 50 Prozent. In der gesamten Euro-Zone
haben wir 19,5 Millionen Arbeitslose. Das sind über
8 Millionen mehr als zu Beginn der Krise. Was da historisch sein soll, Herr Axel Schäfer, bleibt Ihr Geheimnis.
({2})
Die Krise war vor einem Jahr nicht beendet; sie ist
auch jetzt nicht beendet. Was die Politik macht, was die
Troika in diesen Ländern macht, sehen wir: Die Renten,
Löhne und Gehälter werden gekürzt. Die Arbeitslosenunterstützung wird gekürzt. Die Gesundheitssysteme
werden zerstört - mit katastrophalen Folgen. Auch hier
nur einmal eine Zahl, damit klar ist, über was wir reden:
In Griechenland ist im Zuge der Krise die Zahl der HIVInfektionen um das 30-Fache gestiegen, weil man im
Gesundheitswesen spart. Das ist das Ergebnis der
Troika-Politik, die von der SPD auch in dieser neuen Regierung mitgetragen wird.
Was macht die EU-Kommission? Herr Schäfer, Sie
haben über das Programm der EU-Kommission gar nicht
geredet; möglicherweise haben Sie es gar nicht gelesen.
Was die EU-Kommission da festschreibt, ist ein Weiterso der Politik der letzten Jahre.
Wenn man über die Bankenrettung und die Bankenunion redet, wie sie derzeit verhandelt wird, heißt es
auch wieder: Es sollen weiterhin die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler für die Spekulationsverluste in Geiselhaft genommen werden. Wenn der Abwicklungsmechanismus tatsächlich irgendwann bereitsteht, sollen
55 Milliarden Euro verfügbar sein. Wir wissen, dass in
der Euro-Zone bei den Banken faule Kredite von
1 000 Milliarden Euro, also von 1 Billion Euro, lauern.
Das zeigt, dass diese Summe viel zu niedrig ist, sodass
auch weiterhin die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
dafür in Haftung genommen werden. Deshalb fordern
wir als Linke eine Schrumpfung und strikte Regulierung
des Finanzsektors. Banken müssen endlich unter demokratische Kontrolle, damit Europa wieder eine wirtschaftliche Perspektive hat.
({3})
Das Arbeitsprogramm ist auch ein Weiter-so, was den
Sozialabbau unter dem Vorwand der Haushaltskonsolidierung angeht. Man konsolidiert aber keine Haushalte,
indem man den einfachen Menschen ihr Einkommen
raubt. Das führt in die Rezession, wie wir es in Griechenland und anderen Ländern sehen. Aus einer Rezession heraus kann man keine Schulden abbauen.
Es gibt ein Weiter-so bei den Attacken gegen Arbeitnehmerrechte. Mit dem REFIT-Programm will die Kommission Regeln abschaffen, die laut Wirtschaftslobbyisten überflüssig sind. Dabei geht es häufig auch um
Themen wie Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.
Ebenso bedeutet das Programm ein Weiter-so mit der
bedingungslosen Orientierung auf die Wettbewerbsfähigkeit, also mit Arbeitsmarktderegulierung und Steuersenkungen für Unternehmen.
Aber Europa braucht gerade kein Weiter-so, sondern
eine 180-Grad-Wende. Das Wahlprogramm der SPD
wäre dafür übrigens keine schlechte Grundlage gewesen,
Herr Schäfer. Da heißt es zum Beispiel:
Wir wollen … eine klare Trennung von Investmentund Geschäftsbanken.
Auf der gleichen Seite heißt es:
Rein spekulative Finanzprodukte … wollen wir
verbieten.
Auf Seite 105 fordert die SPD „existenzsichernde
Mindestlöhne“ für die gesamte EU und gar eine echte
Sozialunion. Bei den Koalitionsverhandlungen hat die
SPD jedoch beim Thema der Europäischen Union sofort
zugestimmt. Sie haben einfach ein Weiter-so der Arbeit
von Schwarz-Gelb unterschrieben. Was Sie mit dem Koalitionsvertrag machen, ist Wahlbetrug.
({4})
Wir Linke streiten für eine solidarische, demokratische und soziale Europapolitik. Dazu gehört eine
EU-weite Vermögensabgabe. Die Vermögen des reichsten 1 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger übersteigt die gesamte öffentliche Verschuldung bei weitem.
Diese Topvermögen sind sogar in der Krise rasant weiter
gestiegen. Aber da trauen Sie sich nicht heran.
Dazu gehört auch die ernste Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung. Laut EU-Kommission
gehen den Mitgliedstaaten jährlich 1 Billion Euro wegen
Steuerbetrugs durch die Lappen. Statt eine polemische
Debatte um Armutszuwanderung anzuzetteln, liebe Kollegen von der CSU, sollten Sie sich einmal mit den
Reichtumsauswanderern beschäftigen. Denn das Problem in unserem Land sind weniger die Zuwanderer aus
Rumänien und Bulgarien, sondern eher Menschen wie
Uli Hoeneß. Um diese müssen Sie sich einmal kümmern,
denn sie sind im Hinblick auf die Belastung der Finanzen unserer Haushalte eher ein Problem.
({5})
Wenn Ihre Aussage, „Wer betrügt, der fliegt“, gilt, dann
wird es auf der Ehrentribüne des FC Bayern in Zukunft
ziemlich leer aussehen, ebenso in der CSU-Landesgruppe, Stichwort „Amigo“.
Zu einer sinnvollen Europapolitik gehören auch massive öffentliche Investitionen. Eine Krise überwindet
man nicht, indem man die Wirtschaft kaputtspart, sondern nur, indem man sie durch sinnvolle Investitionen
ankurbelt. Dazu gehören endlich auch wieder anständige
Löhne und Gehälter in Deutschland. Die Außenhandelsüberschüsse müssen abgebaut werden. Wir brauchen
endlich einen Mindestlohn in Deutschland, nicht erst
2017 und mit vielen Lücken, sondern jetzt und ohne
Ausnahme.
({6})
Damit auch das nicht vergessen wird: Wir tun immer
so, als wäre die Krise bei uns vorbei; wir hätten nichts
mehr damit zu tun und könnten anderen Ländern vorschreiben, was sie zu tun haben. Deutschland ist mit seiner Politik, auch durch die Außenhandelsüberschüsse,
Mitverursacher der Krise; denn unsere Außenhandelsüberschüsse sind die Schulden der anderen Länder. Das
wird Ihnen jeder Ökonom erklären können. Deshalb darf
Deutschland nicht mit dem Finger auf andere zeigen,
sondern muss anfangen, seine eigene Wirtschaftspolitik
zu verändern, indem es seine Außenhandelsüberschüsse
abbaut.
Wir hoffen, dass die EU-Kommission da weiterhin
Druck auf die Bundesregierung macht. Wenn hier im
Parlament oder in der Regierung einige sagen, die EUKommission mache da etwas verkehrt, soll der Hinweis
gestattet sein: Alles, was die EU-Kommission in Brüssel
macht, alle Verträge, die da geschlossen worden sind,
kommen nur mit der Beteiligung Deutschlands zustande.
Sie haben die Verträge mit unterschrieben, und darin stehen auch die 6 Prozent Außenhandelsüberschüsse. Also
arbeiten Sie daran; sonst wird Europa zusammenbrechen, und dann fällt die Europawahl wirklich in ein historisches Zeitfenster, Herr Schäfer.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
die Europäische Kommission hat sich in ihrem Arbeitsprogramm viel vorgenommen. Dazu gehört im Wesentlichen die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Man plant Initiativen zur Förderung von
Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Klima- und
Energiepolitik und die Weiterentwicklung digitaler
Technologien stehen auf ihrer Agenda. Auch der Bereich
der Sicherheitspolitik und der Justizpolitik wird nicht
ausgespart. Man hat sich das Thema der Europäischen
Staatsanwaltschaft auf die Agenda gesetzt, genauso die
Entwicklung der Außenwirtschafts- und der Außenpolitik.
Wenn Sie jetzt fragen, wie das die Kommission eigentlich alles schaffen möchte - denn das waren nur die
Überschriften -, dann besteht diese Frage ohne jeden
Zweifel zu Recht. Denn bei Lichte besehen wird dieses
Arbeitsprogramm 2014 nur bis Mai halten; denn dann
finden - Kollege Axel Schäfer hat es schon angesprochen - die Wahlen zum Europäischen Parlament statt.
Auch wenn die Amtszeit der Europäischen Kommission
bis Oktober dauert, wird dann in Brüssel sicherlich nicht
mehr unbedingt der Zustand herrschen, dass der Kommission die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Deswegen muss man auch von deutscher Seite darauf schauen,
wie die Dinge umgesetzt werden. Auffällig ist in jedem
Fall, dass die Europäische Union, dass die Europäische
Kommission weg von der Krisenbewältigungspolitik
und hin zu einer stärkeren Zukunftspolitik möchte, und
dieser Schritt ist richtig.
Lieber Kollege Ulrich, es ist geradezu das Markenzeichen der Europäischen Union, dass wir durch Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitsplätze von morgen schaffen
müssen, mit einem Mehr an Forschung und Technologie.
Denn wie wollen wir angesichts der Globalisierung, dem
Thema des 21. Jahrhunderts, im Wettbewerb bestehen,
wenn es uns nicht gelingt, diese Herausforderungen anzunehmen und zu bewältigen?
({0})
Mit Blick auf die Staatsschuldenkrise einiger EULänder, die tatsächlich die gesamte europäische Währungsunion, ja, auch unsere Wirtschaft, in eine Schieflage gebracht haben, fällt doch auf, dass wir mehr als nur
vorangekommen sind. Denn noch vor zwei oder drei
Jahren mussten wir tatsächlich noch ganz andere Themen diskutieren: Es wurde offen darüber diskutiert, ob
die Euro-Zone eventuell auseinanderbrechen könnte, ob
die ganze Europäische Union auseinanderbrechen
könnte. Und nein, diese Europäische Union hat zusammengehalten, hat sich gegenüber jenen Staaten als solidarisch erwiesen, die sich in Schieflage befanden. Aber
es war eben auch richtig, dass
Nein, diese Hilfen und Unterstützungen werden nicht bedingungslos ausgereicht; wir fordern von diesen Staaten eigene Bemühungen, eigene
Anstrengungen ein. Diese haben sich, wie man sieht, gelohnt. Deswegen diskutieren wir heute ganz andere Themen.
Heute freuen wir uns darüber, dass Irland als erstes
Land den Rettungsschirm hat verlassen können, dass
sich Spanien auf einem guten Weg befindet, dass die Arbeitslosigkeit sinkt und die Hilfsprogramme der Europäischen Union nicht mehr in Anspruch genommen werden müssen. All diese Länder befinden sich auf einem
sehr guten Weg, einschließlich Griechenland. In Griechenland gibt es einen sogenannten Primärüberschuss.
Das heißt, dass in diesem Land nach Abzug der Zinsen
mittlerweile ein Haushaltsüberschuss besteht. Das ist
eine ganz wichtige volkswirtschaftliche Kerngröße, um
erkennen zu können, ob sich dieses Land auf dem richtigen Weg befindet. Ja, es tut es.
({0})
Deswegen wäre es richtiger, Herr Kollege Ulrich, die
Anstrengungen dieser Länder insgesamt anzuerkennen.
Wir unterstützen sie weiter auf diesem Weg, wir erweisen uns hier als solidarisch, aber es wird ohne diese
schmerzvollen Anpassungsprozesse natürlich nicht
funktionieren.
Ein Weiteres. Ja, es ist wahr: Natürlich hätten viele
dieser Maßnahmen bereits in den Vertrag von Maastricht
eingefügt werden müssen. Aber damals, vor über 20 Jahren, ist niemand davon ausgegangen, dass all diese Entwicklungen die Währungsunion schier auseinanderreißen könnten. Deswegen ist es umso anerkennenswerter,
dass es gelungen ist, an einem bestehenden Haus eine
Kernsanierung durchzuführen, nachträglich Stahlträger
einzuziehen, sodass wir jetzt in Europa eine Finanzarchitektur haben, die sich als stabil erweist. Der Euro ist,
weltweit betrachtet, die Leitwährung neben dem USDollar. Das Vertrauen kehrt zurück. Daran müssen wir
weiter arbeiten, und wir müssen alles dafür tun, dass sich
dieser Weg fortsetzt, und da bin ich sehr zuversichtlich.
({1})
Ich möchte ein weiteres Thema anschneiden, das die
Europäische Kommission auf ihre Agenda gesetzt hat
- es geht um das Justizwesen, das früher als dritte Säule
bezeichnet wurde -: die Europäische Staatsanwaltschaft.
Bei Licht betrachtet müssen wir als Bundestag kritisch
feststellen, dass wir erst jetzt, Ende Januar 2014, über
das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission
diskutieren, obwohl es bereits seit Oktober 2013 auf dem
Tisch liegt. Während in der Zwischenzeit viele nationale
Parlamente die sogenannte Subsidiaritätsrüge erhoben
haben - übersetzt gesprochen heißt das, dass sie darauf
hingewiesen haben, dass die nationalen Mitgliedstaaten
dieses Problem besser lösen können als die Europäische
Union -, hat sich der Deutsche Bundestag als sprachlos
erwiesen.
({2})
Ja, national betrachtet können wir sicherlich bei manchen nationalen Gesetzesprojekten die Uhr anhalten; auf
internationaler Ebene, vor allem in europapolitischer
Hinsicht funktioniert das aber nicht.
({3})
Wir konnten nicht voraussehen, dass die Regierungsbildung so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Es ist
richtig, dass dabei Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht;
aber wir müssen aus dieser Erfahrung die richtigen
Schlüsse für die Zukunft ziehen. Der Hauptausschuss,
den wir eingesetzt haben, war in dieser Zeit sicherlich
hilfreich, aber er darf nicht als Blaupause für die Zukunft
dienen. In der Phase zwischen der Bundestagswahl und
der Neukonstituierung der Ausschüsse, insbesondere des
Europaausschusses, müssen wir weiter Europapolitik betreiben. Unsere Verfassung bietet uns die Möglichkeit
dazu. Der Europaausschuss kann schon heute plenarersetzend tagen, aber er macht es nicht. Deswegen müssen
wir in dieser Legislaturperiode kritisch reflektieren, ob
und inwieweit das hilfreich war. Wir müssen für die Zukunft andere Möglichkeiten finden, damit wir in der Europapolitik parlamentarisch handlungsfähig bleiben.
Aufgrund des Vertrages von Lissabon und der sogenannten Begleitgesetze, die uns als Bundestag mehr Rechte
gegeben haben, ist der Deutsche Bundestag, ist der Europaausschuss in der Verantwortung. Er muss diese Rechte
ausüben. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten das von
uns.
({4})
Zurück zur Europäischen Staatsanwaltschaft. Ich persönlich unterstütze die Bundesregierung ganz klar in ihrem Bemühen, die Europäische Kommission dazu zu bewegen, die vorgetragenen Bedenken der Parlamente zu
berücksichtigen. Nach meinem Kenntnisstand haben immerhin 19 Parlamente gerügt. Man muss hinzufügen
- damit das richtig verstanden wird -: Nicht nur Parlamente wie der Deutsche Bundestag, sondern auch die sogenannten zweiten Kammern sind rügeberechtigt. Die
Agenda, die von den anderen Parlamenten auf den Tisch
gelegt wurde, muss umgesetzt werden.
Last but not least möchte ich auf die Erweiterungspolitik, die sich nicht explizit unter den genannten vier
Punkten befindet, zu sprechen kommen. Auch an diesem
Thema müssen wir dranbleiben. In dieser Legislaturperiode wird es aller Voraussicht nach keinen weiteren Beitritt eines neuen Mitgliedslandes geben - eine Ausnahme
ist vielleicht Island; aber wir kennen die Voraussetzungen. Das heißt aber nicht, dass wir an diesem Thema
nicht dranbleiben müssen. Gerade der sogenannte westliche Balkan ist nach wie vor eine sehr vielschichtige
und schwierige Region. In 2014, 100 Jahre nach dem
Ausbruch des Ersten Weltkriegs - wir wissen ganz genau, wie schwierig die Bedingungen in dieser Region
des Balkans damals waren -, ist es aller Ehren wert, ein
Auge darauf zu werfen. Das heißt, wir brauchen weiterhin regionale Strategien, die Vertrauen zwischen den
Staaten untereinander schaffen. Die Donauraumstrategie
ist und kann weiterhin ein ganz wichtiger Ansatzpunkt
dafür sein, dass die Staaten grenzüberschreitend enger
miteinander kooperieren. Und es gilt, weiter die Hand zu
reichen in der Strategie der Östlichen Partnerschaft.
Diese - das hatte ich in meiner letzten Rede schon dargestellt - ist natürlich von der Zwischenbilanz her zunächst
einmal etwas ernüchternd.
Aber es gibt auch positive Beispiele - trotz aller Pressemäkelei. Ich nenne als ein Beispiel die Republik Moldau,
({5})
die ganz schwierigen Voraussetzungen gegenübersteht.
Wir thematisieren zwar ständig den Druck Russlands auf
die Ukraine, übersehen dabei aber völlig, welch enormer
Druck auch auf die Republik Moldau ausgeübt wird. Sie
kann beispielsweise ihren Wein, eines der wichtigen
Agrargüter dieses Landes, nicht mehr nach Russland exportieren. Hier haben wir als EU reagiert. Wir haben die
Grenzen Europas dafür geöffnet. Das ist ein wichtiges
Signal. Man schaut aus diesem Land heraus sehr stark
auf uns - Kollege Manfred Grund weiß davon zu berichten -, und zwar nicht nur auf uns als Europäische Union,
sondern insbesondere auch auf Deutschland. Dieses
Land hat weiterhin unsere Unterstützung verdient, wie
auch alle anderen Länder, die sich aufmachen, die Standards der Europäischen Union mehr und mehr umzusetzen.
Deswegen noch eine letzte Anmerkung zur Ukraine
und ein kurzer Satz zu Mazedonien. Gerade die Ukraine
sollte weiter auf unserer Agenda bleiben. Die dortigen
demokratischen Kräfte, die ein anderes Land in unserem
Sinne schaffen wollen, haben alle Unterstützung verdient,
({6})
und sie sehen sich dabei schwierigen Voraussetzungen
gegenüber, vor allem die NGOs und die Bürgerbewegungen.
Last but not least Mazedonien: bei Lichte besehen leider ein Trauerspiel. Wir könnten mit Mazedonien schon
längst Beitrittsverhandlungen führen, tun es aber nicht,
weil Griechenland diesen möglichen Fortschritt mit einem bizarren, absurden Namensstreit blockiert. Nein, es
muss Schluss damit sein, dass aus zwischenstaatlichen
Streitigkeiten ein Faustpfand erhoben wird, dass andere
Länder geradezu erpresst werden. Deswegen wünsche
ich mir, dass es auch hier endlich vorangeht und dass wir
ein deutliches Signal setzen auch gegenüber einem
Land, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft innehat.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrter Herr Kollege Krichbaum, ich stelle
nicht in Abrede, dass es gewisse Zeichen der Erholung
gibt. Die Auktionen von Irland und Portugal in der letzten Woche waren sehr erfolgreich. Die Entwicklung der
Arbeitslosenzahlen über das letzte Jahr zum Teil laut
Eurostat auch: in Irland minus 2 Prozent, in Lettland minus 2 Prozent, in Portugal minus 1,5 Prozent, in Ungarn,
auch ein Krisenstaat, minus 1,5 Prozent. Aber wir müssen doch auch sehen, dass diese Entwicklung der Arbeitslosenzahlen immer noch auf einem unglaublich hohen Niveau stattfindet. Deswegen muss uns klar sein,
dass es im Jahr 2014 wichtig ist, diese Entwicklung nicht
nur zu beschreiben, sondern auch zu handeln.
Das Arbeitsprogramm der Kommission, das ja schon
im Herbst veröffentlicht wurde, hat das meiner Ansicht
nach dargestellt. Stabilität und kluges vorausschauendes
Handeln, das ist das, was Europa jetzt braucht. Denn
- das kann ich hier im Haus wirklich nur unterstreichen das Projekt Europa steht unter Druck. Die antieuropäischen Populisten sind Monate vor der Europawahl in einer Situation, dass sie nicht nur wie sonst oft die Stimmung in vielen Nationalstaaten beeinflussen, sondern
dass sie - diese Gefahr droht, ich will sie nicht herbeireden - auch in eine relevante Position kommen, in der sie
nach der Europawahl entschiedenes proeuropäisches
Handeln im europäischen Interesse zumindest verlangsamen, wenn nicht sogar lähmen können. Deswegen ist es
wichtig, dass wir uns im Rahmen des europäischen Verfassungsbogens dagegen positionieren.
({0})
Ich möchte Ihnen sagen: Ich glaube, dass eine Veränderung der Europapolitik dieser Bundesregierung notwendig ist. Ich glaube, das Argument der Alternativlosigkeit, diese Begründung der Europapolitik der alten
und meiner Ansicht nach leider auch der neuen Bundesregierung, treibt die Menschen letztlich auch in die
Arme von Populisten. Das liegt daran, dass es die Kanzlerin seit Jahren versäumt hat, die guten Argumente für
gemeinsames europäisches Handeln stark und mutig zu
vertreten. Auch deswegen glaubt man jetzt, es gebe einfache Argumente gegen pro-europäisches Interesse.
Die Regierung hat außerdem, sozusagen aus dem
Machtinteresse des Kanzleramts heraus, versucht, die
Prozesse so zu steuern, dass dieses Thema den parlamentarischen Debatten, vor allem im Europäischen Parlament, zum Teil aber auch im Bundestag, entzogen
wird; gegen diese Unionsmethode haben wir erfolgreich
gekämpft. Man muss konstatieren, dass das der Europäischen Union insofern schadet, als dass das Wichtigste
nicht stattgefunden hat, nämlich den Menschen zu zeigen: Über Europa darf man streiten, auch als Pro-Europäer.
({1})
Nur: Auf Populismus müssen wir antworten. Folgendes möchte ich besonders an die Kolleginnen und Kollegen der CSU richten: Wenn wir gegen den Populismus
von Rechts und von Links vorgehen wollen, dann müssen wir klarmachen, dass die Vorurteile gegenüber einem zentralistischen Superstaat, einer überbordenden
Demokratie und allem „Bösen“, das immer aus Brüssel
kommt, nicht stimmen, und sie beantworten. Wir dürfen
nicht selbst mit dieser Melodie in den Wahlkampf ziehen.
({2})
Ich möchte einen Satz zur Freizügigkeit sagen. Ich
glaube, dass Sie unterschätzen, wie wichtig dieses Narrativ in der Europäischen Union ist. Meiner Ansicht
nach gehört die Idee der Freizügigkeit, auch der Personenfreizügigkeit, zu Europa, genauso wie die Lederhose
aus Ihrer Sicht zu Bayern gehört.
({3})
Ich möchte ein Beispiel nennen: Ich habe vor einigen
Wochen eine junge Ungarin getroffen. Sie hat gesagt, sie
findet das Narrativ, dass Europa Frieden bedeutet, gut
und schön, aber nicht hinreichend für sie.
({4})
Denn ihr persönliches Narrativ von Europa ist, dass sie
dank der Europäischen Union heute in Berlin leben und
arbeiten darf. Dieses Narrativ dürfen Sie nicht infrage
stellen, wenn Sie über Freizügigkeit sprechen.
({5})
Sie wissen: 2014 wird ein sehr entscheidendes Jahr.
Eines der wichtigsten Dossiers, das jetzt behandelt wird,
betrifft die Bankenunion. Ich glaube, wir müssen diese
Phase der leicht positiven Entwicklung, die uns gute Argumente dafür liefert, mehr Europa zu machen und am
Euro festzuhalten, jetzt nutzen, um entschieden gegen
die sozialen Verwerfungen der Krise vorzugehen. Wir
müssen aber auch das tun, was notwendig ist, um die
Stabilität in der Euro-Zone weiterhin zu garantieren.
Man muss sagen, dass die Verhandlungsstrategie der
Bundesregierung im Hinblick auf das Dossier zur Bankenunion, zum Abwicklungsmechanismus und Abwicklungsfonds meiner Ansicht nach genau das Gegenteil davon ist. Was Deutschland in Brüssel verhandelt, sind
keine starken europäischen Strukturen, die es ermöglichen, im Krisenfall rasch und im europäischen Interesse
zu handeln. Das, was jetzt verhandelt wird, sind unklare
Entscheidungsstrukturen: 100 Personen sollen im Falle
einer Krise über ein Wochenende entscheiden, ob eine
Bank geschlossen werden soll oder nicht oder ob sie gerettet werden soll und, wenn ja, wie. Das kann doch
nicht funktionieren.
Die Politik, die Sie in Brüssel betreiben, erinnert mich
an die Die drei kleinen Schweinchen.
({6})
Sie kennen den Cartoon von Walt Disney.
({7})
Herr Kollege Ulrich, auch Ihnen möchte ich ganz
deutlich sagen: Es ist es in dieser Zeit wert, mit aller Anstrengung ein gemeinsames europäisches Haus zu
bauen. Es soll sich nicht jedes Schweinchen in sein eigenes nationales Häuschen zurückziehen. So ist das nämlich, und das gilt auch für Sie.
({8})
In Richtung der Regierung möchte ich sagen: Denken
Sie daran, welche Schweinchen in diesem Märchen gefressen werden. Es sind die Schweinchen, die ihr Haus
aus Stroh und aus Holz bauen. Deswegen sage ich Ihnen:
Wenn der EZB-Stresstest dafür sorgen sollte, dass es
nicht mehr so glimpflich zugeht, dann möchte ich, dass
Sie sich daran erinnern, was ich Ihnen heute vorgetragen
habe, nämlich dass Ihre Politik an folgendes Zitat erinnert:
Ich bin ja heut so froh.Ich bau‘ mein Haus aus Stroh. Und lebe drin, wie‘s mir gefällt und pfeife auf die Welt.
Das ist die Politik der Bundesregierung in Sachen
Bankenunion.
({9})
Ich sage Ihnen auch: Die echten Pro-Europäer bei der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben eine andere Vorstellung. Wissen Sie eigentlich, warum wir eine starke
europäische Bankenunion mit starken europäischen Institutionen wollen? Schweinchen Schlau sagt:
Ich bau‘ mein Haus aus Stein;denn haltbar muss es sein.
Das ist das, was 2014 in der Europapolitik gebraucht
wird. Das ist grüne Europapolitik.
Vielen Dank.
({10}): Das war
aber eine schweinische Rede! - Axel Schäfer
[Bochum] [SPD]: Das ist natürlich voll gegen
die Vegetarier gerichtet! - Gunther Krichbaum
[CDU/CSU]: Da haben die Grünen mal wieder
richtig die Sau rausgelassen! - Heiterkeit)
Ich teile die Begeisterung, aber so etwas Ähnliches ist
auch schon einmal in gesungener Form hier vorgetragen
worden.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Staatsminister Michael Roth.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist für uns
ein ganz besonderes Jahr. Wir erinnern uns an den Ersten
Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausgebrochen ist. Wir erinnern uns daran, dass Deutschland vor 75 Jahren Polen
überfallen hat und damit den Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat. Und wir erinnern uns daran, dass vor
25 Jahren die kommunistische Diktatur zusammenbrach,
Europa und Deutschland sich wiedervereinigen konnten.
Diese drei Ereignisse haben ganz viel mit Europa zu
tun. Sie sind das Fundament, auf dem dieses Europa
steht. Vielleicht sollten wir uns diese Ereignisse - manche sind tragisch, manche schön - in Erinnerung rufen,
wenn wir gelegentlich im Alltag des Kleinmuts sind.
Das ist auch deshalb wichtig, weil das derzeit keine guten Jahre für Europa sind. Europa ist immer noch in der
Krise. Da gibt es auch überhaupt nichts schönzureden.
Selbstverständlich - das freut die Bundesregierung haben wir erste zarte Pflänzchen - der Kollege Axel
Schäfer sprach davon -: Lettland ist dem Euro beigetreten. Die Nachrichten, die wir aus Portugal oder auch aus
Irland erhalten, machen deutlich: Es gibt Wege aus der
Krise.
({0})
Dennoch: Für die Bundesregierung ist die Bekämpfung
der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in Europa
eines der zentralen Projekte, das wir mit aller Anstrengung und mit viel Kreativität angehen müssen.
({1})
Wir müssen der jungen Generation in Europa deutlich
machen: Europa ist ein Problemlöser und kein Problemverschärfer. Wir dürfen nicht ruhen, wenn 60 Prozent der
jungen Menschen in Griechenland ohne Arbeit und Perspektive sind. Wir dürfen nicht ruhen, wenn 60 Prozent
der jungen Menschen in Spanien ohne Job und Perspektive sind.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Haßelmann?
Ja, na klar. - Bitte, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Herr
Staatsminister. - Gerade weil ich Ihrer Auffassung so
sehr zustimme, was die Bedeutung Europas und auch
unsere nationale Verantwortung angeht, möchte ich Sie
als Mitglied der Bundesregierung gerne fragen - wir
sprechen heute über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission -: Können Sie sich erklären, warum
in dieser Debatte zur Kernzeit so wenige Mitglieder der
Bundesregierung vertreten sind?
Erst einmal freue ich mich sehr darüber, dass im Gegensatz zu früheren Jahren die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages so zahlreich an dieser
Diskussion teilnehmen;
({0})
das freut mich sehr. Wenn ich zur Regierungsbank
schaue, sehe ich: Dort sitzen hochengagierte Kolleginnen und Kollegen, die ganz wichtige Ressorts vertreten.
Deshalb darf ich sagen: Auch die Bundesregierung ist
gut vertreten. Ich hoffe, Sie akzeptieren diese junge,
hoffnungsvolle Riege, die dort die Bundesregierung vertritt.
({1})
Europa ist eben Jugend, und Europa ist Hoffnung für
die Jugend. Jedenfalls wollen wir in der Bundesregierung nach Kräften daran arbeiten, dass das auch wieder
mit einem großen, konkreten Hoffnungsversprechen für
die jüngere Generation verbunden ist.
Die Europäische Kommission hat ihr Arbeitsprogramm zu Recht mit „Jahr der Ergebnisse“ überschrieben. Wir wissen selber, dass das Zeitfenster für konkrete
Entscheidungen relativ kurz ist: Wir haben die Wahlen
zum Europäischen Parlament; die Kommission wird neu
gewählt. Insofern müssen wir jetzt mit aller Anstrengung
dafür sorgen, dass wichtige Dossiers noch rechtzeitig
vor den Wahlen zum Europäischen Parlament vollzogen
werden.
Der erste Punkt - er schließt unmittelbar an die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit an -: Wir müssen
die Reformen in Europa selbstverständlich fortsetzen.
Wir brauchen Strukturreformen. Wir brauchen vor allem
auch Investitionen in Bildung, in Qualifizierung, in Infrastruktur, gerade in den krisengeschüttelten Staaten. Es
geht nicht allein um Sparprogramme oder um die Liberalisierung der Märkte. Wir brauchen einen umfassenden
politischen Ansatz, der der angespannten sozialen und
wirtschaftlichen Lage in Europa Rechnung trägt. Deswegen wird die Bundesregierung einen neuen Akzent auf
den sozialen Zusammenhalt setzen und Impulse für
Wachstum und Beschäftigung nach Kräften unterstützen.
Der zweite große Punkt auf unserer politischen
Agenda ist der Aufbau der Bankenunion. Wir müssen
dafür sorgen, dass nicht länger die Steuerzahler für die
Risiken der Banken geradestehen müssen. Deshalb sollten wir den auf dem Europäischen Rat vom Dezember
vergangenen Jahres gefundenen Kompromiss zur Bankenunion - mit dem einheitlichen Abwicklungsmechanismus - unterstützen. Ich kann nur an alle Verantwortlichen in Brüssel appellieren, die Verhandlungen zügig
und erfolgreich abzuschließen. Wir dürfen hier eine Verzögerung von bis zu einem Jahr, wie sie droht, nicht dulden.
({2})
Ein großes Anliegen - nicht nur der Europäischen
Kommission, sondern auch der Bundesregierung - ist
das klare Bekenntnis dazu, dass die Europäische Union
eine Werteunion ist. Der innere Zusammenhalt Europas
beruht weniger auf dem Funktionieren des Binnenmarktes und weniger auf der Idee des Wettbewerbs als vielmehr auf gemeinsamen Werten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Akzeptanz von Minderheiten, kulturelle
und religiöse Vielfalt, das macht Europa stark und das
macht die Idee Europas zu einem Exportschlager in der
Welt. Wir brauchen in der Europäischen Union einen
wirksamen Mechanismus, der die Wertegemeinschaft
dort schützt, wo sie in Gefahr ist. Das ist auch eine Frage
der Glaubwürdigkeit. Die Europäische Union kann ihre
Werte nur dann selbstbewusst nach außen - das heißt im
globalen Maßstab - vertreten, wenn sie diese Werte auch
konsequent nach innen lebt. Sie alle wissen, dass es in
den vergangenen Jahren in einer Reihe von Staaten
Schwierigkeiten gegeben hat. Diesen Staaten wollen wir
helfen durch gemeinsame, verbindliche Standards und
durch einen entsprechenden Mechanismus.
Lassen Sie mich angesichts der Diskussion um das
Thema Migration für die Bundesregierung ein ganz klares Bekenntnis abgeben: Freizügigkeit ist eine der größten europäischen Errungenschaften. Die Bundesregierung wird diese europäische Errungenschaft konsequent
verteidigen. Wir können alle Verantwortlichen nur darum bitten, sachlich, ohne Polemik und mit Augenmaß
über dieses Thema zu diskutieren. Deutschland profitiert
von der Freizügigkeit wie nur wenige andere Staaten in
der Europäischen Union.
({3})
Wir tragen Verantwortung für dieses Europa, und wir
tragen diese Verantwortung nicht allein. Insofern wird
die Bundesregierung sehr darauf achten, dass wir in der
Europäischen Union alle Mitgliedstaaten mitnehmen. Es
geht nicht um groß oder klein. Manche kleinen Staaten
- ich erinnere an Luxemburg - sind groß: weil sie mit
Engagement, mit Kreativität und Mut und Entschiedenheit dieses Integrationsprojekt vorangebracht haben. Wir
reichen allen unseren Partnerländern in Europa die Hand
zur Zusammenarbeit. Europa braucht keinen deutschen
Oberlehrer oder Schulmeister, Europa braucht ein
Deutschland, das in Solidarität Verantwortung trägt und
die kleinen und die mittleren und die großen Staaten mitnimmt.
Das geht nicht ohne eine ganz enge Kooperation mit
Frankreich und mit Polen. Mit großer Freude haben wir
das Bekenntnis von Präsident Hollande zu mehr Europa
- vor allem zu einem besseren Europa - vernommen.
Wir wollen unsere französischen Freunde dabei tatkräftig unterstützen. Ich sage das bewusst heute, wenige
Tage vor dem Deutsch-Französischen Tag, ich sage das
aber auch in Richtung Polen. Das Weimarer Dreieck
- hier im Bundestag sitzen viele Kolleginnen und Kollegen, die das Weimarer Dreieck über die Jahre mit Leben
erfüllt haben - ist für uns ein wichtiger Anker, eine
wichtige Säule für den Erfolg; denn wir müssen - ich
sage das gerade mit Blick auf Mittel- und Osteuropa die Partnerländer mitnehmen, wir müssen sie davon
überzeugen, dass Europa kein Projekt für den Westen ist,
sondern ein Projekt, das den Süden, den Norden, aber
auch den Osten gleichwertig einschließt.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass deutsche
Führungsverantwortung nicht heißt, dass wir unsere
wirtschaftliche und politische Stärke zu dominant ausspielen - das ist uns in der Geschichte nicht gut bekommen. Insofern möchte ich hier noch einmal deutlich machen: Es geht um solidarische Führungsverantwortung.
Die Bundesregierung wird alles in ihren Möglichkeiten Stehende tun, um Europa aus der Krise zu führen;
denn das Europa, für das wir eintreten, ist ein Europa der
Solidarität, des sozialen Zusammenhalts und der gemeinsamen Werte. Dieses bessere Europa werden wir
gemeinsam mit unseren Partnern bauen. Ich bitte Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, um Ihre tatkräftige Unterstützung.
({4})
Andrej Hunko ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Staatsminister Link, Entschuldigung, Herr Staatsminister Roth - 512
({0})
Einen Moment bitte, das Pult fährt immer weiter
hoch.
Solange Sie noch zu sehen sind, Herr Kollege, hören
wir Sie auch.
({0})
Herr Staatsminister Roth, Sie haben eben an den Ersten Weltkrieg erinnert und haben gesagt: Er ist ausgebrochen. - Ich denke, er ist Ergebnis einer spezifischen
Politik insbesondere von deutscher Seite gewesen. Aber
ich darf Ihnen sagen: Die Linke ist die Partei, die in der
Tradition derjenigen steht, die sich schon damals gegen
den Ersten Weltkrieg gestellt haben - in Deutschland, in
Frankreich, in Russland und in vielen anderen europäischen Ländern.
({0})
Wir sind ebenfalls entschieden in der Tradition derjenigen, die sagen, dass so etwas nicht wieder passieren darf
und dass wir eine entsprechende europäische Zusammenarbeit, eine entsprechende europäische Integration
als Teil einer internationalen Zusammenarbeit brauchen.
({1})
Wenn in Deutschland über Europa diskutiert wird
- wir diskutieren heute ja über das Arbeitsprogramm der
Europäischen Kommission -, wird es manchmal etwas
absurd. Mir schrieb vor einigen Tagen ein Luxemburger
Genosse von déi Lénk, der Linken in Luxemburg: Ich
verstehe eure Debatte in Deutschland nicht. Wir in
Luxemburg haben mehr oder weniger das gleiche Wahlprogramm, aber niemand käme hier auf die Idee, uns als
antieuropäisch zu diffamieren.
Wenn wir zum Beispiel in Hamburg darüber diskutieren, was in Hamburg falsch läuft, wenn wir die Verhältnisse dort kritisieren - das machen wir in diesen Tagen
zu Recht -, dann kommt doch niemand auf die Idee, zu
fragen, ob das antihamburgisch ist. Aber wenn wir auf
europäischer Ebene Dinge kritisieren, dann kommt der
Vorwurf - er wird wahrscheinlich gleich von Herrn
Sarrazin kommen -, wir seien antieuropäisch.
({2})
Genau dies wollen wir jetzt klären: ob das die mögliche Frage des Kollegen Sarrazin ist. - Bitte schön.
({0})
Vielen Dank. - Kollege Hunko, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen - auch als in Dortmund geborener
Hamburger -, dass man sich in Hamburg immer nur gegenseitig vorwirft, nicht hanseatisch, aber niemals, nicht
hamburgisch zu sein?
({0})
Ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Die
spezifischen Befindlichkeiten in Hamburg kenne ich
nicht näher.
Ich will nun auf das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission zu sprechen kommen. Einiges ist
schon gesagt worden; aber ein Punkt ist noch nicht angesprochen worden. Die Europäische Kommission schreibt
in ihrem Arbeitsprogramm, dass eines ihrer wichtigen
Ziele die Verhandlungen für das sogenannte Freihandelsabkommen TTIP oder TAFTA sind. Das ist einer der
Gründe, warum viele Menschen so kritisch auf die Europäische Kommission und auf europäische Strukturen
schauen.
Was ist das sogenannte Freihandelsabkommen, das
eigentlich ein Konzernschutzabkommen ist? Dieses Abkommen wird hinter verschlossenen Türen zwischen der
Europäischen Kommission und Vertretern der USA und
anderer NAFTA-Staaten verhandelt. Worum geht es dabei? Es soll US-Konzernen in Europa und europäischen
Konzernen in den USA ermöglichen, an Standards dieser Staaten vorbei Investitionen zu tätigen. Als Beispiele
nenne ich die sogenannten Chlorhühnchen, das Hormonfleisch oder das Fracking. Es soll ein neuer Gerichtshof
geschaffen werden, vor dem man Staaten, die bestimmte
Investitionen verbieten - zum Beispiel, wenn in
Deutschland Fracking verboten wird -, auf entgangene
Profite verklagen kann.
Wir lehnen dieses Freihandelsabkommen ab, und wir
lehnen es auch ab, dass solche Abkommen durch die
EU-Kommission in völlig intransparenter Weise hinter
verschlossenen Türen verhandelt werden.
({0})
Lassen Sie mich zum Abschluss ein paar Worte zu der
Tragödie an den europäischen Außengrenzen sagen: Wir
haben vor einigen Wochen und Monaten erlebt, was vor
Lampedusa passiert ist. In den letzten 20 Jahren mussten
wir weit mehr als 10 000 tote Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen konstatieren. Das ist eine unglaubliche Tragödie, und ich finde es unerträglich, dass
jedes Flüchtlingsschicksal benutzt wird, um das europäische Grenzregime noch weiter zu perfektionieren, zum
Beispiel durch die Einführung von EUROSUR, anstatt
endlich auch auf europäischer Ebene zu einer solidarischen Flüchtlingspolitik zu kommen.
({1})
Das ist eine unerträgliche Politik und eine Schande für
die Europäische Union, die sich immer als Wertegemeinschaft darstellt.
Es ist angesprochen worden: Am 25. Mai 2014 findet
die Europawahl statt. Ich freue mich, dass wir als Linke
gemeinsam mit unseren Genossen von SYRIZA in Griechenland, von der Izquierda Unida in Spanien, vom
Bloco de Esquerda in Portugal und von der Red-Green
Alliance in Dänemark eine Kampagne für ein anderes,
ein soziales, ein solidarisches Europa machen und dass
wir mit Alexis Tsipras einen gemeinsamen Spitzenkandidaten haben. Darauf bin ich stolz. Ich freue mich auf
die Auseinandersetzungen und die Kampagne.
Vielen Dank.
({2})
Detlef Seif ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wirtschaftlichen Eckdaten belegen - manche sprechen vom
zarten Pflänzchen -, dass es in Europa wieder aufwärtsgeht. Die teils harten Strukturmaßnahmen in den einzelnen Ländern waren erforderlich. In diesem Zusammenhang, Herr Ulrich und Herr Hunko, möchte ich Ihnen
sagen: Ich kann es nicht mehr hören. Sie verwechseln
Ursache und Wirkung.
({0})
Die Probleme in Griechenland sind die Folge der Finanzkrise, des ständigen Konsums und einer Staatsschuldenkrise.
({1})
Man konnte sich auf dem Kapitalmarkt nicht mehr refinanzieren.
Deshalb haben wir Europäer solidarisch Unterstützung geleistet. Das konnten wir aufgrund unserer Verantwortung gegenüber anderen Ländern und unseren Finanzen und auch, weil wir wollen, dass es tatsächlich
vorwärtsgeht, nicht dadurch tun, dass wir sagen: „Hier
ist ein Sack mit Geld, den wir euch zur Verfügung stellen“, sondern das muss streng konditionalisiert geschehen. Hier sind wir auf dem richtigen Weg.
({2})
Aber eines ist klar - das ist uns allen auch bewusst -:
Sparmaßnahmen, eine makroökonomische Steuerung
und eine gute Haushaltspolitik reichen nicht, um Arbeitsplätze zu generieren. Die Überwindung der hohen
Arbeitslosigkeit stellt die EU vor eine besonders große
Herausforderung. Circa 27 Millionen Menschen in der
EU sind arbeitslos; rund 6 Millionen davon sind unter
25 Jahre alt.
Die hohe Jugendarbeitslosigkeit - Herr Sarrazin, Sie
haben das verdeutlicht - bringt uns alle in Europa in
große Gefahr. Die Demokratie ist gefährdet. Wenn hochmotivierte junge Menschen keine Anstellung finden,
dann sind sie eher zugänglich für radikale Kräfte. Deshalb ist es richtig, dass die EU-Kommission in ihrem Arbeitsprogramm 2014 den Schwerpunkt tatsächlich auf
die Überwindung der Arbeitslosigkeit und auf Beschäftigung legt.
({3})
Herr Kollege Seif, darf der Kollege Dehm Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, wenn sie sachlich ist, gerne.
({0})
Das wissen wir, sobald wir die Frage gehört haben. Bitte schön, Herr Kollege Dehm.
Davon können Sie doch bei mir immer ausgehen. Da Sie das, was der Kollege Hunko und der Kollege
Ulrich gesagt haben, offenbar nicht mehr hören können
- Sie sagen, der Konsum in Griechenland sei schuld -,
möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass im Staatsapparat in Griechenland die
Selbstbediener in Ihrer Bruderpartei unter Karamanlis in
Koalition mit den Sozialdemokraten einen großen Anteil
an diesem Konsum hatten? Sind Sie bereit, den Anteil
am Konsum dieser staatlichen Selbstbediener, der Reeder, die steuerlich freigestellt wurden, und derjenigen,
die 200 Milliarden Euro in die Schweiz, Luxemburg und
in andere Steuerparadiese gebracht haben, anzuerkennen?
Herr Dehm, auch hier verwechseln Sie Ursache und
Wirkung.
({0})
In Griechenland hat man wenig investiert. Man hat Griechenland aufgrund des Solidarverbundes in Europa billiges Geld zur Verfügung gestellt. Diese Gelder sind in
Griechenland leider überwiegend in den Konsum und
nicht in Investitionen geflossen. Das ist das Problem.
({1})
Die Kommission macht sich zu Recht intensive Gedanken. Sie hat die sogenannte Jugendgarantie auf den
Weg gebracht. Das heißt, Menschen unter 25 Jahren soll
binnen vier Monaten ein Ausbildungsplatz oder ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden. Sie sollen ein
Praktikum machen können. Die Zusammenarbeit der Arbeitsämter muss verbessert werden, um freie Stellen tat514
sächlich an die arbeitslosen Jugendlichen zu vermitteln.
Wir müssen die Jugendlichen auch dazu bringen, mobiler zu sein. Wir müssen in Bildung investieren. All das
ist gut und richtig. Aber reichen diese Maßnahmen wirklich aus, um neue Arbeitsplätze zu generieren? Reichen
sie aus, um 6 Millionen junge Menschen in Lohn und
Brot zu bringen? Wo werden denn Arbeitsplätze generiert, außer in der öffentlichen Verwaltung und in den
Verbänden? Doch wohl in Unternehmen, in Betrieben.
Deshalb ist eine ganz wesentliche Frage: Haben wir in
Europa für expandierende und neu gegründete Unternehmen die richtigen Bedingungen?
Die Industrie hat in Europa in den letzten Jahren Arbeitsplätze abgebaut. Die Wettbewerbsfähigkeit - das
kommt in dem Programm der EU-Kommission klar zum
Ausdruck - ist zumindest in eine Schieflage geraten; sie
ist gefährdet. Kleine und mittlere Unternehmen, gerade
auch in den Programmländern, haben erhebliche Probleme, Kredite für dringend erforderliche Investitionen
zu erhalten. Die Arbeit der Europäischen Investitionsbank in allen Ehren, aber die anfallenden Risikozuschläge und die fehlende Kreditvergabe wegen mangelnder Sicherheiten sind doch gerade für die kleinen und
mittleren Unternehmen ein ganz großes Problem.
Die Kommission ist hier mit dem sogenannten
REFIT-Programm auf dem richtigen Weg. Damit sollen
Vorschriften daraufhin überprüft werden, ob sie eine
Überregulierung für Industrie und Betriebe darstellen.
Der Ansatz ist richtig. Aber wenn Sie in die Anlagen des
Arbeitsprogramms schauen, weil Sie sich fragen, wo die
Initiativen sind, mit denen diese Idee engagiert und konkret umgesetzt wird, dann stellen Sie fest: Da ist nicht
viel zu finden. Lediglich im Anhang II unter Punkt 23
findet sich eine neue Initiative. Da heißt es: Möglicherweise ist eine Anpassung oder Änderung der Rahmenbedingungen und eine Regulierung der Finanzmärkte erforderlich, um dieses Ziel sicherzustellen. - Mit
„möglicherweise“ kommen wir nicht weiter. Hier hätte
man einen konkreten Vorschlag aufnehmen müssen. Wie
können wir erreichen, dass Kredite an kleinere und mittlere Unternehmen schneller und einfacher vergeben werden?
({2})
- Ja, Sie dürfen klatschen, Herr Dehm, gerne.
Fehlende Sicherheiten haben zumindest Risikozuschläge zur Folge; häufig erfolgt eine Kreditvergabe gar
nicht. Hier muss die Kommission ansetzen. Hierzu erwarte ich einen Regelungsvorschlag. Das ist ein dringendes Problem in den Programmländern; das muss angegangen werden.
({3})
Nun komme ich zu einem anderen Punkt. Ich bin mir
ziemlich sicher, dass auch die Vertreter von Bündnis 90/
Die Grünen etwas dazu sagen möchten. Die Maßnahmen
zum Klima- und Umweltschutz und die Belastungen aus
der Energiewende können für die Unternehmen in Europa existenzbedrohend werden. Die Abwanderung von
Betrieben in Regionen, die geringere Anforderungen
stellen und vor allen Dingen schlechtere Umweltstandards haben, ist die Folge. Gerade die Schwerindustrie in
Europa ist gefährdet. Im Koalitionsvertrag wird zu Recht
betont, dass die Erreichung ambitionierter Klimaschutzziele nicht zum Nachteil für energieintensive Betriebe
und vor allen Dingen für Betriebe führen darf, die - der
Kollege Krichbaum hat das schon angedeutet - im globalen Wettbewerb mit anderen Unternehmen in dieser
Welt stehen.
Was für Deutschland gilt, muss aber auch für die EU
gelten. Es gibt jedoch ein Problem bei der Klimapolitik
- ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben -: Wir
haben leider keine ambitionierte internationale Regelung
gefunden. Das heißt, dass wir das 2-Grad-Ziel nicht
mehr erreichen können. Es gibt weltweit Volkswirtschaften wie Indien und China, die mehr emittieren, als wir je
gedacht hätten. Das heißt, der Klimawandel, der von
Menschenhand mitverursacht ist, wird nicht mehr vermeidbar sein.
Warum sage ich das? Bei jeder industriepolitischen
Entscheidung in Europa muss man zukünftig darüber
nachdenken, ob wir es uns leisten können, mit der Behauptung, dass wir etwas für den Klimaschutz tun, Unternehmen aus Europa in Regionen zu verdrängen, in denen überhaupt kein Umweltschutz betrieben wird oder
nur ein geringer Standard gilt.
({4})
- Bitte schön.
Frau Kollegin Baerbock, Sie haben die Möglichkeit
einer Zwischenbemerkung.
Vielen Dank. - Herr Seif, Sie haben gesagt, wir hätten
leider keine internationale Vereinbarung zu Klimazielen
gefunden. Ist Ihre Schlussfolgerung, dass, weil wir international noch nicht auf dem Weg sind - selbst wenn wir
uns für 2015 noch vorbereiten -, die EU selber keine
ambitionierten Klimaziele mehr aufrechterhalten soll?
Ich danke Ihnen. Sie haben im Prinzip den Punkt vorweggegriffen, den ich hier noch vorgesehen habe. - Das
bedeutet nicht, dass wir als Deutschland und als Europa
keine Vorreiterrolle im Bereich Umwelt- und Klimaschutz einnehmen sollten. Das dient den Menschen; das
dient der Umwelt, und vor allen Dingen dient das auch
der Ressourcenschonung. Wenn irgendwo Klimaschutz
draufsteht, dann heißt das aber nicht automatisch, dass
das gut ist. Ich erwarte - auch von Bündnis 90/Die Grünen -, dass wir bei jeder Frage und insbesondere bei den
Fragen, die die Wettbewerbsfähigkeit in Europa angehen, eine vernünftige Abwägung vornehmen. Dabei haben Umweltschutz und Klimaschutz eine große BedeuDetlef Seif
tung. Aber es sind nicht die einzigen Punkte, die
Bedeutung haben. Wir müssen abwägen, ob wir in Europa Beschäftigung wünschen, und unter Umständen
auch einmal die eine oder andere Entscheidung zugunsten der Industrie und der wirtschaftlichen Entwicklung
treffen.
({0})
Ich bringe den Gedanken noch zu Ende: Die EUKommission hat recht, wenn sie sich in dem Punkt dezent zurückhält. Denn genau das ist zurzeit der Gewissenskonflikt; das sagt man als Kommissar natürlich
nicht. Man will Beschäftigung und Wachstum generieren, aber doch nicht dadurch, dass man sagt: Wir setzen
Ziele im Bereich des Ausbaus der erneuerbaren Energien
und im Klimaschutz, egal, welche Auswirkungen sie haben.
Wenn ein Denkprozess in Europa einsetzt, gilt: Der
Klimaschutz spielt eine wichtige Rolle, aber er ist nicht
der einzige Punkt. Das müssen wir im Zusammenhang
sehen.
Meine Damen und Herren, das Thema „mehrjähriger
Finanzrahmen von 2014 bis 2020“ und die Förderprogramme streift das Arbeitsprogramm nur am Rande. Das
ist auch verständlich, weil es dazu bereits seit Dezember
Verordnungen gibt - sechs an der Zahl -, die die zukünftige Förderung in Europa festlegen. Die bisherigen europäischen Struktur- und Investitionsfonds wurden zusammengefasst. Sie sollen konsequenter auf die Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung ausgerichtet werden.
Vieles wurde vereinfacht; aber die Rechtsvorschriften
sind nach wie vor sehr komplex. Sie sind sogar undurchsichtiger und komplizierter als das deutsche Steuerrecht.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Die Bemühungen der EU-Kommission in Bezug auf den Bürokratieabbau und die Vereinfachung von Vorschriften in allen
Ehren; aber wir sind erst am Anfang des Weges. Hier
müssen wir deutlich nachbessern.
Bei der Bewertung, Annahme und Änderung von Projekten sollen in transparenten Verfahren die Mittelvergabe und die Mittelverwendung überwacht werden.
Wenn, wie im letzten Jahr, eine zweckwidrige Mittelverwendung erst im Rahmen einer Prüfung des Europäischen Rechnungshofs auffällt - bei Stichproben naturgemäß nur in Einzelfällen -, dann ist das zu spät.
({1})
Die Fehlerquote hat in den vergangenen Jahren zugenommen und lag nach Schätzungen des Europäischen
Rechnungshofs 2012 bei 4,6 Prozent; das entspricht
6,5 Milliarden Euro.
Der Anspruch auf Förderung aus dem Strukturfonds
setzt neben einem Antrag des jeweiligen Mitgliedstaats
auch stets eine Selbstbeteiligung voraus. Man muss sich
im Rahmen einer Kofinanzierung einbringen. Aber was
machen wir mit den Ländern, die am Boden liegen, die
noch nicht einmal die Kofinanzierung aufbringen können? Was machen wir mit Ländern, denen die Verwaltungsstrukturen fehlen, um überhaupt Anträge stellen zu
können? Das war in der Vergangenheit ein großes Problem. Hier müssen wir, hier muss die EU-Kommission
deutlich nachbessern, damit diejenigen, die die Mittel
dringend benötigen, diese auch erhalten.
({2})
Wichtig wird auch sein, dass wir dafür sorgen, dass
die Kommission einen vernünftigen Zuschnitt erhält. Es
gibt immer noch 28 Kommissare. Eigentlich war eine
Reduzierung um ein Drittel vorgesehen. Die ist erst einmal vom Tisch. Man erkennt auch am Arbeitsprogramm,
dass zu viele Köche den Brei verderben. Es gibt zu viele
Kompetenzen. Die Zahl der Kommissare ließe sich deutlich verschlanken, und zwar auf rund 15.
Herr Präsident, ich weiß, dass die Uhr läuft. Ich
komme daher zum Schluss. - Die EU-Kommission erhebt in ihrem Arbeitsprogramm das Jahr 2014 zu einem
Jahr der Entscheidung und Umsetzung. Klingt toll! Das
angekündigte Programm wird diesem Anspruch aber
nicht gerecht und kann, wie Herr Schäfer in der ersten
Rede angedeutet hat, diesem auch gar nicht gerecht werden. Die Europawahl steht an. Es gibt weniger Initiativen und auch nicht mehr so viele qualitativ hochwertige
Programme.
({3})
Herr Kollege!
Ich bin eigentlich fertig. Nur noch zwei Sätze, Herr
Präsident.
Das Programm ist in den wichtigen Bereichen Wachstum und Beschäftigung leider nicht ambitioniert genug.
Ein inhaltlicher Erfolg wird davon abhängen, ob die
Kommission teilweise umsteuert und die richtigen Impulse setzt. Ich denke, ich spreche in Ihrem Sinne: Wir
werden die Kommission hierbei tatkräftig unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Annalena Baerbock
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die EU-Kommission hat für 2014 einen engagierten Plan vorgelegt. Neben der Bankenunion, die Manuel Sarrazin schon angesprochen hat,
bezieht sich das auch auf die Vollendung des Binnenmarktes. Es gehört aus meiner Sicht schon einiges dazu,
wenn Teile der Regierungskoalition einige Tage, nachdem die Bundeskanzlerin hier im Hause in ihrer Regierungserklärung gesagt hat, Deutschland werde einen ent516
scheidenden Anteil bei der weiteren Integration und der
Vollendung des Binnenmarkts spielen, einen populistischen Angriff auf einen dieser Pfeiler startet, nämlich
auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
({0})
Das gehört sich nicht; denn das ist nicht nur nicht im
Sinne Europas, sondern auch nicht im Sinne einer vernünftigen Regierungsführung. Ich bin dem Kollegen
Staatsminister Roth sehr dankbar - manchmal hilft es
vielleicht auch, dass jüngere Menschen auf gewissen
Bänken sitzen -, dass er zu Beginn des Jahres deutliche
Worte dazu gefunden hat.
({1})
Ich zitiere, was Sie, Herr Kollege Roth, zu dem gesagt
haben, was da aus Bayern kam: „Das ist nicht das Niveau, auf dem die Große Koalition arbeiten darf.“ Ich
stimme Ihnen darin voll und ganz zu.
({2})
Den Anstand, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, gegenüber einem der größten Betrüger
in Ihrem Bundesland eingefordert haben - das wurde
von der Linken schon angesprochen -, sollten Sie gegenüber Menschen walten lassen, die vor massiver Diskriminierung in unser Land flüchten. So viel Arbeitslosengeld und so viel Kindergeld muss man erst einmal
erhalten, dass man auf 3,2 Millionen Euro in einem einzigen Leben kommt. Mir ist zwar klar, dass dieser Vergleich hinkt. Aber es handelt sich hier um eine Form von
Populismus, die von einer europafreundlichen Partei
nicht zu unterstützen ist.
({3})
Wir Grüne sind - das sind wir nicht sehr oft - in diesem Sinne ganz beim DIHK und auch beim BDI. Wir
brauchen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa gerade unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit
Freizügigkeit für alle Menschen in der Europäischen
Union. Man kann nicht sagen: Die einen passen uns und
die anderen nicht. - Wenn Sie sich die Zahlen genau anschauen, dann stellen Sie fest, dass Ihre Verlautbarungen
nicht stimmen. Gerade Rumänen und Bulgaren sind
überdurchschnittlich qualifiziert. Sie sind außerdem
überdurchschnittlich in die Beschäftigung in Deutschland eingebunden. Schon damals bei der Osterweiterung
sind Sie das Thema der Freizügigkeit falsch angegangen.
Sie haben über Jahre den Zugang für Menschen blockiert, die hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt
sein wollten. Das verschärfte gerade das Problem der
Schwarzarbeit. Das heißt, die Wurzel des ganzen Problems liegt nicht in der Armutszuwanderung, sondern
darin, dass Sie über Jahre den Arbeitsmarkt in Deutschland abgeschottet haben.
({4})
Das heißt nicht, dass wir negieren, dass es Probleme
etwa in Duisburg, Gelsenkirchen oder Berlin gibt. Aber
die EU ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Sie von den Koalitionsfraktionen sind gefordert,
endlich die Mittel, die auf europäischer Ebene bereitgestellt werden, um solchen Herausforderungen Herr zu
werden, freizugeben. Im Rahmen des ESF liegen mehr
als 3 Milliarden Euro auf Halde, die Sie nicht freigeben,
um die Kommunen vor Ort zu unterstützen. Nicht Ihr
populistisches Herumgeschreie, sondern diese Mittel
sollten Ihre Antwort auf die Herausforderungen vor Ort
sein.
({5})
Der Umgang mit der Freizügigkeit in Europa ist nicht
das einzige Problem. Wir führen eine rein nationale Diskussion und müssen uns die Frage stellen, wie der Bund
in Zukunft eigentlich die Kommunen bei der Wahrnehmung ihrer sozialen Aufgaben unterstützen will.
Ein weiterer Punkt, dem ich mich hier gerne widmen
möchte, ist die Jugendarbeitslosigkeit. Die alte Koalition
hatte dazu große Ankündigungen gemacht. Ich glaube,
wir müssen weitere intensive Debatten darüber in diesem Haus führen; denn die Zahlen in diesem Bereich
spotten jeder Beschreibung. Gerade einmal 137 Euro
werden jedem Jugendlichen zur Verfügung gestellt, während wir knapp 300 Euro pro Hektar für eine verfehlte
Landwirtschaftspolitik in Europa ausgeben. So kann nun
wirklich nicht eine an Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete Politik der Europäischen Union aussehen.
({6})
Lieber Herr Hunko, nun zum Punkt der Verhältnismäßigkeit. Ich hoffe, dass Sie das, was Sie vorhin zur proeuropäischen Ausrichtung Ihrer Partei vorgetragen haben, auf Ihrem Parteitag deutlich machen werden. Da Sie
sagen, dass Ihre Partei proeuropäisch aufgestellt ist, verwundert es mich, wenn Ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende sich öffentlich mit Verlautbarungen wie
„Der Euro schürt Hass zwischen den Völkern“ zitieren
lässt. Ich weiß nicht, wie wir angesichts dessen weiterhin
gemeinsam in diesem Hause in eine proeuropäische
Richtung gehen wollen.
({7})
Herr Seif, Sie haben richtig geraten: Ja, ich komme
nun auch auf die Energiepolitik zu sprechen. Wir Grüne
kommen zu komplett anderen Schlussfolgerungen als
Sie. Da sieht man doch, dass unsere Positionen auf manchen Gebieten sehr weit auseinandergehen. Die Pläne,
die EU-Energiekommissar Oettinger derzeit vorschlägt,
nämlich dass wir uns von den verbindlichen Zielen für
die CO2-Einsparungen und den Ausbau der erneuerbaren
Energien und der Energieeffizienz verabschieden sollten, stellen nicht nur einen Angriff auf den Klimaschutz
und die Wettbewerbsfähigkeit in Europa, sondern auch
einen Angriff auf Ihre Bundeskanzlerin dar. Denn es war
Angela Merkel, die unter deutscher Ratspräsidentschaft
dafür gesorgt hat, dass wir verbindliche Ziele für 2020
haben, und zwar in allen Bereichen, auch beim Ausbau
der erneuerbaren Energien. Vielleicht sollten Sie sie
noch einmal konsultieren, bevor Sie sagen, Europas
Wettbewerbsfähigkeit werde völlig konterkariert, wenn
wir an dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa
festhielten.
({8})
Wenn Sie sich die Zahlen genau anschauen, dann
müssen Sie sich doch fragen, was das für eine Wettbewerbsfähigkeit ist, bei der pro Jahr Importe von fossilen
Energieträgern in Höhe von 406 Milliarden Euro getätigt
werden. Das entspricht 3,2 Prozent des BIP.
Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise einen
Blick auf die Uhr werfen?
Ja. - Wenn wir diese Mittel in andere Formen lenken
würden, zum Beispiel in den Ausbau der erneuerbaren
Energien, dann würden wir - das sind Zahlen der Kommission - 1,25 Millionen neue Arbeitsplätze in Europa
schaffen. Das ist, glaube ich, eine Politik hin zu einer
nachhaltigeren Wettbewerbsfähigkeit und zu nachhaltigeren Jobs in Europa, eine Politik, die mehr Jobs als zum
Beispiel das Freihandelsabkommen - die Zahlen liegen
weitaus darunter - schaffen wird.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Schmidt für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich als
Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales freue
mich besonders, zu einem europapolitischen Tagesordnungspunkt reden zu dürfen; denn das zeigt zum einen,
dass Europapolitik in diesem Hause nicht nur Politik eines einzigen Fachausschusses ist, und zum anderen, dass
gerade für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das soziale Europa eine wichtige Aufgabe ist.
({0})
Das ist es nicht nur in Zeiten wie diesen; aber aktuell
sind die Fragen, die den europäischen Arbeitsmarkt, die
Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechte, den sozialen Zusammenhalt und die gesellschaftliche Teilhabe betreffen, von ganz besonderer Bedeutung.
Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat ihre Spuren hinterlassen. Sowohl im Arbeitsprogramm als auch
in unserem Koalitionsvertrag sind zwei große Aufgaben
beschrieben. Die eine - das steht leider oft im Mittelpunkt, auch wenn andere Fragen vielleicht von noch größerer Bedeutung sind - sind natürlich die Reformen zur
Haushaltssanierung. Die andere aber sind die klugen Investitionen, die wir brauchen, die klugen Investitionen in
soziale Sicherheit und Nachhaltigkeit sowie eine Wachstumsstrategie, die die sozialen Folgen der europäischen
Krise bewältigen.
Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn die
Menschen in Europa die Europäische Union positiv
wahrnehmen. Die europäische Wirtschaft wird nur erfolgreich sein, wenn sie das Versprechen eines gemeinsamen
wirtschaftlichen Erfolgs erfüllt, an dem alle teilhaben, und
Nationalstaaten nicht gegeneinander, sondern miteinander agieren.
({1})
Das heißt konkret: Auch eine gerechte Lastenverteilung
ist grenzüberschreitend. Reiche Griechen und reiche
Deutsche müssen mehr zur Krisenbewältigung beitragen
als der Athener Taxifahrer oder die deutsche Krankenschwester.
({2})
Das heißt auch, dass gerechte Löhne, Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen weder einem Dumpingwettbewerb ausgesetzt noch auf dem Altar der europäischen
Finanzmarktkrise geopfert werden dürfen. Der gemeinsame wirtschaftliche Erfolg in Europa bleibt das wichtige Ziel.
Von diesem notwendigen gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg möchte ich eine Brücke zu einem Thema
schlagen, das direkt mit diesem zu tun hat und das in der
heutigen Debatte schon angesprochen wurde, das Thema
„Freizügigkeit in der Europäischen Union“. Auch ich
bin Herrn Staatsminister Roth für die deutlichen Worte,
die er gesprochen hat, dankbar.
Im Jahr der Europawahl haben wir als Politikerinnen
und Politiker eine besondere Verantwortung, nämlich die
Verantwortung, das gesteigerte Interesse an Europa zur
Aufklärung über Europa und zum Werben für die europäische Idee zu nutzen. Vorneweg: Probleme müssen benannt werden, und die Zusammenballung von sozialen
Problemen in einigen deutschen Städten hat den Anlass
für eine Debatte über das Recht auf Freizügigkeit geboten. Uns ist klar: Kommunen mit besonderen sozialen
Schwierigkeiten dürfen bei der Bewältigung der Probleme nicht alleingelassen werden.
({3})
Aber genau darum hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen nicht nur auf eine finanzielle Entlastung der
Kommunen insgesamt gedrängt, sondern konkret die
deutliche Aufstockung des Programms „Soziale Stadt“
durchgesetzt. Wir werden die Kommunen bei der Bewältigung ihrer sozialen Probleme nicht alleinlassen.
({4})
Ebenfalls vorneweg: Wer Gesetze bricht - das gilt für
Sozialhilfebetrug genauso wie für Diebstahl und für
Steuerhinterziehung -, der muss verfolgt und bestraft
werden. Das ist im Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit.
Dagmar Schmidt ({5})
({6})
Das falsche Bild vom angeblichen rumänischen und
bulgarischen Sozialtourismus muss allerdings der Menschen und der Fakten wegen berichtigt werden.
({7})
Geringqualifizierte, Besserverdienende und Akademikerinnen und Akademiker aus Rumänien und Bulgarien
nehmen zu Recht von sich an, dass sie unter besseren
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit ihren Fähigkeiten ein besseres Einkommen und eine bessere Lebensqualität erreichen können. Das ist ihr Recht in Europa, und diese Mobilität ist gewollt.
({8})
Ein Zusammenhang zwischen hohen Leistungen für
Arbeitslose und Wanderungsbewegungen hingegen lässt
sich empirisch nicht nachweisen. Im Vergleich zur ausländischen Bevölkerung insgesamt nehmen Rumänen
und Bulgaren nur in geringem Umfang Sozialleistungen
in Anspruch. Selbst wenn sie dies tun, so hat das keineswegs zwingend etwas mit dem mangelnden Willen, Arbeit aufzunehmen, zu tun. Im Gegenteil, das Problem besteht eher andersherum: Viele Arbeitsmigrantinnen und
-migranten aus Rumänien und Bulgarien sind in besonderer Weise von Ausbeutung betroffen, arbeiten für miserable Löhne, werden von deutschen Tochterunternehmen in ihren Herkunftsländern eingestellt und arbeiten
dann in Deutschland, aber zu rumänischen und bulgarischen Löhnen, werden in die Scheinselbstständigkeit gedrängt usw.
Die Freizügigkeit in Europa, die Freiheit, entscheiden
zu können, in welchem Land man arbeiten und leben
möchte, ist eine der tragenden Säulen der europäischen
Einigung und des europäischen Binnenmarkts.
({9})
Sie sorgt dafür, dass Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften zur Deckung gebracht werden können. Gerade Deutschland ist darauf angewiesen, für Einwanderer und Einwanderinnen attraktiv zu sein. Auch deshalb
hat sich die deutsche Wirtschaft sehr kritisch zu den Parolen und undifferenzierten Behauptungen in Bezug auf
die Einwanderung von Rumänen und Bulgaren geäußert.
Vorurteile und Ängste zu schüren, schadet auch dem
deutschen Wirtschaftsstandort.
({10})
Aber richtig ist auch: Freizügigkeit braucht soziale
Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern. Sozialstandards und Arbeitsrecht in den Herkunftsländern
müssen gewährleisten, dass Auswanderung eben nicht
der einzige Ausweg aus Armut ist, sondern dass es eine
freie Entscheidung ist, sein Land zu verlassen und das
Glück woanders zu suchen.
Wir tragen in Deutschland eine besondere Verantwortung für Europa. Als gute Europäerinnen und Europäer
sollten wir im Wahljahr mit gutem Beispiel vorangehen.
Die Freiheit, sich in Europa frei zu bewegen und persönlich und wirtschaftlich zu entfalten, die Gerechtigkeit,
die sozialen Folgen der Krise den Verursachern in Rechnung zu stellen und die kleinen Leute zu schützen, und
die Solidarität mit denen, die Hilfe brauchen, um wieder
auf die Beine zu kommen - wenn all das gewährleistet
ist, dann ist mir um die Zukunft der großartigen Idee von
einem starken und einigen Europa nicht bange.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Frau Kollegin Schmidt, ich gratuliere herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche
Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Schweinchen-Schlau-Zitate von Manuel Sarrazin geben
mir Gelegenheit, hier mitzuteilen, dass er in den letzten
Jahren offensichtlich nicht nur Comics gelesen, Kinderfernsehen geschaut und Politik gemacht, sondern auch
studiert hat. Er hat sein Geschichtsstudium erfolgreich
abgeschlossen, und dazu gratulieren wir alle herzlich.
({0})
Ich hatte nie einen Zweifel daran, dass das gelingen
würde; schließlich hat er mir letztes Jahr einen profunden Vortrag über die deutsch-polnische Geschichte gehalten, den man hätte drucken können. Aber der eine
oder andere hatte halt doch Sorge, ob es etwas mit dem
Studiumabschluss wird. Insofern sind wir alle sehr froh.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr 2014 ist
natürlich nicht nur für die Europäische Kommission
wichtig, sondern auch wegen der Europawahl und der
daraufhin zu erfolgenden Bildung der neuen EU-Kommission. Aber es ist auch ein Jahr, in dem wir nach fünf
Jahren der Rezession und vier Jahren der Euro-Krise
eine Chance nutzen können. Wir durften erleben, dass
wir sowohl bei den Wachstumszahlen als auch bei der
Euro-Rettung gut vorankommen. Es besteht die Hoffnung, dass wir im Jahr 2014 die Stimmung in der europäischen Öffentlichkeit zum Thema Europa ein Stück
weit zum Guten wenden. Es wäre, glaube ich, des
Schweißes aller Fraktionen hier im Hause wert, wenn es
uns im Rahmen der Kampagne zur Europawahl und im
Rahmen der Diskussion über Europa gelingen könnte,
die Wahlbeteiligung bei der Europawahl gegenüber die
mageren 43 Prozent im Jahr 2009 - Deutschland lag da
im Ürigen nur knapp über dem europäischen Durchschnitt -, zu steigern.
({2})
Es ist in jedem Fall wahr, was Angela Merkel immer
sagt: Wenn wir als Europäer 7 Prozent der Weltbevölkerung stellen, 25 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaften und 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben leisten, dann brauchen wir als Deutsche
nicht zu glauben, dass wir uns ohne einen engeren und
festeren europäischen Zusammenschluss in der Welt behaupten könnten. Wir als Deutsche brauchen Europa, damit auch im 21. Jahrhundert unser Lebensstil, unser
Wohlstand und unsere Freiheit entsprechend bewahrt
werden können.
Ich finde, wir sollten das Jahr 2014 nutzen, mit dem
Europa-Bashing aufzuhören, insbesondere dort, wo es
ungerechtfertigt ist. Dabei denke ich zum Beispiel an die
aktuelle Diskussion um die Einführung von SEPA. Sie
erinnern sich, wir haben vor zwei Jahren hier im Hause
eine Entschließung gefasst, wie wir uns die SEPA-Umstellung vorstellen. Wir haben die Voraussetzungen geschaffen, damit die SEPA-Umstellung sowohl für die
Verbraucher als auch für Schatzmeister von Vereinen
oder Parteien, für die Gewerbetreibenden, also alle diejenigen, die viele Lastschriften einzuholen haben, ordentlich abläuft. Aber die Informationskampagne, die wir
uns von den deutschen Banken zu diesem Thema erhofft
haben, ist viel zu spät erfolgt.
Wir haben heute den 17. Januar 2014. Ich habe immer
noch eine EC-Karte in meinem Portemonnaie, die ich im
Übrigen vor drei Monaten bekommen habe, auf der
meine IBAN-Nummer nicht steht. Ich finde, das ist einfach ein Skandal. Jeder kann ja einmal nachschauen. Die
Sparkasse Rostock hat die IBAN-Nummer schon seit
Jahren auf ihren Karten, eine Großbank, die Deutsche
Bank, bei der ich mein Konto habe, nicht. Ich finde es
vor allem schade, dass jetzt an den Schaltern gesagt
wird: Das ist wieder so ein Projekt, das sich die in Brüssel ausgedacht haben. - Die Brüsseler und die deutsche
Bundesregierung haben es so konstruiert, dass es eigentlich reibungslos laufen könnte. Aber leider wird es in der
Praxis nicht richtig umgesetzt.
Ich möchte uns von den positiven Effekten in der
Europäischen Union den Effekt der Euro-Rettung noch
einmal kurz vor Augen führen. Wir haben uns in Talkshows von berufenen und selbsternannten Wissenschaftlern anhören müssen, die Rettungsschirme - erst der
EFSF, dann der ESM - wären alle viel zu klein, sie würden in kürzester Zeit aus dem Ruder laufen, es wäre Unsinn, diesen Weg zu beschreiten.
Wir sind heute in der Situation, dass von dem insgesamt rund 700 Milliarden Euro umfassenden Haftungsrahmen, zu dem sich die Europäische Union bereit erklärt hat, lediglich 30 Prozent in Anspruch genommen
worden sind. Wir wissen, dass die Iren und die Spanier
ihre Bürgschaften zurückgeben werden. Wir dürfen also
feststellen, dass wir mit unserer Vorstellung recht behalten, dass dieser Weg der Euro-Rettung sinnvoll ist und
dass es aller Mühen wert war, diesen Weg zu gehen.
Ich würde jetzt erwarten, dass der eine oder andere
Wissenschaftler, der nun vielleicht eingestehen muss,
dass seine Theorie den Praxistest nicht bestanden hat,
dies auch offen zugibt. Ich habe in Heidelberg studiert.
Max Weber hat gesagt: Eine Theorie ist dann wissenschaftlich, wenn sie im Prinzip widerlegbar ist. Ich
finde, wenn wissenschaftliche Theorien in der Praxis widerlegt werden, sollten die Wissenschaftler das auch eingestehen und ihre Theorie gegebenenfalls modifizieren.
Wenn man in die Gesichter des einen oder anderen Professors schaut, hat man fast das Gefühl, er sei ein bisschen sauer darüber, dass die Wirklichkeit sich anders
entwickelt hat. Ich würde mir wünschen, dass man sich
einfach darüber freut, dass es offensichtlich doch gelingen kann.
({3})
Wenn wir den Euro-Rettungskurs nicht beschritten
hätten, dann wäre nichts gewesen mit Wirtschaftswachstum und Abbau von Arbeitslosigkeit in Deutschland,
dann wäre nichts gewesen mit der Konsolidierung der
Haushalte in den Krisenstaaten, die ja überall auf dem
Weg ist. Es wäre vor allem so, dass die ganze Welt über
Europa lachen würde und ganz Europa Deutschland dafür verfluchen würde, dass wir in der Zeit der Not, als
unsere Solidarität gefragt war, nicht solidarisch zu Europa gestanden haben. Deswegen war es gut, dass wir im
Deutschen Bundestag eine breite Parlamentsmehrheit für
alle Euro-Rettungsprojekte gefunden haben. Ich glaube,
sie lag immer in der Größenordnung von 80 Prozent. Ich
bin mir sicher, dass wir das auch so fortsetzen können.
Zum Arbeitsprogramm der Kommission haben meine
Vorrednerinnen und Vorredner schon viel Richtiges und
Wichtiges gesagt. Ich finde das Projekt der Bankenunion
enorm wichtig. Es ist von seiner konkreten Auswirkung
auf Europa her vergleichbar mit der Schaffung des Binnenmarkts 1992 und der Einführung des Euro 1999 bzw.
2002. Es ist eine ganz wesentliche Säule der Europäischen Union. Ich kann die Bundesregierung nur beglückwünschen, dass sie dazu einen so wichtigen und
substanziellen Beitrag leisten konnte. Ich glaube, dass
das ein Projekt ist, das ganz oben steht.
Das Projekt der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist meines Erachtens das zweite zentrale Projekt für
2014. Kollege Seif und viele andere haben darauf hingewiesen, was es bedeutet, wenn junge Menschen nach der
Schule keine Chance haben, das Erlernte entsprechend
umzusetzen. Wir haben einen Finanztopf zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgemacht. Ich würde
mir wünschen, dass wir, bevor wir darüber reden, wie
wir die einzelnen EU-Programme innerhalb des neuen
Finanzrahmens ausgestalten, diese Mittel jetzt pragmatisch und zügig bewilligen, damit da nicht noch Wochen
und Monate ins Land gehen, sondern sofort Wirkung erzielt wird. Die jungen Menschen, insbesondere in Süd520
europa, haben es wirklich verdient, dass Europa ihnen
jetzt solidarisch zur Seite steht.
({4})
Es gibt natürlich auch jenseits der Arbeit der Kommission Dinge, die das Wachstum in Südeuropa hemmen. Die Kreditvergabepraxis der Banken zum Beispiel
in Griechenland erfüllt mich schon mit Sorge. Zum Beispiel bekommt ein junger Kfz-Mechaniker, der dort
20 000 Euro für eine Hebebühne braucht, um dann drei
oder vier Leute in seinem Betrieb zu beschäftigen, dieses
Geld schlicht nicht, obwohl wir alle das eigentlich wollen und wissen, dass er damit klug umgehen wird. Ich
glaube, dass wir im Jahr 2014 auch hier noch eine ganze
Reihe von Feinsteuerungen vornehmen müssen.
Überhaupt ist Wachstum natürlich der Schlüssel zur
Lösung der Finanzprobleme; denn es kann nicht so viel
gespart werden, wie durch gutes Wachstum letztlich eingenommen werden kann.
Ich finde auch das Programm REFIT wichtig. Das
klingt zwar ein bisschen wie eine Zappelbudenkette, ist
aber in Wirklichkeit das Entbürokratisierungsprogramm
der Europäischen Union. Ich würde mir halt nur wünschen, dass REFIT nicht nur als Etikett im Wahljahr dasteht: „Die Europäische Union bemüht sich um eine effizientere Gesetzgebung, um weniger Bürokratie“,
sondern dass wir auch im Europawahljahr den einen
oder anderen Erfolgspunkt setzen können.
Wichtig ist weiter, dass wir in der Außenhandelspolitik der Europäischen Union vorankommen; ich nenne
vor allem das Abkommen mit den USA. Dabei dürfen
wir nicht vergessen, dass Nordamerika ein wichtiger
zentraler Markt für uns ist, aber andere Teile der Welt als
Handelsregionen für uns genauso wichtig sind. Der Fokus darf nicht einseitig auf Nordamerika liegen. Wir als
Europäer müssen weltweit Freihandel anstreben.
Ich möchte schließen mit einer kleinen Mahnung an
alle, die in Europa politisch Verantwortung tragen, natürlich insbesondere an die Kommission. Das Jahr 2014 erfordert so viele schnelle, effiziente Entscheidungen, dass
wir es uns nicht leisten können, dass sich das Parlament
oder einzelne Kommissare vor der Zeit aus der politischen Arbeit in der Europäischen Union abmelden.
({5})
Es hat 2008/2009 eine solche Entwicklung gegeben. Es
gibt Anzeichen dafür, dass auch jetzt der eine oder andere Kommissar sich auf nationale Aufgaben konzentrieren will. Ich halte das für falsch. Die Kommission ist
bis Oktober im Amt.
({6})
Sie wird bis zur letzten Minute arbeiten müssen. Ich
würde mir auch wünschen, dass zwischen dem Europäischen Parlament und den Staats- und Regierungschefs
dann auch rasch eine Einigung über die Zusammensetzung der neuen Kommission zustandekommt, dass wir
nicht erleben, dass die zweite Hälfte des Jahres 2014
eine Phase der Lähmung und des Stillstands in Europa
wird. Vielleicht könnte das Jahr 2014, in dem ganz komplizierte Dinge zu klären sind, beispielgebend auch für
zukünftige Wahljahre sein.
Das Kommissionsprogramm ist ein guter Treibstoff
für das komplizierte europäische Getriebe im Jahr 2014.
Wir sollten die Bundesregierung unterstützen, wenn sie
ihrerseits die Kommission unterstützt, das Programm
umzusetzen.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Norbert
Spinrath für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Europa hat, denke ich,
dauerhaft nur eine Chance, wenn die Bürgerinnen und
Bürger dieses Europa aktiv für sich begreifen und sich
auch damit identifizieren.
({0})
Das gilt natürlich insbesondere im Mai dieses Jahres,
wenn die Bürger in Europa erneut die Wahl haben und
wieder mit Europa in Berührung kommen. Es reicht aber
nicht aus, das immer nur in Wahljahren zu betonen. Vielmehr müssen sich Europa und die europäische Idee für
die Bürgerinnen und Bürger verstetigen. Schon aus diesem Grunde muss Europa sozialer, demokratischer und
damit auch solidarischer werden.
({1})
Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat eben schon
deutlich gemacht, dass wir uns vor einer Armutszuwanderung nicht fürchten müssen. Schon die große Erweiterungsrunde im Jahr 2004, als die Europäische Union um
zehn Mitgliedstaaten anwuchs, hat bewiesen, dass Vorurteile und Besorgnisse unberechtigt waren. Dies gilt für
den Arbeitsmarkt genauso wie für die sozialen Sicherungssysteme und für die Kriminalitätsentwicklung, die
ich als Polizeibeamter damals besonders im Auge hatte.
Dabei - das sage ich ein wenig mahnend - ist es nicht
hilfreich, Ängste zu schüren und Ressentiments aufzubauen. Die Töne der letzten Wochen aus dem Süden der
Republik sind dem europäischen Gedanken nicht gerade
förderlich,
({2})
und - das sage ich in aller Deutlichkeit - sie sind nicht
angemessen. Sie zeugen eher von fehlender Sensibilität
und - das ist für mich besonders bedauerlich - von fehlender Kenntnis des EU-Rechts und des nationalen
Rechts.
Oftmals wird Europa als Alibi genutzt oder schlicht
verschwiegen: in diesem Hohen Haus, in den Länderparlamenten, in den Regierungen in Bund und Ländern.
Wenn es etwas Positives für die Bürgerinnen und Bürger
zu vermelden gibt, dann fehlt oft der Hinweis darauf,
dass man lediglich europäisches Recht in nationales umgesetzt hat. Bei den die Bürger belastenden Vorgängen
versteckt man sich hingegen oft gerne dahinter, dass man
gezwungen war, europäisches Recht auf nationaler
Ebene umzusetzen: „Die da in Brüssel sind schuld“, lautet oft die Rechtfertigung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir,
dass wir alle miteinander ehrlicher werden. Hand aufs
Herz: Jeder hier im Saal weiß, dass in Brüssel nichts
läuft, was nicht vorher in Berlin abgenickt wurde.
({3})
Ich will damit sagen: Wir brauchen eine bessere
Kommunikation über Europa, aber vor allen Dingen mit
den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam zu Europa.
Wir müssen erklären, was Europa bedeutet. Europa entscheidet eben nicht nur über die Krümmung der Banane,
sondern hat oftmals auch auf unsere Forderung hin wesentliche Verbraucherrechte entscheidend gestaltet und
ausgebaut. Das ist, denke ich, in einer Welt des globalisierten Handels wichtig.
Europa muss eben nicht nur Krisen bewältigen. Es
muss den Euro nicht nur retten, sondern hat mit dieser
Währung auch viele Vorteile für die Menschen und die
Unternehmen geschaffen, die grenzenlos reisen, handeln
oder schlicht die Preise vergleichen wollen. Europa kostet die Steuerzahler eben nicht nur viel Geld, sondern ist
Motor für unsere Wirtschaft und damit auch Motor für
den Arbeitsmarkt in Deutschland.
({4})
Wir dürfen den Menschen nicht nur Finanztheorien erläutern und Fachchinesisch vorbeten, sondern müssen
ihnen direkt und klar sagen, dass zum Beispiel deutsche
Automobilhersteller Arbeitskräfte in Deutschland entlassen müssten, wenn deren Autos in Griechenland, Portugal oder Spanien nicht mehr gekauft werden können,
weil viele Menschen dort um ihre Existenz fürchten.
({5})
Europa will eben nicht nur die Vorratsdatenspeicherung, sondern Europa hat auch einen einzigartigen Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen,
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und ihres Anrechts auf Freizügigkeit und auf Sicherheit im Alltag.
Die Europäische Union wird durch ihre Erweiterungen nicht in ihren Grundwerten bedroht, sondern erlebt
einen Zuwachs an kultureller Vielfalt, von dem unsere
Gesellschaften nur profitieren können.
Europa darf nicht nur an seinen Krisen und den Kosten zu deren Bewältigung gemessen werden, sondern
daran, wie viel Mut alle Beteiligten aufbringen, die
Haushalte einiger Mitgliedstaaten nicht nur durch Sparzwänge, sondern auch gleichberechtigt zu konsolidieren,
also über Programme für Wachstum und Beschäftigung
dafür Sorgen zu tragen, dass es dort wieder aufwärts
geht. Dabei sind aber auch - ich sage das mit allem
Nachdruck - diejenigen an den Kosten zu beteiligen, die
sie verursacht haben.
({6})
Europa darf nicht ausschließlich auf den nächsten
Haushalt und auf Austerität schielen, also auf Sparen um
jeden Preis, sondern muss Sorge dafür tragen, dass diejenigen, für die die Zukunft Europas gestaltet wurde, diese
Zukunft auch erleben und an ihr teilhaben können, nämlich die Jugend Europas.
({7})
Die Europäische Kommission scheint einiges davon
verstanden zu haben. Für ihr Arbeitsprogramm hat sie
nicht mehr viel Zeit. Ich bewerte es aber als sehr positiv,
dass die Förderung von Wachstum und Beschäftigung,
insbesondere die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, stärker in den Blickpunkt gerückt wurde. Denn die
größte Bedrohung für den sozialen Frieden innerhalb
Europas ist - neben dem Verlust des Arbeitsplatzes - die
Perspektivlosigkeit junger Menschen. Denn wie soll jemand, der schon selbst keine Perspektiven hat, für künftige Generationen Perspektiven schaffen?
({8})
Daher muss sichergestellt werden, dass die entsprechenden Mittel zügig eingesetzt werden.
Die Jugend ist Europas Zukunft; das habe ich schon
gesagt. Gerade für sie müssen wir etwas tun, gerade für
sie müssen wir Chancen eröffnen. Dies ist nicht nur unsere Verantwortung; es ist auch unsere soziale Verpflichtung. Nur wenn die Jugend, wenn die Menschen insgesamt in sozialer Sicherheit leben können, ist auch der
soziale Friede in Europa gesichert, und nur dort, wo sozialer Friede herrscht, kann auch wirtschaftlicher Wohlstand wachsen. Deshalb sollten wir über gute Programme nicht nur reden, sondern auch alles tun, um sie
schnellstmöglich umzusetzen. Die Zeit, die der Kommission für ihr Arbeitsprogramm zur Verfügung steht, ist
kurz.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Europa hat
nur dann eine Chance - das habe ich eben gesagt -,
wenn wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Wir
müssen darauf drängen, dass die Kommission nun
schnell die wesentlichen Maßnahmen umsetzt. Wenn
dies nicht gelingt, verlieren viele Menschen in Europa
viel Zeit zur Lösung ihrer Probleme. Damit verlieren sie
auch ihre Perspektiven. Ich denke, es ist unerlässlich,
dass Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäftigung und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
gleichberechtigt neben Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung stehen, dass die aus der Sparpolitik resultierenden Belastungen gleichmäßig verteilt werden und nicht
einseitig von den sogenannten kleinen Leuten getragen
werden müssen.
Mit meinem Dank für die Aufmerksamkeit äußere ich
noch einen Wunsch: Ich will weiter für ein soziales Europa arbeiten und daran glauben, dass es ein Europa der
Bürgerinnen und Bürger gibt. Dieses Europa soll nicht
nur Banken retten.
({9})
Auch Ihnen, Herr Kollege Spinrath, gratuliere ich
herzlich zu Ihrer ersten Rede. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Gauweiler für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen! Ich
schließe mich dem Glückwunsch für meinen Herrn Vorredner zu seiner Jungfernrede an. Das gibt mir die Gelegenheit, zu dem Punkt aus dem Themenkatalog der
CSU, der heute ein wenig leise Kritik von Ihnen auf sich
gezogen hat, den Herrn Fraktionsvorsitzenden der SPD,
unseren Kollegen Oppermann, zu zitieren. Er hat sich
vor wenigen Tagen dazu geäußert, nachdem die Bundesregierung auf unsere gemeinsame Initiative hin einen
Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat - ich zitiere -:
Es darf kein EU-Recht geben, das Anreize für Armutseinwanderung schafft. Wir wollen nicht, dass
Menschen nur deshalb nach Deutschland kommen,
weil hier die Sozialleistungen höher sind als anderswo. Das würde unser soziales Sicherungssystem nicht aushalten. Deshalb wollen wir hier
Klarheit schaffen, auch in Gesprächen mit der Europäischen Union.
Besser kann man es nicht ausdrücken, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Ich teile Ihre Auffassung, dass uns eine Strategie der
diffamierten Negativgruppen nicht weiterhilft, sondern
auf allen Seiten zum Scheitern verurteilt ist. „Populistisches Herumgeschreie“, wie Frau Kollegin Baerbock es
ausgedrückt hat, brauchen wir nicht.
({1})
Ich darf in diesem Zusammenhang aber an eine Debatte
aus der Zeit von Rot-Grün erinnern, auch wenn die
lichten Tage der rot-grünen Regierung unter Kanzler
Schröder und Vizekanzler Fischer ja schon einige Zeit
vorbei sind. Damals hat der Regierungschef von RotGrün in der Debatte über die Notwendigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen erklärt: „Raus, aber schnell.“
Zu derart sensiblen Äußerungen waren wir bisher nicht
in der Lage.
({2})
- Wo bleibt der Beifall?
Es ist auch richtig, dass niemand ein Interesse daran
haben kann, die Menschen, die aus den Donau-Ländern
zu uns kommen, herunterzureden, zu diskreditieren. Wir
wollen dies nicht, und wir wehren uns dagegen. Wir in
Bayern sind stolz darauf, dass sich diese Menschen in so
großer Zahl im Freistaat niederlassen und sich, wenn alle
Umfragen stimmen, bei uns ziemlich wohlfühlen, nicht
so wohl wie in Dortmund oder Essen, aber immerhin,
wir arbeiten daran.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind gegen „populistisches Herumgeschreie“, aber auch gegen
gutmenschliche Heuchelei.
({3})
Wenn wir uns auf dieses beides einigen können, dann
können wir weiterkommen. Ich muss aber auch ganz offen sagen: Wir werden bei dieser Thematik keine Ruhe
geben. Das sollten Sie auch nicht. Wir erwarten, dass der
Bericht des Staatssekretärsausschusses zügig vorgelegt
wird. Wir erwarten auch, dass nicht nur die Regierungen
Bulgariens und Rumäniens, die sich letztlich noch im
Aufbau befinden, sondern auch die EU-Kommission und
insbesondere der presseerklärungsfreudige EU-Kommissar Andor alles tun, dass der derzeitige skandalöse Zustand, dass von dem Etat von 27 Milliarden Euro, den die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union für Bulgarien
und Rumänien für Maßnahmen zur Arbeitsintegration,
für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Sozialhilfe zur
Verfügung gestellt haben, wovon 10 Milliarden Euro die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Bundesrepublik
Deutschland bezahlt haben, nicht länger über 50 Prozent
auf der hohen Kante liegen, sondern endlich eingesetzt
werden. Sie sollten uns unterstützen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir das verlangen.
({4})
- Ich verstehe offen gesagt kein Wort.
({5})
- Ich meine das wirklich nur akustisch.
Das hängt auch damit zusammen, dass es doch überhaupt kein Argument ist, dass auch bei uns solche Mittel
nicht abgerufen werden. Auch der Städtetag muss sich
diese Fragen gefallen lassen. Er hat einen Brandbrief mit
drastischen Formulierungen - ich möchte sie aus Zeitgründen nicht wiederholen - an alle Parteien geschrieben.
({6})
Dieser Brief ging auch an Sie. Der Städtetag fordert: Tut
endlich etwas; wir brauchen die Geldmittel. Doch dann
erfährt man - Stichwort „eigene Nase“ -, dass große Beträge nicht abgerufen worden sind. Das ist doch zum
Verzweifeln. Da braucht man sich doch nicht zu wundern, dass die Betroffenen fragen: Wie ist es um das
politische Management in unserer Gesellschaft und die
politische Klasse überhaupt bestellt? Die Beteiligten täten gut daran - ich sage das als Kontrapunkt zu dieser
Debatte -, baldmöglichst einen Bericht vorzulegen, wie
diese Mittel endlich eingesetzt werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege
Sarrazin hat in einem Beitrag eines Historikers etwas gesagt, was ich hier aufgreifen möchte. Er hat gesagt, es
wird versäumt, die guten Argumente für Europa - wir
reden hier über das Arbeitsprogramm der Kommission
für 2014 - stark zu machen. Er hat aber auch gesagt,
dass man über Europa streiten können muss; das heißt,
dass nicht jede Abweichung um einen Millimeter vom
Papier sofort mit dem Verdikt „Europafeind“ belastet
wird.
({7})
Wenn ein Klima geschaffen wird, dass man an der
Europäischen Kommission keine Kritik mehr üben kann,
ohne den Vorwurf auf sich zu ziehen, sich in blindem
Nationalismus zu ergehen, dann tun Sie der Diskussion
keinen Gefallen. Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit
sind der Ausgangspunkt des Zusammenschlusses, und
Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit sind durch Überregulierungs-, Verbots- und Vorschriftenwahn aus Brüssel
schwer in Bedrängnis gekommen. Wer dies nicht sieht,
egal ob er links oder rechts ist, ist blind und taub.
({8})
Deswegen muss die Entbürokratisierung bei der Europäischen Union anfangen.
({9})
Ich zitiere wieder einen Kollegen aus Ihrer Mitte: Deswegen müssen wir auch ein Programm entwickeln, Aufgaben von der Europäischen Union wieder auf die tiefere
Ebene herunterzulegen. - Martin Schulz, der Präsident
des Europaparlaments.
Herr Kollege Gauweiler, darf die Kollegin Brantner
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Wenn ich den einen Satz noch beenden darf.
Aber klar.
Herr Schulz hat recht, wenn er sagt:
… viele Leute haben den Eindruck, dass … die
Kommission in Brüssel sich zu oft in Dinge einmischt. Das ist alles richtig, das kann ich alles nachvollziehen, aber das kann man ja reformieren durch
Subsidiarität, indem wir Maßnahmen, die wirklich
in Brüssel nicht notwendig sind, zurückübertragen
auf die Mitgliedstaaten.
Wir erwarten hier einen Arbeitskatalog über die Themenbereiche, die wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden können.
Bitte, Frau Kollegin.
Wie Sie wissen, ist in Brüssel für die Entbürokratisierung Ihr Kollege Stoiber zuständig. Wenn Sie das hier
einfordern und sagen: „Da passiert nicht genug“, würden
Sie dann also zugeben, dass Herr Stoiber die letzten
Jahre - er ist ja schon seit Jahren dort - nicht gut genug
die Arbeit vorangetrieben hat?
({0})
Das war ja hammerhart.
({0})
Aber parlamentarisch zulässig, Herr Kollege
Gauweiler.
({0})
Das war ja durchaus liebevoll von mir. „Parlamentarisch zulässig“. Sie bräuchten Hundert Stoibers, wenn
ich Ihnen das ganz offen sagen darf, um das anzugehen.
({0})
Frau Kollegin, ich darf jemanden zitieren, der Ihnen
vielleicht noch näher ist als ich, und zwar den Philosophen Jürgen Habermas. Er sagte in einem Vortrag mit
dem Titel „Wie demokratisch ist die EU?“:
Das … Netz supranationaler Organisationen weckt
seit Langem die Befürchtung, dass der im Nationalstaat gesicherte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie zerstört [wird].
Deshalb erwarte ich mir von Ihnen nicht nur geistreiche
Zwischenfragen, sondern ein aktives Eintreten auch von
Ihnen als Grüne, dass Sie sagen: Mit einem Superstaat
ist das Problem der Demokratie nicht gelöst, sondern darin kann auch eine Gefährdung liegen.
Ich wollte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der
dies fortsetzt. In dem EU-Arbeitsprogramm, über das
wir reden, wird das geplante Freihandelsabkommen mit
den USA ganz kurz angesprochen. Wir begrüßen dieses
Freihandelsabkommen. Wir hatten den amerikanischen
Botschafter zu unserer Tagung im Tegernseer Tal eingeladen. Aber dieses Abkommen hat viele Probleme: Die
Verhandlungen werden in einem absoluten Geheimverfahren geführt. Im Oktober soll ein Vertrag unterschrieben werden. Das Papier umfasst jetzt, wie man hört,
1 000 Seiten. Es kann nicht angehen, dass der Bundestag
dann nach bekanntem Muster im Oktober wieder drei
Tage bekommt, um die Sache schnell zu überprüfen.
({1})
In diesem Vertrag sind sogenannte Schiedsgerichte
vorgesehen. Diese gelten für alle amerikanischen Freihandelsabkommen. Vor einem solchen Schiedsgericht
kann dann der Investor gegen den Staat wegen Benachteiligung aller Art klagen, aber der umgekehrte Weg ist
nicht möglich. Auch diese Verhandlungen sind geheim.
Sie können auf diesem Wege die örtlichen Rechtssituationen, Umweltschutzrecht, Datenschutzrecht, alles, was
hier uns allen gemeinsam hoch und wichtig ist, aushebeln. Sie können die örtliche Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten aushebeln.
Ich halte das bei aller Liebe zum Zentralismus, zum
Großstaat, zu diesem Erdteil, „Alle sprechen nur mit einer Stimme“, für einen gefährlichen Weg. Deswegen haben wir uns in der Großen Koalition entschlossen, im
Koalitionsvertrag festzulegen, dass die Voraussetzung
für dieses Abkommen nicht nur die Einhaltung demokratischer Normen ist - das ist ja eine Selbstverständlichkeit -, sondern auch der Erhalt unserer Gerichtsbarkeit
und die Verteidigung unserer Rechtssituation. Wir müssen nach Unterzeichnung dieses Abkommens immer
noch unsere örtlichen Regeln in Bayern, in NordrheinWestfalen oder sonst wo ändern oder unter Umständen
verschärfen können. Wir erwarten, dass die Bundesregierung alsbald verlangt - sie hat es bereits angekündigt;
aber bisher noch nicht getan -, dass die EU den Rat und
die nationalen Parlamente über den Stand der Verhandlungen und den Inhalt dieses Abkommens informiert.
({2})
Herr Kollege Gauweiler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Gehrcke?
Immer.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herzlichen Dank,
Kollege Gauweiler. Habe ich Ihre klare Begründung der
Ablehnung eines Abschlusses des Freihandelsabkommens richtig verstanden, dass Sie also der Meinung sind,
dass es, wenn es so bleibt - so haben Sie es formuliert -,
eigentlich Aufgabe des Bundestages wäre, die Bundesregierung aufzufordern, ein solches Freihandelsabkommen
im Rahmen der EU nicht zu unterstützen und die Verhandlungen abzubrechen?
Da haben Sie mich richtig verstanden. Sie haben aber
außerdem gesehen: Ich habe es als Erfolg dargestellt,
dass die Große Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung
genau an dieser Stelle den Finger in die Wunde gelegt
hat und Voraussetzungen geschaffen hat, die für die Zustimmung zu diesem Abkommen unabdingbar sind.
Wenn uns die Linke hier unterstützt, dann freut sich die
CSU besonders darüber.
({0})
Ich wollte noch eine ganze Menge zu Ihnen sagen,
zum Beispiel zu strengeren Regeln auf den Finanzmärkten, zur Außenpolitik und zur notwendigen Entschlackung des Auswärtigen Dienstes der EU - es ist völlig
verrückt, hier eine Institution mit 6 000 oder 9 000 Planstellen vorzusehen -, zu unserem lieben Euro und zur
Unmöglichkeit, eine Bankenrettung direkt aus Mitteln
des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu bezahlen.
Ich sehe gerade, dass der Herr Präsident das Lämpchen blinken lässt.
Die Frau Präsidentin! Aber das Blinken bleibt das
gleiche.
({0})
Das ist eine Jungfernunterbrechung durch diese Präsidentin, wenn ich das einmal sagen darf.
({0})
Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin, ich habe den
Präsidentenwechsel nicht bemerkt. Selbst wir können
nicht nach hinten schauen.
({1})
Aber ich kann Sie von hinten beobachten, keine
Angst.
Ich freue mich sehr, wenn es gelungen ist, einige wenige Punkte eines sehr schwierigen Themas zu klären.
Wir wollen mit der Europäische Union zusammenarbeiten. Wir schätzen diese Institution als, wenn Sie so wollen, Jahrhunderterfindung der Politik. Wir meinen aber
auch, dass die Europäische Union und ihre Instanzen folgenden alten Spruch, der im gesellschaftlichen, im beruflichen und im privaten Leben immer gilt, berücksichtigen sollten: Weniger kann manchmal mehr sein.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Dr. Gauweiler.
Mit unserem streitbaren Kollegen Gauweiler schließe
ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Claudia Roth
Das Massensterben an den EU-Außengrenzen
beenden - Für eine offene, solidarische und
humane Flüchtlingspolitik der Europäischen
Union
Drucksache 18/288
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre und sehe
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Ulla
Jelpke von der Linken.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der aktuelle Anlass für den vorliegenden Antrag der Fraktion
Die Linke sind die tragischen Schiffsunglücke auf Lampedusa und anderswo, die im Herbst vergangenen Jahres
im Mittelmeer weit über 500 Flüchtlingen das Leben gekostet haben.
Betroffenheit war allgemein zu spüren. Herr Gabriel
zum Beispiel sprach davon, dass es eine große Schande
für die Europäische Union sei. Der italienische Präsident
Napolitano sprach von einem Massaker, EU-Kommissionspräsident Barroso von einem europäischen Notstand, und der Papst prangerte die Gleichgültigkeit in
den Industriestaaten an.
Leider sind die Tragödien vor Lampedusa alles andere
als einzigartig. Seit 1988 starben etwa 20 000 Flüchtlinge
entlang der europäischen Außengrenzen, die meisten im
Mittelmeer. Die Toten sind Ergebnis der Abschottungspolitik der Europäischen Union. Daher will ich zu Beginn ganz klar sagen: Es genügt eben nicht, sich nur erschüttert zu zeigen, sondern es müssen endlich Taten
folgen, um eine Wiederholung solcher Katastrophen zu
vermeiden.
({0})
Das heißt in erster Linie, dass Asylsuchende eine legale und sichere Möglichkeit haben müssen, nach
Europa einzureisen. Aber daran, meine Damen und Herren, denken die Innenminister der EU überhaupt nicht.
Die Leichen von Lampedusa waren noch nicht geborgen, da nutzten die Innenminister diese Tragödie als Vorwand, einen weiteren Ausbau der Festung Europa festzulegen. Nicht „Hilfen für Flüchtlinge“ ist ihre Devise,
sondern „Noch mehr Abschottung“.
Kürzlich hat die EU das milliardenteure Grenzüberwachungssystem EUROSUR in Betrieb genommen.
Polizei, Geheimdienste, Militär sollen mit Satelliten und
Drohnen die Seeüberwachung perfektionieren. Fakt ist:
Nicht die Rettung Schiffbrüchiger steht hier im Vordergrund, sondern das Abfangen von Flüchtlingsschiffen,
lange bevor sie die EU-Grenzen erreichen.
({1})
Deswegen wird die libysche Grenzpolizei beispielsweise
mithilfe der EU und NATO aufgerüstet. Deswegen machen die ägyptischen und libyschen Küstenwachen Jagd
auf Flüchtlingsboote. Solange die EU keine Anstrengung unternimmt, Kriege und ökonomische Not als
Fluchtursachen anzuerkennen und diese auch endlich zu
bekämpfen, und solange sie keine Hilfe leistet, ist diese
Abschottungspolitik einfach nur skrupellos, menschenverachtend und beschämend.
({2})
Es gibt noch mehr Beispiele. Derzeit wird in der EU
über eine neue Frontex-Verordnung diskutiert. Im Rahmen von Frontex-Operationen auf hoher See sollen aufgebrachte Schiffe in den Staat zurückgebracht werden,
von dem sie gestartet sind. Flüchtlingsschutz auf hoher
See gibt es in dieser Realität schlicht nicht; das Beispiel
Griechenland zeigt es. Pro Asyl spricht hier beispielsweise von systematischen völkerrechtswidrigen Menschenrechtsverstößen und einer erschreckenden Brutalität der griechischen Küstenwache gegenüber den
Flüchtlingen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Huber?
Ja, gern.
Frau Kollegin Linke -
Jelpke.
Jelpke. „Linke“ wäre auch nett, aber - ({0})
Frau Kollegin Jelpke, Entschuldigung; aber ich habe
hier „Linke“ gelesen. Entschuldigen Sie!
({0})
Folgendes: Es macht uns natürlich betroffen, wenn
wir diese Flüchtlingsszenarien vor Lampedusa sehen.
Aber ich sage Ihnen: Betroffenheit ist noch lange kein
politisches Konzept.
({1})
Vorhin ging es einmal um die Frage: Was ist Ursache,
und was ist Wirkung? So wie Sie dieses Thema aufbereiten, habe ich ein bisschen den Eindruck, dass Sie sich
sehr der Wirkung, aber weniger den Ursachen widmen.
Dass wir eine Verantwortung für in Not geratene
Menschen haben, ist natürlich prinzipiell richtig. Aber
ich denke, dass es prinzipiell gleichermaßen wichtig ist,
die Verantwortung nicht von denen zu nehmen, die diese
Situation durch die politischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in ihren eigenen Ländern,
den Ursprungsländern der Flüchtlinge, verursacht haben
und die kein Konzept für eine solide Staatsführung haben.
Herr Kollege, würden Sie zu Ihrer Frage kommen?
Das ist nämlich eigentlich so gedacht.
Meine Frage ist: Ist es in erster Linie die Verantwortung der Bundesregierung bzw. der europäischen Staaten, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern, oder ist es
gleichermaßen auch die Verantwortung der Länder bzw.
der politisch Verantwortlichen in den Länder, aus denen
die Flüchtlinge nach Europa kommen?
Ich will die Frage gern beantworten; damit es nicht
von meiner Redezeit abgeht, müssen Sie stehen. - Ich
will Ihnen ganz deutlich sagen: Die europäischen Staaten, aber auch viele andere Staaten, etwa Amerika, haben Anteil an der Schaffung von Fluchtursachen. Daraus
ergibt sich eine klare Mitverantwortung. Flüchtlinge, die
aus Libyen zu uns gekommen sind, haben uns berichtet,
wie die Bomben der NATO über ihnen gefallen sind; einige waren bereits vorher auf der Flucht. Deswegen stehen die Länder, die in der NATO sind, auch mit in der
Verantwortung, die Ursachen von Flucht zu bekämpfen
bzw. Flüchtlingen zu helfen.
Man kann nicht einfach so tun, als wäre man nicht beteiligt an der Politik, die zur Ausbeutung vieler Länder
beigetragen hat. Ich nenne als Stichworte nur: Nordafrika, EU-Fischfangflotte. Die europäischen Konzerne
fischen den Menschen vor Ort seit Jahren den Fisch vor
der Küste weg. Also fliehen die Menschen. Auch so
schafft man Fluchtursachen. Man muss in diesen Fragen
konsequent eine andere Politik machen; dann wird es
auch nicht mehr so viele Flüchtlinge geben. Ich sage es
Ihnen ganz deutlich: Die meisten Menschen kommen
nicht aus Lust und Laune nach Europa, sondern müssen
vor Krieg oder Umweltkatastrophen fliehen oder sind in
wirtschaftlicher Not. Deswegen hat die Europäische
Union dafür, dass Flüchtlinge hierher kommen, eine
Mitverantwortung.
Wenn man es Flüchtlingen durch Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen immer schwerer macht, ist man
mit dafür verantwortlich, dass sie nach immer neuen Wegen, über die Meere, suchen. Man müsste stattdessen
darüber diskutieren, wie es Flüchtlingen ermöglicht werden kann, nach Europa einzureisen und ein Schutzgesuch zu stellen. Das ist derzeit nicht möglich. Man muss
gewissermaßen vom Himmel fallen, wenn man in diesem Land überhaupt einen Asylantrag stellen möchte.
Das kritisieren die Flüchtlingsgruppen zu Recht. Ich
meine, es ist an der Zeit, nicht nur in Sachen Sicherheit
zu arbeiten, sondern Wege zu finden, um den Flüchtlingen zu helfen.
({0})
Danke schön. Jetzt geht die reguläre Rede weiter.
Angesichts der zunehmenden Abschottung der Außengrenzen hat die Linke schon immer gefordert: Frontex muss abgeschafft werden; diese Einrichtung ist nicht
kontrollierbar. Wer vor den Küsten Europas gerettet
wird, muss Zugang zu einem Asylverfahren in Europa
bekommen.
Auch innerhalb der EU herrschen schlimme Zustände: In Griechenland, Bulgarien, Italien gibt es keine
funktionierenden Asylsysteme. Hier hätte Europa, auch
Deutschland, längst viel mehr Druck ausüben müssen.
Das zeigt das Beispiel der Flüchtlinge, die über Lampedusa nach Hamburg gekommen sind. Sie haben erlebt,
wie Libyen bombardiert wurde, und hofften, hier endlich
wieder Sicherheit zu finden. Doch was passiert in Hamburg? Anstatt dass man ihnen Hilfe leistet, werden die
Flüchtlinge dort systematisch zermürbt, ständig kontrolliert usw., usw., um sie zur Rückkehr zu zwingen. Das
hält die Linke für grundsätzlich falsch.
({0})
Die Linke hat großen Respekt vor dem Mut der
Flüchtlinge, nicht nur der Flüchtlinge in Hamburg, sondern auch der Flüchtlinge, die hier in Berlin am Oranienplatz oder in anderen Städten Aktionen für ihre Rechte
durchführen und sich diesem Ausgrenzungsregime nicht
beugen wollen. Sie verdienen unsere volle Solidarität.
Man darf sie nicht weiter ausgrenzen.
({1})
Meine Damen und Herren, die EU steckt Milliarden
in den Ausbau der Festung Europa, doch sie bleibt tatenlos, wenn es um Verbesserungen des Flüchtlingsschutzes
innerhalb der EU geht. Es gibt zum Beispiel keine gemeinsamen Anstrengungen zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien. Natürlich weiß ich, dass Deutschland
- immerhin - 5 000 Flüchtlinge aufgenommen hat und
jetzt weitere 5 000 aufnehmen will; aber auch das verläuft viel zu schleppend: Die Bürokratie hat es in acht
Monaten gerade einmal geschafft, 1 700 Flüchtlinge aus
Syrien aufzunehmen.
Statt konkreter Hilfe erleben wir eine zunehmend
rechtspopulistische Hetze - übrigens aus den Reihen der
Union, insbesondere aus der CSU - gegen Migrantinnen
und Migranten aus Bulgarien und Rumänien. An dieser
Stelle bin ich ausnahmsweise einmal einig mit der EUUlla Jelpke
Kommission, die klargestellt hat, dass die Behauptungen, wie sie aus der CSU kommen, in keiner Weise
durch Zahlen gestützt sind.
Frau Jelpke, entschuldigen Sie, aber gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage von Herrn Huber?
Ja, gerne.
Kollegin Jelpke - jetzt sage ich Ihren Namen richtig -,
Sie haben gerade über die CSU gesprochen. Ich hatte
- das sage ich, weil Sie zu diesem Thema reden - vor
kurzem ein Interview für die Süddeutsche Zeitung genau
zu diesem Thema, zum Thema Flüchtlinge in Bayern.
Was passiert denn in den Herkunftsländern, zum Beispiel auch in einem Land wie Senegal? Es werden unter
anderem die Küsten leergefischt. Das betrifft auch Senegal. Das nur zu den Ursachen: Die Fischereirechte werden von den dortigen politischen Eliten an die Fangflotten der EU und andere verkauft. Das heißt, das ist
außerhalb der Verantwortlichkeit der Europäer.
Tatsache ist: Man hat in diesem Zusammenhang ein
Land als Beispiel genommen, von dem man sagt, dass
Menschen politisch verfolgt werden, wenn sie eine andere politische oder religiöse Orientierung haben. Das
stimmt so nicht. Ich denke, dass Sie dieses Thema sehr
stark pauschalisieren, zum Teil ohne Kenntnis der Situation vor Ort.
({0})
Es ist wichtig und richtig, Menschen aus Krisengebieten
aufzunehmen. Aber ich denke, dass Sie einen dezidierten
Unterschied machen müssen zwischen Menschen in
wirtschaftlicher Not und Leuten, die tatsächlich aus
Kriegsgebieten kommen.
Darf ich Sie nochmals bitten, eine Frage zu formulieren, wohlwissend, dass Sie jetzt schon eine Zwischenbemerkung gemacht haben?
Dann möchte ich eine Frage formulieren: Sind Sie zukünftig willens, eine Differenzierung zu machen zwischen Menschen, die tatsächlich Asyl brauchen, weil sie
aus Krisengebieten oder Kriegsgebieten kommen, und
Wirtschaftsflüchtlingen, denen Sie genau dieselbe Not
unterstellen, für die die Europäische Union bzw.
Deutschland verantwortlich sein soll?
Danke, Herr Kollege. - Frau Jelpke, bitte.
Herr Kollege, ich war, und zwar nicht nur alleine,
sondern auch im Rahmen vieler Delegationsreisen des
Innenausschusses, in Griechenland, Italien und vielen
anderen Ländern. Ich kann Ihnen versichern: Ich kenne
die Situation vor Ort sehr gut.
Es kann einfach nicht sein, dass Menschen, die
Schutz suchen, zum Beispiel in Griechenland bis zu
18 Monaten einfach inhaftiert werden, ohne je ein Verfahren gehabt zu haben.
({0})
Wir müssen natürlich immer wieder überprüfen, wer
Asyl haben muss. Natürlich unterscheide ich zum Beispiel zwischen Ländern wie Bulgarien und Rumänien.
Aber angesichts Ihrer Parole „Wer betrügt, fliegt“, muss
man hier die Frage stellen: Wer betrügt hier eigentlich,
und wer sollte eigentlich fliegen?
({1})
Ich will Ihnen deutlich sagen: Es geht um 400 000 Menschen, die seit 2010 eingereist sind, und um 38 000 Menschen, die noch keine Arbeit gefunden haben. Sie machen daraus eine Kampagne. Daraus werden Brandstifter
in dieser Republik. Ich kann Sie nur warnen, hier weiter
diese Linie zu fahren. Differenzieren Sie erst einmal:
Was wollen Sie hinsichtlich der Freizügigkeit in der Europäischen Union und hinsichtlich der Aufnahme von
Zuwanderern, die Deutschland in der Tat braucht? Dann
können wir uns vielleicht im Einzelnen weiter unterhalten.
({2})
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die Europäische Union und
damit auch Deutschland eine große Mitverantwortung
tragen für Tod und Elend der Flüchtlinge. Deswegen fordert die Linke eine grundlegende Wende bei der europäischen Flüchtlingspolitik. Dazu gehört natürlich auch die
Bekämpfung von Fluchtursachen; darauf wird mein Kollege später noch eingehen. Schutzsuchende müssen eine
Möglichkeit bekommen, nach Europa einzureisen. Es
muss vor allen Dingen die Asylrichtlinie überarbeitet
werden, damit es in allen EU-Staaten wirklich gleiche
Standards gibt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, mein letzter Satz. - Die Botschaft der Linken ist:
Wir wollen ein Europa der offenen Grenzen für Menschen in Not.
({0})
Das muss möglich sein, wenn man von Solidarität und
von Freizügigkeit spricht.
Ich danke Ihnen.
({1})
Der nächste Redner ist Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle haben die schockierenden Bilder vom Herbst
letzten Jahres in Erinnerung. Das Schicksal der ertrunkenen Flüchtlinge, der Opfer, kann niemanden kaltlassen.
Viele Tausend Menschen sind in den letzten Jahren bei
dem Versuch, nach Europa zu kommen, im Mittelmeer
ertrunken. Im Mittelmeer spielt sich in der Tat eine Tragödie ab.
Unser Ziel muss sein, dass sich Flüchtlinge gar nicht
erst in diese lebensbedrohliche Situation begeben. Wie
schwierig es ist, dieses Ziel zu erreichen, zeigt allein ein
Blick auf diese Debatte in den letzten Jahren, die uns ja
schon seit Innenminister Schily parteiübergreifend beschäftigt.
Die Motive der Flüchtlinge sind durchaus nachvollziehbar. Wenn Familien vor dem Bürgerkrieg in Syrien
flüchten, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten,
dann gibt es wohl niemanden, der dafür kein Verständnis
aufbringen kann. Gleiches gilt für Menschen, die
schlicht auf ein besseres Leben in Europa hoffen und
sich vor Hungersnöten, Bürgerkrieg oder einfach bitterer
Armut auf den langen Weg zu uns machen wollen.
Wer sich die Flüchtlingsberichte näher ansieht, der
versteht schnell, wie es zur Flucht kommen kann. Nur
ein Beispiel von vielen, wie sie täglich stattfinden: Eine
Frau, die in Somalia Fußball spielt, wird von Milizen bedroht, die das als unislamisch ansehen. Der Ehemann
wird ermordet. Deswegen flieht die Frau mit Kind in ein
Flüchtlingslager. Dort trifft sie auf einen Schleuser, der
viel Geld verlangt und ein besseres Leben in Europa verspricht.
Damit sind wir schon beim Kern des Problems: Es
sind die Schleuser, die den Menschen in Flüchtlingslagern in Afrika häufig das Blaue vom Himmel versprechen. Sie locken Flüchtlinge mit falschen Versprechungen und fordern Tausende von Dollar für die Schleusung
nach Europa. Nach Schätzungen des Bundesnachrichtendienstes werden heute weltweit bereits mehrere Milliarden Euro mit Schleusung und Menschenschmuggel
verdient.
Deshalb müssen wir diese Dinge sehr konzentriert angehen. Wer sich mit den Berichten zu Fluchten über das
Mittelmeer und dem Schicksal der Flüchtlinge näher befasst, der wird auf ganz ungeheuerliche Berichte stoßen:
defekte oder überfüllte Boote, katastrophale hygienische
Verhältnisse und die Tatsache - das ist für mich eine der
schlimmsten Nachrichten -, dass Schleuser die Flüchtlinge, die sie für viele Tausend Dollar an Bord genommen haben, teilweise sogar ins Meer werfen, wohlwissend, dass sie gar nicht schwimmen können.
Diesem Unwesen müssen wir entschlossen entgegentreten. Wir müssen dieses Übel an der Wurzel packen
und den Schleppern und den skrupellosen Banden das
Handwerk legen. Diese Forderung vermisse ich im Antrag der Linken.
({0})
Sie schlagen eine erleichterte Zuwanderung in die Europäische Union vor. Wir wollen auch Zuwanderung,
aber qualifizierte Zuwanderung, wie es Innenminister de
Maizière bei der Vorstellung des Migrationsberichtes
2012 erst am Mittwoch hier unterstrichen hat.
Es gibt bereits jetzt Möglichkeiten legaler Zuwanderung in die Europäische Union. Die Europäische Union
hat das Modell der Bluecard eingeführt. Dieses gibt es
seit August 2012 auch in Deutschland. Der Kerngedanke
dieser Bluecard ist aber eben, dass qualifizierte Zuwanderung nach Europa erfolgt.
Sie wollen das losgelöst von jeglicher Qualifikation.
Ich glaube, es darf nicht sein, dass wir nicht mehr selbst
entscheiden, wer zu uns nach Europa kommen darf.
Auch diejenigen, die ein festes Kontingent für die Europäische Union festlegen wollen, müssen sich die Frage
stellen, ob das wirklich hilfreich ist; denn wenn dieses
Kontingent erschöpft ist, werden sie ja wohl kaum einen
verzweifelten Menschen auf der Flucht auf das nächste
Jahr vertrösten können. Das wäre völlig lebensfremd.
Wenn wir das Qualifikationserfordernis aufgeben
würden, dann würden wir eine Sogwirkung erzeugen,
die das Problem nicht lösen, sondern sogar noch verschärfen würde. Die Ursachen der Flucht lassen sich
nicht durch Auswanderung lösen.
Ich warne auch vor einem Blick durch die rein nationale Brille. Es geht auch um die europäische Sicht. Anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union geht es in
wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nicht so gut wie
Deutschland. Deshalb muss die Zuwanderung in die EU
auch weiterhin begrenzt und gesteuert werden. Die Probleme, die in Afrika oder Syrien herrschen, sind von einer so gewaltigen Dimension, dass wir eben nicht alle
Betroffenen nach Europa holen können.
Die Grenzschutzagentur Frontex der Europäischen
Union erfüllt eine wichtige und sehr sinnvolle Arbeit. Es
ist wenig überraschend, dass sie von den Linken verteufelt wird und dass diese Frontex gerne abschaffen möchten. Sie übersehen dabei eines: Frontex hat in den
Einsätzen in den letzten beiden Jahren rund 40 000 Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet. Frontex verschließt nicht die Augen, sondern hilft dort, wo sie kann.
Deshalb ist Frontex eine wichtige und gute Einrichtung.
({1})
Aus den bisher gesammelten Erfahrungen wird deutlich, dass die Einbindung von Frontex bei Maßnahmen
zum Schutz der EU-Außengrenzen notwendig ist, denn
damit sind Gastbeamte der Europäischen Union vor Ort
an den Brennpunkten der Migration präsent. Es ist für einen nationalen Grenzschutzbeamten viel leichter, Standards zu missachten, wenn ihm dabei nicht ein internationaler Kollege über die Schulter schaut. Aber damit die
Standards geachtet werden, ist es eben wichtig, dass naThomas Silberhorn
tionale Grenzschützer und Frontex-Beamte zusammenarbeiten. Das sichert die Einhaltung von Menschenrechten. Deswegen sind wir in der Europäischen Union auf
dem richtigen Weg. Europa darf sich nicht zurückziehen,
sondern muss vor Ort präsent sein.
Das Dublin-System hat sich bewährt. Sie von der Linken wollen es im Kern abschaffen. Das überrascht nicht.
Auch da ist es aber wichtig, den Tatsachen ins Auge zu
blicken. Deutschland nimmt zum Beispiel deutlich mehr
Asylbewerber auf als Italien. Der Eindruck, der oft erweckt wird, dass die südeuropäischen Staaten viel stärker belastet werden als beispielsweise Deutschland, ist
schlicht falsch. Deutschland hat 2012 nicht nur in absoluten Zahlen die meisten Asylbewerber aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgenommen, sondern
pro Kopf der Bevölkerung sind es dreimal mehr als in
Italien. Allein im letzten Jahr, 2013, haben über 100 000
Menschen Asyl in Deutschland beantragt.
Wir haben auch an den Brennpunkten ganz praktisch
Solidarität geübt, indem wir Malta und Griechenland unterstützt haben. Deshalb ist das Dublin-System sinnvoll.
Dieses System verpflichtet jeden Mitgliedstaat dazu, die
europäischen Standards zu achten, etwa im Asylverfahren und bei der Durchführung dieses Verfahrens. Wir
verteidigen deshalb unsere europäischen Rechtsstandards, von Finnland bis zur Ägäis und eben nicht nur bis
zu den Alpen.
Unser Ansatz ist zunächst: Wir brauchen eine bessere
Seenotrettung. Wenn Boote im Mittelmeer kentern, dann
ist es die erste und oberste Pflicht, Menschenleben zu
retten.
({2})
Das ist nicht nur ein altes Gebot in der Seefahrt, sondern
das ist auch eine humanitäre Verpflichtung. Deswegen
haben wir in unserem Koalitionsvertrag ganz bewusst
vereinbart:
Der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die
Pflicht zur Seenotrettung müssen umfassend geachtet werden.
Das ist in der Koalition unsere Arbeitsgrundlage. Auch
hier gilt das alte Motto des Arbeiterpriesters Carl Sonnenschein:
Mit Menschen in Not soll man nicht diskutieren.
Man soll ihnen helfen.
({3})
Genau das tun wir in der Bundesregierung und in der
Europäischen Union. Frontex hat ihre Aktivitäten im
Mittelmeer und in der Ägäis bereits jetzt intensiviert.
Die Europäische Union hat dafür kurzfristig mehr Mittel
bereitgestellt.
Wir brauchen neben dieser Verbesserung der Seenotrettung eine Reihe weiterer Maßnahmen auf europäischer Ebene, die der Rat der Justiz- und Innenminister
im Herbst 2013 mit der Bildung einer Task Force Mittelmeer auf den Weg gebracht hat.
Erstens. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit
mit den Herkunfts- und den Transitstaaten in Afrika. Wir
pflegen einen umfassenden Dialog. Wir haben Mobilitätspartnerschaften geschlossen, zum Beispiel mit Marokko, Tunesien oder Jordanien. Wir leisten einen Beitrag zur Stabilisierung der Lage in Libyen. Aber auch die
nordafrikanischen Staaten haben ein hohes Maß an Verantwortung, zum Beispiel dafür, seeuntaugliche Nussschalen und Boote mit Hunderten von Flüchtlingen nicht
in See stechen zu lassen.
Zweitens. Wir müssen Menschenhandel, Schleuserkriminalität und organisierte Kriminalität entschlossen
bekämpfen.
Drittens. Wir müssen auch die Grenzüberwachung
verstärken, damit wir ein besseres Lagebild über die Situation auf See erzielen, auch damit Flüchtlingen in Seenot schneller geholfen werden kann.
Viertens. Wir müssen den Menschen vor Ort eine bessere Lebensperspektive bieten.
Diese Punkte können wir nicht alleine, sondern nur in
Kooperation mit den Herkunftsstaaten in Afrika erreichen. Das ist eben nicht allein unsere Aufgabe, sondern
auch die der betroffenen Länder in Afrika und der regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union.
Diese Länder brauchen Stabilität. Sie brauchen gute Regierungsführung, freie Parlamente, eine unabhängige
Justiz und eine funktionierende Verwaltung. Das sind die
Grundlagen für eine gute Entwicklung. Die Europäische
Union kann einen wichtigen Beitrag leisten, um diese
Prozesse zu unterstützen. Aber wir werden das nicht alleine tun können.
Wir perfektionieren nicht eine Abschottung Europas,
sondern Europa ist eben, gerade im Verhältnis zu unserem Nachbarkontinent, ein Hort für friedliche Entwicklung, für die Achtung der Menschenrechte, für wirtschaftlichen Wohlstand und für soziale Gerechtigkeit.
Wir helfen dort, wo wir können. Aber wir begeben
uns nicht in einen blinden und naiven Aktionismus. Die
Koalition macht sich auf den Weg, um die humanitären
Wege zu verbreitern. Ich weise darauf hin, dass wir vereinbart haben, das Bleiberecht für geduldete Ausländer
auszuweiten, wenn sie ihren Lebensunterhalt überwiegend selbst bestreiten können. Von daher brauchen wir
keine Nachhilfe in Sachen Flüchtlingspolitik. Ich setze
volles Vertrauen in Bundesinnenminister de Maizière.
({4})
Wir werden den Koalitionsvertrag konsequent umsetzen
und gemeinsam an einer Flüchtlingspolitik in Europa arbeiten, die hilft, Menschenleben zu retten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Silberhorn. Die nächste Rednerin ist Luise Amtsberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der Fraktion der
Linken erst einmal ausdrücklich dafür danken, dass Sie
gleich zu Beginn der Legislaturperiode dieses für uns
sehr wichtige Thema auf die Tagesordnung geholt haben. Absolut zutreffend problematisiert Ihr Antrag die
Fehlleitungen der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik, die bereits viele Menschen das Leben gekostet
hat. Er problematisiert den unerträglichen Umgang mit
den vor der ständig wachsenden Zahl an bewaffneten
Konflikten sowie vor Verfolgung, Diskriminierung oder
existenzieller Armut flüchtenden Menschen.
Seitdem die griechisch-türkische Landesgrenze unter
anderem mithilfe deutscher Beamter der Frontex-Mission Poseidon in den letzten Jahren immer stärker abgeriegelt wurde, bleibt Flüchtlingen neben dem Landweg
von der Türkei nach Bulgarien nur noch der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, um in die Europäische Union zu gelangen. Die grausame Realität, dass
dieser Weg in vielen Fällen tödlich endet, haben uns die
Bilder von Hunderten nebeneinander aufgereihten Särgen in Lampedusa wieder ins Bewusstsein gerufen.
Viele Politiker und Politikerinnen der EU, auch hier
in der Bundesrepublik, hielten für einen Moment inne
und gaben Versprechen ab, dass Tragödien wie diese nie
wieder geschehen dürfen. Nur acht Tage nach dem ersten Bootsunglück geriet ein weiteres Boot in Seenot.
250 Menschen verloren ihr Leben einen Steinwurf von
Lampedusa entfernt, weil die italienischen Behörden
zwar den Notruf erhielten, aber das Boot sich in maltesischen Hoheitsgewässern befand.
Wie ein schlechter Scherz klangen die klagenden
Worte des italienischen Ministerpräsidenten Letta, der
sagte, die Menschen, die vor Lampedusa ihr Leben verloren haben, seien ab diesem Tage Italiener. Die Überlebenden wurden hingegen laut Informationen der
Menschenrechtsorganisation borderline-europe über
100 Tage illegal in Lampedusa festgehalten und erst am
vergangenen Sonntag als Zeugen zu einer Gerichtsanhörung nach Sizilien gebracht. Auch bedurfte es erst der
schockierenden Videoaufnahmen aus dem privat betriebenen Aufnahmezentrum in Lampedusa - auf denen war
zu sehen, dass Flüchtlinge nackt ins Freie getrieben und
desinfiziert wurden -, bis die unmenschlichen Bedingungen in solchen Zentren in das öffentliche Bewusstsein gerückt wurden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, von dem Mitgefühl und dem schlechten Gewissen nach dem 3. Oktober
haben zynischerweise nicht die Überlebenden profitiert.
({0})
Deswegen müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen,
dass das Sterben die Folge unserer europäischen Flüchtlingspolitik ist, ein System, das seit vielen Jahren auf
Abschreckung und eine militärisch hochgerüstete Abschottungspolitik setzt statt auf den Schutz von Menschen in einem Europa der Menschenrechte.
({1})
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn diese Trauerbekundungen und die Scham über diese Unglücke keine bloßen Lippenbekenntnisse bleiben sollen, dann müssen wir
an dieser Politik nahezu alles ändern, was möglich ist.
({2})
Europa kommt bei dem Ziel einer gemeinsamen
Asylpolitik nicht voran. Wenn es aber um Grenzüberwachung oder Maßnahmen der Grenzsicherung geht, dann
fließen die Millionen, und die europäischen Staatschefs
freuen sich über so wahnsinnig viel gemeinschaftliches
Handeln. Das ist kaum zu ertragen.
({3})
Seit einigen Wochen ist das Europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR in Kraft. Mit ihm möchte
man glaubhaft machen, dass es dazu dient, Katastrophen
wie vor Lampedusa zu verhindern. Ich sage Ihnen nach
den letzten Jahren mit Blick auf die Flüchtlingspolitik
ganz ehrlich: Ich habe die Nase voll, mir an der Stelle
ein X für ein U vormachen zu lassen
({4})
und zu glauben, die Taskforce Mittelmeer, EUROSUR,
Frontex oder nationale Militäroperationen wie das italienische Mare Nostrum wurden auf den Weg gebracht, um
Flüchtlinge zu retten.
Wir wissen genau, dass Frontex über Jahre hinweg
Flüchtlingsboote zurück- und abgedrängt hat. Die Aufgaben und das Budget der Grenzschutzagentur Frontex
werden fortlaufend ausgeweitet, während die Agentur
sich weigert, einen wirksamen Beschwerdemechanismus
zu ermöglichen. Dabei streitet Frontex nicht einmal
mehr ab, dass sie an völkerrechtswidrigen Zurückweisungen beispielsweise vor der Küste Griechenlands beteiligt war.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen: Deutschland
hat derzeit den Vorsitz im Frontex-Verwaltungsrat inne.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich für
eine Überprüfung dieser Vorwürfe und für eine schärfere
parlamentarische Kontrolle einsetzt.
({5})
Wir können einfach nicht dulden, dass europäische Institutionen völkerrechtswidrige Praktiken anwenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar Worte zu
Dublin III. Ich habe vor kurzem Europas größtes Flüchtlingscamp in Mineo auf Sizilien besucht, das statt der
maximalen Kapazität von 2 000 Menschen derzeit
4 000 Menschen im Nirgendwo isoliert. Im Gespräch
mit Flüchtlingen fand ich heraus, dass es bis zu 14 Monate dauert, bis der Antrag auf ein Asylverfahren bearbeitet wird. In der Zwischenzeit müssen Menschen unter
desolaten Zuständen in völlig überfüllten Lagern ausharren. Wer das Lager verlässt, wird aufgrund des Fehlens
jedweder sozialer Leistungen in die Obdachlosigkeit gedrängt. Gespräche mit Präfekten, aber auch dem italienischen Innenministerium haben verdeutlicht, wie schwierig es für Italien ist, dieser Situation dauerhaft und vor
allen Dingen auf sich allein gestellt gerecht zu werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung muss endlich bereit sein, anzuerkennen, dass das
Schicksal dieser Menschen nicht nur eine italienische
Angelegenheit ist. Wir tragen gemeinsam Verantwortung.
({6})
Allein die nackten Zahlen sollten Ihnen eigentlich
verdeutlichen, dass das Dublin-System nicht mehr zu
rechtfertigen ist. Eine Rückschiebung von Deutschland
nach Griechenland wurde gerade im vierten Jahr in
Folge ausgesetzt - zu Recht, sage ich da nur. Italien,
Bulgarien und weitere EU-Mitgliedstaaten werden folgen; denn bereits jetzt wird ein Viertel der Rücküberstellungen nach Italien von Verwaltungsgerichten gestoppt,
da Dublin-Rückkehrer im Erstaufnahmeland unter menschenunwürdigsten Bedingungen leben müssen.
Statt 30 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt zur
Stärkung der italienischen Militärpräsenz im Mittelmeer
mitzuzeichnen, wäre das Geld viel besser angelegt, die
Seenotrettung durch die zivile Küstenwache gezielt zu
stärken und die Anzahl der Flüchtlingsunterbringungen
zu erhöhen sowie deren Qualität zu verbessern.
({7})
Das Ziel der Grünenfraktion ist die Schaffung eines
gemeinsamen europäischen Schutzraumes, in dem einheitliche und hohe Standards für die Unterbringung und
den Schutz von Flüchtlingen endlich Realität werden.
Gleichermaßen müssen wir auch die Bedürfnisse der
Flüchtlinge besser berücksichtigen. Sie sollen die Möglichkeit haben, in dem Mitgliedstaat Asyl zu beantragen,
in dem sie bereits familiäre Bindungen oder soziale
Netze haben, dessen Sprache sie sprechen oder dem sie
sich kulturell nahe fühlen.
Für einen Paradigmenwechsel in der europäischen
Asyl- und Flüchtlingspolitik muss der erste Schritt also
sein, Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass das
Mittelmeer zu einem Massengrab wird. Ich sage ganz
klar: Der erste Schritt, den wir unternehmen müssen, ist,
die Abschottungspolitik zu beenden. Vor allen Dingen
das Fehlen legaler Einreisemöglichkeiten muss ein Ende
haben. Meine Fraktion ist der Auffassung, dass dies
auch gelingen kann, wenn man sich mit den anderen
europäischen Staaten austauscht. Es ist wichtig, dass
sich die gesamte Europäische Union verantwortlich
zeigt. Das unsägliche Hin-und-her-Geschiebe von Menschen in Europa muss aufhören; denn das wird der europäischen Idee nicht gerecht.
Militärische Hochrüstung oder Überwachungssysteme wie EUROSUR, mithilfe derer wir unsere Grenzen
sozusagen auf den afrikanischen Kontinent verlagern
und Verantwortung an Staaten wie Libyen abgeben, sind
ganz sicher nicht der richtige Weg. Es ist schon richtig:
Man muss den Blick auch auf die Herkunftsländer richten, aber meine Hoffnung, dass da in nächster Zeit viel
passiert, ist sehr gering. Die Frage ist: Was machen wir
mit den Menschen, die in der Zwischenzeit Schutz suchen?
({8})
Darauf müssen wir eine Antwort geben. Zu sagen: „Wir
warten darauf, dass es endlich eine Lösung vor Ort gibt“,
ist schlichtweg verantwortungslos und unmenschlich.
({9})
Herr Innenminister de Maizière ist gerade nicht anwesend. Am Mittwoch bei der Befragung der Bundesregierung hat er deutlich gemacht, dass Deutschland Einwanderung braucht. Auch wir sind dieser Auffassung.
Deutschland hat immer von Einwanderung profitiert.
Zudem spricht die demografische Entwicklung der Bundesrepublik eine klare Sprache. Ich sage ausdrücklich:
Auch Menschen, die eine Flüchtlingsgeschichte haben,
bereichern unsere Gesellschaft und können Teil unseres
Arbeitsmarktes sein. Deshalb könnten wir überlegen, die
Integrations- und Sprachkurse auszuweiten, um diesen
Menschen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben
zu geben.
({10})
Ich rate Herrn de Maizière, die Chance des Neubeginns für diese Regierung zu nutzen und sich von der
Politik seines Vorgängers zu distanzieren. Ich kann für
meine Fraktion versprechen: Wir stehen als konstruktive
Kraft an der Seite des Innenministers. Der Startpunkt für
eine Zusammenarbeit ist für uns allerdings einzig und allein die Bereitschaft, dass Deutschland seine Blockadepolitik innerhalb der EU aufgibt, über legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge in die EU berät und die in
Dublin III manifestierte Ignoranz gegenüber den südeuropäischen Staaten endlich aufgibt. Ohne das wird dem
Sterben auf dem Mittelmeer kein Einhalt geboten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Wir danken Ihnen und gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten, sehr engagierten Rede im Bundestag. Wir alle wünschen Ihnen viel Kraft und viel Erfolg bei dieser sehr
verantwortungsvollen Arbeit.
({0})
Jetzt freue ich mich auf die nächste Rednerin. Das ist
Christina Kampmann für die SPD.
Vizepräsidentin Claudia Roth
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann mich noch gut an die Katastrophe
vor Lampedusa erinnern. Es waren Bilder des Schreckens, die uns erreichten, Bilder, die man nicht vergisst
und die vor allem nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Es waren Bilder, die mich gerade deshalb zutiefst berührt haben, weil sie uns das Versagen der europäischen
Flüchtlingspolitik so eindrucksvoll vor Augen geführt
haben, dass ich dachte: Jetzt kann man selbige doch eigentlich nicht mehr vor dem Elend dieser Menschen verschließen. Am 3. Oktober 2013 - damals war ich noch
keine zwei Wochen Mitglied des Bundestags - wusste
ich, dass nun auch ich eine ganz besondere Verantwortung für das Leben dieser Menschen trage.
Die Ereignisse vor Lampedusa waren jedoch nur in
ihrem Ausmaß einzigartig. In ihrer Grausamkeit sind
diese dagegen fast traurige Alltäglichkeit; denn der
3. Oktober 2013, an dem mehrere Hundert Menschen
vor Lampedusa ertranken, ist kein Einzelfall. Das ist die
bedrückende Konsequenz der Ungleichheit der Lebensverhältnisse in unserer Welt. Seit diesem Tag sind viele
Wochen vergangen, in denen viel hätte passieren können, in denen jedoch nichts passiert ist.
({0})
Genau deshalb begrüße ich den Antrag der Fraktion
Die Linke, der uns an unsere gemeinsame europäische
Verantwortung für eine Flüchtlingspolitik erinnert, die
Menschlichkeit anstelle von Herabsetzung und Objektivierung und die Solidarität anstelle von Verantwortungsentzug und Rückbesinnung auf nationale Interessen setzen sollte.
({1})
Genau das sind aber auch die Gründe dafür, weshalb
der Antrag zwar einige in die richtige Richtung gehende
Aspekte aufzeigt, an anderen Stellen jedoch Vorschläge
enthält, die gerade das konterkarieren, was unserer Mei-
nung nach wichtig ist. So muss die Rettung von in See-
not geratenen Menschen, wie sie unter II. e) des Antrags
der Linken angesprochen wird, natürlich ein selbstverständliches Gebot menschlicher Achtung voreinander
sein; denn alles andere widerspricht nicht nur unseren
moralischen Wertvorstellungen, sondern auch den völkerrechtlichen Verträgen. Dass an dieser Selbstverständlichkeit Zweifel aufgekommen sind, müssen wir ernst
nehmen und dafür Sorge tragen, dass Seenotrettung
künftig weder an Kompetenzstreitigkeiten noch an Sanktionen gegen mögliche Retter scheitert.
({2})
Es darf keine Kriminalisierung von Menschen geben, die
andere Menschen retten; das sage ich mit aller Ausdrücklichkeit. Alles andere ist ein Skandal, den wir nicht
zulassen dürfen.
({3})
Für die Achtung des im Koalitionsvertrag genannten
Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der Pflicht zur
Seenotrettung werden wir deshalb auf europäischer
Ebene entschieden eintreten.
({4})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben
auch recht, wenn es darum geht, die Arbeit von Frontex
kritisch zu begleiten. Wer aber so wie Sie die Arbeit von
Frontex pauschal ablehnt und für eine Auflösung plädiert, der verkennt zweifellos die wichtige ordnungspolitische Funktion. Unsere Antwort muss stattdessen eine
strenge Verpflichtung zu einem gemeinsamen europäischen Grenzschutz durch die EU sein, die unserem europäischen Wertesystem gerecht wird.
In die falsche Richtung geht aber vor allem einer der
Kernpunkte des Antrags, zumindest dann, wenn man
sich die Mühe macht, diesen zu Ende zu denken. Der
Vorschlag, dass Asylsuchende künftig die freie Entscheidung haben sollen, in welchem Mitgliedstaat sie ein
Asylverfahren durchführen wollen, klingt aus Sicht der
Asylsuchenden zwar ziemlich verlockend, ist dies aber
tatsächlich nur sehr vordergründig; denn abgesehen von
der praktischen Umsetzbarkeit eines solchen FreeChoice-Verfahrens muss mit einem Unterbietungswettbewerb der betroffenen Staaten in puncto Aufnahme und
Verfahrensbedingungen nach unten gerechnet werden,
frei nach dem Motto: Wer die schlechtesten Bedingungen anbietet, der macht sich auch am unattraktivsten für
Asylsuchende. - Bei aller berechtigten Kritik an Dublin II und Dublin III kann und sollte ein solches Verfahren nicht das Ziel europäischer Zusammenarbeit sein.
({5})
Wenn wir über eine europäische Flüchtlingspolitik reden, dann geht es zunächst einmal um die Menschen, die
bei uns Schutz vor Verfolgung, vor Krieg und Diskriminierung suchen. Niemand verlässt sein Zuhause, seine
Freunde und Familie unter Gefährdung des eigenen Lebens einfach so. Diejenigen, die zu uns kommen, sind
zunächst einmal weder eine Last noch ein Kostenfaktor,
sondern das sind Menschen, die bei uns Schutz suchen
und deshalb unseren Respekt verdienen.
({6})
Verantwortung können wir aber nur dann ernsthaft
übernehmen, wenn wir eine Flüchtlingspolitik in Europa
gestalten, die Solidarität auch wirklich ernst meint, die
Probleme nicht auf den Schultern geografisch zufällig
günstig gelegener Länder ablädt, sondern die ein echtes
Interesse an einer gemeinsamen europäischen Lösung
hat.
({7})
Zugegeben, eine optimale Lösung gibt es nicht. Dass
es so nicht weitergehen kann, ist aber offensichtlich. Die
Umstände, in denen Flüchtlinge, insbesondere in Griechenland, leben müssen, sind alles, aber mit Sicherheit
nicht menschenwürdig. Völlig überfüllte Lager, in denen
die Asylsuchenden unter unmenschlichen Bedingungen
leben müssen, gehören dort zum Alltag. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 10 Prozent der griechischen
Bevölkerung Flüchtlinge sind. Stellen Sie sich einmal
vor, das wäre bei uns der Fall. Stellen Sie sich einmal
vor, 10 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen
würden hier Asyl suchen. Was glauben Sie, was hier los
wäre? Griechenland ist damit vollkommen überfordert
und fühlt sich zu Recht von uns alleingelassen.
Egal ob Dublin II oder III: Das Kernproblem der
extrem ungleichen Verteilung von Asylbewerberinnen
und Asylbewerbern in der Europäischen Union besteht
weiterhin und bliebe im Übrigen auch dann bestehen,
wenn wir dem Antrag der Linken in dieser Form zustimmen würden,
({8})
mit allen Problemen, die für Flüchtlinge und für die davon betroffenen Länder damit verbunden sind.
Das kann und das darf so nicht weitergehen. Es liegt
in unserer gemeinsamen Verantwortung, hier endlich aktiv zu werden und eine Lösung zu finden, die genau das
widerspiegelt, was wir immer wieder gerne sagen, wonach wir aber nicht immer handeln.
({9})
Solidarität in Europa muss unser gemeinsames Anliegen sein. Wir lehnen Dublin II und III in seiner jetzigen
Form deshalb ab, weil es unsozial ist, weil es unsolidarisch ist und weil es ungerecht ist. Stattdessen setzt die
SPD auf Verantwortungsteilung, ohne der Illusion zu erliegen, dass es eine einfache Lösung geben kann.
Quoten analog dem Königsteiner Schlüssel in Verbindung mit einem finanziellen Ausgleich bei Überschreitung selbiger können aber ein sinnvoller Ansatz sein;
denn das entspricht erstens einer gemeinsamen europäischen Lösung, die solidarisch und gerecht ist, es trägt
zweitens den Bedürfnissen der Migrantinnen und Migranten hinsichtlich Familienzugehörigkeit und Sprachkenntnissen zumindest besser, als es derzeit der Fall ist,
Rechnung, und es ermöglicht drittens eine Harmonisierung der Schutzstandards, die nicht nur auf dem Papier
steht, sondern die auch faktisch umgesetzt werden kann.
({10})
Angesichts der menschenunwürdigen Bedingungen,
wie wir sie heute in einigen Ländern vorfinden, ist genau
das mehr als notwendig. Mit diesem Ansatz wäre es
möglich, die Bedürfnisse der Asylsuchenden mit der
Notwendigkeit einer solidarischen und gerechten Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene bestmöglich zu verbinden. Fest steht, dass wir uns diese Debatte nicht
leichtmachen dürfen, fest steht aber auch, dass wir
schnell zu Lösungen kommen müssen, die eine so
extrem ungleiche Verteilung, wie wir sie derzeit in
Europa erleben, endlich beenden.
Bereits vor zehn Jahren hat Kofi Annan gesagt - ich
zitiere -:
Einwanderer brauchen Europa, aber Europa braucht
auch Einwanderer. Diese stille Krise der Menschenrechte beschämt unsere Welt.
Seitdem sind viele Menschen auf dem Seeweg nach
Europa ertrunken. Sie haben sich auf den Weg gemacht,
weil sie verfolgt werden, weil sie Angst um ihr Leben
haben oder weil sie in ihrer Heimat ganz einfach keine
Perspektive für sich sehen und in Europa auf ein besseres Leben hoffen. Was sie hier erwartet, sollte uns alle
beschämen. Das sollte uns nachdenklich werden lassen,
das sollte uns handeln lassen.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir uns - damit meine
ich ausdrücklich auch die Fraktion Die Linke - unserer
Verantwortung als Europäerinnen und Europäer stellen
und eine solidarische Lösung finden, die vor allem einem gerecht wird: der Würde der Menschen, die bei uns
Zuflucht suchen.
Danke schön.
({11})
Vielen Dank, liebe Kollegin Christina Kampmann.
Auch Ihnen Gratulation des ganzen Hauses zu Ihrer ersten, sehr engagierten Rede.
({0})
Aller guten Dinge sind drei: Später hören wir eine
weitere erste Rede.
Aber zunächst spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Es ist nicht seine erste Rede, wahrscheinlich auch nicht
seine letzte.
({1})
Schönen Dank, Frau Präsidentin. Ich hatte natürlich
erwartet, dass Sie jetzt sagen, dass Sie sich auf mich
freuen. Aber wahrscheinlich ist das eine Selbstverständlichkeit. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Lampedusa und mit den Abschiebeknästen
bringt sich europäische Flüchtlingspolitik auf den Begriff. Lampedusa, das ist die Insel, an deren Stränden die
Leichen angeschwemmt werden. Lampedusa, das ist die
Insel, an der die europäische Menschenrechtspolitik zerschellt. Das ist der Ausgangspunkt.
Ich würde mich sehr freuen, wenn man den großen
Gedanken des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“ - das gilt natürlich auch für die Würde
des Flüchtlings -, „Sie zu schützen und zu achten ist
Aufgabe aller staatlichen Gewalt“ endlich im eigenen
Land umsetzen würde.
({0})
Flüchtlinge sind auch in diesem Land unerwünscht. Sie
werden drangsaliert. Sie haben offensichtlich keine unveräußerlichen Rechte. Sie werden in Lager gepfercht
und mit Arbeits- und Bewegungsverboten belegt. Das alles entspricht nicht dem Grundgesetz.
Der Brief der Bürgermeisterin von Lampedusa hat
mir schlaflose Nächte bereitet. Ich habe selten ein so erschütterndes Dokument gelesen. Kurz nach ihrer Wahl
spricht sie von einem Massaker, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg. Was in der Flüchtlingspolitik
passiert, ist in der Tat ein Krieg der Reichen gegen die
Armen dieser Welt.
({1})
Sie hat gesagt - ich will es Ihnen vortragen -, dass sie
überzeugt ist, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um Migrationsflüsse einzudämmen. Sie meint, dass das eine Schande
für Europa und die europäischen Regierungen ist. Ich
finde in der Tat, das ist auch ganz konkret eine Schande
für die Bundesregierung, für die vorangegangene und
die jetzige,
({2})
eine Schande, mit der man sich nicht abfinden darf, eine
Schande, weil europäische Flüchtlingspolitik das Flüchtlingselend der Armen als Grundlage akzeptiert. Sie
reagiert darauf vor allem mit Gewalt, Waffen und Menschenjägern. Ich möchte, dass Frontex - eine Agentur,
die geschaffen worden ist, um Fluchtbewegungen einzudämmen und zu verhindern - abgeschafft und durch ein
anderes politisches System ersetzt wird. Das ist die einzig logische Schlussfolgerung daraus.
({3})
Ich bin überzeugt davon, dass man über Ursachen von
Flucht reden muss, damit endlich die Heuchelei aufhört,
wie sie in Sonntagsreden zum Ausdruck kommt, wenn
wieder etwas Furchtbares passiert ist. Diese Reden drehen einem wegen ihrer Substanzlosigkeit ja nur den Magen um.
Reden wir doch einmal über Fluchtursachen. Menschen fliehen, weil sie in ihren Heimatländern dem Hungertod ausgesetzt sind. 57 000 Menschen verhungern
jeden Tag, während gleichzeitig an den Börsen mit Nahrungsmitteln spekuliert wird, auch von deutschen Banken. Das ist die Ursache für Flucht.
({4})
Menschen fliehen vor Krieg und Gewalt. Mit Krieg und
Gewalt sind immer auch geostrategische Interessen verbunden. Es geht um den Griff nach Naturressourcen.
Menschen fliehen vor politischen Verfolgungen und
vor den Folgen von Klimaveränderungen, die auch mit
unserer Produktionsweise zu tun haben. All das sind in
vielen Teilen der Welt letztlich Folgen des Kampfes um
Ressourcen und geopolitischen Einfluss. Ressourcen
und Macht wollen sich die Reichen dieser Welt sichern.
Ich sage Ihnen sehr zugespitzt: Ein Wirtschaftssystem,
das das Streben nach Profiten zur Grundlage hat, ist auch
für die Fluchtbewegungen dieser Welt verantwortlich.
({5})
Ich bin dafür, dass dieses kapitalistische Wirtschaftssystem endlich überwunden und durch ein gerechtes System
ersetzt wird. Das ist für mich eine der Konsequenzen aus
dem menschenverachtenden Umgang.
({6})
Sogar in Europa werden Menschen diskriminiert. Leider ist der Kollege Gauweiler jetzt nicht mehr da. Ich
hätte ihn gern direkt angesprochen. Deswegen wende ich
mich an die anderen Kollegen von der Union. Ich hatte
gehofft, dass Sie sich endlich aus dieser rechtspopulistischen Bewegung lösen.
({7})
Sie bleiben aber bei der Linie von Roland Koch gegen
die doppelte Staatsbürgerschaft. Erinnern Sie sich noch
an den Satz: „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“ Sie bleiben bei der Linie von Rüttgers:
„Kinder statt Inder“. Ihr Spruch „Wer betrügt, der fliegt“
ist nicht viel besser. Sie setzen auf Rechtspopulismus.
Die Linke ist dafür, dass Rechtspopulismus entschieden
bekämpft wird, wenn möglich, gemeinsam.
({8})
Wir finden uns nicht damit ab. „Wer betrügt, der
fliegt“: Diese Losung sollten wir ernst nehmen; ich
möchte sie einmal gegen die Banker und gegen die Politiker aus Ihren Reihen gerichtet sehen, die im Bayerischen Landtag betrogen haben, aber nicht gegen Menschen, die in dieses Land kommen, um hier leben zu
können. Das würde Sinn machen.
Danke sehr.
({9})
Danke, Herr Kollege Gehrcke. - Stephan Mayer von
der CDU/CSU-Fraktion hat als Nächster das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die schrecklichen Bilder
von den Schiffskatastrophen vor Lampedusa, die auch
über die Fernsehbildschirme in den deutschen Stuben
liefen, können niemanden kaltlassen, der nur ein bisschen Herz hat. Diese Schiffskatastrophen sind schrecklich, sie sind erschütternd und sie dürfen uns auch nicht
ruhig lassen: Sie dürfen uns hier im Deutschen Bundestag nicht ruhig lassen, sie dürfen die Bundesregierung
nicht ruhig lassen, sie dürfen aber auch ganz Europa
nicht ruhig lassen. Wir dürfen die Verantwortung nicht
nur Italien, Griechenland oder Malta überlassen. Es ist
Stephan Mayer ({0})
ein europäisches Thema, die Flüchtlingssituation insgesamt zu verbessern.
({1})
Aber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen
- da wird der Applaus nicht mehr so groß sein -,
({2})
Deutschland wird dieser Verantwortung gerecht. Wir
sind solidarisch.
({3})
Liebe Frau Kollegin Jelpke, es kann nicht sein, dass
man nur aus dem Flieger steigen muss, um in Deutschland Asyl zu bekommen. Kein Land in der Europäischen
Union nimmt so viele Asylbewerber und Flüchtlinge auf
wie Deutschland.
({4})
Im letzten Jahr waren es insgesamt 109 000 Flüchtlinge
und Asylbewerber, die einen Erstantrag in Deutschland
gestellt haben.
({5})
Das bedeutet allein von 2012 bis 2013 eine Steigerung
um 70 Prozent. Deutschland kann sich, glaube ich, hier
wirklich sehen lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, mich würde es wirklich freuen, wenn Sie einmal die
Länder stärker in die Verantwortung nehmen würden,
die hier ihren Anteil noch nicht leisten. In Deutschland
kommen zum Beispiel auf 1 Million Einwohner
950 Asylbewerber. In Italien sind es gerade einmal 250.
Die Beschwerde der italienischen Regierung, Italien
werde über Gebühr belastet, ist also vollkommen verfehlt.
Mich wundert auch, dass Sie sich in Ihrem Antrag
nicht über das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz echauffieren. Dieses Gesetz, das unter der italienischen Vorgängerregierung beschlossen wurde, sieht vor, dass ein
Fischer, der einem Schiffbrüchigen hilft, sich wegen
Schleppung strafbar macht. Es ist ein unmenschliches
und verfassungswidriges Gesetz, das auch nicht im Einklang mit dem Völkerrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Wo bleibt denn Ihr Appell
an die italienische Regierung oder an das italienische
Abgeordnetenhaus, dieses unsägliche Bossi-Fini-Gesetz
abzuschaffen?
({6})
Herr Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Sehr gerne, selbstverständlich.
Herr Beck, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. - Ich glaube, wir
sind uns hier im Hause einig, dass wir alle die flüchtlingsrechtliche Situation in Italien verurteilen. Ich hoffe
zumindest, dass es bei der Linksfraktion auch so ist.
({0})
Ich finde, es ist eigentlich Aufgabe der Bundesregierung, im JI-Rat durch den Bundesinnenminister dafür zu
sorgen, dass die Standards der Genfer Flüchtlingskonvention und des europäischen Flüchtlingsrechtes von
allen Mitgliedstaaten eingehalten werden. Da die CSU ja
in der letzten Wahlperiode den Bundesinnenminister gestellt hat, möchte ich gerne von Ihnen wissen: Welche
Initiativen im JI-Rat in Brüssel hat der Bundesinnenminister ergriffen, um Länder wie Italien, aber auch
Griechenland anzuhalten, sowohl im Verfahrensrecht als
auch bei der materiellen Versorgung von Flüchtlingen
endlich das Flüchtlingsrecht zu akzeptieren?
Ich habe auf dem Oranienplatz gesehen: Die Leute
kriegen 500 Euro in die Hand, damit sie hierherkommen;
aber sie erhalten keine Versorgung mit Wohnraum und
Nahrung, keinen Lebensunterhalt in Italien. Das entspricht nicht unseren Standards. Wir sind in der EU Vertragspartner der Italiener. Es gibt Möglichkeiten für Vertragsverletzungsverfahren. Die Bundesregierung hat hier
meines Wissens nichts getan. Aber vielleicht können Sie
mich darüber aufklären, was der Bundesinnenminister in
den letzten vier Jahren getan hat, um unsere Standards
durchzusetzen.
Herr Mayer, bitte.
Lieber Herr Kollege Beck, ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Frage. Ich muss gestehen: Es entzieht sich
meiner Kenntnis - ich war nie in Sitzungen des JI-Rats -,
ob der vormalige Bundesinnenminister an seinen italienischen Amtskollegen die Botschaft adressiert hat, dass
das Bossi-Fini-Gesetz abzuschaffen ist.
Ich sage nur: Wir debattieren hier im Hohen Haus
heute über einen Antrag der Linksfraktion, der sehr ausführlich die Vorstellungen der Linksfraktion zur europäischen Flüchtlingspolitik darstellt. Da vermisse ich ganz
konkret zum Beispiel Forderungen an die italienische
Adresse, die Gesetzeslage in Italien an europäische
Menschenrechtsstandards anzugleichen.
({0})
Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Es muss unser
gemeinsames Interesse sein, dass wir in den 28 Mitgliedsländern der Europäischen Union einheitliche
Standards schaffen, was das Asylverfahren und was die
Stephan Mayer ({1})
Bedingungen in den Asylunterkünften anbelangt. Nur
wundert es mich wieder, dass die Linksfraktion beantragt, dass der Asylbewerber sich aussuchen kann, in
welchem Mitgliedsland er seinen Asylantrag stellt.
Liebe Frau Kollegin Jelpke, ich billige Ihnen ja zu, dass
Sie sich auch vor Ort kundig machen. Wir waren schon
gemeinsam sowohl in Italien als auch in Griechenland
und haben uns dort die Asylunterkünfte angesehen. Es
ist erschreckend, es ist unmenschlich, es ist teilweise eines modernen westlichen Landes nicht würdig, wie dort
Asylbewerber und Flüchtlinge untergebracht werden.
Nur, was wäre die Folge, wenn Ihr Vorschlag greifen
würde, dass sich ein Asylbewerber oder Flüchtling aussuchen kann, in welches Land er kommt? Der Anreiz für
Griechenland und Italien, sich an europäische Standards
anzugleichen und endlich einmal für ordentliche humanitäre Bedingungen zu sorgen, wäre noch geringer.
({2})
Herr Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Petzold?
Sehr gern, selbstverständlich.
Danke schön. - Herr Petzold, bitte.
Herr Kollege Mayer, wären Sie denn bereit, hier im
Deutschen Bundestag gemeinsam einen solchen Aufruf
an das italienische Parlament zu richten? Die Initiative
würden wir sofort ergreifen, wenn die Union dabei mitmachen würde. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre
Fraktion dabei wäre?
({0})
Lieber Herr Kollege Petzold, ich hätte überhaupt kein
Problem mit einem derartigen Aufruf.
({0})
Sie versuchen immer, uns, insbesondere der CSU, zu unterstellen, also zu insinuieren, wir würden hier Rechtspopulismus fördern. Überhaupt nicht! Das Gegenteil ist
der Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass es genau
unsere Aufgabe ist, die italienischen Kollegen in der Camera dei deputati an ihre Verantwortung zu erinnern,
dass sie das genannte Gesetz endlich abschaffen.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nun
aber noch einmal zum Beitrag Deutschlands, insbesondere was die aus meiner Sicht größte humanitäre Katastrophe anbelangt, die sich derzeit in unserer Nähe, in
Syrien, abspielt. Es sind derzeit knapp 3 Millionen syrische Bürger auf der Flucht; es sind zum Teil Binnenflüchtlinge, und zum Teil sind die Flüchtlinge sogar außerhalb des Landes. Hier muss uns eines bewusst sein:
Wir können nicht alle Probleme, die in Syrien bestehen,
in Deutschland lösen. Aber auch hier zeigt sich Deutschland vorbildlich. Wir haben seit 2011 insgesamt über
26 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Kein Land in
der Europäischen Union hat so viele syrische Flüchtlinge
aufgenommen wie Deutschland. Schweden und Deutschland allein haben über 60 Prozent aller syrischen Flüchtlinge aufgenommen. Wo bleibt der Beitrag der anderen
Länder?, das ist die Frage.
Hier vermisse ich wiederum, liebe Frau Kollegin
Jelpke, Ihren Appell an die zuständige EU-Kommissarin
Malmström, endlich einmal eine Konferenz einzuberufen, um zu erreichen, dass sich wirklich alle europäischen Länder an ihre Verantwortung gebunden fühlen.
Es kann nicht sein, dass nur Deutschland in Vorleistung
geht; die anderen Mitgliedsländer sollten sich einmal ein
Beispiel an uns nehmen und auch entsprechende Kontingente für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Wohlgemerkt: Noch kein einziger syrischer
Flüchtling, der Aufnahme in Deutschland begehrt hat, ist
abgelehnt worden. Auch hier, glaube ich, kann sich
Deutschland wirklich sehen lassen.
Herr Mayer, die Kollegen sind neugierig. Erlauben
Sie noch eine Zwischenfrage, jetzt vom Kollegen
Gehrcke?
Ja, selbstverständlich.
({0})
Danke.
Ich weiß, dass ich durch meine Frage Ihre Redezeit
verlängere; aber eine Antwort kann ja aufklärend sein. Ich bin froh, dass die Bundesregierung sich mittlerweile
entschlossen hat, 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Es
sind aber erst 2 500 ins Land gekommen. Der Prozess
dauert unendlich lange. Ich habe syrischen Flüchtlingen
im Libanon geholfen, nach Deutschland zu kommen,
mithilfe des Auswärtigen Amtes. Ich bitte Sie, die Maßstäbe richtig zu sehen. Der Libanon hat 4,5 Millionen
Einwohner, und dort sind 1 Million Flüchtlinge.
Es sind mehr.
Wenn es mehr sind, nehme ich die Korrektur durch
die Präsidentin natürlich entgegen. - Nach meiner
Kenntnis sind es 1 Million Flüchtlinge, und das bei
4,5 Millionen Einwohnern. Können Sie sich vorstellen,
was in Deutschland los wäre, wenn man ähnliche Maßstäbe anlegen würde? Ich will das ja gar nicht; aber ich
bin gegen die Selbstgerechtigkeit, angesichts dieser Katastrophe zu sagen, wir seien besser als andere. Dafür
schäme ich mich. Ich möchte, dass wir Druck auf die anderen ausüben und selber vorangehen, indem unser Land
sich vor der Genfer Friedenskonferenz endlich mehr für
syrische Flüchtlinge öffnet.
({0})
Das war jetzt eine verschlüsselte Frage, Herr Mayer.
Sie können gerne darauf antworten.
({0})
Lieber Herr Kollege Gehrcke, ich habe nur dargestellt, wie die Leistung und der Beitrag Deutschlands
derzeit aussehen. Ich möchte beileibe nicht den Eindruck
erwecken, dass wir selbstgerecht sein dürften; ganz im
Gegenteil. Es ist ein kleiner Teil, den Deutschland hier
leistet; aber ich glaube, dieser kann sich durchaus sehen
lassen. Ich würde mir wirklich wünschen, dass sich andere Länder zumindest einmal auf das Niveau begäben,
das wir in Deutschland haben.
({0})
Sie haben natürlich vollkommen recht: Es steht in
keinem Verhältnis zu dem, was sich derzeit in den Anrainerstaaten Syriens, insbesondere im Libanon und in Jordanien, aber auch in der Türkei, abspielt. Frau Kollegin
Jelpke, wir waren ja gemeinsam an der syrisch-türkischen Grenze. Auch die Türken haben mittlerweile weit
über 500 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Es
würde mich freuen, wenn Sie dazu in Ihrem Antrag einmal einen Dank formulierten: an Jordanien, an die Türkei, an den Libanon.
({1})
Denn die Leistungen - Sie haben es richtigerweise erwähnt -, die in diesen Ländern erbracht werden, sind
wirklich bemerkenswert.
Aber auch hier leistet Deutschland seinen Beitrag.
Zur Stunde sind 15 deutsche THW-Helfer in Jordanien
in einem Flüchtlingslager im Einsatz. Wir werden jetzt
gemeinsam mit dem THW ein neues Flüchtlingslager im
Nordirak aufbauen. Das heißt, Deutschland nimmt nicht
nur syrische Flüchtlinge auf, sondern wir bringen uns
auch in starkem Maße bei der Verbesserung der Situation
vor Ort ein. Nach den USA ist Deutschland der zweitgrößte Geldgeber, was die humanitäre Hilfe für Syrien
anbelangt.
Ich möchte, wie gesagt, lieber Herr Kollege Gehrcke,
beileibe nicht selbstgerecht, überheblich oder arrogant
wirken; aber was Deutschland sowohl im Inland als auch
im Ausland leistet, kann sich sehen lassen.
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben uns mit weiteren Vorschlägen der Linksfraktion
auseinanderzusetzen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich
halte es wirklich für verantwortungslos und zynisch,
wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, Frontex und EUROSUR abzuschaffen. Allein durch Frontex-Beamte sind in
den letzten zwei Jahren über 40 000 Flüchtlinge in Seenot gerettet worden. Seit dem 3. Oktober letzten Jahres,
also dem Tag der großen Schiffskatastrophe vor Lampedusa, haben Frontex-Beamte über 16 000 Flüchtlinge
in Seenot gerettet. Frontex ist kein Abschottungsinstrument, sondern in vielen Bereichen ein Hilfsinstrument.
Gleiches trifft auf EUROSUR zu. EUROSUR ist ein
Grenzüberwachungssystem, das dazu beitragen soll,
dass Schiffbrüchige schneller gefunden, schneller detektiert werden. Deshalb würde ich es für fatal halten, wenn
man EUROSUR und Frontex abschaffen würde.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
sollten uns aber auch dem zentralen Thema in dieser
Frage zuwenden: Was muss unternommen werden, um
die Fluchtursachen zu bekämpfen? Auch hier ist die Europäische Union schon tätig. Aber nichts ist so gut, dass
man es nicht noch verbessern oder erweitern könnte. Es
gibt Informationskampagnen, regionale Schutzprogramme, Mobilitätspartnerschaften, aber auch Rückkehrprogramme.
Ich denke, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, die Fluchtursachen und insbesondere die
schreckliche Schleuserkriminalität und den Menschenhandel zu bekämpfen. Dass der Bootsführer - ich
möchte ihn gar nicht Kapitän nennen - des Schiffes, das
am 3. Oktober letzten Jahres vor Lampedusa untergegangen ist, für seine „Dienstleistung“ - in Anführungszeichen - 500 000 Dollar bekommen hat, ist wirklich erschreckend und zeigt deutlich auf, um was es hier
konkret geht, nämlich um organisierte Kriminalität.
Es geht um organisierten Menschenhandel. Leidtragende sind die Flüchtlinge, die 2 000 oder 3 000 Dollar
berappen müssen; die ganze Familie muss sparen, um es
zu ermöglichen, dass ein Familienmitglied den Weg antritt. Wir müssen auch in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern stärker gegen dieses organisierte Verbrechen, gegen diesen Menschenhandel vorgehen.
({4})
Die Aufkündigung von Dublin II bzw. Dublin III
wäre ebenfalls verantwortungslos und stünde deutschen
Interessen diametral entgegen.
Ich sage zum Abschluss: Es ist richtig und gut, dass
wir uns hier mit diesem wichtigen Thema auseinandersetzen. Nur sind die Vorschläge, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, unterbreiten, in
keiner Weise zielführend und in vielen Bereichen sogar
diametral gegen deutsche Interessen gerichtet.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Stephan Mayer ({5})
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. - Der nächste
Redner ist Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach der Katastrophe von Lampedusa war es
für jeden offensichtlich - das hat auch jede Rednerin und
jeder Redner heute gesagt -, dass etwas passieren muss,
und zwar eine organisierte europäische Antwort. Denn
es geht hier um die europäische Außengrenze. Man kann
die Freizügigkeit immer wieder preisen - das ist eine
gute Sache -; aber dadurch werden die Außengrenzen
der Europäischen Union definiert. Das, was an diesen
Außengrenzen passiert, liegt in europäischer Verantwortung.
({0})
Deshalb hatte man eine organisierte europäische Antwort erwartet. Das, was herausgekommen ist, ist aber
eine organisierte Verantwortungslosigkeit der einzelnen
Länder, vor allem Deutschlands.
({1})
Denn das Land, das von Dublin II am meisten profitiert,
ist Deutschland.
Mein Vorredner hat eben gesagt, man müsse auch die
deutschen Interessen berücksichtigen. Ja, ja, das Interesse des Innenministers war nicht ein europäisches Interesse an einem geordneten Asylverfahren, an Menschlichkeit an den europäischen Grenzen, sondern das
Interesse an einer Abschottung Deutschlands.
Wenn Italien die Europäische Union auffordert, zu
helfen, wenn Griechenland die Europäische Union auffordert, zu helfen, dann geht es da nicht primär um die
Anzahl aufzunehmender Asylbewerber, sondern um das
Verfahren. Die Katastrophe ist doch das Asylverfahren,
also die Zeit, bis den Betroffenen überhaupt eine Entscheidung vorliegt. Da fehlt es in Griechenland und in
Italien in hohem Maße.
Jetzt wird in den Antworten - das kam auch in Ihrer
Rede vor, Herr Mayer - immer wieder auf die Schlepperkriminalität verwiesen; da müsse man etwas machen.
Aber das hilft den Flüchtlingen selbst gar nicht.
({2})
Das eigentliche Problem ist, dass es keine europäische
Agentur zum Schutz der Flüchtlinge gibt.
({3})
Es gibt lediglich eine Agentur zum Schutz und zur Überwachung der Grenzen.
Was wird jetzt gemacht? Die Grenzen werden weiter
nach außen verschoben, immer weiter in die - wie Sie
sagen - Herkunftsländer. In Wirklichkeit sind es Transitländer; denn diejenigen, die auf dem Weg nach Lampedusa scheitern oder dort ankommen, sind nicht Libyer
oder Tunesier, sondern Eritreer, Somalier, Syrer oder sogar Afghanen. Die Länder werden in windigen Abkommen dazu aufgefordert, ihrerseits das Nötige zu tun, um
eine Flucht nach Europa zu verhindern. Wie es dann jenen geht, die schon in Libyen Flüchtlinge sind, darum
kümmert sich die EU nicht. Das läge aber in ihrer Verantwortung.
Ich glaube, dass die „Mobilitätspartnerschaft“, das
Mittel der Wahl der Europäischen Kommission - im Migrationsbericht kam es nicht so recht vor -, das Potenzial
zum Unwort des Jahres 2014 hat.
({4})
Denn das, was eigentlich gemacht wird, ist eine organisierte Verantwortungslosigkeit der Europäischen Union,
die sagt: Wir nicht! Mit denen haben wir nichts zu tun.
Macht ihr das!
Was die einzelnen Länder machen, das sieht man ja.
Die damals mit Gaddafi geschlossene Partnerschaft zwischen Italien und Libyen wird gegenwärtig fortgesetzt.
In Libyen gibt es keinerlei Gesetzgebung zum Schutz
von Asylbewerbern.
Die Vereinbarung über die Rückübernahme von
Flüchtlingen aus Drittstaaten, über die mit der Türkei
verhandelt wird, ist ebenfalls sehr zweifelhaft. Denn
auch in der Türkei gibt es keine entsprechende Gesetzgebung zum Schutz von Flüchtlingen. Noch vor zwei Jahren haben die Türken Flüchtlinge aus dem Iran in den
Iran zurückgeschoben. Wollen wir das? Wollen wir weiter dafür verantwortlich sein? Ich glaube, nein.
Im Koalitionsvertrag steht richtigerweise: Am NonRefoulement halten wir fest. - Davon dürfen wir nicht
abrücken, auch nicht auf dem Weg durch die Hintertür,
über Mobilitätspartnerschaften mit Marokko, Moldau,
Georgien, Armenien, Libyen, Ägypten, Algerien, Libanon, mit all den Ländern, mit denen das ausgehandelt
wird. Denn gerade diese Länder schützen Flüchtlinge
nicht vor massiver Diskriminierung. Das gilt übrigens
auch für den Kosovo. In Tunesien werden die Flüchtlinge sogar in die Wüste getrieben. Das ist kein Schutz
für die Flüchtlinge, sondern das ist eine Kampagne gegen die Flüchtlinge. Das zeigt, dass man aus Lampedusa,
dieser offenen Wunde der europäischen Verantwortung,
keine Konsequenzen gezogen hat. Das ist vielmehr organisierte Verantwortungslosigkeit.
({5})
Vielen Dank, Tom Koenigs. - Die nächste Rednerin
in der Debatte ist Sabine Bätzing-Lichtenthäler.
({0})
Herzlichen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich liebe meine Heimat. Das ist kein Wahlkampfslogan. Das ist eine Feststellung. Meine Heimat ist das, was mich geprägt hat,
die Region, in der ich aufgewachsen bin, in der meine
Familie verwurzelt ist. Sosehr ich meine Arbeit im Bundestag und auch die Zusammenarbeit mit Ihnen allen
schätze, so freue ich mich doch jedes Mal, wenn ich
nach einer Sitzungswoche die mir vertraute Landschaft
des Westerwaldes, meiner Heimat, wiedersehe. Ohne
meine Heimat, ohne diesen Ort, an den ich zurückkehren
kann, würde mir etwas fehlen. So unterschiedlich wir,
die wir hier zusammensitzen, auch sind, ich bin mir sicher: Es geht Ihnen allen ähnlich.
Dostojewski hat gesagt, dass ohne Heimat zu sein, zu
leiden hieße. Dem kann ich mich nur anschließen. Ich
frage mich: Wie verzweifelt muss man also sein, um seiner Heimat den Rücken zu kehren? Wie brutal muss die
eigene Existenz über den Haufen geworfen werden, damit man die eigenen Wurzeln zurücklässt? Wie groß
muss die Angst sein, wenn man das eigene Leben riskiert, um von dem Ort wegzukommen, an dem man das
Leben begonnen hat?
Was in den Menschen vorgeht, die ihre Heimat verlassen müssen, die fliehen müssen, können wir uns hier
vermutlich intellektuell erschließen. Wir können auch
die rationale Entscheidung, das eigene Leben schützen
zu wollen, verstehen. Wir können akzeptieren, dass
Menschen in anderen Ländern ein besseres Leben suchen. Auf dieser rationalen Ebene ist es für uns leicht,
über Menschen und ihre Motivation zu diskutieren. Aber
ich bezweifle, dass wir auf emotionaler und psychologischer Ebene verstehen, was in Menschen vorgeht, die
keine andere Wahl haben, als ihr Heimatland zu verlassen, die ihre Familie, ihre Freunde, ihre Stadt, ihre Region, ihr Land, ihre Kultur, ihr bisheriges Leben zurücklassen, weil sie es müssen, die ihre Zukunft
Schleuserbanden, zwielichtigen Gestalten, fragwürdigen Mittelsmännern und gefährlichen Routen anvertrauen, weil ihnen keine Wahl bleibt.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir in
der Debatte um Flüchtlinge und Migration nicht vergessen. Die Menschen, die ihrer Heimat den Rücken kehren, tun dies nicht aus Langeweile und Abenteuerlust.
Sie tun es aus Not, sie tun es aufgrund von Gefährdung,
und sie tun es aus Mangel an Alternativen. Wenn wir
eine ehrliche Debatte über Flucht und Migration führen
wollen, müssen wir uns dessen bewusst sein. Andernfalls laufen wir Gefahr, platten Parolen aufzusitzen und
jeden Menschen, der versucht, hier Zuflucht zu finden,
als Bedrohung anzusehen. Das dürfen wir nicht zulassen.
({0})
Wir dürfen auf der anderen Seite auch rationale Erwägungen nicht außen vor lassen. Daraus folgt ganz eindeutig, dass wir einen Kompromiss finden müssen zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir mehr tun können, als
wir derzeit tun. Unsere SPD-Fraktion hat wiederholt
eine Flüchtlingspolitik gefordert, die Würde und Sicherheit der Flüchtenden in den Mittelpunkt rückt. Dies haben wir als Arbeitsauftrag in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wir werden mit aller Kraft dafür arbeiten,
dass dies konkret Umsetzung findet. Wir wollen mehr
Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinsichtlich der Aufnahme und Verteilung
von Flüchtlingen. Die Mittelmeeranrainer fühlen sich
schließlich nicht zu Unrecht alleingelassen mit dem Problem, Tausende Flüchtlinge, die an ihren Küsten anlanden, zu versorgen. Eine bessere Verteilung, ein Mehr an
Solidarität unter den Mitgliedstaaten ist dringend nötig.
({1})
Wenn man ein Ranking der EU-Mitgliedstaaten erstellen würde, das das Verhältnis von Einwohnern zu
aufgenommenen Flüchtlingen aufzeigt - mich hat die
eine oder andere Zahl, die ich hier heute Vormittag gehört habe, durchaus gewundert -, käme die Bundesrepublik auf einen bescheidenden achten Platz. Da ist noch
Luft nach oben. Griechenland ist mittlerweile ein Beispiel für das absolut gegenteilige Extrem. Eine Kollegin
hat es vorhin schon erwähnt: Jeder zehnte Mensch dort
ist Flüchtling, und das in einem Land, das sich ohnehin
in einer prekären Lage befindet. Da können wir uns doch
nicht auf unserem Wohlstand und unserer vielleicht
günstigeren geografischen Lage ausruhen.
Unsere SPD-Innenminister fordern schon lange, in
diesem Bereich wirklich etwas voranzubringen. Mit der
Übernahme der Regierungsverantwortung auf Bundesebene sind wir jetzt in der Lage, mehr zu tun. Denn die
europäische Flüchtlingspolitik ist wahrlich kein Feld,
das uns bisher mit Stolz erfüllt. Alle Rednerinnen und
Redner vor mir haben das tragische Unglück vom Oktober letzten Jahres angesprochen. Es hat der europäischen
Öffentlichkeit auf dramatische Weise vor Augen geführt,
wie groß die Problematik von über den Seeweg flüchtenden Menschen wirklich ist. Auch das ist ein Hinweis,
wie verzweifelt diese Menschen sind. Sie wissen, dass
sie sich in Lebensgefahr begeben, wenn sie in überfüllten Booten in See stechen.
Im vorliegenden Antrag fordern die Kolleginnen und
Kollegen der Linken, dass die Seenotrettung nicht durch
Straf- und Sanktionsandrohungen behindert wird. In diesem Punkt herrscht hier sicherlich Einigkeit; denn dieses
Mindestmaß an Mitmenschlichkeit darf nicht durch vermeintliche politische Vorgaben kompromittiert werden.
Daher werden wir auch diesem Punkt, der sich an entsprechender Stelle im Koalitionsvertrag wiederfindet,
Nachdruck verleihen und ihn umsetzen. Wir werden uns
dafür einsetzen, dass niemand mehr zurück ins Meer getrieben oder in Seenot seinem Schicksal überlassen wird.
Das ist das Minimum, und das sind wir nicht nur den Betroffenen, den Flüchtlingen, schuldig, sondern auch uns
selbst.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
schreiben in dem vorliegenden Antrag ganz richtig, dass
auch Fluchtursachen beseitigt werden müssen. Auch
dies ist nachvollziehbar. Durch eine bessere Abstimmung zwischen den verschiedenen Ressorts auf nationaler und europäischer Ebene lassen sich langfristig
voraussichtlich einige Ursachen für unfreiwillige Migration ausräumen. Auch dies haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Ich lade Sie alle ein: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, diese Missstände wirklich zu
beseitigen. Zeigen wir auch hier gemeinsam Solidarität.
Der Antrag der Linken ist in einem Punkt für uns so
nicht zustimmungsfähig; auch das wurde schon mehrfach angesprochen. Es geht um die recht pauschale Forderung, Frontex aufzulösen. Sie fordern sehr pauschal
die Auflösung von Frontex, ohne eine Alternative aufzuzeigen, wie eine gemeinsame europäische Grenzsicherung aussehen könnte. Frontex ist der Öffentlichkeit vor
allem durch die Grenzschutzfunktion und die Rückführung von Flüchtlingen bekannt. Allerdings wird durch
Frontex auch die Ausbildung von Grenzschutzbeamten
in den Mitgliedstaaten unterstützt; zudem werden Standards der Ausbildung festgelegt. Mit anderen Worten:
Wenn uns daran gelegen ist, die Behandlung von Flüchtlingen an Europas Grenzen einheitlich zu gestalten und
vor allem zu verbessern, dann wäre Frontex hier vielleicht sogar ein guter Ansatzpunkt. Dies soll uns natürlich nicht davon abhalten, die Arbeit kritisch zu begleiten.
Auch beim Thema der freien Wahl des Landes, in
dem ein Asylantrag gestellt wird, sind wir anderer Meinung als Sie. Nicht dass Sie uns missverstehen: Dublin II
und III sind nicht perfekt - das ist bei Kompromissen ja
meistens so -, und es gibt Veränderungsbedarf; auch das
haben wir hier gehört. Aber durch die Verordnungen
wurde zumindest erreicht, dass sich die Mitgliedstaaten
kein Race to the Bottom liefern, um sich als möglichst
wenig attraktiv für Flüchtlinge darzustellen.
Im vergangenen Jahr fuhren durch Großbritanniens
Straßen Lkw, beklebt mit Plakaten, die illegale Einwanderer zur Heimreise aufforderten. Diese waren nicht
etwa Wahlkampfflaggschiffe rechtsextremer Parteien,
sondern sie waren Teil einer offiziellen Kampagne der
Regierung, um die Zahl unerwünschter Einwanderer zu
reduzieren. So unglaublich uns diese Aktion vorkommen
mag: Solche Aktionen werden nicht weniger werden,
wenn bei der Verteilung von Flüchtlingen keine Koordinierung auf europäischer Ebene erfolgt. Von daher sehen
wir die Forderung nach einer freien Wahl des Landes, in
dem ein Asylantrag gestellt wird, eher skeptisch.
Sie sehen: In vielen Punkten liegen unsere und Ihre
Positionen gar nicht so weit auseinander. Es gibt aber
auch Punkte, über die wir in den anstehenden Antragsberatungen sicher noch einmal eingehend miteinander diskutieren müssen.
Erlauben Sie mir zum Abschluss meiner Rede, auf
den Begriff der Heimat zurückzukommen. Ich möchte
den Schriftsteller Robert Lee Frost zitieren. Frost sagte
einmal, dass die Heimat der Ort sei, „wo sie einen hereinlassen müssen, wenn man wiederkommt“. Von daher
sollten wir uns während der Debatte um die Flüchtlingspolitik immer vor Augen führen, dass die Menschen, um
die es geht, nicht freiwillig zu uns gekommen sind. Und
wahrscheinlich haben sie die Hoffnung auf ihre Heimat
nicht aufgegeben.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollegin Bätzing-Lichtenthäler. - Der
nächste Redner ist Marian Wendt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kollegen! Wir führen heute eine Debatte zu einem Thema, das in den Medien und in der Öffentlichkeit in den letzten Wochen sehr emotional diskutiert wurde. Gerade als Volkspartei nehmen wir die
Stimmung der Bürgerinnen und Bürger von allen Seiten
immer wieder sehr ernst. Aber wir erleben auch, dass mit
falschen Fakten und Argumenten bestimmte Ansichten
in der Bevölkerung zum Thema Asyl und Flüchtlinge
bewusst geschürt werden. Daher rate ich zu einer Versachlichung und Differenzierung der Debatte.
({0})
Leider leistet der uns vorliegende Antrag der Linken
hierzu keinen Beitrag. Die Linken werfen wie so oft mit
falschen Pauschalurteilen um sich. Da ist zum Beispiel
von einer Abschottungspolitik der Europäischen Union
die Rede.
({1})
Dabei haben rund 340 000 Menschen im Jahr 2012 und
390 000 Menschen im Jahr 2013 in der EU einen Asylantrag gestellt.
Weiterhin wird vorgeworfen, die europäische Grenzschutzagentur verhalte sich menschenrechtswidrig. Dabei verdanken wir gerade der Grenzschutzagentur Frontex und der italienischen Küstenwache, dass allein vom
3. Oktober 2013, dem Tag der bedauerlichen und
schrecklichen Tragödie von Lampedusa, bis zum 8. Januar dieses Jahres 17 000 Personen aus Seenot gerettet
wurden; jawohl, gerettet. Die Widerlegung falscher Tatsachenbehauptungen könnte ich hier noch fortführen;
doch vieles wurde bereits von meinen Vorrednern aufgegriffen.
Ich möchte mich in meiner Rede auf drei wesentliche
Punkte konzentrieren: erstens die Ursache für Flucht und
Migration, zweitens die Maßnahmen der BundesregieMarian Wendt
rung und der Europäischen Union sowie drittens den
Umgang mit Asylbewerbern vor Ort in unserem Land.
Erstens. Wir alle wissen, dass sich die Situation in den
Krisenherden um Europa herum in den vergangenen Jahren leider nicht verbessert hat. In diesen Ländern entscheiden sich die Menschen zumeist aus politischen
Gründen zur Ausreise nach Europa. Nicht weniger maßgebend sind wirtschaftliche und soziale Gründe für
Flucht und Migration. Armut, Hunger, Perspektivlosigkeit und fehlende Existenzgrundlagen im Heimatland
sind nur einige der Ursachen, die Menschen den schwierigen Weg aus ihrer Heimat antreten lassen. Deswegen
müssen wir dafür sorgen und uns engagieren, dass wir
diese Regionen um Europa herum stabilisieren - nicht
mit Waffen, sondern mit Diplomatie, Gesprächen und
Hilfsangeboten.
({2})
Zweitens. Was wurde in Deutschland und in der Europäischen Union im Bereich Migration und Flüchtlinge
bereits unternommen? Wir sind nicht tatenlos geblieben.
Grundsätzlich wird Deutschland seinen historischen und
humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen
gerecht. Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist
2013 im Vergleich zum Vorjahr um 64 Prozent angestiegen. Im Jahr 2012 hatte unser Land rund 23 Prozent, also
knapp ein Viertel, der in der EU registrierten Asylanträge zu bewältigen. Das ist deutlich mehr als Deutschlands Anteil an der gesamteuropäischen Bevölkerung
von 16 Prozent. Andere Länder wie etwa Spanien haben
nur 0,7 Prozent der Asylbewerberanträge angenommen.
({3})
So viel zu dem, was Deutschland bereits geleistet hat.
Gerade am Beispiel der syrischen Flüchtlinge wird
die Verantwortungsbereitschaft unseres Landes mehr als
deutlich. Im vergangenen Monat hat sich Deutschland
bereit erklärt, insgesamt 10 000 Flüchtlinge allein aus
Syrien aufzunehmen. Neben dieser Zusage für Syrien
legt Deutschland seinen Hilfsschwerpunkt in die Region
selbst. So wurde seit 2012 Unterstützung in Höhe von
432 Millionen Euro in Syrien geleistet. Diese wird für
humanitäre Hilfe, zur Krisenbewältigung und zum Aufbau von Strukturen im Land verwendet. Zudem leistet
das Technische Hilfswerk seit Juli 2012 eine sehr verdienstvolle Arbeit in der Region, insbesondere bei der
Trinkwasserversorgung in den Flüchtlingscamps in Jordanien und Irak.
({4})
Wir wollen die Ursachen vor Ort bekämpfen, damit die
Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen. Das
muss Ausgangspunkt unserer Arbeit sein.
Ebenso arbeiten wir auf europäischer Ebene sehr eng
mit unseren Partnern daran, das gesamte europäische
Asylsystem zu reformieren. Fünf Punkte seien hier erwähnt: eine bessere Zusammenarbeit mit Drittstaaten,
ein verbesserter Flüchtlingsschutz, die Bekämpfung von
Menschenhändlern und Schleusern, eine effizientere
Grenzüberwachung sowie größere Solidarität mit den
EU-Staaten, die unter hohem Migrationsdruck stehen.
({5})
Diese Maßnahmen sind nach meiner Ansicht sachdienlich und sollten zügig umgesetzt werden. Eine grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Flüchtlingspolitik, wie
sie gefordert wird, ist fehl am Platz.
Damit komme ich zu meinem dritten und letzten
Punkt: Wie gehen wir mit Asylbewerbern hier in
Deutschland um? Viele unserer Kollegen haben in ihren
Wahlkreisen vor Ort bereits Erfahrungen mit der Unterbringung und dem Leben von Asylbewerbern gemacht.
Vor kurzem habe ich persönlich in meinem Wahlkreis
syrische und tschetschenische Flüchtlingsfamilien besucht und kennengelernt.
({6})
Wir tun gut daran, uns öfter in die Lage dieser Migranten
hineinzuversetzen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen,
ihre Motive zu verstehen. Nicht alle Asylbewerber suchen ein bequemes Leben in unserem Land. Viele, wie
die syrischen Flüchtlinge, sind existenziell bedroht.
({7})
Keiner dieser Menschen verlässt seine Heimat gern. Das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird mit seinen Entscheidungen diesen Schicksalen gerecht, sodass
die Ablehnungsquoten für Flüchtlinge aus Ländern wie
Afghanistan, Irak und Syrien niedrig sind. So wurden
bereits seit 2011 keine Personen mehr nach Syrien abgeschoben.
Meine Damen und Herren, wir sollten klar zwischen
den verschiedenen Gruppen und den Ursachen der Migration unterscheiden. In jedem Fall müssen wir die Motive der Asylsuchenden den Einwohnern in den Städten
und Gemeinden besser erklären. Denn gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten ist sehr wichtig, um
gemeinsam Lösungen für die Asylbewerber vor Ort zu
finden und sie zu integrieren. Gerade für mich als Christ
ist es wichtig, zu betonen, dass alle berechtigt Schutz Suchenden in Deutschland willkommen sind. Wir sollten
diese Menschen als Gewinn für unser Land ansehen.
Viele sind bereit, hier zu arbeiten, sich gesellschaftlich
zu engagieren und sich zu integrieren.
Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth,
die ich persönlich sehr schätze, hat hierzu einmal gesagt:
Wir dürfen nicht den Fehler machen, Flüchtlinge
nicht für leistungsfähig zu halten. Wer auf Tausenden von Kilometern schreckliche Strapazen überwunden hat, besitzt große mentale und körperliche
Stärken.
({8})
Auf der anderen Seite sollten wir aber den Asylbewerbern, die keinen berechtigten Grund für eine Aufnahme in unserem Land haben oder gar nur hierher
kommen, um Zugang zu unseren Sozialsystemen zu bekommen, keine falschen Versprechungen machen. Diese
Bewerber, die keine Schutzgründe haben, müssen wir
zügig wieder ausweisen. Deutschland kann schlicht
nicht alle Migranten dieser Welt aufnehmen.
Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich
zusammenfassen: Wir müssen zwischen den Asylbewerbern genau differenzieren. Unser Hilfsangebot gilt den
berechtigt Schutz Suchenden. Ihnen sollten wir mit Offenheit, Verständnis und Menschlichkeit begegnen; denn
schon im Neuen Testament, in der Bergpredigt, heißt es:
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt
werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Vielen Dank.
({9})
Vielen herzlichen Dank, Kollege Marian Wendt. Nicht nur Ihre Fraktion gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten
sehr engagierten Rede, sondern auch das gesamte Haus.
({0})
Wir wünschen Ihnen eine erfolgreiche Arbeit in Ihrer
neuen Funktion.
Als Nächster hat Rüdiger Veit für die SPD das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Von der Bibel über Papst Franziskus
bis hin zu weiten Teilen hier im Haus herrscht Einigkeit:
Aus Gründen der Wahrung der Menschenrechte besteht
Handlungsbedarf. Warum wir mit der Fraktion der
Linkspartei nicht ganz einig sind, haben meine beiden
Kolleginnen Christina Kampmann und Sabine BätzingLichtenthäler bereits überzeugend dargelegt. Ich will nur
zwei, drei Punkte vertiefen und mit ein paar nüchternen
Zahlen einen weiteren Beitrag zu der heute im Übrigen
dankenswerterweise weitgehend sachlich verlaufenden
Debatte leisten.
Ich muss zwei Vorbemerkungen machen. Die erste
Vorbemerkung betrifft das Schleuserunwesen. Es ist
selbstverständlich, dass diese kriminellen Machenschaften zulasten von Leib und Leben der Flüchtlinge von uns
allen massiv verurteilt werden und wir bestrebt sein
müssen, solche Machenschaften überall zu bekämpfen.
Wir müssen aber auch den Zusammenhang erkennen: Je
besser, „effektiver“ - in Anführungszeichen - Europa
sich abschottet, je wirksamer die Grenzkontrollen werden, je mühsamer die Wege werden und je gefährlicher
es wird, von Drittstaaten aus nach Europa zu gelangen,
desto mehr befördern wir die Konjunktur der Schleuser
und Menschenhändler.
({0})
Das - das müsste jedem einleuchten - macht die Sache
so kompliziert.
Der Kollege Wendt hat in seinem Beitrag gerade von
der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit von Flüchtlingen geredet: Derjenige, der sich - etwa durch die
Wüste - auf den Weg macht, um überhaupt ans Mittelmeer zu kommen, wird das nicht mit Flip-Flops und
einer Flasche Mineralwasser schaffen. Über das Mittelmeer kommt man auch nicht allein, allenfalls vielleicht
noch über den Fluss Evros, wenn dieser nicht allzu hoch
Wasser führt. Jemand, der diese Hindernisse überwinden
will, braucht Hilfe, braucht Organisation, braucht Background; ohne geht es nicht. Das müssen wir erkennen,
und wir müssen versuchen, darauf eine differenzierte
Antwort zu finden.
Die zweite Vorbemerkung, die ich machen muss: Ich
teile nicht die allgemeine Verteuflung der Grenzschutzagentur Frontex. Wir haben auf Reisen des Innenausschusses des Deutschen Bundestages - sowohl nach
Lampedusa, 2006, Griechenland/Athen, 2009, Libyen
und Malta, 2010, Griechenland erneut, September 2011
und zuletzt im Mai 2013 - das eine oder andere Beispiel
segensreichen Wirkens von Frontex erlebt, und darauf
will ich hinweisen. Jedes Mal, glaube ich, waren die
Kollegin Ulla Jelpke und ich gemeinsam unterwegs. Bei
den drei Reisen nach Griechenland war auch der Kollegen, Stephan Mayer dabei. Von der vorletzten Reise will
ich einmal das folgende Erlebnis schildern: Wir haben
gehört - von Betroffenen auf griechischer Seite, auf türkischer Seite und von Menschenrechtsorganisationen -,
dass der Beitrag deutscher Bundespolizisten an der
Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland, im
Evrosgebiet, durchaus segensreich, deeskalierend und
im Sinne der betroffenen Menschen gewirkt hat. Das hat
man uns vor Ort gesagt und näher geschildert.
({1})
Daran sollten wir bitte nicht zweifeln.
Wir haben übrigens auch gehört, dass die deutschen
Bundespolizisten - auch das ist anerkennenswert - angesichts der katastrophalen, menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingsunterkünften - besser gesagt:
Gefängnissen oder Schuppen, die zu Gefängnissen umgebaut waren - in Tychero oder in Fylakio nicht einmal
mehr eine optische Verbindung hergestellt wissen wollten zwischen deutschen Polizeiuniformen und griechischen Aufnahmebedingungen.
Als wir im Hafen von Lampedusa waren, hatte ich
den leichtsinnigen Einfall, wenigstens ein Schiff der
Küstenwache zu besichtigen - mit der Konsequenz, dass
wir dann alle sieben, die da lagen, aufsuchen mussten
und die Zeit nicht reichte. Wir haben dort gesehen - auch
anhand von Videoaufnahmen -, dass die Schiffe in der
Tat bis Windstärke 7 rausfahren, um aktiv Seenotrettung
zu betreiben; davon konnten wir uns überzeugen.
Wir haben auf Malta die quasi unbenutzten - damals
unbenutzten - neuen Boote der maltesischen Küstenwache gesehen, die extra dafür ausgelegt sind, hinten auf
dem Achterdeck eine große Zahl Menschen und Flüchtlinge aufzunehmen.
Man muss das alles also sehr differenziert sehen, da
gibt es Licht und Schatten. Ich bin froh, dass wir im
Koalitionsvertrag vereinbart haben, hinsichtlich der Betrachtung der Aktivität von Frontex die menschenrechtliche Komponente in den Vordergrund zu stellen.
Das waren angesichts des Rests meiner Redezeit viel
zu lange Vorbemerkungen. Ich will trotzdem noch zwei
Punkte besonders aufgreifen:
Ich kam vorhin gerade noch rechtzeitig herein, um zu
hören, wie der Kollege Gauweiler als letzter Redner der
Debatte weniger europäische, zentrale Zuständigkeit und
dafür mehr nationale Zuständigkeit gefordert hat. Ich
muss Ihnen ehrlicherweise sagen: Wenn es um Flüchtlingspolitik geht, sollten wir alle gemeinsam bestrebt
sein, in die Gegenrichtung unterwegs zu sein.
Seit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, seit den Beschlüssen von Den Haag und
Stockholm wird immer wieder gesagt, wir bräuchten
eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik. Jetzt hat
man vereinbart, ab Mitte 2015 mit einem neuen Projekt
zur gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik - das
deutsche Kürzel ist GEAS - voranzugehen.
Seit ich dem Deutschen Bundestag angehöre, versuche ich aufmerksam die Passagen zur Flüchtlingspolitik
in den Berichten der JI-Räte zu lesen. Aber was erleben
wir? Was muss man jedes Mal sehen? Wer richtig zugehört hat, hat das schon vernommen: Jedes Mal seit 1998,
wenn die Europäische Kommission eine Fortschreibung
in menschenrechtlich vernünftiger Weise anstrebt - in
der Regel unterstützt vom Europäischen Parlament -,
sind es die Mitgliedstaaten und ihre Minister, die versuchen, das zu verwässern, herunterzudrücken und herunterzuschrauben.
({2})
- Ich sage Ihnen, welche Minister. In fast jedem Protokoll bzw. in den Vor- und Nachberichten dieser JI-Räte
findet sich der Hinweis, dass es deutsche Innenminister
sind, die in dieser Weise tätig werden. So haben wir erleben müssen, dass die Vorschläge zur Änderung der Qualifikationsrichtlinie, der Verfahrensrichtlinie und der
Aufnahmerichtlinie, die die Kommission vorgelegt hat,
jedes Mal verwässert worden sind. Das war mit Frontex
und mit Dublin genauso.
Jetzt haben wir anhand der Zahlen folgende Situation,
die man sich einmal vor Augen führen muss: Wir haben
eine regelrechte „Schutzlotterie“, wie es Pro Asyl zu
Recht nennt; denn je nachdem, wo in Europa Flüchtlinge
ins Verfahren geraten, haben sie - gemessen an den Anerkennungsraten - entweder hohe, höchste oder ganz
schlechte Anerkennungschancen. Das würde ich Ihnen
gerne anhand einer Statistik verdeutlichen, die im Zusammenhang mit Arbeiten des Sachverständigenrates
deutscher Stiftungen für Integration und Migration entstanden ist.
Die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak, Somalia und Syrien ist in Italien mit jeweils
über 90 Prozent am höchsten, in Dänemark oder Griechenland dagegen ist sie ganz niedrig. Es kann doch
nicht richtig sein, dass bei gleicher Situation in den
Herkunftsländern der eine europäische Staat vielleicht
2 oder 3 Prozent aller Flüchtlinge anerkennt und der andere über 90 Prozent. Es gibt eine umfangreiche Statistik, die dies belegt. Deutschland liegt übrigens immer relativ im Mittelfeld, außer bei Flüchtlingen aus Syrien; da
sind wir auch bei annähernd 100 Prozent.
Diese Art von Schutzlotterie bedarf dringend einer
Überprüfung. Auch sie führt nämlich dazu, dass Flüchtlinge und Asylsuchende versuchen, in bestimmten Ländern ihre Anträge zu stellen und ihre Verfahren durchzuführen. Diese Diskrepanz kann so nicht bleiben. Hier
besteht dringender Handlungsbedarf. Ich kann hier alle
nur dazu auffordern - namentlich auch die Vertreter der
Regierung -, ganz kräftig mitzuwirken.
({3})
Ein weiterer Punkt. Die Bedenken gegenüber Dublin,
Dublin II bzw. seit dem 1. Januar 2014 gegenüber
Dublin III sind hier schon vorgetragen worden. Auch
hier bedarf es einer dringenden Änderung.
Es gibt unterschiedliche Modelle und Gutachten zur
Berechnung von Quoten ähnlich dem Königsteiner
Schlüssel, gewichtet nach Einwohnerzahl, nach Wirtschaftskraft, zum Teil auch unter Einbeziehung der Maßstäbe Arbeitslosenquote und Flächengröße der jeweiligen Länder. Kollege Kammer hat darauf hingewiesen.
Daraus ergibt sich ein interessantes Bild. Absoluter Spitzenreiter in der Aufnahme von Flüchtlingen ist demzufolge Schweden. Würde man nach diesem Schlüssel eine
entsprechende Aufnahmezahl berechnen, wären in den
Jahren 2008 bis 2012 von den Schweden 42 000 Flüchtlinge aufzunehmen gewesen, tatsächlich aber waren es
153 000, damit also ein Plus von 364,3 Prozent.
Deutschland übrigens - das ist, finde ich, ganz interessant - liegt praktisch im Mittelfeld. Das Soll wären,
wenn man einen solchen Schlüssel zugrunde legen
würde, 205 000 Flüchtlinge. Das Ist war in all den Jahren 201 000; im Jahr 2013 waren es mehr. Das heißt
- ich bitte Sie, darüber einmal nachzudenken -: Bei solchen Quoten und ihrer strikten Anwendung wäre durchaus nicht zu erwarten, dass Deutschland mehr Asylsuchende und Flüchtlinge aufzunehmen hätte, sondern
sogar weniger, da andere Länder, die ganz unten in dieser Auflistung stehen, die auch nicht so besonders beliebt sind, wesentlich mehr aufnehmen müssten.
Ich komme gleich zum Schluss.
Das ist leider so, aber Sie müssen.
Ich bedanke mich für das „leider“.
({0})
Noch einmal zurück zum Thema: Die SPD ist der
Auffassung, wir brauchen eine bessere und gleichmäßigere Verteilung der Verantwortung, nicht der Lasten, für
Flüchtlinge innerhalb der EU. Deutschland muss deswegen nicht zwangsläufig mehr Flüchtlinge aufnehmen als
heute. Wenn diese Quote dann im Einzelnen überschritten wird, muss man ernsthaft über einen angemessenen
finanziellen Ausgleich nicht nur nachdenken, sondern
denselben auch bewirken.
Das wäre jedenfalls ein gemeinsames Ziel, dem wir
uns alle hier im Haus verpflichtet fühlen sollten. Ich
wäre dankbar, wenn wir den Dialog darüber entsprechend fortsetzen würden.
Danke sehr, Frau Präsidentin.
({1})
Danke, Herr Kollege. - Als nächster Redner spricht
Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. Herr
Heinrich, Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist viel gesagt worden, und bei dem, was
wir dabei denken und fühlen, gibt es eine große Schnittmenge.
Humanitäre Hilfe ohne Humanität wird ganz schnell
zu Bürokratismus verkommen. Humanität ohne gesetzlich fixierte Strukturen kann wiederum ganz schnell zu
Sozialromantik verführen.
Wer über Krankheitserreger schwadroniert, ohne die
Wunden zu verbinden, der macht sich schuldig. Doch
wer immer nur Sälbchen schmiert, ohne den Ursachen
zu begegnen, der beruhigt zwar auf der einen Seite sein
Gewissen, löst aber auf der anderen Seite das Problem
letztlich nicht. Daher braucht man beides: ganz persönliche emotionale Betroffenheit und ein stimmiges europäisches Handlungskonzept, wie wir das von den Rednern
der verschiedensten Fraktionen übereinstimmend gehört
haben.
Wir erleben eine humanitäre Katastrophe vor unserer
Haustür; anders können wir das nicht nennen. Dazu dürfen wir weder schweigen noch Ängste schüren.
Ihnen, meine Damen und Herren von der Linkspartei,
gebührt das Verdienst, uns mit diesem Antrag, den wir
heute in der ersten Sitzungswoche dieses Jahres debattieren, in der ersten Plenarwoche nach der Konstituierung
des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe, die Dringlichkeit der Katastrophe vor Augen zu
führen. Dafür danke!
({0})
Sie müssen sich aber auch sagen lassen, dass Sie
durch die Formulierung „Massensterben“ in der Überschrift und auch später im Antragstext so massiv polemisieren, dass man versucht ist, diesen Antrag so zu
deuten, dass dies eine parteipolitisch motivierte populistische Spielwiese für Sie ist. Sei es drum.
({1})
Die Menschen sind es wert, dass wir unsere Augen
nicht verschließen und alle Kräfte bündeln, wie mein
Kollege Veit es gerade gesagt hat, um das Leid an den
Grenzen der EU zu vermindern. Helfen wir den Menschen, und behandeln wir die Ursachen! Beginnen wir
bei den Menschen!
Lassen Sie mich, bevor ich mich einigen Zahlen zuwende - es sind schon viele genannt worden -, ein Erlebnis wiedergeben, von dem EU-Kommissionspräsident
José Manuel Barroso berichtet hat, als er hier in Berlin
war.
Ja, er als Person war umstritten, als er kurz nach der
Katastrophe nach Lampedusa ging. Aber dann erzählte
er, was sich bei ihm ins Gedächtnis eingebrannt hat, als
er die Leichen und darunter insbesondere eine sah. Er
berichtete von einer gebärenden Mutter, deren Nabelschnur noch nicht einmal getrennt war. Säugling und
Mutter waren tot.
Diese Bilder schockieren. Wir müssen diese Geschichten kennen, uns ihnen stellen und sie uns zumuten.
Genau darum geht es. Hinter jeder dieser Statistiken und
Zahlen, von denen wir heute gehört haben und gleich
noch hören, stehen einzelne Menschen, und mit jedem
Menschen stirbt auch Hoffnung, eine Zukunft. Jeder dieser Menschen hat ein Recht auf Leben, auf Überleben
und auf ein Leben in Würde.
Zur Situation am 3. Oktober 2013: Der 3. Oktober ist
ein Tag, an dem wir in Deutschland jedes Jahr einen Triumph der Menschenrechte feiern. Dieser Tag war 2013
ein schwarzer Tag für die Menschenrechte: über
400 Tote vor Lampedusa. Es gab öffentliche Reaktionen
- wir haben es gerade gehört - von Papst Franziskus bis
zu Vertretern aller unserer Fraktionen und weit darüber
hinaus.
In Syrien erleben wir derzeit eine schon lange andauernde Katastrophe mit 2 Millionen Flüchtlingen. Ich
konnte mich unter anderem mit Kollegen aus anderen
Fraktionen davon überzeugen, wie der Libanon damit
umgeht, ein geplagtes Land, das in der Geschichte schon
häufiger Flüchtlinge aufgenommen hat. Dieses Land
muss jetzt erneut damit umgehen - übrigens auch mit
deutscher Hilfe an verschiedenen Stellen; einiges wurde
vorhin schon genannt. Darüber hinaus steht ihm mit dem
World Food Programme auch ein neues Programm zur
Verfügung, mit dem es auf ganz moderne und individuelle Art und Weise helfen kann. Tatsächlich möchte ich
Frank Heinrich ({2})
hier jene Menschen in den Nachbarländern loben, die
helfen und Flüchtlingen ihre Wohnungen zur Verfügung
stellen, deren Zahl sich, wenn wir in Deutschland auf
eine ähnliche Quote wie der Libanon kommen wollten,
auf 20 Millionen Menschen belaufen würde.
Im Mittelmeer ist die Zahl der Landungen von Bootsflüchtlingen vor Italien wieder nach oben gegangen.
2011 war diese Zahl schon einmal sehr hoch, sie lag bei
etwa 64 000. 2012 ging sie zurück. Jetzt ist diese Zahl
fast wieder genauso hoch wie vorher.
Einige Punkte aus Ihrem Antrag möchte ich gerne
aufnehmen und, wie Sie sich vorstellen können, entsprechend gegenhalten. Die Toten seien Opfer der Asylpolitik der Bundesregierung. - Es wurde hier immer wieder
darauf hingewiesen: Die Probleme entstehen vor Ort;
auch mein Kollege Huber hat das in seiner Frage erwähnt. Die Flucht der Menschen vor diesen Problemen,
etwa dem Krieg in Syrien, ist meist die Folge. Die
Schleuserbanden verdienen mit der Not dieser Menschen
ein Heidengeld. Damit gilt es, auf diese Art der Kriminalität einen besonderen Fokus zu legen.
Sie schreiben, Frontex sei eine Abschottungsmaßnahme. Ich sage: 2011/2012 - mein Kollege hat es vorhin auch gesagt - konnten durch die Hilfe von Frontex
40 000 Menschen gerettet werden.
In Ihrem Antrag heißt es, Deutschland sei nur in absoluten Zahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen führend, nicht aber im Verhältnis zur Bevölkerung und
Wirtschaftskraft, also der Quote an Menschen, die wir
aufnehmen müssten. - Wir nehmen pro 1 Million Einwohner 945, Italien 260 Asylbewerber auf. Oft entsteht
genau der entgegengesetzte Eindruck. Ja, unsere Ablehnungsquote beträgt 70 Prozent. Darüber müssen wir tatsächlich nachdenken. Insgesamt halten sich im Moment
in Deutschland 600 000 Flüchtlinge auf. Der Eindruck,
der manchmal entsteht, ist ein ganz anderer.
Ein paar Schlussfolgerungen - Sie haben in Ihrem
Antrag Forderungen gestellt -: Was braucht es also? Es
braucht unserer Meinung als Entwicklungspolitiker und
als Menschenrechtspolitiker nach in erster Linie die
Hilfe vor Ort: abgestimmte internationale humanitäre
Hilfe, im Moment besonders in Syrien. Ich habe die positive Rolle des Libanon erwähnt und möchte in diesem
Zusammenhang auch Jordanien oder Saudi-Arabien
nicht vergessen.
Es braucht einen Schwerpunkt beim Flüchtlingsschutz und bei der Realisierung menschenrechtlicher
Standards in den Flüchtlingslagern, insbesondere in den
Anrainerstaaten der Krisengebiete, aber auch der Transitstaaten und weiterer Drittstaaten. Hin und wieder
heißt das auch - da stehen wir natürlich zu Ihnen, den
Linken, im Widerspruch - UN-mandatierte Blauhelmund NATO-Einsätze. Unsere internationale Verantwortung bringt das mit sich.
Es braucht eine mittel- und langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika und eine Stabilisierung
der Krisengebiete. Ich habe mich gefreut, dass in der
EU-Kommission neu darüber nachgedacht wird - das ist
noch umstritten, aber ich kann dem Gedanken sehr viel
abgewinnen; ich las davon letzte Nacht auf Spiegel
Online -, die Exporthilfen für Exporte nach Afrika abzuschaffen, damit die Kleinbauern vor Ort eher eine
Chance haben und bleiben.
Dann gibt es natürlich noch die Frage nach einer einheitlichen Asylpolitik in der EU. Da braucht es eine Vereinheitlichung auf EU-Ebene, um durch ein gemeinsames europäisches Asylrecht schnelle und faire Verfahren
zu gewährleisten. Sie können in unserem Koalitionsvertrag lesen, dass genau dies ein Schwerpunkt unseres
Handelns ist.
({3})
Standards, wie im Stockholmer Programm festgeschrieben, sind da ganz wichtig. Das Personal von Frontex und EUROSUR muss dafür hinsichtlich der humanitären Komponente geschult werden und braucht im
Sinne einer Task Force eine noch engere Verzahnung,
möglicherweise mit dem Internationalen Roten Kreuz
oder anderen Nichtregierungsorganisationen. Es braucht
eine Stärkung der Rolle des 2011 eingerichteten EASO,
dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen
mit Sitz in Malta. Dies sind einige der Maßnahmen, die
wir tatsächlich benötigen.
Zum Abschluss ein Beispiel, das mich geprägt hat. In
der letzten Legislatur waren wir Menschenrechtspolitiker mit einer Gruppe Kollegen in Uganda. Dort sind mir
Sarah und ihr Sohn Jamaal begegnet, der erst wenige
Wochen alt war und den Sarah auf dem Arm trug. Sarah
nimmt an einem Aussteigerprogramm für Prostituierte in
einem Slum von Kampala teil. Sie hat dort unter anderem ein Handwerk gelernt, zum Beispiel Deckchen herzustellen, um mit dem Verkauf dieser Deckchen ihren
Lebensunterhalt zu finanzieren, was aber noch nicht
reicht, sodass sie sich weiterhin prostituieren muss.
Doch hält sie schon allein diese Perspektive eher in ihrer
Stadt und in ihrem Land, als sich auf den Weg zu machen und nach Europa zu fliehen. Die Perspektive hält
sie dort: ein Beispiel und ein Symbol für das, was es in
der Entwicklungszusammenarbeit braucht, um dem
Flüchtlingsstrom vorzubeugen.
Damit ihr Sohn später einmal, wenn er in die Pubertät
kommt, nicht in dem Teufelskreis eines langsamen Sterbens stecken bleibt oder nach Europa fliehen muss,
braucht es mehr von unserem Engagement. Wir dürfen,
um mit der Kollegin Kampmann zu sprechen, nicht mit
dem Status quo zufrieden sein. So darf es nicht weitergehen. Deshalb lassen Sie uns zusammen daran arbeiten,
an welchen Stellen das konstruktiv möglich ist.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Heinrich. - Der
letzte Redner dieser, wie ich finde, sehr intensiven und
sehr solidarischen Debatte ist Dr. Egon Jüttner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Im Mittelmeerraum haben sich in den vergangenen Jahren zu Lande und zu Wasser schreckliche Szenen
abgespielt. Insbesondere vor der Küste Italiens und auf
Lampedusa sowie im griechischen Flüchtlingslager
Amigdalesa herrschen menschenunwürdige Zustände.
Die Überbelegung von Flüchtlingslagern, in denen oft
drei- bis viermal mehr Flüchtlinge untergebracht sind als
vorgesehen, darf nicht länger hingenommen werden. Es
ist inakzeptabel, dass Hunderte von Menschen auf überfüllten Booten in europäischen Gewässern den Tod
finden. Was hier geschehen ist, das waren eindeutige
Menschenrechtsverletzungen, die durch nichts zu rechtfertigen sind. In vielen Flüchtlingslagern, nicht nur auf
Lampedusa, kam es zu Zwischenfällen, die die gesamte
Europäische Union mit Scham erfüllen sollten.
Unser Mitgefühl gehört den vielen umgekommenen
und verletzten Flüchtlingen. Wir bedauern das Schicksal
dieser Menschen zutiefst. Sie haben ihre häufig von kriegerischen Auseinandersetzungen und Armut betroffenen Herkunftsländer verlassen, um in Europa eine bessere Zukunft zu finden. Ihre Flucht aber endete oft in
einem qualvollen Tod. Der Respekt vor dem Schicksal
dieser Menschen sollte Vorrang haben vor politischen
Auseinandersetzungen und Schuldzuweisungen.
Die Verantwortung für die Flüchtlingsströme und die
daraus resultierenden Probleme liegt nicht bei den EUMitgliedstaaten, sondern eindeutig bei den Herkunftsländern. Leider ist die politische Situation in vielen Staaten besorgniserregend. In Mali, in Nigeria, in der Zentralafrikanischen Republik, aber auch im Südsudan sind
teilweise staatliche Strukturen zusammengebrochen. Außerdem finden oft Willkür und Unterdrückung statt.
Häufig wird nicht einmal das Existenzminimum der
Menschen gewährleistet. Auch militante islamistische
Gruppen machen ein dauerhaft friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Volksgruppen unmöglich.
Da ist es nicht verwunderlich, dass Menschen ihre
Heimat verlassen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Deutschland ist deshalb gemeinsam mit anderen
Staaten der Europäischen Union, ebenso wie zivile und
kirchliche Organisationen, ständig bemüht, den oft brüchigen Frieden in diesen Staaten wiederherzustellen und
die Grundbedürfnisse der dort lebenden Menschen zu
decken. Die Träger der Entwicklungszusammenarbeit
unternehmen alles, um im Dialog mit den politisch Verantwortlichen friedenstiftende Maßnahmen zu fördern.
Geschähe dies nicht, würden noch mehr Menschen ihre
Heimatländer verlassen und wären den Gefahren einer
Flucht ausgesetzt.
Meine Damen und Herren, wir sind uns einig, dass
die südeuropäischen Staaten mit der Flüchtlingsproblematik nicht alleingelassen werden dürfen. Wir sind als
Europäer und als Europäische Union gemeinsam verpflichtet, Asylsuchenden eine menschenwürdige Behandlung zu gewähren. Die EU ist deshalb ernsthaft
bemüht, das europäische Asylsystem den sich verändernden Realitäten anzupassen. Dabei stehen zwei Gesichtspunkte im Vordergrund der Bemühungen: zum einen die Behandlung der sich auf der Flucht befindenden
bzw. bereits in Europa angekommenen Menschen und
zum anderen die Ursachenbekämpfung in den Herkunftsländern.
Was Ersteres betrifft, so sind durch die Fortentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im
vergangenen Jahr die Grundlagen für ein gerechtes und
realisierbares Regelwerk geschaffen worden.
Die Rangfolge der in der Dublin-Verordnung festgelegten Kriterien trägt der Tatsache Rechnung, dass wir es
mit schutzbedürftigen Menschen zu tun haben. Wir sind
verpflichtet, deren persönliche Situation zu berücksichtigen.
Erster Grundsatz ist die Einheit der Familie. Handelt
es sich etwa bei einem Asylbewerber um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat für die
Prüfung seines Antrags zuständig, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält. Ist ein Asylsuchender volljährig und befindet sich ein Familienmitglied bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen
Union, so hat er die Wahl, ebenfalls in diesem Mitgliedstaat einen Asylantrag zu stellen. Dies gilt selbst dann,
wenn über den Asylantrag des Familienmitglieds noch
nicht entschieden ist.
Ferner regelt die Dublin-Verordnung, welcher Mitgliedstaat im Einzelfall für den Asylantrag eines Asylsuchenden zuständig ist. Der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat darf diesen Antrag
nicht ablehnen und den Asylbewerber etwa in ein anderes Land schicken. Vielmehr ist er verpflichtet, den
Asylbewerber aufzunehmen und den Antrag zu bearbeiten.
Die neuen Regelungen zeigen eindeutig, dass die Europäische Union der Menschenwürde der Asylsuchenden einen hohen Stellenwert beimisst. Die familiäre Zusammenführung hat Vorrang vor allen anderen Kriterien.
Es ist den Einzelstaaten verboten, Asylsuchende wie
Spielbälle von einem Land ins andere zu schicken.
Des Weiteren haben im Oktober 2013 die Mitgliedstaaten der Europäischen Union kurzfristige Maßnahmen zur verbesserten Seenotrettung eingeleitet. Ein effektives Seenotrettungssystem bedeutet jedoch nicht,
dass die Überquerung des Mittelmeers mit völlig ungeeigneten und erheblich überladenen Booten sicher wird.
Es kann nur dazu dienen, das Risiko für die Migranten
auf dem Seeweg zu reduzieren.
Die zunächst zuständigen nationalen Behörden der
südeuropäischen Staaten haben die Möglichkeit, über die
EU-Grenzschutzagentur Frontex Unterstützung durch
andere EU-Mitgliedstaaten anzufordern. So konnten in
den beiden vergangenen Jahren durch von Frontex koordinierte Aktionen - das wurde schon gesagt - über
40 000 Menschen aus Seenot gerettet werden. Europa
zeigt sich also in dieser Hinsicht mit seinen südlichen
Mitgliedstaaten solidarisch.
Unser Ziel muss es sein, Tragödien, wie sie in der
Vergangenheit passiert sind, in Zukunft zu verhindern.
Mit der Fortentwicklung des Gemeinsamen EuropäiDr. Egon Jüttner
schen Asylsystems wurden im vergangenen Jahr die
Weichen dafür gestellt. Nun müssen wir die Effektivität
der beschlossenen Maßnahmen genau analysieren. Dabei müssen wir offen sein für weitere Reformen zugunsten der betroffenen Flüchtlinge. Deshalb steht die Asylpolitik auch beim EU-Gipfel im Juni wieder auf der
Tagesordnung. Dort wird Bilanz gezogen über die im
Herbst beschlossenen Maßnahmen und Änderungen.
Es ist falsch, die Asylpolitik der Europäischen Union
pauschal und undifferenziert zu verurteilen und den
deutschen Bundesregierungen der letzten 20 Jahre eine,
wie es im Antrag heißt - ich zitiere - „große Mitschuld“
an „Menschenrechtsverletzungen und Verdrängung von
Verantwortlichkeit auf EU-Ebene“ zu unterstellen.
({0})
Vielmehr müssen wir den eingeschlagenen Weg zur Verbesserung der Situation fortsetzen. Dem Antrag der
Fraktion Die Linke können wir deshalb nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Die Redeliste zu diesem Tagesordnungspunkt ist erschöpft.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/288 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europarechtskonforme Regelung der Industrievergünstigungen auf stromintensive Unternehmen im internationalen Wettbewerb
begrenzen und das EEG als kosteneffizientes
Instrument fortführen
Drucksache 18/291
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man das Dokument zur Einleitung des Beihilfeverfahrens der EU-Kommission liest, dann findet man
da sehr interessante Passagen. Darin steht zum Beispiel,
dass das EEG ein sehr kosteneffizientes Instrument zum
Ausbau der erneuerbaren Energien ist,
({0})
dass es zielgerichtet ist und erfolgreich den Ausbau der
Erneuerbaren in Deutschland vorangebracht hat, ganz im
Unterschied zu anderen EU-Staaten und zu anderen Fördersystemen. In der Tat haben wir es in Deutschland geschafft, den Anteil der erneuerbaren Energien innerhalb
von gut zehn Jahren von 4 Prozent auf 25 Prozent zu erhöhen. Wir haben es geschafft, dass sich die Bürgerinnen
und Bürger an der Energieversorgung beteiligen, dass sie
das ganze Thema voranbringen. Das ist eine absolute Erfolgsgeschichte.
({1})
Wir haben es vor allen Dingen auch geschafft, dass
Windenergie an Land und Photovoltaik inzwischen die
preisgünstigste Form sind, eine Kilowattstunde Strom zu
produzieren, preisgünstiger als aus neuen Kohle- oder
Gaskraftwerken. Das ist eine Entwicklung, die noch vor
wenigen Jahren unvorstellbar war.
({2})
Wenn die EU-Kommission jetzt ein Verfahren einleitet, so richtet sich das nicht gegen das EEG an sich, ganz
im Gegenteil. Die EU-Kommission problematisiert das
Ausnahmewesen, also die Tatsache, dass es bei den Zahlungen der EEG-Umlage, die die Vergütungen der Betreiber von Erneuerbare-Energien-Anlagen sichern, zu
überbordenden Ausnahmen gekommen ist. Das Problem
dabei ist nicht der grundsätzliche Tatbestand der Ausnahme. Die EU-Kommission sagt klipp und klar: Es ist
völlig in Ordnung, dass stromintensive Unternehmen ein
Stück weit befreit werden. - Ich glaube, es herrscht politischer Konsens darüber, dass ein stromintensives Unternehmen wie eine Aluminiumhütte hier nicht zu Zahlungen herangezogen wird. Die EU-Kommission kritisiert
aber in aller Deutlichkeit das, was insbesondere seit
2010 passiert, nämlich das ausufernde, überbordende
Ausnahmewesen zugunsten von Industrie und Gewerbe,
die mit internationalem Wettbewerb und Stromintensität
überhaupt nichts zu tun haben. Damit muss endlich
Schluss sein, wenn wir das Problem lösen wollen.
({3})
Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass die Zahl
von wenigen Hundert begünstigten Unternehmen auf
über 2 100 angestiegen ist. Die Politik in den letzten Jahren nach dem Motto „Die Privatverbraucher wollten die
Energiewende; dann sollen sie auch dafür zahlen“ darf
nicht fortgesetzt werden. Wir brauchen hier ein Stück
weit Kostengerechtigkeit. Nun schlägt diese Politik der
Vergangenheit auf die Industrie selber zurück. Inzwischen beschweren sich auch - zu Recht - die nicht befreiten Industriebereiche. Ich kann nicht nachvollziehen,
warum ein Schlachtbetrieb von der EEG-Umlage befreit
ist, ein Textilunternehmen aber nicht. Genau das problematisiert die EU-Kommission. Deshalb ist das Beihilfeverfahren richtig.
({4})
Die Große Koalition hatte die Chance, dieses Beihilfeverfahren zu vermeiden; das wissen alle, die mit Herrn
Almunia gesprochen haben. Es gab die Chance, eine
klare Vereinbarung im Koalitionsvertrag zu treffen, wie
man das Thema der Beihilfen angehen will. Das Problem ist aber: Sie haben sich nur auf einen Prüfauftrag
verständigt, der lediglich vorsieht, dass man sich diesem
Thema widmen will. Das ist ein riesiges Problem für die
Industriebetriebe, die jetzt damit konfrontiert sind, dass
sie Rückstellungen bilden müssen. Es herrscht Verunsicherung. So kann letztendlich nicht investiert werden.
Damit hat sich die gesamte Politik der letzten Jahre, die
angeblich der Industrie dienen sollte, zu einem Bumerang entwickelt.
Wir schlagen in unserem Antrag vor, dass Sie jetzt aktiv werden; denn es kann nicht sein, dass man jetzt nur
die EU-Kommission beschimpft und sagt, sie mache alles falsch. Sie benennt ein richtiges Problem. Aber es ist
jetzt an der Zeit, dass die Bundesregierung konkrete
Punkte benennt. Wir sagen: Die Strompreiskompensationsliste, die die EU-Kommission im Rahmen des
Emissionshandels gemacht hat, ist eine Grundlage, an
der sich in Deutschland die Befreiungen bzw. Vergünstigungen orientieren können. Das sind die Unternehmensbereiche Metall, Papier, Chemie usw. Diese brauchen
tatsächlich diese Vergünstigungen. Das wäre eine
Grundlage, um diesem Beihilfeverfahren zu entgehen.
({5})
Es gibt noch ein anderes Problem. Dadurch dass wir
jetzt über Beihilfe reden, bekommt ein anderes Verfahren eine Schlagseite. Die EU will das EEG insgesamt
aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre als Beihilfe definieren. Das würde dazu führen, dass wir in Zukunft die Regelungen und Novellen des ErneuerbareEnergien-Gesetzes und den Ausbau der erneuerbaren
Energien in Brüssel genehmigen lassen müssten. Ich
glaube, das kann nicht in unserem Sinne sein.
Es muss vielmehr in unserem Sinne sein - das ist die
Aufgabe der EU-Kommission und die Aufgabe von
Europa -, dass wir klare Ziele setzen, nicht nur Klimaschutzziele, sondern auch ambitionierte Ziele für den
Ausbau der erneuerbaren Energien und Effizienzziele.
Dafür müssen wir kämpfen. Ich frage ganz offen: Wo ist
eigentlich der deutsche EU-Kommissar Herr Oettinger?
Von dem sehe ich nur, dass er die deutsche Energiewende und die Politik, von der ich einmal dachte, dass
sie hier konsensual getragen werde, hintertreibt und gemeinsame Sache mit den britischen Atomfreunden
macht, anstatt die deutsche Politik zu unterstützen.
({6})
Wir finden: Dazu braucht es ein klares Wort der
Kanzlerin. Sie hat diese Ziele 2007 im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft durchgesetzt. Das muss jetzt
weitergehen. Wir denken auch - das ist unser Angebot
an die Große Koalition -, dass es einen Konsens in
Deutschland geben kann, wenn wir die erneuerbaren
Energien weiter konsequent ausbauen, wenn wir sie kosteneffizient ausbauen und wenn wir sie kostengerecht
ausbauen, und zwar ohne Deckelung und künstliche
Bremsen für Windenergie an Land und PV. Wenn das
eine Basis sein kann, dann können wir uns auf einen gemeinsamen Weg verständigen.
Wenn die Basis aber ist, dass Sie die wegfallenden
Atomstrommengen der nächsten Jahre durch Braunkohle
ersetzen wollen, wie das offensichtlich Herr Seehofer
vorhat - so jedenfalls verstehe ich seine Einlassungen -,
dann wird das ein Weg sein, den wir nicht mitgehen werden. Den werden wir bekämpfen. Dann haben wir deutliche Auseinandersetzungen. Aber wir bieten einen
gemeinsamen Weg an und fänden es gut, wenn hier tatsächlich eine breite politische Basis für eine langfristige
Energiewende und für Investitionssicherheit in diesem
Bereich geschaffen werden könnte.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Lieber Kollege Oliver Krischer, heute
Morgen haben Sie noch groß über die Medien verkündet, Sie wollten die enge Zusammenarbeit mit der Großen Koalition und wollten gemeinsam mit uns an diesem
Projekt der Energiewende teilhaben.
({0})
Ihr Antrag und Ihr Redebeitrag zeigen etwas anderes,
nämlich dass Sie in alte Grabenkämpfe verfallen und
versuchen, Konflikte aufzubauen, die es so gar nicht
gibt. Wir sind vielmehr in vielen Punkten einiger, als Sie
glauben. Viele Dinge, die Sie jetzt kritisiert haben, haben
Sie nämlich damals unter Rot-Grün, unter dem Umweltminister Jürgen Trittin, selber beschlossen. Diese sind
jetzt in der Tat Bestandteil eines Verfahrens in Brüssel.
Wir werden dieses Verfahren abschließen und dafür sorgen, dass die Energiewende weiter gelingt und auch unsere Industrie weiter gesichert ist.
({1})
Bevor ich aber auf den Antrag, den Sie gestellt haben,
eingehe, möchte ich zu Beginn betonen, dass das Projekt
der Energiewende, die Energiepolitik an sich, eines der
ganz großen Themen dieser Großen Koalition ist. Es
wird eine gemeinsame Herausforderung sein, und wir
werden gemeinsam dieses Projekt anpacken. Wir wollen
an das anknüpfen, was wir die letzten vier Jahre gemacht
haben. Wir wollen dafür sorgen, dass die Grundlinien
unserer Energiepolitik auch weiter bestehen. Wir wollen
eine Politik machen, die umweltfreundlich ist, aber auch
die sichere Versorgung und vor allen Dingen eine bezahlbare, wirtschaftliche Energieversorgung für unser
ganzes Land gewährleistet, für die Menschen, für die Industrie und die Wirtschaft insgesamt.
Wir wollen die Energiepolitik zu dem machen, was
sie sein muss. Sie muss Hauptbestandteil unserer Wachstums- und Wohlstandsstrategie sein. Sie muss dafür sorgen, dass wir in den nächsten Jahren keine Arbeitsplätze
gefährden oder sogar verlieren, sondern dass wir unter
dem Strich Arbeitsplätze sichern und weiter ausbauen.
Das muss die Energiewende zum Ziel haben.
({2})
Insofern bin ich dankbar, dass diese Koalition die
Kompetenzen für Energiefragen im Wirtschaftsressort
gebündelt hat. Somit bekommen wir eine schlagkräftige
Einheit, um für eine wirtschaftliche Energiewende
({3})
zu kämpfen. Ich bin sicher, lieber Hubertus Heil, dass
wir gemeinsam mit unserem neuen Minister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten werden.
Wir wollen Arbeitsplätze sichern. Daher müssen wir
den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter sinnvoll
gestalten. Darüber hinaus müssen wir dafür sorgen, dass
dort, wo in der Industrie Arbeitsplätze gefährdet sind,
wo Industrien im europäischen und weltweiten Wettbewerb stehen, weiterhin Vergünstigungen möglich sind.
Das muss unser zentrales Ziel sein.
Damit komme ich zu Ihrem Antrag. Der Antrag der
Grünen enthält zwei Grundaussagen:
Erstens. Das EEG muss unbefristet weiter gelten. Das
haben Sie gerade eben noch einmal gefordert.
Zweitens. Die Vergünstigungen für stromintensive
Unternehmen - das ist Ihr großes Thema - müssen weitestgehend zusammengestrichen werden.
({4})
Das würde Arbeitsplätze gefährden, lieber Oliver Krischer.
Wir sollten miteinander debattieren, um eine sinnvolle
Lösung zu finden.
Ich glaube, dass die Aussagen, die Sie in Ihrem Antrag treffen, objektiv falsch sind. Ich zitiere aus dem ersten Absatz Ihres Antrags einen Punkt, den ich ganz anders sehe:
Statt der vollen … Umlage von derzeit 6,24 Cent/
kWh, zahlt ein Großteil der entlasteten Unternehmen lediglich eine Umlage von 0,05 Cent/kWh.
({5})
Das ist komplett falsch. Nur Unternehmen mit einem
Stromverbrauch ab 100 Gigawattstunden zahlen nur
noch 0,05 Cent je Kilowattstunde.
({6})
In der Summe sind das in Deutschland weniger als
150 Unternehmen.
({7})
Es wird Sie vielleicht überraschen, Herr Krischer: Es
sind Unternehmen, die schon damals, 2004, unter Jürgen
Trittin entlastet worden sind
({8})
und die seitdem von dieser Entlastung profitieren.
Sie haben, auch in dieser Debatte, den Eindruck erweckt, dass diese Unternehmen gar keine Abgaben zahlen. Das stimmt ebenfalls nicht. Unternehmen, die hinsichtlich der EEG-Umlage zwar nicht befreit, aber
begünstigt werden - etwa ThyssenKrupp, der größte Fall
in dieser Riege -, zahlen nach heutigem Stand weiterhin
4 500 Euro EEG-Umlage pro Arbeitsplatz. Das zeigt:
Auch die großen energieintensiven Industrieunternehmen zahlen für die Energiewende und leisten damit auch
einen Beitrag zum Gelingen des Umstiegs, der die
nächsten Jahre gemeinsam solidarisch finanziert werden
muss.
({9})
Ihre Aussage, dass die EEG-Novelle von 2012 zu
massiven Mehrbelastungen führt, wie Sie sie vorhin beschrieben haben, ist falsch. Sie haben gesagt: Die Anzahl
der entsprechenden Unternehmen ist von 800 Unternehmen auf 2 100 Unternehmen gestiegen. Ich muss Sie
korrigieren: Sie ist sogar auf 2 700 Unternehmen gestiegen.
({10})
Ich bin stolz darauf, dass sich die Anzahl dieser Unternehmen verdreifacht hat; denn der industrielle Mittelstand, der in besonderer Weise im Wettbewerb steht,
erfährt Vergünstigungen. Damit haben wir etwas geschaffen, was vielen Unternehmen hilft und damit der
Erhaltung vieler Arbeitsplätze dient, aber auf der anderen Seite nur sehr wenig kostet. Die Vergünstigung liegt
nur bei 10 Prozent. Nur 2 Prozent der EEG-Umlage, die
wir zahlen, sind für den industriellen Mittelstand reserviert. Damit erreichen wir, dass die Arbeitsplätze von
über 1 Million Beschäftigten nicht nur vorübergehend
gesichert, sondern auch auf Dauer erhalten bleiben. Ich
glaube, das war es wert, für den Fortbestand dieser Vergünstigung zu sorgen.
({11})
Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
oder eine Bemerkung aus den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Ja, gern. Natürlich. Immer doch.
Herr Meiwald, bitte.
Vielen Dank, Herr Bareiß, dass Sie meine Frage zulassen. - Sie haben sich gerade so vehement für die Arbeitsplätze eingesetzt. Das finden wir grundsätzlich in
Ordnung. Arbeitsplätze sind ja für uns alle notwendig.
Aber in der Konsequenz dessen, was Sie in den letzten
vier Jahren gemacht haben und was Sie hier so in den
Himmel loben, stellt sich doch die Frage: Wie viele Arbeitsplätze im Braunkohletagebau entstehen oder werden dadurch erhalten, dass man zum Beispiel Vattenfall
von der EEG-Umlage befreit? Wie viele Arbeitsplätze
sind in den kleinen und mittelständischen Handwerksunternehmen, die massiv investiert haben, um die Energiewende voranzutreiben, in den letzten Jahren schon verloren gegangen? Ich denke an kleine Solarunternehmen
und ähnliche Betriebe, die jetzt vor dem Ruin stehen
bzw. schon in der Insolvenz sind.
Ich glaube, da liegt eine Schieflage vor. Das Ganze
müsste man einmal sauber gegeneinander aufrechnen
und man darf nicht sagen: Dadurch, dass wir Großunternehmen und andere Vielverbraucher hier entlasten, bewirken wir etwas, worauf wir auch noch stolz sein können. Die Entlastung von Braunkohletagebauen ist
natürlich auch klimapolitisch verheerend. Mich würde
interessieren, ob Sie diesbezüglich eine Bilanz aufmachen können.
Vielen Dank.
Wir können gerne über den Braunkohletagebau reden.
Ich lade Sie auch gerne ein, einmal die Lausitz oder das
Ruhrgebiet zu besuchen.
({0})
- Da habe ich mich versprochen; das gebe ich zu. Das
war die alte Welt der Steinkohle.
Ich lade Sie ein, die Lausitz oder das Rheinland zu besuchen. Dort sind 22 000 Beschäftigte von der Braunkohleindustrie abhängig.
({1})
Wir müssen doch sehen, dass die Braunkohle der einzige heimische Energieträger ist, den wir noch haben.
Ich sehe Ihre neue Stoßrichtung, die Braunkohle als
schmutzige Energie darzustellen, sehr kritisch, weil die
Braunkohle derzeit hocheffizient eingesetzt wird. In
Deutschland wurde noch nie so viel Braunkohlestrom
produziert; das ist durchaus richtig. Aber Sie verschweigen immer, dass dieser Braunkohlestrom mit so wenig
CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde wie noch nie erzeugt
wird. Wir haben hocheffiziente Braunkohlekraftwerke.
({2})
Wir brauchen auch weiterhin die Verstromung der
Braunkohle, einem heimischen und günstigen Rohstoff,
als Brückentechnologie, um kostengünstig in das Zeitalter der regenerativen Energien zu gelangen.
Ich lade Sie wirklich einmal ein, mit mir gemeinsam
diese Regionen in Ostdeutschland zu besuchen. Dort
sind in der Braunkohleindustrie 22 000 Menschen beschäftigt. In der Solarindustrie jedoch, die man versucht
hat, in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt aufzubauen, sind es nur noch knapp 10 000 Beschäftigte. Das
bereitet mir große Sorgen.
({3})
Auf der einen Seite wollen wir die Braunkohleindustrie mit 22 000 Beschäftigten zerstören, auf der anderen
Seite aber keine neuen Technologien in Deutschland aufbauen, die wir bräuchten. Hier müssen wir dringend ansetzen. Die eine Industrie muss die andere Stück für
Stück ersetzen, aber es darf nicht so sein, wie ich es am
Anfang beschrieben habe: dass schlussendlich weniger
Arbeitsplätze vorhanden sind, als das bisher der Fall ist.
({4})
Ich trage nach: Das war jetzt die Beantwortung der
Frage des Kollegen Meiwald. - Ich schalte jetzt die Uhr
wieder ein.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr
Krischer, außerdem haben Sie vorhin betont, dass die
Besondere Ausgleichsregelung europarechtswidrig ist.
Sie haben gesagt, Sie hätten schon mit Herrn Almunia
gesprochen und erfahren, dass wir das Verfahren abwenden können. Ich muss gestehen, dass ich das bisher nicht
so wahrgenommen habe, aber vielleicht haben wir eine
unterschiedliche Wahrnehmung.
({0})
Ich sage nur eins: Zu behaupten, dass die Reduzierung einer Mehrbelastung für unsere Industrie eine Subvention darstellt, halte ich für sehr gewagt. Deshalb
glaube ich auch, dass das, was Sigmar Gabriel vor wenigen Tagen gesagt hat, richtig ist: Die nationale Energiepolitik muss weiterhin in erster Linie Sache Deutschlands und nicht Europas sein.
Wir brauchen auch deutsche Ideen und Konzepte. Ein
Gesetz wie das EEG und eine Mehrbelastung, wie sie
derzeit in allen Bereichen der Industrie vorhanden ist,
hat kein anderes Land. Insofern sollten wir schauen, dass
wir im Bereich der Ausgleichsregelung auch nationale
Lösungen finden.
Wir brauchen weiterhin die Besondere Ausgleichsregelung für die Großindustrie, aber auch für den industriellen Mittelstand. Wir müssen ebenfalls schauen, wo
wir vielleicht in der EEG-Novelle, zu der in der nächsten
Woche die ersten Eckpunkte vorgelegt werden, Veränderungen vornehmen können. Ich habe schon in den letzten
Monaten - Sie sicherlich auch - intensive Gespräche mit
der Industrie geführt. Es gibt unterschiedliche Bereiche,
in denen wir etwas tun können. Die Schwellenwerte und
Unwuchten sollten wir sicherlich noch diskutieren. Wir
müssen auch überlegen, welche Ausgestaltung wir beim
Kriterium des Wettbewerbs vornehmen.
Ich warne aber: Wenn wir hier Veränderungen vornehmen, werden auch solche Fragen gestellt wie die, ob
die Deutsche Bahn weiterhin vergünstigt werden kann.
Ich bin gespannt, welchen Beitrag die Grünen dann zukünftig leisten werden. Die deutsche Wirtschaft zahlt
heute schon die höchsten Industriestrompreise, nicht nur
Europas, sondern der ganzen Welt.
({1})
Wir sind aber auch diejenigen, die im Bereich der erneuerbaren Energien am schnellsten vorankommen wollen. Deshalb sage ich Ihnen ganz offen: Um auch die
Akzeptanz der Menschen nicht zu verlieren, dürfen wir
nicht weiterhin Verteilungsdebatten führen, sondern
müssen schauen, wie wir das EEG in den kommenden
Jahren Schritt für Schritt reformieren, stärker an den
Markt heranbringen und somit auch erneuerbare Energien wettbewerbsfähig machen - nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Dazu brauchen wir auch Ehrlichkeit.
Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Frage oder
Bemerkung des Kollegen Krischer?
Gerne. - Bitte, Herr Krischer.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Bareiß, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. - Sie haben gerade gesagt: In
Deutschland gibt es die höchsten Industriestrompreise.
Ich vermute einmal, Sie wollten sagen, die höchsten Industriestrompreise Europas. Wie erklären Sie es sich
dann, dass der Verband der Industriellen Energie- und
Kraftwirtschaft - das ist keine grüne Organisation und
auch keine der Erneuerbaren-Verbände, sondern die
Lobbyorganisation der energie- und stromintensiven Industrie -, der regelmäßig Strompreisindizes veröffentlicht, festgestellt hat, dass dieser Index in diesem Jahr
den niedrigsten Stand seit zehn Jahren erreicht hat? Wie
erklären Sie sich das nach Ihrer Aussage, dass wir - angeblich - die höchsten Industriestrompreise haben?
Dann müssten Sie noch erklären, wie es sein kann,
dass in den Niederlanden eine Aluhütte schließen muss,
in Insolvenz geht, mit der Begründung, dass sie gegen
den deutschen Wettbewerber, der aufgrund der Energiewende in Deutschland so niedrige Industriestrompreise
hat, nicht mehr konkurrieren kann. Diese Aussage müssen Sie bitte erklären. Das passt nicht zu dem, was Sie
gerade gesagt haben.
({0})
Wir haben auf alle Fälle - da lasse ich einfach mal die
Zahlen sprechen - im Bereich der Verbraucher, der Industrieverbraucher, die Größenordnung von 20 bis 70 Gigawattstunden; das ist eine Größenordnung, die 2012 gemessen wurde. Da lagen die Industriestrompreise bei
10,45 Cent je Kilowattstunde. In der Tat sind in Zypern,
Malta, Litauen und in der Slowakei die Industriestrompreise - in Anführungszeichen - noch besser als bei uns,
nämlich etwas höher. Aber davon abgesehen haben wir
mit die höchsten Preise in Europa. Das sind die Zahlen,
die mir vorliegen.
({0})
Das ist meine Grundlage. Insofern ist das, was Sie sagen,
einfach nicht richtig.
({1})
- Ich werde ihn gern fragen. Aber das sind die Zahlen,
die 2012 vom statistischen Landesamt veröffentlicht
worden sind, und das sind die Zahlen, auf die ich meine
Rede aufgebaut habe, lieber Herr Krischer.
({2})
Meine Damen und Herren, ich würde gern weiterkommen. Nun zum Thema Ehrlichkeit. Wir müssen, um
bei der Energiewende voranzukommen, ehrlich miteinander umgehen. Wir müssen den Menschen sagen, dass
wir, wenn wir das EEG novellieren, auch schauen müssen, dass wir die nächsten Jahre effizienter vorgehen.
Wir dürfen nicht mehr glauben, dass überall dort erneuerbare Energien aufgebaut werden, wo die höchsten Subventionen gezahlt werden. Wir müssen die erneuerbaren
Energien auch dort oder vor allem dort aufbauen, wo die
besten Grundbedingungen sind. Windräder werden also
nicht überall in Deutschland aufgestellt werden, sondern
dort, wo sie am effizientesten arbeiten können. Das wird
in den nächsten Jahren sicherlich mehr im Norden als im
Süden der Fall sein. Auch da brauchen wir einen stärkeren Blick auf die Effizienz.
Wir brauchen einen verbindlichen Ausbaukorridor.
Wir haben für die erneuerbaren Energien weiterhin die
höchsten Ziele in der Welt. Wir wollen bis 2025 auf bis
zu 45 Prozent und bis 2035 auf über 60 Prozent zubauen.
Das heißt, wir haben mit dem Koalitionsvertrag eine Planung vorgelegt, die verlässlich ist; es besteht Planungssicherheit, nicht nur für die fossilen Kraftwerke und für
die erneuerbaren Energien, sondern vor allen Dingen
auch für den Netzausbau, der für die nächsten Jahre entscheidend ist.
Meine Damen, meine Herren, die Ausbaukorridore
für die erneuerbaren Energien sind ambitioniert. Wir
wollen das gemeinsam angehen. Die Debatte, die wir
heute angefangen haben, wird in den nächsten Jahren
weitergehen. Wir werden weiterhin auf der Grundlage
einer umweltfreundlichen, aber auch sicheren und vor
allem bezahlbaren Energie vorangehen. Ich freue mich
auf die anstehenden Debatten.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die deutschen Strompreise machen die Industrie kaputt
- das ist Realität -, allerdings nicht die Industrie in
Deutschland, sondern die in Holland. Die Wirklichkeit
für etliche deutsche Unternehmen schaut so aus, dass der
Industriestrompreis in Deutschland überaus niedrig ist.
Einer niederländischen Aluminiumhütte hat er gerade
die Geschäftsgrundlage geraubt. Jetzt frage ich Sie: Wollen Sie das? - Ihre Krokodilstränen führen da einfach zu
nichts.
Deutsche Aluhütten haben einen Wettbewerbsvorteil
gegenüber ausländischen - kein Wunder; denn sie profitieren von den gesunkenen Großhandelspreisen für
Strom. Das nennt man Merit-Order-Effekt. Das ist eine
Folge des EEG-Einspeisevorrangs für Ökostrom. Für
diejenigen, die nicht aus dem Fach kommen: Das heißt
einfach, dass die teuren Kraftwerke vom Netz genommen werden und dann an der Börse der Strompreis sinkt;
das wird natürlich nicht an die Verbraucher weitergegeben.
Jetzt kommen wir zu den Industriestrompreisen, über
die Sie gestritten haben. Die liegen heute nur noch bei
3,6 Cent je Kilowattstunde, in den Niederlanden dagegen bei 5 Cent je Kilowattstunde und im Atomstromland
Frankreich immer noch bei 4,3 Cent je Kilowattstunde.
Inzwischen liegen wir bei den Strompreisen im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern im unteren
Drittel. Die deutschen stromintensiven Unternehmen
sind weitgehend von der EEG-Umlage befreit. Darüber
streiten wir ja andauernd. Die EEG-Umlage finanziert
Windkraft und regenerative Energien. Die privaten Endkunden und die kleinen Unternehmen blechen für die
Ausfälle bei der Großindustrie.
({0})
Wir halten das weder für sozial akzeptabel noch für ökologisch.
({1})
Herr Bareiß, wenn Sie sagen: „Das fördert Wachstum
und Wohlstand“, dann müssen Sie auch sagen, welchen
Wachstum und welchen Wohlstand. Ich habe mich neulich mit einem Großbäcker aus meiner Region unterhalten. Er wählt Ihre Partei; ich glaube, er ist sogar Mitglied
Ihrer Partei.
({2})
Ich habe ihn gefragt, ob auch er diese EEG-Ermäßigung
bekommt. Er hat mich nur ausgelacht; ich verstehe zwar
nicht, warum er dann Ihre Partei wählt. Er hat mir gesagt, er hätte diese Ermäßigung sehr gerne.
Das EEG ist für die stromintensiven Unternehmen
eine Goldgrube. Der Merit-Order-Effekt an der Strombörse ist mit rund 0,6 bis 1 Cent je Kilowattstunde - das
wird eingespart - um ein Vielfaches höher als die zu zahlende Miniumlage von 0,05 Cent. Das heißt, die Unternehmen verdienen leistungslos Geld durch die Energiewende. Das kennen wir ja schon vom Emissionshandel,
Stichwort: Windfall Profits. Sie haben die Zertifikate damals kostenlos bekommen, haben sie eingepreist, und
die Stromkunden haben das bezahlt. So ist es jetzt auch
beim EEG. Ich sage Ihnen: So fahren Sie die Energiewende an die Wand.
({3})
Jetzt kommen wir zum Stichwort Arbeitsplätze. Uns
wurde in der letzten Legislaturperiode aufgrund unseres
Antrages vorgeworfen, wir wollten die Unternehmen kaputtmachen. Das wollen wir natürlich nicht. Auch wir
wollen gute, zukunftssichere Arbeitsplätze. Deshalb
muss man genau hinschauen. Man muss schauen, welche
Unternehmen im internationalen Wettbewerb sind. Wir
haben das in unserem Antrag genau geschildert. Nicht
alle Unternehmen konkurrieren mit Firmen, die an keinem Zertifikatehandel teilnehmen, die kein EEG in ihrem Land haben. Für mich ist das wie eine heilige Kuh:
Sobald man dieses Thema anspricht, springen Sie auf
und rufen: „Arbeitsplätze!“. Natürlich geht es um Arbeitsplätze, aber es geht auch um Fairness, und die sehe
ich hier in keinster Weise gegeben.
({4})
Wer bekommt nun diese Subventionen? Zum Beispiel
Braunkohletagebaue sind von der Zahlung befreit, und
das spricht Bände. Das sind schlicht unberechtigte Subventionen - das sage ich hier als Linke -, Subventionen
ausgerechnet für die schmutzigste Stromerzeugung.
({5})
- Das freut mich, wenn es ihn freut. - Kurz gesagt: Die
Mindestzahlung an EEG-Umlage dürfte niemals niedriger sein als der strompreissenkende Merit-Order-Effekt
an der Börse. Ansonsten verwandelt sich das EEG in
eine Gelddruckmaschine für die stromintensive Industrie.
Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode gewarnt. Die damalige Koalition hat gesagt: Wir überprüfen das. - Passiert ist nichts. Jetzt ist das Kind in den
Brunnen gefallen, und nun wird genau geprüft. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Wenn wir wollen,
dass das EEG weiterläuft, dass wir mehr regenerative
Energien haben, dann müssen wir natürlich etwas tun,
und dann muss das EU-konform geregelt werden. Ich
bin mir aber nicht sicher, dass Sie das wollen. Wenn ich
aus Bayern höre, dass man dort zum Beispiel überlegt,
die AKWs wieder länger laufen zu lassen und die Abstandsflächen für Windräder so groß zu machen, dass
nur noch 0,5 Windräder errichtet werden, dann zweifle
ich daran, dass Sie wirklich mehr regenerative Energien
wollen. Sie müssen das beweisen, und es muss auch für
die kleinen Leute bezahlbar sein. Das heißt natürlich,
dass die Kosten auch auf die Großindustrie umgelegt
werden müssen. Dafür stehen wir.
Ansonsten werden wir Ihrem Antrag zustimmen.
({6})
Der Kollege Hubertus Heil hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
dass auch in solch einer zugespitzten Debatte einmal der
Zeitpunkt kommt, an dem man ein bisschen differenzieren sollte. Es gibt Dinge im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen, die man diskutieren kann und muss; Herr Kollege Bareiß, das war auch in Ihrem Beitrag ein Thema:
Es gibt in dieser Koalition die grundsätzliche Bereitschaft, die Ausnahmetatbestände zu reformieren. Und
wenn ich es richtig lese, Herr Kollege Krischer, dann
wollen die Grünen sie auch reformieren. Über Art und
Umfang werden wir heftig miteinander streiten.
Frau Kollegin von der Linkspartei, es gibt einen Unterschied zu Ihnen: Ihre Argumentation - wenn Sie konsequent sind - lässt doch den Schluss zu: Sie wollen
nicht reformieren, sondern weghauen.
({0})
Das ist ein Unterschied. Ich kann Ihnen sagen: Für eine
linke Partei wäre es einmal an der Zeit, sich zum Beispiel mit Betriebsräten der IG Metall, beispielsweise in
Stahlwerken, zu unterhalten.
Ich kann ein Beispiel aus meiner Heimatstadt nennen.
Meine Heimatstadt Peine in Niedersachsen hat ein Elektrostahlwerk der Salzgitter AG. Das Unternehmen hat im
Moment ohnehin riesige Probleme auf den Absatzmärkten, weil es von der Krise in Europa erfasst ist. Es
schmilzt Schrott ein und macht daraus Baustahlträger.
Da gibt es im Moment auf der Nachfrageseite ein Riesenproblem, weil der Markt von billigen Produkten
überschwemmt wurde, nachdem die Immobilienblase in
Südeuropa geplatzt ist. Wenn wir dieses Unternehmen
erheblich in die EEG-Umlage einbeziehen würden, dann
ergäbe sich ein Standortproblem, eine Gefahr für Arbeitsplätze in diesem Bereich. Deshalb warnt uns nicht
nur der Vorsitzende der IG BCE, sondern auch der neue
Vorsitzende der IG Metall davor, mit diesem Thema
fahrlässig umzugehen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann verstehen,
dass die tatsächlich berechtigten Ausnahmen bei der
EEG-Umlage aufgrund der Ausweitung der Ausnahmetatbestände durch die Vorgängerregierung in der öffentlichen Debatte diskreditiert werden. Deshalb müssen wir
sie auch reformieren. Was ich nicht verstehen kann
- Herr Kollege Krischer, das will ich Ihnen aber auch sagen -, ist, dass Sie das Beihilfeverfahren der EU-Kommission begrüßen und ihm rechtlich sozusagen Oberwasser geben. Ich sage: Wir haben eine ganz andere
Rechtsposition.
In der Zeit der Koalitionsverhandlungen gab es - das
wissen Sie - einen gemeinsamen Besuch von Hannelore
Kraft und Peter Altmaier bei Herrn Almunia, um ihm
von den Koalitionsverhandlungen zu berichten. Ich behaupte, das hat mitgeholfen, das Beihilfeverfahren in
seiner ursprünglichen Form zu entschärfen. Da war nämlich mehr geplant: Es sollten nicht nur die Ausnahmen
unter Beschuss genommen werden, sondern das EEG
insgesamt. Hätten die Grünen das dann eigentlich auch
begrüßt?
Wir haben eine andere Rechtsauffassung. Wir befürchten, dass über das Instrument des Beihilferechts
von europäischer Seite an der einen oder anderen Stelle
in die nationale Kompetenz im Bereich der Energiepolitik eingegriffen wird.
({2})
Deshalb noch einmal: Die Bundesrepublik Deutschland
hat eine andere Rechtsauffassung als Herr Almunia.
Ich sage Ihnen auch: Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass diese Auseinandersetzung mit der
Kommission nicht eskaliert.
({3})
Deshalb sage ich: Die Reform der Ausnahmetatbestände
ist das eine. Aber wer sich im Interesse der energieintensiven Grundstoffindustrien, die wir in Deutschland haben wollen, für eine Reform der Ausnahmetatbestände
ausspricht, der darf bitte nicht über die Notwendigkeit
einer grundlegenden Reform des EEG schweigen, Herr
Hubertus Heil ({4})
Kollege Krischer. Ich finde, da wart ihr schon mal weiter. Ich zitiere mit Zustimmung der Präsidentin aus einem Beschluss der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der
2013, also vergangenes Jahr, auf der Neujahrsklausur gefasst wurde:
Deshalb wollen wir das EEG weiterentwickeln und
neue Marktstrukturen aufbauen, in denen die Erneuerbaren zunehmend ohne Förderung ihren Platz
finden.
({5})
Ich finde, das geht in eine vernünftige Richtung; darum
geht es bei einer grundlegenden EEG-Reform.
Um es der deutschen Öffentlichkeit klar zu sagen:
Wir stehen im ersten Halbjahr 2014 nicht unter politischem Druck; es besteht keine Notwendigkeit, in der
ersten Jahreshälfte eine grundlegende EEG-Reform zustande zu bringen. Aber es gibt einen Zusammenhang
zwischen dem beihilferechtlichen Verfahren der EUKommission, der notwendigen Reform der Richtlinien
auf europäischer Ebene und einer EEG-Novelle.
({6})
Deshalb stehen wir miteinander in der Verantwortung,
eine Reform nicht zu blockieren, sondern sie hinzubekommen.
Ich sage es noch einmal: Wir wollen Ausnahmen für
diejenigen erhalten, die sie brauchen, weil sie im internationalen Wettbewerb stehen. Denn als Industrienation
sind wir darauf angewiesen, die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick zu nehmen und die Grundstoffindustrien in diesem Land zu halten. Wer nicht begriffen
hat, dass das ansonsten für Arbeitsplätze und Standorte
ein Problem werden kann, der hat von Wirtschaftspolitik, mit Verlaub, keine Ahnung. Deshalb: Man kann es
reformieren, aber man darf es nicht weghauen.
({7})
- Ich habe ja versprochen, dass ich mich um Differenzierung bemühe.
Zweitens. Oli Krischer, ich finde den Text des Antrages im Gegensatz zum Beschluss von der Neujahrsklausur 2013 ein bisschen strukturkonservativ: Man tut so,
als sei mit dem EEG im Moment so ziemlich alles in
Ordnung.
({8})
Darüber weißt du auch mehr, um das einmal klar zu sagen. Wir haben Überförderungstatbestände, und wir haben keine Vorstellung davon, wie das EEG alter Natur in
ein neues Marktdesign überführt werden kann. Aber genau das will diese Große Koalition leisten. Das EEG ist
eine Erfolgsgeschichte - gar keine Frage; das ist ja schon
beschrieben worden -: Ein Anteil von 25 Prozent aus erneuerbaren Energien wäre ohne das EEG nicht denkbar
gewesen. Aber das EEG in seiner jetzigen Form droht an
dem eigenen Erfolg zu ersticken. Das liegt an der Überförderung und an Problemen, die mit der Versorgungssicherheit zu tun haben. Deshalb wird diese Große Koalition mit der Verunsicherung, die hinsichtlich Planung
und Investitionen in den letzten Jahren in der gesamten
Energiebranche geschaffen wurde, aufräumen müssen.
Wir wollen eine sichere, eine saubere, aber eben auch
eine bezahlbare Energieversorgung, und zwar nicht nur
für die Unternehmen in Deutschland, sondern auch für
die Bürgerinnen und Bürger.
Wir dürfen im Zusammenhang mit der Frage, welche
Erwartungen an die EEG-Reform geknüpft werden, allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ginge es um
eine Senkung der EEG-Umlage; denn die Kostenstrukturen der Vergangenheit - die Zusagen - werden wir weiter tragen. Das heißt, der vorhandene Bestand, der Sockel, ist ein Stück weit Teil der zukünftigen Struktur. Es
geht um die Frage, wie wir die Kostendynamik in der
Zukunft bremsen können und wie wir dafür sorgen können, dass die Energiewende in diesem Land auch energiewirtschaftlich effizient und kostengünstig vollzogen
wird.
({9})
- Das sowieso.
({10})
Ich sage es an dieser Stelle noch einmal: Wir kommen
nicht weiter, wenn wir uns hinter ideologisierten Positionen einmauern.
({11})
Meine herzliche Bitte auch an Bündnis 90/Die Grünen,
die ja in einigen Bundesländern mit uns gemeinsam und
in Hessen mit anderen Regierungsverantwortung und damit auch Verantwortung für das Gelingen der Energiewende tragen, ist, dass wir uns jetzt nicht in Schützengräben verziehen. Ich bitte euch, nicht reflexartig, weil
ihr in der Opposition sitzt, auf ein Mitwirken an diesem
Prozess zu verzichten. Ich habe den letzten Satz deiner
Rede, Oliver Krischer, sehr wohl gehört, dass die Grünen an dieser ganzen Geschichte mitwirken wollen.
({12})
- Ich hoffe, es ist ein ernst gemeintes Angebot. Das sage
ich an dieser Stelle auch. Wir haben miteinander ein Interesse daran, dass wir die Energiewende zum Erfolg
führen.
Weder die Energiewende darf diskreditiert werden
noch die Tatsache, dass dieses Land ein Industrieland ist.
Ich will mit einem Satz sagen, warum das kein Gegensatz ist: Windräder brauchen Stahl. Die gesamte Wertschöpfung ist in den Blick zu nehmen. Deshalb habe ich
die herzliche Bitte, dass wir in diesem Haus nicht alles
Hubertus Heil ({13})
aus Brüssel, weil es gerade in den Kram passt, entweder
total gut oder total schlecht finden. Einige Passagen in
der Rede von Oliver Krischer fand ich ein bisschen widersprüchlich: Auf der einen Seite wird begrüßt, dass
Verfahren gegen Deutschland eingeleitet werden, auf der
anderen Seite findet man vieles, was aus Brüssel zur
Energiewende in Deutschland gesagt wird, nicht ganz
unproblematisch. Das passt nicht so ganz zusammen.
({14})
Ich sage es noch einmal: Mit Blick auf mögliche
Rechtsfolgen - wir sind anderer Auffassung als die EUKommission - müssen wir versuchen, dieses beihilferechtliche Verfahren abzuwenden. Wir müssen zusehen,
dass das nicht eskaliert. Ich will sagen, was das für dieses Jahr bedeutet - diesen Zeitdruck habe ich vorhin
angesprochen -: Wir wissen, dass die - berechtigten Ausnahmegenehmigungen für die energieintensiven Betriebe vor dem 18. Dezember letzten Jahres von dem zuständigen Bundesamt, dem BAFA, erteilt wurden. Damit
wird es 2014 keine Wettbewerbsschwierigkeiten für die
energieintensiven Betriebe geben. Aber es gibt natürlich
eine Verunsicherung, nicht nur, was die ungeklärte Frage
der Rückstellungen für einen möglichen negativen Ausgang des Verfahrens angeht. Diesbezüglich scheint sich
die Lage ein bisschen zu entspannen. Die eigentliche
Frage lautet aber: Wie geht es ab dem 1. Januar 2015
weiter? Wenn wir miteinander der Meinung sind, dass
wir da etwas tun müssen, dann müssen wir bis zur Mitte
dieses Jahres Rechts- und Planungssicherheit schaffen,
damit zum 1. Januar 2015 nicht eine Situation eintritt,
die für uns als Industrienation und die Arbeitsplätze in
der Grundstoffindustrie bedrohlich ist. Deshalb ist Eile
geboten. Ich könnte es auch politischer sagen: In den
letzten vier Jahren gab es so viel Hin und Her, dass wir
jetzt zügig aufräumen müssen, damit es nicht problematisch wird, und alle sind aufgerufen, mitzuhelfen.
({15})
Jetzt haben wir Januar. Der Bundeswirtschafts- und
Energieminister wird in den nächsten Wochen Vorschläge unterbreiten. Dann müssen wir in diesem Haus
zügig in den Gesetzgebungsprozess eintreten. Wir müssen darauf achten, dass Bund und Länder sich an dieser
Stelle nicht verhaken. Ich will aber sagen, dass ich ganz
zuversichtlich bin, dass wir es trotz der regional unterschiedlichen Interessen in Sachen Energiepolitik - machen wir uns nichts vor: die Bundesländer haben sehr
unterschiedliche Interessen, was die Wertschöpfung angeht - schaffen, im ersten Halbjahr eine EEG-Reform
auf die Beine zu stellen, die beides leistet: Wir müssen
uns anschauen, welche Ausnahmetatbestände sinnvoll
sind und welche möglicherweise nicht sinnvoll sind. Ich
sage aber auch, dass es in Brüssel Vorstellungen hinsichtlich Mindestumlagen gibt, die wir nicht mittragen
können, weil das bedrohlich wäre, auch was die Kostenstruktur betrifft. Auf der anderen Seite müssen wir das
EEG zukunftsfähig machen. Eine grundlegende Reform
ist notwendig. Wir brauchen so etwas wie ein EEG 2.0 in
diesem Land und eine Überführung in ein Marktdesign,
das langfristig dafür sorgt, dass die Erneuerbaren tatsächlich marktfähig werden. Das ist ein Text der Grünen
aus 2013; diesen habe ich zitiert.
Wenn wir es schaffen könnten, unterhalb dieser Überschriften pragmatische Lösungen im Gesetzgebungsverfahren zu finden, fände ich das den Schweiß der Edlen
wert. Deshalb ist meine Bitte, sich nicht schon am Anfang des Jahres in die Schützengräben einzumauern,
sondern zu schauen, ob und wie wir zusammenkommen
können. Denn ich sage ganz deutlich: Wir alle tragen
Verantwortung für das Gelingen der Energiewende.
Nicht nur Regierungsfraktionen, sondern auch die Opposition trägt Verantwortung für die Zukunft dieses Landes. Meine herzliche Einladung an zumindest diesen Teil
der Opposition, an die Grünen - nicht an die Linken, da
habe ich die Hoffnung aufgegeben -, ist, daran mitzuwirken.
({16})
- Ich will es einmal ganz deutlich sagen, Frau BullingSchröter: Unterhalten Sie sich doch beispielsweise einmal mit Ihrem Kollegen, dem Wirtschaftsminister von
der Linkspartei in Brandenburg. Er hat eine grundlegend
andere Vorstellung von Energie- und Wirtschaftspolitik,
weil er mehr mit der Praxis von Industrie in Brandenburg befasst ist als Sie offensichtlich hier im Deutschen
Bundestag.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die
Unionsfraktion.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Herr Krischer, Sie haben am Anfang und auch zum
Schluss Ihrer Rede den Konsens beschworen. Das fand
ich sehr gut. In der Tat, wir haben einen breiten Konsens
in diesem Haus, nämlich dass wir die Umstellung der
Energieversorgung in Deutschland vorantreiben wollen.
Dazu brauchen wir - auch das haben Sie gesagt - die
Akzeptanz der Menschen. Wir dürfen aber mit dem Umbau der Energieversorgung in Deutschland - auch das
haben Sie gesagt - den Wirtschaftsstandort Deutschland
nicht gefährden.
({0})
Wir sind ebenfalls einer Meinung, dass Strom kein
Luxusgut werden darf, weder für die Familien noch für
die Rentnerinnen und Rentner noch für die Studenten,
aber schon gar nicht für die Unternehmen. Der Anteil
der Industrie an der Wertschöpfung in Deutschland beträgt nun einmal 23 Prozent. Das ist immerhin doppelt so
viel wie zum Beispiel in Frankreich, in Großbritannien
oder den Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich finde es gut, dass Sie in Ihrem Antrag eindeutig
geschrieben haben, dass Sie die besonderen Ausgleichsregelungen im Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht angreifen wollen. Sie wollen es auch dabei belassen. Sie
haben sogar geschrieben - ich zitiere -, dass es eine
„sinnvolle ordnungspolitische Maßnahme“ ist. Das begrüßen wir außerordentlich. Das sind ja auch Maßnahmen, die Sie auf den Weg gebracht haben.
({1})
- Das haben Sie in Ihrem Antrag geschrieben. - Dennoch häufen sich, Frau Lemke, wie schon in der
17. Wahlperiode die Widersprüche in Ihren Anträgen.
Der Antrag ist ja auch bloß ein bisschen „refreshed“; sie
haben ihn schon mehrmals vorgelegt. Wir haben bereits
mehrmals darüber gesprochen. Sie haben den Antrag
jetzt ein bisschen aufpoliert. Das ist völlig in Ordnung.
({2})
Sie schreiben, dass die hohen Kosten für die EEGUmlage und der fortlaufende Anstieg der Kosten den
besonderen Ausgleichsregelungen für energieintensive
Unternehmen angelastet werden muss. Das ist eine Behauptung. Sie behaupten auch - das können wir so nicht
stehen lassen -: Mit der EEG-Novelle 2012 wurde die
Regelung massiv ausgeweitet.
({3})
Machen wir doch einmal einen Faktencheck. Sie beschreiben es als überbordend und ausufernd; das haben
Sie auch in Ihrer Rede so zitiert. Die Kriterien, Herr
Krischer, sind genau die gleichen geblieben wie bei Ihnen:
({4})
die Strommenge - dazu komme ich gleich noch genauer -;
es muss produzierendes Gewerbe sein, und es muss ein
Unternehmen sein, das im internationalen Wettbewerb
steht. Wir haben in der Novelle 2012 lediglich eine Mittelstandskomponente hinzugefügt. Wir haben gesagt:
Die Strommenge sinkt von 10 Gigawattstunden auf 1 Gigawattstunde.
({5})
- Ich komme dazu. - In der Tat sind es mehr Unternehmen geworden. Das ist doch Sinn und Zweck der Übung
gewesen. Aber, wie Herr Kollege Bareiß schon gesagt
hat, die Strommenge ist in vier Jahren, vom Jahre 2010
bis zum Jahre 2013, um 10 Prozent gestiegen: von genau
86,6 Gigawattstunden auf 95,3 Gigawattstunden. Das
heißt, die Novelle 2012 hatte eine Erhöhung der EEGUmlage von 0,2 Cent zur Folge. Das sind für einen
Durchschnittshaushalt im Monat 60 Cent. Dafür bekommen wir aber einen international wettbewerbsfähigen
Mittelstand und sichern die Arbeitsplätze in Familienunternehmen. Das sollte es uns wert sein.
({6})
Jetzt kommen wir zu Ihrer zweiten Behauptung. Sie
sagen, die Novelle von 2012 hätte völlig neue Branchen,
insbesondere die böse Braunkohleindustrie, in diese
Liste gespült.
({7})
- Das haben Sie so geschrieben; ich kann das zitieren. Machen wir einmal den Faktencheck: Vor 2012, vor der
Novelle, standen sechs Unternehmen der Braunkohleindustrie auf dieser Liste. Jetzt dürfen Sie raten, wie viele
es heute sind! Sechs. Sie beklagen, dass diverse Unternehmen der Fleischindustrie plötzlich dort auftauchen.
Vor 2012 waren genau die gleichen Unternehmen auch
drin.
({8})
Sie beklagen außerdem, dass vor 2012 49 Schienenbahnen dort auftauchten. Heute sind es 53; das sind 4
mehr.
({9})
Wieso können Sie sagen, dass neue und überbordend
viele Unternehmen in diese Liste gespült worden sind?
Das ist nicht der Fall.
({10})
Kommen wir zu Ihrer dritten Behauptung; wir sind
bereits darauf eingegangen. Sie sagen: Alle Betriebe
zahlen lediglich 0,05 Cent pro Kilowattstunde, und die
besonderen Ausgleichsregelungen sind schuld an der
Höhe der Umlage von 6,24 Cent.
({11})
Machen wir auch hier den Faktencheck: Es gibt eine eindeutige Staffelung. Bis zu 1 Gigawattstunde wird von allen Betrieben die volle Höhe bezahlt. Bis 10 Gigawattstunden sind es 10 Prozent, und bis 100 1 Prozent. Erst
ab 100 Gigawattstunden kommen die 0,05 Cent zum
Tragen. Das heißt: Die Summe der besonderen Ausgleichsregelungen macht zurzeit 1,35 Cent aus. Das sind
4 Euro pro Monat pro Durchschnittshaushalt.
Herr Krischer, lassen Sie uns das einmal durchrechnen. Sie sagen, das ist eine Milchmädchenrechnung,
aber die Zahlen sagen etwas anderes. Würden wir die
Rücknahme dieser besonderen Ausgleichsregelungen
veranlassen und somit eine Deindustrialisierung in
Deutschland riskieren, würden wir - Stand heute - auf
eine EEG-Umlage von 5 Cent kommen, und die HausJens Koeppen
halte würden 4 Euro einsparen. Wollen wir das riskieren? Ich denke, nein.
({12})
Herr Krischer, ich habe noch eine Empfehlung an Sie.
Machen wir einmal Folgendes - dann kommen wir nämlich vom Theoretischen ins Praktische -: Wir setzen uns
hin, nehmen die Liste und gucken uns alle Betriebe in allen Bundesländern an, die beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle verzeichnet sind. Das machen wir mit den Unternehmen in Ihrem Wahlkreis, in
meinem Wahlkreis, in allen Wahlkreisen - ohne Ausnahme. Wir gucken uns alle an.
({13})
Dann sagen wir, welches Unternehmen die drei Kriterien, die Sie und wir eingeführt haben, nicht erfüllt.
Dann machen wir den Faktencheck und sagen: Diese
Unternehmen sollen nicht mehr von der Ausgleichsregelung profitieren.
({14})
In meinem Wahlkreis gibt es zwei Papierfabriken, sie
stehen nebeneinander. Die eine hätte von einem Jahr
aufs andere 15 Millionen Euro zusätzliche Kosten;
({15})
das betrifft übrigens ungefähr 1 000 bis 1 200 Arbeitsplätze. Das heißt: Wenn diese Firmen die EEG-Umlage
- so ist ja Ihr Wunsch - jetzt komplett bezahlen sollen,
dann würde das eine hundertfache Erhöhung bedeuten.
Denn alle mittelständischen Papierfabriken zahlen zurzeit 125 000 Euro EEG-Umlage. Wenn diese Regelung
wegfallen würde, dann wären das mit einem Schlag
12,5 Millionen Euro. Wissen Sie, was die Vertreter von
UPM-Kymmene aus Finnland dann zu mir sagen? Sie
sagen schlicht und ergreifend: Das kann niemand wollen. - Die schließen dann ab und schmeißen den Schlüssel weg, ohne sich umzudrehen. Das wird nämlich passieren, und das werden wir nicht riskieren.
Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Krischer?
Selbstverständlich.
Herzlichen Dank. - Herr Kollege Koeppen, was Sie
hier jetzt aufmachen, hat mit unserem Antrag alles gar
nichts zu tun. Wir schlagen schließlich vor, dass man
sich an der Strompreiskompensationsrichtlinie orientieren soll. Darin werden Betriebe wie zum Beispiel die Papierindustrie erwähnt, die dann nach wie vor in den Genuss der besonderen Ausgleichsregelungen kommen. Ich
frage Sie: Warum haben Sie eben bei Ihrer Berechnung
der Kosten der besonderen Ausgleichszahlungen die Zahl
von 1,35 Cent genannt, die angeblich die Gesamtsumme
der besonderen Ausgleichsregelungen ausmacht? Ich würde
eine andere Zahl nennen - aber geschenkt.
Wie erklären Sie, dass der Börsenpreis für Strom
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz, durch den Merit-Order-Effekt, durch den Ausbau der erneuerbaren
Energien von 8 Cent im Jahr 2008 auf inzwischen unter
4 Cent gesunken ist? Davon profitieren diese Unternehmen. Wir haben ja die Situation, dass beispielsweise in
den Niederlanden eine Aluhütte Insolvenz anmelden
muss, weil in Deutschland die Industriestrompreise gesunken sind. Wie erklären Sie diese Zusammenhänge?
Herr Krischer, Sie wissen doch ganz genau, dass das
Problem mit dem Differenzstrom und der Merit-OrderEffekt die Urkrankheiten des EEG sind. Genau deswegen müssen wir es doch anfassen!
Herr Krischer, wenn Sie den Börsenstrompreis als
den Industriepreis für Deutschland nehmen und sagen:
„Deutschland geht es am besten“ und dabei die übrigen
Faktoren, die auch mit in den Strompreis eingehen, ignorieren, dann sind Sie auf dem Holzweg. Es ist eben nicht
nur der Börsenstrompreis, der bezahlt werden muss. Es
ist in Deutschland eben auch die EEG-Umlage, die bezahlt werden muss. Der Grund, aus dem wir die Unternehmen davon befreien wollen, ist nicht, dass wir wollen, dass die Haushalte 4 Euro mehr bezahlen, um die
„fette Industrie“ zu unterstützen, sondern, dass wir die
Arbeitsplätze im Land halten wollen. Denn die Unternehmen würden sonst nichts anderes tun, als abzuschließen und aus dem Land zu gehen. Sie würden sich nicht
einmal umdrehen, um zu gucken, wo der Schlüssel ist,
sondern sie würden einfach gehen. Dazu gibt es eindeutige Aussagen. Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen
- auch wenn Sie alle jetzt so entrüstet den Kopf schütteln: Sie müssen sich wirklich einmal mit den Industriebetrieben und mit den mittelständischen Betrieben unterhalten -;
({0})
deswegen haben wir die Mittelstandskomponente eingeführt.
({1})
Ich will abschließend sagen, Herr Krischer: Wenn Sie
in Ihrem Antrag schreiben, Sie wollen das EEG verstetigen, Sie wollen das EEG konservieren und Sie wollen es
auch zementieren - es soll also nicht angefasst werden -:
Das führt in die Sackgasse.
({2})
- Sie haben geschrieben, dass das letztendlich so verstetigt werden soll.
({3})
Wir brauchen - darauf haben wir uns in der Koalition
verständigt - eine grundlegende - ich lege Wert darauf:
eine grundlegende - Reform des EEG. In diese Reform
muss Eingang finden, dass wir die technologischen
Innovationen nach vorne bringen. Wir müssen die Energieeffizienzmaßnahmen weiterhin im Blick haben.
({4})
Wir müssen hin zur Vergütung der Energieversorgung
und weg von der Vergütung der reinen Installation und
Erzeugung. Wir müssen endlich wieder nutzbare Energie
fördern. Der Ausbau muss bedarfsgerecht mit der vorhandenen, aber vielleicht auch mit der neuen Netzinfrastruktur synchronisiert werden.
Meine Damen und Herren, ein Ausbau auf der grünen
Wiese ohne Abnehmer muss der Vergangenheit angehören. Wir brauchen die Akzeptanz der Menschen. Wir
brauchen innovative Ideen statt Besitzstandswahrung.
Wenn Sie den Konsens, den Sie vorhin beschworen haben, wollen, dann sind Sie herzlich eingeladen, mitzumachen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/291 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf Mittwoch, den 29. Januar 2014, 11 Uhr, ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits am Montag,
dem 27. Januar 2014, findet um 14 Uhr hier im Plenarsaal die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus statt.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute.