Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich der
Kollegin Brigitte Pothmer nachträglich zu ihrem
60. Geburtstag gratulieren und auch auf diesem Wege
alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr übermitteln.
({0})
Wir müssen eine Reihe von Wahlen durchführen.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, den Kollegen
Fritz Güntzler für die Kollegin Antje Tillmann als
Mitglied des Gremiums gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes sowie gemäß § 16 des
Restrukturierungsfondsgesetzes, also des Finanzmarktgremiums, zu wählen. Stimmen Sie dem zu? - Das ist
der Fall. Dann ist der Kollege Güntzler als Mitglied dieses Gremiums gewählt.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt weiterhin vor, für
den verstorbenen Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff
den Kollegen Matern von Marschall als ordentliches
Mitglied des Verwaltungsrates des Deutsch-Französischen Jugendwerkes zu wählen. Sind Sie auch damit
einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Damit ist
der Kollege von Marschall als ordentliches Mitglied des
Verwaltungsrates des Jugendwerkes gewählt.
Schließlich sollen auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion der Kollege Jens Spahn und auf Vorschlag der
SPD-Fraktion die Kollegin Bärbel Bas als Mitglieder
des Stiftungsrates der Stiftung Humanitäre Hilfe für
durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen gewählt
werden. Darf ich auch hierzu Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist der Fall. Damit sind die Kollegen Spahn
und Bas als Mitglieder des Stiftungsrates gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zu einem bundeseinheitlichen Verbot des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen
({1})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({2})
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 11. April 2014 über die
Beteiligung der Republik Kroatien am Europäischen Wirtschaftsraum
Drucksache 18/4052
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws,
Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der
kostenlosen Abgabe an junge Frauen ({4})
Drucksache 18/3834
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({5})
Drucksache 18/4116
ZP 4 Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Finanzhilfen zugunsten Griechenlands;
Verlängerung der Stabilitätshilfe
Präsident Dr. Norbert Lammert
Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1
i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes auf Verlängerung
der bestehenden Finanzhilfefazilität zugunsten der Hellenischen Republik
Drucksachen 18/4079, 18/4093
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Thomas Nord, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
CETA-Verhandlungsergebnis ablehnen
Drucksache 18/4090
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Interessengeleitetes Gutachten zu Investorenschutz zurückweisen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katharina
Dröge, Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsultationsergebnisse beherzigen - Klageprivilegien zurückweisen
Drucksachen 18/3729, 18/3747, 18/3862
ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Tom
Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck
({7}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen
Instituts für Menschenrechte ({8})
Drucksache 18/4089
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 18 - Antrag zum Thema
„Griechenland nach der Wahl“ - wird abgesetzt. Damit
kein Missverständnis entsteht: Es wird nicht das Thema
abgesetzt, sondern der sich ursprünglich auf die Wahlen
beziehende Antrag wird abgesetzt zugunsten der für
morgen vereinbarten Befassung mit dem Thema
„Finanzhilfen zugunsten Griechenlands; Verlängerung
der Stabilitätshilfe“. Darüber hinaus kommt es zu den in
der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen
des Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 5. Februar 2015 ({10}) überwiesene
nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für
Kultur und Medien ({11}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({12}), Claudia Roth ({13}),
Marieluise Beck ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht
und Gewährung eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe
Drucksachen 18/2694
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Der am 5. Februar 2015 ({16}) überwiesene
nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
({17}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn ({18}), Lisa Paus, Matthias Gastel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elektromobilität entschlossen fördern Chance für eine zukunftsfähige Mobilität nutzen
Drucksachen 18/3912
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({19})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ich frage Sie, ob Sie dem zustimmen. - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir nun in die korrigierte Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied Heinrich
Windelen. Er ist am 16. Februar im Alter von 93 Jahren
gestorben. Heinrich Windelen hat über Jahrzehnte die
Landes- wie die Bundespolitik mitgestaltet - als Parlamentarier aus Leidenschaft, als Mitglied des Bundestages wie der Bundesregierung. Diesem Haus gehörte er
über drei Jahrzehnte an. Bei seinem Abschied 1990 war
er längst eine parlamentarische Instanz.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Heinrich Windelen gehört zu der im wörtlichen Sinne
„aussterbenden“ Generation, deren Biografie mit der
Geschichte unseres Landes im vergangenen Jahrhundert
eng verbunden ist. 1921 geboren, in den schwierigen
Anfangsjahren der Weimarer Republik aufgewachsen,
war sein Lebensweg nachhaltig vom Zweiten Weltkrieg
und seinen Folgen gekennzeichnet. Er erlebte den Krieg
an der Front, er wurde aus der niederschlesischen Heimat vertrieben, er war gezwungen, eine völlig andere berufliche Richtung einzuschlagen, als er zuvor geplant
und auch begonnen hatte.
Die Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Vertreibung
prägten Windelens politische Überzeugungen und
Werte. Bereits 1946 trat er in die CDU ein, er engagierte
sich kommunalpolitisch und zog 1957 erstmals in den
Deutschen Bundestag ein. Bei acht aufeinanderfolgenden Bundestagswahlen wurde er in seinem Wahlkreis
Warendorf als Abgeordneter direkt gewählt.
In der CDU/CSU-Fraktion und in der westfälischen
Landesgruppe machte er früh auf sich aufmerksam und
wurde ihr Vorsitzender. Viele Jahre war er stellvertretender Fraktionsvorsitzender. 1969 war er in der ersten Großen Koalition kurzzeitig Bundesminister für Vertriebene,
Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. In den 1970er-Jahren machte er sich parlamentarisch vor allem als einflussreicher Vorsitzender des Haushaltsausschusses einen Namen. 1981 wurde er schließlich als Nachfolger
Richard von Weizsäckers, der als Regierender Bürgermeister nach Berlin gewechselt war, zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages gewählt. In diesem hohen parlamentarischen Amt, das er souverän und
überparteilich ausübte, blieb er bis 1983, dann wechselte
er erneut in die Bundesregierung und übernahm das
Ministerium für innerdeutsche Beziehungen.
Die Interessen der Vertriebenen lagen ihm, der seine
Heimat selbst verloren hatte, besonders am Herzen. Es
spricht für seine Gradlinigkeit, dass er sich zur Gültigkeit der Ostverträge bekannte, die er persönlich
bekämpft und abgelehnt hatte: weil sie von einem demokratisch gewählten Parlament beschlossen worden waren. In seiner Amtszeit als Minister setzte er sich pragmatisch dafür ein, die Folgen der Teilung für die
Menschen zu mildern. Das Wiedervereinigungsgebot
des Grundgesetzes war ihm dabei immer die maßgebliche Orientierung. Seine deutschlandpolitischen Überzeugungen vertrat er auch dann unbeirrt, als sie quer
zum Zeitgeist lagen. Doch zu seiner Persönlichkeit gehörte auch, dass er sich nach dem Abschied vom Parlament als Vorsitzender der „Stiftung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit“ intensiv für die Aussöhnung
mit unserem östlichen Nachbarn engagierte.
Wir sind Heinrich Windelen dankbar für alles, was er
für den Aufbau einer stabilen parlamentarischen Demokratie in unserem Land über viele Jahre hinweg geleistet
hat. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Seinen Kindern und allen Angehörigen spreche ich
im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus.
Ich danke Ihnen.
({21})
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Infrastrukturabgabe für die
Benutzung von Bundesfernstraßen
Drucksache 18/3990
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({22})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Verkehrsteueränderungsgesetzes ({23})
Drucksache 18/3991
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({24})
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch, also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Bundesminister Alexander Dobrindt das Wort.
({25})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir leiten heute ein neues Kapitel der Infrastrukturfinanzierung ein
({0})
und vollziehen einen echten Systemwechsel von einer
vorwiegend steuerfinanzierten Infrastruktur zu einer nutzerfinanzierten Infrastruktur, das heißt von nicht zweckgebundenen Steuermitteln hin zur zweckgebundenen
Nutzerfinanzierung. Kurz gesagt: Es geht um einen weiteren Schritt bei der Richtungsentscheidung,
({1})
hin zur aktiven Mobilitätsfreiheit weg vom grünen Verkehrspessimismus, meine Damen und Herren.
({2})
Ja, die Bundesregierung setzt das um, was Ihnen nicht
gelungen ist: einen großen Anteil der mobilitätsbezogenen Einnahmen wieder direkt in die Infrastruktur zu in8260
vestieren und so unsere Wachstums- und Wohlstandschancen durch Mobilität zu sichern.
({3})
Wir bewegen mit der Infrastrukturabgabe 3,7 Milliarden Euro vom Haushalt des Bundesfinanzministeriums
in den Haushalt des Bundesverkehrsministeriums, und
zwar jedes Jahr, dauerhaft und zweckgebunden für die
Infrastruktur. Das ist genau das, was auch die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch 2011 von den Mitgliedstaaten gefordert hat: die umfassende Anwendung
des Prinzips der Kostentragung durch die Nutzer und
Verursacher.
Wir setzen das um,
({4})
und deswegen ist die Infrastrukturabgabe auch ein europäisches Projekt. Es erfüllt die drei Grundsätze Subsidiarität, Solidarität und Gerechtigkeit.
({5})
Es erfüllt den Grundsatz der Subsidiarität, weil wir
die Verantwortung für den Erhalt und Ausbau der Infrastruktur in Deutschland übernehmen, die ganz Europa
miteinander verbindet.
({6})
Einen Augenblick, Herr Minister. Nach der mir vorliegenden Rednerliste ist sichergestellt, dass noch eine
ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu dem
Thema zu Wort kommen. Es wäre schön, wenn das der
Reihe nach erfolgen könnte.
({0})
Herr Präsident, es erfüllt auch so den Zweck einer aktiven Debatte.
({0})
Von daher kann ich die Grünen nur weiter aufrufen, sich
daran zu beteiligen, wenn es darum geht, sich für die Infrastruktur in Deutschland einzusetzen.
Solidarität war der zweite Begriff, den ich als Begründung genannt habe, warum es sich um ein europäisches
Projekt handelt.
({1})
Weil wir uns heute schon ganz selbstverständlich an der
Infrastrukturfinanzierung der meisten unserer Nachbarländer beteiligen,
({2})
wird diese Selbstverständlichkeit jetzt auch auf deutschen Straßen Realität. Das ist Solidarität und Gerechtigkeit, weil es zukünftig zwischen Nutzern, die sich an
der Finanzierung unserer Infrastruktur beteiligen, und
Nutzern, die diese Straßen kostenlos benutzen, keinen
Unterschied mehr geben wird. Das ist das europäische
Projekt.
({3})
Deswegen schlage ich vor: Akzeptieren Sie einfach,
dass es sich dabei um einen ordnungspolitischen Grundgedanken handelt. Zweckbindung ist ein ordnungspolitisches Projekt. Wir stellen einen klaren Bezug zwischen
Einnahmen und Ausgaben her. Das tun wir bei der LkwMaut und bei der Infrastrukturabgabe, und das setzen
wir bei öffentlich-privaten Partnerschaften um. Das machen wir übrigens auch bei der Digitalisierung der Mobilität über die Digitale Dividende II. Dieser Systemwechsel ist ein echter Meilenstein in der Finanzierung der
Infrastruktur. Das Verursacherprinzip „Wer mitnutzt, der
zahlt mit“ wird umgesetzt. Damit schaffen wir eine breitere Basis für die zukünftige Finanzierungsgrundlage unserer Infrastruktur.
({4})
In den meisten europäischen Ländern gibt es drei
Säulen der Finanzierung der Infrastruktur: Kfz-Steuersysteme, Mineralölsteuersysteme und Mautsysteme. In
Deutschland haben wir bisher nur zwei Säulen: die KfzSteuer und die Mineralölsteuer. Wir bauen jetzt die dritte
Säule, wie sie in unseren Nachbarländern bereits existiert. Dass es dabei zu keinen Mehrbelastungen derer
kommen darf, die bisher die beiden ersten Säulen bedienen, ist, glaube ich, geradezu selbstverständlich.
({5})
Deswegen wird es beim Aufbau der dritten Säule, der Infrastrukturabgabe, zu einer Absenkung der mittleren
Säule, der Kfz-Steuer, kommen. Damit gibt es keine
Mehrbelastung von Haltern von in Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeugen.
({6})
Wir bewegen mit der Infrastrukturabgabe jedes Jahr
3,7 Milliarden Euro vom Finanzministerium in das Verkehrsministerium. Wir erreichen dabei jedes Jahr Mehreinnahmen von 500 Millionen Euro.
({7})
Diese halbe Milliarde ist nachweisbar solide, präzise und
transparent errechnet. Das können Sie sowohl in unseren
Berechnungen als auch in den entsprechenden Gutachten
nachlesen. Sie können da sogar nachlesen, dass wir in
Zukunft mit eher höheren Einnahmen zu rechnen haben,
weil das Ministerium hier konservativ vorgegangen ist
und geradezu vorsichtig kalkuliert hat.
Ich habe in den letzten Wochen eine Reihe von Debatten über dieses Thema geführt, auch im Bundesrat.
({8})
Ich erinnere mich noch sehr genau, was Ihr Vorzeigeverkehrsideologe Winne Hermann gesagt hat: Wir sehen
ein, dass man nicht nur mehr Haushaltsmittel fordern
kann, sondern dass man sich langfristig, perspektivisch
um eine neue Finanzierung kümmern muss.
({9})
Genau das tun wir auch. Aber da wäre es angebracht,
dass Sie von den Grünen, wenn Sie schon nach neuen
Finanzierungsformen schreien, sich damit auseinandersetzen, was wir vorgeschlagen haben. Sie lehnen aber alles nur plump ab.
({10})
Sie wollen keine Infrastrukturabgabe. Sie wollen
keine Einbindung von privatem Kapital über öffentlichprivate Partnerschaften. Sie lehnen auch den Neubau
von Straßen ab, wie man in Ihren Veröffentlichungen immer wieder nachlesen kann. Das Einzige, was Sie wirklich wollen, ist, unseren Autofahrern immer tiefer in die
Tasche zu greifen.
({11})
Das machen Sie mit Ihrem Vorschlag zur Mineralölsteuer. Die Zitate sind doch eindeutig. So sagt Winne
Hermann: Man könnte in einem ersten Schritt die Mineralölsteuer erhöhen. - Lieber Herr Anton Hofreiter, Sie
haben gesagt: Das Benzin ist immer noch zu billig. - Der
Geschäftsführer der Grünen, Kellner, sagt: ein Extragroschen auf den Ölpreis! - Wenn es um das Abzocken der
heimischen Autofahrer geht, dann werden Sie auf einmal
kreativ. Ansonsten verweigern Sie die Mitarbeit.
({12})
Dabei darf man nicht vergessen, dass Sie wiederholt
vorgeschlagen haben, die Totalmaut einzuführen. Sie befürworten ein System, das jeden Kilometer auf der
Straße einzeln berechnet, einzeln bepreist und einzeln
abkassiert. Sie wollen über GPS-Systeme den gläsernen
Autofahrer schaffen. Sie wollen Familien und Pendler
mit dieser Totalmaut extra belasten. Mit der ideologischen Fundamentalopposition, die Sie pflegen, gefährden Sie die individuelle Mobilität in Deutschland. Das
Einzige, was Sie vorschlagen, ist ein straßenfeindliches
Entmobilisierungsprogramm, das wachstums- und wohlstandsfeindlich ist. Das ist mit uns nicht zu machen.
({13})
Ich verstehe Ihre ganze Aufregung nicht, wenn man
Ihnen das vorhält, was Sie selber ständig veröffentlichen.
({14})
Sie haben sich in den vergangenen 40 Jahren in Wahrheit
nicht sehr viel weiterbewegt. In Ihren früheren Bundestagswahlprogrammen ist zu lesen: Wir wenden uns gegen einen weiteren Ausbau von Autobahnen und Fernstraßen. Oder: Der beste Verkehr ist der, der gar nicht
entsteht.
({15})
Oder: Die Grünen wollen den Abschied vom Auto als
Massenverkehrsmittel und wollen die Straßenbenutzung
einschränken. - Davon sind Sie heute in Wahrheit nicht
sehr weit entfernt. Das alles passt weiterhin zu Ihrer
Ideologie.
({16})
Sie sagen heute noch: Die Fixierung auf den Infrastrukturausbau ist der Weg zurück in eine alte Verkehrspolitik. Sie sagen: Das Auto ist der Irrsinn der Jahrhunderts.
Sie sagen auch: Weniger Autos sind besser als mehr Autos. - Das ist der grüne Irrtum in seiner Kontinuität. So
denken Sie heute noch.
({17})
Sie sind gegen Mobilitätswachstum. Sie wollen damit
das Wirtschaftswachstum einschränken. Ich sage Ihnen:
Den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Mobilitätswachstum werden Sie
nie einsehen. Er ist aber gegeben. Ohne wachsende Mobilität werden wir keine wachsende Wirtschaft und keinen wachsenden Wohlstand haben, aber dafür stehen
wir.
({18})
Der Ausbau, der Unterhalt und die Digitalisierung unserer Verkehrsinfrastruktur sind ein bedeutender Schritt
zur Mobilität 4.0. Das ist in der Tat eine der größten
politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen He8262
rausforderungen seit Jahrzehnten. Das kann man nur mit
einem Höchstmaß an Investitions- und Innovationsbereitschaft begleiten. Was Sie hier wieder aufführen, nämlich Technologie- und Mobilitätsfeindlichkeit immer vor
sich herzutragen, führt dazu, dass wir den Anschluss an
eine moderne Gesellschaft verlieren,
({19})
dass wir bei der Sicherung des zukünftigen Wirtschaftswachstums und des Wohlstands scheitern werden. Das
sind die wahren Alternativen, um die es geht. Mit Ihnen:
Einschränkung der individuellen Mobilität, Schwächung
unseres Wirtschaftsstandorts, und mit uns: Wohlstandssicherung, Mobilitätsgewinn und ein Systemwechsel zur
Nutzerfinanzierung.
Herr Minister, darf die Kollegin Haßelmann eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank auch, Herr
Minister, dass Sie die Frage zulassen. - Ich habe gesehen, Sie haben 16 Minuten Redezeit. Ich frage Sie deshalb, ob Sie vielleicht noch 3 Minuten Ihrer Redezeit darauf verwenden könnten, uns etwas Konkretes zu Ihrem
Gesetzentwurf zu sagen.
({0})
Liebe Frau Haßelmann, ich hatte schon immer das
Gefühl, dass Sie in der Vergangenheit Schwierigkeiten
hatten, zu verstehen, was der Systemwechsel eigentlich
bedeutet.
({0})
Ich habe jetzt nicht die Hoffnung, dass wir in dieser Debatte zu dem Ergebnis kommen, dass Sie das Prinzip der
Nutzerfinanzierung, das wir umsetzen, als eines verstehen werden, dass die zukünftige Investition in unsere Infrastruktur sicherstellt. Ich hatte auch nicht das Gefühl in
der Vergangenheit, dass Sie das Prinzip der Gerechtigkeit auf unseren Straßen mit unterstützen.
({1})
Sie von den Grünen müssen einfach einmal akzeptieren, dass die Lösung des Problems der Infrastrukturfinanzierung, ein Problem, das wir auf Dauer lösen müssen, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa, damit
zusammenhängt, dass Nutzer sich an der Infrastrukturfinanzierung beteiligen. Glauben Sie bitte einfach: Sie
können Ihre Haltung, gegen mehr Investitionen und
Straßenbau einzutreten, dauerhaft nicht aufrechterhalten.
Denn wenn wir das tun, was Sie mit Ihrer Entkoppelungstheorie vertreten, nämlich Wirtschaftswachstum
und Wohlstand von Investitionen in die Infrastruktur abzukoppeln,
({2})
tun wir nichts anderes, als unsere Gesellschaft vom
Wohlstand abzukoppeln. Das können wir nicht zulassen.
({3})
Wir erreichen mit dem Investitionshochlauf, den mein
Haus beschrieben hat, einen Aufwuchs der Investitionen
um 40 Prozent bis zum Jahr 2018. Das ist ein absoluter
Rekord. Übrigens ist das eine Zahl, die auch von der
Daehre-Kommission und der Bodewig-Kommission in
ihren Berechnungen so eingefordert wird. Sie haben an
vielen Stellen in der Vergangenheit das Gutachten der
Daehre-Kommission und der Bodewig-Kommission zitiert, Sie haben auch darauf verwiesen, dass in der Sonder-Verkehrsministerkonferenz genau die Inhalte dieses
Gutachtens mit beschlossen worden sind.
Sie müssten jetzt einmal akzeptieren, dass wir genau
das auch umsetzen.
({4})
Sie sollten sich vielleicht auch daran erinnern, dass die
Länder, an deren Regierung Sie beteiligt sind, dem im
Bundesrat zugestimmt haben. Daehre und Bodewig
sprechen davon, dass wir zusätzliche Haushaltsmittel für
die Infrastruktur aufwenden sollen - das machen wir -,
dass wir eine Erhöhung der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mit der Bahn machen sollen; auch
das tun wir. Mit 28 Milliarden Euro sind es 5 Milliarden
Euro mehr als in der letzten Finanzierungsperiode. Dass
eine überjährige Mittelbereitstellung erfolgen soll, das
haben wir umgesetzt. Das Prinzip „Erhalt vor Neubau“
findet so bei uns statt. Die Ausweitung der Lkw-Maut
auf alle Bundesstraßen unter Einbeziehung der Lkw ab
7,5 Tonnen setzen wir so um.
({5})
Die Daehre/Bodewig-Kommission spricht davon, dass
Abgaben für nicht in Deutschland zugelassene Pkw eingeführt werden sollten. Auch das setzen wir um. Sie haben in den Ländern auch da entsprechend mitgestimmt
und dafür gesorgt, dass wir diese Diskussionen heute haben und dass wir den gerade beschriebenen Weg eines
Systemwechsels gehen.
Dass Sie nach dieser Bilanz - Umsetzung dessen, was
die Daehre/Bodewig-Kommission vorgeschlagen hat,
durch diese Bundesregierung - jetzt auf Ihrem Parteitag
davon sprechen, dass notwendige Investitionen in die Infrastruktur verschleppt werden, obwohl wir so viel investieren wie niemals zuvor, so viel Heuchelei hätte ich
hier eigentlich nicht einmal Ihnen zugetraut, meine Damen und Herren von den Grünen. Sie tragen nicht nur
nichts dazu bei, dass wir einen Investitionshochlauf haben; Sie verweigern sich geradezu dem Systemwechsel.
({6})
Wir haben den Investitionshochlauf gestartet. Wir
stellen Rekordmittel für die Infrastruktur zur Verfügung.
Sie haben nur die Erhöhung von Mineralölsteuer oder
Schuldenfinanzierung der Investitionen im Sinn. Dazu
muss ich klar sagen: Unser Prinzip ist ein anderes. Mit
uns gibt es keine Finanzierung der Infrastruktur durch
Schulden oder durch Steuererhöhungen. Bei uns heißt
das Prinzip: Gerechtigkeit finanziert die Straßen.
({7})
Ich bleibe dabei:
({8})
Die Infrastrukturabgabe, sie ist fair, sie ist sinnvoll, und
sie ist gerecht. Sie ist fair, weil sie in den meisten unserer
Nachbarländer genau so durchgeführt wird.
({9})
Sie ist sinnvoll, weil jeder Euro, den wir einnehmen, zusätzlich in die Infrastruktur investiert wird, und sie ist
gerecht, weil sie zukünftig jeden, der die Straßen nutzt,
angemessen an der Finanzierung beteiligt.
Danke schön.
({10})
Herbert Behrens ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, auch mit den tragenden Worten des Verkehrsministers lässt sich nicht überdecken, was uns hier am Ende
vorliegt. Als der Referentenentwurf bekannt geworden
ist, schrieben einige Blätter: Der Berg kreißte und gebar
eine Maut. - Ich glaube, das ist eine sehr treffende Beschreibung dessen, was uns hier vorliegt, und es ist auch
eine treffende Beschreibung für diesen quälend langen
Prozess, den wir hinter uns haben, bei dem wir versucht
haben, überhaupt zu erkennen: Was ist denn eigentlich
das Prinzip hinter der Idee, die uns dort auf den Tisch gelegt worden ist, die erst als Maut und dann als Infrastrukturabgabe verkauft werden sollte?
Ich denke, das Ganze wird ein bisschen klarer, wenn
wir uns die damalige Situation noch einmal vor Augen
führen: Damals waren die Luftverhältnisse über dem
CSU-Stammtisch noch relativ klar und eindeutig. Ich zitiere mal den damaligen CSU-Generalsekretär - er befand sich noch in der Metamorphose hin zum Verkehrsminister -, der in einer Pressemitteilung sagte:
Bei der Forderung der CSU nach einer Pkw-Maut
für Ausländer geht es um Gerechtigkeit.
- Das haben wir heute noch einmal gehört. Alle anderen Parteien wollen die Gratis-Fahrten für
Ausländer auf unseren Autobahnen weiter hinnehmen. Wir nicht.
Herr Dobrindt, eins hätte Ihnen inzwischen klar sein
müssen: Mit diesem Wahlkampfgetöse können Sie keine
Verkehrspolitik machen. Es hätte endlich einmal eine
klare Ansage gemacht werden müssen, wie Sie sich Verkehrspolitik künftig vorstellen wollen.
({0})
Jetzt muss also diese Form der Pegida-Maut in eine
verfassungsgemäße Form gebracht werden. Sie haben
alles versucht, die Quadratur des Kreises herzustellen.
Zigmal mussten Sie nachbessern, nachdem Ihnen sogar
aus Ihrer eigenen Fraktion Gegenwind ins Gesicht geblasen hatte.
Erinnern wir uns: Zunächst sollten nur die Autobahnen bemautet werden, dann alle Straßen.
Jetzt zahlen Ausländer auf Autobahnen und Inländer
auf Autobahnen und Bundesstraßen, und das nur, weil
allen Inländern eine Jahreszwangsmaut abgeknöpft werden soll, ohne die die ganze Konstruktion in sich zusammenfallen würde.
Im grenznahen Bereich soll die Maut nicht erhoben
werden, um den Tourismus und den kleinen Grenzverkehr nicht zu beeinträchtigen.
Und obendrein gibt es eine Reform des Kraftfahrzeugsteuergesetzes, um die inländischen Kfz-Halter um
den Betrag zu entlasten, den sie als Pkw-Maut bezahlen
müssen. Nun ist es aber europäisches Recht, dass niemand aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden
darf. Darum wurde die Pkw-Maut für Ausländer mit einem Mal zu einer Infrastrukturabgabe umetikettiert. Sie
glauben doch nicht allen Ernstes, dass Ihnen jemand abnimmt, dass die Infrastrukturabgabe nichts mit der Entlastung bei der Kfz-Steuer zu tun hat? So blind wird
auch in Brüssel niemand sein.
({1})
Herr Dobrindt, dieser Versuch ist danebengegangen.
Nun versuchen Sie einen anderen Ausweg. In der Ak8264
tuellen Stunde - aber in ähnlicher Weise auch heute sagten Sie, Herr Minister:
Wir vollziehen einen echten Systemwechsel in der
Finanzierung unserer Infrastruktur von einer vorwiegenden Steuerfinanzierung der Infrastruktur hin
zu einer Nutzerfinanzierung der Infrastruktur. Dadurch stärken wir das Verursacherprinzip.
Herr Kollege Behrens, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Ja, ich lasse eine Zwischenfrage zu.
Herr Kollege Behrens, danke, dass Sie eine Zwischenfrage zulassen. - Sie haben in Ihren Ausführungen
im Zusammenhang mit der Maut gerade von der
„Pegida-Maut“ gesprochen. Mir persönlich hat sich der
Zusammenhang jetzt nicht erschlossen. Ich wäre Ihnen
dankbar, wenn Sie diesen Zusammenhang erklären
könnten.
({0})
Das will ich tun. - In der Tat erleben wir bei den Demonstrationen der Pegida-Anhänger in der Argumentation einen starken rassistischen Unterton. Immer wieder
wird klargemacht: Das Abendland muss gerettet werden,
indem beispielsweise islamische Tendenzen zurückgedrängt werden. - Der Zusammenhang zwischen der Ausländermaut und einer Pegida-Maut besteht darin, dass
auch von der CSU in Diskussionen immer darauf rekurriert wurde: Die Ausländer fahren auf unseren Autobahnen und fahren sie kaputt. Sie müssen auf jeden Fall zur
Finanzierung herangezogen werden. - Das sagt die CSU,
obwohl sie herangezogen werden, und zwar dadurch,
dass sie tanken und in anderer Weise hier an der Finanzierung unserer Infrastruktur beteiligt sind. - Das ist der
Grund. Es sind Ressentiments, die mitspielen, und das
gehört sich nicht, schon gar nicht in der Verkehrspolitik.
({0})
Nein, jetzt hat wiederum der Kollege Behrens das
Wort. Bitte schön.
Ich habe mich eben darauf bezogen, dass Herr
Dobrindt gesagt hat, dass ein echter Systemwechsel vollzogen werden soll. Er sprach von der Nutzerfinanzierung der Infrastruktur und davon, dass das Verursacherprinzip gestärkt werde. Dass es um einen Systemwechsel
geht, stimmt in der Tat. Das zweite Argument ist allerdings völliger Humbug. Das Verursacherprinzip würde
dann gestärkt werden, wenn wir wirklich Verursacher
heranziehen würden. Wir haben auch in der Diskussion
über die Lkw-Maut darüber gesprochen, dass wir gucken
müssen: Wer verursacht die meisten Beschädigungen auf
den Straßen? Wer ist dafür verantwortlich, dass so oft
Reparaturen an Straßen und Brücken erforderlich sind?
Wenn wirklich das Verursacherprinzip das tragende
Element sein soll, dann muss auf jeden Fall bei der LkwMaut angesetzt werden; denn die Pkw - das wissen wir sind wesentlich weniger an der Abnutzung der Infrastruktur beteiligt. Das mit dem Verursacherprinzip ist
reiner Etikettenschwindel. „Nutzerprinzip“ oder „Wegelagerei“, das wäre treffender.
({0})
Sie behaupten - eben haben Sie das noch einmal gesagt -, in Europa sei es völlig selbstverständlich, dass
eine Maut kassiert wird. Das ist falsch. Nirgends gibt es
die Maut
({1})
für Inländerinnen zurück; nirgends gibt es eine variable
Preisgestaltung für die Jahresvignette; nirgends werden
Inländer zum Kauf einer Jahresvignette gezwungen.
Eine andere Behauptung. Sie behaupten, 2 Milliarden
Euro netto würden durch ausländische Fahrzeughalter in
den Verkehrshaushalt strömen. Mal ganz am Rande: Bei
den diversen Korrekturen am Referentenentwurf ist das
Wort „zusätzlich“ inzwischen verloren gegangen. Aber
zum Ertrag: Vor ein paar Tagen wollte der Minister endlich offenlegen, auf welche Berechnungen er sich denn
nun bezieht. Heraus kamen ein Gefälligkeitsschreiben
aus dem Ministerium und eine Überprüfung durch einen
Angestellten eines Unternehmens, das selbst ins Mautgeschäft investiert hat. Das ist übrigens der gleiche Gutachter, der gegenüber der CSU schon mal 900 Milliarden
Euro Bruttomauteinnahmen prognostiziert hatte.
({2})
- 900 Millionen. - Diese dürftige Grundlage wurde von
den Fachverbänden in der Luft zerrissen. ADAC, VCD
und ACE haben Stellungnahmen abgegeben, die das ablehnen. Gestern Abend gab es dann noch ein Gutachten
des Verkehrs- und Wirtschaftswissenschaftlers Eisenkopf.
Sein Fazit - Zitat -:
… zeigt sich bei der in dieser Kurzstellungnahme
vorgenommenen Analyse, wie unzureichend begründete oder willkürliche Annahmen in Richtung
höherer Einnahmen wirken. … Insgesamt erscheinen die Ergebnisse daher aus analytischer Perspektive wenig plausibel bzw. überzeugend und die Annahmen insbesondere ergebnisorientiert gesetzt.
Übersetzt heißt das: Das Ergebnis stand als Erstes fest,
dann war der Gutachter gehalten, etwas dazu zu schreiben, damit die Summe am Ende auch passt.
({3})
Kurz und knapp ist dort beschrieben: 80 Prozent der
Einnahmen, die Sie errechnet haben, sind nicht schlüssig
belegt, und die Berechnungsgrundlage ist vollkommen
unsolide. - Laut einem Gutachten von Ralf Ratzenberger Sie kennen es; der ADAC hat es im vergangenen Jahr
herausgebracht - kommen nicht 700 Millionen Euro
Mautgebühren rein, sondern lediglich 262 Millionen
Euro, und zwar brutto. Abzüglich der Systemkosten wird
das zu einem Minusgeschäft.
Der Verkehrsminister bleibt aber wacker bei seinen
700 Millionen Euro brutto pro Jahr. Das trifft aber zumindest nicht für die ersten drei Jahre zu. Wir haben
nachgefragt: 455,6 Millionen Euro sind in den ersten
drei Jahren fällig, um dieses System überhaupt zu implementieren. Das heißt, in den ersten drei Jahren fällt die
Bilanz sowieso anders aus als die positive Bilanz von
500 Millionen Euro netto, die uns jetzt vorgelegt wurde.
Die Linke bleibt bei ihrer Bewertung: Die Ausländermaut ist nicht nur verkehrspolitisch absurd, sondern
sie ist inzwischen auch haushaltspolitisches Harakiri.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, zum Thema der Europakonformität wird sicherlich noch gesprochen werden.
Das will ich hier nicht tun.
Ich komme zum Schluss. Die wahre Absicht wird erkennbarer. Es geht um die Nutzerfinanzierung, das heißt,
der Autofahrer wird herangezogen. Das würde 3,7 Milliarden Euro in die Kasse bringen. Gleichzeitig tagt im
Wirtschaftsministerium eine Expertenkommission, die
die Privatisierung des Straßenverkehrssystems vorbereitet. Da wird es passend, und es wird erkennbar, was
möglicherweise wirklich hinter dieser Infrastrukturabgabe steckt.
Ich bleibe dabei - die Linksfraktion sieht es ebenso -:
Die Ausländermaut ist weder fair noch sinnvoll oder gerecht. Sie ist absurd, unvertretbar und unbeherrschbar.
Maut und Minister gehören schnellstens aus dem Verkehr gezogen.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Sören
Bartol das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrten Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele
politische Beobachter glauben, dass wir heute das wichtigste Vorhaben der Verkehrspolitik dieser Koalition diskutieren. Das mag jeder für sich selbst beurteilen.
({0})
Ich denke, man würde dieser Koalition unrecht tun,
wenn man unsere Verkehrspolitik nur auf die Pkw-Maut
reduzieren würde.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer eine Koalition
eingeht, muss Kompromisse schließen. Für die SPD gehört die Pkw-Maut dazu. Jeder in diesem Hause weiß,
dass es das zentrale Vorhaben der CSU ist. Wir haben sie
jetzt im Koalitionsvertrag mit der CDU und der CSU
vereinbart. Damit wird sie kommen. Die Frage ist nur:
Wie?
Heute beginnen die parlamentarischen Beratungen im
Deutschen Bundestag. Angesichts der jahrzehntelangen
Diskussion über eine Pkw-Maut sollten wir uns dafür
ausreichend Zeit nehmen. Es ist der Deutsche Bundestag, der darüber entscheidet, wie die Pkw-Maut aussehen
wird - niemand anders.
({2})
Aus Respekt vor der parlamentarischen Arbeit dieses
Hauses sollten wir uns alle gemeinsam dabei von niemandem treiben lassen.
({3})
Das Interesse in der Bevölkerung an den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen kommt nicht von ungefähr.
Die Autofahrerinnen und Autofahrer befürchten, dass
neue finanzielle Belastungen auf sie zukommen. Sie
haben Zweifel, ob das von Bundesverkehrsminister
Dobrindt vorgeschlagene Konzept einer Pkw-Maut
funktionieren kann. Wir Sozialdemokraten nehmen diese
Befürchtungen sehr ernst.
({4})
Wir werden im Deutschen Bundestag keiner Pkw-Maut
zustimmen, die die deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer zusätzlich belastet. Das haben wir so versprochen. Das haben wir im Koalitionsvertrag so vereinbart,
und das werden wir hier im Deutschen Bundestag auch
genau so beschließen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns in der
Koalition einig, dass wir mehr in unsere Straßen, Schienen- und Wasserwege investieren wollen. Dafür werden
wir zusätzliche Steuermittel mobilisieren und die Nutzerfinanzierung ausweiten. Die Einführung der PkwMaut darf kein Selbstzweck sein. Sie muss zusätzliche
Einnahmen bringen, die nicht umgehend wieder durch
Bürokratie aufgefressen werden. Wir werden mit den
Einnahmen aus der Pkw-Maut nicht die Probleme bei
den Verkehrsinvestitionen lösen. Daher setzen wir auch
auf die Ausdehnung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen. Das bringt neue Einnahmen in Höhe von bis zu
2 Milliarden Euro pro Jahr.
({6})
Bundesminister Dobrindt geht davon aus, dass mit der
Pkw-Maut 500 Millionen Euro zusätzlich eingenommen
werden können. Ich bin froh, dass man unserer Forderung nach mehr Transparenz gefolgt ist; die Berechnungen liegen nun endlich offen auf dem Tisch. Wir sollten
die kommenden Wochen dafür nutzen, sie auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer zusätzliche
Einnahmen von den Nutzern der Straßen will, muss aber
auch klar sagen, wo er denn das Geld investieren will.
Die Akzeptanz der Pkw-Maut wird auch davon abhängen, ob die Einnahmen dort investiert werden, wo alle
im Stau stehen. Eine klare Priorisierung bei den Bundesverkehrswegen ist deshalb notwendig.
({7})
Bundesminister Dobrindt hat im Frühjahr 2014 eine
Grundkonzeption für den neuen Bundesverkehrswegeplan 2015 vorgelegt; sie bedeutet einen Paradigmenwechsel. Er wird von der breiten Öffentlichkeit unterstützt. Die Länder wollen die Umsetzung. Die Wirtschaft
will die Umsetzung. Und auch die Umweltverbände
wollen die Umsetzung. Wer sich einer neuen Bundesverkehrswegeplanung verweigert, stellt sich am Ende gegen
die Interessen der Bevölkerung wie auch gegen die Interessen der Wirtschaft.
Für uns steht fest: Wer neue Finanzierungsinstrumente einführen will, aber gleichzeitig das Geld der
Steuer- und Mautzahler mit der Gießkanne nach Himmelsrichtungen ausgeben will, der wird am Ende nicht
unsere Zustimmung erhalten.
({8})
Der Aufwuchs der Investitionsmittel muss in den kommenden Jahren mit einer klaren Priorisierungsstrategie
einhergehen.
Zuerst müssen wir uns um die bestehenden Brücken
und Straßen kümmern.
Beim Neu- und Ausbau müssen wir 80 Prozent der
Mittel in überregionale Projekte investieren. Dabei hat
die Beseitigung von Engpässen absolute Priorität. Genau
so steht es auch im Koalitionsvertrag, und daran lassen
wir auch nicht rütteln.
({9})
Gleichzeitig werden wir für die bessere Anbindung
der ländlichen Räume 20 Prozent der Investitionsmittel
zur Verfügung stellen.
Ich denke, das ist der vernünftige Weg.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist das
größte Mitgliedsland der Europäischen Union.
Lassen auch Sie eine Zwischenfrage zu, Herr Kollege?
Ja.
Bitte schön.
Kollege Bartol, ich unterstütze Ihre Position, was die
Bundesverkehrswegeplanung angeht, weil damit tatsächlich eine vernünftige Entwicklung der Infrastruktur
möglich wäre. Ich möchte Sie aber fragen, was Sie zu
der Tatsache sagen, dass der Bundesverkehrsminister
jenseits der parlamentarischen Beratungen und jenseits
der Priorisierung bereits eigenmächtig für Maßnahmen
zum Neubau von Straßen 2,6 Milliarden Euro bewilligt
hat.
({0})
Frau Leidig, der Bundesverkehrsminister ist ebenso
wie ich Teil dieser Koalition. Für den Bundesverkehrsminister und für mich ist der Koalitionsvertrag Grundlage. Ich freue mich, dass Sie uns allen bestätigen, dass
es ein guter Koalitionsvertrag ist; das hört man von der
Opposition nicht allzu oft.
({0})
Es ist, wie ich glaube, auch ganz klar: Im Moment haben wir geltende Bedarfspläne, haben wir geltende Ausbaupläne. Natürlich ist ein Bundesverkehrsminister am
Ende auch dazu da, gemeinsam mit uns im Parlament zu
entscheiden, wofür Mittel freigegeben werden und ob
die Straßen gebaut werden, die zum Beispiel im Investitionsrahmenplan oder in anderen Plänen stehen. Ich
glaube wirklich, dass Einigkeit zwischen mir und dem
Minister darüber besteht, dass es beim Bundesverkehrswegeplan 2015 für uns alle am Ende um die Frage geht,
ob wir einen Paradigmenwechsel einleiten oder nicht.
Insofern sehe ich da kein Problem.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir alle
sind uns einig, dass wir gute Nachbarn in einem geeinten
Europa sein wollen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Pkw-Maut keine EU-Ausländer diskriminieren, also nicht gegen europäisches Recht verstoßen
darf. Die EU-Verkehrskommissarin nennt zwei Kriterien, die aus Sicht der Europäischen Kommission entscheidend sind: Die Gebührensätze für die Zeitvignetten
müssen im Vergleich zur Jahresvignette für ausländische
Autofahrer verhältnismäßig sein, und die gleichzeitige
Einführung einer Pkw-Maut und einer entsprechenden
Ermäßigung bei der Kfz-Steuer für Deutsche darf nicht
zu einer Diskriminierung führen. - Die Bundesregierung
ist insgesamt zu der Einschätzung gekommen, dass
beide Kriterien erfüllt sind. Das Bundesverkehrsministerium hat dazu ein umfangreiches Gutachten vorgelegt,
und wir im Deutschen Bundestag werden uns auch diese
Bewertung noch einmal ganz genau anschauen.
Wir wissen, dass sich die EU-Kommission zu der
Frage vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens nicht
endgültig äußern wird. Damit steht auch fest: Die Vereinbarkeit mit europäischem Recht wird endgültig erst
nach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens geklärt werden können. Eines aber sollten wir im weiteren
Verfahren jedoch sicherstellen: Sollte die EU-Kommission mit einer Klage gegen die Pkw-Maut erfolgreich
sein und die Entlastung bei der Kfz-Steuer kippen, darf
am Ende nicht eine Belastung für alle übrigbleiben.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesländer
haben sich sehr ausführlich mit der Pkw-Maut beschäftigt. In seiner Stellungnahme hat der Bundesrat 23 Kritikpunkte aufgeführt. Ich finde, wir dürfen die Bedenken
der Bundesländer nicht einfach beiseiteschieben. Wir
sollten sie alle ernst nehmen. Wenn es verfassungsrechtliche Bedenken gibt, ob der Bund den Kfz-Meldestellen
der Kommunen neue Aufgaben übertragen darf, muss
das geklärt werden. Wenn die Länder der Meinung sind,
dass sie eigentlich bei der Pkw-Maut gefragt werden und
zustimmen müssten, muss das geprüft werden. Wenn es
Zweifel an einer ordentlichen Kontrolle der Pkw-Maut
gibt, muss das bewertet werden. Wenn es in Grenzregionen immer noch Proteste gibt, weil die Gäste aus den
Nachbarländern die deutschen Städte eben nur über Bundesautobahnen erreichen können, müssen wir uns das,
finde ich, alle gemeinsam anschauen.
({3})
Wenn es weiter Zweifel am Datenschutz gibt, sollten wir
die auch ausräumen. Je weniger Daten gespeichert werden, umso besser.
Das heißt, die vorgelegten Gesetzentwürfe werfen
noch viele Fragen auf. Wir sollten sie gemeinsam klären.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt beginnt die
Kärrnerarbeit der Fachpolitiker in den Ausschüssen. Es
gilt wie immer das Struck’sche Gesetz: Es gibt keinen
Automatismus. Kein Gesetzentwurf verlässt den Bundestag so, wie er hineingekommen ist. - Ich finde, diesen Grundsatz sollten wir alle gemeinsam ernst nehmen.
({4})
Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt unglaublich viele Herausforderungen in der Verkehrs- und Mobilitätspolitik; aber eines muss man feststellen: Nach fast anderthalb Jahren Große Koalition haben Sie nicht einmal angefangen, sich mit diesen
Herausforderungen auseinanderzusetzen, meine Damen
und Herren.
({0})
Stattdessen beschäftigen Sie sich mit einer Ausländermaut, die keine relevanten Einnahmen bringt, die die
Besucher aus dem Ausland diskriminiert und damit
europarechtswidrig ist, die keine ökologische Lenkungswirkung hat, die ein Bürokratiemonster irrsinnigen
Ausmaßes ist, die verfassungsrechtlich zumindest bedenklich ist und erhebliche datenschutzrechtliche Fragen
aufwirft. Meine Damen und Herren, das ist schädlich für
die Verkehrspolitik!
({1})
Das ist unsinnig! Das ist die Fortsetzung des Betreuungsgeldes in der Verkehrspolitik! Das muss hier einmal
klipp und klar gesagt werden.
({2})
Herr Dobrindt, ich hätte mir angesichts von 16 Minuten Redezeit gewünscht, dass Sie auf diese Kritikpunkte
einmal substanziell eingegangen wären. Dazu habe ich
Nullkommanichts von Ihnen gehört. Das, was Sie hier
eben abgeliefert haben, ist ein absolutes Armutszeugnis.
Das ist eines Verkehrsministers in Deutschland nicht
würdig.
({3})
Ich sage Ihnen auch - so viel Ehre muss sein -: Sie
haben in den vergangenen Tagen einen sinnvollen Vorschlag gemacht. Sie haben vorgeschlagen, dass in Zukunft Warnanlagen für Geisterfahrer aufgebaut werden
sollen.
({4})
Ja, das ist richtig. Die erste Warnanlage muss vor dem
Ministerbüro aufgebaut werden. Die wird jeden Tag drei
Dutzend Mal blinken, meine Damen und Herren.
({5})
Seien wir einmal ehrlich: Wenn wir hier über die Ausländermaut reden, geht es nicht um Verkehrspolitik, auch
nicht um Einnahmen für die Infrastruktur.
({6})
Das ist alles Quatsch. Es gibt nur einen einzigen Grund,
weshalb wir über dieses Thema reden. Wir reden deshalb
darüber, weil eine rechtspopulistische Regionalpartei
({7})
irgendwo im Bermudadreieck zwischen AfD, NPD und
Pegida auf politischer Beutefahrt ist. Das ist Ihr Thema.
Sie wollen damit die Hoheit über die Stammtische haben.
({8})
- Sie empören sich jetzt, aber Sie werden sich das anhören müssen: Der Vorsitzende dieser Regionalpartei
drischt NPD-Parolen. Das ist unglaublich. Ich erwarte da
einen Aufstand der Anständigen in der Großen Koalition; denn das kann man nicht akzeptieren.
({9})
Liebe Christ- und Sozialdemokraten, in einer Koalition - Sören Bartol hat das gerade angesprochen - muss
man Kompromisse machen; das ist völlig klar. Aber das
heißt nicht, dass man Schwachsinn beschließen muss.
Aber Sie sind gerade dabei, genau das zu tun.
({10})
Daran werden wir Sie mit allem Nachdruck überall in
der Republik erinnern, sollte dieses Gesetz verabschiedet werden.
Das Mantra von Herrn Dobrindt - das haben wir auch
von Sören Bartol gehört - ist: Die deutschen Autofahrer
sollen nicht belastet werden, sondern es sollen nur - interessanterweise spricht man in dem Gutachten, das Herr
Dobrindt vorgelegt hat, nicht mehr von den Ausländern
und Ausländerinnen - Gebietsfremde belastet werden.
({11})
Muss ich als Rheinländer, wenn ich nach Bayern fahre
- dort bin ich gebietsfremd -, in Zukunft auch zahlen?
({12})
Was ist Ihr Konzept? Was haben Sie da für eine Vorstellung?
Ich sage Ihnen - das gehört zur Wahrheit dazu -: Am
Ende wird ja nicht die Pkw-Maut scheitern; vielmehr
wird vor dem Europäischen Gerichtshof und vor der EUKommission die Kompensation scheitern. Dann werden
wir genau vor der Situation stehen, dass die deutschen
Autofahrerinnen und Autofahrer 3,7 Milliarden Euro bezahlen müssen. Nachtigall, ick’ hör dir trapsen - das ist
genau der Plan: Man will durch die Privatisierung der
Straßen über ÖPP 3,7 Milliarden Euro in die Kassen der
Versicherer und der Banken spülen.
({13})
Das ist doch der wahre Hintergrund des Konzeptes der
Großen Koalition!
({14})
Herr Dobrindt, Sie beziffern die Nettoeinnahmen auf
500 Millionen Euro. Wir haben über Monate hinweg
Dutzende Anfragen gestellt, um an die Berechnungsgrundlage heranzukommen; denn wir wollten wissen,
wie die Zahl zustande kommt. Aber Sie haben uns immer die Unwahrheit gesagt. Sie haben diese Fragen nicht
beantwortet. Die Tatsache, dass die Wochenzeitung Die
Zeit klagen muss, um an diese Zahlen heranzukommen,
damit wir Zugriff darauf haben, das wäre eine Debatte
im Deutschen Bundestag wert. Das, meine Damen und
Herren, ist ein Skandal!
({15})
In dem Gutachten, in dem plötzlich von Gebietsfremden die Rede ist, werden Zahlen herangezogen, die zehn
Jahre alt sind.
({16})
Es werden nicht greifbare Annahmen zugrunde gelegt.
Es ist nicht nachprüfbar, wie die 500 Millionen Euro zustande kommen. Ich glaube - an jeder Stelle atmet das
dieses Stück Papier -: Da ist jemand beauftragt worden,
der von den 500 Millionen Euro ausgehend die Zahlen
herunterrechnen sollte, um das irgendwie passend zu
machen.
Der größte Witz an der Geschichte ist, dass Sie jemanden beauftragt haben, die Zahlen zu prüfen und eine
Stellungnahme abzugeben, der selber möglicherweise
wirtschaftlich von der Einführung der Maut profitiert.
Das wäre so, als wenn Sigmar Gabriel RWE beauftragen
würde, die Klimaverträglichkeit der Braunkohle zu überprüfen. Es ist doch klar, was dabei herauskommt. Das
traut sich nicht einmal Sigmar Gabriel. Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Dobrindt, und unter dem Niveau einer
Bundesregierung.
({17})
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist eine
Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Straßen; das wäre
wirklich verursachergerecht; denn die Lkws machen unsere Straßen und Brücken kaputt, sie sind für den Verfall
der Infrastruktur verantwortlich. Das, was Sie jetzt beschließen wollen, ist zu wenig, das reicht nicht aus. Aber
Sie wollen die Lkw-Maut sogar noch senken.
Ich hoffe, dass die Debatte über dieses Thema am
Ende dazu führen wird, dass es - Sören Bartol, da nehme
ich die Sozialdemokraten beim Wort - einen Aufstand
der Vernunft in der Großen Koalition geben wird
({18})
und dass Sie dieses Projekt dort versenken, wo es hingehört: auf dem Müllhaufen blödsinniger CSU-Projekte.
Danke schön.
({19})
Steffen Bilger erhält nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Nockherberg-Fortsetzung von gerade eben
({0})
ist es an der Zeit, zum Inhalt der heutigen Debatte zurückzukommen, zur Diskussion über die Infrastrukturabgabe und zu den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen.
({1})
Im ersten der beiden vorliegenden Gesetzentwürfe
geht es um die Einführung der Infrastrukturabgabe, die
gleichermaßen von Haltern von im Inland wie von Haltern von im Ausland zugelassenen Pkws und Wohnmobilen für die Nutzung von Bundesfernstraßen zu entrichten ist. Im zweiten Gesetzentwurf geht es um die
Steuerentlastung der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen, die bereits - das sollte man immer
wieder betonen - über die Zahlung der Kraftfahrzeugsteuer ihren Beitrag zur Finanzierung des Bundesfernstraßennetzes leisten.
({2})
Die Einführung der Infrastrukturabgabe ist dabei nur
eine Maßnahme eines Gesamtpaketes zur besseren Finanzierung unseres Bundesstraßennetzes durch die Nutzer. Die große Linie ist: Wer Straßen ab- und benutzt, der
bezahlt.
({3})
Im Übrigen spiegelt sich dieses Prinzip im Weißbuch
Verkehr der EU-Kommission wider: Das Verursacherprinzip soll gestärkt werden; die Nutzer sollen stärker an
der Infrastrukturfinanzierung beteiligt werden.
({4})
Der größte Beitrag zur Infrastrukturfinanzierung
kommt dabei von denen, die unsere Straßen am meisten
beanspruchen, nämlich von den Lkws. So weiten wir
- ich habe den Eindruck, dass das in dieser Debatte über
die Pkw-Maut immer wieder untergeht; deswegen will
ich das noch einmal betonen - die Lkw-Maut auf 7,5- bis
12-Tonner aus, und auch alle vierspurigen Bundesstraßen werden zusätzlich zu den Autobahnen bemautet.
2018 folgen alle anderen Bundesstraßen. Damit sichern
wir, neben den zusätzlichen Mitteln aus dem Bundeshaushalt, die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur.
({5})
Hinzu kommt die Infrastrukturabgabe. Die zusätzlichen Einnahmen aus dieser werden zu einer größeren
Unabhängigkeit von der Haushaltslage des Bundes und
zu mehr Planungssicherheit bei der Finanzierung der
Verkehrsinfrastruktur beitragen.
Ich bin sehr froh, dass das Thema Infrastrukturfinanzierung endlich in den Fokus der Öffentlichkeit geraten
ist. Noch bis weit in die letzte Wahlperiode hinein war
die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur weitgehend
ein Nischenthema für Spezialisten. Leider erst durch
drastische Maßnahmen wie Brückensperrungen und
Schlagworte wie „die Bröckel-Republik“ geriet die Verkehrsinfrastruktur stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Für uns Verkehrspolitiker war schon lange das
Problem der Unterfinanzierung klar. Endlich ist dieses
Thema auch im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit
angekommen. Es war höchste Zeit dafür; denn wir brauchen definitiv mehr Geld für unsere Infrastruktur, meine
Damen und Herren.
Letztendlich ist die Infrastrukturabgabe und damit die
Beteiligung der ausländischen Fahrzeughalter an der Finanzierung unserer Straßen für uns aber auch eine Frage
der Gerechtigkeit; denn während es bereits nahezu in
ganz Europa Mautsysteme für Pkws gibt, haben wir in
Deutschland bisher darauf verzichtet. Auch das ist ein
Punkt, der in der Debatte meines Erachtens bisher zu
kurz kommt.
Welche Kritikpunkte wurden in unseren Diskussionen
über die Pkw-Maut in den vergangenen Monaten besonders häufig angeführt? Ich habe mir mit Interesse das
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 6. Februar
2015 durchgelesen. Man sieht: Auch in den Debatten
dort kann es durchaus zur Sache gehen. Keine Frage: Argumente können ausgetauscht werden. Das haben wir
heute auch schon gemacht. Aber wir werden bei diesem
Thema am Ende wahrscheinlich nicht zu einem Konsens
kommen. Dass aber Winfried Hermann im Bundesrat die
Infrastrukturabgabe als „Pegida-Maut“ bezeichnet hat
- dieses Stichwort wurde hier gerade auch schon genannt -, das ist wirklich völlig daneben und hat mit
Sachargumenten nichts mehr zu tun.
({6})
Wer aus der Einführung einer Maut den Vorwurf der
Ausländerfeindlichkeit konstruiert, dem, meine Damen
und Herren, ist wirklich nicht mehr zu helfen.
({7})
Doch besser zurück zur sachlichen Auseinandersetzung: Ein Kritikpunkt, der auch heute schon genannt
wurde, ist der mangelnde Datenschutz. Von der Opposition, insbesondere von den Grünen, kommt gerne der
Vorwurf, die vorliegende Version der Pkw-Maut sei eine
Datenkrake und Ähnliches. Dabei haben gerade die Grünen immer wieder den Inbegriff der Datenkrake gefordert, nämlich die streckenabhängige Pkw-Maut. Bei der
von uns vorgeschlagenen Infrastrukturabgabe gilt der
Grundsatz der Datensparsamkeit. Bei einer entfernungsabhängigen Maut würden wir genau das Gegenteil von
Datensparsamkeit bekommen.
({8})
Es passt gut, dass gerade grüne Landespolitiker zurzeit immer wieder auf ein anderes, unter Datenschutzgesichtspunkten schwieriges Thema zu sprechen kommen.
Es geht um die sogenannte Section Control, um Abschnittskontrollen zur Geschwindigkeitsüberwachung.
Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein würden
das gerne machen. Niedersachsen testet das bereits. Hier
werden auf einem Straßenabschnitt schlicht alle Fahrzeuge fotografiert, um überprüfen zu können, ob Autofahrer auf längeren Abschnitten im Durchschnitt zu
schnell gefahren sind. Es ist schon eine Frage der Glaubwürdigkeit, wenn Sie bei der Infrastrukturabgabe mangelnden Datenschutz kritisieren, aber dann, wenn es darum geht, die Autofahrer zu kontrollieren, sie vielleicht
auch abzuzocken, ist der Datenschutz plötzlich überhaupt kein Problem. Das ist nicht glaubwürdig, meine
Damen und Herren.
({9})
Ein anderer Kritikpunkt, der gerne genannt wird, ist
die mangelnde Lenkungswirkung der Infrastrukturabgabe. Gestern haben wir im Verkehrsausschuss über
Elektromobilität diskutiert. Eine Forderung der Grünen
- sie wird auch in dem Antrag, über den wir gestern diskutiert haben, erhoben - ist die stärkere steuerliche Belastung von Autos mit höherem CO2-Ausstoß. Konsequent, meine Damen und Herren, wäre es, wenn Sie
begrüßen würden, wie unser Mautsystem aufgebaut ist.
({10})
Umweltfreundliche Autos zahlen nämlich deutlich weniger als umweltschädliche. Als Berichterstatter meiner
Fraktion für Elektromobilität freue ich mich darüber,
dass Elektroautos unbefristet von der Infrastrukturabgabe befreit sind. Damit wird ein wichtiger zusätzlicher
Anreiz gesetzt, um umweltfreundliche Elektrofahrzeuge
in den Markt zu bekommen und mehr von ihnen auf den
deutschen Straßen zu sehen. Es handelt sich vor allem
um ein weiteres wichtiges Signal, dass wir die Elektromobilität auf allen Ebenen vorantreiben.
Ein weiteres Thema, das die Opposition in dieser Diskussion immer wieder umtreibt, ist die EU-Rechtskonformität. Ich glaube, die Argumente dazu wurden in den
vergangenen Wochen hinreichend ausgetauscht. Die
Mitglieder des Verkehrsausschusses werden nächste Woche in Brüssel die Gelegenheit haben, mit Europapolitikern über diese Fragen zu diskutieren. Den ersten Austausch mit der neuen EU-Verkehrskommissarin bei uns
im Verkehrsausschuss haben wir alle als sehr konstruktiv
empfunden.
Meine Damen und Herren, die Union begrüßt und unterstützt die vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung. Liebe Kollegen von der SPD, wir freuen uns auf
die Beratungen in den nächsten Wochen. Wir werden die
Einführung einer Infrastrukturabgabe mit Ihnen sicherlich mindestens genauso intensiv wie die Gesetzentwürfe zum Mindestlohn beraten und dieses Vorhaben
dann zu einem guten Ergebnis führen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Sabine Leidig ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Kolleginnen und Kollegen! Nach der bisherigen Debatte ist tatsächlich die Frage berechtigt: Worum geht es
eigentlich? Denn die zusätzlichen Einnahmen, die möglicherweise in die Staatskasse fließen, sind wirklich sehr
gering. Sie werden mit Sicherheit deutlich geringer sein
als die behaupteten 500 Millionen Euro.
Ich finde, das Statement von Herrn Minister Dobrindt
ist an populistischer Unverantwortlichkeit kaum zu übertreffen.
({0})
Sie leugnen die Probleme des Klimawandels - wahrscheinlich als eine Erfindung irgendwelcher ideologisch
aufgeladenen Autohasser.
({1})
Das hat mit Modernität wirklich überhaupt nichts zu tun.
Damit haben Sie sich, was Ihre Argumentation betrifft,
in die Steinzeit zurückkatapultiert.
({2})
Ich glaube, dieses Ausländer-Mautgesetz ist erstens
der Versuch von Herrn Dobrindt, die Auseinandersetzung um den CSU-Vorsitz zu gewinnen. Zu diesem
Zweck möchte er dieses Gesellenstück abliefern,
({3})
das ausländerfeindliche Ressentiments bedient. Ich
glaube zweitens - ich finde, das ist die viel größere Problematik -, dass tatsächlich die Gefahr besteht - ({4})
- Ich würde gerne in Ruhe reden.
Die Ruhe kann ich Ihnen nicht zusagen, aber dass Sie
zu Wort kommen, schon. - Bitte schön.
({0})
Zweitens befürchte ich - das ist aus meiner Sicht eigentlich viel gravierender -, dass dieser Systemwechsel
hin zur Nutzerfinanzierung im Kern dazu führen wird,
dass die Autofahrerinnen und Autofahrer löhnen müssen, wenn sie bestimmte Straßen befahren, die in Zukunft zu einem relevanten Teil von Privaten betrieben
werden sollen. Ob das Geld dann aus der Staatskasse
zurücküberwiesen wird oder nicht, ist letztlich zweitrangig. Es besteht die große Gefahr, dass Private - übrigens
mit massiver Unterstützung von Wirtschaftsminister
Gabriel, der dieses Projekt vorantreibt - diese Infrastruktur betreiben und die öffentliche Hand letztlich dafür
zahlt. Das lehnen wir ganz grundlegend ab. Das lehnt
auch die allergrößte Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land ab. Ich kann Sie nur inständig bitten,
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an dieser Stelle
sehr aufmerksam zu sein und dagegenzuhalten.
({0})
Ich sehe - da sind wir uns auch alle einig -, dass es im
Bereich der Infrastruktur großen Finanzierungs- und Erhaltungsbedarf gibt. Wir alle wissen, dass die großen
bzw. immer größer werdenden Lkws das Hauptproblem
sind. Sie machen unter anderem Brücken kaputt, die
nicht für solch große Belastungen geschaffen sind.
Da muss man einfach sagen: Wenn es wirklich darum
ginge, für die Reparatur von Straßen Geld reinzuholen,
dann müsste man mit dem Geld anfangen, das buchstäblich auf der Straße liegt: Es ist nach wie vor so, dass Sie
jedes Jahr Dieselkraftstoff mit 7 Milliarden Euro subventionieren. Mit diesen 7 Milliarden Euro unterstützen
Sie den zunehmenden Lkw-Verkehr. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man nicht an solche Subventionen
rangeht - wo man perspektivisch eine Menge Geld einnehmen könnte -, um für alle die Infrastruktur in Ordnung zu halten.
Ein weiterer Punkt, wie Sie sofort relativ problemlos
große Summen einnehmen könnten, wurde am Montag
in einem Fachgespräch der Deutschen Umwelthilfe angesprochen. Sie hat schon 2013 nachgewiesen, dass die
Autohersteller bei den Verbrauchswerten ihrer Automobile systematisch tricksen und täuschen. Es wäre für die
Behörden einfach, die Angaben zum Spritverbrauch zu
kontrollieren und den realistischen Wert festzustellen.
Damit würden erstens die so betrogenen Autofahrerinnen und Autofahrer, die Ihnen angeblich so am Herzen
liegen, vor großem Schaden geschützt - sie müssen
nämlich im Jahr zum Teil zwei-, dreitausend Euro mehr
für Sprit bezahlen, als sie den Angaben des Herstellers
zufolge berechnet haben -; zweitens - das ist ein ganz
wichtiger Punkt - würden 1,4 Milliarden Euro mehr
Steuern eingenommen, weil die Steuerklassen nach
Spritverbrauch festgelegt sind. An dieser Stelle geht es
tatsächlich darum, Gerechtigkeit herzustellen und dafür
zu sorgen, dass alle ihren Beitrag leisten, auch die Automobilkonzerne.
Meine Forderung: Holen Sie das Geld dort, wo es in
unsinnigster Weise ausgegeben wird! Und - ich möchte
mich der Forderung der Kollegen anschließen, auch meines Kollegen Herbert Behrens -: Ziehen Sie diese Maut,
diesen Gesetzentwurf aus dem Verkehr! Ich würde auch
diesen Verkehrsminister aus dem Verkehr ziehen.
Besten Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Sebastian Hartmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Phasenweise war der Debattenverlauf wieder von hoher Emotionalität geprägt - Aufregung, Vorwürfe härtester Art,
sogar der Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit -, dabei
geht es im Kern doch um die Finanzierung der deutschen
Infrastruktur,
({0})
darum, wie man ausreichend Geld für Brücken und Straßen, Bundesautobahnen und Bundesstraßen bereitstellen kann.
({1})
- Herr Hofreiter, warten Sie doch mal ab; dann werden
Sie auch sehen, was wir gleich vorschlagen werden. Wir
werden auch etwas zum Verfahren sagen.
({2})
Die Große Koalition hat sich an verschiedenen Stellen
auf den Weg gemacht, die Infrastrukturfinanzierung auf
andere Füße zu stellen. Tatsächlich geht es um eine Umschaltung von einer Steuerfinanzierung hin zu einer verstärkten Nutzerfinanzierung. Aber das Ziel ist nicht allein der Weg. Wir wollen eine Infrastrukturabgabe, die
keine Mehrbelastung für den deutschen Autofahrer und
die deutsche Autofahrerin darstellt. Diese Infrastruktur8272
abgabe muss EU-rechtskonform sein, und sie muss vor
allen Dingen einen tatsächlichen Finanzierungsbeitrag
leisten.
Es ist kein Geheimnis, dass die Pkw-Maut - oder Infrastrukturabgabe, wie sie heute heißt - kein Herzensanliegen der SPD war und dies auch nicht werden wird.
({3})
Die Gründe der SPD für ihre Zustimmung sind die Fortschritte bei wichtigen Fragen des Arbeitsmarktes - wie
beim Mindestlohn -, bei der Mietpreisbremse, deren
Vereinbarung nun endlich gelungen ist, bei der besseren
Gleichstellung von Mann und Frau und bei der Rente
mit 63, um Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herzustellen.
Wir beraten diesen Gesetzentwurf heute in erster Lesung. Vor uns steht ein langes Verfahren, in dem noch
viele Fragen zu klären sind. Deswegen möchte ich an
den Koalitionsvertrag erinnern:
Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des
Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen
angemessenen Beitrag der Halter von nicht in
Deutschland zugelassenen PKW erheben … mit der
Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland
stärker belastet wird als heute. Die Ausgestaltung
wird EU-rechtskonform erfolgen.
Das ist die Richtschnur des Handelns, und die SPD steht
zu diesem Koalitionsvertrag. Ob die Bedingungen des
Koalitionsvertrages erfüllt sind, wird jedoch erst die Beratung der beiden vorliegenden Gesetzentwürfe zeigen,
für die wir uns ausreichend Zeit nehmen werden, um sie
ordentlich und gut zu machen. Die Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land können sich darauf verlassen,
dass der Koalitionsvertrag Bestand hat und wir keinen
Schnellschuss machen, sondern uns vernünftig mit den
Vorgaben des Koalitionsvertrages auseinandersetzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wir haben als Parlament ausreichend Zeit. Schauen
wir uns doch einmal den Zeitablauf an: Im Januar des
vergangenen Jahres haben wir die neue Bundesregierung
gebildet, im Juli des vergangenen Jahres wurde das erste
Konzept - passenderweise an meinem Geburtstag, am
7. Juli - vorgelegt,
({5})
Ende Oktober gab es den ersten Referentenentwurf, mit
dem die Infrastrukturabgabe im Vergleich zu der Version
im Juli deutlich verändert wurde, und Mitte Dezember
erfolgten dann der Kabinettsbeschluss und die Einbringung des Gesetzentwurfs.
Nun haben wir Februar 2015; es sind 14 Monate ins
Land gegangen. Es gehört auch ein Stück zu unserem
parlamentarischen Selbstverständnis, dass wir uns als
Parlamentarierinnen und Parlamentarier ausreichend
Zeit nehmen, diesen Gesetzentwurf vernünftig zu beraten.
Die Opposition hat bisher allerdings nur wenig Konstruktives beigetragen. Wir werden erst jetzt in die Debatte einsteigen und uns die eingebrachten Vorschläge
anschauen. Wir brauchen aber kein Wahlkampfgetöse,
sondern eine vernünftige Auseinandersetzung mit den
Argumenten, die in die Debatte eingebracht worden
sind.
Wir nehmen die Hinweise des Bundesrates sehr ernst.
({6})
Die Stellungnahme ist umfänglich, und die 23 Punkte,
die dort benannt worden sind, werden im parlamentarischen Verfahren aufzuarbeiten sein. Es wäre sicherlich
zu kurz gedacht, wenn ich sagen würde: Es ist doch
selbstverständlich, dass sich die SPD die Position des
Bundesrates zu eigen macht, da sie in 14 von 16 Bundesländern regiert und in 9 Bundesländern den Regierungschef stellt. Damit ist die Position des Bundesrates automatisch auch die Position der SPD. - Nein, so ist es
nicht. Diese Vorschläge und Anmerkungen enthalten
aber viele Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen
muss.
Warum führen wir eine Infrastrukturabgabe ein? Es
geht tatsächlich um den zusätzlichen Beitrag. Ein wichtiger Hinweis im Zusammenhang mit der Finanzierung
der Infrastruktur ist, dass man sich auch einmal die vorgelegten Gutachten anschauen sollte. Es geht um die
Plausibilität, und ich gebe den Kolleginnen und Kollegen recht: Da es uns in der Diskussion im Kern darum
geht, vernünftige Mittel in ausreichender Höhe zu erheben - 600 Millionen Euro waren die Zielmarke im Juli
des vergangenen Jahres, 500 Millionen Euro sind es
nach dem jetzigen Vorschlag -, müssen wir darauf dringen, dass die Berechnung nachvollziehbar und plausibel
ist und gutachterlich unterlegt wird.
({7})
Nicht nachvollziehen kann ich - das muss ich in aller
Offenheit bekennen -, dass man sich darum einen
Rechtsstreit liefert; denn tatsächlich geht es uns doch darum, einen zusätzlichen Beitrag für die Finanzierung der
Infrastruktur zu erreichen. Daraus sollte man kein
Staatsgeheimnis machen, und es hat auch mit dem parlamentarischen Selbstverständnis zu tun, dass wir das hier
beraten.
Herr Minister, wir waren hier sehr nah bei Ihnen, als
Sie gesagt haben: Nein, man muss die Informationen erst
einmal in das Parlament einbringen, bevor man sie der
Öffentlichkeit mitteilt. - Leider war es aber so, dass es
am vergangenen Wochenende zunächst in den Medien
stand und wir erst danach den Downloadlink erhalten haben. Ich denke, im weiteren Verfahren werden wir uns
mit diesen Gutachten, die nun endlich veröffentlicht sind
und Voraussetzung für die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf sein können und werden, auseinandersetzen.
({8})
Der Bundesrat erwartet in seiner Stellungnahme zu
Recht, dass wir ein rechtssicheres Verfahren anwenden.
Es ist auch in den Raum gestellt worden, dass man aufpassen muss, ob die Belastung eventuell bestehen bleibt,
während die Entlastung plötzlich entfällt. Aus Sicht der
SPD sind die Entlastung durch die Senkung der KfzSteuer und die Belastung durch die entsprechende Einführung einer Nutzerabgabe untrennbar miteinander verbunden.
({9})
Wir verlassen uns auf das Wort des Ministers, dass
das Ganze EU-rechtskonform erfolgt. Die entsprechenden Gutachten sind bekannt. Es ist aus Sicht der SPD
überhaupt kein Problem, die Gesetzentwürfe untrennbar
miteinander zu verbinden, sodass das eine nur mit dem
anderen geht. Das hätte auch den Charme, dass jedem
Kritiker, der die EU-Rechtskonformität infrage stellt, der
Wind aus den Segeln genommen wird, da die Behauptung nicht weiter aufrechterhalten werden könnte, dass
hier etwas getan wird, was die deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer belastet.
({10})
- Herr Krischer, Sie wissen noch gar nicht, ob das so ist.
Wir werden die Gesetzentwürfe erst einmal beraten.
Dann schauen wir, was dabei herausgekommen ist.
Wenn wir die Gesetzentwürfe in der notwendigen Zeit
ausreichend beraten haben, werden wir beschließen. Danach kann man dann schauen, ob das vor irgendeinem
Gericht in Deutschland oder in der EU scheitern könnte.
Das ist die Reihenfolge - und nicht anders.
Da Sie sich so aufregen, möchte ich der Opposition
eines sagen: Sie können sich hier nicht zum Retter der
deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer aufschwingen. Dass Sie das nicht sind, haben Sie hier deutlich bewiesen:
({11})
Sie fordern die vollständige Einführung einer Maut auf
allen Bundesstraßen,
({12})
ohne gleichzeitig die Autofahrerinnen und Autofahrer zu
entlasten.
({13})
Wer das Bürokratiemonster bekämpfen will, kann nicht
alle Straßen bemauten,
({14})
alle Autos fotografieren und dann noch sagen: Das ist
eine bürgerfreundliche Lösung. - So wird es nicht gehen.
({15})
Auch die Linken können es sich an dieser Stelle nicht
so einfach machen. Sie können nicht einerseits den Befund erheben, dass wir zu wenig Geld für die deutsche
Infrastruktur haben, andererseits eine Nutzerabgabe ablehnen und gleichzeitig sagen:
({16})
Wir wollen hier keine Steuern erhöhen. - Übrig bliebe
eine Finanzierung durch Steuern. - Jetzt kann die Frage
gestellt werden.
({17})
- Herr Kauder, wenn Sie erlauben, möchte ich diese eine
Zwischenfrage gerne zulassen.
({18})
Ja, aber ich nicht.
Entschuldigung, Herr Präsident.
Gelegentlich finde ich ja auch statt.
({0})
Da Ihnen offenkundig entgangen ist, dass Ihre Redezeit seit geraumer Zeit vorbei ist, muss ich Ihnen sagen,
dass es nach abgelaufener Redezeit keine Möglichkeit
gibt, Zwischenfragen zuzulassen. Das versuchen wir
beim nächsten Mal.
({1})
Herr Präsident, ich bedaure das und nehme das natürlich hin. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich
freue mich auf die Beratungen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege
Behrens das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dem Vorwurf, dass Vorschläge der Opposition nicht mit Finanzierungsinstrumenten unterlegt sein sollen, hätte man
bereits mit dem Hinweis auf die Diskussionen über den
Haushalt 2015 begegnen können. Genau da haben wir
unsere Vorschläge gemacht, die zeigen, wie Verkehrs8274
politik nachhaltig und ökologisch orientiert finanzierbar
ist. Wenn das nicht zur Kenntnis genommen wird, sondern bei dieser direkten Diskussion über die Pkw-Maut
ausschließlich ein Ja oder Nein gefordert wird - dabei
würden wir Nein sagen -, dann heißt das nicht, dass wir
zur Finanzierung keine Vorschläge gemacht haben.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Valerie Wilms für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste, zahlreich vertreten! Es gibt ja heute auch
eine spannende Debatte. - Was für mich in diesen letzten
Minuten hier im Plenarsaal so erschreckend war, ist,
dass eine kleine Regionalpartei hier mit ausländerfeindlichen Ressentiments Wahlkampf macht und dann in
diese Debatte einen antieuropäischen Grundton hineinbringt. Das haben wir nun ehrlich nicht verdient.
({0})
Das ganze Konzept, das Sie uns hier vorlegen - Sie
brauchen dazu nur einmal in Ihre eigenen Gesetzentwürfe zu schauen -, enthält eine absolute Verknüpfung
zwischen einer Steuersenkung und dem Einführen der
Pkw-Maut. In Ihrem Gesetzentwurf ist explizit von
„Steuersenkung“ die Rede. Damit haben Sie beides automatisch verknüpft. Aber das widerspricht unserer Vorstellung von einem gemeinsamen Europa. So geht das
nicht. Auf dieser populistischen Welle sollten Sie hier im
Parlament nicht reiten.
({1})
Wenigstens gibt es dabei ein wenig Gerechtigkeit:
Herr Dobrindt darf die Suppe, die er sich als Wahlkampfleiter dieser kleinen Regionalpartei aus dem Süden eingebrockt hat, jetzt selbst auslöffeln. Populismus,
werter Herr Dobrindt, macht sich vielleicht gut in Wahlkämpfen. Damit scheitert man aber früher oder später an
der Realität. So wird es auch Ihrer Pkw-Maut ergehen.
({2})
Sie wird vor europäischen Gerichten enden und sozusagen weggeschossen werden. Ihre liebe Parteikollegin
Claudia Schmidt von der ÖVP aus Österreich hat gerade
heute Morgen im Deutschlandfunk ganz deutlich gesagt,
was sie von diesem Unfug hält. Er wird in Europa scheitern.
({3})
Sie können diese CSU-Maut mit Ihrer 80-ProzentMehrheit im Plenarsaal vielleicht durchdrücken. Denn es
ist absehbar, dass Ihre Koalitionspartner CDU und SPD
den ganzen Unfug wohl mittragen werden. Vernünftige
Argumente haben bei diesem Vorhaben ja noch nie gezählt. Hier geht es nur noch darum, wie ein Kleinkind im
Trotzalter den eigenen Willen durchzusetzen - koste es,
was es wolle!
({4})
Es ist schon erstaunlich, dass diese Koalition mit einer Zweidrittelmehrheit hier im Parlament nicht zu mehr
imstande ist. Sie müssten sich dringend um den Erhalt
der Infrastruktur kümmern, und zwar ernsthaft, werter
Herr Dobrindt.
({5})
Da passiert aber nichts. Es gibt nur eine riesige Leerstelle, Schlaglöcher und wegrutschende Brücken. Sie
sind der Ruinen-Minister, Herr Dobrindt.
({6})
Ich habe begründete Zweifel, dass Sie vernünftigen Argumenten überhaupt noch zugänglich sind. Ich werde
Sie damit aber dennoch nicht verschonen. Unsinn muss
auch klar benannt werden.
Um die CSU-Maut vom Wahlkampfhit zum Gesetzentwurf zu machen, haben Sie einige Kapriolen geschlagen. Herausgekommen sind hohe Kosten und Bürokratie. Und bevor überhaupt nur ein einziger Cent
eingenommen wird, werden erst mal kräftig Stellen geschaffen. Es werden Millionen Briefe an Fahrzeughalter
verschickt. Hinzu kommt eine notwendige europaweite
Ausschreibung für das Betreibersystem. Die Einführung
der CSU-Maut wird so allein schon nach Ihrer Rechnung
500 Millionen Euro kosten - verbrannt!
Sie werden außerdem erheblich in Anwälte investieren müssen - das kennen wir ja schon -, falls, wie so oft,
gegen die Ausschreibung geklagt wird. Sie werden
ebenso Anwälte brauchen, um Ihr Machwerk vor dem
Europäischen Gerichtshof zu verteidigen. Wenn Sie mit
all dem tatsächlich einmal durch sind, wird es jährlich
mindestens 200 Millionen Euro kosten. Das ist verdammt viel Aufwand für ein Biertischversprechen, das
Sie durch dieses Hohe Haus bringen wollen. Schade!
({7})
Vielleicht könnte man all das verstehen, wenn man
wüsste, was das Land wirklich davon hat. Aber Sie betreiben da ja eine riesige Vernebelungsmaschine. Wie
Kollege Krischer schon sagte: Wir haben etliche Male
nachgefragt, aber Sie haben uns schlicht und ergreifend
nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben nichts rausgerückt,
obwohl Sie die Zahlen haben. Jetzt haben wir sie endlich, aber dann kriegen wir - man muss sich das mal auf
der Zunge zergehen lassen - einen simplen Dreisatz auf
Basis veralteter Daten, gebastelt in Ihrem Ministerium.
Dann haben Sie sich noch einen Gutachter dazugeholt,
der diese „Mautbubirechnung“ auch noch als korrekt befindet. Dieser Gutachter hat aber auch schon Gutachten
für einen Mautbetreiber angefertigt. Ich frage mich, wie
das ohne Interessenkonflikte gehen soll. So geht es nicht,
Herr Dobrindt!
({8})
Aber dann sagt Ihnen ein weiterer Wissenschaftler
von der tollen Uni Friedrichshafen - die ist wirklich toll -,
nämlich Professor Eisenkopf, der auch in Ihrem wissenschaftlichen Beirat sitzt, dass Ihre Annahmen nicht zutreffen. Die Zahlen müssen also deutlich nach unten korrigiert werden. Wahrscheinlich dürfte das, was der
Gutachter Ratzenberger für den ADAC errechnet hat, die
Realität sein. Denn schauen wir uns doch mal beispielsweise die Prognosen für die Grenzregionen an. Um diese
Regionen zu schonen, wurden explizit die Bundesstraßen bei der Pkw-Maut für Ausländer ausgenommen.
Dennoch gehen Sie in Ihren Berechnungen davon aus,
dass alle Tanktouristen und Einkäufer wie bisher über
die mautpflichtige Autobahn nach Deutschland fahren
und brav die Maut zahlen. Wo leben Sie denn, Herr
Dobrindt?
({9})
Sie kennen doch den Mautausweichverkehr bei den
Lkws. Und hier soll das alles nicht passieren? Erstaunlich! Das ist ein weiterer Baustein, der aus Ihrem brüchigen Machwerk herausfällt und es zur Ruine macht.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Sie erheblich weniger einnehmen werden. Und wenn eintrifft, was der
ADAC voraussagt, nämlich dass das ein Minusgeschäft
ist, dann wäre das wirklich der völlige Aberwitz. Dann
hätte man jahrelange Streitereien, Gerichtsverfahren am
Hals, und man würde auch noch draufzahlen.
Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise zum
Ende kommen?
Ich komme zum Ende, werter Herr Präsident. - Damit
macht sich die Bundesregierung völlig lächerlich. So befeuern Sie den Politikfrust. Denn hier geht es nur noch
um die Gesichtswahrung für den Ruinen-Minister
Dobrindt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, beseitigen Sie die
Ruine Pkw-Maut schnellstens, bevor sie eingeweiht werden kann! Einstürzen wird sie hinterher sowieso.
Danke.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Philipp Murmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Natürlich ist die Infrastruktur eines unserer wichtigsten Themen. Man muss
immer wieder feststellen: Für den Mittelstand ist die Infrastruktur so etwas wie der Blutkreislauf, der das Funktionieren unserer vielen kleinen Unternehmen gewährleistet, die eben nicht alle auf engem Raum konzentriert,
sondern in vielen unterschiedlichen Regionen unserer
Republik angesiedelt sind. Um das Ganze am Laufen zu
halten, ist es eine unserer wichtigsten politischen Aufgaben, für die Infrastruktur mehr zu tun.
Ich denke, die Initiative unseres Bundesministers ist
genau der richtige Weg, um eine neue Möglichkeit der
Finanzierung auf die Beine zu stellen. Sie beinhaltet natürlich auch einen finanzpolitischen Teil, nämlich das
mit einem schönen Namen versehene sogenannte Zweite
Verkehrsteueränderungsgesetz, das auf der einen Seite
die Grundlage für die Infrastrukturabgabe bildet, auf der
anderen Seite aber natürlich auch eine Entlastung der
Kfz-Halter beinhaltet, die ihr Fahrzeug in Deutschland
angemeldet haben.
({0})
Das sind zum Teil auch Kfz von ausländischen Bürgern.
Insofern ist es absolut falsch, von Ausländerhetze zu reden.
({1})
Diesen Vorwurf müssen wir natürlich deutlich zurückweisen.
Darüber hinaus gibt es noch einen anderen wesentlichen Punkt, nämlich die Zweckgebundenheit. Da Sie immer auf die CSU schimpfen, möchte ich den Grünen
auch einmal sagen: Wenn Sie sich Ihre eigene Fraktion
einmal anschauen, dann werden Sie feststellen, dass
diese nur ein kleines bisschen größer als die Landesgruppe der CSU ist,
({2})
die hier sitzt. Die CSU hat es immerhin über viele Jahre
geschafft hat, ein Bundesland zu regieren.
({3})
Das sollte Ihnen ein bisschen Respekt abnötigen. Sie
sollten hier nicht nur rumtrompeten.
({4})
Jetzt kommen wir wieder zum Thema zurück. Es geht
darum, eine zweckgebundene zusätzliche Finanzierung
von Infrastruktur hinzubekommen. Das Zweite Verkehrsteueränderungsgesetz soll verhindern, dass eine
Doppelbelastung entsteht. Es soll natürlich auch einige
technische Änderungen geben. Deswegen, Kollege
Hartmann und Kollegin Wilms: Eine Reduzierung der
Kfz-Steuer kommt nur dann zustande, wenn auch die Infrastrukturabgabe erfolgt. Es gibt also eine direkte Verbindung. Insofern kann man da gar nicht die Sorge haben, dass, wenn das eine nicht käme, das andere dennoch
käme. Das ist in dem Gesetz so vorgesehen. Wenn Sie
sich das durchlesen, dann werden Sie feststellen, dass
wir gemeinsam dafür gesorgt haben, dass das dann auch
so umgesetzt wird.
Es sind eben auch noch einige technische Änderungen in diesem Gesetz vorgesehen, die daraus resultieren,
dass ja inzwischen der Zoll für das Eintreiben und die
Verwaltung der Kfz-Steuer zuständig ist und nicht mehr
die Steuerverwaltungen der Länder. Diese technischen
Änderungen wollen wir natürlich auch umsetzen. Insofern ist uns schon daran gelegen, dieses Verkehrsteueränderungsgesetz auf den Weg zu bringen. - Das war
ein langer Satz.
({5})
Ich denke, es ist notwendig, dass wir auf diesen Punkt
noch einmal hinweisen.
Jetzt kommen wir zu den Aspekten, die hier immer
genannt werden und die zum Inhalt haben, dass das europarechtlich ziemlich kritisch sei usw., dass da die Ausländer diskriminiert würden. Wenn Sie sich das genau
anschauen, dann stellen Sie fest, dass natürlich im Wesentlichen die Deutschen zur Finanzierung der Infrastrukturkosten herangezogen werden. Die Ausländer
werden nur einen ganz kleinen Teil der Kosten tragen.
Bei den Lkws ist das heute schon so, und bei den Pkws
wird das in Zukunft auch so sein.
In meinem Heimatland Schleswig-Holstein betrifft
das die A7. Sie ist sozusagen die Kernader des Verkehrs
von Norden nach Süden. Sie muss jetzt von vier auf
sechs und zum Teil auch auf acht Spuren erweitert werden. Das ist nicht nur deshalb notwendig, weil wir
Schleswig-Holsteiner so viel fahren, sondern im Wesentlichen auch, weil wir natürlich ein hohes Verkehrsaufkommen an Pkws haben, die von den nordischen Ländern nach Süden fahren. Insofern ist es doch absolut in
Ordnung und fair, diese nun, wenn auch nur zu einem
kleinen Teil, an den Kosten der Infrastruktur zu beteiligen.
Das Ganze kostet 1,80 Euro pro 100 Kubikzentimeter, wenn Sie einen Benziner haben, der nach Euro 6 zugelassen ist. Das heißt, wir haben das auch an den CO2Ausstoß gekoppelt. Wenn man sich überlegt, dass für einen Hubraum von 100 Kubikzentimeter - das entspricht
etwa dem Volumen einer Streichholzschachtel 1,80 Euro pro Jahr zu entrichten sind, dann würde ich
einmal sagen, dass man darüber nicht stöhnen kann.
Auch für Ausländer ist das sicherlich verkraftbar. Da
kommen dann bei einem Polo pro Jahr 21,60 Euro heraus. Das ist genau der Betrag, der dann bei der KfzSteuer wieder abgezogen wird. Insofern ist das für die
Kfz, die in Deutschland zugelassen sind, eine Eins-zueins-Regelung, die aus meiner Sicht absolut fair und in
Ordnung ist.
Die Kritik an den Kosten ist natürlich ein Teil der
Diskussion. Natürlich kostet es am Anfang der Umstellung. Im Finanzbereich sind das etwa 77 Millionen Euro
über die ersten drei Jahre,
({6})
die sich im Wesentlichen daraus ableiten - lassen Sie
mich einmal zu Ende reden! -, dass wir natürlich eine IT
einführen müssen, dass wir entsprechend der Anzahl der
Kfz circa 43,5 Millionen Bescheide verschicken müssen.
Das kostet am Anfang Geld, ist aber im Wesentlichen
eine Einmalausgabe. Über die Strecke gesehen sind es
dann relativ kleine Beträge, die da noch anfallen. Insofern glaube ich, dass die Kritik an den Kosten nicht
wirklich standhält
({7})
und dass auf jeden Fall das positive Element, in eine nutzerfinanzierte Infrastrukturfinanzierung einzusteigen,
bei Weitem überwiegt.
({8})
Wenn ich das noch zum Schluss sagen darf:
({9})
Wir bekommen natürlich auch die Chance, über die Infrastrukturabgabe zusätzliche Projekte zu generieren. Ich
habe schon die A 7 erwähnt. Das ist ein ÖPP-Projekt.
({10})
- Klar, es hat auch ÖPP-Projekte gegeben, die nicht so
erfolgreich waren,
({11})
aber es hat eben auch einige gegeben, die waren sehr erfolgreich. Ich glaube, an denen sollten wir uns orientieren. Es ist eben auch eine Chance für institutionelle Anleger ({12})
wir haben ja, wie wir alle wissen, eine Niedrigzinsphase -,
zusätzliche Projekte zu finanzieren und damit Einnahmen zu generieren.
Der Kritikpunkt, der da lautet „Warum sollte der Staat
denn jetzt bei niedrigen Zinsen ÖPP-Projekte auf den
Weg bringen?“, greift natürlich zu kurz, weil uns die Betreiber damit auch komplett das Risiko abnehmen.
({13})
Wenn Sie sich das A-7-Projekt angucken, dann wissen Sie: Da gibt es einen Betreiber, da gibt es einen
Finanzierer, und da gibt es einen Planer. Die tragen am
Ende das Risiko, denn die werden nur dann bezahlt,
wenn sie eine qualitativ hochwertige Straße bei uns abliefern. Das ist ein wesentlicher Vorteil solcher Systeme.
({14})
Diese Finanzierungsform können Sie für solche Projekte
nur generieren, wenn Sie eben auch den entsprechenden
Cashflow haben.
Auch insofern bin ich der Meinung, dass die Nutzerfinanzierung für die Infrastruktur eine echte Chance bietet. Ich bitte Sie, dieses Vorhaben mit zu unterstützen,
auch wenn es der kleinen grünen Partei an der einen oder
anderen Stelle vielleicht schwerfällt. Ich glaube, dass es
wichtig ist, dass wir in solch ein neues Finanzierungsmodell eintreten. Sorgen Sie mit dafür, dass die Verkehrsinfrastruktur insbesondere für unseren Mittelstand
({15})
weiterhin in einem sehr guten Zustand bleibt!
Vielen Dank.
({16})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Andreas
Schwarz das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor
vielen Jahren sagte ein Schatzmeister über die Einnahmengenerierung seiner Partei - ich zitiere -:
Wenn rauskommt, wie was reinkommt, komme ich
wo rein, wo ich nicht mehr rauskomme.
Es ist nicht überliefert, über welche Sanktion im zweiten
Teil des Zitats konkret gesprochen wird. Gehen wir einmal davon aus, dass sich der Zitierte in einer vertrackten
Situation wähnt.
In einer vertrackten Situation befindet sich anscheinend manchmal auch unser Verkehrsminister, wenn es
um dieses Thema Maut geht.
({0})
Aus welchen Gründen auch immer: Die Basis der Einnahmekalkulation sollte partout nicht veröffentlicht werden. Erst als es nicht mehr ging und ein Gerichtsurteil
dazu vorlag, wurden die Zahlen veröffentlicht.
({1})
Das war das Gegenteil von Transparenz. Das muss man
hier auch kritisch anmerken.
({2})
Diese Geheimniskrämerei war kontraproduktiv und
hat das Vertrauen in das CSU-Projekt Maut bzw. Infrastrukturabgabe erst einmal nicht gestärkt. Ich bin froh,
dass endlich die Stunde des Parlaments schlägt, das Gesetz eingebracht wird und wir jetzt in die Beratung gehen. Da gibt es aus Sicht meiner Partei sicherlich noch
einiges zu klären.
Das bevorstehende Gesetzgebungsverfahren bietet
die Chance, im Sinne der Öffentlichkeit für Aufklärung
und Klarstellung zu sorgen. Meine Fraktionskollegen
Sören Bartol und Sebastian Hartmann haben ja bereits
überzeugend dargelegt, was hier aus Sicht der Verkehrspolitiker durch das Parlament noch aufzuarbeiten ist.
Sie gestatten mir, als Finanzpolitiker noch drei Punkte
zu ergänzen:
Erstens, zur Evaluation. In der Begründung zum
Gesetzentwurf zur Kfz-Steuer lesen wir unter 5. - ich
zitiere -:
Zwei Jahre nach Einführung … sind die tatsächlichen Auswirkungen auf den Personalaufwand … zu
evaluieren.
Der Gesetzentwurf soll laut Zeitplan zum 1. Januar
2016 in Kraft treten. Das heißt, eine Evaluation würde
erst zum 1. Januar 2018 erfolgen. Da bleibt doch die
Frage erlaubt: Warum nicht schon nach einem Jahr?
({3})
Man fürchtet doch nicht etwa eine Auswertung bereits
im Wahljahr 2017? Darüber sollten wir noch einmal gemeinsam reden.
({4})
Zweitens, die Bundeszollverwaltung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Zoll leisten hervorragende
Arbeit. Das stellen wir in diesem Hohen Hause sicherlich fraktionsübergreifend fest. Berichte belegen aber,
dass die Übertragung des Einzugs der Kfz-Steuer von
den Landesbehörden auf die Bundeszollverwaltung zurzeit noch nicht reibungslos verläuft. Das bedeutet mehr
Personalaufwand, weil die Korrektur manuell erfolgen
muss. Wir müssen deshalb die Arbeitsbelastung in der
Zollverwaltung, die sich seit Jahresbeginn zusätzlich um
die Überwachung des Mindestlohns kümmern muss,
noch einmal genau in den Blick nehmen.
Der im Gesetzentwurf dargelegte Erfüllungsaufwand
der Verwaltung muss also nochmals intensiv auf seine
Praxistauglichkeit geprüft werden. Zum Beispiel sieht
der Gesetzentwurf für den Anruf beim Sorgentelefon der
Zollverwaltung bei Fragen zur neuen Kfz-Steuer eine
durchschnittliche Gesprächsdauer von fünf Minuten vor.
Das wirkt nicht besonders realitätsnah und bürgerfreundlich, senkt aber die Verwaltungskosten auf dem Papier.
Es muss klipp und klar sichergestellt werden, dass die
Zollämter mit genügend Personal ausgestattet sind und
die Software störungsfrei läuft.
({5})
Sehr geehrter Kollege Dr. Murmann, wir waren uns
gestern in unserem Berichterstattergespräch sofort darüber einig, dass wir die Zollgewerkschaft zur Anhörung
einladen wollen, um zu erfahren, wo der Schuh drückt
und was die Politik gegebenenfalls noch leisten muss.
Das Funktionieren und die Akzeptanz der Infrastrukturabgabe hängen nämlich entscheidend davon ab, ob die
Erstattung für inländische Autofahrerinnen und Autofahrer über die Kfz-Steuer tatsächlich funktioniert.
({6})
Drittens. Wer innerhalb eines Jahres überhaupt nicht
auf Bundesstraßen oder Autobahnen unterwegs war, soll
die Gebühr zurückerstattet bekommen. Das kann aber
das Führen eines Fahrtenbuchs notwendig machen. Das
klingt alles sehr bürokratisch und auch wenig verbraucher- und bürgerfreundlich. Wir wollen schließlich kein
Bürokratiemonster schaffen.
({7})
Wir müssen deshalb gemeinsam an einer praktikableren
Lösung im Sinne der Betroffenen arbeiten.
({8})
Ich komme zum Schluss. Eine Belastung für die inländischen Autofahrerinnen und Autofahrer schließt der
Koalitionsvertrag klipp und klar aus. An diesem Versprechen wird nicht gerüttelt.
({9})
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sehr genau darauf
achten, dass es auch dabei bleibt.
Wir freuen uns auf konstruktive Beratungen in den
parlamentarischen Gremien. Diese würden in Zukunft
sicherlich noch reibungsloser verlaufen, wenn das Parlament wichtige Informationen zum Gesetzesvorhaben vor
der Bild-Zeitung erhält.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Großen Koalition ist der Vorwurf gemacht worden, dass es einen Stillstand in der Verkehrspolitik gibt. Mitnichten! Sehen Sie sich allein den Verkehrshaushalt an! Zu Beginn der Legislaturperiode
umfasste der Verkehrshaushalt 10 Milliarden Euro an Investitionen. Zum Ende dieser Legislaturperiode werden
sie bei 13,4 Milliarden Euro liegen. Das ist ein Aufwuchs um mehr als 3 Milliarden Euro. Der Großteil davon wird in die Straße gehen.
Für den Verkehrshaushalt insgesamt ist in dieser Legislaturperiode ein Aufwuchs um 5 Milliarden Euro vorgesehen. Mit Einführung der Lkw-Maut für alle Bundesstraßen im Jahr 2018 werden es 8,2 Milliarden Euro sein.
Das entspricht in etwa dem Betrag, der laut Daehre und
Bodewig notwendig ist, damit der Bund die Instandhaltung sowie Ausbau und Neubau der Straßeninfrastruktur
finanzieren kann.
({0})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen, ist das kein Stillstand, sondern eine
massive Fortentwicklung der Verkehrspolitik in der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Frau Kollegin Leidig, Sie meinen, dass die 500 Millionen Euro, die die Pkw-Maut einbringen soll, nichts
seien. Warten wir doch bitte ab! Da der Kollege Bartol
und der Kollege Schwarz kein Blatt vor den Mund genommen haben, sehe ich mich veranlasst, auf Folgendes
hinzuweisen: Welche Zahlen von der SPD geisterten
denn herum, als es um die Frage ging, wie viel der Mindestlohn einbringen wird? Frau Schwesig ging damals
von 4 Milliarden Euro aus. Ausweislich eines Antrags
der SPD aus dem Jahr 2011 waren es dann noch 1 Milliarde Euro mehr an Steuereinnahmen und 1 Milliarde
Euro mehr an Sozialbeiträgen. Kollege Schwarz, wenn
wir über Erfüllungsaufwände sprechen, dann ist festzustellen, dass es heutzutage beim Zoll 1 600 Stellen mehr
gibt. So viel dazu.
({2})
Frau Kollegin Leidig, 500 Millionen Euro jährlich
reichen zur Ausfinanzierung des Brückensanierungsprogramms. Ich will Ihnen einmal sagen, wie teuer Brückensanierung mittlerweile ist. In vielen Fällen wird es
sich nicht um eine Sanierung, sondern um Ersatzneubauten handeln. Der Kostenpunkt einer Brücke über die
Müritz in Mecklenburg-Vorpommern, gebaut im Jahr
1970 - solche Brücken sind auch für Westdeutschland
typisch -, liegt bei 500 000 Euro für die Umsiedlung der
Fledermäuse - mittlerweile scheinen diese Tiere umgesiedelt zu sein, weil man im neuen Fledermausturm Kot
gefunden hat - und bei 32 Millionen Euro für die Sanierung. So viel kostet eine sicherlich nicht kleine Autobahnbrücke im Osten Deutschlands. Von dieser lassen
sich Dutzende in ganz Deutschland finden. Deswegen
sind zusätzliche Einnahmen in Höhe von 500 Millionen
Euro im Rahmen der Nutzerfinanzierung keine Peanuts,
sondern sie sind notwendig, um die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland zu erhalten und auszubauen.
({3})
Herr Kollege Rehberg, darf der Kollege Thomas
Lutze eine Zwischenfrage stellen?
Bitte.
Bitte schön.
Sehr geehrter Kollege Rehberg, wir reden hier von
der Pkw-Maut. Sie reden nun von Brückensanierungen.
Ist Ihnen bekannt, dass ein 40 Tonnen schwerer Lkw ungefähr die 60 000-fache Belastung eines Pkw hat?
({0})
Herr Kollege, das ist mir bekannt. Aber ist Ihnen bekannt, dass die Autofahrer in Deutschland insgesamt
53 Milliarden Euro aufbringen? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass nur aufgrund der Lkw-Maut Nutzer aus dem
Ausland zum Erhalt und Ausbau des deutschen Straßenverkehrsnetzes massiv beitragen?
({0})
Ich halte es für solidarisch und gerecht, dass diejenigen,
die mit Pkw unsere Straßen nutzen und nichts zu deren
Erhalt beitragen, einen Beitrag leisten; denn nach meiner
Meinung werden die privaten Pkw-Nutzer aus Deutschland schon genug zur Kasse gebeten.
({1})
Nun kann man an dem Konstrukt Zweifel haben;
diese wurden auch mit Hinweis auf das EU-Recht, das
Verfassungsrecht und die Bund-Länder-Beziehungen
dargelegt. Ich frage mich nur, welches Vertrauen und Zutrauen manche in die Bundesregierung haben.
({2})
Es handelt sich nicht um einen Gesetzentwurf des Bundesverkehrsministeriums, sondern um einen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ob das EU-Recht eingehalten wird, wird im Wirtschaftsministerium geprüft. Ob
das Verfassungsrecht eingehalten wird, wird nach meiner Kenntnis im Innenministerium geprüft. Die Einhaltung der Rechtsförmigkeit wird im Bundesjustizministerium geprüft. Wer nun aber meint, alle Einwendungen
des Bundesrates seien gerechtfertigt, sollte sich selber
fragen, was für ein Zutrauen er in die Prüfung der Einhaltung der Rechtsförmigkeit und des EU-Rechts durch
die Ressorts hat.
({3})
- Herr Kollege, dass im Zweifel das Bundesverfassungsgericht oder europäische Gerichtshöfe entscheiden, ist
mir klar. Aber ich weise mit allem Nachdruck darauf hin,
dass es sich hier nicht um einen Gesetzentwurf von
Alexander Dobrindt, sondern um einen Gesetzentwurf
der Bundesregierung handelt.
({4})
Das sollte sich der eine oder andere vor Augen führen,
wenn er so viele Zweifel hat.
Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkung
zu Nutzerfinanzierung und Steuerrecht machen. Ich weiß
gar nicht, was einige gegen eine Nutzerfinanzierung haben.
({5})
Der Juncker-Investmentfonds baut komplett auf dem
Prinzip der Nutzerfinanzierung auf. Wie groß war das
Erschrecken bei einigen, als sie gemerkt haben, dass es
sich um nutzerfinanzierte ÖPP-Projekte handelt. Da
wurde die Begeisterung etwas geringer.
Schauen Sie sich an, was als erste Meldung aus der
sogenannten Gabriel-Kommission kommt. Da wird von
regionalen Infrastrukturfonds geredet, da wird von Bürgerfonds geredet, da wird über eine Autobahninfrastrukturgesellschaft geredet, teilweise, klar, renditefinanziert,
aber zum großen Teil nutzerfinanziert. Deswegen sollten
wir, wie ich glaube, auch wenn ich die Entwicklung in
der Europäischen Union sehe, unser Augenmerk verstärkt auf die Nutzerfinanzierung legen. Wir werden uns
darüber beim Thema Wasserstraßen und auch bei anderen Bereichen unterhalten müssen.
Ich warne vor einem: Wer meint, dass wir unsere KfzSteuer in Deutschland nicht eigenständig gestalten sollten, der gibt die nationale Steuerhoheit auf. Ich warne
deswegen dringend davor, weil wir in anderen Fragen
- ich will die jetzt nicht ansprechen - gegenwärtig in
Brüssel sehr stark darauf pochen, dass wir bei der nationalen Steuerhoheit im europäischen Rahmen Ermessensspielräume haben.
({6})
Lassen Sie mich ganz zum Schluss eine persönliche
Bemerkung machen. Ich habe lange die Haltung meiner
Kolleginnen und Kollegen aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zum Thema Infrastrukturabgabe nicht
verstanden, bis ich im April letzten Jahres zum ersten
Mal in Südtirol war - danach habe ich sie verstanden;
ich komme aus dem Norden Deutschlands -: Wenn du
dich dort im Süden überhaupt nur bewegen willst, dann
löhnst du jeden Tag. Das heißt, du löhnst in Österreich
für die Vignette, für den Tunnel; und du löhnst in Italien;
du löhnst, wenn du nach Tschechien oder in die Slowakei reist; überall musst du löhnen.
({7})
Das sind wir im Norden Deutschlands nicht gewöhnt.
Wenn man dann die Kennzeichen auf bayrischen Autobahnen sieht, dann hat man ein bisschen Verständnis für
die Menschen in Bayern und Baden-Württemberg.
({8})
Lassen Sie mich zum Abschluss als Norddeutscher
sagen: Man sollte gelegentlich die Kirchturmpolitik sein
lassen und sich die gesamtdeutsche Brille aufsetzen.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Kirsten Lühmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wir haben heute in der Debatte genauso viel Lob wie
Kritik über die geplante Infrastrukturabgabe gehört. Es
war von einem Paradigmenwechsel die Rede, es war von
Murks die Rede; aber ich glaube, dass das bei einem
Projekt, das in der Politik und in der Öffentlichkeit so
viele Kontroversen auslöst, ganz normal ist.
Worüber reden wir? Die Infrastruktur in Deutschland
muss finanziert werden und benötigt ausreichende Mittel. Die Koalition hat in den vier Jahren, in denen sie regieren wird, 5 Milliarden Euro zusätzlich dafür zur Verfügung gestellt. Aber wir alle kennen das BodewigGutachten, das besagt, dass das nicht ausreicht. Wir
brauchen einen weiteren Aufwuchs. Wir haben nie behauptet, dass dies mit der Infrastrukturabgabe oder einer
Pkw-Maut, wie man das landläufig so nennt, ausreichend gelingen kann. Sie ist nur ein Baustein.
({0})
Wirkliche Einnahmen versprechen wir uns erst von
der Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen.
({1})
Einen ersten Schritt dazu machen wir heute Abend.
Wir werden in einem Gesetz die Ausweitung der LkwMaut auf weitere 1 100 Kilometer Bundesstraßen und
die Ausdehnung der Mautpflicht auf Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 7,5 Tonnen auf den
parlamentarischen Weg bringen.
({2})
Der nächste Schritt wird die Ausweitung der LkwMaut auf alle Bundesstraßen sein.
({3})
Diese im Koalitionsvertrag vereinbarten Schritte der
Nutzerfinanzierung werden die Mittel für die Infrastrukturverbesserung dauerhaft jährlich um gut 2 Milliarden
Euro erhöhen, und das ist dringend erforderlich.
({4})
Dies, meine Herren und Damen, ist eine wichtige und
spürbare Maßnahme zum Erhalt und Ausbau unseres
Straßennetzes. Zudem ist diese Maßnahme sachgerecht,
da sie Fahrzeuge, die die Straßen überproportional schädigen, auch stärker zur Kasse bittet als andere. Die Maut
wird streckenbezogen erhoben. Das heißt, wer viel fährt,
zahlt auch viel. Das ist gerecht, und das wird von den betroffenen Fahrzeughaltenden, übrigens den inländischen
wie den ausländischen, auch akzeptiert.
Im Koalitionsvertrag haben wir die Nutzerfinanzierung durch eine Pkw-Maut vereinbart, die nicht unser
Herzensanliegen ist. Aber: Eine Koalition geht man ein,
um für die eigenen Vorstellungen parlamentarische
Mehrheiten zu bekommen. Man schreibt Gemeinsames
fest und sucht Kompromisse für den Rest. Das ist im
Bund so wie in den Ländern und wie in den Kommunen.
Ich denke, liebe Kollegen und Kolleginnen, die Grünen
in Hessen hätten sich vor der Wahl auch nicht vorstellen
können, dass sie einmal dem Weiterbau der A 44 zustimmen werden.
({5})
Wir haben in den Koalitionsvertrag Kriterien für die
Pkw-Maut festgeschrieben, und wir werden den heute
eingebrachten Gesetzentwurf daran messen. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Zweckbindung der Mittel. Auch
dies ist ein Grund für die hohe Akzeptanz der LkwMaut. Die Einnahmen sind zweckgebunden und werden
von der VIFG, der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, verwaltet - transparent und unter parlamentarischer Kontrolle. Daher werden wir diese Gesellschaft
und ihr erfahrenes Personal mit der Verwaltung weiterer
Gelder beauftragen. Auch der steuerfinanzierte Straßenbau kann durch die VIFG organisiert werden. Mehr
Transparenz bedeutet mehr Fähigkeit zur Steuerung
durch das Parlament und mehr Akzeptanz bei den Menschen, die die Steuern und Abgaben dafür aufbringen.
({6})
Ein offener Punkt bei der Pkw-Maut ist auch die Europarechtstauglichkeit. Wir gehen davon aus, dass der
Gesetzentwurf mit dem Europarecht vereinbar sein
kann.
({7})
Die neue EU-Verkehrskommissarin Bulc hat bei ihrem
Besuch im Verkehrsausschuss allerdings unmissverständlich erklärt, dass sie dieses Gesetz erst prüfen kann
und wird, wenn es verabschiedet ist. Alles andere wäre
aus ihrer Sicht auch Stückwerk. Einen Entwurf vor einem parlamentarischen Verfahren zu beurteilen, wäre
unvollständig.
Wir alle kennen nun die Zahlen und Berechnungen,
die dem Gesetzentwurf zugrunde liegen, aber erst seit
wenigen Tagen. Was Fachabteilungen im Verkehrsministerium erarbeitet und was Fachleute nachgerechnet haben, können wir nicht in wenigen Tagen auf Plausibilität
prüfen. Das wird Teil des parlamentarischen Verfahrens
sein. Wir werden dort intensiv darüber beraten, ob die
Annahmen über die Zahlen, zum Beispiel über die
Menge der Geschäftsreisenden ohne Übernachtung, oder
die Hochrechnungen älterer Verkehrszählungen auf heutige Verhältnisse schlüssig sind.
Nun wissen wir aber alle: „Prognosen sind schwierig,
besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“
({8})
Dieser kritische Ausspruch wird einem Naturwissenschaftler, dem dänischen Physiker Niels Bohr, zugeschrieben, also einem Mann, der sich mit exakten Berechnungen auskannte. Wenn man seit Jahren die
Berichterstattung zur Pkw-Maut in den Medien verfolgt
hat, musste man eigentlich den Eindruck gewinnen, dass
dazu bereits alles gesagt sei. In dieser Debatte ist uns jedoch das Gegenteil gezeigt worden. Gehen wir also mit
Ruhe und Sorgfalt das Thema an. Vor uns liegen noch intensive und arbeitsreiche Wochen, bevor die Pkw-Maut
hier in diesem Hause verabschiedet wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ja, heute ist durchaus ein entscheidender Tag für die
deutsche Verkehrspolitik. Wir kommen einen guten
Schritt weiter bei der Neuausrichtung unserer Finanzierungssysteme.
({0})
Wir kommen einen Schritt weiter von einer reinen Steuerfinanzierung hin zu einer Nutzerfinanzierung nach einem ganz einfachen und simplen Prinzip: Wer unsere
Straßen nutzt, der soll dafür zahlen. Das ist gerecht und
einfach. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen
- davon haben wir heute schon viel gehört -: Wer die
Straßen zu einem großen Teil kaputtmacht, nämlich der
Lkw, soll für die Reparaturkosten aufkommen.
Wir haben ein erprobtes, bewährtes System der LkwMaut. Wir werden die Auseinandersetzung damit heute
Abend vertiefen und das System erweitern. Wir werden
2018 auf allen Bundesstraßen die Lkw-Maut einführen.
({1})
Das zeigt: Wir bewegen uns Schritt für Schritt - das ist
ja ein politischer Langstreckenlauf und kein Sprint - hin
zu einer soliden Nutzerfinanzierung, mit der wir dann
planen können, die Projekte absichern können, zukunftssichere Investitionslinien bekommen. Genau diesen Systemwechsel vollziehen wir auch heute mit der Beratung
über die Infrastrukturabgabe.
({2})
Die Rahmenbedingungen sind klar abgesteckt, liebe
Kolleginnen und Kollegen sowohl der Koalition wie der
Opposition, die daran so zweifeln: keine Mehrbelastung
und konform mit dem EU-Recht.
({3})
Genau das erfüllen die Gesetzentwürfe, die wir jetzt auf
dem Tisch haben.
Seien wir doch mal ehrlich! Wir diskutieren dieses
Thema schon sehr lange. Wer hätte vor einem Jahr darauf gewettet, wer hätte auch nur eine Kurzzeitvignette
von 10 Euro gewettet, dass uns Minister Dobrindt einen
entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen wird? Ich weiß
doch, was hier überall gesagt worden ist: Kommt nicht;
geht nicht; kann gar nicht sein. - Und jetzt diskutieren
wir hier über den entsprechenden Gesetzentwurf. Ich
kann nur sagen: Beharrlichkeit, Zähigkeit, Fleiß bei der
Arbeit zahlen sich aus, und dann liegen auch die entsprechenden Gesetzentwürfe auf dem Tisch. Herzlichen
Dank auch mal an den Minister, der das durchgestanden
hat!
({4})
Kaum ein Entwurf ist doch in der Öffentlichkeit bereits im Vorfeld so viel diskutiert worden
({5})
wie der jetzige. Ich denke selber an viele Diskussionsrunden. Das, was nach den Eckpunkten an Kritik kam,
hat man aufgenommen. Man hat sich in der Phase zwischen Eckpunkten und Gesetzentwurf auch im Detail mit
vielen Fragen auseinandergesetzt, und diese sind bereits
heute zufriedenstellend gelöst.
({6})
Ich nenne nur das Problem „kleine Grenzverkehre“, die
Stichworte „Grenzregionen“, „Ausweichverkehre“.
Auch dafür gibt es Lösungen, die im Gesetz vorgesehen
sind: sehr flexibel nachzujustieren. Wer über Mautausweichverkehre redet, der sollte sich „2018“ abspeichern.
Wenn überall gezahlt wird, gibt es keinen Ausweichverkehr. Auch das muss einfach mal klar gesagt werden.
({7})
Liebe Kollegin Wilms, ausländerfeindlich oder sonst
irgendetwas ist diese Infrastrukturabgabe sicher nicht.
({8})
Sie ist sehr wohl europäisch und mit dem europäischen
Gedanken vereinbar. Sie entspricht dem, was die EUKommission selber fordert. Man sollte also da die Kirche im Dorf lassen
({9})
und nicht solche Dinge immer wieder behaupten; sie
werden dadurch nicht richtiger.
({10})
- Ich mache jetzt den Schluss, und dann ist es abgerundet.
Es gibt in vielen europäischen Ländern Mautsysteme,
und sie haben das europäische Haus nicht ins Wanken
gebracht. Ich kann nur, wenn Österreich hier heute angesprochen wird, sagen: Die sollen doch selber ihre Hausaufgaben machen. Ich sage nur: Felbertauern. Das war
diskriminierend gegenüber allen anderen. Österreich diskriminiert und nimmt den Mund voll. So geht es natürlich auch nicht.
({11})
Noch ein Punkt - Kollege Rehberg hat das schon angesprochen -: Kein Gesetzentwurf ist so lange vorberaten worden, nachgewiesen durch Gutachten.
({12})
Er war in der Ressortabstimmung.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das BMJ als Verfassungsressort hat sich natürlich mit diesem Gesetzentwurf auseinandergesetzt.
({14})
Wir haben die Fragen gelöst, die beim Datenschutz
strittig waren. Ich erinnere mich noch ganz genau daran.
Jetzt haben wir maximalen Datenschutz.
({15})
Liebe Kollegen von den Grünen, das ist halt einfach so
was von unglaubwürdig! Erst zu sagen: „streckenbezogen, zeitbezogen, stadtbezogen, verkehrsbezogen“ - für
alles müssen Daten erfasst werden; so würde Ihre Maut
ausschauen -,
({16})
und dann zu sagen: „Wir sind aber Datenschützer; Datenschutz ist Leitlinie grüner Politik“, das ist verlogen,
das ist unehrlich, und das sollten Sie dann auch hier
nicht tun.
({17})
Gleiches gilt, wenn es um Brückensanierungen geht.
Ich habe gerade etwas aus Rheinland-Pfalz gelesen. Da
schreiben die Grünen: „Neue Brücken über den Rhein,
ob bei Bingen … oder in anderen Orten, lehnen wir ab.“
Sie können sich doch jetzt nicht hier hinstellen, über Sanierung und Neubau von Brücken reden, und dann vor
Ort die Brücken wieder ablehnen. So macht man nicht
seriös Politik.
({18})
Die Einnahmen sind solide kalkuliert, solide gerechnet.
Was das liebe Geld angeht, sage ich allen Dauerkritikern: Nur die Vorschläge in Richtung Mehrbelastung der
Deutschen als ausschließlichen Ansatz zu sehen - ich
sage nur: Schlaglochsoli; Ostern letzten Jahres, Abzocker Albig, Erhöhung der Mineralölsteuer -, trifft die
Menschen auf dem Land, die mit dem Auto zur Arbeit
fahren müssen. Solche Vorschläge machen wir nicht mit,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({19})
Keine Mehrbelastung heißt auch keinen Schlaglochsoli
und keine Erhöhung der Mineralölsteuer, um das einmal
in aller Deutlichkeit zu sagen.
({20})
Es liegt ein bereits ausführlich diskutierter Gesetzentwurf, Herr Präsident, auf dem Tisch.
Apropos ausführlich diskutiert: Die Redezeit ist abgelaufen.
Ja. - Das sage ich zügig ({0})
ich denke, unser Gesetzentwurf wird nach guter Beratung genauso zügig durch das Parlament gehen -: Wir
brauchen den Systemwechsel von der Steuer- zur Nutzerfinanzierung. Wir brauchen eine solide Finanzierung
unserer Verkehrsprojekte. Wir brauchen Mehreinnahmen, ohne deutsche Steuerzahler weiter zu belasten.
Jetzt sollten wir uns in zügigen Beratungen ein gutes Gelingen wünschen.
Herzlichen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention Frau Dr. Wilms, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Werter Kollege Lange,
lieber Uli, was du bezüglich der Ausländermaut gesagt
hast, kann ich so nicht stehen lassen. Ich zitiere Ihre
werte Parteikollegin, Claudia Schmidt, von der ÖVP in
Österreich, die heute Morgen gesagt hat: Das Mautkonzept, das nur ausländische Fahrer in Deutschland belasten soll, sei „auf jeden Fall eine Diskriminierung“. Das
sind die Fakten. In Österreich zahlen alle. Sie wollen die
Maut nur die Ausländer zahlen lassen. Das ist die saubere Diskriminierung, die Sie hier machen. Das wird Ihnen der EuGH links und rechts um die Ohren schlagen.
Kollege Lange möchte noch kurz erwidern.
Liebe Kollegin Wilms, in Deutschland zahlen auch
alle. Klar. Es zahlen alle. Bloß wir zahlen nicht mehr.
({0})
Ich muss der guten Kollegin der ÖVP, so sehr es mir
leidtut, widersprechen. Ich sage nur: Causa Felbertauern.
Da gab es eine Befreiung für die Inländer, und wir Ausländer haben alle sauber gezahlt. Das hat die Kommission aufgedeckt. Deswegen: Wer im Glashaus sitzt,
sollte nicht mit Steinen werfen. Sie sollten sich genauer
informieren.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 18/3990 und 18/3991 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss ({0}), Frank Heinrich
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer ({2}),
Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung global
gestalten - Post 2015-Agenda auf den Weg
bringen
Drucksache 18/4088
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Eine Agenda für den Wandel zu nachhaltiger
Entwicklung weltweit - Die deutsche Position
für die Verhandlungen über die Post 2015Agenda für nachhaltige Entwicklung
Drucksache 18/3604
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Armut und soziale Ungleichheit weltweit
überwinden, natürliche Grundlagen bewahren
Drucksache 18/4091
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsident Peter Hintze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das sehe ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner Bundesminister Dr. Gerd Müller für die Bundesregierung das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke
Ihnen allen, auch den Verkehrspolitikern und den Fraktionspolitikern, die hier bleiben, aber ganz besonders
meinen Freunden in den Fraktionen der CDU/CSU und
SPD für diese wichtige Debatte.
Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin? Das ist
die Grundsatzfrage, die sich jeder stellen muss, der die
Zukunftsfähigkeit unserer Politik bewertet und der gestaltet. Richten wir doch mal einen kurzen Blick auf die
Erdgeschichte, meine Damen und Herren, liebe junge
Zuhörer: Schon vor Milliarden von Jahren bestand dieses Sonnensystem. Auf unserem Planeten, der Erde, spazierten nicht wir, sondern Dinosaurier über den Kontinent und zwischen den Kontinenten,
({0})
durch die Regenwälder, von Amerika nach Europa.
Liebe Claudia Roth, es gab Eiszeiten, es gab Dürreperioden, es gab Naturkatastrophen gewaltigen Ausmaßes,
({1})
und das alles, bevor es die Grünen und uns Menschen
überhaupt gab. Warum sage ich das? Ich sage das, um
uns Menschen einzuordnen. Wir Menschen nehmen uns
sehr wichtig, vielleicht zu wichtig. Verkürzt man die
Erdgeschichte auf 24 Stunden, so tritt der Mensch, also
wir, erst in den letzten fünf Minuten auf diesen Planeten.
So kurz ist das Menschenzeitalter, das Anthropozän, wie
es Nobelpreisträger Paul Crutzen nennt.
Wir Menschen hinterlassen aber einen gewaltigen
ökologischen Fußabdruck, auch die Verkehrspolitiker.
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen:
Wenn man die weltweit pro Jahr verkauften Plastikwasserflaschen, die zumindest für uns in Deutschland eigentlich nicht notwendig sind - wir können Wasser aus
dem Glas oder direkt aus dem Hahn trinken -, aneinanderreiht, dann kommt man 50-mal zum Mond. Wir hinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck, ja,
wir haben das Potenzial, die Erde an den Rand der
Apokalypse zu führen.
Da ist zum einen die gewaltige Explosion der Weltbevölkerung. In Zeiten Jesu lebten Hundert Millionen
Menschen auf dem Planeten, auf der gesamten Erde. Vor
gut 200 Jahren, zu Zeiten Goethes, lebte 1 Milliarde
Menschen. Heute sind es 7,5 Milliarden Menschen.
Heute, am 26. Februar 2015, reden wir hier im Deutschen Bundestag nicht nur über die Maut, sondern es
kommen auch 230 000 Menschen auf unserem Planeten
hinzu. Sie wollen essen, sie wollen trinken, und sie wollen in Würde leben. Das sind mehr als 80 Millionen
Menschen im Jahr. Die Bevölkerung Afrikas wird sich
verdoppeln. Alle diese Menschen haben einen legitimen
Anspruch auf ein Leben in Würde, in Frieden, ohne
Hunger - weltweit, in Afrika und Europa, in Syrien und
im Sudan, die Flüchtlingskinder in den Flüchtlingslagern
in den Krisen- und Kriegsgebieten im und um den Irak.
Wir leben heute in einer Welt. Das Denken „erste
Welt, zweite Welt, dritte Welt“ ist im Zeitalter der Globalisierung ein Denken von gestern. Denn jeder kann
jedem schaden. Nur gemeinsam können wir die Überlebensfragen der Menschheit lösen: Frieden schaffen
durch Abrüstung und Reduzierung des ABC-Waffenpotenzials - ich sage das als Entwicklungsminister ganz
bewusst; das Thema ist in den vergangenen Jahrzehnten
etwas beiseitegerutscht -, die Schöpfung erhalten - von
der Arktis bis zum Regenwald -, Ernährung, Gesundheit, Energie für alle schaffen, ein Leben in Würde ermöglichen.
In diesem Jahr, dem sogenannten Entwicklungsjahr
2015, werden in der Weltgemeinschaft wichtige Entscheidungen fallen: beim G-7-Gipfel in Elmau, beim
Klimagipfel in Paris, beim Entwicklungsfinanzierungstreffen in Addis Abeba, beim UN-Gipfel in New York.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um nicht weniger und um nicht mehr als um
einen neuen Weltzukunftsvertrag, eine neue Partnerschaft, die wir für die Völker der Erde vereinbaren. Dabei stellt sich die Frage der globalen Gerechtigkeit
ebenso wie die neue Frage der weltsozialen Verteilung.
Gleiche Rechte für alle Weltbürger - darüber sollten wir
uns einmal über diese Debatte hinaus unterhalten. Oder
darüber: Wer erhält wie viel vom Kuchen der Erdtafel?
Wenn heute die reichsten 100 Menschen auf der Erde
- Oxfam sagt, die reichsten 85 Menschen -, also so
viele, wie auf der Besuchertribüne sitzen, genauso viel
besitzen wie die 3,5 Milliarden ärmsten Menschen, die
Hälfte der Menschheit, und wir, die reichen Industriestaaten, die G 7, die nicht einmal 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, 80 Prozent der Ressourcen des
Planeten Erde beanspruchen, dann ist klar: Wir haben
ein Gerechtigkeits- und ein Verteilungsproblem. Die
Antwort kann nicht ein „Weiter so“ sein, sondern muss
„Globalisierung“ heißen. Der Markt braucht Regeln,
Grenzen, soziale und ökologische Vorgaben.
({2})
Das sind spannende Fragen und Prozesse, die über die
Tagespolitik hinausgehen. Wir müssen aber diese Fragen
und Prozesse, welche über die Zukunft des Planeten und
der Menschheit entscheiden, gestalten.
Meine Damen und Herren, die Probleme und Zusammenhänge sind global. Sie sind schwierig, aber lösbar.
Deutschland leistet einen entscheidenden Beitrag im
Rahmen der G-7-Präsidentschaft. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine ehrgeizige Agenda erstellt
und geht entschlossen voraus. Das macht sie neben allen
tagespolitischen Herausforderungen. Ich habe großen
Respekt vor der Bundeskanzlerin, dass sie sich auch diesen grundsätzlichen Themen stellt und hier ihre Verantwortung in der Weltgemeinschaft zeigt.
Deutschland geht in Europa voran. Das geschieht mit
einer hier verabschiedeten Nachhaltigkeitsagenda, beim
Klimaschutz mit der Finanzierung des Green Climate
Fund, im Gesundheitsbereich mit der Finanzierung des
GAVI-Fonds sowie in der Entwicklungszusammenarbeit. Wir gestalten die internationalen Prozesse in
Freundschaft und Partnerschaft. Vielen Dank, Frau Kollegin Umweltministerin Hendricks. Ein gemeinsamer
Auftritt der Bundesregierung in internationalen Gremien
führt zum Erfolg.
Im UN-Prozess wurden jetzt 17 Weltentwicklungsziele formuliert. Die Fraktionen haben das in ihren Anträgen dargelegt und dazu Stellung genommen. Wir werden dies natürlich in die Beratungen aufnehmen. Dies ist
ein Entwicklungspfad in die Zukunft. Wichtig ist mir
bzw. uns, dass wir unsere Kernbotschaften aus diesen
17 Zielen entwickeln und dass die Ziele und Unterziele
konkret messbar und überprüfbar sind. Das ist etwas
Neues gegenüber den Millenniums- und Nachhaltigkeitszielen.
Zukünftig müssen alle über das Erreichte oder Nichterreichte Rechenschaft ablegen. Nur dann werden die
nachhaltigen Entwicklungsziele ein wirklicher Zukunftsvertrag, mit dem man Politik gestalten, vorantreiben und
die Welt verändern kann; denn Messbares kann man einfordern. Das ist gerade für die Zivilgesellschaften - ich
bedanke mich bei der deutschen Zivilgesellschaft sehr
für die großartige Unterstützung und Beteiligung - sehr
wertvoll. Auch Deutschland wird sich messen lassen
müssen. Auch wir werden noch mehr gefordert sein,
meine Damen und Herren. Darüber wird hier im Bundestag entschieden. Es wird darüber entschieden, ob wir
es schaffen, die Ziele in nationale Politik umzusetzen, ob
uns Budgets und Gesetze unserem Ziel näherbringen und
ob wir unsere Finanzzusagen gegenüber den Entwicklungsländern einhalten. Alle Politikbereiche sind tangiert: Umwelt-, Entwicklungs-, Wirtschafts-, Außenwirtschafts-, Handels-, Agrar- und Energiepolitik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke
den Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag. Über
alle Fraktionsgrenzen hinweg hat die Entwicklungspolitik in dieser Zeit durch Sie einen neuen Stellenwert bekommen. Meine Damen und Herren, Frau Kofler, Frau
Pfeiffer, wir reden nicht nur, wir handeln auch. Unsere
Initiativen zeigen auch Wirkung. Frau Roth wird nachher gleich die Frage stellen: Was passiert konkret?
({3})
Deshalb erkläre ich Ihnen anhand einiger weniger
Punkte, was konkret zur Problemlösung in Deutschland
und darüber hinaus unser Beitrag ist.
Unsere Initiativen zeigen Wirkung. „EINEWELT
ohne Hunger“ schafft Zukunft für die Landwirtschaft in
Afrika. Ich habe elf neue Innovationszentren in Partnerländern Afrikas auf den Weg gebracht. 500 Millionen
Kinder konnten auch aufgrund des deutschen Beitrags in
den vergangenen zehn Jahren gegen Tuberkulose und
Kinderlähmung geimpft werden. Auch Aids wurde bekämpft. Vor drei Wochen haben wir hier in Deutschland
eine Finanzierungszusagevereinbarung mit der Weltgemeinschaft, mit vielen Gebern abgeschlossen: Zusätzlich
300 Millionen Kinder werden in den nächsten zehn Jahren gegen Krankheiten und Seuchen geimpft bzw. immunisiert werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir starten
eine neue Berufsbildungsoffensive. Darüber werden wir
mit den Fraktionen und dem deutschen Handwerk noch
diskutieren. Ich habe gestern mit dem Handwerkspräsidenten darüber gesprochen. Wir haben uns per Handschlag das Versprechen gegeben, mit dem deutschen
Handwerk für die Jugend in den Kriegs- und Krisengebieten und mit der Jugend in Afrika Ausbildungspartnerschaften zu schließen und berufliche Bildung zu einem
neuen, verstärkten Schwerpunkt zu machen. Wir entwickeln außerdem ein neues Infrastrukturprogramm - ich
werde es im Rahmen der Haushaltsberatungen vorstellen -, um Flüchtlingen in und um Syrien - dort allein
gibt es 15 Millionen Flüchtlinge - und in der Ukraine zu
Hause, in ihren Ländern eine Lebensperspektive zu geben. Wir müssen dort mehr Verantwortung übernehmen.
({4})
- Danke schön. - Deshalb freue ich mich, dass die Europäische Union - was viele nicht geglaubt haben - meiner
Forderung nachgekommen ist und diese Initiativen mit
einer Sondermilliarde aus Brüssel unterstützt. Das kann
der Einstieg in eine Neukonzeption des europäischen
Engagements sein.
Wir in Deutschland können all die anstehenden Herausforderungen nicht alleine bewältigen. Deshalb ist
dieser neue Weltzukunftsvertrag - so nenne ich ihn; in
Kennerkreisen ist er bekannt als „Post-2015-Agenda“ so wichtig. Es geht um eine Welt in Balance, es geht um
fairen Handel - nicht um freien Handel -, und es geht
um eine faire Partnerschaft zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Dabei lautet unsere Generationenaufgabe: die Reichtümer unserer Erde teilen,
damit alle Menschen ein Leben in Würde führen können,
und ihre Begrenzungen respektieren, damit künftigen
Generationen, der Jugend, ein Leben auf diesem Planeten möglich bleibt.
Die Herausforderungen sind lösbar. Nutzen wir unsere Möglichkeiten! Unsere Kinder werden uns daran
messen.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Welt diskutiert über eine neue
globale Agenda für nachhaltige Entwicklung, und das ist
auch bitter nötig; denn wir leben in einer Welt, in der die
Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher
werden. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden,
wenn wir ernsthaft globale soziale Gerechtigkeit erreichen wollen.
({0})
Die Oxfam-Studie vom letzten Jahr wurde vielfach
zitiert. Auch ich möchte noch einmal die Zahlen nennen.
Demzufolge hat sich das Vermögen der 85 reichsten
Menschen weltweit in den letzten fünf Jahren verdoppelt
und entspricht damit dem gesamten Vermögen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung. Der Grund dafür liegt in
diesem herrschenden Wirtschafts- und Finanzsystem.
Der Papst hat dies in einem einfachen, aber klaren Satz
ausgedrückt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Deshalb kann es
in dieser Wirtschafts- und Finanzpolitik kein Weiter-so
geben.
({1})
Wir fordern von der Bundesregierung im Rahmen der
Agenda, den Kampf gegen die weltweite soziale Ungleichheit zwischen Staaten und auch innerhalb unserer
eigenen Gesellschaft zu einem zentralen Ziel der neuen
Entwicklungsagenda zu machen. Ich sage ausdrücklich:
Ein klares Bekenntnis von der Bundesregierung dazu
fehlt mir bisher.
Herr Minister Müller, mit Blick nach Bayern kann ich
nur sagen: Dumpfe Sprüche wie „Wir sind nicht das
Weltsozialamt“ von Ministerpräsident Seehofer - dieser
Spruch ist übrigens auch von der NPD plakatiert worden sind der Diskussion über die globale Agenda abträglich.
Das muss doch ein Schlag in Ihre Magengrube gewesen
sein. Wir lehnen solche Sprüche ab.
({2})
Es muss nicht nur die Armut bekämpft werden, sondern auch der extreme Reichtum. Die enorme Konzentration von Eigentum und wirtschaftlicher Macht gefährdet Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Politik für
die Interessen der Reichen setzt sich praktisch automatisch fort. Um das zu ändern, brauchen wir unabdingbar
ein gerechtes Steuersystem, das endlich die Reichen hier
in Deutschland, in Europa und weltweit massiv besteuert
und Steuerflucht weltweit konsequent bekämpft.
({3})
Die Bundesregierung hat sich mit der Aussage, keinerlei Steuererhöhungen vorzunehmen und keine Vermögens- bzw. Reichensteuer einzuführen, gegen diese
soziale Umverteilung gestellt und diesem Anspruch eine
Absage erteilt, und das bei 12,5 Millionen armen Menschen in Deutschland und weltweit über 1 Milliarde
Menschen, die in Armut leben. Das ist in meinen Augen
ein völlig falsches Signal. Damit nehmen Sie hinsichtlich der neuen Agenda für nachhaltige Entwicklung
keine Vorreiterrolle ein.
({4})
Wie sehen die realen politischen Entscheidungen aus?
Wir diskutieren über viele Papiere - das ist auch wichtig -,
aber wie sieht es konkret aus? Es werden doch politisch
Fakten geschaffen, die den hehren Zielen der neuen
Agenda eigentlich zuwiderlaufen. Ein Beispiel: Auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos trafen sich im Januar
Vertreter der reichsten Wirtschaftsnationen. Auch die
Bundesregierung war mit Merkel, Gabriel und Schäuble
präsent. Dort waren die Nachhaltigkeitsziele eigentlich
überhaupt gar kein Thema. Es ging um die Ausweitung
der Profitzone, insbesondere um die Ausweitung des
schädlichen Freihandels, der zu mehr Armut und nicht
zu mehr Entwicklung beiträgt. Vor allem Sigmar Gabriel
hat dort für TTIP geworben und gesagt, dass er dieses
Abkommen vorantreiben will.
Herr Müller, Ihr Ministerium hat eine Studie in Auftrag gegeben, die zu dem Ergebnis kam, dass ausgerechnet TTIP, also die Freihandelszone, die unsere Standards
bedroht, die die Arbeitsbedingungen weltweit verschlechtern wird, die mehr Konkurrenz bedeutet, die die
öffentliche Daseinsvorsorge insgesamt bedroht, die die
Demokratie in Europa und in den USA fundamental bedroht, ein Segen für die Länder des Südens sein soll. Es
wurde sogar formuliert, TTIP könne der Keim für ein
neues, faires Welthandelssystem sein. Dazu kann ich nur
sagen: Das ist Wahnsinn. TTIP wird in keiner Weise zu
einem fairen Welthandelssystem beitragen. TTIP muss
gestoppt werden. Das ist der beste Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung.
({5})
Es gibt viele Studien, die belegen, dass TTIP auch für
die Länder des Südens zu massiven Nachteilen führen
wird. Deswegen kann ich nur sagen: Geben Sie einmal
eine neue Studie in Auftrag bei einem Institut, das vielleicht ein bisschen seriöser arbeitet.
Wir fragen uns natürlich auch: Was bedeuten die Diskussionen über eine nachhaltige Entwicklung für die
derzeitige Außen- und Verteidigungspolitik? Will die
NATO allen Ernstes nun eine neue Aufrüstungsspirale in
Gang setzen? Alle NATO-Staaten wurden aufgefordert,
2 Prozent des BIP, also des jährlichen Bruttoinlandsprodukts, für das Militär aufzuwenden. 2 Prozent des BIP
wären in Deutschland 52 Milliarden Euro. Dabei haben
wir es bis heute nicht geschafft, 0,7 Prozent des BIP, also
weniger als die Hälfte von diesen 2 Prozent, pro Jahr für
Entwicklungshilfe auszugeben. Das ist doch ein Wahnsinn!
Wir setzen uns dafür ein, dass diese Aufrüstungsspirale und diese Diskussion über eine neue Kriegspolitik der NATO in Europa und international beendet werden. Wir brauchen endlich konkrete Abrüstungsziele, die
in die globale Agenda für die Finanzierung von Entwicklungshilfe und Klimaschutz aufgenommen werden.
({6})
Wir haben konkrete Vorschläge unterbreitet. Darüber
wurde bereits in der Zeit der Wirtschaftskrise, 2008/2009,
diskutiert. Damals wurde gesagt: Wir können so nicht
mehr weitermachen; wir brauchen grundlegende Reformen der Finanzmärkte und unseres Wirtschaftssystems;
wir brauchen Regulierung. Selbst Angela Merkel hat
sich für einen Weltwirtschaftsrat eingesetzt, der von der
Stiglitz-Kommission vorgeschlagen wurde. Davon ist
jetzt überhaupt nicht mehr die Rede. Alles geht genau so
weiter wie bisher, was zu mehr Armut beiträgt. Deshalb
fordern wir, die Idee eines Weltwirtschaftsrates wieder
aufzugreifen. Wir fordern auch, dass die UN demokratisiert werden; denn wenn wir wollen, dass die globalen
Ziele für alle gelten, dann müssen auch alle Staaten
gleichberechtigt entscheiden können. Diese Demokratisierung ist mit Blick auf eine weltweite Agenda überfällig.
Weil Frau Hendricks nach mir sprechen wird, sage ich
zum Schluss: Wir fordern auch, dass bei den Vereinten
Nationen eine Art Kompensationsfonds zur Klimafinanzierung eingerichtet wird. Wir wollen nämlich nicht,
dass der Umgang mit klimafreundlicher Technologie
nach wie vor der Logik des Profitstrebens folgt. Wir
wollen, dass es einen Kompensationsfonds gibt, über
den solche Technologien solidarisch den Ländern des
Südens umsonst zur Verfügung gestellt werden, weil die
Rettung des Planeten und damit die Klimaschutzpolitik
über dem Profitstreben stehen muss.
({7})
Deshalb - mein letzter Satz - braucht es zusätzliches
Geld für die Klimaschutz- und Anpassungsfinanzierung.
Wir haben den Green Climate Fund, aber wir wollen,
dass es auch zusätzliches Geld für die Klimaschutzfinanzierung gibt.
({8})
Es darf nicht verrechnet werden, schon gar nicht mit den
Geldern für die Entwicklung. Soziale Entwicklungen
und der Schutz des Planeten dürfen nicht gegeneinander
aufgerechnet werden.
Danke.
({9})
Die Regeln der Mathematik wurden etwas verletzt,
weil sich die letzten Sätze zum Schluss etwas häuften
und die Zeit abgelaufen war. Aber wir haben Oppositionsmilde walten lassen.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort für die
Bundesregierung Bundesministerin Dr. Barbara
Hendricks.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
brauchen ein globales Entwicklungsmodell, das neben
den ökonomischen und sozialen Chancen auch die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde respektiert und
ins Blickfeld nimmt. Es liegt an uns, heute die Grundlagen dafür zu schaffen, dass auch die kommenden Generationen Wohlstand und Sicherheit in der Weise erleben
können, wie wir sie heute für uns in Anspruch nehmen.
Mit den vorgeschlagenen weltweit gültigen Nachhaltigkeitszielen können wir den globalen Umwelt-, Klimaund Ressourcenschutz spürbar voranbringen.
Wir alle müssen uns dafür einsetzen, den Wandel zu
einem wesentlich nachhaltigeren Wirtschaften weltweit
zu beschleunigen. Das gilt zuallererst für uns selbst hier
in Deutschland. Wir müssen die Post-2015-Agenda mit
Entschlossenheit umsetzen. Nur wenn wir bei Umweltschutz und Nachhaltigkeit mit Bestimmtheit vorangehen, werden uns auch andere folgen.
({0})
Wenn wir diese Vorreiterrolle ausfüllen, dann kann unsere konsequente Umweltpolitik die Basis für dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg sein. Aus dem internationalen Klimaprozess sollten wir gelernt haben, dass die
Welt solche Vorreiter braucht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammen mit
Bundesminister Gerd Müller - ja, wir arbeiten wirklich
gut zusammen; das gilt natürlich für sein ganzes Haus engagiert sich mein Haus dafür, dass beim UNO-Gipfel
der Staats- und Regierungschefs im September dieses
Jahres in New York eine ambitionierte Post-2015Agenda für nachhaltige Entwicklung beschlossen wird.
({1})
Diese Agenda soll der Welt neuen Rückenwind für den
Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung geben, die
ihren Namen verdient. Dazu gehört der weltweite Kampf
gegen Hunger und Armut sowie für ein friedliches Miteinander.
Der Wandel muss alle Länder umfassen, die Schwellen- und Entwicklungsländer genauso wie die Industrieländer. Auch Deutschland muss sich daher zur Erreichung der Ziele der Agenda bekennen und national seine
Beiträge leisten. Die Vereinten Nationen haben einen
Katalog mit 17 Nachhaltigkeitszielen, den sogenannten
Sustainable Development Goals - in internationalen Zusammenhängen gibt es ja immer Abkürzungen; es sind
die sogenannten SDGs -, vorgelegt. Dieser Katalog ist
ein klares Bekenntnis zur weltweiten Verbesserung der
Lebensbedingungen und zum Schutz natürlicher Ressourcen in einer universell anwendbaren Agenda. Es ist
gelungen, einen Konsens zu erreichen, der weit über die
Millenniumsziele, die bisher noch Gültigkeit haben, hinausgeht und wichtige neue Herausforderungen wie Ressourceneffizienz und umweltverträgliches Wirtschaften
aufgreift. Auch das Rechtsstaatsprinzip konnte durchgesetzt werden, übrigens mit der Unterstützung Chinas.
Ich will ausdrücklich hervorheben, dass China in den
Verhandlungen eine wichtige Rolle gespielt und wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich einige kritische
Stimmen am Ende eben nicht durchsetzen konnten. Es
ist wichtig, dass China und die anderen großen Schwellenländer auch im weiteren Prozess eine konstruktive
Rolle spielen. Nur wenn China und Indien, die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Welt, hinter dem Zielkatalog stehen, kann der globale Wandel gelingen.
({2})
Mit beiden Ländern hat die Bundesregierung eine besonders intensive bilaterale Kooperation in Schlüsselbereichen der Agenda. Das Aufholtempo in beiden Ländern
ist durchaus beeindruckend.
Für den weiteren Prozess gilt es, das Ambitionsniveau
zu halten und eine Neuverhandlung des Katalogs zu vermeiden. Umweltschutz muss neben Wirtschafts- und Sozialpolitik ein gleichberechtigter Teil der Post-2015Agenda bleiben; nur dann können die drei Dimensionen
nachhaltiger Entwicklung ausbalanciert werden. Wir haben uns vorgenommen, die Agenda in politische Hauptbotschaften zusammenzufassen; das wird dann der Kommunikation dienen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist erkennbar,
dass einige Staaten einseitig auf wirtschaftliches Wachstum und Armutsbekämpfung Wert legen. Der Umweltschutz darf aber nicht wieder auf der Strecke bleiben wie
zuletzt im Jahr 2000 bei den Millenniumsentwicklungszielen.
Die Industriestaaten müssen sich selbst in die Pflicht
nehmen. Wir wollen die Lebensbedingungen aller Menschen verbessern. Entsprechend muss herausgestellt
werden, welcher Beitrag zur Armutsreduzierung und zur
Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen geleistet
werden kann.
Das Thema „nachhaltiger Konsum und nachhaltige
Produktion“ ist ein wesentliches Element, da es im Kern
darum gehen muss, mit weniger eben mehr zu produzieren. Wir wollen ein inklusives Wirtschaftswachstum erreichen, mit möglichst hoher Ressourceneffizienz. Das
führt zu neuen Geschäftsmöglichkeiten, die Innovationen fördern. Aber auch Chemikalien- und Abfallmanagement, eine Erhöhung des Anteils nachhaltiger
Produkte und Dienstleistungen, Konsumenteninformationen und soziale Unternehmensverantwortung sind
weitere Ansätze, die in diesem Zusammenhang Berücksichtigung finden sollen.
Wenn wir etwas für die nachhaltige Entwicklung tun
wollen, müssen wir bei der wirtschaftlichen und sozialen
Entwicklung immer auch die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde im Blick behalten und dürfen sie nicht
weiter überschreiten. Deshalb müssen die OECD-Staaten - also auch wir - ihren Lebensstil so verändern, dass
er bei weltweiter Anwendung die Umweltbelastungsgrenzen der Erde nicht verletzt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist
schon weit gekommen, darf sich aber nicht zurücklehnen. Bei der Umsetzung der Agenda können wir zeigen,
dass sich Deutschland seiner internationalen Bedeutung
für eine nachhaltige Entwicklung bewusst ist und sich
dieser Verantwortung stellt. National müssen auch wir
dazu beitragen, dass „business as usual“ überwunden
wird. Wir starten dabei zum Glück auf hohem Niveau.
In einem Beschluss hat das Bundeskabinett Bereiche
festgelegt, in denen Deutschland einen besonderen Beitrag leisten will, unter anderem mit der Energiewende
und mit dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm,
dem sogenannten ProgRess. Mit der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir ein gutes Instrument, das wir
für die Umsetzung der globalen Ziele der Agenda nutzen
werden. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass sich
alle Akteure und Ebenen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in Deutschland die
neuen Ziele tatsächlich zu eigen machen und Anstrengungen unternehmen, sie zu erreichen.
({4})
Die Bundesregierung ist dazu bereit.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
großen Krisen überragen und überschatten mehr und
mehr die Fragen der globalen Zusammenarbeit.
Amnesty International und Wolfgang Ischinger sprechen
fast im Gleichklang - das passiert wirklich nicht oft vom Zeitalter des Zerfalls unserer Weltordnung. Bei den
Menschen herrschen Ratlosigkeit, Entsetzen, Trauer angesichts des Leidens und der Gewalt in der Ukraine, angesichts von inzwischen über 57 Millionen Flüchtlingen
- die größte Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg -, aber
auch angesichts des Terrors, der uns immer näher rückt.
Erscheint es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
nicht auch merkwürdig angesichts dieser humanitären
Tragödien und Katastrophen, wenn wir nun über furchtbar komplizierte internationale Prozesse reden mit diesen furchtbar komplizierten Begriffen und Abkürzungen,
die außerhalb der Welt von AwZ, BMZ und GIZ keiner
Claudia Roth ({0})
kennt, wenn wir über die Post-2015-Agenda reden, über
SDGs, über eine ODA-Reform, über den TOSD? Mich
wundert es auf alle Fälle nicht, wenn kaum jemand versteht, worum es eigentlich geht - nicht in der Bevölkerung, nicht im Parlament und leider offenbar auch nicht
in der Bundesregierung. Die Debatte, sie ist viel zu virtuell, sie ist viel zu fachlich, und sie ist vor allem unpolitisch geworden. Das müssen wir ändern!
({1})
Die Debatte erreicht nicht die Köpfe der Menschen und
auch nicht ihre Herzen. Sie muss raus aus diesem Elfenbeinturm; denn es geht nicht um einen Expertendiskurs,
sondern um unsere Verantwortung für die Zukunft des
Planeten und für die Lebenssituation der Menschen.
({2})
Dabei müssen zwei Entwicklungen im Mittelpunkt
stehen: der menschgemachte Umwelt- und Klimakollaps
und die rasant zunehmende globale soziale Ungleichheit.
Gerd Müller hat es gesagt: Es muss uns alle erschrecken,
dass die 80 reichsten Menschen auf der Welt inzwischen
so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der
Weltbevölkerung. 80 Menschen besitzen mehr als
3,5 Milliarden Menschen.
70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern, in
denen die soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat.
Deshalb kann es uns doch nicht wundern, dass viele versuchen, in anderen Ländern für sich und ihre Kinder eine
Perspektive und Zukunft zu finden.
({3})
Was große Migrationsbewegungen - sie sind bei den
57 Millionen Flüchtlingen gar nicht mitgezählt - angeht:
Das sind in der Zwischenzeit Umwelt- und Klimaflüchtlinge. Die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit und
die Bekämpfung der Klimakrise sind heute also die allerwichtigsten Menschheitsaufgaben.
({4})
Ein nachhaltiges und gerechtes Entwicklungsmodell für
die ganze Welt ist deshalb eine Überlebensfrage und vorausschauende Friedenspolitik.
Die globalen Nachhaltigkeitsziele sind keine abstrakte Größe, möglichst ganz weit weg von uns und nur
etwas für die vermeintlichen Entwicklungsländer, also
die Fortsetzung der Millenniumsziele. Nein, sie nehmen
uns alle in die Pflicht und bestimmen unser Leben im
Hier und Jetzt: wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften,
wie wir konsumieren, wie wir leben. Hier kommt es auf
die gesamte Bundesregierung an, die Chance, die es in
diesem Jahr der Entscheidungen gibt, zu ergreifen.
({5})
Es geht schlichtweg um die Frage, ob es den politischen Willen für eine nachhaltige Gesellschaft gibt, die
sich vom Verbrauch fossiler Rohstoffe entkoppelt und
umweltschädliche Subventionen abbaut. Es geht um ehrliche und verbindliche Zusagen zur Entwicklungs- und
Klimafinanzierung und um völkerrechtlich bindende Regeln und bindende Überprüfungsmechanismen in der
Klima- und Gerechtigkeitspolitik. Das sind die Eckpunkte, an denen wir Sie, werte Bundesregierung, messen werden.
({6})
Ich habe mir den Antrag der Koalition angeschaut. Er
ist genau in dem vorhin beschriebenen Sound geschrieben: so abstrakt, so virtuell und so wahnsinnig weit weg
von uns. Das reicht eben nicht aus. Es braucht weitaus
mehr. Der Erfolg der Verhandlungen hängt doch nicht
von schönen Texten und Technokraten ab, sondern davon, dass sich hier bei uns, in der deutschen Politik, etwas ändert.
({7})
Wir müssen auch und gerade die Umsetzung der
Nachhaltigkeitsziele bei uns gewährleisten. Das sind
Ziele, die uns in Deutschland betreffen. Es geht um bezahlbare und nachhaltige Energie, es geht um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, es geht um menschenwürdige Arbeit, es geht um belastbare Infrastruktur, es
geht um die Verringerung von Ungleichheit, es geht um
Geschlechter- und Gendergerechtigkeit, es geht um die
Bekämpfung des Klimawandels und der Klimakrise. Das
muss hier bei uns, vor unserer Haustür, beginnen.
({8})
In der UNO wird gerade ein Entwicklungsprogramm
verhandelt, das bis 2030 bindend sein wird und auch für
uns in Deutschland gilt, weil wir in vielen Bereichen
eben auch eine Art Entwicklungsland sind. Ich habe aber
nicht den Eindruck, dass das in der gesamten Regierung
angekommen ist oder von ihr geteilt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Entwicklungsausschuss,
warum haben Ihren Antrag eigentlich nicht auch die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses, des Verteidigungsausschusses, des Haushaltsauschusses und des Finanzausschusses mitgezeichnet?
({9})
Erleben wir hier nicht eine Art „Hü und Hott“ statt
„Hü oder Hott“ - Klima, aber doch die Kohle; fairer
Handel, aber doch TTIP; Frieden schaffen, aber doch
enttabuisierte Rüstungsexporte, wie es Frau von der
Leyen fordert? Oder geht es wirklich um Kohärenz,
sprich: um eine ganzheitliche und glaubwürdige Politik?
Sie tun so, als hätte das eine rein gar nichts mit dem
anderen zu tun. Ich sage: Beam me up, Scotty, raus in die
ungeahnten Weiten der Technokratie, die weit weg sind
von der eigenen Politik! Aber wenn nicht Deutschland
als eines der allerreichsten Länder zum globalen Vorreiter wird, dann wird es mit der Nachhaltigkeitsagenda
schwierig. Mit der G-7-Präsidentschaft hat Deutschland
die Möglichkeit, den internationalen Prozess zu prägen
und die größten Industrieländer der Welt auf eine ge8290
Claudia Roth ({10})
meinsame Agenda für den sozial-ökologischen Umbau
einzuschwören. Also: klare Finanzierungsversprechen
auf dem Treffen in Addis Abeba - Entwicklungsfinanzierung ist Klimapolitik -, ein Ende der fossilen Subventionen und der Subventionen für die Agroindustrie.
Nur wenn diese Vorleistungen in die Verhandlungen
eingehen, nur wenn diese Vorleistungen von uns erbracht werden, dann können wir von den G-77-Ländern,
von den Industrieländern und von den Schwellenländern
einfordern, auch ihren notwendigen Beitrag zu leisten:
({11})
den Abbau von Korruption, den Aufbau von gerechten
Steuersystemen und die Umverteilung von Reichtum.
Frau Merkel hat jetzt die Chance, zu zeigen, was
mehr Verantwortung Deutschlands für die Welt wirklich
heißt. Dann wäre eine globale Partnerschaft wirklich
möglich, die wir in einer Zeit der Krisen so dringend
brauchen - vielleicht noch nie so dringend wie heute.
Ich danke Ihnen.
({12})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Sabine Weiss, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Das Jahr 2015 symbolisiert einen wichtigen Meilenstein
für die Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke, wir
können es geradezu ein Schicksalsjahr für die weltweite
Entwicklung nennen. 2015 entscheidet sich im Gipfelprozess, wie es mit den Millenniumszielen weitergeht. In
der Post-2015-Agenda oder, verehrter Herr Minister, in
dem neuen Weltzukunftsvertrag werden neue Ziele für
eine nachhaltige Entwicklung erarbeitet.
Ein kurzer Blick zurück auf die Millenniumsentwicklungsziele zeigt: Wir sind ein gutes Stück weiter auf dem
Weg zu mehr Entwicklung und zu besseren Lebenschancen für die Menschen gekommen. Der Blick in die Zukunft zeigt aber auch: Der Weg bis zum Ziel ist noch
weit und mit Herausforderungen gepflastert. Ein Katalog
voll mit hochambitionierten Zielen, der dann bald in der
Schublade der Versenkung verschwindet und eventuell
nur zu hohen internationalen Konferenzen regelrecht wie
eine Monstranz vorneweg getragen wird, wird nichts
bringen. Es ist an uns, diese neuen Nachhaltigkeitsziele
mit Leben zu füllen und die erfolgreiche Umsetzung in
Stein zu meißeln.
Ich gebe Ihnen recht, Frau Roth: Der Erfolg von Verhandlungen hängt nicht von irgendeinem Antrag, von irgendwelchen Schriftzeilen ab. Er hängt von den Menschen ab. Aber da bin ich sehr optimistisch: Wir haben in
unserem Hause hochengagierte Entwicklungspolitiker.
Wir haben einen authentischen, glaubwürdigen Minister.
Wir haben eine Umweltministerin, die vieles vorantreiben will.
({0})
Wir haben gute Teams in den Ministerien. Ich bin sehr
optimistisch, dass wir gemeinsam eine Menge auf den
Weg bringen können.
({1})
Derzeit sehe ich noch drei Bremsen, die unseren Entwicklungsmotor in vielen Ländern stottern lassen und
die wir lösen müssen.
Bremse Nummer eins: mangelnde Nachhaltigkeit bei
den Entwicklungsbemühungen. Eine der zentralen Neuerungen der Post-2015-Agenda ist die Verschränkung
klassischer Armutsziele mit umweltpolitischen Zielen.
Dem liegt Gott sei Dank die Erkenntnis zugrunde, dass
sich wirtschaftliche und soziale Entwicklung und umweltpolitische Nachhaltigkeit gegenseitig bedingen.
Also: Ohne einen wirksamen Klimaschutz werden in vielen Entwicklungsländern die Probleme von der Wasserversorgung bis zur Ernährungssicherheit wachsen. Naturkatastrophen - wir haben es in der jüngsten Vergangenheit
erlebt, zum Beispiel den Wirbelsturm Haiyan auf den Philippinen - werden sich häufen.
Schneller als bei jedem anderen Thema auf der Post2015-Agenda kommt hier mit der Klimakonferenz in Paris im Dezember dieses Jahres die Stunde der Wahrheit
auf uns zu. Um das 2-Grad-Ziel zu erreichen, muss die
internationale Gemeinschaft noch kräftig nachlegen.
Ich bin deshalb unserer Bundeskanzlerin sehr dankbar
dafür, dass sie den Klimaschutz zu einem zentralen
Punkt des G-7-Gipfels macht. Das gilt übrigens auch für
den Meeresschutz, ohne den Millionen Menschen ihre
Lebensgrundlage - einschließlich ihrer Ernährung - verlieren würden.
Wir müssen den Bürgern aber auch noch deutlicher
machen, was Nachhaltigkeit erfordert. Wer ist sich schon
dessen bewusst, dass die Weltgemeinschaft laut WWF
jährlich insgesamt 50 Prozent mehr an Ressourcen verbraucht, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann?
Wir verbrauchen also quasi 1,5 Erden und leben damit
deutlich auf Kosten künftiger Generationen.
Entwicklungsbremse Nummer zwei: mangelnde Eigenverantwortung der Partnerregierungen. Das Gebot
der Stunde ist und muss sein: mehr Eigenverantwortung!
Eine der wichtigsten Aussagen in der Post-2015-Agenda
ist für die CDU/CSU-Fraktion die Betonung der Eigenverantwortung aller Staaten für die Entwicklung in ihren
Ländern. Das haben wir auch in unserem Antrag betont.
Ohne aktive Mitwirkung der Partnerregierungen hat Entwicklungspolitik selten gewirkt. Das ist die eine Dimension der Eigenverantwortung. Die andere ist, dass ein
Großteil der Menschen, deren Leben durch die neue
Agenda verbessert werden soll, gar nicht mehr in nominell armen Ländern und damit letztlich auch nur bedingt
in den zentralen Partnerländern unserer Entwicklungszusammenarbeit lebt. Indien zum Beispiel betrachten wir
Sabine Weiss ({2})
als Schwellenland. Es besitzt zwar Atomwaffen und ist
eine Handelsmacht, aber ein Drittel der Bevölkerung
- etwa 400 Millionen Menschen - lebt von weniger als
1,25 US-Dollar am Tag.
Unsere Entwicklungspolitik konzentriert sich zu
Recht auf die ärmsten, auf die am wenigsten entwickelten Länder. In dem Maße aber, in dem Länder aus dem
Kreis der ärmsten Länder herauswachsen, nimmt die Eigenverantwortung der dortigen Regierungen zu, nämlich
die Verantwortung, die nicht erreichten Ziele auch selbst
umzusetzen. Das muss unser Anspruch sein.
Bremse Nummer drei: die desolate Lage in fragilen
Staaten. Eine entscheidende Aufgabe für uns wird darin
bestehen, die Millenniumsziele dort zu erreichen, wo
dies bisher nicht gelungen ist. Da sind wir uns in diesem
Hause sicherlich alle einig. Leider betrifft dies viele fragile Staaten und Konfliktstaaten. Etwa ein Fünftel der
global extrem armen Menschen lebt in Ländern wie
Somalia, im Nord- und Südsudan, in Nordkorea und
Eritrea - um nur einige zu nennen.
Laut Weltbank sind in fragilen Staaten mehr als
40 Prozent der Menschen arm. Wenn hier ein erneutes
Scheitern nicht vorprogrammiert sein soll, müssen - und
zwar auf allen Seiten - die Anstrengungen verstärkt werden, tragfähige Voraussetzungen für Entwicklung zu
schaffen wie Frieden und Sicherheit, die Beachtung der
Menschenrechte oder auch grundlegende funktionierende staatliche Strukturen.
Hier ist der Ansatz unserer Bundesregierung, diese
Bereiche gezielt zu fördern, absolut richtig.
({3})
Unser Appell richtet sich in besonderer Weise auch an
die oftmals diktatorischen Staatsführungen vieler dieser
Länder, die die Post-2015-Agenda offiziell mittragen
und nach mehr Geld rufen, aber intern alles dafür tun,
dass es den Menschen in ihren Ländern weiter schlecht
geht.
Diesen Schuh des Scheiterns, liebe Kolleginnen und
Kollegen, werden wir uns nicht anziehen, wenn die, die
in diesen Ländern das Sagen haben, das Eigeninteresse
vor die Eigenverantwortung setzen.
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Ich freue
mich auf die weiteren Beratungen. Es geht voran, aber es
gibt noch sehr viel zu tun. Wir packen es an.
Herzlichen Dank.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Niema Movassat, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Business as usual” ist keine Option. Das steht im derzeitigen UN-Entwurf zu den nachhaltigen Entwicklungszielen, kurz SDGs. Dasselbe steht auch im Positionspapier der Bundesregierung zum laufenden SDGVerhandlungsprozess. Auch Sie, Herr Minister Müller,
haben ja heute gesagt, dass es kein Weiter-so geben darf.
Ich stimme dem voll und ganz zu; denn nach wie vor
hungern weltweit je nach Berechnung 800 Millionen bis
1,3 Milliarden Menschen. Zugleich nimmt die Ungleichheit immer unfassbarere Ausmaße an. Schon im nächsten Jahr wird 1 Prozent der Menschheit so viel besitzen
wie die restlichen 99 Prozent zusammen. Während sich
die einen Luxusvillen leisten, stirbt auf der anderen Seite
der Welt alle sechs Sekunden ein Kind an Hunger. Der
globale Diskussionsprozess um die nachhaltigen Entwicklungsziele bietet die Chance, endlich etwas an dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit zu ändern.
({0})
Doch schaut man sich die Position der Regierung an,
wird klar: Sie spricht vom notwendigen Wandel, beharrt
in der Praxis aber auf dem Status quo.
Drei Beispiele dafür:
Erstens. Im SDG-Entwurf wird unter Punkt zehn großes Gewicht auf die Bekämpfung von Ungleichheit, sowohl zwischen Ländern als auch innerhalb von Staaten,
gelegt. Im Positionspapier der Bundesregierung taucht
das Wort „Ungleichheit“ jedoch kein einziges Mal auf.
Dabei nimmt die Ungleichheit nicht nur auf globaler
Ebene, sondern auch hierzulande bedrohliche Dimensionen an. 12,5 Millionen Menschen in Deutschland sind
arm, die reichsten 10 Prozent besitzen 70 Prozent des
gesamten Vermögens. Was braucht es eigentlich noch,
damit die Bundesregierung die Bekämpfung der Ungleichheit hier und weltweit ganz oben auf die Prioritätenliste setzt?
({1})
Wir brauchen sowohl in Deutschland als auch international starke soziale Sicherungssysteme und Steuersysteme,
die für Umverteilung von oben nach unten sorgen. Aber
statt dass sich die Bundesregierung im Rahmen des
SDG-Prozesses für solche strukturellen Veränderungen
einsetzt, versucht sie, sich aus der Verantwortung zu
stehlen.
Damit bin ich beim zweiten Punkt: Deutschland verbraucht wesentlich mehr Ressourcen, als im globalen
Maßstab nachhaltig wäre. Wir schleudern mehr Dreck in
die Luft als andere Nationen, und wir überhäufen die
Länder des Südens mit Produkten zu Dumpingpreisen,
die eine eigenständige Entwicklung vieler importierender Staaten verhindern. Alle hier kennen das Beispiel der
afrikanischen Märkte, die mit deutschen Hühnerabfällen
überschwemmt werden. Kurz gesagt: Wir entwickeln
uns auf Kosten anderer Staaten und Menschen. Deswegen pochen die Länder des Südens zu Recht darauf, dass
Staaten zwar eine gemeinsame, aber eben auch unterschiedliche Verantwortung bei der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsagenda haben.
({2})
Deutschland trägt jedoch nicht nur mehr Verantwortung
als Bolivien, Malawi oder die Fidschi-Inseln. Deutschland hat auch wesentlich mehr Einflussmöglichkeiten als
diese Länder, Veränderungen im Rahmen der EU, der
UNO oder der WTO in Gang zu setzen. Wenn man kein
„business as usual“ will, dann muss man diesen Einfluss
auch geltend machen.
({3})
Mein dritter Punkt. Die viel beschworene Ära einer
globalen Partnerschaft, die die SDGs einläuten sollen,
muss auch finanziell und institutionell abgesichert werden. Darum soll es auch beim Gipfel in Addis Abeba im
Juli gehen. Auf der Tagesordnung wird dort nicht nur der
Dauerbrenner „Anhebung der Entwicklungsgelder auf
0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts“ stehen Deutschland übt sich hier ja seit 45 Jahren in leeren Versprechungen -, sondern ebenso zentral ist auch, dass die
Entwicklungsländer die Möglichkeit stärkerer Kapitalkontrollen erhalten; denn bisher fließt jährlich die unfassbare Summe von 1 Billion Dollar aus diesen Ländern ab. Hieran haben Steuerhinterziehung und illegale
Geschäfte internationaler Unternehmen den größten Anteil. Zudem muss endlich eine der Kernforderungen der
Entwicklungs- und Schwellenländer, die Demokratisierung der Finanzinstitutionen Weltbank und IWF, auf den
Weg gebracht werden.
({4})
Leider hat die Bundesregierung zu all diesen Punkten
weder konkrete Vorschläge gemacht noch Zusagen erteilt. Diese Untätigkeit ist auch kein Wunder; denn unter
globaler Partnerschaft verstehen Sie ja vor allem die Forcierung öffentlich-privater Partnerschaften in der Entwicklungszusammenarbeit. Anstatt Großunternehmen
klare gesetzliche Regeln für ihr Handeln aufzuerlegen,
lädt die Bundesregierung diese dazu ein, ihre Interessen
in den Ländern des Südens mit staatlicher Flankierung
besser durchzusetzen. So fördert das Entwicklungsministerium die Produktion von Kartoffelchips und Pommes in Kenia und Nigeria; mit an Bord: die üblichen
Verdächtigen Bayer, Syngenta und Solana. Unter dem
Deckmantel der Hungerbekämpfung unterstützen Sie als
Bundesregierung mit Steuergeldern einmal mehr die
Expansionsbestrebungen der Agrarkonzerne in Afrika.
„Business as usual“ eben.
Kurzer Blick auf die Uhr, ja?
Ich komme zum Ende. - Eine Agenda für nachhaltige
Entwicklung sieht anders aus. Dafür werden wir als
Linke kämpfen.
Danke.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde es wichtig, dass es uns heute
einmal gelungen ist, zu einer frühen Tageszeit über das
Thema Nachhaltigkeitsziele zu sprechen. Leider ist es ja
oft so, dass wir uns am Ende der Tagesordnung mit solchen Themen befassen.
({0})
Das ist schade und bedauerlich, weil ich glaube, wir
müssen uns fachübergreifend mehr mit den Fragen von
Nachhaltigkeit, und zwar in globaler Hinsicht, beschäftigen.
({1})
Wenn man über die Nachhaltigkeitsziele der UN
spricht, ist es wichtig, zu fragen: Was haben wir bereits
erreicht? Es geht jetzt um den Folgeprozess der sogenannten Millenniumsentwicklungsziele, die bis 2015 erreicht sein sollten. Die Frage ist also: Was haben wir in
diesen Entwicklungszielen erreicht, was haben wir nicht
erreicht, und welche Sachverhalte wurden damals überhaupt nicht thematisiert, die aber sehr wohl zur Bekämpfung von Armut und für Fortschritte in der Entwicklung
ganz entscheidend sind?
Ich glaube, es ist bei den Entwicklungszielen einiges
erreicht worden. Ich möchte das sagen, weil das auch
Mut machen soll, dass wir uns wirklich um Entwicklungszusammenarbeit bemühen und uns dafür einsetzen.
Es ist einiges bei der Bekämpfung von extremer Armut erreicht worden. Das kann man mit Zahlen nicht so
richtig fassen, wenn man dazu Statistiken vorliest. Aber
wenn es vor 25 Jahren in den Entwicklungsregionen der
Erde so war, dass rund die Hälfte der Menschen von weniger als 1,25 Dollar am Tag, also in extremer Armut,
gelebt hat und jetzt, dank der Arbeit im Rahmen der Entwicklungsziele, dieser Anteil immerhin auf 22 Prozent
gesunken ist - das sind die Zahlen der UN -, dann halte
ich das für einen positiven Schritt in die richtige Richtung. Für die Menschen, die davon betroffen sind, ist das
sicherlich wertvoll.
({2})
Das heißt aber nicht, dass man sich damit zufriedengeben kann und zufriedengeben darf. Denn selbstverständlich muss die Beseitigung von extremer Armut das
oberste Ziel der Entwicklungsagenda, der Nachhaltigkeitsagenda auch in dem neuen Prozess werden.
Wir haben vieles nicht erreicht. Auch das muss man
deutlich sagen. Gerade im Gesundheitssektor ist vieles
nicht erreicht worden. Es gibt bei der Müttersterblichkeit, der Kindersterblichkeit riesige Defizite. Ich glaube,
das hat in vielen Teilen dieser Erde mit der Stellung der
Frau zu tun; auch das muss man an der Stelle sehr deutlich ansprechen. Auf der anderen Seite hat das aber auch
mit dem absoluten Fehlen von funktionierenden sozialen
Sicherungssystemen und Gesundheitswesen zu tun. Das
haben wir ja gerade angesichts der Ebolakrise wieder
festgestellt.
Ich finde es deshalb wichtig, dass die - schon wieder
so eine Abkürzung; OWG - Open Working Group der
Vereinten Nationen in ihrem Positionspapier festgelegt
hat, dass es gerade zu diesen Gesundheitszielen eine
Reihe von Unterzielen geben soll, die auch den Zugang
zu sozialen Sicherungssystemen in den Mittelpunkt stellen. Das ist einer der ganz entscheidenden Punkte.
({3})
Ferner muss über Dinge diskutiert werden, über die
im Rahmen des MDG-Prozesses, also der Millenniumsentwicklungsziele, überhaupt nicht gesprochen worden
ist. Auch darauf weisen wir in unserem Antrag hin. Es
muss darum gehen, dass dem Ziel „Menschenwürdige
Arbeit weltweit“, das in dem UN-Papier formuliert wird,
endlich zum Durchbruch verholfen wird.
({4})
Da wird es dann spannend. Knapp 900 Millionen
Menschen auf dieser Erde verdienen trotz Arbeit unter
2 Dollar am Tag und müssen damit sich und ihre Familien ernähren. Ein Drittel der Beschäftigten in den Entwicklungsländern lebt trotz der täglichen Arbeit in extremer Armut. Informelle Arbeit ist gang und gäbe - das
heißt, der Großteil der Menschen hat keine arbeitsrechtliche, sozialrechtliche Absicherung -, und fast 21 Millionen Menschen schuften unter sklavenähnlichen Bedingungen.
Wenn wir hier wirklich etwas ändern wollen, dann ist
sicherlich vieles gefragt, was in den Bereich der Handels- und Steuerpolitik gehört; keine Frage. Aber dann
muss es uns auch gelingen, in allen Ländern
- Universalität ist ein wichtiger Punkt - ein entsprechend ausgestattetes eigenes Arbeitsrecht auf die
Agenda zu setzen, damit die Menschen in diesen Ländern - hoffentlich mit Gewerkschaften vor Ort - ihre Interessen vertreten können.
({5})
Dann muss es uns auch gelingen, die ILO-Kernarbeitsnormen in allen Ländern zu verankern, Sozialstandards
zu definieren und ein System der sozialen Sicherung aufzubauen. Das muss jedes Land als Aufgabe für den Gesetzgebungsprozess in seinem Land begreifen. Das
Spannende an dem SDG-Prozess ist, diese konkreten
Fragen - jetzt wird es ein bisschen konkreter, liebe
Claudia Roth - in einzelne Gesetzgebungsvorhaben umzusetzen und in den nächsten Jahren entsprechende
Maßnahmen durchzuführen.
({6})
Das heißt selbstverständlich auch, dass der Beschluss
der Entwicklungsziele, zu dem es hoffentlich im September in New York kommt, nicht das Ende der Debatte
um die Nachhaltigkeitsziele, sondern erst der Beginn der
Arbeit in allen Parlamenten und Gesellschaften dieser
Erde ist.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. Ein Thema, das die
Verschränkung von Ökonomie, Ökologie und Sozialem
sehr deutlich macht, aber in den letzten Jahren völlig
vernachlässigt worden ist, ist die Stadtentwicklung. Die
UN schreibt in ihrem Bericht zu den Nachhaltigkeitszielen zu Recht:
Der Kampf für nachhaltige Entwicklung wird in
Städten gewonnen oder verloren werden.
Dabei geht es um Arbeitsplätze für diese Menschen,
um die wirtschaftliche Entwicklung, ebenso wie um alle
ökologischen Fragen, die damit im Zusammenhang stehen. Es geht zum Beispiel darum, ob die Menschen endlich Zugang zu Energie haben, um selbst produktiv sein
zu können, also im Sinne der eigenen Armutsbekämpfung tätig werden zu können. Es geht aber selbstverständlich auch um die ökologischen Grenzen unseres
Planeten. Das betrifft zum Beispiel die Frage, welche
Energieträger und Verkehrsträger geeignet sind und wie
wir die Entwicklung gemeinsam hinbekommen. Studien
belegen, dass zurzeit 2,3 Milliarden Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern in Städten leben, fast
die Hälfte davon in Slums. Diese Zahl wird, wenn wir
nicht handeln, bis 2050 voraussichtlich auf 3 Milliarden
Menschen, die in Slums leben, steigen.
Das zeigt, dass es einen ganz konkreten Handlungsbedarf gibt, was Stadtplanung, Verkehrsplanung und die
Frage angeht, wie man in diesen Ländern endlich auch
nachhaltige Entwicklungskonzepte im Energiebereich
umsetzen kann. Deshalb bin ich sehr froh, dass es in dem
vorliegenden Katalog nicht nur einige wenige ausgewählte Ziele gibt, über die wir diskutieren, sondern dass
wir zum ersten Mal alle diese Fragen zusammen diskutieren. Es sind insgesamt 17 Ziele, zugegebenermaßen
mit einer ganzen Reihe von Unterzielen, aber das zeigt
auch die Notwendigkeiten. Wir müssen uns auch immer
wieder vor Augen führen, dass wir bei der Frage ansetzen müssen, wie in allen Ländern mit diesen Zielen umgegangen wird.
Ein kurzer Blick auf die Uhr.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident, und möchte
nur noch einen letzten Gedanken formulieren, nämlich
zur Einnahmesituation der Länder. Auch wir werden unseren Beitrag dazu leisten müssen. Das haben wir in unserem Antrag im Übrigen mit dem 0,7-Prozent-Ziel festgeschrieben. Es wird aber auch darum gehen, dass wir
die anderen Länder beim Aufbau von Steuersystemen
unterstützen müssen. Außerdem müssen wir unser eigenes Recht so ausgestalten, dass zum Beispiel beim Rohstoffabbau Transparenz hergestellt wird, damit die
Länder überhaupt eine Chance bekommen, eigene Steuereinnahmen zu erzielen.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Peter Meiwald,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrtes Präsidium! Verehrte
Frau Ministerin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sind die Sustainable Development Goals
- SDGs ist eine schöne Abkürzung; Claudia Roth hat es
bereits gesagt - eine globale Entwicklungsagenda zum
Überleben unserer Welt oder vielleicht auch eine Roadmap zur Gestaltung des Paradieses? Was in den 17 Zielen formuliert ist, klingt gut. Klar ist: Der dringend gebotene notwendige Wandel in Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit - ökonomisch,
ökologisch, sozial, und zwar global, national und lokal muss engagiert angegangen werden.
Was bedeutet dieser Prozess für uns in Deutschland
und als Politik im Besonderen? Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, schildert auf
fünf Seiten Prosa den bisherigen Arbeitsprozess ohne
weitere Konkretisierungen. Immerhin: Unter Punkt 14
auf der letzten Seite bekennen Sie sich zum 2-Grad-Ziel,
zum Erhalt der Biodiversität und zur Transformation unserer Volkswirtschaft. Doch wie Sie das erreichen wollen oder was der konkrete Beitrag Deutschlands im
Rahmen der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten sein soll, davon steht leider nichts in
Ihrem Antrag.
Man kann sich diesem Thema jedoch völlig anders
nähern. Der norwegische Autor Jostein Gaarder nimmt
den Leser in seinem Buch 2084 - Noras Welt mit in die
Welt der 15-jährigen Nora, die träumt, wie sie im Jahr
2084 ihrer Urenkelin Nova erklären muss, warum es
viele Tiere nicht mehr gibt oder warum arabische Klimaflüchtlinge durch den Norden Norwegens ziehen. Unsere
Agenda, an der die Staaten der Welt jetzt arbeiten, zielt
nicht auf das Jahr 2084, sondern zunächst auf 2030.
Doch auch das Szenario in 15 Jahren ist - darauf machen
unsere Wissenschaftler schon heute aufmerksam - dramatisch genug, um einzusehen, dass nicht nur global,
sondern gerade auch in unserem reichen Land Handeln
geboten ist.
({0})
Haben Sie schon einmal einen Goldregenpfeifer pfeifen gehört, einen Alpensalamander oder einen Blauschillernden Feuerfalter gesehen? Noch nicht? Dann müssen
Sie sich beeilen; denn unser Bundesamt für Naturschutz
zählt diese drei genauso wie 60 weitere heimische Arten
zu den Hochrisikoarten, die bis 2030 verschwunden sein
werden, wenn wir das 2-Grad-Klimaziel nicht erreichen.
Dass die planetaren Grenzen dabei bereits heute nicht
nur bei der Freisetzung von Klimagasen, sondern beispielsweise auch beim reaktiven Stickstoff aus der industrialisierten Landwirtschaft weit überschritten sind,
darauf weist der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen ebenso wie der
von der Kanzlerin eingesetzte Sachverständigenrat für
Umweltfragen, aber auch viele Wissenschaftler immer
wieder hin. Frau Hendricks hat sich darauf bezogen.
Auch Frau Weiss und Frau Kofler kennen diese Informationen. Wir sind also schon weit fortgeschritten auf dem
Weg zu Noras 2084. Herr Müller, auch Sie haben gerade
in Ihrer Rede betont, dass die Fragen betreffend Umwelt,
Klima und soziale Gerechtigkeit Regeln und Grenzen
brauchen. Wie passt das zusammen mit dem Dogma des
freien Handels, dem sich Ihre Kanzlerin und der Wirtschaftsminister bei CETA, TTIP und Co. verschrieben
haben?
({1})
Die Konsequenzen daraus ignorieren Sie in Ihrem
Antrag völlig. Wir fragen uns, wo Ihr Antrag, über den
wir heute diskutieren, bezüglich der planetaren Grenzen,
der Umweltziele oder der globalen Gerechtigkeit über
das bereits Erreichte hinausgeht. Eigentlich ist alles in
Ihrem Antrag bereits im Kabinettsbeschluss vom 3. Dezember enthalten. Daher handelt es sich eigentlich um
eine Nullnummer.
({2})
Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt oder
Stickstoffkreislauf sind globale Herausforderungen, denen wir auch lokal begegnen müssen. Die Regierung
geht diese Themen aber auch in der praktischen Politik
nach wie vor nicht an. Der CO2-Ausstoß ist in Deutschland mit 9,4 Tonnen pro Person im Jahr weiterhin viel zu
hoch. Doch wo ist das Kohleausstiegsprogramm?
({3})
Die subventionierte Agrarindustrie verdrängt seit Jahrzehnten immer weiter die bäuerliche Landwirtschaft zulasten von Umwelt und Natur. Obwohl beim Stickstoff
die planetaren Grenzen erreicht sind, bietet die Novelle
zur Düngeverordnung keine Lösung. Das BMEL weigert
sich nach wie vor, beispielsweise Grenzwerte für Uran in
die Düngeverordnung aufzunehmen, obwohl alle wissen,
dass Uran ab einer bestimmten Menge schädlich für
Wasser, Boden und unsere Umwelt insgesamt ist. Doch
es passiert nichts. Es werden nur schöne Anträge geschrieben.
({4})
Ich komme gleich zum Schluss.
Es wäre schön, wenn Sie dieses Versprechen einlösen.
Im Sinne der notwendigen sozialökologischen Transformation muss sich Deutschland selber entwickeln.
„Business as usual“ ist keine Option, um die globale
Entwicklung nachhaltig zu gestalten. Doch gerade gestern haben Sie beispielsweise unseren Antrag zur Vermeidung von noch mehr Mikroplastik in den Meeren im
Umweltausschuss abgelehnt, obwohl damit zumindest
ein Teil der weiteren Einträge in unsere Meere leicht zu
verhindern wäre. Was soll das?
({0})
Eine urenkeltaugliche Politik ist dringend geboten,
mit der auch für zukünftige Generationen die Chance auf
ein erfülltes Leben gesichert werden kann, und das global. Dazu fehlt Ihrem Antrag die Vision und Ihrer Politik
die Kohärenz.
Vielen Dank.
({1})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über die nachhaltigen Entwicklungsziele, die sogenannten SDGs, die im Herbst in New York verabschiedet werden sollen. Ich möchte zuerst auf die Millenniumsentwicklungsziele, die MDGs, zurückschauen.
Sie waren nicht vollständig und willkürlich. Wir haben
auch nicht alle erreicht. Aber sie waren fokussiert auf einige Kernziele, die man überprüfen konnte. Sie gaben
wichtige Impulse. Es waren Zusagen möglich. Die G 7
hat sich damit befasst, und deshalb waren sie erfolgreich.
Wenn man darüber nachdenkt, kann man sehen, was
jetzt auf uns zukommt. Wir werden 17 Ziele und
169 Unterziele haben. Ich finde, das ist ein ambitionierter Katalog. Er wäre nachhaltig, und er wäre umfassend.
Das ist es, was wir offensichtlich alle erreichen wollen:
das Umfassende, das alles Abdeckende. Das, was man
bei den alten Zielen kritisiert hat, nämlich dass sie das
nicht sind, haben wir jetzt bei den SDGs. Es wird so gut
wie kein Bereich ausgeklammert. Die NGO-Szene ist
enthusiastisch bis zum Gehtnichtmehr. Die findet das alles ganz toll.
Ich allerdings, liebe Freunde, habe einige Bedenken.
Ich will sie nur einmal äußern, damit wir uns ein bisschen für die Probleme sensibilisieren. Ich befürchte, dass
wir bei 17 Oberzielen und 169 Unterzielen nicht alles erreichen; bei den alten MDGs hatten wir weniger Ziele.
Es könnte dazu kommen, dass sich die Staaten einzelne
Ziele herauspicken, die gerade kommod sind, die sie
vielleicht sogar schon erfüllt haben, dass sich Beliebigkeit breitmacht und Ziele nicht mehr der Überprüfbarkeit
unterliegen. Ich fürchte, dass es uns nicht gelingt, ein
System zu entwickeln, das uns alle irgendwie weiterbringt, weil jeder tut und lässt, was er will, was er kann
oder was er möchte. Die Schlagkraft geht damit verloren, und ich glaube, das ist nicht richtig.
Unser Anspruchsdenken - das haben wir hier in den
Reden vor allen Dingen der Opposition gehört -, jeden
Sektor, jeden Aspekt und jede Kleinigkeit zu berücksichtigen, halte ich für den falschen Weg.
({0})
Wir entwickeln so keinen Markenkern. Wir sind nicht
mutig genug, um uns auf einige Themen zu konzentrieren, die wir dann aber auch erreichen können. Wenn wir
das nicht können und nur noch Politik nach dem Motto
„Wünsch dir was“ machen - der eine will dies, der andere will jenes, der Dritte hat da eine Priorität -, dann
kommen wir zu keinem Ergebnis. Das befürchte ich, und
das will ich nicht.
Natürlich können wir uns, wenn wir Prioritäten setzen
wollen, sehr wohl auf Prioritäten einigen. Aber wir sollten nicht über Beliebigkeit diskutieren; dafür ist die Zeit
zu schade, und damit ist man nicht erfolgreich. Ich hoffe,
dass wir uns in Foren wie zum Beispiel G 7 oder G 20
auf einen prioritären Katalog einigen können, den wir
dann genauso nachhaltig abarbeiten, wie wir es bei den
MDGs gemacht haben. Ich glaube, mit Kanzlerin Merkel
haben wir da einen guten Partner. Das erkennen wir,
wenn wir auf die G-7-Agenda von Elmau schauen. Da
werden wir sehen, wo die Kanzlerin Prioritäten setzen
will.
Das Entscheidende ist, dass wir in diesem Zusammenhang von langfristigen Entwicklungsagenden und
Nachhaltigkeitszielen sprechen. ISIS, liebe Claudia
Roth, und die Befriedung der Ostukraine sind Dinge, die
uns im Moment beschweren. Ohne pathetisch klingen zu
wollen: Hier geht es um viel mehr. Es geht nämlich darum, unsere Welt langfristig überlebensfähig zu halten.
Wenn wir an die Themen Migration, Klima, Armut
und Weltbevölkerungswachstum denken, dann stellen
wir fest, dass das schwierige und langfristige Entwicklungen sind, die uns beschweren werden. Schauen wir
doch einmal ganz kurz auf Afrika. Im Jahr 2050 wird
sich die Bevölkerung Afrikas verdoppelt haben. Wenn
wir der Jugend dort keine Perspektiven, keine Ziele und
keine wirtschaftliche Zukunft bieten und der Jugend kein
selbstbestimmtes und würdiges Leben in Aussicht stellen können, dann wird sie den Rattenfängern vor Ort
nachlaufen. Das ist so. Wir sollten nicht glauben, Boko
Haram und ISIS seien weit weg und brauchten uns nicht
zu interessieren. So ist es nicht. Alle Ereignisse auf der
großen weiten Welt haben für uns Bedeutung.
Ich würde gerne Bundespräsident Köhler zitieren,
wenn Sie, Herr Präsident, nichts dagegen haben, der gesagt hat, dass jeder von uns eigentlich weiß, dass wir nur
alle zusammen alles regeln können. Alles, was auf der
Welt passiert, tangiert uns hier direkt. Wir sollten nicht
unterscheiden zwischen „denen da“ und „uns hier“; viel8296
mehr sind wir alle ein ganz großes Gefüge. Wir sind eine
große Schicksalsgemeinschaft. Das ist auch für unsere
Wahlkreise wichtig. Sie wissen alle: Wir gehen in die
Wahlkreise und reden über Ortsumgehungen, Rentenerhöhungen und Breitbandausbau. Das alles ist ganz wichtig. Ich zitiere aber Horst Köhler, der gesagt hat:
Die bedrohlichen Konflikte des 21. Jahrhunderts
bestehen nicht zwischen „uns“ und „denen“,
- sicherlich auch nicht zwischen dem Westen und dem
Rest sondern zwischen uns und den Enkeln, zwischen
kurzfristigen und langfristigen Interessen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der SDGProzess so wichtig. Deshalb brauchen wir einen Erfolg.
Deshalb brauchen wir die neue zwischenstaatliche Ordnung, die es geben wird.
Damit einhergehend werden auch Verantwortlichkeiten reduziert, und in diesem Zusammenhang reden wir
über die öffentliche Entwicklungsfinanzierung, die
ODA. Die ODA ist nicht mehr die allein selig machende
Finanzierungsquelle. Aber sie ist Teil der Finanzierung,
und deshalb sind wir froh, dass wir die SDGs diskutieren. Wir sind erst am Beginn und müssen uns in irgendeiner Weise einigen. Ich glaube, dass es für die Zukunft
unseres Planeten, unserer Erde, unserer Welt wichtig ist,
dass wir erfolgreich sind hinsichtlich der Finanzierungsfragen, hinsichtlich der Gemeinsamkeiten, vor allen Dingen aber hinsichtlich der gemeinsamen Verantwortlichkeiten, die wir haben.
Wir haben mit den Nachhaltigkeitszielen, mit dem
Klimaabkommen in Paris, mit der Finanzierungskonferenz in Addis Abeba die Chance, ein ganz neues Buch zu
schreiben, ein Buch über ein kooperatives Verhältnis der
Staaten untereinander, über Fairness, über Nachhaltigkeit in der Zusammenarbeit. Ich glaube, das ist richtig,
selbst wenn uns einige für naiv halten in der Frage, ob
uns überhaupt der große Wurf gelingt. Wir müssen daran
arbeiten, weil es für die Zukunft, für unsere Enkel gut
ist. Die Welt braucht uns. Die Welt braucht nichts anderes als die SDGs.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Carsten Träger, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In diesen Tagen ist viel die Rede davon, dass
wir der Globalisierung Regeln geben wollen. Das ist
richtig. Wir reden viel - vor allem wir in der SPD reden
unheimlich viel - über die anstehenden Freihandelsabkommen. Auch das ist richtig und wichtig. TTIP und
CETA sind in aller Munde, und das sollen sie auch sein;
denn hier tun Aufklärung und Transparenz bitter not.
Aber worüber wir kaum reden, das sind unsere multilateralen Abkommen wie der Weltvertrag für nachhaltige Entwicklung, über den wir heute sprechen, die sogenannten Sustainable Development Goals, SDGs. Dabei
haben sie eine vielfach höhere Bedeutung; denn durch
sie werden Ziele festgelegt, auf die sich die gesamte
Staatengemeinschaft verpflichtet - zumindest ist meine
Hoffnung, dass das gelingen wird. Das werden ambitionierte Ziele sein, soweit sich das zum derzeitigen Stand
der Verhandlungen abschätzen lässt. Es wurden bisher
17 zentrale Verpflichtungen zur Entwicklung unseres
Planeten erarbeitet. Sie gelten für Entwicklungsländer,
Schwellenländer und Industrieländer gleichermaßen.
Alle Länder tragen gemeinsam Verantwortung.
({0})
Da geht es nicht um Bevormundung. Welches moralische Recht hätten wir, den Entwicklungsländern Wege
zu verweigern, die wir selbst beschritten haben? Aber es
geht um die schiere Notwendigkeit, dass wir uns die
gleichen Fehler kein weiteres Mal leisten können. Wir
stoßen schon heute an die planetarischen Grenzen. Zwei
davon scheinen sogar überschritten zu sein. Ministerin
Hendricks ist darauf eingegangen; aber ich möchte die
beiden wichtigsten Forderungen aus dem Umweltbereich wenigstens benennen: Es ist unerlässlich, die globale Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen, und
die auf der UN-Konferenz in Südkorea vereinbarten
Ziele für die Biodiversität müssen erreicht werden.
({1})
Ich mache keinen Hehl daraus: Uns SPD-Umweltpolitikern wäre es sehr recht gewesen, wenn wir als Parlament noch weiter gehende Forderungen an unsere beiden Minister adressiert hätten, die uns auf der Konferenz
in New York vertreten werden. Ich hätte gerne festgeschrieben, dass sich die Regierung für eine Besteuerung
des Ressourcenverbrauchs oder für die Beendigung von
umweltschädlichen Subventionen einsetzt.
({2})
Liebe Ministerin Barbara Hendricks, lieber Herr Minister Müller, vielleicht können Sie diesen Wunsch aber
auch so mit ins Reisegepäck nehmen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Sprecher der
SPD im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ist mir die Bedeutung der SDGs für unsere
deutsche Nachhaltigkeitspolitik wichtig. Da nehmen wir
im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle ein, natürlich bei Paradeprojekten wie der Energiewende, aber
auch mit Blick auf die Strukturen, in denen wir in
Deutschland Nachhaltigkeitspolitik betreiben. Wir haben
sowohl auf Regierungsebene als auch auf parlamentariCarsten Träger
scher Ebene feste Strukturen, wir haben einen politischen Grundkonsens, und wir haben eine nationale
Nachhaltigkeitsstrategie. Daran müssen wir weiterhin
arbeiten, zum Beispiel an der Messung der Fortschritte
durch Indikatoren. Ich finde, diese müssen wir überarbeiten und an die dann hoffentlich verabschiedeten
SDGs anpassen. Nachhaltige Politik wird eben nur dann
ihrem eigenen hohen Anspruch gerecht, wenn sie auch
über den Tellerrand blickt und international Wirkung
entfaltet. Wenn es uns gelingt, unsere Nachhaltigkeitssystematik schlüssig von der globalen über die europäische auf die Bundesebene und vielleicht sogar auf die
Länderebene herunterzubrechen, dann ist viel erreicht;
dann können wir Synergieeffekte heben und international mit noch mehr Glaubwürdigkeit auftreten. Lassen
Sie uns die Gelegenheit nutzen, die sich jetzt bietet!
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt große politische Prozesse der internationalen Staatengemeinschaft
jenseits der großen Schlagzeilen. Die SDGs gehören
dazu. Beharrliche Verhandlungen, die unser Zusammenleben verbessern und eine nachhaltige Entwicklung unseres Planeten im Blick haben - auch so geht Politik. In
New York kann ein großer Schritt in eine saubere und
gerechtere Zukunft gelingen. Ich finde, wir sind auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal darf ich mich der Kollegin Dr. Kofler anschließen, die bemerkt hat, dass es doch sehr gut ist, dass
diese Debatte über nachhaltige Entwicklung heute in der
Kernzeit stattfindet, weil es für unsere Nachhaltigkeitsdebatten nicht selbstverständlich ist; das will ich bestätigen. Gut, dass wir diese Fragen heute quasi in der Herzkammer der politischen Debatte behandeln! Oft ist es so,
dass wir Nachhaltigkeitsdebatten bei Mondschein führen; das mag auch etwas für sich haben. Ich erinnere
mich aber an die letzte Debatte, als kurz vor meinem Redebeitrag die letzten Besucher von der Besuchertribüne
verschwunden sind.
({0})
Das mag auch mit mir zu tun gehabt haben. Es waren
aber schon zuvor nicht viele da.
Es ist wichtig, dass wir diese Debatte hier und heute
führen, weil in der Tat, wie schon gesagt wurde, das Jahr
2015 ein entscheidendes Jahr für Nachhaltigkeit und
Klima ist, vielleicht das Entscheidungsjahr. Deshalb will
ich auf das zurückkommen, um das es eigentlich geht.
Wir erinnern uns alle an die Konferenz in Rio im Jahr
1992. Damals war es zum ersten Mal so, jedenfalls zum
ersten Mal in dieser Breite, dass man Umwelt und Entwicklung global zusammengedacht hat. Man hatte nach
der Überwindung des Ost-West-Konflikts, nachdem
diese Konfrontation beendet war, die Hoffnung, dass
man sich gemeinsam der globalen Fragen von Umwelt
und Entwicklung annehmen kann und dass man global in
gemeinsamer Verantwortung Fortschritte erzielt. Es war
so etwas wie Euphorie da. Es war Aufbruchstimmung
da, und die Menschen haben daran Anteil genommen.
Wenn man sich fast 25 Jahre später fragt: „Was ist erreicht worden?“, dann muss man sagen: Natürlich gibt es
Fortschritte, natürlich gibt es Initiativen, natürlich gibt es
Entwicklungen in vielen Bereichen. Es ist nicht an
Deutschland gescheitert. Deutschland hat hier immer
eine drängende, eine Vorreiterrolle gespielt. Aber im
globalen Maßstab, gemessen an der Herausforderung, ist
beschämend wenig für Entwicklung und Klima erreicht
worden. Ich glaube, das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Gerade deshalb aber sind diese Initiativen so notwendig, in
einer Zeit, wo ein Rückfall droht, der Rückfall in eine
Ost-West-Konfrontation. Es ist richtig und notwendig,
dass die Bundesregierung Menschenmögliches tut, um
für Frieden einzutreten und diese Konfrontation zu verhindern. Genauso wichtig und notwendig ist es, dass sie
international für Entwicklung und Klimaschutz eintritt.
Besonders wichtig ist, dass in diesem Jahr die Konferenz
für Nachhaltigkeit in New York und die Konferenz für
Klimaschutz in Paris stattfinden werden. Ob die Konferenzen in New York und Paris gelingen, hängt auch von
Berlin ab. Deshalb ist es richtig, wichtig und notwendig,
dass Kanzlerin und Bundesregierung gesagt haben: Diese
Themen machen wir zu einem Kernbereich der G-7-Präsidentschaft, um unserer globalen Verantwortung gerecht zu werden.
({1})
Liebe Kollegin Roth, Sie haben natürlich recht, wenn
Sie anmahnen, dass es keine technische Diskussion bleiben darf. Wir müssen die Köpfe und Herzen erreichen.
Deshalb finde ich es richtig, dass Minister Dr. Müller
nicht nur von einem Post-2015-Prozess gesprochen hat,
sondern von einem Weltzukunftsvertrag, von einer
neuen globalen Partnerschaft, von fairem Handel, von
gemeinsamer Verantwortung. Er hat zusammen mit der
Bundesregierung bei einem Kongress mit breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft die Zukunftscharta auf den
Weg gebracht. Es ist vorgesehen, dies in alle Bundesländer weiterzutragen und mit Veranstaltungen und Aktionen die Menschen zu erreichen und sie zu begeistern,
und es ist richtig, dass dies auf konkrete Initiativen heruntergebrochen wird. Er hat gesagt, dass den Menschen
in Entwicklungsländern durch eine Ausbildungspartnerschaft Perspektiven geboten werden können. So soll zum
Ausdruck gebracht werden, worum es im Kern geht: um
ein Leben in Würde. Das ist Armutsbekämpfung. Es
geht aber auch weit darüber hinaus, und zwar in die Bereiche Bildung und Perspektiven. Es geht um eine gemeinsame Verantwortung. Die Initiative für faire Textilien soll uns alle ermahnen, uns als Verbraucher, aber
auch unsere Wirtschaft. Mit dem, was wir tun, übernehmen wir direkte Verantwortung für die sozialen Umstände bzw. Missstände in den Entwicklungsländern.
Wir müssen gemeinsam mehr Verantwortung übernehmen. Für diesen Kurs haben Sie, Herr Minister, unsere
Unterstützung.
Weiter geht es darum - auch das ist angemahnt worden -, dass wir konkret werden und unserer Vorreiterrolle, die wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Europa in Anspruch nehmen, gerecht werden. Deshalb
kann es nicht sein - ich spreche als Vorsitzender des
Nachhaltigkeitsbeirats im Namen aller Fraktionen -,
dass die Nachhaltigkeitsstrategie in der Europäischen
Union aufgegeben, dass sie nicht fortgeschrieben werden soll, dass sie als Fußnote in der Strategie „Europa
2020“ aufgehen soll. In dieser Woche haben wir mit dem
Vizepräsidenten Timmermans Gespräche geführt. Wir
erhoffen von der neuen Kommission, dass sie Nachhaltigkeit institutionell und materiell verankert. Wenn wir
dies in Europa nicht voranbringen, wird es kein anderer
machen. Daran müssen wir uns messen lassen.
({2})
Neben diesen institutionellen Fragen haben wir natürlich eine finanzielle Verantwortung; auch das ist gesagt
worden. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland Zusagen im Bereich der Entwicklungsfinanzierung gemacht. Die müssen - da gibt es kein Vertun - eingehalten werden. Deshalb ist klar, dass es besondere Mittel
zur Erreichung dieser Nachhaltigkeitsziele geben muss.
Es geht nicht nur um Geld, aber es geht auch um Geld.
Das muss klar sein. Auch in diesem Bereich müssen wir
in diesem Jahr Fortschritte erzielen.
Wir befinden uns in diesem Jahr auch im Bereich Klimaschutz in einer besonderen Phase; das ist bereits
mehrfach angesprochen worden. Es geht darum, in Paris
endlich einen Durchbruch zu erreichen. Auch hier hängt
viel an Deutschland und Europa, und wir müssen unsere
Hausaufgaben machen. Das bedeutet, dass wir unsere eigenen Klimaziele erreichen müssen. Wir diskutieren zurzeit das Paket, das die Bundesumweltministerin vorgelegt hat. Unsere Lücke muss geschlossen werden, damit
wir glaubwürdig auftreten können. Dann müssen wir gemeinsam mit der Europäischen Union mehr Ehrgeiz entwickeln. Darüber haben wir in dieser Woche im Wirtschafts- und Energieausschuss mit dem zuständigen
Kommissar gesprochen. Hier muss noch mehr erreicht
werden als bisher. Dann wird es gemeinsam gelingen,
mit unseren Partnerstaaten und in unserer Vorreiterrolle
in Paris einen Abschluss zu erreichen. Es gibt in diesem
Jahr also große Herausforderungen. Wir müssen sie gemeinsam angehen.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Matthias Ilgen, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Roth hat uns von der Koalition vorhin
vorgeworfen, wir würden zu abstrakt und zu virtuell diskutieren. Deswegen dachte ich, ich mache es heute an einem konkreten Beispiel fest.
({0})
Herr Dr. Müller hat das Thema vorhin über die Erdzeitalter hergeleitet,
({1})
also über den Jura und die Kreidezeit, in denen die Dinosaurier unterwegs gewesen sind. Ich glaube, es reicht in
Wahrheit ein Blick in den Atlas, um deutlich zu machen,
was wir im Bereich nachhaltiger Landwirtschaftspolitik
tun müssen, um in der Post-2015-Agenda voranzukommen.
Sie alle kennen vielleicht noch aus dem Erdkundeunterricht den Tschadsee. Wenn man auf einer großen, bekannten Internetseite auf das Stichwort „Maps“ klickt
und „Tschadsee“ eingibt, erhält man dieses Bild.
({2})
Wenn man dann auf der Seite dieser bekannten Suchmaschine im Internet zur Kategorie „Earth“ wechselt, dann
sieht man, wie die Realität tatsächlich aussieht.
({3})
Die Oberfläche des Tschadsees ist seit 1962 um 90 Prozent zurückgegangen. Das heißt, der See ist wirklich nur
noch ein Bruchteil dessen, was er einmal gewesen ist, als
Claudia Roth noch Erdkundeunterricht hatte.
({4})
Wir müssen natürlich schauen: Wo liegen die Ursachen? Ministerin Hendricks hat zu Recht den Klimawandel und die globale Erderwärmung angesprochen. Die
Ziele sind klar benannt worden. Aber wir müssen auch
etwas bei der nachhaltigen Landwirtschaftspolitik tun.
Denn die Fachleute sagen uns: Die Austrocknung dieses
Sees hängt zu 50 Prozent nicht mit dem Klimawandel
zusammen, sondern mit der extensiven Bewässerungswirtschaft, die dort betrieben wird. Die vier Anrainerstaaten Tschad, Kamerun, Nigeria und Niger stehen in
einem harten ökonomischen Wettbewerb um die Bewirtschaftung des Tschadsees. Das Auftreten von Boko
Haram und anderen Erscheinungen - sie sind angesprochen worden - hat natürlich auch damit zu tun, dass die
Menschen dort teilweise in bitterer Armut leben und
Landwirtschaft für sie immer noch einer der zentralen
Wirtschaftsfaktoren ist. Nun sind immer noch etwa
30 Millionen Menschen vom Wasser des Sees direkt
oder indirekt abhängig. Wir haben vorhin über die Handelsabkommen gesprochen; CETA wurde angesprochen.
Kanada hat ungefähr 30 Millionen Einwohner. Wir sprechen hier also über eine ähnliche Größenordnung.
Wenn die Prognosen der FAO stimmen, wird dieser
See in etwa zehn Jahren ausgetrocknet sein. 30 Millionen Menschen werden ihre Lebensgrundlage verlieren.
Das ist eine Entwicklung, die wir natürlich zügig bekämpfen müssen; das können wir nicht aufschieben. Wir
Sozialdemokraten jedenfalls kämpfen dafür, dass eine
nachhaltige Landwirtschaftspolitik in der Post-2015Agenda eine Rolle spielt.
({5})
Nun wird das nicht von heute auf morgen gehen - das
wissen wir auch -, denn im Konkreten liegt die Schwierigkeit, und wir müssen konkret werden. Man kann den
Menschen natürlich nicht sagen: „Hört von heute auf
morgen auf, dort Bewässerungswirtschaft zu betreiben!“, denn dann entzieht man ihnen die Lebensgrundlage. Wir müssen gemeinsam die Ziele einer nachhaltigen, ökologischen Landwirtschaft verfolgen und auf
dem Weg dorthin vorankommen.
Wie unsere frühere Entwicklungsministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul immer betont hat, ist die Friedenspolitik
die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts. Ich glaube,
das muss sich nicht nur die Koalition, sondern müssen
sich alle Fraktionen in diesem Parlament auf die Fahnen
schreiben. Nur wenn wir eine solche nachhaltige Entwicklungs- und Landwirtschaftspolitik betreiben, können wir diese Ziele erreichen und eine Welt schaffen, die
zunehmend friedlicher wird.
Danke schön.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
den Millenniumszielen der Vereinten Nationen wurde
ein wichtiger Impuls gesetzt, um das Thema der Armutsbekämpfung und der menschlichen Entwicklung wieder
weit nach oben auf die internationale Agenda zu bringen. Das war zweifellos ein Erfolg; denn obwohl diese
Ziele bewusst hoch gesteckt waren, wurde vieles erreicht. Der Anteil der Armen weltweit hat sich halbiert.
Viele Indikatoren für Entwicklung weisen deutliche Verbesserungen auf.
Die Millennium-Agenda ist aber noch nicht erledigt,
sondern sie muss erfolgreich zum Abschluss gebracht
werden. Nicht zuletzt dank des historisch einmaligen
Aufstiegs der Schwellenländer wie China, Indien oder
Brasilien gelang Hunderten Millionen von Menschen der
Aufstieg in die Mittelklasse. Gerade der Aufstieg der
Schwellenländer zeigt jedoch vielfach auch, welche negativen Auswirkungen ungezügeltes Wachstum auf die
Umwelt haben kann.
Wenn über 100 Millionen Menschen jährlich zur globalen Mittelklasse hinzukommen, ist das zweifelsohne
eine erfreuliche Entwicklung. Wenn die Übernahme eines solchen Lebensstils aber auch künftig mit einem
„ökologischen Fußabdruck“ pro Kopf wie in den bisher
entwickelten Ländern einherginge, würde dies die ökologische Tragfähigkeit dieses Planeten überfordern. Es ist
aber weder realistisch noch moralisch vertretbar, den
Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern
deshalb das Recht auf Teilhabe an Wohlstand und Entwicklung vorzuenthalten.
Mit der Post-2015-Agenda für eine nachhaltige Entwicklung gehen wir deshalb einen wichtigen Schritt weiter. Gefordert ist nicht weniger als eine tiefgreifende
Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft weltweit, um zwei zentrale Ziele miteinander in Einklang zu
bringen: zum einen die endgültige Beseitigung extremer
Armut in der Welt, zum anderen aber auch die Beachtung der ökologischen Grenzen unseres Planeten. Deshalb - das ist neu - richten sich die UN-Nachhaltigkeitsziele eben nicht nur an die Entwicklungsländer, sondern
an uns alle weltweit.
Der frühere Bundespräsident Horst Köhler, der im
hochrangigen Beratergremium des UN-Generalsekretärs zur Post-2015-Agenda mitgewirkt hat, formulierte
den „kategorischen Imperativ“ der Nachhaltigkeit so:
„Lebe so, dass dein Lebensstil auch von allen anderen
7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten übernommen werden könnte.“ Es kann deshalb auch nicht nur um
ein „business as usual“, also um ein einfaches Weiter-so
im Sinne der Fortsetzung traditioneller Konzepte der
Entwicklungshilfe gehen, sondern es geht um eine universelle Agenda, die sich an alle Ländergruppen weltweit richtet und konkrete Anforderungen stellt.
Für die entwickelten Länder geht es vorrangig darum,
tragfähige Konzepte und moderne Technologien zu entwickeln, um wirtschaftliches Wachstum und Ressourcenverzehr, Energieverbrauch und CO2-Emissionen
möglichst weitgehend zu entkoppeln. Die Schwellenländer wiederum sind gefordert, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen und sich stärker als verantwortungsvolle Mitglieder in das internationale System
einzubringen. Die Entwicklungsländer selbst müssen zukünftig einen Schwerpunkt vor allem auf gute Regierungsführung, Bekämpfung von Korruption und Schaffung attraktiver wirtschaftlicher Rahmenbedingungen
legen; entgegen herkömmlich vorherrschender Auffassungen entscheiden auf Dauer nicht geografische Lage,
klimatische Verhältnisse, die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen oder kulturelle Prägungen über den
Wohlstand eines Landes und den Entwicklungsstand einer Gesellschaft. Wohlstand und Entwicklung hängen
vielmehr in erster Linie davon ab, ob sich leistungsfähige, offene und rechenschaftspflichtige Institutionen
herausbilden. Ein solch funktionierender institutioneller
Rahmen ist ausschlaggebend, um die in der Bevölkerung
eines Landes gleichmäßig verteilten Talente und Potenziale voll auszuschöpfen und den Weg für Innovationen
und fairen Wettbewerb um Lebenschancen freizumachen.
Darauf haben insbesondere zwei Gruppen einen besonderen Anspruch. Da sind zum einen die jungen Menschen. Schon heute ist weltweit jeder Vierte zwischen
10 und 24 Jahre alt. 2050 werden mehr als 9 Milliarden
Menschen auf der Welt leben. Gerade in den Entwicklungsländern nimmt die Zahl junger Menschen rasant zu.
Junge Menschen bilden das Fundament für die zukünftige Entwicklung der Welt.
Vor allem Mädchen und Frauen haben in vielen Gesellschaften nach wie vor nur eingeschränkten Zugang
zu Bildung und Lebenschancen. Das muss sich ändern.
Auch ihnen muss überall die volle Entwicklung ihrer
Potenziale ermöglicht werden.
({0})
Zur Umsetzung all dieser Ziele brauchen wir auch ein
neues Handeln in globaler Partnerschaft. Dies erfordert
- ich rede hier nicht zuletzt auch als Außenpolitiker meiner Fraktion - in weiten Teilen auch ein neues Paradigma für die internationale Politik. Dazu gehört zuallererst ein weiterentwickeltes Verständnis von Gemeinwohl
und nationaler Souveränität in einer globalisierten und
immer enger zusammenrückenden Welt. Gemeinwohl
lässt sich nicht länger begreifen in einem engen Verständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt und bezogen
auf einen geografisch abgegrenzten Raum. Wenn wir
Nachhaltigkeit ernst nehmen, dann muss ein zeitgemäßes Verständnis von Gemeinwohl inzwischen sowohl die
Weltgemeinschaft wie auch die Verantwortung für nachkommende Generationen miteinbeziehen.
Nationale Souveränität kann nur noch im Sinne einer
verantwortlichen Souveränität verstanden werden, die
auch die weltweiten Interdependenzen unseres Handelns
in Entscheidungen einbezieht.
Tragfähige Rahmenbedingungen für nachhaltige Entwicklung lassen sich nämlich nur noch in multilateralen
Lösungen erarbeiten. Lassen Sie mich dazu drei zentrale
Beispiele nennen: ein Finanzsystem, das weniger krisenanfällig ist, aber auch neue Formen der Entwicklungsfinanzierung ermöglicht, ein faires und entwicklungsfreundliches Handelsabkommen, vor allem mit offenen
Märkten für die Entwicklungsländer, und nicht zuletzt
belastbare Regelungen zur Eindämmung der Gefahren
des Klimawandels. Dies sind im Übrigen alles Themen,
die auch für die Agenda der Bundesregierung für die
G-7-Präsidentschaft 2015 eine zentrale Bedeutung haben.
Die formulierten Anforderungen an Good Governance gelten aber auch im internationalen Maßstab. Nur
funktionsfähige und legitimierte globale Institutionen
können das Rückgrat einer stabilen internationalen Ordnung sein. Das gilt auch und gerade für die Bewältigung
der Post-2015-Agenda. Die Vereinten Nationen, aber
auch die internationalen Finanzinstitutionen müssen deshalb die Realität der Welt von heute widerspiegeln, wenn
sie dauerhaft globale Wirksamkeit entfalten wollen. Dies
wird nicht gelingen, solange der institutionelle Aufbau
vorrangig die Machtverhältnisse des Jahres 1945 widerspiegelt.
Deshalb ist eine der dringlichsten Aufgaben sicherlich weiterhin die Reform des UN-Sicherheitsrates. Ich
verhehle nicht: Persönlich habe ich große Sympathien
für das von Kishore Mahbubani vorgeschlagene Modell
einer „Drei Mal sieben“-Lösung mit sieben ständigen,
sieben semiständigen und sieben nichtständigen Mitgliedern, durch das die entwickelten Länder, die Schwellenländer und die Entwicklungsländer gleichermaßen an
dieser Struktur beteiligt werden. Gerade in den internationalen Institutionen muss sich der Gedanke der „einen
Welt“ glaubwürdig widerspiegeln, auch als überzeugendes und attraktives Gegenmodell zu ethnisch motiviertem Nationalismus, zu Großmachtdenken des 19. Jahrhunderts und zu autoritären Staatsstrukturen, wie sie sich
leider auch in vielen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Achtung der
universellen Menschenrechte, gute Regierungsführung,
Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind eben kein Luxus
für einige wenige, sondern grundlegende Voraussetzung
für eine breite Teilhabe an Wohlstand und Entwicklung
weltweit.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Vereinten Nationen und wir alle wollen uns das Ziel setzen, Hunger und extreme Armut bis
zum Jahr 2030 endgültig zu beseitigen. Das ist das
oberste Ziel, das in der neuen Agenda beschlossen werden wird. Das ist gut so. Es soll auch dadurch erreicht
werden, dass Ungleichheit innerhalb von Staaten und
zwischen Staaten verringert wird. Dies ist sowohl in den
UN-Zielen als auch in unserem gemeinsamen Antrag
enthalten.
Noch immer leben 1 Milliarde Menschen in Hunger
und extremer Armut. Angesichts der Tatsache, dass es
hier in den Industrieländern Reiche gibt, die in Geld
schwimmen, aber auch in Ländern wie Indien, China
und Uganda Millionäre und Milliardäre zuschauen, wie
die Menschen in ihrem eigenen Land verhungern, ist das
ein Skandal. Das müssen wir beenden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Ja, gute Regierungsführung innerhalb von Entwicklungs- und Schwellenländern ist nötig. Wahr ist: Auch
die Reichen müssen Steuern zahlen. Gute Regierungsführung heißt aber auch, dass wir als reiches Geberland,
als eine der größten Exportnationen der Welt, die große
Verantwortung haben, gute Regierungsführung vorzuleben. Dieser Verantwortung müssen wir nachkommen.
Wenn wir wollen, dass sich die Ungleichheit zwischen Staaten verringert, dann müssen wir unser selbst
gegebenes Versprechen, bis 2015 0,7 Prozent vom Bruttonationaleinkommen für Entwicklungsarbeit zur Verfügung zu stellen - wozu sich die Europäische Union
schon vor zehn Jahren verpflichtet hat -, endlich erfüllen. Es kann nicht sein, dass im Jahr 2015 Länder wie
Großbritannien, Schweden und Norwegen über 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zur Verfügung stellen, wir in Deutschland hingegen bei beschämenden
0,38 Prozent liegen. Wenn wir gute Regierungsführung
ernst nehmen, dann müssen wir unseren Beitrag leisten.
({1})
Natürlich ist ODA-Geld nicht alles. Wir haben das
immer als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden. Genauso
wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger sind gerechte
Handelsbedingungen; denn nur so kann auch das achte
Ziel, das sich die internationale Gemeinschaft gesetzt
hat, nämlich inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit, erreicht werden, was - Frau Kofler hat es gesagt - uns Sozialdemokraten sehr wichtig ist. Das wird auch in diesem
Antrag der Koalitionsfraktionen deutlich. Wir haben im
Koalitionsvertrag vereinbart, dass menschenrechtliche,
ökologische und soziale Standards wie die ILO-Kernarbeitsnormen, Herr Minister Müller, in allen Handelsverträgen der Europäischen Union verankert werden
sollen. Wir streiten im Zusammenhang mit dem Abkommen mit Kanada, CETA, und mit dem Abkommen mit
den USA, TTIP, sehr hart darum, dass das auch umgesetzt wird.
({2})
- Danke für die Unterstützung. - Das ist nicht nur wichtig in Bezug auf die Rechte der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in den USA und Kanada, denen wir helfen
wollen. Wir wollen auch nicht, dass dadurch, dass wir
das nicht durchsetzen, Druck auf die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland ausgelöst wird.
Gleichzeitig verhandeln wir mit Ländern wie Vietnam
und Indien, weil wir wollen, dass die Kernarbeitsnormen
und die menschenrechtlichen, ökologischen und sozialen
Standards auch dort gelten, weil sie die unabdingbare
Voraussetzung für einen fairen Handel sind.
Der Herr Minister unterstützt meine und unsere Forderung, dass wir sogenannte Fairhandelsabkommen und
nicht Freihandelsabkommen brauchen. Herr Minister,
wir unterstützen Ihren Ansatz, im Textilbereich die
Unternehmen im Rahmen eines Textilbündnisses in die
Verantwortung zu nehmen. Nur so können wir es gemeinsam schaffen: Wir müssen über Handelsverträge
auch Regierungen, die oft mit den Eliten in den Entwicklungsländern zusammenarbeiten, in die Pflicht nehmen;
denn wir wissen zum Beispiel, dass die Hälfte der Mitglieder des Parlaments in Bangladesch und auch Mitglieder der Regierung selbst Textilfabrikbesitzer sind. Wir
müssen denen sagen: Wenn ihr weiter zollfrei in die EU
importieren wollt, dann müsst ihr die Menschenrechte
und die Arbeitnehmerrechte einhalten.
({3})
Gleichzeitig sagen wir unseren Unternehmen: Ihr
könnt euch nicht zurückziehen und einfach sagen: Naja,
was können wir dafür, wenn die Behörden vor Ort nicht
die Sicherheit der Fabrikgebäude überprüfen oder die
Gewerkschafter ins Gefängnis sperren? - Nein, auch unsere Unternehmen hier haben eine Verantwortung. Deswegen halten wir das Textilbündnis für eine gute Sache.
Wir freuen uns, Herr Minister, dass die ersten Unternehmen sich zur Mitarbeit bereit erklärt haben. Das sind
übrigens nicht nur die Hersteller hochpreisiger Textilprodukte, sondern auch ein Discounttextilanbieter, obwohl man immer sagt, dass Discounttextilanbieter die
schlechten sind. Wir sagen: Wir wollen den ehrbaren
Kaufmann stützen und schützen, aber wir wollen dem
Ausbeuter und Menschenschinder das Handwerk legen.
({4})
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir hier als
Parlament parteiübergreifend sagen: Wenn wir wollen,
dass in Deutschland der Mittelstand, dass diejenigen, die
anständige Löhne, jetzt auch den Mindestlohn zahlen,
dass diejenigen, die sich wirklich um ihre Mitarbeiter
kümmern, faire Wettbewerbsbedingungen vorfinden,
und zwar hier und auf der ganzen Welt, dann müssen wir
dafür sorgen, dass der Arbeiter, gleich ob er in Afrika,
Asien oder Deutschland arbeitet, von seiner Hände
Arbeit anständig leben kann. Menschenwürdige Arbeit
hier bei uns und in der Welt, das gehört zusammen. In
diesem Sinne hoffe ich, dass wir die Armut weltweit beenden können, vielleicht nicht erst im Jahr 2030. Je früher, desto besser.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/4088, 18/3604 und 18/4091 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Ulle Schauws, Luise
Amtsberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur abschließenden Beendigung der verfassungswidrigen
Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften
Drucksache 18/3031
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich das Wort dem Abgeordneten Volker Beck, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich bitte die Kollegen, die dieser Debatte folgen wollen, die Plätze einzunehmen, und die anderen bitte ich,
ihre Plätze so zu verlassen, dass die übrigen der Debatte
gut folgen können.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1989, vor
über 25 Jahren, begannen wir in der Lesben- und Schwulenbewegung die Debatte über die rechtliche Anerkennung und Gleichberechtigung schwuler und lesbischer
Lebensgemeinschaften. Unsere Forderung war und ist
das Eheschließungsrecht für gleichgeschlechtliche
Paare.
({0})
1990 brachten die Grünen den ersten Antrag dazu in
den Bundestag ein. Inspiriert hatte uns die Entscheidung
des dänischen Parlaments, eingetragene Lebenspartnerschaften mit gleichen Rechten und Pflichten wie in der
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare einzuführen. 1992
setzte der Lesben- und Schwulenverband dieses Thema
mit der Aktion Standesamt endgültig auf die politische
Tageordnung dieser Republik. Das alles ist eine ganze
Weile her.
Seit 2001 gibt es das Lebenspartnerschaftsgesetz in
Deutschland. Lebenspartner haben seither die gleichen
Pflichten wie Ehegatten, aber eben nicht die gleichen
Rechte, weil dies die Union bis 2005 im Bundesrat und
seit 2005 im Deutschen Bundestag immer verhindert hat.
Seit 2009 hat das Bundesverfassungsgericht in sechs
Entscheidungen zu unterschiedlichen Rechtsfragen immer wieder das Gleiche gesagt: Gleiche Pflichten, gleiche Rechte - nur das ist fair und verfassungskonform.
({1})
Im Koalitionsvertrag hat die Große Koalition geschrieben:
Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche
Lebensgemeinschaften schlechter stellen, werden
wir beseitigen.
({2})
Im September 2014 habe ich die Bundesregierung gefragt, wann denn etwas kommt und was da kommt. Auch
im Januar 2015 habe ich sie gefragt. Es kam immer
wieder die gleiche Antwort: Die Meinungsbildung der
Bundesregierung zur Umsetzung des Koalitionsvertrages hierzu ist nach wie vor nicht abgeschlossen. - Liebe
Leute, nun wird es aber langsam Zeit!
({3})
Zum Regelungsgegenstand verweisen die Koalition
und das Bundesjustizministerium zu Recht auf den hier
vorliegenden Gesetzentwurf. Lassen Sie uns Nägel mit
Köpfen machen! Machen wir einen Knopf dran! Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf hier und heute zu!
({4})
- Doch, verbal dürfen Sie zustimmen. Abstimmen werden wir zu einem anderen Zeitpunkt. Zu- und abstimmen
sind zwei verschiedene Begriffe, Herr Kollege.
({5})
Die Kanzlerin verspürt ein diffuses Unwohlsein. In
der Wahlarena sagte sie: „Ich tue mich damit schwer.“
Das Problem, meine Damen und Herren von der konservativen Partei hier im Hause, ist: Anders als andere
konservative Parteien in Europa verteidigen Sie Schützengraben für Schützengraben seit Jahrzehnten jede
einzelne rechtliche Diskriminierung der Lebenspartnerschaft und halten das für konservative Politik. Das liegt
daran, dass die CDU und die CSU denkfaule programmatische Parteien sind.
({6})
Sie haben nämlich versäumt, im zu Bewahrenden das
Bewahrenswerte zu identifizieren. Das wäre gute konservative Politik. Einfach nur gedankenlos den Status
quo zu verteidigen, ist schlichtweg reaktionär.
({7})
Was gibt es denn da zu prüfen? Wir haben es aufgeschrieben: In 54 Gesetzen gibt es über 100 Regelungen,
die zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe unterscheiden. Wollen Sie ernsthaft, dass das Bundesverfassungsgericht in 100 Urteilen klar Schiff macht? Es geht dabei
um das Adoptionsrecht, Auslandszuschläge, die Entschädigung bei Impfschäden und das Sprengstoffgesetz.
In der Tat: All das, was in dem Gesetzentwurf steht, ist
kein Sprengstoff, sondern es geht einfach darum, die
gleichen rechtlichen Regelungen, die für Ehegatten sinnvoll sind, überall auf Lebenspartnerschaften zu übertragen. Dafür ist es jetzt höchste Zeit.
({8})
Volker Beck ({9})
Beim Adoptionsrecht haben Sie das Bundesverfassungsgerichtsurteil noch nicht einmal umgesetzt. Das
Gericht hat Ihnen gesagt:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht …
({10})
Trotzdem bestehen sie im geltenden Recht leider weiterhin. Aufgrund der durchgehenden Beschlusslage des
Bundesverfassungsgerichts ist klar, wie entsprechende
Urteile in der nächsten Zeit ausgehen werden.
Wenn man als Volkspartei, als Regierungspartei
hier steht und sich nicht bewegt, nicht gestaltet,
sondern sich vom Verfassungsgericht über jedes
kleine Stöckchen tragen lässt, dann ist das erbärmlich.
Das finden Sie doch auch, Herr Kahrs, nicht? Das waren
Ihre Worte aus der Bundestagsdebatte im Jahre 2013.
({11})
Meine Damen und Herren, das Problem sind einerseits Ihre Sturheit und Ihre geistige Immobilität, andererseits das Unwohlsein der nicht anwesenden Kanzlerin.
({12})
Aber ein Problem ist auch die mangelnde Durchsetzungskraft der SPD. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
„100 Prozent Gleichstellung nur mit uns“, das haben Sie
vor der Bundestagswahl versprochen. 0 Prozent haben
Sie bis zum heutigen Tage erreicht. Es ist Zeit, dass Sie
sich bewegen. Ich würde mich freuen, wenn wir heute
von Ihnen hören würden, wann Ihr Gesetzentwurf
kommt oder dass Sie sich die Arbeit sparen und unserem
Gesetzentwurf zustimmen.
({13})
Das ginge am flottesten und wäre am konsequentesten.
Ich bin auf die Debatte gespannt.
({14})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Sabine Sütterlin-Waack, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „zur abschließenden
Beendigung der verfassungswidrigen Diskriminierung
eingetragener Lebenspartnerschaften“.
({0})
54 Gesetze und Verordnungen - wir haben es eben gehört - sollen damit geändert werden. Viele Änderungen
sind lediglich redaktionelle Anpassungen im Zivil- und
Verfahrensrecht, in denen Ehe und Lebenspartnerschaft
unterschiedlich behandelt werden. Dem kann man sicherlich zustimmen.
({1})
Wer kann schon etwas dagegen haben, wenn es in § 7
Absatz 2 der Verordnung über die Laufbahn, Ausbildung
und Prüfung für den gehobenen technischen Dienst bei
der Eisenbahn-Unfallkasse unter der Überschrift „Einstellung in den Vorbereitungsdienst“ künftig heißen soll:
Vor der Einstellung haben die Bewerberinnen und
Bewerber Ausfertigungen der Personenstandsurkunden ({2}), ein Führungszeugnis nach
§ 30 des Bundeszentralregistergesetzes zur unmittelbaren Vorlage bei der Einstellungsbehörde sowie
eine Erklärung über das Vorliegen geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse nachzureichen.
So weit, so gut - zumal CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart haben,
… dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von
Menschen auf Grund von ihrer sexuellen Identität
in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden.
({3})
Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden
wir beseitigen.
({4})
Bevor Sie, werte Kollegen der Opposition, mir diese
Sätze um die Ohren hauen, erlauben Sie mir bitte zwei
Anmerkungen zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag:
Derzeit wird im BMJV ein Referentenentwurf erarbeitet, ein Artikelgesetz, in seiner Art vergleichbar mit
dem Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelungen an
die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das
wir im letzten Jahr verabschiedet haben.
({5})
Wir arbeiten also an dem Thema. Der Referentenentwurf
ähnelt Ihrem Gesetzentwurf - den Titel einmal beiseitelassend - in vielen Punkten,
({6})
aber in wesentlichen Punkten weicht er von ihm ab:
Erstens. Über eine Änderung von § 9 Lebenspartnerschaftsgesetz haben wir - viele von Ihnen werden sich
erinnern - schon im Rahmen der Regelung zur Sukzessivadoption im Frühjahr 2014 diskutiert. Schon damals
wollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
regeln, dass für die Annahme eines Kindes durch Lebenspartner die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Annahme eines Kindes durch Ehegatten
entsprechend anzuwenden sind. Schon damals, vor nicht
einmal einem Jahr, hat die CDU/CSU-Fraktion Ihren
Antrag abgelehnt. Das tun wir auch heute, und zwar mit
dem Hinweis darauf, dass es für niemanden ein Recht
auf ein Kind gibt
({7})
und dass wir uns im Rahmen unserer staatlichen Wächterfunktion allein am Kindeswohl zu orientieren haben.
({8})
All das haben wir vor wenigen Monaten diskutiert und
deshalb die Simultanadoption abgelehnt.
Fraglich ist, ob es wirklich eine verfassungsrechtliche
Diskriminierung von eingetragenen Lebenspartnerschaften gibt. Die Grünen sehen das so und begründen ihre
Ansicht mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption. In der CDU/CSU-Fraktion
wird mehrheitlich die Meinung vertreten, dass dieser
Rechtsstandpunkt der Verfasser des heutigen Gesetzentwurfes unzutreffend sei. Wir stützen uns dabei auf
Gutachten, die im Rahmen der Anhörung im Rechtsausschuss erstellt worden sind, und auf die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Januar 2014, in der es wörtlich heißt:
… hat das Bundesverfassungsgericht in dieser
Entscheidung offengelassen, ob der Ausschluss der
gemeinschaftlichen Adoption durch zwei eingetragene Lebenspartner mit dem Grundgesetz vereinbar
ist, weil dies nicht Gegenstand des Verfahrens war
…
Entgegen der Ansicht der Grünen hat der Gesetzgeber
also hier Entscheidungsfreiheit.
Bei dem Verbot der Simultanadoption geht es nicht
- hier drehen wir uns ja im Kreis - um die Diskriminierung von Menschen, die in eingetragenen Lebenspartnerschaften leben, sondern - ich weiß, liebe Kolleginnen
und Kollegen aus der Opposition, Sie können es nicht
mehr hören - es geht um das Kindeswohl.
({9})
Auch eine weitere wesentliche Änderung im Gesetzentwurf - damit komme ich zum zweiten Punkt - trifft
nicht auf unsere Zustimmung. Es soll nämlich Artikel
17 b Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum BGB gestrichen werden. Dort heißt es:
Die Wirkungen einer im Ausland eingetragenen Lebenspartnerschaft gehen nicht weiter, als nach den
Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des
Lebenspartnerschaftsgesetzes vorgesehen.
Diese sogenannte Kappungsregelung begrenzt die Wirkungen einer im Ausland eingetragenen Lebenspartnerschaft generell auf den Standard des deutschen Rechts.
({10})
Als Begründung führt der Gesetzentwurf an, dass es
für die Regelung keinen Bedarf mehr gebe. Lebenspartner und Ehegatten würden nach den Plänen der Grünen
durch den jetzt diskutierten Gesetzentwurf ja völlig
gleichgestellt.
In der Begründung zum Entwurf heißt es weiter, dass
ausländisches Recht zukünftig nicht schrankenlos anzuwenden sei, da auch künftig der allgemeine Ordre-public-Vorbehalt in Artikel 6 BGBEG sozusagen als Rettungsanker greifen würde. Danach ist ausländisches
Recht nicht anwendbar, wenn seine Anwendung im Einzelfall mit wesentlichen Grundzügen des deutschen
Rechts offensichtlich unvereinbar wäre. Ob der Ordrepublic-Vorbehalt hier allerdings wirklich greifen und die
Durchsetzung deutschen Rechts im Zweifelsfall garantieren würde, wie es in der Begründung der Grünen
steht, ist in der juristischen Literatur umstritten. Darüber
kann man sicher diskutieren.
Möglicherweise könnte die Streichung von Artikel 17 b
Absatz 4 BGBEG auch als Signalwirkung für die Rechtsprechung angesehen werden, ausländische Ehen nicht
mehr als eingetragene Lebenspartnerschaften zu qualifizieren, sondern als Ehen anzuerkennen. Dies trifft nicht
auf die Zustimmung unserer Fraktion, da wir uns der Definition des Bundesverfassungsgerichtes anschließen,
wonach die Ehe die Verbindung zwischen Mann und
Frau ist.
Die namentliche Abstimmung zum Änderungsantrag
der Grünen zur Sukzessivadoption zeigt, dass die ganz
große Mehrheit der Koalitionsfraktionen der Volladoption durch Lebenspartner kritisch gegenübersteht. Deshalb lehnen wir den Entwurf in der jetzigen Fassung folgerichtig ab.
Danke schön.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte ist
eben ein Zwischenruf gefallen, den ich als unparlamentarisch zurückweise und rüge. Ich finde es auch im Hinblick auf das kollegiale Verhältnis nicht in Ordnung,
dass einer Rednerin in einer derartigen Tonlage begegnet
wird.
({0})
Als nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Ulla
Jelpke, Fraktion Die Linke, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke sagt ganz klar: Kein Mensch darf aufgrund seiner sexuellen Orientierung in irgendeiner Richtung benachteiligt werden.
({0})
Ich möchte hinzufügen: Dies sollte eigentlich eine
Selbstverständlichkeit sein. Zugleich sollte das auch ein
Lackmustest für eine demokratische und offene Gesellschaft sein. Ich sage in Richtung der CDU/CSU: Wer andere Staaten an diesem Punkt zu Recht kritisiert, muss
mit gutem Beispiel vorangehen.
({1})
Die Realität ist leider - auch in Deutschland - eine
andere. Es sind zwar zahlreiche Schritte unternommen
worden, um die Diskriminierung von Lesben und
Schwulen zu beenden - die Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes vor nunmehr 14 Jahren war ein ganz
wesentlicher Schritt dahin -, aber es sind noch immer
gesellschaftliche Ressentiments und Defizite in der Gesetzgebung vorhanden.
Für die Linke ist ganz klar: Erst wenn Lesben und
Schwule, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle
in allen Teilen Deutschlands - ob in der Stadt oder auf
dem Land, ob im Norden oder im Süden - allenthalben
nicht nur toleriert, sondern wirklich akzeptiert sind, ist
die Gleichberechtigung endlich erreicht.
({2})
Wir wissen natürlich, dass das noch ein langer und steiniger Weg sein wird, aber wir alle müssen daran arbeiten hier und auch außerhalb des Parlaments.
({3})
Meine Damen und Herren, wir müssen den Gesetzeswerken die Reste von Diskriminierung nehmen. Als Beispiel nenne ich hier das eben angesprochene Adoptionsrecht. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, Frau
Kollegin, warum das Adoptionsrecht für Lesben und
Schwule nicht endlich umgesetzt wird.
({4})
Zu dem Gesetzentwurf, den die Grünen heute vorgelegt haben, muss ich sagen: Ich lobe Sie ja selten, aber
meines Erachtens ist das ein ausgezeichneter Gesetzentwurf, dem wir auf jeden Fall zustimmen werden.
({5})
Die Gleichberechtigung engagierter Lebenspartner ist
für uns Linke der erste Schritt, alle Lebensweisen in
gleicher Weise anzuerkennen. Unser Ziel ist die Abschaffung des Eheprivilegs. Privilegien, zum Beispiel
Steuervorteile, sollten eben nicht an den Trauschein gebunden sein. Wer Verantwortung übernimmt, zum Beispiel für ein Kind oder für Kranke, sollte immer Unterstützung und Förderung erhalten. Viele Menschen
übernehmen heute ohne Trauschein Verantwortung. Das
ist wichtig und richtig. Diese soziale Wirklichkeit muss
auch auf der rechten Seite dieses Hauses anerkannt werden.
({6})
Aber ich sage auch: Wer heiraten will, soll heiraten
dürfen. Es ist ein Institut für alle, egal ob homo-, trans-,
inter- oder heterosexuell. Deshalb hat die Linke zu Beginn dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur
Öffnung der Ehe eingebracht. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die eingetragene
Lebenspartnerschaft der Ehe gleichgestellt. Das ist für
den Gesetzgeber bindend.
({7})
Es ist eine Farce, dass auch nach langen Diskussionen
immer wieder verlangt und gefordert werden muss, diese
Angleichung endlich zu vollziehen, ohne dass Betroffene bis vor den höchsten Gerichten dafür klagen müssen.
Ich möchte besonders an die SPD appellieren - wir
haben es eben schon gehört -: Sie haben übrigens nicht
nur auf den CSDs, sondern auch als Wahlkampfparole
angekündigt: „100 Prozent Gleichstellung nur mit uns“.
({8})
Also, bitte verstecken Sie sich dann nicht hinter der
Koalitionsdisziplin, sondern stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihnen muss ich sagen, dass Ihr mittelalterliches Weltbild
mit der Mann-Frau-Kinder-Familie nicht mehr in die
Gegenwart passt.
({10})
Seien Sie einmal lernfähig, selbst auf die Gefahr hin,
Ihre konservativen Wähler zu verschrecken. Geben Sie
wenigstens die Abstimmung in Ihrer Fraktion frei, damit
diese Gesetze endlich umgesetzt werden.
Ich danke Ihnen.
({11})
Vielen Dank, Ulla Jelpke. - Von uns einen schönen,
sonnigen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, und den
Gästen auf der Tribüne.
Der nächste Redner ist der Illertisser Dr. Karl-Heinz
Brunner.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Wenn bei Wer wird Millionär? die Frage käme:
„Was haben das Bundesvertriebenengesetz, die ZPO, die
Insolvenzordnung, die Höfeordnung, das Sprengstoffgesetz und das Heimarbeitsgesetz gemeinsam?“, wieviel
Prozent des Publikums würde wohl auf die richtige Antwort: „Bereinigung des Rechts der Lebenspartner“ tippen? Nach den Ausführungen der Kollegin SütterlinWaack und des Kollegen Beck hätten das sicherlich etwas mehr gewusst. Aber ein Blick auf die Tribünen
zeigt, dass die Mehrheit eher nicht richtig gelegen hätte.
Das ist für sich genommen - das sage ich ganz offen nicht schlimm und schon allein deshalb nicht verwerflich, weil die genannten Vorschriften bei vielen Menschen im täglichen Leben überhaupt nicht vorkommen.
Wer hat im Einzelnen schon oft mit dem Heimarbeitsgesetz, mit dem Sprengstoffgesetz oder der Höfeordnung
zu tun?
Schlimm ist aber, dass die Mehrheit der Menschen
meist überhaupt kein Gespür dafür hat, wie verletzend es
sein kann, nach Eingehen einer Lebenspartnerschaft immer und immer wieder aufs Neue begründen und überzeugend belegen zu müssen, dass gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerinnen oder Lebenspartner nichts anderes
tun als verschiedengeschlechtliche Eheleute auch: Sie
stehen füreinander ein. Sie erziehen Kinder. Sie sichern
den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie leisten einen
wertvollen Beitrag fürs Gemeinwesen mit all den Pflichten, die dazugehören. Sie gehen am Sonntagvormittag in
die Kirche oder aber auch nicht, also wie alle anderen
Menschen in diesem Lande auch. Dass die schwulen und
lesbischen Ehepaare dann jedoch zu Recht nichts anderes beanspruchen als ihr Pendant, nämlich alle Rechte,
das ist doch wohl jedem klar; uns Sozialdemokraten
schon lange.
({0})
Genau deshalb haben wir im Koalitionsvertrag unter der
Überschrift „Zusammenhalt der Gesellschaft“ die Beendigung der verfassungswidrigen Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften aufgenommen. Denn
wir wollen nicht, dass in einem Land wie Deutschland
aufrechte Menschen immer erst zum Bundesverfassungsgericht müssen, um ihr Menschenrecht einzuklagen. Denn das ist beschämend.
({1})
Und wir wissen, dass unsere Gesellschaft ohne vollständige Gleichstellung eben nicht funktioniert. Wir brauchen ihn - wie ich immer sage -, den Kitt, der uns zusammenhält, der das Leben in Deutschland erst
lebenswert macht.
Deshalb bin ich Heiko Maas, unserem Minister der
Justiz und für Verbraucherschutz, außerordentlich dankbar dafür, dass er und sein Haus diese Aufgabe beherzt
aufnahmen und bereits, Kollege Beck, im Sommer 2014
einen Referentenentwurf vorlegten, in dem mehr als
150 Vorschriften enthalten sind, und zwar vollständiger,
rechtssicherer, klarer und umfassender, als es der Gesetzentwurf von Ihnen, den Grünen, vorschlägt.
Meine Damen und Herren, hier könnte man sich
- und das werden Sie - folgende Fragen stellen: Warum
befinden wir uns dann noch nicht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren?
({2})
Wo ist er denn, der Gesetzentwurf? Wie steht es mit der
Ressortabstimmung und der Länderbeteiligung? Bei
wem hakt es? - Im Kanzleramt, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({3})
Auch ich will ihn in den Händen halten, den Gesetzentwurf, der die Lebenspartnerschaft der Ehe gleichstellt, einen Entwurf, hinter dem wir uns nicht verstecken müssen, einen Entwurf in die richtige Richtung.
Dass wir hierzu erfreulicherweise Rückenwind aus
Karlsruhe bekommen, ist schön. Dass wir hierzu mit unserem koalitionären Lebensabschnittspartner noch nicht
richtig weiterkommen, dass sich manchmal der Eindruck
aufdrängt, man würde das verschleppen, ist nicht besonders gut.
({4})
Dabei haben wir doch noch einiges miteinander vor.
Und deshalb ist es schön, dass sich die Koalition am
Dienstagabend in der Koalitionsrunde darauf geeinigt
hat, diesen Referentenentwurf jetzt als Gesetz auf den
Weg zu bringen. Auch das ist die Wahrheit in dem Gesetzgebungsverfahren, und das ist gut so. Denn wir haben noch einiges vor,
({5})
sei es die längst fällige Rehabilitierung der nach § 175
StGB in Westdeutschland verurteilten Männer - heute
im höchsten Alter -, die ein Recht darauf haben, Frieden
mit ihrem Land, mit ihrer Heimat zu machen, oder seien
es die immer noch ungeregelten Fragen der gemeinsamen Adoption.
Deshalb ein Appell an alle Anwesenden: Lassen Sie
uns Volksvertreter nicht immer Nachzügler, sondern
Vorreiter sein - zumindest politische Vorreiter. Denn die
Gesellschaft, die Menschen, um die es hier geht, sind
dort schon längst angekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wahr:
Die Arbeit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu ihrem eigenen Gesetzentwurf verdient durchaus Anerkennung und Respekt.
({6})
Aber es ist ebenso wahr, dass dieser gute Ansatz, lieber Kollege Beck, gleich wieder eingerissen wird - nicht
durch uns, nicht durch die Kolleginnen und Kollegen der
Union, sondern durch Sie selbst. Denn wenn ich in
Queer lesen muss, dass Sie dort den Sozialdemokraten
öffentlich vorwerfen, aus ideologischen Gründen homosexuelle Paare weiter zu benachteiligen, ist das mehr als
bloß ein öffentlichkeitswirksamer Witz.
({7})
Es ist unrichtig und - noch viel schlimmer - es verletzt.
Es dient nicht der Sache und noch weniger den schwulen
und lesbischen Lebenspartnern in unserem Land.
({8})
Sie wissen ganz genau: Ginge es ganz allein nach uns,
wäre das Thema gegessen. Doch Politik ist auch Überzeugungsarbeit. Sie muss auch ein Stück weit mitnehmen. Und beim Mitnehmen, möchte ich sagen, ist noch
etwas Luft nach oben.
Zum Schluss möchte ich sagen: „Pacta sunt servanda“
- Verträge sind einzuhalten -, auch Koalitionsverträge.
Das hören wir sehr oft in diesen Tagen - ob es um das
Hilfspaket für Griechenland geht, ob es um den Mindestlohn oder die Pkw-Maut geht, aber auch bei der Gleichstellung.
Ich freue mich auf die Beratung in den Ausschüssen,
in der Hoffnung, die den Politiker immer erst ganz zum
Schluss verlässt - hoffentlich in diesem Fall nicht -, dass
wir eine gute gemeinsame Lösung finden. Denn die
Menschen in diesem Lande haben Gleichstellung verdient. Es ist Zeit dafür.
({9})
Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. Nächster Redner
in der Debatte ist Dr. Volker Ullrich, Augsburg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen trägt den Titel: Entwurf eines Gesetzes zur Beendigung der verfassungsrechtlichen Diskriminierung.
({0})
Das Wort „Diskriminierung“ beinhaltet die Abwesenheit
von Respekt und Toleranz. Da muss ich ganz ehrlich
sagen, Kollege Beck und auch andere: Wenn Sie hier
Toleranz und Respekt einfordern, dann beweisen Sie mit
Ihrer Wortwahl das Gegenteil von Toleranz und Respekt.
Das ist einfach erbärmlich und dieses Hohen Hauses
nicht würdig.
({1})
Im Lebenspartnerschaftsgesetz ist in vielen rechtlichen Bereichen
({2})
die Gleichstellung schon vollzogen.
({3})
Wir wollen in anderen Teilen unserer Rechtsordnung,
dort, wo es klarstellend ist, aber auch dort, wo die rechtlichen Verhältnisse zweier Partner betroffen sind, die
Gleichstellung juristisch auf eine saubere Grundlage
stellen; das ist gar keine Frage. Für uns gilt: Wer seiner
persönlichen Bindung ein rechtliches Band gibt und der
Gesellschaft damit in einem besonderen Maße Solidarität und Zusammenhalt signalisiert, kann auch mit der besonderen Unterstützung des Staates rechnen. Das meint
auch der Schutz von Ehe und Familie. Das ist der Kern
von Unionspolitik. Und da brauchen wir keine Belehrungen.
({4})
Der Gesetzentwurf trifft jedoch Wertentscheidungen,
die über die rein rechtliche Gebotenheit hinausgehen. Es
geht wieder um die Frage, vor der wir schon vor einem
Jahr gestanden sind: Folgen wir dem Bundesverfassungsgericht im Bereich der Sukzessivadoption, oder
setzen wir eine eigene gesetzgeberische Wertentscheidung, nämlich die Volladoption zuzulassen? An den Ar8308
gumenten, die wir vor einem Jahr im Hohen Hause ausgetauscht haben, hat sich bis heute nichts geändert.
({5})
Bei der Sukzessivadoption gewinnt ein Kind ein Mehr
an Rechten, zum Beispiel was das Erbrecht und das
Unterhaltsrecht betrifft, auch ist ein rechtliches sowie
emotionales Band zu einem Partner schon vorhanden,
während bei der Volladoption zwei völlig neue rechtliche Bänder entstehen
({6})
und eine emotionale Bindung noch nicht vorhanden ist,
die dann erst geknüpft werden muss. Insofern gibt es
hier einen tatsächlichen Unterschied zwischen der Volladoption und der Sukzessivadoption.
({7})
- Herr Kollege Beck, auch wenn Sie es nicht hören wollen: Es ist diesem Gesetzgeber unbenommen, in Bereichen, in denen Ansatzpunkte für eine gesetzgeberische
Wertentscheidung vorhanden sind, diese auch auszufüllen. - Entscheidender Ansatzpunkt bei der Frage der
Adoption ist für uns immer noch das Kindeswohl und
die Frage: Was ist für das Kind das Beste?
({8})
Im Übrigen sei auch angesprochen: Wenn Sie eine gesellschaftliche Wertentscheidung treffen wollen und
wenn Sie für die Volladoption sind, dann wäre es redlicher, diesbezüglich einen eigenen Gesetzentwurf einzubringen
({9})
- noch einmal einbringen -, statt das Ganze als Annex
zu einer an sich vernünftigen rechtlichen Regelung einzubringen. Damit täuschen Sie auch das Parlament.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wawzyniak? - Bitte.
Herr Kollege Ullrich, könnten Sie mir kurz erklären,
worin im Hinblick auf das Kindeswohl der Unterschied
besteht, wenn Mann und Frau eine Adoption durchführen oder wenn Mann und Mann oder Frau und Frau eine
Adoption durchführen?
({0})
Es geht hier im Grunde genommen um eine gesetzgeberische Wertentscheidung, die die biologische Realität
widerspiegelt.
({0})
Wir sind nicht gegen die Sukzessivadoption, weil hier
ein Mehr an Rechten für Kinder begründet wird. Wir sagen aber auch, dass die Frage der Neubegründung von
rechtlichen und emotionalen Beziehungen genau abgewogen werden muss.
Der Gesetzgeber ist nicht gezwungen, das zu tun.
Deswegen hat sich der Bundestag letztes Jahr auch mit
großer Mehrheit dagegen entschieden. Ich bitte Sie, das
nach parlamentarischem Gebrauch zu akzeptieren.
({1})
Erlauben Sie eine zweite Zwischenfrage vom Kollegen Mutlu? - Bitte sehr.
({0})
Kollege Ullrich, eigentlich dachte ich, die Frage hätte
sich erledigt, weil die Kollegin das schon angesprochen
hat. Aber nachdem Sie jetzt das mit der „Biologie“ gesagt haben: Können Sie mir einmal in Bezug auf das
Kindeswohl diesen Gedanken der „Biologie“ noch ein
bisschen ausführen? Ich habe das nicht verstanden.
({0})
Als Laie, der ich bin, würde ich das von Ihnen gern einmal hören.
({1})
Herr Kollege, ich glaube, diese Debatte eignet sich
nicht, um anekdotische und auch ironische Bemerkungen fallen zu lassen.
({0})
Das war nun wirklich eine Frage.
Sie müssen auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
beispielsweise auch nicht verheiratete Paare kein Adoptionsrecht haben.
({0})
Der Gesetzgeber nimmt eben in diesem Bereich verschiedene Wertungsentscheidungen vor, und diese Wertungsentscheidungen hat dieser Bundestag im letzten
Jahr anerkannt. Daran wollen wir im Augenblick nicht
rütteln lassen.
({1})
Der zweite Punkt, warum dieser Gesetzentwurf unseren Widerspruch erfährt, ist die Neuregelung des Artikels 17 b Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Nach dieser Regelung dürfen die
rechtlichen Verhältnisse einer im Ausland geschlossenen
Lebenspartnerschaft nicht über die hinausgehen, die man
im Inland den Menschen zugesteht.
({2})
Sie können - ich sage es Ihnen ehrlich - Rechtssicherheit nicht dadurch bekommen, dass Sie diese klare
Klausel durch eine vage Generalklausel des Ordre public
ersetzen und damit nicht zur Rechtsklarheit und Rechtswahrheit beitragen. Dass Sie eine klare Regelung durch
eine Generalklausel ersetzen, das trägt nicht zur Rechtssicherheit bei. Deswegen sind wir auch - im Übrigen haben das auch das Bundesministerium des Innern und das
Bundeskanzleramt zutreffend bemerkt - gegen diesen
Vorschlag.
Herr Ullrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung des Kollegen Beck?
({0})
- Darauf werde ich achten. Da brauche ich Ihre Hilfe
nicht.
Herr Kollege, könnten Sie denn bitte dem Hohen
Haus erläutern, wie wir das beim Eherecht regelten, dass
die ausländischen Regelungen hier greifen, oder beschränken wir auch die Ehe so, wie wir die Lebenspartnerschaft im Lebenspartnerschaftsgesetz in ihren
Rechtswirkungen beschränken, im internationalen Privatrecht und im deutschen Familienrecht in dieser Art
und Weise?
Kollege Beck, wir führen jetzt keine juristische Debatte
({0})
über die Wirkung der Ehe, sondern es geht um Ihren
konkreten Vorschlag, eine Norm, die sich bewährt hat
und die einen klaren Rechtsgedanken zum Ausdruck
bringt, abzuschaffen.
({1})
Diese Norm wollen wir beibehalten. Darum geht die
Debatte. Wir haben gute Gründe, diese Norm beizubehalten, weil diese Norm - Artikel 17 b BGBEG - zur
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beiträgt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Debatte zeigt, dass
hier viele Aufgeregtheiten im Spiel sind, die nicht notwendig sind.
({3})
Die Bundesregierung wird in den nächsten Wochen
und Monaten einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem alle
diese Punkte, bei denen es geboten ist, die Gleichstellung endgültig durchzusetzen, geregelt sein werden.
Dort, wo eine gesetzgeberische Wertentscheidung über
diese Gebotenheit hinausgeht - bei der Frage Artikel 17 b und bei der Frage der Volladoption -, wird dieser Gesetzentwurf die von Ihnen gewünschten Regelungen nicht beinhalten.
Die parlamentarische Debatte und auch die Abstimmung am Ende des Verfahrens werden zeigen, welcher
von den Vorschlägen die Mehrheit bekommt. Aber ich
kann Ihnen versichern, dass wir überall dort, wo die
Gleichstellung notwendig ist und wo sie auch geboten
erscheint, beherzt und gern zustimmen. Aber dort, wo es
einen gesetzgeberischen Spielraum gibt, werden wir ihn
wahrnehmen, weil wir letztlich nur so unseren verfassungsmäßigen Auftrag erfüllen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Ullrich. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Caren Lay für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt heute einen guten Anlass, aber es ist
gleichzeitig auch etwas traurig, dass wir 14 Jahre nach
Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes immer
noch über Lücken und bestehende Ungleichheiten zwischen Lebenspartnerschaften und Heteroehen diskutieren müssen.
({0})
Der Grund dafür - das ist heute wieder sehr klar geworden - hat im Wesentlichen drei Buchstaben: CDU.
({1})
- Okay: CDU und CSU tragen aus meiner Sicht die Verantwortung. Denn sie sitzen es mit Rücksicht auf ihre
vermeintlich konservative Wählerschaft einfach aus, die
Benachteiligung von Lebenspartnerschaften gegenüber
der Ehe endlich abzuschaffen, und überlassen das geflissentlich dem Bundesverfassungsgericht. Aber, meine
Damen und Herren, es ist doch unsere Aufgabe, für die
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehen zu
sorgen. Das darf die CDU nicht länger behindern.
({2})
Wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf.
Das ist schon gesagt worden. Lebenspartnerschaften in
allen gesetzlichen Regelungen der Ehe gleichzusetzen,
muss doch selbstverständlich sein.
({3})
Auch der Koalitionsvertrag benennt dieses Ziel.
Mit Verlaub, liebe Grüne: So richtig der Gesetzentwurf ist, so banal ist er auch. So hätte er auch von der
Koalition kommen können.
({4})
Ich finde, Sie können sich jetzt die Fleißarbeit in den
Amtsstuben sparen und dem Gesetzentwurf einfach zustimmen.
({5})
Aus unserer Sicht wäre es viel einfacher und konsequenter gewesen, unserem Vorschlag zu folgen, den wir
- auch in dieser Legislaturperiode - mehrfach eingebracht haben, nämlich die Ehe für Lesben und Schwule
zu öffnen. Es mag vor 14 Jahren nicht anders durchsetzbar gewesen sein, als ein Sondergesetz für Lesben und
Schwule zu schaffen; heute ist das nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen die Ehe für Lesben und Schwule
öffnen. Das wäre das Einfachste.
({6})
Meine Damen und Herren, ich kann überhaupt nicht
verstehen, warum CDU und CSU sich mit Händen und
Füßen dagegen wehren. Vorhin wurde das Stichwort
„Kindeswohl“ genannt. Ich bitte Sie: Entscheidend ist
nicht, ob die Eltern hetero- oder homosexuell sind. Entscheidend ist vielmehr, wie liebevoll und verantwortungsbewusst sie mit ihren Kindern umgehen. Darauf
kommt es an.
({7})
Es könnte so einfach sein. Denn gleiche Rechte für
Lesben und Schwule schaden niemandem. Fällt Ihnen
ein Zacken aus der Krone, wenn die Lesben und Schwulen in Ihrer Nachbarschaft, in Ihrer Partei und vielleicht
auch in Ihrer Fraktion genauso eine Ehe eingehen wie
Sie selbst? Welche Heteroehe oder welches Kind ist in
Gefahr, wenn Lesben und Schwule, seien es Kollegen an
Ihrem Arbeitsplatz oder jemand aus der Nachbarschaft,
ebenfalls heiraten dürfen? Das könnte Ihnen doch völlig
egal sein. Ich finde, wir haben im Bundestag überhaupt
nicht zu bewerten, welcher Lebensentwurf der höherwertige ist.
({8})
Es wird gerne - auch das ist bereits angeklungen das Grundgesetz mit dem besonderen Schutz von Ehe
und Familie bemüht. Es steht aber nirgendwo geschrieben, dass das eine heterosexuelle Ehe oder eine heterosexuelle Familie sein muss. In Artikel 3 Grundgesetz heißt
es: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Ich
finde, es ist an der Zeit, das endlich umzusetzen.
({9})
Meine Damen und Herren, hätten Sie gedacht - diesen Aspekt möchte ich noch erwähnen -, dass etwa im
Sprengstoffgesetz oder in der Approbationsordnung für
Zahnärzte auf Eheleute Bezug genommen wird? Das ist
im Grünen-Gesetzentwurf en détail nachzulesen. Ich
hätte damit allenfalls in der Verfahrensordnung für Höfesachen gerechnet.
Abschließend möchte ich erwähnen, dass es immer
mehr Menschen, egal welcher sexueller Orientierung,
gibt, die sich dafür entscheiden, nicht zu heiraten. Sie
leben ohne Trauschein zusammen, als alleinerziehende
Väter oder Mütter, als selbstbewusste Singles oder in
WGs. Sie leben, wie sie wollen, und eben nicht so, wie
sie nach Auffassung der CDU/CSU möglicherweise leben sollen.
Deswegen sage ich: Die Gleichstellung von Lebenspartnerschaft und Ehe oder - besser noch - die Öffnung der Ehe für alle kann nur ein erster Schritt sein. Die
Gleichstellung aller Lebensweisen muss unser Ziel bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollegin Lay. - Wir haben uns im Präsidium gerade die Frage gestellt, was es eigentlich mit
dem Sprengstoffgesetz auf sich hat. Vielleicht kann uns
das einer der folgenden Redner erklären. Wir hier oben
wissen es auf jeden Fall nicht.
({0})
Vielleicht macht es Frau Dr. Katarina Barley. Sie ist die
nächste Rednerin in dieser Debatte für die SPD.
({1})
Zum Sprengstoffgesetz, meine sehr verehrte Frau Präsidentin, wollte ich jetzt eigentlich nicht ausführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bei uns in Deutschland ist
bunt, ist vielfältig, und das ist auch gut so. Es gibt viele
unterschiedliche Formen des Zusammenlebens. Es gibt
verheiratete Paare, unverheiratete Paare, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften. All das ist in der Realität längst akzeptiert. Ich selbst komme aus einem sehr katholisch
geprägten Wahlkreis, aus einer kleinen Stadt. Bei uns
existieren all diese Lebensformen sehr friedlich und normal nebeneinander.
({0})
- Genau, ganz ohne Sprengstoff. - Leider findet diese
Normalität noch keine vollständige Entsprechung in der
Gesetzgebung. Bei den Rechten und auch bei den Pflichten besteht noch immer Handlungsbedarf, diese gesellschaftliche Realität auch rechtlich abzusichern.
Bei den gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften haben wir schon viel erreicht. Aber von einer hundertprozentigen Gleichstellung sind wir noch immer
entfernt, und das - das ist heute schon mehrfach angeklungen -, obwohl das Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe immer wieder entschieden hat, dass Ungleichbehandlungen von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften verfassungswidrig sind. Wir alle hier im
Hause wissen das. Aber noch immer findet rechtliche
Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung statt.
Noch immer werden gleichgeschlechtliche Paare in einer
Reihe von Rechtsbereichen gegenüber Ehepaaren benachteiligt, zum Beispiel bei der Namensgebung des
Kindes, bei der Übernahme von Mietverträgen sowie bei
Insolvenz- oder Zwangsversteigerungsverfahren. Noch
immer werden in einigen Vorschriften, vor allen Dingen
im Zivil- und Verfahrensrecht, Lebenspartnerschaften
unterschiedlich behandelt, ohne dass es dafür einen
überzeugenden Grund gäbe.
Ich möchte nach dem bisherigen Debattenverlauf
noch einmal auf die Adoption eingehen. Das ist ein besonders wichtiges Thema, weil es dabei um das Kindeswohl geht. Wir müssen uns ja vor Augen führen: Wir reden hier nicht über Rechtsvorschriften, sondern über real
existierende Menschen. Schon heute leben viele Kinder
in gleichgeschlechtlichen Familien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften; manche von ihnen im Wege der
Sukzessivadoption rechtlich legalisiert als Familie, andere eben nicht. Herr Kollege Ullrich, Sie verwechseln
da vielleicht die Sukzessivadoption mit der Stiefkindadoption.
({1})
Auch bei der Sukzessivadoption muss das Kind nicht
von einem Ehepartner stammen.
Wir müssen uns, glaube ich, schon darüber bewusst
sein, welche Auswirkungen es hat, wenn wir sagen: Wir
gewähren euch das Recht, eine normale Familie zu sein,
eben nicht.
({2})
Auch hier geht es, Frau Sütterlin-Waack, um das Kindeswohl. Wir dürfen den Kindern, die in einer gleichgeschlechtlichen Familie groß werden und nicht unter die
Regelungen einer Sukzessivadoption fallen, nicht den
Eindruck vermitteln, dass sie weniger wert sind und dass
ihre Familie in rechtlicher Hinsicht weniger eine Familie
ist als eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft,
die in den Genuss der Vorteile einer Sukzessivadoption
gekommen ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch das
Bundesverfassungsgericht das so sehen wird.
({3})
Auch da liegt ein bisschen das Problem. Ich finde es als
Juristin eher peinlich, wenn wir als Gesetzgeber unsere
Verantwortung nicht wahrnehmen, sondern uns vom
Bundesverfassungsgericht immer wieder sagen lassen
müssen,
({4})
dass wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden.
({5})
Die vollständige Gleichstellung der eingetragenen
Lebenspartnerschaften ist uns ein Kernanliegen. Wir haben damit im Wahlkampf Werbung gemacht; das ist
richtig.
({6})
- Stimmt, das war auch gut so. - Wenn uns alle lesbischen und schwulen Paare gewählt hätten, dann hätten
wir vielleicht etwas mehr Durchschlagskraft gehabt, um
das in der jetzigen Koalition durchsetzen zu können.
({7})
Das wäre vielleicht ein Appell für das nächste Mal.
({8})
Wir haben den klaren Auftrag aus dem Grundgesetz
und auch vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe,
die Gleichstellung vollständig umzusetzen. Das steht in
unserem Koalitionsvertrag, und wir lassen dieses Ziel
nicht aus den Augen.
Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatzgesetzgeber. Die Pflicht und das Recht zur Gestaltung liegen
beim Parlament. Alles andere wäre für uns ein Armutszeugnis. Wir werden weiterhin auf die Umsetzung des
Koalitionsvertrags dringen. Der Justizminister hat einen
Referentenentwurf vorgelegt; der Kollege Brunner hat
das schon ausführlich beleuchtet. Wir werden nicht
nachlassen, bis zum Ende der Legislaturperiode hier
noch Verbesserungen vorzunehmen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich darf einmal ganz kurz Weiterbildung betreiben
- danke für die Information -: Laut Sprengstoffgesetz
gilt die Fortsetzung der Erlaubnis zum Umgang und Verkehr mit explosionsgefährlichen Stoffen nach dem Tode
des Erlaubnisinhabers oder der Erlaubnisinhaberin für
Ehegatten, nicht für Lebenspartner bzw. Lebenspartnerinnen. - Das war eine Erläuterung, weil Sie alle so unwissend geschaut haben.
Nächste Rednerin: Ulle Schauws für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Vor knapp zwei Jahren hat
meine Fraktion schon einmal einen Gesetzentwurf zur
abschließenden Beendigung der verfassungswidrigen
Diskriminierung der eingetragenen Lebenspartnerschaften in den Bundestag eingebracht. Die Debatte, die, damals noch unter der schwarz-gelben Regierung, in diesem Haus geführt wurde, war weiß Gott keine
Glanzleistung. Auch heute ist sie es nicht - dank CDU/
CSU!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
haben gebetsmühlenartig wiederholt, man könne die Privilegierung der Ehe nicht aufgeben. Einige weigerten
sich sogar, wegweisende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anzuerkennen nach dem Motto:
Gleiche Rechte für gleiche Pflichten nicht für Lesben
und Schwule, ganz egal, was Karlsruhe dazu sagt. - Es
ist aus dem, was wir heute hier schon gehört haben, sehr
deutlich geworden, dass sich Ihr Weltbild in diesem
Punkt eigentlich nicht verändert hat.
({0})
Zwei Jahre später, so dachten wir zumindest, dürfte
Ihnen die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf von uns
Grünen eigentlich leichter fallen, weil wir nur das umsetzen, was Sie im Koalitionsvertrag mit der SPD verabredet haben. Wörtlich steht da:
Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden
wir beseitigen.
Wir warten jetzt seit 2013 auf Ihre Vorschläge. Ich
sage Ihnen eines: Den Beschluss im Koalitionsausschuss
zum Referentenentwurf in dieser Woche hätte es nicht
gegeben, wenn wir Grüne nicht für heute diese Debatte
angekündigt hätten.
({1})
Ich sage aber auch: Spätestens nach der heutigen Debatte und nach dem, was Sie, Herr Kollege Ullrich, hier
ausgeführt haben, ist klar: Sie haben es immer noch
nicht verstanden. Wenn Sie einen Gesetzentwurf vorlegen, der die gemeinschaftliche Adoption nicht vorsieht,
haben Sie es immer noch nicht verstanden.
({2})
Darum wende ich mich jetzt noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen der SPD. Ich will nicht versäumen, Sie an die Worte Ihres Fraktionsvorsitzenden aus
der Plenardebatte vom Februar 2013 zu erinnern. Ich zitiere Thomas Oppermann:
({3})
Es ist an der Zeit, dass wir Lebenspartnerschaften
umfassend gleichstellen: im Sozialrecht, im Familienrecht, im Steuerrecht. „Gleiche Rechte für alle“
heißt die Parole in Deutschland.
({4})
Die Kollegin Steffen, die ich eben hier gesehen habe,
hat im März 2013 gesagt:
Es ist lächerlich, immer noch dagegenzustimmen,
nach dem, was das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, nach dem, was die Mehrheit unserer
Bevölkerung sagt, und nachdem aktuelle Umfragen
zeigen, dass selbst die Mehrheit der CDU-Anhänger … die Homo-Ehe befürwortet.
Also, Herr Oppermann, Frau Steffen, liebe SPD: Wir
nehmen Sie heute beim Wort.
({5})
Sie können das, was Sie vor zwei Jahren aus Überzeugung tun wollten, jetzt endlich tun und zustimmen.
({6})
Sie können dafür Sorge tragen, dass wir mit den Mehrheiten in diesem Haus zwei verlorene Jahre aufholen und
endlich die rechtliche Gleichstellung für Lesben und
Schwule herstellen.
Zur Union will ich auch noch etwas sagen: Beenden
Sie die Ausgrenzung von eingetragenen Lebenspartnerschaften und auch von Regenbogenfamilien. Ihre Argumente sind für viele Menschen ein Schlag in die Magengrube, nicht nur für Lesben und Schwule. Da erhoffen
sich wirklich viele von Ihnen mehr Mut. Wenn Sie es in
Ihrer Fraktion nicht schaffen, die ewiggestrigen Ansichten zu revidieren, wird dies am Ende der Wahlperiode
ein Teil Ihrer politischen Bankrotterklärung sein.
Und noch etwas: Sie sollten sich in Zeiten, wo zu befürchten steht, dass Homophobie wieder salonfähig werden könnte, sehr gut überlegen, wie Sie Ihre Abgrenzung
von rechten Kräften und der AfD ausgestalten wollen.
Ich finde, das kann ein sehr schmaler Grat sein.
Wir als Grüne stehen ganz klar für eine moderne,
vielfältige Gesellschaftspolitik, die sich gegen jede Form
der Diskriminierung stellt; und wir werden hier auch
nicht nachlassen. Darum appelliere ich am Ende noch
einmal an alle hier in diesem Haus und fordere Sie auf:
Unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf! Es gibt keinen
Grund mehr, dies nicht zu tun! Überlassen Sie diese Arbeit nicht länger dem Bundesverfassungsgericht!
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollegin Schauws. - Nächste Rednerin
in der Debatte: Gudrun Zollner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gemeinsam durchs Leben zu gehen, füreinander da zu sein, gegenseitig Verantwortung zu übernehmen, das sind Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen.
Diese gelebten Werte finden wir besonders im Zusammenleben von zwei Menschen, die sich entschließen, zu
heiraten. Wenn ein Mann und eine Frau diesen Schritt
tun, nennen wir es klassische Ehe. Wenn zwei Frauen
oder zwei Männer diesen Schritt tun, nennen wir es eingetragene Lebenspartnerschaft. Die gelebten Werte finden wir aber hier wie dort.
({0})
Trotzdem: Wenn man bezogen auf die Gleichstellung
von Lebenspartnerschaft und Ehe, wie im Gesetzentwurf
der Grünen angesprochen, von Verfassungswidrigkeit
spricht, möchte ich darauf verweisen, dass die Privilegierung der Ehe immer noch im Grundgesetz verankert
ist.
({1})
Im letzten Familienbericht der Bundesregierung wird
thematisiert, dass die Pluralisierung der Lebensformen
zunimmt. Dazu gehören neben der klassischen Familie
auch Singles, unverheiratete Paare, Alleinerziehende
und eben auch homosexuelle Paare, Mütter- und Väterpaare. Die Regenbogenfamilien erobern ihren eigenen
Platz in der Familienlandschaft. Deshalb setzt sich die
Regierungskoalition intensiv mit diesem Thema auseinander. Auch interfraktionell wird in den einzelnen Arbeitsgruppen sehr professionell diskutiert und miteinander umgegangen.
({2})
Das würde ich mir oft auch hier im Plenum wünschen.
({3})
Für das gute interfraktionelle Arbeiten möchte ich mich
ganz herzlich bei den einzelnen Kolleginnen und Kollegen bedanken.
({4})
Seit Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes
im Jahre 2001 gibt es eine weitgehende Gleichbehandlung von Lebenspartnern und Eheleuten. In vielen wesentlichen Bereichen sind Lebenspartner mit Ehegatten
mittlerweile gleichgestellt worden. Noch in der letzten
Legislaturperiode wurde geregelt, dass das Ehegattensplitting auch für Lebenspartner gilt, womit diese Benachteiligung rückwirkend zum Jahr 2001 behoben
wurde. Damit profitieren auch Lebenspartner und nicht
nur Ehegatten vom Splittingvorteil bei der Einkommensteuer.
Erst letztes Jahr wurden die Regelungen zur Sukzessivadoption vom Deutschen Bundestag umgesetzt. Hier
möchte ich etwas ganz Persönliches hinzufügen: Ich bin
alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Es war nicht
einfach, zwei Kinder ohne ihren Vater großzuziehen. Die
Funktion des männlichen Vorbilds konnte ich als Frau
nicht erfüllen; es fehlte. Das möchte ich zu diesem
Punkt, Kindeswohl, einfach nur anführen.
Mit dem bis letztes Jahr laufenden bundesweiten Modellprojekt „Homosexualität und Familien“ unterstützte
das Bundesfamilienministerium Beratungsstellen, damit
heterosexuelle Angehörige beim späten Coming-out eines Partners oder Kindes kompetent begleitet werden
konnten.
Ansprechen möchte ich außerdem an dieser Stelle die
hervorragende Arbeit der Bundesstiftung Magnus
Hirschfeld, die 2011 von der Bundesrepublik Deutschland errichtet worden ist.
({5})
In den vergangenen Jahren ist viel für Andersliebende
getan worden. Die Regierungsparteien möchten diesen
Weg fortsetzen und haben deshalb die Anliegen der Homosexuellen auf der Tagesordnung, insbesondere was
den Bereich Diskriminierung und Homophobie angeht.
Erst gestern war die Auftaktkonferenz des Bundesprogramms „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“. Eine der
Arbeitsgruppen hat sich mit dem Thema beschäftigt, wie
man Akzeptanz für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt
herstellen kann. In diesem Zusammenhang soll es zum
Abbau von Homophobie ein bundesweites Projekt und
mehrere Modellvorhaben geben.
Eine tolerante Gesellschaft lässt sich aber nicht nur
durch Gesetze verordnen. Toleranz kann nur erreicht
werden, wenn wir Vorurteile abbauen, auch gegenüber
der CSU, Frau Kollegin,
({6})
wenn wir aufeinander zugehen und wenn wir bereit sind,
andere Lebensentwürfe zu akzeptieren und zu respektieren, und zwar von allen Seiten. Wie wichtig das ist, wird
deutlich, wenn wir über die Grenzen Deutschlands hinausblicken. So geht die Diskriminierung und Verfolgung
homosexueller Menschen in mehreren afrikanischen
Ländern ungebremst weiter; im asiatischen Raum werden sie zum Teil sogar mit dem Tod durch Steinigung
bestraft. Weltweit ist Homosexualität noch in über
70 Staaten strafbar. Dazu kommen Länder wie Russland,
wo Homosexualität zwar legal ist, Schwule und Lesben
aber dennoch massiv unter Unterdrückung und Repressalien leiden. Es gilt daher, Diskriminierung und Homophobie entschieden entgegenzuwirken und für Toleranz
und Respekt einzutreten.
({7})
Es ist unstrittig, dass Lebenspartnerschaften heute zu
unserer Gesellschaft gehören, dass Regenbogenfamilien
alltäglich und doch anders sind. Wir werden deshalb
„weiterhin bestehende Ungleichbehandlungen“, wie es
im vorliegenden Gesetzentwurf der Grünen heißt, durch
einen eigenen Entwurf, der aktuell in den Ressorts zur
Abstimmung liegt, aufgreifen. Änderungen im Sozialrecht, der Zivilprozessordnung, der Insolvenzordnung,
im BGB usw. werden gemäß dem Koalitionsvertrag umgesetzt, sodass die entsprechenden Regelungen, die
gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechterstellen, zeitnah beseitigt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Zollner. - Nächster Redner in der Debatte: Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 1998 bin ich im Deutschen Bundestag.
Seit 1998 diskutieren wir dieses Thema. Seit 1998 gibt
es hier in diesem Hohen Hause von vielen Parteien große
Bereitschaft, dieses Thema abzuräumen und ein für alle
Mal klar zu sagen, dass der, der die gleichen Pflichten
hat, auch die gleichen Rechte beanspruchen darf.
({0})
Wir sind uns hier in großen Teilen des Hauses einig.
Das Tempo dieser Entwicklung hat sich allerdings
immer an den Entwicklungsfortschritten in der Union
bemessen. Das hat gedauert.
({1})
Man sieht ja: Wir sind jetzt im Jahr 2015 und sind immer
noch nicht da angekommen, wo wir hinwollen. Aber an
dem, was wir heute von der Kollegin Sütterlin-Waack
und von der Kollegin Zollner gehört haben, sieht man,
wie weit die Union sein kann. Das hätte ich 1998 oder
2005 nie gedacht. Man muss anerkennen: Es geht weiter,
und es gibt Fortschritt.
({2})
Trotzdem kann ich verstehen, dass es vielen Betroffenen in diesem Land nicht schnell genug geht. Für die,
die 16, 20, 25 oder 30 Jahre alt sind, die sich selber fragen, ob sie sich outen möchten, die in diesem Land einen
Arbeitgeber haben, der das vielleicht anders sieht, wäre
es schon gut, wenn der Deutsche Bundestag die gesellschaftliche Entwicklung vorantreibt und nicht hinterhertrödelt oder vom Verfassungsgericht geschoben oder getreten werden muss. Das wäre der Auftrag des
Deutschen Bundestages. Daran, finde ich, müssen wir
uns messen lassen.
({3})
Wenn wir uns diese Debatte angucken, stellen wir
fest, dass es immer wieder einige Kolleginnen und Kollegen gibt, bei denen die gesellschaftliche Realität später
ankommt. Wir haben das Problem, dass viele die jetzige
Regelung, die jetzige Gesetzeslage, als Diskriminierung
wahrnehmen - ich zum Beispiel.
({4})
In der Union wird das in Teilen anders gesehen. Jeder
hilft sich, wie er kann. Aber am Ende ist es so, dass wir
als Gesetzgeber darauf hinwirken müssen, dass es gleiche Rechte und gleiche Pflichten gibt für jede Frau, für
jeden Mann.
Wir müssen uns zum Beispiel der Frage stellen, die
auch eben schon diskutiert worden ist, wie es denn mit
der Privilegierung der Ehe ist. Ich finde, man muss sich
überlegen, was man privilegiert, und sollte überall da
privilegieren, wo es Kinder gibt, wo Kinder aufgezogen
werden. Die bedürfen der Fürsorge des Staates. Da ist
das gesellschaftliche Engagement notwendig. Ich persönlich sehe gar nicht ein, warum diejenigen, die in einer
Lebenspartnerschaft leben, und diejenigen, die in einer
Ehe leben, nicht gleichbehandelt werden.
Zum Zwecke, diese Gleichbehandlung sicherzustellen, legt Heiko Maas jetzt einen Gesetzentwurf vor, der
das umsetzt, was im Koalitionsvertrag steht, also was
wir mit der CDU/CSU vereinbart haben. Dieser Gesetzentwurf ist übrigens auch besser als der, den die Grünen
vorgelegt haben. Deswegen freue ich mich, wenn wir
diesen Gesetzentwurf zügig bekommen.
({5})
Das heißt, wir werden rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechterstellen, beseitigen. Das ist gut so. Das werden wir tun. Ich
glaube, dass es im wahren Leben auch etwas Selbstverständliches ist. Traurig ist, dass es bis zum Jahre 2015
gedauert hat, das zu realisieren.
({6})
An dieser Stelle ist es allerdings so, dass unser Koalitionsvertrag der Union hilft - ich sage einmal -, über die
vielbefahrene Straße der modernen Gesellschaft zu kommen. Ich lese ja, wie die Union sich bemüht - ich bin
Hamburger und habe es gerade erlebt -, dass man über
sie als eine moderne Großstadtpartei spricht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich glaube, das
Thema Großstadtpartei hat sich für Sie so lange erledigt,
wie die Zielgruppe der Lesben und Schwulen weiterhin
glaubt, dass sie durch Ihre Politik täglich diskriminiert
wird. Das mögen Sie anders sehen, aber es gilt in diesem
Fall der Empfängerhorizont. Es gelten in diesem Fall die
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Es gilt
in jedem Fall - so sehe ich das - die Wahrheit, die Lebensrealität, so wie sie bei den Menschen ankommt.
Das heißt, wir im Deutschen Bundestag müssen uns
darum kümmern, dass dieses Thema bald abgeräumt
wird. Wir im Deutschen Bundestag sind in der Pflicht,
dafür zu sorgen, dass Lesben und Schwule gleichgestellt
werden, und zwar in allen Bereichen. Wenn man sagt,
auf der einen Seite gibt es die Lebenspartnerschaft und
auf der anderen Seite die Ehe, und beide sind rechtlich
komplett gleichgestellt, dann stelle ich mir als ganz
schlichter Mensch, als Hamburger,
({7})
die Frage: Wie kann es sein, dass man etwas, was gleich
ist, nicht auch gleich nennen kann? Warum ist es, Gott
verdammt noch mal, nicht möglich, dies auch Ehe zu
nennen?
({8})
Es muss doch möglich sein, dass wir uns in diesem Hohen Hause einmal tief ansehen und sagen, dass Menschen, die füreinander einstehen, die Pflichten und
Rechte haben, auch in einer Ehe sind. Die Privilegierung
der Ehe ist nicht gefährdet, wenn Lesben und Schwule
auch in einer Ehe sind; denn den anderen wird nicht etwas weggenommen, sondern es gibt dann eine Gleichstellung.
({9})
Das ist das Ziel, das Sie in unserem Grundgesetz finden
und das sogar im Koalitionsvertrag steht. Ich hoffe, dass
wir es in dieser Legislaturperiode mit der Union schaffen, auch noch über diese Hürde zu kommen.
Seit 1998 nehmen wir hier Hürden, mal mehr, mal
weniger, mal hilft uns das Verfassungsgericht. Am Ende
werden wir alle in der gesellschaftlichen Realität ankommen, auch die Kolleginnen und Kollegen der Union. Die
Frage ist: Wie hoch soll der Preis noch sein, den Sie bereit sind, dafür zu zahlen? Hat Ihnen Hamburg nicht gereicht? - Warten wir Bremen ab; dann können wir uns
die nächsten Landtagswahlen ansehen.
Ich glaube, die gesellschaftliche Realität ist weiter. Es
gilt weiterhin: 100 Prozent Gleichstellung nur mit der
SPD.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Johannes Kahrs. - Der letzte Redner in
dieser Debatte: Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Lieber Herr Kahrs, ich mag die
Hanseaten, weil ich einmal lange in Lübeck gewohnt
habe. Aber unterschätzen Sie bitte nicht die ländlichen
Räume. Dort leben auch Schwule und Lesben, und zwar
sehr gerne.
({0})
Das alles an Hamburg und Bremen auszumachen, würde
mir nicht reichen.
({1})
Die CDU/CSU setzt sich für alle Regionen ein.
({2})
Deswegen, Frau Dr. Barley, haben wir auch diese tollen
Wahlergebnisse. Auch Sie müssen noch weiterhin gewählt werden. Eigentlich sind wir von der Union ganz
zufrieden. Wir haben die Balance aus ländlichen Regionen und Großstädten. Sie können es sich anschauen.
({3})
- Knapp 42 Prozent ist ja nicht so schlecht, Herr Beck.
Ihr Gesetzentwurf ist wirklich eine Fleißarbeit; das
muss ich sagen. Ich hätte der Fraktion der Grünen vorgeschlagen, einen anderen Startredner zu schicken. Man
kann einen sehr guten Antrag auch durch die Startrede
schlechter machen.
({4})
Armin Schuster ({5})
Sie, Herr Beck, sprachen von Schützengräben, reaktionär-geistiger Immobilität, Denkfaulheit. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Grünen, deshalb
hatten Sie bei der Bundestagswahl so ein miserables Ergebnis:
({6})
Dieser Absolutismus, dass Ihre Meinung in ganz
Deutschland gelten muss, hat zu diesem Ergebnis geführt.
Gott sei Dank, Herr Beck, haben Sie uns noch als
„konservativ“ bezeichnet; da fühlen wir uns ja geehrt.
({7})
Da möchte ich mal die Definition von Franz Josef Strauß
nehmen:
Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren.
Das tun wir hier seit zehn Jahren. Wir sind ziemlich stolz
darauf, dass wir in den zehn Jahren auch beim Thema
Gleichstellung eine Menge getan haben - Frau Zeulner
hat es schon angedeutet -: Wir haben Gleichstellungen
beim BAföG und im Jahressteuergesetz vorgenommen,
wir haben das Besoldungs- und Versorgungsrecht für
Bundesbeamte und Soldaten angepasst.
({8})
Wir haben den Familienzuschlag für verpartnerte Beamte im öffentlichen Dienst eingeführt - nicht ab 2009,
sondern schon ab 2001, von dem Moment an, ab dem
das Lebenspartnerschaftsgesetz galt.
({9})
Die schwarz-rote Koalition hat allein in dieser Wahlperiode zwei entsprechende Gesetze auf den Weg gebracht.
Frau Dr. Barley, im Prinzip gehe ich hinsichtlich Ihrer
Bewertung des Bundesverfassungsgerichts mit Ihnen einig. Aber eines muss ich Ihnen auch sagen: Es gehört für
mich zur politischen Pluralität, Richtern in Karlsruhe
politische Meinungssignale zu senden. Das möchten wir.
Das sind nämlich auch nur Menschen. Man muss ja nicht
in vorauseilendem Gehorsam permanent zu antizipieren
versuchen, was wohl ein Karlsruher Richter denkt. Wir
versuchen, eine politische Meinung zu formulieren, die
auf dem Meinungsbild der Bevölkerung basiert. Wir fühlen uns da sehr gut aufgehoben. Und dann gucken wir
mal, was Karlsruhe daraus macht.
({10})
Aus diesem Grund haben wir bei der Sukzessivadoption dafür gesorgt, dass ein Kind, das bereits von einem
Lebenspartner adoptiert ist, auch durch den anderen adoptiert werden kann. Wir haben beim Thema Adoption
allerdings eine ganz andere Meinung als Sie. Wir wollen
keine Gleichstellung um jeden Preis.
({11})
Das haben alle Vorredner meiner Fraktion bereits erklärt.
Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, stellt in
Artikel 6 die Ehe und Familie als Gemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern unter besonderen Schutz. Frau
Jelpke, die meisten Menschen in unserem Land, so
glaube ich, leben in einer Familienkonstellation aus
Mann, Frau und Kind. Wenn Sie das als „mittelalterliches Familienbild“ bezeichnen,
({12})
dann empfehle ich allen Menschen in diesem Land, das
sorgfältig zu beurteilen. Die Linken glauben, dass man
mittelalterlich sei, wenn man in diesem Land in einer
klassischen Familienkonstellation lebt. Herzlichen
Glückwunsch! Ich hoffe, mit solch einem Meinungsbild
gehen Ihre Umfragewerte noch ein paar Prozent herunter. Das ist ja irre!
({13})
Wir haben mit der SPD vereinbart, die rechtlichen
Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften zu beseitigen. Diese Vereinbarung werden wir umsetzen. Herr
Dr. Brunner hat es richtig erklärt. Anhand der beiden
SPD-Redner Brunner und Barley können die Grünen sehen, wie wir das angehen wollen. Bei uns wird ausgewogen diskutiert
({14})
und nicht absolutistisch behauptet, so müsse es sein.
Ich glaube, wir finden einen Weg, auch bei den kritischen Punkten.
({15})
Deswegen bin ich der Meinung, dass wir den Antrag der
Grünen mit voller Überzeugung ablehnen können. Er ist
nämlich sehr schnell gemacht und in Teilen falsch.
({16})
Herr Kahrs, Sie selbst haben gesagt, seit 1998 gebe es
in diesem Haus Mehrheiten für Ihre Form der Gleichstellungspolitik. Ja, verdammt noch mal, warum habt ihr es
denn von 1998 bis 2005 nicht gemacht? Da hättet ihr
doch die Möglichkeit gehabt.
({17})
Ja, meine Damen und Herren, deshalb nicht, weil die
Mehrheitsverhältnisse in Deutschland eben nicht so waren. Sie haben es nämlich nicht hinbekommen, und dafür
gab es auch Gründe.
({18})
Wir sind die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,
die noch von entsprechender Balance und Ausgewogenheit geprägt ist. Wir vertreten einen Großteil der Bevölkerung,
({19})
fühlen uns wohl damit und glauben trotzdem, dass wir
Schwule und Lesben in diesem Land angemessen gleichstellen.
Herzlichen Dank.
({20})
Danke, Herr Kollege. - Damit schließe ich diese emo-
tionale Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3031 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d
sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Beschluss des Rates vom 26. Mai 2014
über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union
Drucksache 18/4047
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({0})
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 19. September 2014
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik der Philippinen über
Soziale Sicherheit
Drucksache 18/4048
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neufassung der Anhänge F und G zum
Übereinkommen vom 9. Mai 1980 über den
internationalen Eisenbahnverkehr ({1})
Drucksache 18/4049
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula SchulzAsche, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Pflege-TÜV hat versagt - Jetzt echte
Transparenz schaffen: Pflegenoten aussetzen und Ergebnisqualität voranbringen
Drucksache 18/3551
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 11. April 2014 über die
Beteiligung der Republik Kroatien am Europäischen Wirtschaftsraum
Drucksache 18/4052
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({4}) zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD
Regionale Wirtschaftspolitik - Die richtigen
Weichen für die Zukunft stellen
Drucksachen 18/3404, 18/4100
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4100, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3404
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig von allen Fraktionen in diesem Haus angenommen.
Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 8. Europäischen Parlament am
25. Mai 2014
Drucksache 18/4000 ({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist ebenfalls einstimmig, bei Zustimmung aller Fraktionen im Hause, angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 149 zu Petitionen
Drucksache 18/3929
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 149 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 150 zu Petitionen
Drucksache 18/3930
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 150 ist bei Zustimmung von
CDU/CSU und SPD und Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Militärmission
der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte ({4}) auf Grundlage des Ersuchens der malischen Regierung sowie der Beschlüsse 2013/
34/GASP und 2013/87/GASP des Rates der
Europäischen Union ({5}) vom 17. Januar
2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbindung mit den Resolutionen 2071 ({6}), 2085
({7}), 2100 ({8}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie 2164 ({9}) vom
25. Juni 2014
Drucksachen 18/3836, 18/4109
- Bericht des Haushaltsausschusses ({10})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/4117
Über die Beschlussempfehlung werden wir, wie Sie
wissen, später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so besprochen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner in der
Debatte gebe ich Josip Juratovic das Wort für die SPD.
({11})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute beraten wir darüber, ob wir das Mandat deutscher Soldatinnen und Soldaten für die Ausbildungsmission der Europäischen Union - EUTM - in
Mali verlängern. Ich höre bereits kritische Fragen: Was
soll eine Ausbildungsmission der EU bringen? Wie soll
die malische Armee ohne adäquate Waffen, ohne passende Strukturen und ohne Geld einen Konflikt lösen?
Das soll heißen: Die Europäische Mission sei unnütz und
rausgeschmissenes Geld.
Diesen Kritikern halte ich entgegen: Wir müssen bei
jedem Konflikt, bei jeder Entscheidung über militärische
Fragen die Opfer eines Konflikts im Blick haben und
zum Maßstab für unsere Entscheidungen machen. In Mali
gibt es laut Internationaler Organisation für Migration aktuell allein 80 000 Binnenvertriebene. 143 000 Menschen
mussten in Nachbarstaaten fliehen. Über 220 000 Menschen sind also ihrer Lebensgrundlage, ihrer Heimat und
ihrer Perspektive beraubt. Viele weitere fürchten in Mali
ein ähnliches Schicksal. Diesen Menschen will ich nicht
sagen: Wir tun nichts für euch.
Um die Situation dieser Menschen zu verbessern,
müssen wir verschiedene Wege beschreiten. Das ist zunächst der zivile Weg. Dazu zählt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Wir unterstützen Mali in den
Bereichen Dezentralisierung, gute Regierungsführung,
produktive Landwirtschaft und Wasserversorgung sowie
bei der Professionalisierung des malischen Staatssenders
ORTM.
Besonders wichtig finde ich aber, dass die Bundesregierung das malische Ministerium für Versöhnung durch
Ausstattung und Beratung unterstützt. Übrigens ist das
auch ein wichtiger Beitrag, wenn wir verhindern wollen,
dass afrikanische Migranten im Mittelmeer ertrinken.
Daneben braucht Mali dringend eine funktionierende
Polizei. Deswegen ist es gut, dass Deutschland Trainingskurse für westafrikanische Polizeikräfte unterstützt, Polizeiexperten und den Leiter der zivilen Mission EUCAP Sahel Mali stellt und Know-how ins
Grenzprogramm der Afrikanischen Union einbringt.
({0})
Kolleginnen und Kollegen, aus der Erfahrung wissen
wir: Ziviles und polizeiliches Engagement funktionieren
nicht ohne militärischen Schutz.
({1})
Hierbei möchte ich betonen: Unser Engagement in Mali
erfolgt immer auf Grundlage von UNO-Entscheidungen.
Militärisch gibt es in Mali die UNO-Mission MINUSMA
und die Europäische Trainingsmission.
Im Rahmen von EUTM Mali ist eine Begleitung der
malischen Streitkräfte in Kampfeinsätzen von deutscher
Seite nicht vorgesehen. Unser Auftrag ist klar definiert:
Wir arbeiten nachhaltig. Pionierausbildung und sanitätsdienstliche Unterstützung sind unsere Schwerpunkte. Es
wurden bereits 3 500 Soldatinnen und Soldaten ausgebildet. Wir arbeiten europäisch. Damit wird die EU als
geschlossener außenpolitischer Akteur wahrgenommen.
Wir arbeiten auf allen Ebenen. Neben der Ausbildung
einfacher Soldaten beraten wir das malische Verteidigungsministerium.
Im August 2015 übernimmt Deutschland die Führung
von EUTM Mali. Dafür ist es richtig, die Mandatsobergrenze von 250 auf 350 Soldaten anzuheben. Mit diesem
Engagement verdienen wir uns auch den Respekt unserer europäischen Partner.
Kolleginnen und Kollegen, insgesamt können sich
unsere Erfolge in Mali sehen lassen. Ich finde unseren
Beitrag zu EUTM Mali wichtig und richtig und möchte
deshalb für die Verlängerung des Mandats eintreten.
({2})
Trotzdem sage ich am Ende dieser Rede auch: Wir brauchen politische und diplomatische Lösungen, um Mali
langfristig zu befrieden. Nur mit militärischer Stärke
kann Mali islamistischen Terror und den Aufstand von
Tuareg-Rebellen nicht eindämmen. Die im Juli 2014 begonnenen Friedensverhandlungen müssen weitergeführt
werden, um den wieder wachsenden Einfluss radikaler
Islamisten wirksam einzudämmen.
In dieser fragilen Situation finde ich die Krisenprävention der Bundesregierung genau richtig. Wir bilden
das malische Militär nachhaltig aus und gleichzeitig unterstützt das Auswärtige Amt das malische Ministerium
für Versöhnung, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen.
({3})
Hier sieht man, dass EUTM Teil eines guten Gesamtkonzepts ist, das wir mit der Verlängerung des Mandats
fortsetzen sollten.
Kolleginnen und Kollegen, meinen Respekt und
meine Anerkennung möchte ich ausdrücklich jenen
Männern und Frauen bekunden, die diesen mühevollen
und teilweise gefährlichen Auftrag jeden Tag umsetzen.
({4})
Auch mit der EUTM Mali können wir leider keine
Garantie für Frieden schaffen. Nichtsdestotrotz ist unsere Vorgehensweise die richtige. Den Bedenkenträgern
möchte ich sagen: Wenn wir verhindern wollen, dass
Menschen im Mittelmeer ertrinken, wenn wir glaubwürdig sein wollen, dann müssen wir die Ursachen der
Flucht bekämpfen. Mit Maßnahmen wie EUTM Mali
können wir eine der Fluchtursachen eindämmen. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Juratovic. - Nächste Rednerin in der Debatte: Christine Buchholz für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Juratovic, wir stimmen hier heute leider nicht
über alle möglichen sinnvollen Maßnahmen, die wir als
Linke unterstützen, ab, sondern wir stimmen über einen
Bundeswehreinsatz ab. Die Bundeswehr soll ihre Präsenz im Rahmen der Mission EUTM Mali erhöhen. Die
Obergrenze soll von 250 auf 350 Soldatinnen und Soldaten angehoben werden, und die Bundeswehr soll die
Missionsleitung übernehmen und neben Pionieren in Zukunft auch die malische Infanterie ausbilden.
Diese Absicht reiht sich ein in die von Frau von der
Leyen vorangetriebene neue Ausrichtung der Bundeswehr. Letzte Woche sagte die Ministerin bei der Eröffnung der Weißbuch-Konferenz, die deutschen Interessen
hätten - ich zitiere - „keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ“. Ich glaube, dieser Kurs
ist teuer, gefährlich und löst kein einziges Problem vor
Ort.
({0})
Ich war im November in Mali und bin mit vielen,
auch sehr vielfältigen Eindrücken wiedergekommen:
Die Ausbildungsmission EUTM Mali ist Teil einer internationalen Militärstrategie. Herr Juratovic, das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. EUTM Mali ist zum einen
verknüpft mit dem französischen Antiterroreinsatz Operation Barkhane im Norden Malis und in angrenzenden
Ländern sowie der UN-Mission MINUSMA im Norden.
({1})
Über den Antiterroreinsatz Operation Barkhane wissen
wir so gut wie nichts. Über MINUSMA wissen wir
schon etwas: Die Truppe, an der sich auch Deutschland
beteiligt, ist im letzten Monat selbst Konfliktpartei geworden. Aus einem Hubschrauber erschossen niederländische Soldaten mindestens sieben Tuareg-Kämpfer, die
sich mit regierungstreuen Milizen einen Konflikt um die
Handelsroute nördlich von Gao lieferten. Einige Tage
später kam es in der Stadt Gao zu Protesten gegen
MINUSMA, bei denen Soldaten mindestens drei Zivilisten erschossen. Ich sage Ihnen: Deutschland darf sich
nicht an einem solchen Konflikt beteiligen.
({2})
Ich habe mir in Koulikoro das Ausbildungslager der
EU, wo die Mehrzahl der deutschen Soldaten stationiert
ist, angeschaut und mit malischen Militärs und mit Bundeswehrsoldaten gesprochen. Ich muss sagen: Auch
nach diesen Gesprächen halte ich es für illusorisch und
verantwortungslos, die ausgebildeten Gefechtsverbände
der malischen Armee nach einem zwölfwöchigen Lehrgang in den Krieg zu schicken. Doch genau das wird gemacht. Denn nach der Ausbildung gehen die malischen
Soldaten für neun Monate in den Norden.
({3})
Armut und Arbeitslosigkeit im Norden Malis sind die
Gründe dafür, dass sich junge Menschen den Dschihadisten anschließen. Aminata Traoré, die ehemalige Kulturministerin Malis, sagte auf einer zivilgesellschaftlichen Konferenz über die Sicherheit in der Sahelzone, an
der ich teilnehmen konnte: Wenn es keine Hoffnung auf
reguläre Erwerbsquellen gibt, dann können 100 Euro
Sold durch eine Miliz einen Unterschied machen. Die
Dschihadisten kämpfen wie andere bewaffnete Gruppen
nicht um die Religion, sondern um Handels- und
Schmuggelrouten durch die Sahara. Es gibt Familien, da
kämpft ein Bruder aufseiten einer Tuareg-Miliz oder einer dschihadistischen Gruppe, ein anderer bei der Armee. - Ich sage Ihnen: Die Armut ist die Kernursache
des bewaffneten Konfliktes. Der europäische Militäreinsatz ändert an diesem Konfliktpotenzial rein gar nichts.
({4})
Aber auch im Süden Malis ist die extreme Armut die
größte Bedrohung für die Sicherheit der Menschen. Es
gibt Menschen, die ihr Glück als Goldschürfer suchen.
Doch das große Geschäft machen zehn internationale
Konzerne, die in Mali die Goldressourcen ausbeuten. Im
Herbst 2014, so haben mir Bürgerrechtler erklärt, haben
Streitkräfte der malischen Armee auf malische Goldsucher geschossen, die einem dieser Bergbauunternehmen
im Weg waren. Das zeigt, dass das Problem der malischen Armee nicht in erster Linie die Ausbildung ist,
sondern es sind die Interessen, zu deren Durchsetzung
sie eingesetzt wird.
({5})
Mali wird von internationalen Konzernen ausgeplündert, und eine korrupte Minderheit macht mit. Mit der
Trainingsmission unterstützen Sie diesen Zustand. Dabei
gibt es beeindruckenden Widerstand gegen die korrupte
Politik im Land und auch eine wachsende Ablehnung
der internationalen Militäreinsätze. Nur um Ihnen eine
Idee davon zu geben: Gewerkschafter erzählten mir, wie
sie im August in einem zweitägigen Generalstreik die
Anhebung des Mindestlohns von 43 Euro auf 61 Euro
erzwungen haben. Das ist Armutsbekämpfung. Hunderttausende Binnenflüchtlinge aus dem Norden wurden in
den letzten Jahren von Verwandten und Bekannten im
Süden aufgenommen. Das steht im krassen Gegensatz
zum Versagen der sogenannten internationalen Gemeinschaft in der Flüchtlingspolitik.
({6})
Schließlich traf ich Aktivisten, die sich um die zahllosen Menschen kümmerten, die aus Europa oder anderen afrikanischen Ländern abgeschoben wurden. In Mali
angekommen, stehen diese Abgeschobenen vor dem
Nichts. Ich sage Ihnen: Diese Menschen, die sich gegen
Armut und Unrecht wehren, geben mir Hoffnung auf
Frieden und Gerechtigkeit in Mali, nicht ein Militäreinsatz, für den die eigentliche Motivation deutsche und europäische Interessen sind, die „keine unverrückbare
Grenze“ kennen.
Vielen Dank.
({7})
Danke, Frau Kollegin Buchholz. - Nächster Redner
in der Debatte: Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir setzen, wenn wir heute diesen Beschluss
fassen, eine Ausbildungsmission der Bundeswehr in
Mali fort. Frau Kollegin Buchholz, ich finde, wir sollten,
wenn wir hier Behauptungen aufstellen, präzise sein.
Wenn es einen Kampfeinsatz der Bundeswehr gibt, dann
sprechen wir von einem Kampfeinsatz der Bundeswehr;
({0})
dafür brauchen wir dann ein entsprechend robustes Mandat, und dann sagen wir das auch. Aber hier geht es um
eine Ausbildungsmission, die eine Art Grundausbildung
der Streitkräfte Malis ermöglicht - nicht mehr und nicht
weniger. Das Verwischen und Vermengen mit anderen
Einsätzen, zum Beispiel mit MINUSMA, halte ich für
unzulässig.
({1})
Das sollten wir nicht machen. Das ist nämlich unpräzise.
Die Soldatinnen und Soldaten sollten klar wissen, was
sie machen und wofür sie eingesetzt werden. In diesem
Fall ist es die Ausbildung.
({2})
Im Übrigen: Wenn Sie einen Teil Ihres Pazifismusgefühls, das Sie hier mitschwingen lassen, und einen Teil
Ihres Engagements in die Ukraine-Debatte einbringen
würden, wäre den Menschen insgesamt sehr geholfen.
({3})
Das wäre auch ein bisschen aufrichtiger.
({4})
Wie ist die Situation? Es gibt einen schwachen malischen Staat, der kurz davorstand, zu kollabieren. Es gab
in diesem Staat schon vorher Probleme. Schon 2012 kam
es zu einem Militärputsch. Es war in der Mehrheit der
Bevölkerung eine fehlende Akzeptanz der politischen
Machtelite festzustellen. Es gab Korruption, schwache
Staatlichkeit, schwache Sicherheitskräfte. Diese Entwicklung hat sich fortgesetzt, als der klassische malische
Konflikt zwischen den eher nomadisch lebenden
Tuareg-Völkern im Norden und den Völkern im Süden,
die eher sesshaft sind - diesen Konflikt gibt es übrigens
schon seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten -, erneut aufgebrochen ist.
Niemand in diesem Hause sagt - das tut auch die
Bundesregierung in ihrem Antrag nicht -, dass durch
diese Ausbildungsmission sämtliche Probleme Malis gelöst würden. Der Kollege Juratovic hat dankenswerterweise den umfassenden Ansatz, den wir innerhalb der
Europäischen Union verfolgen - der größte Anteil der
Mittel kommt übrigens aus der Bundesrepublik Deutschland -, beschrieben. Natürlich löst diese Ausbildungsmission nicht das Hungerproblem in Afrika; das hat auch
niemand behauptet. Dieses Hungerproblem ist drängend.
Wir alle sind aufgefordert, hier mehr zu machen. Das ist
unstreitig.
Aber man wird die Probleme in Mali nicht lösen,
wenn man hinnimmt, dass es einen weiteren gescheiterten Staat in dieser Region gibt. Das ist die große Gefahr
für diese Region. Diese Ausbildungsmission ist ein Beitrag dazu - nicht der entscheidende Beitrag, aber ein
wichtiger Beitrag -, die Staatlichkeit Malis zu erhalten.
Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass der Staat in der
Lage ist, in einem gewissen Umfang Sicherheitskräfte
und militärische Kräfte einzusetzen. Dabei helfen wir
dem malischen Staat. Ich glaube, an dieser Stelle ist unsere Hilfe richtig, notwendig und angemessen.
({5})
Eine weitere Bemerkung dazu. Wir gehen in sehr engem Zusammenwirken mit unseren französischen Freunden vor. Ich bedaure, dass die Linksfraktion in vielen
Debatten immer wieder auf die Vergangenheit rekurriert
und meint, dass wir im deutschen Parlament in irgendeiner Weise oberlehrerhaft über die Kolonialvergangenheit
Frankreichs urteilen oder sie mit diesem Thema in einen
Kontext stellen sollten. Das Engagement Frankreichs hat
seinen historischen Ursprung natürlich in der Kolonialzeit; das ist unbestreitbar.
({6})
Dass die französische Kultur Nordafrika nach wie vor
nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch darüber
hinaus so sehr prägt, dass es gar nicht zu übersehen ist,
ist doch vollkommen klar. Aber Präsident Hollande hat
in einer sehr glaubwürdigen Art und Weise - ich fand
das schon bemerkenswert - von „Françafrique“ Abschied genommen und das auch deutlich gemacht. Ich
finde, wir sollten uns als Europäer freuen, dass wir hier,
untergehakt an dieser Stelle, einmal mehr gemeinsam
mit Paris - die ehemaligen Erbfeinde Deutschland und
Frankreich Seit’ an Seit’ - sicherheitspolitische und
darüber hinaus natürlich auch wirtschaftspolitische und
entwicklungspolitische Verantwortung in Afrika übernehmen. Es ist ein gutes Beispiel für die deutsch-französische Freundschaft, dass wir an dieser Stelle zusammen
wirken. Das sollten wir aus dem Grund auch unterstützen.
({7})
Letztlich braucht es natürlich eine Aussöhnung innerhalb Malis. Die werden wir nicht bewirken können; aber
da spielt das Auswärtige Amt - Herr Außenminister, da
gilt unser ausdrücklicher Dank Ihrem Hause und allen
dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - auch im
EU-Rahmen eine wichtige Mittlerrolle, eine wichtige
Unterstützungsrolle. Natürlich werden wir die militärischen Konflikte, die Auseinandersetzungen innerhalb
Malis nicht allein mit militärischen Mitteln bewältigen
können. Entscheidend ist, dass es zu einer Aussöhnung
innerhalb Malis kommt, dass man sich verständigt, ob
und in welchem Umfange Autonomie, Selbstbestimmung für den Norden vorstellbar ist, ohne die territoriale
Integrität und die Souveränität des malischen Staates
grundsätzlich infrage zu stellen. Das scheint mir die
Kernfrage zu sein.
Man ist in Mali auf einem guten Weg, und auf diesem
guten Weg sollten wir Mali begleiten. Ich appelliere
nochmals an Sie, dass Sie alle zustimmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin:
Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielleicht zunächst noch mal ein Blick zurück, Herr Wadephul: Der Auslöser des Zusammenbruchs des malischen Staates war nicht der sogenannte
Putsch vom März 2012. Der Auslöser war vielmehr die
Rückkehr von Gaddafis Söldnern nach dem gewaltsamen Umsturz in Libyen, die aus dem unerschöpflichen
Waffenarsenal mitbrachten, was sie tragen konnten.
Diese hochgerüsteten Kämpfer der Tuareg trafen bei ihrer Heimkehr auf eine anstehende Hungerkatastrophe in
den vernachlässigten Gebieten im Norden Malis. Die
Bevölkerung war enttäuscht von der Zentralregierung;
entsprechenden Zulauf hatte die separatistische Bewegung. Die staatliche Armee wiederum war ein armseliger Haufen: barfuß oder mit Turnschuhen, quasi ohne
Ausrüstung. Im Januar 2012 wurden 100 malische Soldaten in ihrer Kaserne brutal massakriert - bis heute ist
unklar, von wem -, und die anderen verweigerten letzt8322
lich den tödlichen Dienst und machten sich auf den Weg
nach Bamako, wo die Regierung sich schon vorsorglich
zurückzog.
Bei meiner Reise im April 2013 erklärten mir die Vertreter der Übergangsregierung, man habe immer gedacht, es sei gut, die Armee möglichst schwach zu halten, damit von ihr keine Gefahr ausgehe. So aber konnte
das Land von einer spontanen Allianz aus kriminellen
Klans, radikalen Islamisten und separatistischen Tuareg
einfach überrannt werden. Nach dieser Erfahrung wollte
man doch eine Armee aufbauen, die im Notfall auch die
Souveränität des Landes verteidigen kann. Dabei werden
die Malier heute auch von Bundeswehrsoldaten - im
Rahmen der EU-Mission EUTM Mali, auf der Grundlage eines umfassenden UN-Mandates - unterstützt, und
das ist gut so.
({0})
Die Ausbildung von Streitkräften ersetzt keine politische Lösung - das ist keine Frage -; ohne die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols wird aber auch
eine noch so gelungene politische Lösung nicht lange
Bestand haben. Diese Mission ist daher ein kleiner, aber
nicht unerheblicher Baustein auf dem Weg zum Frieden.
Frieden hört sich heutzutage, wo gerade ein Staat
nach dem anderen in Krieg und Chaos versinkt, fast
schon an wie eine Utopie. Aber nach wie vor gibt es für
Mali tatsächlich ein wenig Hoffnung. Trotz der Gewalt
und der Armut hat Mali auch einige positive Voraussetzungen für Frieden: eine gewisse demokratische Tradition und eine lebhafte, aktive Zivilbevölkerung.
Am Freitag erst haben sich die verschiedenen bewaffneten Gruppen im Rahmen der Friedensgespräche in
Algier immerhin auf einen Waffenstillstand und auf einen Gefangenenaustausch einigen können. Algerien hat
mit seinen Vermittlungsangeboten eine hilfreiche Rolle
gespielt; das darf man ruhig einmal anerkennen, auch
wenn man deswegen nicht gleich den Export ganzer
Panzerfabriken genehmigen sollte.
({1})
Aus grüner Sicht ist das Ausbildungsmandat für Mali
eine geeignete Maßnahme, den Friedensprozess zu unterstützen. Eines ist auch klar: Eine quasi nicht existente
Armee bildet man nicht in sechs Monaten und auch nicht
in zwei Jahren aus. Wir haben dem Mandat von Beginn
an zugestimmt und werden auch der Verlängerung und
der Aufstockung dieses Mandates zustimmen.
Am besten wird das staatliche Gewaltmonopol in einer Demokratie langfristig natürlich von ziviler Polizei
und nicht vom Militär durchgesetzt. Deswegen ist es erfreulich, dass die EU jetzt auch die zivile Polizeiausbildungsmission EUCAP Sahel Mali auf den Weg gebracht
hat.
Damit die Bundesregierung aber nicht ganz ohne Kritik davonkommt, muss ich noch einmal daran erinnern,
dass man auch einmal Krisenprävention betreiben kann,
bevor die Konflikte eskalieren.
({2})
In Mali hat die Bundesregierung ein ganzes Jahr verstreichen lassen, bis man sich überhaupt für den Konflikt
interessiert hat. Die Terroristen standen da schon kurz
vor Bamako.
Schon 2011 haben wir Grüne davor gewarnt, dass
man Libyen nach dem Krieg nicht einfach alleinlassen
darf. Hier hätte die internationale Gemeinschaft schon
aufgrund des umstrittenen NATO-Einsatzes eine ganz
besondere Verantwortung gehabt; denn auch mit viel
Geld kann man sich keine demokratischen Strukturen
kaufen, wenn man vorher noch nie welche gehabt hat.
Jetzt bahnt sich eine Katastrophe im Niger an. Was ist
denn mit unserer zivilen Krisenprävention und mit unserem Frühwarnsystem? Warum gucken wir immer erst
hin, wenn Mord und Totschlag auf der Tagesordnung
stehen?
In der letzten Woche war ich in Algier. Dort habe ich
in einem Gespräch mit dem Berater des Verteidigungsministers, General Mekri, gefragt, was die EU aus seiner
Sicht tun könne, um zu verhindern, dass im Niger das
Gleiche passiert wie in Mali. Seine Antwort war: Armutsbekämpfung! Es sei doch absurd, dass ein Land mit
so vielen Bodenschätzen derartig verarmt sei. - Recht
hat der General!
Armee und Polizei auszubilden, ist das eine, an einer
gerechten Weltwirtschaft zu arbeiten, ist das andere.
({3})
Verlieren Sie also bitte nie die Ursachen aus den Augen,
während Sie die Symptome bearbeiten.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Katja Keul. - Nächster Redner in der
Debatte: Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Notwendigkeit des Einsatzes in Mali ist
weitgehend unumstritten - auch hier in diesem Hause.
Die rechtlichen Grundlagen der Mission sind klar: die
Beschlüsse des Rates der Europäischen Union von
Februar 2013 und April 2014 sowie verschiedene Resolutionen des VN-Sicherheitsrates.
Trotzdem ist es keine Routine, dieses Mandat zu verabschieden. Das Parlament macht es sich nie leicht,
wenn es darum geht, deutsche Soldatinnen und Soldaten
in Auslandseinsätze zu schicken. Das zeigt auch die heutige Debatte.
In der Süddeutschen Zeitung vom 19. Februar 2015
wird berichtet, dass Frau Buchholz sagt, sie möchte
grundsätzlich keine Auslandseinsätze und sie wolle die
Bundeswehr insgesamt abschaffen.
({0})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Die Argumente, die Sie mit
Blick auf Mali vorgetragen haben, sind für Sie vermutlich nicht wirklich interessant, sondern Ihnen geht es vor
allem darum, diese dogmatischen Ziele durchzusetzen.
Das muss man an dieser Stelle einmal sagen.
Mali ist zum Teil sehr gefährlich. Die Lage im
Norden ist weiter äußerst instabil. Dort treffen unter
anderem Tuareg-Rebellen, arabische Aufständische, regierungsfreundliche Milizen, Dschihadisten, Regierungstruppen und Einheiten der Parallelmission
MINUSMA aufeinander. MINUSMA hat im Jahre 2014
30 Soldaten verloren und ist ständig Ziel von Angriffen
mit Raketen und Sprengstofffallen.
Aber auch der ruhigere Süden des Landes ist nicht
ohne Gefahren, und der Einsatz dort ist mit vielen alltäglichen Strapazen verbunden. So bestand für Mali ein
Ebolarisiko, das inzwischen Gott sei Dank wieder beseitigt werden konnte. Malaria, Skorpionstiche und häufig
große Hitze bei hoher Luftfeuchtigkeit sind beschwerliche Bedingungen, und die hohen Temperaturen und der
Staub belasten nicht nur die Menschen, sondern auch das
Material.
Trotz aller Strapazen berichten die meisten Soldaten
sehr positiv vom Mali-Einsatz, den sie als sinnvoll erachten und bewerten. Die Soldatinnen und Soldaten leisten hier einmal mehr Beeindruckendes. Dafür möchte
ich auch an dieser Stelle ganz herzlich Danke schön sagen.
({1})
Unsere Bundeswehr ist in diesem Einsatz in eine
große internationale Gemeinschaft eingebunden. Insgesamt 26 Nationen sind bei EUTM Mali vertreten. Auch
kleine Partner, wie Estland und Lettland, bringen hier ihren Beitrag ein - genauso wie Griechenland als Teil der
europäischen Familie.
Einsätze wie EUTM Mali sind für die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa sehr wertvoll. Hier erweist sich, was
schon funktioniert und was nicht. Ab August soll dann
Deutschland die Missionsführung übernehmen. Die Erhöhung der Personalobergrenze auf 350 Soldatinnen und
Soldaten ist gerade auch deshalb sinnvoll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sinn des Einsatzes
ist die Ausbildung und Beratung der malischen Streitkräfte und Ministerien, damit die Malier die territoriale
Integrität des Landes zukünftig eigenständig sichern
können. Ein geordneter Neuaufbau von Sicherheitskräften und Verwaltungsapparat ist Grundlage für ein gefestigtes staatliches System. Die EU leistet damit klassische
Hilfe zur Selbsthilfe.
Uns allen ist klar, dass es in Mali keine kurzfristigen
Erfolge geben kann. Der Kollege Dr. Brandl hat in der
ersten Lesung die vielschichtigen Gründe für die Konflikte im Norden aufgezeigt. Aber er hat zu Recht auch
auf die bestehenden vorsichtigen Hoffnungszeichen hingewiesen, genauso wie eben die Kollegin Keul. Ich bin
überzeugt, die Mission EUTM Mali trägt zur Stabilisierung des Landes und der Region bei. Der deutsche Einsatz ist ein wichtiges Element dieser EU-Ausbildungsmission. Die europäischen und die malischen Partner
brauchen die Bundeswehr dabei. Die Übernahme der
Führungsverantwortung der Mission zeigt auch das
große Vertrauen, das unsere Partner inzwischen in uns
setzen.
Natürlich werden wir nicht nur militärisch tätig. Der
EUTM-Einsatz - darauf haben die Vorredner schon hingewiesen - ist in ein umfassendes ganzheitliches Engagement Deutschlands für Mali eingebunden, bei dem
gerade auch das Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit eine elementare Rolle spielt und in Zukunft noch viel stärker spielen sollte.
Die Verlängerung des Einsatzes bis Ende Mai 2016 ist
das richtige Signal an Mali und in unserem eigenen Sicherheitsinteresse. Ich bitte daher um Zustimmung zu
diesem Mandat.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Hahn. - Die nächste Rednerin
in der Debatte ist Gabi Weber für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schon vor einem Jahr habe ich mich an dieser
Stelle zur Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Ausbildungsmission in Mali geäußert. Wenn ich mir anschaue, was in diesem Jahr erreicht wurde, stelle ich fest:
Es ist nicht alles gut, aber die Situation in Mali hat sich
wesentlich verbessert und beruhigt.
Die Bundesregierung ist sich der Lage in Mali und ihrer Verantwortung für die Menschen dort nach wie vor
bewusst. Daher sind wir bereit, das deutsche Engagement im Rahmen von EUTM Mali ab August sichtbar zu
erhöhen und die Führung der Mission zu übernehmen.
Für die weitere Entwicklung Malis ist am Wochenende ein wichtiger Schritt getan worden: Die malische
Regierung hat sich mit mehreren bewaffneten aufständischen Gruppen des Nordens auf Friedensverhandlungen
geeinigt. Besonders strittige Fragen sind dabei die Dezentralisierung bis hin zu einer möglichen regionalen
Autonomie und damit einhergehende Institutionenbildung.
Wenn in hoffentlich wenigen Wochen ein Friedensvertrag unterzeichnet wird, kann ein wirklicher Versöhnungsprozess im Land beginnen. Dieser Prozess muss
aber langfristig gesichert werden, besonders im Norden.
Dies klappt nicht ohne ausreichend ausgebildete Kräfte
sowohl bei der Polizei und Gendarmerie als auch beim
Militär. Aber die entscheidende Frage ist ja immer: Ist
das alles richtig und gut und im Interesse der Menschen?
Aus meiner Sicht kann ich sagen: Ja, ich denke, das ist
es.
Ich möchte das ein bisschen untermauern. Laut einer
Umfrage, die die Friedrich-Ebert-Stiftung im vergangenen Herbst durchgeführt hat, ist für 85 Prozent der Malier - in den nördlichen Regionen Gao, Menaka und Kidal sogar für 94 Prozent - die schlechte Sicherheitslage
das allergrößte Problem im Land. Die Rebellen haben im
Norden Städte erobert, staatliche Gewalt zurückgedrängt
und das öffentliche Leben bestimmt.
Hier möchte ich jetzt ganz besonders die jungen Menschen auf den Tribünen ansprechen. Stellen Sie sich vor,
es gibt keine Schule mehr, in der Bildung vermittelt
wird, keine Lehrer, die man fragen kann, keine Ausbildung, keine Richter, keine Polizisten, an die man sich
wenden kann, wenn man in Bedrängnis gerät. Um eine
weitere nachhaltige Situationsverbesserung im Norden
Malis zu erreichen, ist es notwendig, die Ausbildung der
malischen Sicherheitskräfte weiter zu stärken, damit der
Staat wieder für ein sicheres Umfeld für seine Bürgerinnen und Bürger sorgen kann.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund der gerade
skizzierten Umstände überrascht es auch nicht, dass die
genannte Umfrage feststellt, dass die malische Bevölkerung insgesamt, Nord wie Süd, Arbeitslosigkeit - 80 Prozent -, Korruption und das schlechte Gesundheits- und
Bildungssystem - über 60 Prozent - sowie, insbesondere
im Norden, die mangelnde Rechtsstaatlichkeit als weitere große Probleme identifiziert. Diese lassen sich natürlich nicht bloß durch mehr und besser ausgebildete
Soldaten und Polizisten lösen. Hier haben wir ein Problem im Bereich „gute Regierungsführung“. Der Konflikt, der das Land in den vergangenen Monaten und Jahren zu zerreißen drohte, hat hier seinen Ursprung. Somit
schließt sich auch da der Teufelskreis.
Um also das Grundproblem zu lösen, bedarf das Land
unserer umfangreichen Unterstützung im Bereich Entwicklungszusammenarbeit.
({1})
Es freut mich, dass die Bundesregierung mit einer Unterstützung für Mali in Höhe von 131,5 Millionen Euro in
den letzten beiden Jahren und zusätzlich 25 Millionen
Euro an Übergangshilfe diese Entwicklungszusammenarbeit wieder aufnehmen konnte. Natürlich kann man
immer noch mehr machen. Eben ist schon der schlaue
Satz gefallen: Wir müssen mehr machen. - Entwicklungszusammenarbeit ist immer auch vorausschauende
Sicherheitspolitik. Dieses Geld ist an der Stelle gut und
richtig eingesetzt.
({2})
Geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Übernahme
der Missionsführung von EUTM Mali, die Beteiligung
an MINUSMA im Stab und im Bereich Logistik, eine
höhere Zahl von Ausbildern in der zivilen Ausbildungskomponente EUCAP Sahel Mali sowie eine signifikante
Unterstützung im Entwicklungsbereich, in dem BMZ
und Auswärtiges Amt an einem Strang ziehen, verdeutlichen den Willen der Bundesregierung, sich hier umfassend zu engagieren und damit auch einen Beitrag für die
Stabilisierung des gesamten Landstriches zu leisten. An
dieser Stelle ist auch Libyen zu nennen. Wenn wir es
schaffen, mit zur Stabilisierung in Mali beizutragen,
strahlt das auch mehr in andere Bereiche im mittleren
und nördlichen Afrika aus.
Aus diesem Grund bitte ich Sie sehr darum, diesen
Antrag zu unterstützen.
Danke.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Weber.
Bevor ich dem letzten Redner in dieser Debatte das
Wort gebe, nämlich Thorsten Frei für die CDU/CSUFraktion, möchte ich die Kollegen inständig bitten, Platz
zu nehmen und ihm die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu geben.
({0})
Und damit meine ich wirklich alle Kolleginnen und
Kollegen. Es sind jetzt noch sechs Minuten einer sehr
wichtigen Debatte, an deren Ende Sie namentlich abstimmen. Deswegen: Bitte setzen Sie sich hin, und hören
Sie dem Kollegen zu. Das kann nicht schaden. Ich weiß
zwar nicht, was er sagt, aber ich sage das jetzt einfach
mal so.
({1})
Der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion zum Abschluss der Debatte.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsidentin, ich versuche, Sie nicht zu enttäuschen.
Wenn wir den Blick auf Mali richten - wir haben das
schon in einigen Beiträgen gehört -, dann sehen wir sehr
viel Schatten, aber doch auch ein wenig Licht. Viel Licht
ist beispielsweise die Vereinbarung der vergangenen
Woche, in der immerhin sechs Kriegsparteien einen
Waffenstillstand vereinbart haben. Ich weiß, dass schon
zwei solcher Waffenstillstände gebrochen worden sind;
aber vielleicht ist das jetzt ein erster Schritt auf dem Weg
zu einem umfassenden Friedensvertrag für die Region.
Licht ist auch, dass viele internationale Partner im
Land sind: die Vereinten Nationen, die Europäische
Union, aber beispielsweise auch regionale Akteure wie
ECOWAS. Und ich glaube, wichtig ist auch, dass im
Jahr 2013 Parlamentswahlen stattgefunden haben, die
immerhin den Weg zurück zu einer verfassungsmäßigen
Ordnung gezeichnet haben.
Trotzdem, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ist Mali ein gescheiteter Staat. Das zeigen gerade auch
die jüngsten Ereignisse wie die Schüsse auf UN-Blauhelme im Januar, der Rücktritt der Regierung oder auch
die Scharmützel in Tabankort.
Ich bin davon überzeugt, solange die Verhältnisse so
sind, wie sie sind, solange islamistische Terroristen in
der Region eine Basis haben - egal ob sie al-Qaida oder
Ansar Dine heißen oder wie auch immer -, solange territoriale politische Konflikte nicht gelöst, Versöhnungsprozesse nicht initiiert sind, aber auch die Nahrungsmittelversorgung nicht gewährleistet ist, so lange wird die
Lage prekär bleiben.
Die Mischung aus diesen unterschiedlichen Problemen, die Gemengelage aus schwacher Staatlichkeit auf
der einen Seite und inneren ethnischen, sozialen und
politischen Konflikten auf der anderen Seite, verbunden
mit islamistischem Terrorismus, der das ausnutzt, führt
zu einer Situation, die nicht nur ein Land, sondern auch
eine ganze Region destabilisieren kann. Ich glaube, das
ist der Grund, warum wir hier weitergehen müssen auf
dem Weg, den wir in den vergangenen Jahren beschritten
haben.
({0})
Auch wenn Mali nicht im Fokus des öffentlichen Interesses ist: Mali und die Region bleiben der südwestliche Ausläufer des Krisenbogens rund um Europa. Deshalb ist es, glaube ich, in unserem ureigenen Interesse,
die dortige Situation, die geprägt ist durch Terrorismus,
Kriminalität und Verarmung, zum Besseren zu wenden.
Auch wenn die Flüchtlingsströme aus der Region nicht
ganz so zahlreich sind wie beispielsweise aus Irak und
Syrien, auch wenn uns der islamistische Terrorismus
dort nicht ganz so gefährlich zu sein scheint wie der des
sogenannten „Islamischen Staates“: Durch diese Region
führt eine wesentliche Route, auf der Drogen aus Südamerika nach Europa gebracht werden, und sie ist Kreuzungspunkt und Schnittstelle des internationalen Waffenhandels und -schmuggels. Diese Erkenntnis muss
dazu führen, dass wir uns in diesem Bereich engagieren.
Lassen Sie mich zwei weitere Gründe benennen:
Es geht auch um Glaubwürdigkeit. Deutschland war
bis 2012 nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen. Wir haben dort die Resolutionen
2071 und 2085 unterstützt und die internationalen Partner zu Hilfe und Unterstützung aufgerufen. Wie könnten
wir jetzt aufhören an einer Stelle, an der die Rahmenbedingungen sich noch nicht grundlegend verändert haben?
({1})
Schließlich geht es auch darum, dass wir Strategien
formuliert haben. Zum Beispiel haben wir einen Aktionsplan zur zivilen Krisenprävention verabschiedet,
die Bundesregierung eine Afrika-Strategie und zusammen mit den europäischen Partnern eine Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahelraum. All das würden
wir letztlich konterkarieren. Ich glaube, uns muss klar
sein: Hier bedarf es eines langen Atems. Mali ist kein
Sprint. Mali ist eher ein Marathonlauf. Dazu brauchen
wir den umfassenden Ansatz, den wir hier gewählt haben.
({2})
Umfassender Ansatz meint erstens EUTM Mali als
Ausbildungsmission für die malischen Streit- und Sicherheitskräfte, zweitens die EU Capacity Building Mission, die unter deutscher Führung mit zehn Polizisten
und zivilen Instruktoren stattfindet und die wichtig ist,
um Staatlichkeit aufzubauen, und drittens - auch darauf
ist meine Vorrednerin eingegangen - einen umfassenden
entwicklungspolitischen Ansatz. Wir reden heute über
den ersten Punkt. Aber alle drei Punkte sind notwendig,
um den Menschen Perspektiven zu geben, um etwas gegen die schleichende Entstaatlichung in diesem Bereich
zu tun und vor allen Dingen auch Rahmenbedingungen
für einen Aussöhnungsprozess zu liefern. Das, was wir
im Bereich der Entwicklungspolitik machen, hat etwa
das sechsfache finanzielle Volumen von dem, was
EUTM Mali kostet. Ich glaube, das muss man deutlich
machen, damit wir dieses Engagement nicht auf einen
militärischen Einsatz reduzieren und auch nicht dieser
Eindruck entsteht.
({3})
Ganz zum Schluss möchte ich noch einen Aspekt erwähnen und den Blick zurückwerfen in die Jahre 2012
und 2013. Damals, im Herbst 2012, hat der malische
Präsident die internationale Gemeinschaft um Hilfe und
Unterstützung gebeten. Europa war nicht in der Lage,
eine Antwort zu geben. Es ist Frankreich zu verdanken,
dass der Kollaps des Landes und eine humanitäre Katastrophe verhindert werden konnten. Ich habe große Hoffnung, was den Europäischen Rat im Juni des nächsten
Jahres anbelangt, dass es tatsächlich gelingt, das Instrumentarium, das wir zur Verfügung haben, nämlich die
EU Battlegroups, auch entsprechend zum Einsatz zu
bringen. Es ist schlimm, dass wir es in all den Jahren nie
geschafft haben, dass das eine Zukunft hat. Eine Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik setzt auch voraus, dass wir durch Akzeptanz und
Funktionsfähigkeit den Einsatz ermöglichen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Frei. Auch vielen Dank dafür,
dass Sie trotz wachsender Lärmkulisse versucht haben,
Ihre Positionen differenziert wiederzugeben.
Ich möchte die Parlamentarischen Geschäftsführer
und Geschäftsführerinnen mit Blick auf die politische
Vizepräsidentin Claudia Roth
Kultur hier im Haus wirklich bitten, in ihren Fraktionen
noch einmal darauf hinzuweisen, was Respekt in einer
Debatte meint, insbesondere wenn es um wichtige Fragen geht. Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen, in ihren Fraktionen einfach noch einmal zu erörtern, wie man in Debatten mit
den Kollegen und Kolleginnen respektvoll umgeht.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung. Mir liegen per-
sönliche Erklärungen zur Abstimmung gemäß § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 18/4109 zum Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union
als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte,
EUTM Mali. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 18/3836
anzunehmen.
Wir stimmen, wie Sie wissen, nun über die Beschluss-
empfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Wie
sieht es im hinteren Feld aus? Oben links fehlt noch eine
Schriftführerin oder ein Schriftführer - und rechts auch. -
Bevor nicht alle Plätze an den Urnen eingenommen wor-
den sind, kann ich nicht abstimmen lassen.
Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? - Gut.
Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentliche Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung.
Darf ich die Kollegen auf der rechten Seite, die noch
nicht abgestimmt haben, bitten, in der Mitte abzustim-
men, auch wenn es Ihnen vielleicht schwerfällt?
Gibt es noch Mitglieder des Hauses, die ihre Stimm-
karte nicht abgegeben haben? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.2)
Jetzt bitte ich die Kollegen - das meine ich wirklich
sehr ernst -, entweder Platz zu nehmen oder den Raum
zu verlassen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Portugal: Vorzeitige teilweise Rückzahlung
der IWF-Finanzhilfe;
Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 2
Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismus-
gesetzes
Drucksache 18/4030
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 8328 C
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich sage es noch einmal: Bitte nehmen Sie Platz, oder
verlassen Sie den Saal. Vorher eröffne ich nicht die Debatte. Das betrifft Herrn Strobl, Herrn Gienger und Frau
Brantner. Herr Strobl, könnten Sie dahinten für Ruhe
sorgen? - Alles klar.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Steffen Kampeter für die Bundesregierung.
({1})
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für diese Eisbrecherfunktion zur Eröffnung einer Debatte, von der ich
behaupten möchte, dass sie zu den erfreulicheren Facetten der europäischen Stabilisierungspolitik in dieser Woche zählen dürfte. Wir reden über Portugal. Die Portugiesen haben beantragt, einen Teil ihrer aus Solidarität
und im Ausgleich gegen wirtschaftspolitische Reformen
erhaltenen Kredite vorzeitig zurückzuzahlen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß
nicht, wie Sie das sehen, aber im Deutschen Bundestag
und, glaube ich, auch in der europäischen Zusammenarbeit gilt: Wer einen Kredit vorzeitig zurückzahlen kann
und möchte, der scheint wirtschaftlich auf einem guten
Kurs zu sein. Die Zusammenarbeit zwischen Portugal,
der Troika und der Euro-Gruppe ist offenkundig ein Erfolg.
({0})
Das geht nicht nur aus dem Antrag, sondern auch aus
den Daten zu Portugal hervor. Portugal wächst wieder,
im Übrigen stärker als der Durchschnitt der Euro-Zone.
Die Arbeitslosigkeit sinkt. Sie ist immer noch zu hoch,
aber die Richtung stimmt. Die Beschäftigung nimmt zu,
und die Arbeitslosigkeit sinkt.
Die Wettbewerbsfähigkeit der portugiesischen Volkswirtschaft gemessen an den Lohnstückkosten verbessert
sich. Infolgedessen ist das enorme Leistungsbilanzdefizit, das vor einigen Jahren noch ein Indikator für die
mangelnde wirtschaftspolitische und wirtschaftliche Performance der Portugiesen war, nahezu ausgeglichen.
Das Vertrauen der Märkte, also der Geldgeber, die
Portugal anstelle der europäischen Steuerzahler Geld leihen mögen, ist zurückgekehrt. Das ermöglicht diese entsprechende Entwicklung.
Portugal unterscheidet sich von anderen Ländern,
über die wir in diesen Tagen diskutieren, auch dadurch,
dass die portugiesische Finanzministerin, Maria
Albuquerque, bei ihrem Besuch in Deutschland in der
vergangenen Woche ein klares Bekenntnis geleistet hat.
Nicht nur, dass sie alles zurückzahlen möchte, was wir
auf europäischer Ebene den Portugiesen zur Verfügung
gestellt haben, sondern sie hat auch ein klares Bekenntnis geliefert, dass sie die wirtschaftspolitischen ReforParl. Staatssekretär Steffen Kampeter
men, die auch für Portugal schmerzhaft waren und Opfer
gefordert haben, fortsetzt, weil sie gut für Portugal und
gut für Europa sind. Das ist eine gute Botschaft.
({1})
Wenn Portugal nun einen Teil seines IWF-Kredits es geht hier immerhin um rund 14 Milliarden Euro - wegen aktuell günstiger Finanzierungsbedingungen zurückzahlen will, sollten wir uns diesem Anliegen positiv nähern, und zwar in dem Sinne, wie es die charmante
Präsidentin gesagt hat, nämlich indem wir gemäß § 3
Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes die Zustimmung des Deutschen Bundestages für
eine entsprechende Vereinbarung mit den Portugiesen
herbeiführen. Diese Zustimmung ist vor allen Dingen
deswegen notwendig, weil Portugal von der sogenannten
Parallelitätsklausel für die vorzeitige Tilgung von Darlehen der EFSF abweichen will. Diese Abweichung bedeutet - das will ich in aller Klarheit sagen -, dass Portugal seine IWF-Kredite teilweise vorzeitig tilgen kann,
ohne dass die EFSF eine vorzeitige Rückzahlung ihrer
Kredite verlangt.
Wenn ich sehe, dass der Teil der Kredite, den wir von
der Parallelitätsklausel ausnehmen, teilweise doppelt so
hoch verzinst wird wie unter derzeitigen finanzmarktwirtschaftlichen Bedingungen, kann ich den Antrag Portugals unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten völlig
nachvollziehen. Damit erhöht sich die Schuldentragfähigkeit Portugals und steigt die Wahrscheinlichkeit, dass
auch die anderen Kredite ordnungsgemäß und vollständig im Rahmen des Zeitplans bedient werden.
Vor diesem Hintergrund bittet die Bundesregierung
durch den Bundesfinanzminister um Ihre unmittelbare
Zustimmung zu dieser Änderung der Vereinbarung mit
Portugal. Wenn Sie zustimmen, signalisieren Sie Respekt vor dem erfolgreichen wirtschaftspolitischen Kurs
der portugiesischen Regierung, die aus einer schwächelnden wieder eine wachsende Volkswirtschaft
gemacht hat. Sie erleichtern die weitere finanz- und wirtschaftspolitische Erholung Portugals, wenn Sie gestatten, dass die teuren Teile der Kredite ausgegliedert werden. Mit Ihrer Zustimmung geben Sie ein Signal, das
nicht nur in Portugal vernommen wird: Anstrengungen
und Reformen lohnen sich. - Wachstum und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sind Indikatoren, die Europa zusammenhalten. Sie unterstützen eine Regierung, die ihren Reformkurs fortsetzen möchte und zu ihren
Verpflichtungen steht. Die portugiesische Regierung
sagt Ja zu Reformen und Ja zu Europa.
({2})
Vielen Dank, Steffen Kampeter. - Nächster Redner in
der Debatte ist Richard Pitterle für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzkrise hat Portugal
schwer getroffen. Das Land musste sich vor vier Jahren
unter das Diktat der Troika begeben und hat 78 Milliarden Euro als Kredit aufgenommen, jeweils zu einem
Drittel beim Internationalen Währungsfonds, IWF, und
den beiden europäischen Institutionen EFSF und EFSM.
Inzwischen konnte sich das Land wegen der niedrigen
Zinsen am Kapitalmarkt günstig refinanzieren. Daher
will Portugal einen Teil der aufgenommenen Kredite
vorzeitig tilgen, und zwar nur die vom IWF, weil das am
meisten Zinsen spart. Laut Vereinbarung zu den Finanzhilfen darf Portugal die Kredite aller Gläubiger aber nur
gleichzeitig anteilig tilgen und stellt deshalb den Antrag
auf Ausnahme von dieser Regel. Ich kann Ihnen gleich
sagen: Die Fraktion Die Linke wird hier zustimmen, damit Portugal wenigstens etwas mehr finanziellen Spielraum erhält.
Feierlaune ist dennoch völlig fehl am Platz; denn von
den angeblich positiven Wirtschaftsdaten hat die große
Mehrheit der Portugiesinnen und Portugiesen nichts. Im
Gegenteil: Es ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen in
Portugal, wenn nun im Hinblick auf Griechenland vom
Bundesfinanzminister behauptet wird, am Beispiel Portugals zeige sich der Erfolg des maßgeblich von der
Bundesregierung vorgegebenen Radikalsparkurses in
Europa. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, empfinden Sie es als Erfolg, dass sich die Lebensbedingungen für die Menschen in Portugal drastisch
verschlechtert haben? Empfinden Sie es als Erfolg, dass
über 2 Millionen Portugiesinnen und Portugiesen, fast
ein Viertel der Bevölkerung, in Armut oder knapp an der
Grenze dazu leben? Empfinden Sie es als Erfolg, dass in
Portugal eine Jugendarbeitslosigkeit von über 34 Prozent
herrscht und somit jeder dritte junge Mensch keinen Job
hat? Empfinden Sie es als Erfolg, dass über 300 000 Portugiesinnen und Portugiesen auf der Suche nach Arbeit
und einer Lebensperspektive das eigene Land verlassen
mussten? Wer angesichts dieser Zahlen noch von Erfolg
spricht, sollte sich in Grund und Boden schämen.
({0})
Was haben die portugiesischen Regierungen nicht alles gemacht, um dem Spardiktat nachzukommen? Gehälter im öffentlichen Dienst und Renten wurden
gekürzt, Sozialleistungen wurden gestrichen, auf Arbeitslosen- und Krankengeld wurden Steuern erhoben.
Einige dieser Maßnahmen waren sogar so drastisch, dass
sie vom portugiesischen Verfassungsgericht kassiert
wurden. Begründung: Die Belastungen der Krise waren
ungleich verteilt.
Jetzt dürfen Sie raten: Wen haben all diese Maßnahmen vor allem getroffen? Richtig, die mittleren und unteren Einkommensschichten. Es ist und bleibt einfach
eine Schande, dass sich Lehrerinnen oder Handwerker
inzwischen bei der Armenküche anstellen müssen, während die Reichen und Vermögenden wieder einmal ungeschoren davongekommen sind.
({1})
Seit dem letzten November sitzt ein Erfüllungsgehilfe
der Troika-Politik, der frühere sozialdemokratische
Ministerpräsident Sócrates, im Knast. Die Ermittlungen
werden wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und
Korruption geführt. Das Gleiche gilt für den Chef der insolventen Bank Espírito Santo. Die herrschenden Eliten
Portugals haben das Land, wie auch die Eliten in Griechenland, unter Aufsicht der Troika ausgeplündert. Viele
Portugiesinnen und Portugiesen fühlen sich deshalb betrogen - und das völlig zu Recht.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition: Wieso lassen Sie zu, dass so viele
Menschen ihrer Lebensperspektiven beraubt werden?
Warum werden die Vermögenden, die, die es sich leisten
könnten, nicht stärker zur Kasse gebeten?
({2})
Wenn die Kredite an die Krisenländer schon an Auflagen geknüpft sind, warum nicht an die Auflage, die Reichen und Superreichen angemessen an den Krisenkosten
zu beteiligen?
({3})
Im Herbst wird in Portugal gewählt. Da kann man für
Portugal nur „mais CDU“ hoffen, übersetzt: mehr CDU.
Aber bevor Sie auf der rechten Bank frohlocken: CDU
ist das Wahlbündnis der portugiesischen Kommunistinnen und Kommunisten und der portugiesischen Grünen,
dem ich als führende Kraft gegen die Austeritätspolitik,
also gegen die Politik des Sparzwangs und der Verarmung, mehr Einfluss in Portugal wünsche,
({4})
damit sich endlich auch für die breite Masse der Bevölkerung, für die Krankenschwester oder den Angestellten
im öffentlichen Dienst etwas zum Guten ändert.
Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen jetzt
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben 516 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 61, und drei
Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 516
nein: 61
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer ({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
({5})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Vizepräsidentin Petra Pau
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({7})
Stefan Müller ({8})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Eckhard Pols
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Ronja Schmitt ({12})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({13})
Dr. Ole Schröder
({14})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({17})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({18})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({21})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({22})
Burkhard Blienert
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({23})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({26})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Vizepräsidentin Petra Pau
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Carsten Schneider ({33})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({34})
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({35})
Volker Beck ({36})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Christian Kühn ({37})
Renate Künast
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({38})
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Nein
SPD
Klaus Barthel
Dr. Ute Finckh-Krämer
Cansel Kiziltepe
Waltraud Wolff
({39})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Cornelia Möhring
Norbert Müller ({40})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
({41})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Corinna Rüffer
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Petra Hinz ({42})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn für die SPD-Fraktion.
({43})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es war gerade so viel von Diktat und von Zwang
die Rede. Ich will wieder auf den eigentlichen Gesprächsgegenstand zurückkommen. Es handelt sich hier
um einen Antrag, einen selbstbestimmten Antrag, von
Portugal, und wir müssen dem Antrag zustimmen, weil
wir die parlamentarische Beteiligung in Europa sehr
ernst nehmen und unsere Regierung dem Antrag nur zustimmen kann, wenn wir zugestimmt haben.
Portugal hat beantragt, die Hälfte des IWF-Kredits
vorzeitig zurückzahlen zu können. Das haben die Iren
mit unserer Zustimmung im Herbst 2014 genauso gemacht. Dadurch könnte Portugal in den nächsten Jahren
490 Millionen Euro Zinsen sparen. Die Tragfähigkeit
der öffentlichen Finanzen ist schon von anderen attestiert worden, was für uns eine wichtige Botschaft ist.
Ich will das nur einleitend sagen, weil das der eigentliche Gegenstand ist, wobei ich, soweit ich das erkennen
kann, sagen darf, dass die Zustimmung zu dem Antrag
weitestgehend unumstritten ist. Das gibt mir aber Gelegenheit, auf etwas anderes aufmerksam zu machen. Dadurch finden Sie, Herr Kollege von den Linken, vielleicht eine Lektüre, um sich objektiv über die Sachlage
zu informieren.
Ich spreche von dem Bericht über die Reise einer Delegation des Haushaltsausschusses vom 16. bis 21. September 2012 nach Spanien und Portugal. Zwei Jahre vorher gab es, übrigens mit den gleichen Programmpunkten,
eine Reise nach Athen. Auf beiden Reisen haben Gespräche der Haushaltsausschussmitglieder unter den
Aspekten „Auflagen als Reaktion auf die Finanz- und
Wirtschaftskrise“, „Reformanstrengungen“, „Auswirkungen auf die Menschen vor Ort“ und „Belastbarkeit
der Prognosen“ stattgefunden.
Ich möchte hier darauf hinweisen, dass alle im Haushaltsausschuss vertretenen Fraktionen die Gelegenheit
hatten, daran teilzunehmen; ich war in beiden Fällen die
Delegationsleiterin. Die Linken haben weder an der
Reise nach Athen noch an der Reise nach Madrid und
Lissabon teilgenommen.
({0})
Eigentlich schade; denn sonst hätten sie vielleicht die
Gelegenheit genutzt, eine andere Rede zu halten.
({1})
Im Hinblick auf die Reise nach Portugal und Spanien
- darum geht es in diesem Bericht - ist mir eins wichtig:
Unsere Delegation - sie war hochrangig besetzt; die damalige Haushaltsausschussvorsitzende, Frau Merkel,
war dabei ebenso wie der Rechnungsprüfungsausschussvorsitzende, Herr Luther von der CDU/CSU, aber auch
Priska Hinz, die damalige haushaltspolitische Sprecherin
der Grünen, nahm teil - zog als Fazit dieser Reise - wir
haben es miteinander abgestimmt und haben es alle gemeinsam getragen; ich lese einige Sätze daraus vor -:
Die Delegation ist insgesamt besorgt, dass die nationalen Regierungen in beiden Ländern bei Abgeordneten, Sozialpartnern wie Bevölkerung den Eindruck erwecken, dass alle Reformen en détail von
Europa/der Troika vorgeschrieben seien und damit
Europa - und nicht sie selbst - für eventuelle soziale Unausgewogenheiten verantwortlich seien.
({2})
Die Delegation machte gemeinsam deutlich, dass
die verabredeten Konsolidierungsziele im Umfang
zwar verbindlich seien, der eingeschlagene Weg
dorthin aber stets Ausdruck einer souveränen Nationalregierung sei und keinesfalls ein Diktat aus
Europa darstelle. Europa dürfe bei den Menschen
nicht als „Sündenbock“ für notwendige Reformprozesse diskreditiert werden - sonst laufe man Gefahr, dass Europamüdigkeit und Nationalismus bei
den frustrierten Bürgern verstärkt würden.
({3})
Das ist aber noch nicht alles, was ich hier vortragen
will. Denn die Reise nach Madrid und Lissabon hat unsere Delegation veranlasst, zu sagen: Unterschiedlicher
können sich zwei Regierungen diesen Herausforderungen eigentlich kaum stellen. Wir waren eindeutig sehr
begeistert davon, wie die portugiesische Regierung mit
den Herausforderungen umgegangen ist. Ein Beispiel:
Als wir dort ankamen, erlebte sie gerade große Demonstrationen. Man muss wissen: Die Portugiesen gehen
nicht so leicht auf die Straße; sie demonstrieren eher selten. Bei diesen Demonstrationen ging es darum, dass die
Regierung, nachdem das Verfassungsgericht bestimmte
Maßnahmen unmöglich gemacht hatte, neue Vorschläge
zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
der Rentner vorgeschlagen hatte. Das hat diese Demonstrationen provoziert.
({4})
- Hören Sie doch einfach einmal zu.
Jetzt zitiere ich wieder etwas:
Bei dem Vergleich beider Länder war die Delegation von der Konsensorientierung und ernsthaften
Bereitschaft zur Mitverantwortung auch für unpopuläre Maßnahmen bei Sozialpartnern ebenso
wie bei der großen Oppositionspartei in Portugal
positiv überrascht. PM Passos Coelho hat diesen
positiven Eindruck nach Rückkehr der Delegation
nach Deutschland dadurch bestätigt, dass er - beeindruckt von den anhaltenden Demonstrationen seine neuen Sparvorschläge teilweise zurückgenommen und durch Steuererhöhungen ersetzt hat,
die offenbar der Konsensfindung und Aufrechterhaltung des Sozialen Dialoges dienen sollen.
Ein Ergebnis unserer Reise war: Der Soziale Dialog
ist in Ländern wie Spanien ein traditionell vorhandenes
Instrument. In den damit verbundenen Prozess werden
Arbeitnehmer, Arbeitgeber, aber auch Oppositionsparteien eingebunden. Dergleichen gibt es auch in Portugal
bis heute. Das hat eine im Hinblick auf Konsensorientierung wichtige Rolle gespielt. Dieses Instrument haben
die Spanier unter dem jetzigen Ministerpräsidenten
abgeschafft. Angesichts der in Spanien sehr wohl zu
beobachtenden Radikalisierung können wir hier gemeinsam das Fazit ziehen: Das Ziel ist, die Konsolidierungsvorgaben zu erreichen. Alle angesprochenen Länder sind
da durchaus auf einem beachtlichen und guten Weg. Was
Portugal ganz offensichtlich auszeichnet, ist, dass es dabei wichtige gesellschaftliche Partner mitgenommen hat.
Darum will ich hier von ganzem Herzen sagen: Wir
als SPD sagen Ja zu dem Antrag Portugals, und wir drücken den Portugiesen die Daumen, dass sie auf diesem
Weg weitergehen und bei diesen Reformanstrengungen
auch den sozialen Frieden in ihrem Land wahren können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Sven-Christian Kindler für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich zu sagen: Dieser Antrag ist richtig. Wir Grüne werden ihm
heute hier im Plenum zustimmen. Wir haben das im letzten Oktober auch mit Irland so gemacht: vorzeitige
Rückzahlung der IWF-Kredite, dafür eine bessere
Marktfinanzierung von Irland. So soll das jetzt auch im
Fall Portugals geschehen mit dem Ziel, Zinszahlungen
zu sparen und die Schuldentragfähigkeit zu verbessern.
Das ist richtig. Das macht ökonomisch Sinn. Das macht
haushalterisch Sinn. Dadurch gibt es Spielräume im
Haushalt, auch um Zukunftsinvestitionen zu finanzieren.
Aber klar ist: Erstens. Natürlich ist dieser Spielraum
begrenzt und reicht nicht. Zweitens. Das ist für die wirtschaftliche Erholung in Portugal zu wenig, aber auch
insgesamt für Europa zu wenig. Für uns als Grüne ist eigentlich klar: Wir brauchen mehr Investitionen; wir
brauchen jetzt nicht nur für Portugal, sondern für ganz
Europa eine soziale, eine ökologische Investitionsstrategie.
({1})
Konkret noch einmal zu Portugal. Es ist richtig: Es
gab ökonomische Verbesserungen. Das zeigt jetzt der
Rückzahlungsantrag von Portugal. Die Marktfinanzierung ist besser, wobei das viel mit der Politik der EZB zu
tun hat; das muss man wissen. Es gibt eine leichte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Portugal, obwohl
sie sehr fragil ist. Es gab 2013 und 2014 einen leichten
Primärüberschuss im Haushalt. Portugal hat das Anpassungsprogramm verlassen. Das alles sollte man anerkennen; das machen wir auch.
Herr Staatssekretär Kampeter, Sie haben gerade von
einem Erfolgskurs geredet. Ich finde, es gibt hier keinen
Grund zum Jubeln, auch keinen Grund, die Lage jetzt
schönzureden. Die Armut in Portugal ist immer noch
sehr groß. Die Armenküchen in Lissabon und Porto haben riesigen Zulauf, werden überrannt. Ich finde, das
darf man nicht verschweigen. Man darf die Lage, die
große Armut in Portugal, nicht schönreden.
({2})
Es ist richtig: Die Arbeitslosigkeit sinkt nach offiziellen Zahlen in Portugal. Aber der Gewerkschaftsverband
in Portugal geht davon aus, dass die reale Arbeitslosigkeit inzwischen eigentlich bei 25 Prozent liegt, weil es
viele Scheinselbstständige gibt, weil sich viele Menschen gar nicht mehr arbeitslos melden, weil sie die
Hoffnung verloren haben, weil es zum Teil sinnlose
Fortbildungskurse gibt, in denen Menschen geparkt werden, und auch weil es eine hohe Auswanderung gibt. Jedes Jahr verlassen 100 000 Portugiesen das Land. Gerade viele junge Menschen wandern aus, weil sie keine
Perspektive, keine Chancen in Portugal sehen. Man
spricht dort schon von einer verlorenen Generation. Den
Ausdruck „verlorene Generation“ kennen wir nicht nur
aus Portugal, sondern auch aus Irland, aus Italien, aus
Spanien, aus Griechenland. Man muss sagen: Es ist leider ein Armutszeugnis für Europa, dass wir so viele perspektivlose junge Menschen haben. Das muss sich dringend ändern. Wir dürfen in Europa keine verlorene
Generation zulassen.
({3})
Ich finde, man darf jetzt nicht nur über Portugal reden. Große Armut, große Arbeitslosigkeit, hohe Schuldenquoten durch die Banken- und Euro-Krisen in
Europa - das ist nicht nur ein spezifisches Problem von
Portugal; das gibt es in mehreren Ländern.
Wenn man das einmal mit der Entwicklung in den
USA seit der Krise vergleicht, dann sieht man, dass in
den USA die Arbeitslosigkeit halb so hoch ist, dass man
dort bessere Wachstumszahlen und geringere Schuldenquoten hat - bei einer lockeren Geldpolitik und einer
lockeren Fiskalpolitik. Ich finde, das zeigt, dass die Austeritätspolitik, die die deutsche Bundesregierung maßgeblich vorangetrieben hat, eigentlich im Kern gescheitert ist und wir jetzt einen Kurswechsel für mehr
Gerechtigkeit in Europa und für mehr Investitionen in
Europa brauchen.
({4})
Mehr Investitionen in Europa, gerade in Zukunftsbereichen, in die Energieeffizienz, in erneuerbare Energien, in den Klimaschutz, aber auch in Bildung, in junge
Menschen, muss man nicht unbedingt dadurch finanzieren, dass man neue Schulden macht; man kann sie auch
dadurch finanzieren, dass man zum Beispiel an umweltschädliche Subventionen in Deutschland und Europa
rangeht oder dass man die Einnahmeseite verbessert. Die
Europäische Kommission schätzt, dass jedes Jahr 1 Billion Euro, also 1 000 Milliarden Euro, an Steuern hinterzogen werden, häufig auch vermieden werden, meist legal. Deswegen, finde ich, muss klar sein, dass zum
Beispiel die Skandale, die es um Steuerhinterziehung
gibt, jetzt in Luxemburg, bei der Commerzbank, voll
und rücksichtslos aufgeklärt werden müssen.
({5})
Gleichzeitig ist klar: Dieses Geld brauchen wir dringend für Zukunftsinvestitionen in Europa. Wir brauchen
endlich einen europäischen Steuerpakt, der Steuerhinterziehung konkret angeht; denn das ist ein Angriff auf das
Gemeinwohl. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.
({6})
Das Überschuldungsproblem, das wir in Europa
haben, müssen wir im gesamteuropäischen Kontext diskutieren. Da kann man nicht immer nur über einzelne
Länder diskutieren. Wir brauchen große Lösungen. Wir
haben in der Währungsunion gemeinsame Regeln zur
Haushaltspolitik. Wir müssen uns auch darüber unterhalten, warum wir keine gemeinsamen Regeln bei den
Schulden haben und wie wir mit Schulden, konkret mit
dem Zins und der Finanzierung, umgehen. Wir brauchen
einen Altschuldentilgungsfonds, wie ihn der Sachverständigenrat vorgeschlagen hat. Dort legt man gemeinsame Regeln für einen Abbaupfad fest, aber auch für die
gemeinsame Finanzierung von Schulden. Zugegeben:
Momentan sind die Zinsen in Europa wegen der EZBPolitik sehr niedrig. Mittelfristig wird das hoffentlich
nicht so bleiben, weil sich die Lage wieder stabilisiert
und erholt. Dann brauchen wir gemeinsame Regeln. Der
Altschuldentilgungsfonds ist dafür ein vernünftiger Vorschlag.
({7})
Kollege Kindler, auch wenn vor Ihnen aufleuchtet,
dass der Präsident etwas von Ihnen möchte, so macht Sie
die Präsidentin jetzt darauf aufmerksam, dass Sie zum
Schluss kommen müssen und einen Punkt setzen müssen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Wenn
man über Schulden redet, muss man auch über Vermögenskrisen und Schuldenkrisen reden. Das heißt man
muss einen Altschuldentilgungsfonds vernünftig finanzieren. IWF und Bundesbank schlagen zum Beispiel
Vermögensabgaben vor. Das ist ein richtiger Vorschlag,
um das Überschuldungsproblem in Europa anzugehen;
denn auch hier brauchen wir Gerechtigkeit bei der Finanzierung.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Volkmar
Klein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass wir diese Debatte führen und eine Entscheidung zu treffen haben, illustriert vor allen Dingen
noch einmal die weitgehenden Rechte, die wir uns als
Deutscher Bundestag vorbehalten haben. Das Stabilisierungsmechanismusgesetz macht dieses nötig, weil es um
eine Veränderung der Regeln geht, völlig unabhängig
davon, dass es in diesem Fall zu einer Verbesserung für
alle kommt. Für uns besteht die Verbesserung darin, dass
unser Risiko sinkt, die spürbarsten Verbesserungen erleben aber die Menschen in Portugal. Spielräume, die sich
die Menschen in Portugal unter Führung einer guten Regierung hart erarbeitet haben, können hier identifiziert
und genutzt werden. „Das lohnt sich“ ist eine der wichtigen Botschaften.
({0})
Deshalb sind die Zinseinsparungen in Höhe von
490 Millionen Euro, über die wir jetzt reden, wirklich
der Ausweis eines großen Erfolges: zum einen für
Portugal, zum anderen aber auch für unsere Euro-Politik.
Natürlich ist das auch mit schweren Entscheidungen, die
in Portugal zu treffen waren, verbunden gewesen. Aber
lasst uns doch einmal zurückschauen. Ohne das Programm, das wir 2011 beschlossen haben, wäre Portugal
doch nach Jahren sozialistischer Misswirtschaft insolvent und am Ende gewesen.
({1})
Genau in diesem Fall wären die Folgen erst recht diejenigen gewesen, die wir eben an die Wand gemalt bekommen haben: Renten ausgefallen, Löhne reduziert.
Vor allen Dingen wäre Portugal - insofern war es auch
unser Interesse -, aber möglicherweise auch der Rest
Europas, in eine schwere Krise der Realwirtschaft gefallen. Das hatten wir kurz vorher noch beim Fall Lehman
Brothers erlebt. Dort war es weniger wahrscheinlich als
beim Ausfall eines Landes. Deswegen war es im Interesse der Menschen in Portugal, aber auch, um Krisen
für uns zu vermeiden, richtig, dass dieses Programm
2011 in Höhe von 79,5 Milliarden Euro beschlossen
wurde, an dem sich mit 27,5 Milliarden Euro - umgerechnet nach heutigen Werten - der IWF beteiligt hat.
2014 wurde dieses Programm abgeschlossen. Portugal hat sich stabilisiert, hat sich besser entwickelt, hat
2014 sowohl bei der Beschäftigung als auch beim
Bruttoinlandsprodukt deutlich zugelegt. Das Vertrauen
ist zurückgekehrt. Das wird durch die Zinsentwicklung
an den Märkten gespiegelt. Genau das ermöglicht es
jetzt, die IWF-Gelder früher als geplant zurückzuzahlen;
denn der IWF verlangt über 4 Prozent Zinsen für die
oberste Kreditmarge. Stattdessen kann sich Portugal
heute am Markt sehr viel günstiger finanzieren. Das
führt zu einer Einsparmöglichkeit von möglicherweise
490 Millionen Euro, und zwar deswegen, weil es die
Nominalwerte verteilt über die künftigen Jahre sind.
Man könnte es vielleicht diskontieren. Das wäre dann
ein etwas niedrigerer Betrag.
Auf der anderen Seite wird in diesem Antrag mit
einem neuen, quasi an den Märkten zu realisierenden
Refinanzierungszins in Höhe von 2,64 Prozent kalkuliert. Die tatsächliche Rendite für zehnjährige portugiesische Staatsanleihen liegt aber heute bei rund 2,0 Prozent.
Das heißt, eventuell ist die Einsparung für Portugal sogar noch deutlich höher. Das schafft zusätzliche Spielräume gegenüber den bisherigen Plänen.
Wir müssen dem zustimmen, weil es ein Absehen von
der Parallelitätsklausel ist, von der wir eben schon gehört haben. Diese Klausel war damals, 2011, wirklich
wichtig, weil sichergestellt werden sollte, dass - erstens alle an Bord bleiben und sich - zweitens - nicht das
Risiko für die Zurückbleibenden erhöht.
Erstens. Dass alle an Bord bleiben, ist sichergestellt.
Die Hälfte der IWF-Kredite wird zwar getilgt; aber der
IWF bleibt automatisch an Bord, solange die Kredite für
ein Land mehr als 200 Prozent der eigenen Beitragsquote betragen. Das heißt, der IWF bleibt dabei.
Zweitens. Das Risiko für die Verbliebenen wird nicht
größer. Im Gegenteil: Die jetzt nicht mehr zu leistenden
Zinszahlungen sorgen natürlich dafür, dass die Schuldentragfähigkeit Portugals steigt und damit unser Risiko
sinkt.
Daher ist die Entscheidung klar: Wir stimmen diesem
Antrag zu. Nach einer ähnlichen Entscheidung zu Irland
im vergangenen Jahr, meine Damen und Herren, ist das
ein weiterer Meilenstein erfolgreicher Euro-Politik.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Ewald Schurer für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Entscheidend
ist, dass Portugal in der Tat in der Lage ist, sich wieder
am Kapitalmarkt zu vernünftigen, bezahlbaren Bedingungen zu refinanzieren; darauf hat Staatssekretär
Kampeter richtigerweise hingewiesen. Portugal kann es
sich jetzt im Prinzip leisten, mit leichten wirtschaftlichen
Gewinnen den teuersten der drei Kredite, nämlich den
des IWF, vorzeitig über 30 Monate hinweg zu tilgen.
Das ist ein gutes Zeichen. - Das war der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Wir diskutieren manchmal ein bisschen im luftleeren Raum. Man darf eine Analogie nicht
vergessen. Wir reden morgen über Griechenland. Dort
gab es von 1967 bis 1974 angesichts der schweren Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges - das ist auch unsere Verantwortung - ein Obristenregime. Portugal hatte
bis 1974 ein faschistoides Regime. Darin liegt die Analogie. Wir wissen aus der Wirtschaftswissenschaft und
aus der Praxis, dass Länder, in denen lange Zeit keine
zivilen Kräfte regieren, bei den Investitionen im öffentlichen Sektor wie auch im privaten Sektor schlecht dastehen. Dies hat die beiden Länder sicherlich schwer getroffen. Da haben sich die Potenziale einer sozialen
Marktwirtschaft nicht wirklich entwickeln können.
Der nächste Punkt. Die Weltwirtschaftskrise von
2008 - erst einmal die Finanzkrise, in der Folge die
Wirtschaftskrise - hat den Ländern, die eh schon riesige
strukturelle Defizite hatten, auf brutale Weise - in einer
Art Reality Check - gezeigt, wo sie stehen. Sie sind
dann besonders hart getroffen worden. Insofern sind die
Kritiken, zum Beispiel die Einlassungen des Kollegen
Kindler, ein Stück weit richtig. Da wurde dann so hart
gespart - in Portugal hat es zu einer Korrektur durch das
dortige Verfassungsgericht geführt -, dass man schon
sagen muss: Man sollte mit einer gewissen Nachdenklichkeit über dieses Thema diskutieren. Insofern werden
kritische Sequenzen von mir durchaus anerkannt.
Jetzt geht es darum: Portugal hat sich jetzt ein Stück
weit erholt; ich würde das gern auch über Griechenland
sagen können. Wenn man die Makroökonomie Portugals
betrachtet, dann erkennt man, dass es bisher vor allen
Dingen Zuwächse in der Binnenwirtschaft gibt, weil die
Kaufkraft im Lande gestiegen ist.
Im Übrigen ist Folgendes interessant: Weil Portugal
immer noch Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit
innerhalb der EU hat, hat das Land versucht, die alten
Kolonialstrukturen zu restrukturieren und zum Beispiel
mit Brasilien mehr Handel zu betreiben. Portugal hat
versucht, darüber kleine Vorteile zu akquirieren. Das ist
dem Land in bedingtem Maße gelungen; das ist interessant. Es hängt also mit der Binnenkonjunktur und mit
den alten Strukturen der Kolonialwelt zusammen, die
- wie alle kolonialen Strukturen - nicht sehr schiedlichfriedlich und demokratisch waren.
Noch immer - lieber Steffen Kampeter, das wissen
wir - leidet Portugal darunter, dass seine Konkurrenzfähigkeit innerhalb der EU nicht optimal ist. Um es ganz
vorsichtig zu sagen: Portugal hat, was Produktivität angeht, viel aufzuholen.
Wenn junge Leute mit einer Ausbildung - was wir
nicht wollen - das Land verlassen, ist das für die
Zukunftsfähigkeit dieses Landes nicht gut. Deswegen
sind diese Zeichen, die jetzt im Hinblick darauf gesetzt
werden, dass man sich wieder selbst entschulden kann,
verdammt wichtig für die Psychologie und - wie es der
Herr Staatssekretär gesagt hat - das Vertrauen. Insofern
ist es auch wichtig für die Fähigkeit, im Land zu investieren.
Im Rahmen des 300 Milliarden-Euro-Plus-Programms,
das in Brüssel mit unserer Hilfe konstruiert und gezeichnet wird - das müssen sowohl die Bundesregierung als
auch Union und SPD beachten -, muss ganz gezielt auch das hat der Kollege Kindler angesprochen - investiert werden. Es muss in neue Projekte und Wertschöpfungen investiert werden, um Chancen gerade für die
junge Generation zu eröffnen, damit deren Angehörige
wieder im Lande bleiben können.
Was Bildung und Ausbildung anbelangt, wäre unser
dualer Weg, bei dem sich die Sozialpartner, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber auf belastungsfähige Konstrukte einigen, von größter Wichtigkeit. Wir sollten
nicht nur klagen, sondern sagen: Junge Menschen brauchen eine profunde Berufsausbildung, damit sie im
Lande investieren können. - Das sind für mich die ganz
großen Projekte, um die es an der Stelle geht.
({0})
- Herzlichen Dank! - Meine letzte Aussage lautet: Es ist
ein guter Deal, dass EFSF und EFSM der Konstruktion
zustimmen, sodass innerhalb von 30 Monaten im Rahmen der einzelnen Teilschritte der Tilgung eine halbe
Milliarde Euro gespart werden kann. Wenn diese halbe
Milliarde Euro in wirtschaftliches Leistungsvermögen
investiert werden würde, wären wir schon wieder auf
dem richtigen Weg.
Insgesamt kann und muss man sagen: Portugal hat
jetzt wirklich das Schlimmste hinter sich. Es ist in der
Lage, sich wieder ein Stück weit frei zu refinanzieren. Es
gibt die Hoffnung, dass die Europäische Union und wir
mit unserer großen Verantwortung als Partner Portugal
auf einen guten Weg in die Zukunft führen, indem wir
das Land massiv unterstützen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Alois Karl das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Ich lag gestern noch ohne Stimme im Bett
und konnte kein Wort hervorbringen. Ich bitte - für den
Fall, dass es mir jetzt die Stimme verschlägt -, gleich
zum Ergebnis kommen zu dürfen. Die CDU/CSU, meine
Fraktion, und auch ich werden natürlich dem Antrag des
Finanzministeriums bezüglich der vorzeitigen Rückzahlung des Kredits durch Portugal sowie auch des Verzichts auf die Parallelitätsklausel zustimmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr
Pitterle, im Strafrecht gibt es den Begriff des Wiederholungstäters. Wenn sich jemand eine erste milde Strafe
nicht besonders zu Herzen gehen lässt und schon bald
wieder beim Strafrichter mit ähnlichen Vergehen auftaucht, wird er viel härter angefasst. Bei uns ist das etwas anders. Wir befassen uns in periodischen Abständen
fast immer mit ähnlichen Themenstellungen, Tatbeständen und Sachverhalten. So geschah es auch vor vier
Monaten, als wir uns mit Irland befassten. Irland befand
sich zu der Zeit ebenfalls in der Situation, vorzeitig Kredite zurückzahlen zu wollen. Auch da haben wir auf die
Parallelitätsklausel verzichtet.
Anstelle von Wiederholungstätern sind wir also Wiederholungswohltäter, weil wir es zum wiederholten Male
einem Partner in Europa erlauben, sich auf bessere Beine
zu stellen. Durch unser Zutun ermöglichen wir es, dass
ein europäischer Partner - nämlich Portugal - wieder auf
gute und sichere finanzielle Beine kommen kann, nachdem er sich in den letzten Monaten und Jahren außerordentlich angestrengt und gute Arbeit geleistet hat. Wir
stehen mit großem Respekt vor dieser Arbeit, welche die
portugiesische Regierung in den letzten Monaten und
Jahren geleistet hat. Sie verdient unsere Sympathie und
Solidarität. Wir wollen sie mit den heutigen Beschlüssen
in der Tat auch honorieren, meine sehr geehrten Damen
und Herren.
({0})
Es ist gut, dass wir als Bundestag gefragt sind. Ohne
unser Zutun könnte der Bundesfinanzminister im Kreise
seiner Kollegen nicht zustimmen. Das Stabilisierungsmechanismusgesetz erlaubt es uns, uns abschließend
eine Meinung über den Sachverhalt zu bilden. Wir geben
hiermit dem Bundesfinanzminister die Order mit auf den
Weg, seine Zustimmung zu geben.
Die Situation in Irland habe ich erwähnt. Dort waren
der Bauboom und die damit verbundene Immobilienblase Ursache für die Krise. In Portugal hingegen gab es
ganz andere Gründe für die Krise. Dort haben sich die
Lohnstückkosten über Jahre hinweg deutlich schneller
nach oben entwickelt als die Arbeitsproduktivität. Die
Wirtschaft blieb rückständig. Auch die öffentliche Verschuldung hatte zugenommen. Die Regierung versuchte,
gegenzusteuern. Aber das Leistungsbilanzdefizit konnte
nicht gesenkt werden, sondern es hat sich weiter erhöht.
Die Ratingagenturen haben Portugal schlechter eingestuft. Portugiesische Staatsanleihen wurden nur noch mit
einem Risikoaufschlag von 10 Prozent verkauft. Diese
Situation konnten die Portugiesen natürlich nicht lange
durchhalten. Aus diesem Grunde haben sie 2011 die Solidargemeinschaft um Hilfe gebeten. Das war kein Diktat, Herr Pitterle, wie Sie das behauptet haben, sondern
das war ein freiwilliges und auch richtiges Unterfangen,
dem sich die portugiesische Regierung notgedrungen gestellt hat.
Niemand wäre auf die Idee gekommen, den Portugiesen schnell mal 78 Milliarden Euro hinüberzuschieben,
weil wir erkannt hätten, dass sie sich in einer Notlage befinden. Nein, es lag in ihrem richtig verstandenen Interesse, hier gegenzusteuern. Sie haben Verantwortung für
ihr Land übernommen, und wir haben gerne geholfen.
Wir sind gemeinsam mit der portugiesischen Regierung
dabei, Portugal wieder auf einen guten Weg zu führen.
Wir reichen unsere helfende Hand. Wir haben viel Positives erreicht, in erster Linie in Portugal selbst, aber auch
durch unser Zutun hier. Das haben wir gut und richtig
gemacht.
({1})
Es verdient großen Respekt, was in Portugal geleistet
worden ist. In der Tat, es wurden Auflagen gemacht. So
mussten beispielsweise die Mehrwertsteuer und auch die
Kapitalertragsteuer erhöht werden.
({2})
Es ist noch anderes hinzugekommen. Die Portugiesen
sind auch pfiffig gewesen. Ich habe in einem Zeitungsartikel gelesen, dass Portugiesen, die Quittungen mit den
Steuernummern des Verkäufers und des Käufers einreichen, an einer monatlichen Auslosung teilnehmen und
einen A4 gewinnen können, und das bloß, weil sie nachweisen, dass sie eine Rechnung geschrieben bzw. ordnungsgemäß bezahlt haben. Lieber Staatssekretär
Kampeter, wenn man das hier umsetzen würde, dann
könnte man die Dienstwagenflotte der Bundesregierung
deutlich reduzieren.
({3})
Kollege Karl, diese weiter gehenden Vorschläge müssen wir an anderer Stelle debattieren.
Okay. - Bevor meine Stimme versagt, weise ich darauf hin, dass wir dem vorliegenden Antrag mit großem
Respekt zustimmen. Er schadet niemandem, und er nutzt
den Portugiesen. Was kann man unter Freunden Besseres
machen, als die Zustimmung - wie ich gehört habe, sogar einhellig - zu erteilen.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des
Bundesministeriums der Finanzen auf Drucksache 18/4030
mit dem Titel „Portugal: Vorzeitige teilweise Rückzahlung der IWF-Finanzhilfe; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3
Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Kassner, Susanna Karawanskij, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen
und Verordnungen sowie im Gesetzgebungsverfahren
Drucksache 18/3413
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Kassner für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bleibe bei meiner These: Wenn es in diesem Hohen Hause mehr praktizierende Kommunalpolitiker gäbe, als es in der Tat sind, dann würden wir nicht
nur über die Belange der Kommunen reden, sondern
wirkungsvoll und schnell etwas zur Verbesserung der Situation tun.
({0})
Der Verbesserung der Situation dient unser Antrag.
Die Kollegen in der ersten bis fünften Legislaturperiode
hatten einen Kommunalausschuss, in dem sie alle Belange, die die Kommunen betrafen, erörtert und gemeinsam nach Wegen und Lösungen gesucht haben. Ich finde
das gut. Ich sage es ganz deutlich: Ich bin mit der jetzt
praktizierten Lösung eines Unterausschusses Kommunales nicht so glücklich. Ich würde mir wünschen, wir hätten einen eigenständigen Ausschuss, der ein Selbstbefassungsrecht hätte und sich wirklich den Dingen, die die
Kommunen betreffen, stellen könnte.
({1})
Das wäre mein allerwichtigster Wunsch für dieses Hohe
Haus.
Dass 2007 im Rahmen der Föderalismusreform das
Aufgabenübertragungsverbot in der Verfassung verankert wurde, ändert an der Notwendigkeit der Einrichtung
eines solchen Ausschusses nichts, weil das keine wirkliche Hilfe ist; denn viele Dinge konnten gar nicht bis ins
Letzte erörtert werden. Dass in der letzten Legislaturperiode den kommunalen Spitzenverbänden in unserer
Geschäftsordnung die Möglichkeit zur Stellungnahme
eingeräumt wurde, ändert ebenfalls nichts an dieser Notwendigkeit. Das reicht nicht; denn es ist eine Auslegungsfrage, ob ihnen diese Möglichkeit eingeräumt
wird. Wir wissen auch gar nicht, in welcher Form und
mit welcher Konsequenz diese Stellungnahme berücksichtigt wird. Das ist zu wenig.
({2})
Ich habe 2005 gespürt, was es bedeutet, wenn der
Bundestag Gesetze erlässt. Damals war ich Landrätin
auf der schönen Insel Rügen, als das SGB II, sprich:
Hartz IV, eingeführt wurde. Vorher, bis zum Ende des
Jahres 2004, betrugen die Ausgaben für Sozialhilfe in
diesem Landkreis etwa 5 Millionen Euro jährlich. Danach waren wir verantwortlich für die Übernahme der
Kosten der Unterkunft. Die Ausgaben sind von einem
Jahr auf das andere auf das Dreifache explodiert. Mit einem Mal mussten von uns 15 Millionen Euro aufgebracht werden. Man kann sich vorstellen, was für eine
riesige Herausforderung das war. Das bedeutete in der
Konsequenz, dass über Jahre weniger Ausgaben getätigt
werden konnten und den Gemeinden, die zu unserem
Landkreis gehörten, über die Kreisumlage kräftig in die
Tasche gegriffen werden musste. Das hieß dort wiederum weniger Gestaltungsspielraum, so er überhaupt
noch vorhanden war. Daher lautet meine Forderung:
Lassen Sie die Kommunen richtig mitreden! Das würde
an vielen Stellen eine wirkliche Hilfe bedeuten.
({3})
Das würde im Übrigen auch bei der Frage nach den
Mietzuschüssen, die jetzt heiß diskutiert wird, helfen;
denn die kommunalen Spitzenverbände steuern schon
jetzt kräftig dagegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das haben wir doch einfach nicht nötig. Wir müssen jetzt
im Nachhinein anpassen und korrigieren. Wenn wir vorher mit den Betroffenen, mit denen, die diese Gesetze
umsetzen müssen, reden, dann können wir Erkenntnisse
gewinnen, sodass uns solche Irritationen erspart bleiben.
Ich denke, das wäre der Würde unseres Amtes und des
Hohen Hauses angemessen.
({4})
Ich glaube, alle Kommunalpolitiker hatten in dieser
Woche Besuch vom Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte“. Die Kolleginnen und Kollegen haben uns
ihre Situation nahegebracht. Die ist, glauben Sie mir, bedenklich. Wenn der Oberbürgermeister einer Stadt äußert - ich sage jetzt nicht, welcher Stadt; es war keine
ostdeutsche -, dass die Ausgaben für soziale Lasten in
seiner Stadt höher sind als die Einnahmen, dann ist doch
etwas faul.
({5})
Das geht nicht. Es muss die Möglichkeit gegeben
werden, dass noch ein Spielraum bleibt, dass das Gestalten von Politik in der Kommune tatsächlich Spaß macht,
dass man, wie gesagt, Spielräume hat und dadurch natürlich auch etwas gegen die allgemeine Politikverdrossenheit tun kann, und zwar durch aktives Mittun, durch
wirkliches Gestalten auf kommunaler Ebene. Das wünsche ich mir.
({6})
Ich würde mir, um es ganz deutlich zu machen, wünschen, dass es tatsächlich einen Schuldenschnitt gibt. Ich
habe mir einmal angesehen, wie es in Stralsund, der
Stadt, in der ich gerade um das Amt des Oberbürgermeisters kämpfe, aussieht. Dort haben sich im Laufe der
Jahre Schulden in Höhe von 100 Millionen Euro angesammelt. Das bedeutet, auf absehbare Zeit gibt es keinerlei Gestaltungsspielraum mehr. Das macht das Leben
in so einer Stadt außerordentlich schwierig. Das trägt natürlich, wie ich vorhin erwähnte, auch zur Politikverdrossenheit bei. Also: Wir müssen für alle Kommunen,
die so gebeutelt sind, einen Schuldenschnitt erreichen,
und wir müssen neue Strategien fahren. Das heißt zuallererst, dass wir uns mit denjenigen, die dort die Verantwortung tragen und wissen, wie es geht, an einen Tisch
setzen und versuchen müssen, die richtigen Lösungen zu
finden. Dafür werbe ich. Bitte unterstützen Sie unseren
Antrag.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Tim Ostermann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein Blick in die Plenarprotokolle zeigt, dass dieser Antrag zum Evergreen-Repertoire der Linksfraktion gehört.
({0})
In jeder Wahlperiode wird dieser Antrag aufs Neue ausgemottet und auf die Tagesordnung gesetzt. Quantität
spricht allerdings nicht immer für Qualität, auch in diesem Fall nicht.
({1})
Zunächst einmal möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass die Kommunen keine dritte staatliche Ebene
darstellen. Unser Bundesstaat ist zweistufig aufgebaut.
Das heißt, dass die Kommunen, wie auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt hat, verfassungsrechtlich Teil der Länder sind. Daraus folgt, dass die
kommunale Ebene nicht mitentscheidend in das Gesetzgebungsverfahren des Bundes einbezogen werden kann.
Dies geht aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht.
Denn eine solche Mitentscheidungsbefugnis wäre mit
dem zweistufigen Staatsaufbau des Grundgesetzes nicht
vereinbar. Gleichwohl hat der Bund den Kommunen verschiedene Möglichkeiten eingeräumt, damit sich diese in
das Gesetzgebungsverfahren einbringen können - wohlgemerkt ergänzend zum Unterausschuss Kommunales.
({2})
Bereits im Jahr 2012 hat der Bundestag unter der
christlich-liberalen Koalition eine Verbesserung der
kommunalen Mitspracherechte in den §§ 69 und 70 der
Geschäftsordnung des Bundestages vorgenommen.
({3})
Seitdem muss den kommunalen Spitzenverbänden eine
Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt werden, sofern ein Ausschuss ein Gesetz berät, das wesentliche Belange der Kommunen berührt. Das ist gut und richtig.
({4})
Trotz des von mir beschriebenen verfassungsrechtlichen
Rahmens sollte der externe Sachverstand aus den kommunalen Verbänden in den Gesetzgebungsprozess mit
einfließen. Das erhöht die Akzeptanz eines Gesetzes und
erleichtert die spätere Umsetzbarkeit in der Praxis.
Des Weiteren hat die letzte Große Koalition im Zuge
der Föderalismusreform im Grundgesetz ein Aufgabenübertragungsverbot normiert. Damit wurde die Übertragung von Aufgaben durch den Bund an die Kommunen
unterbunden. Stattdessen sind nun die Länder Adressaten dieser Aufgabenzuweisungen. Gleichzeitig - dies ist
ein überaus wichtiger und in der Praxis problematischer
Punkt - müssen sie den Kommunen eine für diese Aufgaben adäquate Finanzausstattung zukommen lassen.
({5})
- Wohlgemerkt, die Länder müssen den Kommunen eine
adäquate Finanzausstattung mitliefern; das nur zur Klarstellung. - Die Mitsprachemöglichkeit und das Übertragungsverbot sind deutliche Signale. Der Bund schöpft
damit die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten im
Sinne der kommunalen Ebene vollständig aus. Er macht
das, was ihm rechtlich möglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bund agiert
aber auch in der Praxis überaus kommunalfreundlich.
({6})
Hier nur einige wenige Beispiele dafür, was die Kommunen erhielten und erhalten: für die Grundsicherung im
Zeitraum 2012 bis 2017 etwa 30 Milliarden Euro, zusätzlich für die Kosten der Unterkunft von 2011 bis 2017
nochmals etwa 5,4 Milliarden Euro, für Investitions- und
Betriebskosten bei der Kinderbetreuung bis 2013 4 Milliarden Euro und ab diesem Jahr 845 Millionen Euro per
annum. Hinzu kommen weitere finanzielle Leistungen in
Milliardenhöhe:
({7})
Dazu zählen die finanzielle Entlastung der Kommunen
von 2015 bis 2017 um jährlich 1 Milliarde Euro sowie
weitere Entlastungen: bei der Eingliederungshilfe - hier
reden wir über 5 Milliarden Euro -, beim weiteren Ausbau der Kinderbetreuung und bei Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern; das sind, wie
gesagt, nur einige wenige Beispiele.
({8})
Diese Unterstützung des Bundes für die Kommunen
kommt nicht von ungefähr: Viele Bundestagskollegen
kommen aus der Kommunalpolitik, und vielfach sind sie
zusätzlich zu ihrer Tätigkeit hier im Parlament auch
noch auf kommunaler Ebene tätig. Für mich selbst gilt
dies auch. Ich kann Ihnen sagen, Frau Kollegin Kassner,
dass beispielsweise der AG Kommunalpolitik der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion 179 Abgeordnete und damit
57 Prozent der Fraktionsmitglieder angehören.
({9})
Das heißt, wir gehen da mit sehr gutem Beispiel voran.
({10})
Ich animiere Sie, es uns gleichzutun. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, diese Verwurzelung in der Kommunalpolitik ist die beste Gewähr für die Berücksichtigung der
kommunalen Belange; da kann keine gesetzliche Vorschrift mithalten.
Ich darf daher zusammenfassen: Ihr Vorschlag ist verfassungsrechtlich bedenklich. Es bestehen derzeit schon
genügend Regelungen, die eine Mitwirkung der Kommunen gewährleisten. Und vor allem - das ist für die
Kommunen der wichtigste Punkt -: Der Bund hilft den
Kommunen darüber hinaus bei der Finanzierung ihrer
Aufgaben und tut dabei erheblich mehr, als er eigentlich
tun müsste. Darum wird es Sie nicht verwundern, wenn
wir auch in diesem Jahr und in dieser Legislaturperiode
Ihren Antrag ablehnen werden.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katja Keul das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Antrag der Linken greift erneut ein zentrales Problem auf, über das wir nicht erst seit der Föderalismusreform 2006 intensiv diskutieren und das bis
heute nicht befriedigend gelöst ist.
({0})
Herr Ostermann, Sie haben gerade selber deutlich gemacht, warum das Aufgabenübertragungsverbot im
Grundgesetz nicht reicht: Wenn der Bund den Kommunen eine Aufgabe nicht übertragen kann, der Bund sie jedoch den Ländern und diese sie dann den Kommunen
übertragen können - ohne dass Letztere an der Einnahmenschraube drehen können -, dann hilft uns das Ganze
natürlich nicht weiter.
({1})
Bund und Länder können Steuerrechts- oder Sozialrechtsänderungen beschließen, ohne dass hinreichende
Informationen über die finanziellen Auswirkungen auf
die Kommunen vorliegen. Gerade im Bereich der sozialen Pflichtaufgaben hat dies zu einer erheblichen Belastung geführt, die vor allem Kommunen in strukturschwachen Regionen immer mehr ins Abseits befördert.
Gesetzesinitiativen wie das berühmte Wachstumsbeschleunigungsgesetz inklusive der berühmten Mövenpick-Steuer senken die kommunalen Steuereinnahmen
jährlich um 1,3 Milliarden Euro und schwächen die finanzielle Basis der Kommunen nachhaltig.
({2})
Ohne eine entsprechende finanzielle Grundlage wird das
Selbstverwaltungsrecht der Kommunen aus Artikel 28
Absatz 2 Grundgesetz aber zunehmend ausgehöhlt.
({3})
Es ist deshalb wichtig und richtig, sich dafür einzusetzen, dass die Kommunen stärker in die Gesetzgebung
von Bund und Ländern einbezogen werden. Wir Grüne
haben uns im Rahmen der Gemeindefinanzreform für
verbriefte Anhörungsrechte der Kommunen starkgemacht, mussten allerdings feststellen, dass sowohl die
Bundesregierung als auch die Länder keine Bereitschaft
zeigten, sich für entsprechende Initiativen starkzumachen.
Am Ende ist leider nur die Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages umgesetzt worden. Aber eine
Gelegenheit zur Stellungnahme im Ausschussverfahren
reicht nicht. Die kommunalen Spitzenverbände werden
auf diesem Wege wie jeder beliebige andere Verband behandelt. Hier wären dringend weitere Verbesserungen
erforderlich.
({4})
Im Antrag der Linken bleibt allerdings offen, was sie
mit dem verbindlichen Mitwirkungsrecht konkret meint.
({5})
Sollen nur die Anhörungsrechte verbessert werden, oder
soll den Kommunen ein einklagbares Mitwirkungsrecht
eingeräumt werden? Neben verbesserten Anhörungsrechten kommt es aus unserer Sicht besonders auf eines
an: Wir brauchen eine verbesserte Gesetzesfolgenabschätzung, bei der auch der Erfüllungsaufwand von Gesetzen für die Kommunen frühzeitig ermittelt wird, damit dieser auch berücksichtigt werden kann.
({6})
Bei der Erstellung von Gesetzen, die die Kommunen betreffen, muss ein Kommunencheck obligatorisch werden. Dafür müssen die Länder als übergeordnete Instanzen ins Boot geholt werden. Sowohl für die verbesserten
Anhörungsrechte als auch für den notwendigen Kommunencheck in der Gesetzesfolgenabschätzung müssen
Bund, Länder und Kommunen gemeinsam eine Lösung
finden.
({7})
Ein konkreter Punkt, den die Linke fordert, ist die
Einsetzung eines selbstständigen Ausschusses für Kommunen anstelle des bisherigen Unterausschusses, der nur
ein Anhängsel des Innenausschusses ist. Die Kritik der
Linken an der Stelle ist richtig.
({8})
Die Lösung ist aus unserer Sicht aber nicht ein neuer
Ausschuss mit Querschnittsaufgaben, sondern die richtige thematische Zuordnung des Unterausschusses. Wir
finden, dass der Unterausschuss dem Finanzausschuss
zugeordnet werden muss.
({9})
Letztlich teilen wir also das Anliegen, die Rechte der
Kommunen zu verbessern. Nach den Debatten und Änderungen in der letzten Legislaturperiode hätten wir es
jetzt aber gerne schon etwas konkreter als nur „verbindliche Mitwirkungsrechte“. Vielleicht kann es ja noch gelingen, gemeinsame Verfahrensvorschläge zu entwickeln.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Özdemir das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist ein gutes Signal dieser Wahlperiode,
dass im Plenum des Deutschen Bundestages so oft über
unsere 11 200 Städte und Gemeinden und die 295 Landkreise gesprochen wird. Im Hinblick auf den Besuch von
42 Oberbürgermeistern und Stadtkämmerern als Vertreter des Kommunalen Aktionsbündnisses „Für die Würde
unserer Städte“ in dieser Woche betone ich aber, dass
nicht nur über die Kommunen gesprochen wird, sondern
vor allem mit den kommunalen Vertretern.
({0})
Damit ermuntern wir die Kommunen, mit uns als Bundestagsabgeordneten, aber auch in den zuständigen
Landtagen zielgerichtete Gespräche für eine bessere Finanzausstattung zu führen.
Vorwegschicken möchte ich aber auch - hier rede ich
ganz im Sinne des Antrages -, dass es viele Gesetzgebungsbereiche gibt, die unsere Kommunen treffen und
deren Auswirkungen teilweise selbst die Fachpolitiker
nicht erkennen, bevor sie nicht tatsächlich eintreten. Ich
verweise beispielsweise auf die Gesetzgebungsprozesse
bei der Energiewende oder beim Vergaberecht, die mitunter stark europarechtlich geprägt sind und die Kommunen vor allem personell, aber auch wegen der Komplexität von Landes- und Bundesbestimmungen treffen.
Der Antrag greift also ein durchaus diskussionswürdiges Thema auf, nämlich die verbindliche Mitwirkung
der Kommunen auf Bundesebene im weitesten Sinne,
um sich dann aber sogleich zwischen der Rüge über unzureichende gesetzliche Mittel und der Kritik am Grundgesetz zu verlieren. Der letztgenannten Kritik - dazu
komme ich später - könnte man in der Konsequenz nur
durch eine entsprechende Verfassungsänderung begegnen.
Bereits jetzt haben wir mit dem Deutschen Städtetag,
dem Deutschen Städte- und Gemeindebund und dem
Deutschen Landkreistag freiwillige ständige Vertretungen der Kommunen. Diese werden durch eine notwendige Anzahl von Aktionsbündnissen ergänzt. Die kommunalen Spitzenverbände haben bereits jetzt gemäß
§ 69 Absatz 5 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages - das ist eine Ist-Vorschrift - die Gelegenheit zur Stellungnahme, wenn Aufgaben ganz oder teilweise von Kommunen auszuführen oder zu finanzieren
sind bzw. in die grundgesetzlich garantierte Organisationshoheit eingreifen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für
Anhörungen.
Diese Regelung einfach als unzureichend zu verwerfen, zeigt ein unbegreifliches Politik- und Selbstverständnis. Freilich kann man nach Verbesserungen und
Mahmut Özdemir ({1})
Veränderungen streben, wenn es um die kommunale
Mitwirkung auf Bundesebene geht, man darf sich dann
aber auch den bestehenden Möglichkeiten zunächst nicht
verschließen.
({2})
Das wäre so, als wenn ein Fußballer das Abseits für eine
unzureichende Regelung halten würde und deshalb nicht
mehr mitspielen möchte. Mit der inhaltsleeren Forderung nur nach Formalien ist uns an dieser Stelle auch
nicht geholfen.
Was also sind unsere Spielräume? Hier ist die bestehende Geschäftsordnungsregelung zu beachten, die es
uns nicht nur ermöglicht, sondern uns sogar dazu verpflichtet, bei jeder kommunalpolitisch relevanten Gesetzesberatung durch den federführenden Ausschuss die
Spitzenverbände zu beteiligen. Aufgrund dieser Befugnis können wir über Fraktionen hinweg schon jetzt etwas
bewegen. Für mich persönlich als überzeugtes Mitglied
im Unterausschuss Kommunales des Deutschen Bundestages hat der Antrag in dieser Hinsicht durchaus einen
großen Mehrwert erbracht, auch wenn wir ihn in erster
Linie wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken ablehnen werden.
Genug des Lobes! Liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Linken, ich werde es Ihnen nicht ersparen können, wiederholt darauf hinzuweisen, was ohne eine wie
auch immer geartete kommunale Mitwirkung und ohne
entsprechende Bemühungen in Bezug auf die Geschäftsordnung von dieser Regierungskoalition - nicht immer
einvernehmlich - bundesseitig für die Kommunen bereits getan worden ist. Ich nenne die Eingliederungshilfe
für Arbeitsuchende - 1,4 Milliarden Euro wurden etatisiert und sind geflossen - und die Grundsicherung im
Alter mit vollständiger Übernahme der Kosten im Haushaltsjahr, wofür 5,9 Milliarden Euro voll dynamisiert
veranschlagt wurden. Außerdem stellen wir als Bund
den Ländern knapp 1 Milliarde Euro für Schulsozialarbeit und Kitas zur Verfügung, und der Etat für das Programm „Soziale Stadt“ wurde mit 150 Millionen Euro
auf das ursprüngliche Niveau angehoben und verstetigt.
Städte, die vom Zuzug aus Südeuropa stark betroffen
sind, wurden mit knapp 100 Millionen Euro für dringend
notwendige ordnungspolitische Maßnahmen bedacht.
Für die besonderen Herausforderungen rund um die
Flüchtlingspolitik - als Duisburger weiß ich, wovon ich
rede - können wir die 1 Milliarde Euro in 2015 und 2016
gut gebrauchen.
Bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung bin ich mir sicher, dass wir mit dem notwendigen
parlamentarischen Druck zügig einen Gesetzentwurf auf
den Tisch legen werden, um die im Koalitionsvertrag
avisierten 5 Milliarden Euro an die Kommunen durchzureichen.
({3})
Bei diesen Entlastungen darf noch lange nicht Schluss
sein; das füge ich hinzu.
Übrigens darf es nicht nur um parlamentarische Beteiligung gehen. So zeigt sich überdeutlich, dass die zuvor genannten kommunalen Spitzenverbände vom
BMAS beim Bundesteilhabegesetz bereits von Beginn
an beteiligt worden sind, und zwar noch bevor der erste
Buchstabe in den Referentenentwurf gekommen ist.
Jetzt könnte man diese Millionen und Milliarden aus
den Hilfen addieren und feststellen, dass all diese, bis
auf die letzte Maßnahme, innerhalb von etwas mehr als
einem Jahr beschlossen worden sind und sich aktuell in
Umsetzung befinden. Genauso gut könnte man aber
auch feststellen, dass bei all diesen Verfahren eine kommunale Mitwirkung auf Augenhöhe bestanden hat: im
Ergebnis nicht immer zur vollen Zufriedenheit der Kommunen - das gebe ich gerne zu -, wohl aber als gangbarer Mittelweg, den wir gemeinsam weiter beschreiten
können.
Gerade deshalb stünde es uns bei unseren Beratungen
gut zu Gesicht, bestehende Instrumente auszureizen.
Nicht immer garantieren mehr Vorschriften eine bessere
Qualität. Auch die beste Verfahrensvorschrift, die Beteiligungsrechte sichern soll, garantiert nicht, dass diese
auch in den Ausschussberatungen wirksam zum Tragen
kommen. Ich bin der Meinung, dass die Regelungen, die
uns in der Geschäftsordnung des Bundestages zur Verfügung stehen, genügen.
Fakt ist jedoch über alle Fraktionen hinweg, dass wir
hiervon stärkeren Gebrauch machen könnten und sogar
müssten. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass
wir überhaupt kein Problem damit hätten, mehr kommunale Mitwirkungsrechte bei Beratungen des Deutschen
Bundestages zu beschließen. Immerhin waren es die
Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion, die eine
fraktionsübergreifende Initiative zu der heutigen Formulierung der §§ 69 Absatz 5 und 70 Absatz 2 der Geschäftsordnung ergriffen hatten.
Gleichzeitig rufe ich Ihnen zu: Statt uns ewig in Formalien dahin gehend übertreffen zu wollen, wer der bessere Anwalt der Kommunen sei, sollten wir uns als Abgeordnete in unseren jeweiligen Ressorts bei jeder
Berichterstattung in der gesetzgeberischen Praxis diese
Aufgabe, nämlich Anwalt der Kommunen zu sein, zu eigen machen.
({4})
Deshalb macht die Wiederauflage dieses Antrags aus der
17. Wahlperiode in der aktuellen Wahlperiode schlichtweg keinen Sinn. Das möchte ich Ihnen aber auch anhand von verfassungsrechtlichen Gründen gerne erläutern.
Hier gibt es zwei Ebenen, die im Antrag betroffen
sein könnten: einerseits die verfahrensrechtliche Ebene
im Bundestagsbetrieb und andererseits die verfassungsrechtliche Verortung der Kommunen im Staatsorganisationsrecht. Vermengt man aufgrund von politischen Zielvorstellungen beide Ebenen und fordert eine Art
kommunales Mitwirkungsgesetz, so hilft man dem Fundament unserer bundesstaatlichen Verwaltung überhaupt
nicht weiter.
Die Forderung nach einem kommunalen Mitwirkungsgesetz wäre, systematisch korrekt, die WeiterentMahmut Özdemir ({5})
wicklung im Rahmen der Geschäftsordnung des Bundestages. Eine materiell-gesetzliche Initiative im Hinblick
auf ein von Ihnen gefordertes Gesetz würde zugleich den
siebten Abschnitt des Grundgesetzes und mithin die Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern und die Rolle
der Kommunen an sich betreffen und käme daher einer
Grundgesetzänderung gleich.
Die Kommunen besitzen aufgrund des zweigliedrigen
Bundesstaatssystems zwar verfassungsrechtlich garantierte Hoheiten, aber eben keine Gesetzgebungshoheit.
Damit würde der Antrag implizit einen Drei-Ebenen-Föderalismus fordern. Das heißt, der Bund, 16 Länder und
die Vertretungen von Tausenden Gemeinden und Hunderten Landkreisen müssten demnächst eine Einigung
finden. Das ging uns in der 17. Wahlperiode zu weit, und
das geht uns auch heute noch zu weit.
({6})
Die Kommunen sind gemäß Artikel 28 Grundgesetz
Gliederungen der Länder, und dies wollen wir auch beibehalten. Deshalb muss der Bund, aber müssen auch die
Länder, bevor Gesetze zur Ausführung übertragen werden, die Belastbarkeit der Kommunen überprüfen. Das
Ministerium für Inneres und Kommunales in NordrheinWestfalen hat hierzu auf eine Kleine Anfrage eine sehr
dezidierte Übersicht aller kommunal erbrachten Aufgaben vorgelegt, in der deutlich wird, dass nahezu alle bundes- und landesgesetzlichen Aufgaben durch Kostenübernahme und/oder Gebühren aufgefangen werden.
Jedoch besteht in den Sozialhaushalten aufgrund der
dynamisch wachsenden Kosten erheblicher Regelungsbedarf. Diesen unter anderem punktuellen Regelungsbedarf hingegen darf man nicht als großes Systemproblem
hinstellen und dabei die kleinen Hausaufgaben vergessen. Zusätzliche Gelder, etwa in Form eines nationalen
Investitionspaktes für Kommunen in zweistelliger Milliardenhöhe, wie Vizekanzler Gabriel ihn vorschlägt,
werden weder durch solche Anträge noch durch irgendwelche Mitwirkungsrechte geschaffen. Denn unterm
Strich braucht man politische Mehrheiten in diesem
Haus, um so hohe Beträge für unsere Kommunen bewegen zu können. Ich sage: Das lohnt sich. Es lohnt sich,
sich dafür einzusetzen und nicht immer auf Landesregierungen zu schimpfen, bei denen das Geld angeblich für
Haushaltssanierungen verwendet wird. Diejenigen, die
gemeint sind, mögen sich jetzt bitte höflichst angesprochen fühlen.
Die bestehenden Regelungen in Verbindung mit der
Arbeit des Unterausschusses Kommunales sind ausreichend. Ihnen zur Wirksamkeit zu verhelfen, ist eine parlamentarische Pflicht. Im Unterausschuss Kommunales,
der beim Innenausschuss angesiedelt ist, ist es im Übrigen Praxis, dass die kommunalen Spitzenverbände stets
von der Vorsitzenden eingeladen werden. Die Forderung
nach einem eigenständigen Kommunalausschuss auf
Bundesebene klingt für mich persönlich sehr sympathisch. Aber manchmal muss man mit dem leben, was einem zur Verfügung steht.
Zusammenfassend: Alle Abgeordneten haben eine
Verantwortung für das gesamte Bundesgebiet, aber auch
für den eigenen Wahlkreis im Einzelnen. Wenn wir dieser Verantwortung als Bundestag gemeinsam nachkommen, werden wir sicherlich über solche Anträge - unabhängig davon, aus welcher Fraktion sie kommen demnächst nur noch müde lächeln, weil wir materiell, in
der Sache gemeinsam bessere Arbeit leisten, als es uns
manche formale Geschäftsordnung gestatten würde.
Hinsichtlich des Antrages möchte ich mit einem Zitat
von Bertolt Brecht schließen:
Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes
Licht! / Und mach dann noch nen zweiten Plan, /
Gehn tun sie beide nicht.
Aus den dargelegten verfassungsrechtlichen und politischen Gründen, und nicht aus mangelnder grundsätzlicher Sympathie, werden wir den Antrag ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein herzliches Glückauf!
({7})
Der Kollege Helmut Brandt hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren Zuschauerinnen und
Zuschauer! Angesichts der zentralen Bedeutung der
Kommunen gibt es durchaus gute Gründe, Frau Kassner,
sich mit ihrer Lage auseinanderzusetzen - heute und
auch künftig. Insofern stimme ich mit Ihnen durchaus
überein. Die Kommunen sind tatsächlich in einer nicht
ganz einfachen Lage. Immer wieder sehen sie sich Entscheidungen des Bundes, aber auch der Länder gegenüber, die ihnen Aufgaben aufbürden, insbesondere im
Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge, die sich natürlich auch auf die Steuereinnahmen der Kommunen
auswirken.
Ich verstehe, dass sich mancher Kommunalpolitiker
gelegentlich mehr Einflussmöglichkeiten bei Entscheidungen von Bund und Ländern wünscht. Das war während meiner Zeit als Kommunalpolitiker nicht anders.
Wir haben in den letzten Jahren - das ist hier mehrfach
gesagt worden - finanziell sehr viel für die Kommunen
getan und deutlich gemacht, dass eine Beteiligung der
kommunalen Spitzenverbände an politischen Entscheidungen, die die Kommunen betreffen, notwendig, aber
eben auch gewollt ist.
So haben wir im Zuge der Föderalismusreform die
Forderung der kommunalen Spitzenverbände, dass den
Kommunen künftig keine Bundesaufgabe mehr direkt
übertragen wird, eins zu eins umgesetzt. Der Weg neuer
Aufgabenübertragungen auf Städte und Gemeinden führt
seitdem nur über die Länder, und es wäre schön, wenn
die Länder bei dieser Debatte hier stärker vertreten wären. Aufgrund der in den jeweiligen Landesverfassungen
verankerten Konnexitätsregelungen ist die Übertragung
von Aufgaben auf die Kommunen ohne eine entsprechende Finanzierung dem Grunde nach ausgeschlossen.
Wir haben die Vorschläge der Gemeindefinanzkommission, der selbstverständlich auch Vertreter der kommunalen Spitzenverbände angehörten, umgesetzt. Auch
diese Vorschriften wurden bereits benannt. Die Sollvorschrift in § 69 Absatz 5 Satz 1 der Geschäftsordnung des
Bundestages wurde in eine Istvorschrift umgewandelt,
sodass die kommunalen Spitzenverbände seitdem ein
Recht auf Stellungnahme im federführenden Ausschuss
haben, und zwar immer dann, wenn wesentliche Belange
der Kommunen berührt werden. Das wird auch so gehandhabt. Der Kollege hat ein gutes Beispiel dafür schon
im vorbereitenden Gesetzgebungsverfahren aufgezeigt.
Daneben wurde in § 70 Absatz 4 der Geschäftsordnung geregelt, dass den kommunalen Spitzenverbänden
Gelegenheit zur Teilnahme an einer öffentlichen Anhörung zu entsprechenden Gesetzentwürfen zu geben ist.
Damit weiß jeder, dass die Einbindung der kommunalen
Ebene in unsere Entscheidungen auf Bundesebene gewährleistet ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, was soll noch mehr an Verbindlichkeit hergestellt
werden? Ich habe Ihrer Rede, Frau Kassner, offen gesagt, nicht genau entnehmen können, worauf Ihr Antrag
abzielt. Geht es lediglich um die Einführung eines
selbstständigen Ausschusses oder auch um darüber hinausgehende Modelle? Das ist weder in Ihrer Antragsschrift noch in Ihren Ausführungen klar geworden.
Deshalb vermisse ich konkrete Vorstellungen Ihrerseits,
was eigentlich geändert werden soll.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen - auch Sie; das hat
der Kollege Özdemir zu Recht sehr schön ausgeführt -,
dass die Kommunen gemäß unserer Verfassung nun einmal keine eigenständige staatliche Ebene darstellen.
Vielmehr haben wir nach der Wertung des Grundgesetzes einen zweigliedrigen Bundesstaat. Ich denke, dass
das gut ist, und zwar aus folgendem Grund: Wir haben
auf der einen Seite - das ist erwähnt worden - den
Unterausschuss Kommunales, also einen Ausschuss, der
sich durchaus mit kommunalen Belangen beschäftigt.
({0})
- Bisher ist noch kein einziger Antrag, den Ausschuss
anzurufen, abgelehnt worden, Herr Kollege. Lassen Sie
sich das im Innenausschuss einmal bestätigen. - Andererseits belegt die Einrichtung dieses Unterausschusses,
dass wir - das ist wirklich so - uns im Innenausschuss
jedes Mal sehr dafür einsetzen, dass bei kommunaler Betroffenheit auch die kommunale Ebene in das Entscheidungsverfahren einbezogen wird. Aber neben Bundestag
und Bundesrat noch eine dritte Kammer einzuführen,
würde im Grunde genommen - da muss ich dem Kollegen Özdemir uneingeschränkt recht geben; er hat das
sehr gut dargestellt - das Aus für unser Gesetzgebungsverfahren bedeuten. Man stelle sich einmal vor, dass an
dem ohnehin komplexen Verfahren neben Bundestag
und Bundesrat, zudem noch unter Berücksichtigung
von EU-Einflüssen, auch die Kommunen mit über
11 000 Städten und Gemeinden, Kreistagen und Kreisräten beteiligt sind. Wie soll das funktionieren? Wir
brächten kein Gesetz mehr zustande. Das wäre die Konsequenz. Deshalb lehnen wir das ab.
Niemand hier bestreitet, dass die finanzielle Situation
der Kommunen in bestimmten Bereichen und Landesteilen immer noch besonders schwierig ist. Eine ausreichende und zuverlässige Finanzausstattung ist die entscheidende Voraussetzung für eine funktionierende
kommunale Selbstverwaltung. Dies sicherzustellen, ist
das Anliegen der CDU/CSU in den vergangenen Jahren
gewesen und wird es auch in Zukunft sein. Ich bedaure
sehr - das hat gerade die in dieser Woche stattfindende
Versammlung der Oberbürgermeister gezeigt, die, sofern
ich das beurteilen konnte, überwiegend aus NordrheinWestfalen kamen -, dass die Mittel, die wir von der
Bundesebene auf die Ebene der Kommunen leiten wollen, oft nicht zu 100 Prozent bei den Kommunen ankommen. Mit diesem Sachverhalt müssten sich die Landtage,
aber auch die Städte und Gemeinden vor Ort einmal etwas intensiver beschäftigen.
Letzte Bemerkung: Wir kennen die Spitzenverbände
der kreisfreien Kommunen, der Kommunen und der
Kreise und wissen, dass selbst dort oft sehr unterschiedliche Auffassungen bei Gesetzesvorhaben bestehen. All
dies zeigt, wie schwierig die Umsetzung Ihres Vorhabens ist. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
({1})
Zum Abschluss dieser Debatte hat der Kollege
Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vom ehemaligen Bundespräsidenten Theodor
Heuss stammt der Satz: Ohne Städte ist kein Staat zu
machen. - Dieser Satz umschreibt sehr plastisch nicht
nur die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in
unserem Grundgesetz, sondern auch die Verpflichtung
aller staatlichen Ebenen, bei ihren Gesetzgebungsvorhaben und der politischen Beurteilung vor allem die Ebene
im Blick zu haben, bei der diese gesetzgeberischen Maßnahmen ankommen und von der sie konkret vollzogen
werden müssen; das ist gar keine Frage. Die Union ist
eine Partei, die in den vergangenen Jahrzehnten die
Frage der kommunalen Selbstverwaltung und die Wesensgehaltsgarantie dieser Vorschrift zu ihrem Markenkern gemacht hat. Trotzdem sei angemerkt, dass es bei
der Frage einer möglichen Mitwirkung der Kommunen
auf Bundesebene auch um unser Grundgesetz und die
verfassungsgemäße Ordnung geht. Angemahnt sei, dass
wir eine gewisse Sorgsamkeit gegenüber dem Gesetzgebungsprozess haben. Der Gesetzgebungsprozess in
Deutschland ist sehr wohl austariert zwischen dem Bund
und den Ländern - mit klaren Mitwirkungsrechten dort,
wo die Länder tangiert sind, und der Möglichkeit des
Einspruches dort, wo ausschließlich der Bund die Kompetenz hat. Ich warne davor, dieses im Grunde genommen konsensuale und gut funktionierende System ohne
Not aufzubrechen und die Kommunen in den Gesetzgebungsprozess einzubeziehen, ohne konkret zu sagen, wie
es denn funktionieren soll? Wie sollen sich die Kommunen im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses intern einigen, wenn sich Hunderte von Landkreisen, kreisfreien
Städten und Bezirken auf eine Meinung festlegen müssen? Deswegen ist der viel bessere Ansatz, dass die
Kommunen bei der Gesetzgebung auf Landesebene beteiligt werden. In einigen Bundesländern sind die entsprechenden Vorschriften so weit fortgeschritten, dass
dort ohne Kommunen tatsächlich kein Staat zu machen
ist.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die finanzielle
Ausstattung der Kommunen. Das scheint mir für die
Funktionsfähigkeit der Städte und Gemeinden entscheidend zu sein. Es sind hier diejenigen Länder angesprochen, etwas mehr für die Kommunen zu leisten, bei
denen das noch nicht ausreichend der Fall ist, wo beispielsweise die Leistungen für Asylbewerber und Flüchtlinge nicht spitz abgerechnet werden, sondern die Kommunen nur pauschal Anteile bekommen und damit auf
einem Teil ihrer Kosten sitzen bleiben. Der Bund hat in
den letzten Jahren in diesem Bereich die Hausaufgaben
gemacht. Mit den Entlastungen bei der Grundsicherung,
bei den Betriebskosten für die Kinderbetreuungseinrichtungen, aber auch im Bereich der Wiedereingliederungshilfe ist so viel für die Kommunen getan worden, dass
die Kommunen insgesamt zufrieden sein können.
({0})
Meine Damen und Herren, es gibt aber auch einen
Bereich, der rechtlich gar nicht abschließend geregelt
werden kann. Bei der Frage von gesetzgeberischen Wertentscheidungen geht es auch um Respekt und Verständnis. Wir alle sind aufgerufen, im Bereich unserer Gesetzgebung Respekt und Verständnis für die Aufgaben der
Kommunen zu haben, sich in sie hineinzuversetzen und
zu hinterfragen, wie die Norm auf kommunaler Ebene
ankommt. Deswegen ist es gut, dass viele Kolleginnen
und Kollegen hier im Bundestag aus der kommunalen
Schule stammen, und es ist auch richtig und zielführend,
wenn sich - wie in der Union - über die Hälfte der Abgeordneten ganz konkret zu kommunalpolitischen Zielen
bekennen.
Respekt und Verständnis für die Aufgaben der
Kommunen lassen sich nicht allein durch rechtliche Regelungen verordnen, sondern muss man im Sinne eines
funktionierenden Gemeinwesens im Herzen tragen. Deswegen heißt unser Leitspruch: Suchet der Stadt Bestes!
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3413 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr ({0})
Drucksache 18/3697
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1})
Drucksache 18/4119
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/4120
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen worden.
Wenn alle zuständigen Kolleginnen und Kollegen aus
den Fraktionen eingetroffen sind und einen Platz gefunden haben, kann ich die Aussprache eröffnen. - Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Henning
Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundeswehr ist der Garant für die Sicherheit und
Freiheit unseres Landes. Dabei ändern sich die Herausforderungen für die Sicherheit. Daher gilt es, neben den
Grundsatzentscheidungen einen stetigen Anpassungsprozess durchzuführen, um für jede Situation eine richtige Antwort zu finden.
Es gibt drei Säulen, die für uns von besonderer Bedeutung sind: Erstens. Wir brauchen den richtigen sicherheitspolitischen Kurs. Dafür erarbeiten wir ein
Weißbuch. Zweitens. Wir brauchen modernes Material.
Dafür befinden wir uns in einem Prozess der Beschaffung. Drittens. Vor allem brauchen wir die richtigen
Menschen. Weil dieser Bereich, Human Resources, ein
ganz wesentlicher, wenn nicht sogar der entscheidende
Punkt ist, haben wir den Gesetzentwurf zur Steigerung
der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr vorgelegt. Mit diesem Gesetz machen wir einen riesigen
Sprung, um auch zukünftig die richtigen Menschen für
den Dienst für unser Land und in der Bundeswehr zu begeistern.
({0})
Streitkräfte können immer nur so gut sein wie ihr eigenes Personal. Die Herausforderungen sind groß: Die
Geburtenjahrgänge sind nicht mehr so stark wie früher,
und die Bundeswehr muss mit anderen Arbeitgebern
konkurrieren. Die Wehrpflicht gibt es richtigerweise
nicht mehr; sie hat uns aber zugegebenermaßen früher in
der Nachwuchswerbung einen Vorsprung gewährt.
Hinzu kommt: Der Dienst in der Bundeswehr ist fordernder geworden. Auslandseinsätze sind heute ein normaler Bestandteil des Soldatenlebens, und das bringt
zweifelsohne erhebliche Belastungen auch für die Angehörigen und Familien mit sich. Die Soldatinnen und Soldaten sind bereit, im Einsatz Leib und Leben einzubringen. Deswegen heißt es zu Recht: Der Beruf des
Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere.
({1})
Es war daher der richtige Zeitpunkt, dass unsere Verteidigungsministerin, Frau Dr. Ursula von der Leyen, dazu
eine Attraktivitätsoffensive ins Leben gerufen hat. Es
war gut, dass diese Initiative auch im parlamentarischen
Bereich beherzt unterstützt worden ist. Die Bundeswehr
wird damit noch besser und einsatzbereiter.
Der Gesetzentwurf beinhaltet insgesamt 22 Einzelmaßnahmen, mit denen wir die Attraktivität der Bundeswehr steigern werden. Dort, wo es möglich ist, orientieren wir uns am zivilen Arbeitsmarkt. Insgesamt sollen
für diese Maßnahmen allein 2015 120 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt werden. Ich nenne einige davon
exemplarisch: Wir steigern die Vereinbarkeit von Dienst
und Familie mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von
41 Stunden pro Woche außerhalb der Einsätze. Wir erweitern die Möglichkeit der Teilzeitarbeit und schaffen
Regelungen für die Elternzeit. Wir erhöhen die Vergütung mit einer Reihe von Verbesserungen bei den Stellenzulagen ebenso wie beim Wehrsold. Wir verbessern
die soziale Absicherung. Bei Soldaten auf Zeit erhöhen
wir bei der Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung die Beitragsbemessungsgrundlage. Bei
der Nachversicherung haben wir im parlamentarischen
Verfahren noch gemeinsam eine Verbesserung erzielt,
indem wir eine Erhöhung von ursprünglich 15 auf
20 Prozentpunkte vorgenommen haben.
Wir haben eine Expertenanhörung durchgeführt, bei
der dieser Gesetzentwurf als weiter Sprung sehr gelobt
worden ist. Allen voran danken wir dem BundeswehrVerband, der uns mit Rat und Tat unterstützt hat.
({2})
Herzlichen Dank für die Hinweise aus der Praxis für die
Praxis!
In einigen Bereichen hätten wir uns weiter gehende
Verbesserungen vorstellen können. Diese wurden nicht
umgesetzt, und trotzdem bleiben sie richtig. So werden
wir beispielsweise eine Kommission einsetzen, um eine
bessere Orientierung bei den Zulagen zu bekommen.
Wir wollen die Hinzuverdienstgrenzen noch einmal beleuchten, um nach Möglichkeit einen kompletten Wegfall zu erreichen; denn Soldatinnen und Soldaten, die die
Bundeswehr verlassen, sind willkommene Fachkräfte
auf dem Arbeitsmarkt. Das wollen wir honorieren. Auch
das ist ein Beitrag für unser Land.
({3})
Mit dem Gesetz gelingt uns ein wesentlicher Wurf hin
zu einer Bundeswehr, die auf gesellschaftspolitische und
sicherheitspolitische Herausforderungen noch besser reagieren kann. Attraktiv ist aber auch, wer modern ausgestattet ist. Aktuell sehen wir, wie sich die Bedrohungslage wandelt. Es war ein Trugschluss, zu glauben, dass
die konventionelle Bedrohung nicht mehr auf der Tagesordnung steht. Die offensive Außenpolitik Russlands
stellt auf beunruhigende Art und Weise eine Herausforderung für uns dar. Dieser werden wir begegnen. Dazu
muss der Sicherheitsdeich an den osteuropäischen
NATO-Grenzen angepasst werden. Vor allem brauchen
wir in der Bundeswehr weiterhin ein breites Fähigkeitsspektrum. Wir müssen zu einer Vollausstattung der
Truppe kommen. Moderne Armee bedeutet auch moderne Technik. Deswegen ist die sogenannte MINT-Initiative bei der Bundeswehr längst angekommen.
Wir brauchen den richtigen sicherheitspolitischen
Kurs und modernes Material. Vor allem brauchen wir
motivierte, begeisterte und von ihrem Dienst überzeugte
Soldatinnen und Soldaten, die ihren Auftrag souverän
erfüllen können. Die Union steht ein für die Sicherheit
unseres Landes. Dazu gehört in allererster Linie die
Wertschätzung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten. Das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz
ist ein Ausdruck dieser Wertschätzung. Daher bitten wir
herzlich um Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Frau
von der Leyen in der letzten Woche den Prozess für die
Erstellung eines neuen Weißbuches eröffnete, stand eine
Ausweitung der Militäreinsätze im Zentrum; denn deutsche Interessen kennen - so die Ministerin - „keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ“.
Kaum wahrgenommen wurde der Satz am Ende der
Rede, dass das Gesagte für die Bundeswehr eine „zeitgemäße Personalpolitik“ bedeuten würde. Demografische
Probleme hat Frau von der Leyen dabei angeführt. Herr
Otte wurde eben deutlicher. Human Resource, junge
Männer und Frauen sind gefragt. Im Klartext heißt das:
Die Bundeswehr braucht im Jahr 60 000 neue Bewerberinnen und Bewerber, um ihr Soll zu erfüllen. Es geht
um Rekrutierung, also darum, den Dienst bei der Bundeswehr jungen Männern und Frauen schmackhaft zu
machen. Wir sind der Auffassung, dass neben demografischen Faktoren gerade die Auslandseinsätze der Bundeswehr der eigentliche Grund für die Rekrutierungsprobleme sind.
({0})
Wir sagen an dieser Stelle ganz deutlich: Wir wollen
nicht, dass junge Männer und Frauen für eine Armee im
Einsatz rekrutiert werden. Das heißt, wir teilen das übergeordnete Ziel von Frau von der Leyens Attraktivitätsoffensive nicht.
({1})
Uns liegt nun ein Gesetz vor, das einige Aspekte aus
Frau von der Leyens Attraktivitätsprogramm regeln soll.
Dabei geht es um Arbeitsbedingungen, Vergütung und
soziale Absicherung von Soldatinnen und Soldaten. Es
wird Sie vielleicht überraschen, aber es gibt einige Aspekte in diesem sogenannten Artikelgesetz, denen wir
durchaus zustimmen können; denn sie betreffen eine Angleichung an allgemeine Standards bzw. überfällige soziale Verbesserungen für Soldatinnen und Soldaten. Zu
begrüßen sind unserer Meinung nach zum Beispiel Teile
des Artikels 2, der das Bundesbesoldungsgesetz ändert.
So stellt die Mehrarbeitsvergütung für Soldaten eine
überfällige Angleichung an Standards dar, die für alle
Beschäftigten gelten.
({2})
Ebenso zu begrüßen sind Teile des Artikels 5, der die
Änderung des Soldatengesetzes vorsieht. Darin ist unter
anderem geregelt, dass die regelmäßige Arbeitszeit der
Soldaten im Grundbetrieb auf wöchentlich 41 Stunden
reduziert wird. Auch das begrüßen wir selbstverständlich. Wir bedauern aber, dass das nicht für alle Bereiche
der Bundeswehr gelten soll.
({3})
Würde über die betreffenden Artikel und ihre Bestandteile einzeln abgestimmt werden, würden wir uns dem
nicht in den Weg stellen und an dieser Stelle durchaus
zustimmen.
Aber über das Artikelgesetz wird als Ganzes abgestimmt. Es gibt andere Aspekte, die wir für falsch halten
und die Grund für unsere Ablehnung sind. So drückt sich
die Einsatzorientierung unter anderem in den Zulagen
aus. Wir sehen nicht ein, dass es Lockprämien und Zulagen für Sondereinsatzsoldaten wie Soldaten des KSK in
Höhe von 900 Euro monatlich gibt. Das lehnen wir ab.
({4})
Ja, wir sind für eine gute Rente für alle, aber gegen
die Besserbehandlung von gut verdienenden Zeitsoldaten in der Nachversicherung; denn das widerspricht dem
Prinzip einer solidarischen Rentenversicherung und ist
ungerecht.
({5})
Die Nachversicherung führt in bestimmten Fällen dazu,
dass die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen
Rentenversicherung durchbrochen wird. Ungerecht ist
das, weil diese Ausnahme zum Beispiel beim Zusammentreffen der Mütterrente mit der Erwerbstätigkeit
künftig nicht gemacht wird. Hier wird also der Anspruch
auf die Mütterrente gnadenlos an der Beitragsbemessungsgrenze gekappt. Wir sagen: Die Beitragsbemessungsgrenze soll für alle angehoben werden. Das wäre
gut für die Soldatinnen und Soldaten und für alle anderen Beschäftigten auch.
({6})
Dieses Artikelgesetz betrifft vor allem die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und nur zu 2 Prozent
die Beamten der Bundeswehr und überhaupt nicht die
angestellten zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Das sind 72 000 Menschen, die nicht erfasst werden,
trotz teilweise gleicher oder ähnlicher Belastungen.
Unter dem Strich sind wir für die soziale Verbesserung für Soldatinnen und Soldaten und auch andere Beschäftigte der Bundeswehr. Aber wir sind dagegen, dass
die Bundeswehr als Einsatzarmee zu einem attraktiven
Arbeitgeber gemacht wird, wie es sich letztendlich in
diesem Artikelgesetz ausdrückt. Deswegen werden wir
heute hier mit Nein stimmen.
({7})
Der Kollege Dr. Fritz Felgentreu hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Buchholz, was die Linke hier als Kritik an dem Gesetz vorträgt, kann nicht überzeugen.
({0})
Dieses Gesetz regelt lauter Dinge, für die sich die Linke
an anderer Stelle, in anderen Ausschüssen vehement in
die Bresche wirft. Wir kämpfen hier für bessere Regelungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Dienst, für
soziale Standards für Soldatinnen und Soldaten, für verbesserte Teilzeitregelungen, für all die Dinge, die den
Linken sonst wichtig sind.
({1})
An dieser Stelle lehnen Sie sie ab. Verehrte Kollegin
Buchholz, das kann nur daran liegen, dass der wahre
Grund für Ihre Ablehnung ist, dass Sie keine attraktive
Bundeswehr wollen.
({2})
Wer keine attraktive Bundeswehr will, der will gar keine
Bundeswehr.
({3})
Bei Ihnen ist das Bekenntnis zur Landesverteidigung nur
ein Lippenbekenntnis, nicht mehr. Sie können ohne eine
Armee das Land nicht verteidigen. Wenn Sie behaupten,
Sie wollten das dennoch tun, dann muss das falsch sein.
Letztlich geht es Ihnen darum, das Land ohne eine Bundeswehr bündnisunfähig und wehrlos zu machen.
({4})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir
mit unserer Debatte heute auf der Zielgeraden sind. Wir
werden in wenigen Minuten ein Gesetz beschließen, das
es für junge Menschen deutlich attraktiver machen wird,
sich für den Soldatenberuf zu entscheiden als bisher. Das
ist zunächst einmal und vor allen Dingen ein Grund zur
Freude. Dazu haben viele beigetragen. Die Grundlage
dafür ist ein guter, solide durchdachter Gesetzentwurf
aus dem Bundesverteidigungsministerium.
Aber wie das so ist: Obwohl es sich um einen guten
Gesetzentwurf handelt, hat es sich die Koalitionsmehrheit auch in diesem Fall nicht nehmen lassen, für die
zweite Lesung noch die eine oder andere Verbesserung
vorzunehmen. Zur Begründung will ich an dieser Stelle
nicht auf kleinere Details eingehen, sondern zwei Punkte
ansprechen, die im Zentrum unserer gesetzgeberischen
Ziele stehen.
Ein Hauptthema des Attraktivitätssteigerungsgesetzes
ist die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. In der parlamentarischen Beratung haben wir in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Gesetzentwurf die letzten
Verbesserungen bei der Planung der Elternzeit noch
nicht nachvollzieht, die der Bundestag im vergangenen
Jahr zusammen mit der Einführung des ElterngeldPlus
beschlossen hat. Ab dem 1. Juli werden nämlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 24 Monate der Elternzeit auch zwischen dem dritten und dem achten Lebensjahr ihres Kindes nehmen können, zum Beispiel um das
Kind in den ersten beiden Schuljahren auf dem Weg in
die Schule ein bisschen enger zu betreuen und zu begleiten. Das gleiche Recht müssen Soldatinnen und Soldaten
natürlich auch haben. Deshalb fügen wir in den Gesetzentwurf einen zusätzlichen Artikel ein und regeln bei
dieser Gelegenheit gleich mit, wie wir damit umgehen,
dass eine Soldatin während ihrer Elternzeit erneut
schwanger wird. Es ist logisch, dass die Elternzeit unterbrochen werden muss, wenn der Mutterschutz einsetzt.
Das andere große Thema ist die soziale Absicherung
der Bundeswehrangehörigen. Schon bei der ersten Lesung hat die SPD-Fraktion gefordert, die Basis für die
Nachversicherung der Zeitsoldaten nach ihrem Ausscheiden um mehr als die im Gesetzentwurf vorgesehenen 15 Prozent anzuheben. Die Experten haben in der
Anhörung unsere Einschätzung einhellig bestätigt. Deshalb sind wir besonders froh darüber, dass es uns gelungen ist, die Kolleginnen und Kollegen, die im Haushaltsausschuss mit Argusaugen über die schwarze Null
wachen, davon zu überzeugen, dass der Bund hier in der
Pflicht ist.
({5})
Mit unserem Änderungsantrag erhöhen wir die vorgesehene Steigerung der Berechnungsgrundlage von 15 Prozent um ein Drittel auf 20 Prozent. Damit kommen wir
bei der Altersvorsorge für Soldatinnen und Soldaten auf
Zeit einen großen Schritt weiter.
Meine Damen und Herren, die Fachleute für Sicherheit und Verteidigung in der Koalition hätten sich auch
beim Versorgungsausgleich und bei den Hinzuverdienstgrenzen für pensionierte Angehörige der Bundeswehr
noch mehr vorstellen können als die Gleichstellung mit
den Beamten der Bundespolizei.
({6})
Die Anhörung am Montag hat jedoch gezeigt: Weitere
Verbesserungen werfen Fragen auf, die den öffentlichen
Dienst auch außerhalb der Bundeswehr betreffen. Diese
Fragen können deshalb nur in einem Gesamtkonzept und
im Einklang mit der Innenpolitik gelöst werden. Die Koalition hat sich vorgenommen, in der zweiten Hälfte der
Legislaturperiode auch dazu Vorschläge zu machen. Für
die Soldatinnen und Soldaten bringt das heute beschlossene Gesetz gegenüber dem bisherigen Zustand schon
jetzt große Verbesserungen und wird deshalb einen
wichtigen Beitrag zu mehr Arbeitszufriedenheit und einer positiven Stimmung in der ganzen Truppe leisten.
Ein Wort zu den Änderungsanträgen der Grünen, die
viele gute Anregungen enthalten, mit denen sich der Verteidigungsausschuss sicherlich intensiver befassen wird.
Ich möchte heute als Beispiel nur die Freiheit der Wahl
zwischen Trennungsgeld und der Vergütung der Umzugskosten herausgreifen. In diesem Punkt ist die Koalition derselben Auffassung wie die Grünen. Wir haben
die Einführung der Wahlfreiheit deshalb auch im Koalitionsvertrag beschlossen. Die SPD wird ihr Augenmerk
darauf richten, dass wir hier in den nächsten Monaten zu
Ergebnissen kommen. Die notwendige Überzeugungsarbeit, zum Beispiel beim Bundesministerium des Innern,
braucht aber noch ein wenig Zeit. Eine Regierungsmehrheit muss ja über Fraktions- und Ressortgrenzen hinweg
geschlossen und einig handeln und bei Gesetzentwürfen
auch auf die nötige Genauigkeit achten.
({7})
Deshalb greifen wir gerne auf, was die Grünen mit ihrem
Änderungsantrag erreichen wollen. Dem Antrag selbst
können wir uns heute aber nicht anschließen.
Meine Damen und Herren, das Attraktivitätssteigerungsgesetz bringt uns ein großes Stück weiter. Wir sollten aber nicht dem Missverständnis erliegen, alle ProDr. Fritz Felgentreu
bleme seien damit gelöst. Damit die Bundeswehr
wirklich die attraktivste Arbeitgeberin im Lande wird,
bleibt viel zu tun. Wir müssen Kasernen sanieren. Wir
müssen die Bedingungen für die Ausbildung und den
Übergang in zivile Berufe weiter verbessern, und wir
müssen vor allen Dingen die Ausrüstung auf einen Stand
bringen, der der Bundeswehr unnötige Ausgaben und
auch peinliche Berichterstattungen dauerhaft erspart.
Unsere Armee bleibt vorerst eine spröde Schönheit. Die
Freude darüber, dass wir ihrer Attraktivität heute beträchtlich aufhelfen können, wollen wir uns davon aber
nicht verderben lassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
dem Kollegen Felgentreu danken, dass er sich mit der
Linken auseinandergesetzt hat; dann muss ich das nicht
mehr tun, und kann mich zum vorliegenden Gesetzentwurf äußern.
({0})
Ich habe schon vieles über den Gesetzentwurf gehört:
Von einem großen Sprung war die Rede. Man könnte
auch sagen, wir haben es mit einem Wortungetüm, wie
es im parlamentarischen Betrieb üblich ist, zu tun: „Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte in den kommenden
Minuten vor allem herausarbeiten, warum aus Sicht meiner Fraktion vieles von dem, was in dem Gesetzentwurf
steht, schlichtweg notwendige Schritte sind, die wir hier
heute gehen; denn die Wehrpflicht wurde ausgesetzt. Ich
hoffe, dass sie abgeschafft ist - aus Sicht meiner Fraktion: zu Recht und endlich. Wenn wir das Bild des
Staatsbürgers in Uniform erhalten wollen, wenn wir sicherstellen wollen, dass sich nach wie vor junge Frauen
und Männer, die motiviert, staatsbürgerlich aufgeklärt
und persönlich geeignet sind, für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden, dann ist es unsere Verpflichtung,
die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf - ich würde
es anders sagen als der Kollege Otte - nicht unbedingt
ein großer Sprung, aber in weiten Teilen durchaus ein
richtiger und notwendiger Schritt in die richtige Richtung.
({1})
Sie setzen in diesem Gesetzentwurf in vielen Fällen
auf finanzielle Anreize, wenn es um Vergütung geht,
wenn es um Versorgung geht. Gestatten Sie mir eine Bemerkung, zumindest im Namen vieler Kolleginnen und
Kollegen hier im Hohen Hause: Wir entsenden als Parlamentarier oft genug Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätze.
({2})
Damit laden wir eine hohe Verantwortung auf uns, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten den Soldatinnen
und Soldaten dann auch versichern, dass wir als Deutscher Bundestag gewillt sind, alles zu tun und unsere Solidarität zu zeigen, wenn Soldaten unverschuldet in Not
geraten.
({3})
Deswegen ist es richtig, dass der Stichtag für die Entschädigung für Einsatzunfälle noch weiter zurückdatiert
wurde. Ich will aus Sicht meiner Fraktion sagen: Wir
hätten ihn gern ganz gestrichen gewusst.
({4})
Finanzielle Anreize, meine sehr geehrten Damen und
Herren, sind aber nicht alles. Ich würde keiner Frau und
keinem Mann, die oder der sich für den Dienst in der
Bundeswehr entscheidet, unterstellen, dass sie oder er
nur aus finanziellen Gründen zur Bundeswehr geht. Es
geht vielfach um die Frage: Welche berufliche Laufbahn
kann ich beim Arbeitgeber Bundeswehr haben? Aber
- ich finde, da müssen wir noch mehr tun; da müssen
Sie, Frau von der Leyen, noch mehr tun - es wird auch
darum gehen, dass wir Bewerberinnen und Bewerbern
sagen, was sie denn im Berufsleben nach ihrer Zeit bei
der Bundeswehr tun können. Wir müssen den Dienst
bei der Bundeswehr noch stärker unter dem Aspekt betrachten: „Wie kann man erworbene Qualifikationen
zertifizieren, dokumentieren, und wo kann man Berufsausbildungen anschließen oder während des Dienstes
ableisten?“, damit der Dienst bei der Bundeswehr wirklich in neue Erwerbsbiografien hineinpasst.
({5})
Es kommt aber noch ein weiterer Punkt hinzu, wenn
ich sage, das ist heute hier nicht unbedingt der große
Sprung, aber ein notwendiger Schritt in die richtige
Richtung. Attraktivität macht sich noch an viel mehr
fest. Sie macht sich an der Frage des Materials und des
Geräts fest. Da möchte ich Ihnen, Herr Kollege Otte,
durchaus widersprechen. Es geht nicht in erster Linie darum, ob es modernes Material ist, ob es das modernste
Material ist oder ob wir jetzt wieder deutsche „Goldrandlösungen“ bestellen. Die Soldatinnen und Soldaten
sind vor allem darauf angewiesen, dass sie funktionierendes Material in ihren Händen halten, dass wir ihnen
funktionierendes Material anvertrauen. Da passt es nicht,
dass diese Koalition vor allem auf neue Rüstungsgroßvorhaben setzt und den Materialerhalt bei bestehenden
Systemen vernachlässigt.
({6})
Der zweite Punkt. Es passt auch nicht zu mehr Attraktivität, wenn die Ministerin verspricht, dass für Unterkunftsgebäude und andere Gebäude der Bundeswehr
mehr getan wird, aber noch im Herbst bei den Haushalts8348
beratungen Mittel ab dem Jahr 2016 umgeschichtet wurden.
Gestatten Sie mir, zuletzt einen dritten Punkt zu nennen. Es passt auch nicht, wenn wir über mehr Attraktivität reden, dass wir über Monate über Probleme bei der
Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft hinweggesehen
haben und nun mit teurem Steuergeld diese Gesellschaft
retten müssen, damit die Einkleidung im April gesichert
ist.
({7})
Wenn Sie es mit der Attraktivität der Bundeswehr
ernst meinen, dann müssen Sie auch an diesen Punkten
liefern.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Gesetz sind viele Maßnahmen enthalten. Einige sehen wir Grüne nicht unkritisch; das haben unsere Änderungsanträge im Ausschuss
gezeigt, und das zeigt auch unser Entschließungsantrag.
Manches wären wir anders angegangen. Bei anderen
Punkten gehen Sie uns nicht weit genug. Aber wir möchten an den Punkten, die uns notwendig erscheinen, die
uns wichtig erscheinen, Dinge nicht blockieren. Man
muss das Gesetz nicht in den Himmel loben, wie Sie es
getan haben, Herr Otte; man muss die Dinge, die richtig
sind, aber auch nicht in Bausch und Bogen verdammen.
Das wird nachher Richtschnur für unser Abstimmungsverhalten sein.
Ich danke Ihnen.
({9})
Der Kollege Robert Hochbaum hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist ein guter und wichtiger Tag für die
Bundeswehr. Heute ist ein guter und wichtiger Tag für
alle Soldatinnen und Soldaten, die bei der Bundeswehr
ihren Dienst tun und zukünftig tun werden. Heute ist
aber auch ein wichtiger Tag für fast alle hier im Parlament; denn das vorliegende Gesetz ist im Rahmen der
Neuausrichtung der Bundeswehr die logische und konsequente Fortführung dessen, wofür wir in den zurückliegenden Jahren den Grundstein gelegt haben, zum Beispiel mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
und mit dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz.
Der heute hier vorliegende Gesetzentwurf ist - so die
Worte des Vorsitzenden des BundeswehrVerbandes,
Oberleutnant André Wüstner, den ich auf der Tribüne
sehr herzlich begrüßen darf - einer der „größten Würfe
in der Geschichte der Bundeswehr“. Wir setzen damit einen zentralen Meilenstein für eine leistungsfähige und
effiziente Bundeswehr der Zukunft.
Ich möchte es in diesem Zusammenhang nicht versäumen, allen Beteiligten, vor allen Ihnen, liebe Frau
Ministerin, und dir, lieber Henning Otte, aber auch allen
anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich
Verteidigung, für ihren hohen persönlichen Einsatz zu
danken.
({0})
„Wir. Dienen. Deutschland“. Diese drei Worte bringen das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr treffend zum Ausdruck. Meine Damen
und Herren, fast alle wissen nur zu gut: Der Beruf des
Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Das möchte ich
hier, gerade auch weil dies doch scheinbar noch nicht
alle so sehen, einmal ganz besonders unterstreichen. Es
sind unsere Soldatinnen und Soldaten, die über viele
Monate hinweg oft fern der Heimat die Last der Einsätze
tragen, die in heftigen Gefechten standen und stehen,
von denen manche an Leib und Seele verwundet in die
Heimat zurückkamen und zurückkommen. Einige von
ihnen sind sogar gefallen. Es gibt meines Erachtens keinen Berufszweig, der damit vergleichbar wäre. Niemand
muss bei jeder Fahrt, ob in Berlin, in Hamburg, in München oder anderswo, mit der ständigen Angst leben, jederzeit auf eine Mine oder einen Sprengsatz zu fahren.
Aber unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz waren
und sind diesen ständigen Bedrohungen ausgesetzt und
leisten trotzdem eine ausgezeichnete Arbeit. Dafür
möchte ich ihnen gerade von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich danken.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist also keine
leichte Entscheidung, sich als junger Mensch für die
Bundeswehr zu entscheiden. Sie ist eben kein Arbeitgeber wie jeder andere, und diese Entscheidung ist eine
Entscheidung für ein Lebensmodell, das sich von vielen
anderen unterscheidet, eine Entscheidung, die das Leben, nicht zuletzt das Familienleben, nachhaltig beeinflusst - heute übrigens mehr denn je zuvor; denn die
Bundeswehr ist eine Freiwilligenarmee, und sie ist eine
Armee im Wandel. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
schaffen wir darum einerseits eine immense Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Dienst in der Bundeswehr und andererseits sorgen wir für ein Stück mehr
Anerkennung und Gerechtigkeit für die Soldatinnen und
Soldaten.
Wie viele von Ihnen wissen, habe ich mich dabei
schon seit einigen Jahren besonders für zwei Punkte eingesetzt. Ich freue mich natürlich darüber, dass sie mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf und den ergänzenden
Anträgen fast vollkommen abgearbeitet sind. Das ist
zum einen die Frage der gerechten Nachversicherung für
Zeitsoldaten und zum anderen die Frage der Hinzuverdienstgrenze für ausgeschiedene Soldatinnen und Soldaten - im letzteren Fall natürlich besonders die Regelung
für die ehemaligen NVA-Angehörigen, die nach der
Wende von der Bundeswehr übernommen worden sind.
Für diese Ergebnisse noch einmal meinen recht herzlichen Dank an alle Beteiligten. Ich bin mir sicher, dass
wir demnächst eine abschließende Regelung dazu noch
finden werden.
Meine Damen und Herren, seien Sie versichert: Wir
werden nicht müde, die Stimme für unsere Soldatinnen
und Soldaten zu erheben und uns weiterhin nach besten
Kräften für ihr Wohl einzusetzen. Wir alle leben hier unter anderem nur deshalb in Frieden und Sicherheit, weil
unsere Soldatinnen und Soldaten täglich ihren Dienst
tun.
Herzlichen Dank.
({2})
Die Kollegin Heidtrud Henn hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend über das Gesetz zur Steigerung
der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr. Ich
möchte zuerst allen Danke sagen, die mitgeholfen haben,
dieses Gesetz für unsere Bundeswehrangehörigen auf
den Weg zu bringen. Insbesondere danke ich unserer
Kollegin Michaela Noll und unserem Kollegen Fritz
Felgentreu, die als Berichterstatter für dieses Gesetz zuständig sind.
({0})
„Der Mensch steht im Mittelpunkt“, dies war Ihre
Aussage, sehr geehrte Frau Ministerin, als Sie Ihr Amt
angetreten haben. Angesichts des Gesetzes, das wir auf
den Weg bringen, weiß ich, dass Ihnen die Menschen
wirklich am Herzen liegen.
„Der Mensch steht im Mittelpunkt.“ Die Bundeswehr
wird in diesem Jahre 60 Jahre alt. Es ist an der Zeit,
diese besondere Arbeitgeberin für die jetzigen und
künftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fit zu
machen. Eine geregelte Arbeitszeit finde ich gut. Die
Arbeitszeit muss sich dennoch flexibler gestalten. Es
geht bei dem Gesetz auch darum, Kinderbetreuung,
Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Hier ein
Beispiel aus der Praxis: Dienstbeginn 7.15 Uhr, Dienstende 16.30 Uhr. Die meisten Kitas sind von 7.00 bis
17.00 Uhr geöffnet. Die Zeitspanne von 7.00 Uhr bis
7.15 Uhr langt nicht, um den Dienst pünktlich anzutreten. Wegen zehn Minuten muss man Teilzeit beantragen.
Würde der Dienst um 7.30 Uhr beginnen, würde man
vielen Soldatinnen und Soldaten den Druck nehmen.
Überstunden können nicht vermieden werden. Aber
wir müssen Sorge dafür tragen, dass beispielsweise im
Sanitätsdienst genügend Personal da ist, um Vakanzen
auszugleichen. Wer einen hohen Einsatz zeigt, muss
auch Gelegenheit haben, sich auszuruhen.
({1})
Attraktivität bedeutet auch, einen angemessenen
Wohnraum zu schaffen. Ich will zwei Anmerkungen
dazu machen: Erstens sollten die Unterkünfte größer
sein als eine Abstellkammer. Zweitens sollte man
darüber nachdenken, dass Soldatinnen und Soldaten
auch nach ihrem 24. Lebensjahr die Unterkünfte in der
Kaserne nutzen können. Die Kosten für eine Zweitwohnung sind häufig nicht mit dem Trennungsgeld abgedeckt.
Damit die Attraktivität nicht nachlässt, werden wir
uns in Zukunft Gedanken über die Regelungen des
Bundesmeldegesetzes machen müssen. Unverheiratete
Soldatinnen und Soldaten müssen ihren Erstwohnsitz am
Standort, an dem sie ihren Dienst leisten, anmelden. Die
meisten Soldatinnen und Soldaten haben ihren Lebensmittelpunkt aber in ihrem Heimatort. Viele haben dort,
wo sie zu Hause sind, Kinder, eine Partnerin oder einen
Partner. Dort würden sie gerne wählen und ihrem ehrenamtlichen Engagement nachgehen. Die jetzige Regelung
trennt Menschen von ihren Wurzeln.
Das Gesetz ist auf den Weg gebracht. Nun geht die
Arbeit für uns Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker weiter. Ich werde weiter unterwegs sein, um mir direkt an
den Standorten ein Bild zu machen. Es ist wichtig, das
Ohr an der Basis zu haben.
Liebe Soldatinnen und Soldaten, ich freue mich, Sie
auf der Besuchertribüne zu sehen. Sie sind mit Ihren
Uniformen gleich zu erkennen. Es geht uns aber um alle
Angehörigen der Bundeswehr. Wir wollen auch im Interesse der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dafür
Sorge tragen, dass das sozialdemokratische Bild von
„guter Arbeit“ für die Bundeswehr gilt.
({2})
Es kommt nicht oft vor, dass ein Gesetzentwurf das
Wort „Attraktivität“ im Titel führt. Ich bin ganz sicher:
Mit dem Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr machen wir die Bundeswehr attraktiver: für die Menschen, die bereits ihren
Dienst für uns leisten, für die Neuen und die Neugierigen, die ihren beruflichen Weg mit der Bundeswehr und
für uns alle gehen wollen.
Meine Damen und Herren, nun gilt es, die Worte in
Taten umzusetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen Gottes Segen.
({3})
Die Kollegin Julia Obermeier hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Weltweit bedrohen zahlreiche Krisenherde
Freiheit und Sicherheit. Der Frieden muss verteidigt, in
manchen Fällen gezwungenermaßen auch erkämpft
werden. Mit der deutschen Sicherheitspolitik setzen wir
uns aktiv für eine bessere und sichere Welt ein. Hierzu
nutzen wir die gesamte Bandbreite der politischen
Instrumente: Neben der Diplomatie und der Entwicklungszusammenarbeit stellen unsere Streitkräfte eines
dieser Instrumente dar. Sie sind dabei unentbehrlicher
Bestandteil des vernetzten Ansatzes.
Die Bundeswehr muss, wenn alle anderen politischen
Mittel versagen, in der Lage sein, der Politik ein breites
Handlungsspektrum zu eröffnen. Unsere Frauen und
Männer in Uniform setzen sich für eine bessere, eine gerechtere, eine freie und sichere Welt ein. Die militärischen wie auch die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten eine gute, ja eine hervorragende Arbeit. Es
ist ein Dienst am Frieden, der als solcher mehr als ehrenvoll ist.
Unsere Soldatinnen und Soldaten sind das Beste, was
unser Land zu bieten hat, um die sicherheitspolitischen
Herausforderungen unserer Zeit zu bestehen.
({0})
Wir sind angewiesen auf das Engagement der Soldatinnen und Soldaten und auch auf ihre Bereitschaft, in den
Einsatz zu gehen. Eine moderne Armee im Einsatz stellt
ihre ganz besonderen Herausforderungen. Entsprechend
hat sich auch der Soldatenberuf gewandelt. Diesen Veränderungen trägt das Gesetz Rechnung, das wir heute
beschließen wollen.
Damit der Soldatenberuf attraktiv bleibt, müssen wir
unsere Streitkräfte stärken. Mit den 22 Maßnahmen, die
wir heute beschließen wollen, gehen wir einen großen
Schritt in diese Richtung. Das Gesetz umfasst drei Teilbereiche: bessere Arbeitsbedingungen und Dienstgestaltung, eine attraktive Vergütung sowie eine bessere soziale Absicherung der Bundeswehrangehörigen. Es freut
mich sehr, dass wir in der parlamentarischen Beratung
noch weitere Verbesserungen erreicht haben, etwa bei
der Nachversicherung der Soldatinnen und Soldaten auf
Zeit in der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese
haben wir von 15 auf 20 Prozent aufgestockt. Zudem
haben wir den Stichtag für die Entschädigung von
Einsatzunfällen auf den 1. November 1991 rückdatiert,
sodass auch der Einsatz in Kambodscha abgedeckt ist.
Darüber hinaus können Soldatinnen und Soldaten
künftig die Weiterbildungsmöglichkeiten des Berufsförderungsdienstes auch nach dem Ende ihrer Dienstzeit
nutzen.
Wir haben mit dem Gesetz viele Verbesserungen für
unsere Soldatinnen und Soldaten erreicht. Ich danke an
dieser Stelle dem BundeswehrVerband für seine wichtigen Anregungen aus der Praxis.
({1})
Aber, meine Damen und Herren, Sie können versichert
sein: Weitere Schritte werden folgen. So werden wir das
gesamte Zulagenwesen noch in dieser Legislaturperiode
unter die Lupe nehmen. Auch wollen wir im Bereich der
Ausrüstung noch weitere Anstrengungen stemmen. Unsere Bundeswehr bedarf besten Geräts und moderner
Technologien. Um diesen Bedarf zu decken, brauchen
wir auch eine Erhöhung des Wehretats.
({2})
Die Attraktivität der Bundeswehr hängt aber nicht nur
an den Arbeitsbedingungen und an der Ausrüstung. Sie
ist auch eng mit dem Rückhalt in der Gesellschaft verknüpft. In § 1 des Soldatengesetzes heißt es: „Staat und
Soldaten sind durch gegenseitige Treue miteinander verbunden.“ Dies ist eine klare Aufforderung an den Staat,
an die Gesellschaft und auch an uns Parlamentarier. Für
meine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, und für mich
persönlich ist klar: Wir stehen an der Seite der Truppe.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist auch Ausdruck
unserer Verbundenheit mit der Bundeswehr und ihren
Angehörigen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der
Bundeswehr. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4119,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/3697 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4121. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Corinna Rüffer, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung menschenrechtskonform gestalten
Drucksache 18/3155
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den
Fraktionen zügig vorzunehmen und Platz zu nehmen und
gegebenenfalls notwendige Gespräche vor den Plenarsaal zu verlagern.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen hier im Bundestag! Wir bringen heute einen
Antrag zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung ein. Wir haben
diesen Antrag genannt: „Die gesundheitliche Versorgung
von Menschen mit Behinderung menschenrechtskonform gestalten“.
Das allein besagt, worum es geht: Sechs Jahre nach
Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention müssen wir uns auch den Bereich der gesundheitlichen Versorgung vornehmen. Immerhin können Menschen mit
Behinderung gemäß Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention an unsere Gesellschaft sowohl den Anspruch auf einen diskriminierungs- und barrierefreien
Zugang zur allgemeinen gesundheitlichen Versorgung
stellen als auch den Anspruch auf Angebote, die ganz
genau auf ihre spezifischen Gesundheitsbedarfe und körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen ausgerichtet
sind. Beides ist ein großer Anspruch, und beides wird
trotz unseres sehr ausgefeilten und sehr umfangreichen
Gesundheitswesens in der Praxis nicht eingehalten. Deshalb sind wir als Gesellschaft und wir als Parlament gefordert, hier etwas zu verändern. Wir sind wirklich in der
Pflicht, diese Versorgung tatsächlich zu verbessern.
({0})
Wir sind nicht nur gefordert, weil dies seit sechs Jahren geltendes Recht ist, sondern auch, weil zurzeit ein
Gesetzgebungsverfahren läuft, mit dem wir uns der Versorgungsstärkung annehmen wollen. Das wird in der
nächsten Plenarwoche Thema sein. Kann es einen besseren Rahmen geben, um über eine menschenrechtskonforme Ausgestaltung des Gesundheitswesens nachzudenken, als diesen Kontext? Wenn es um Versorgungsstärkung gehen soll, dann muss es auch um die
Stärkung der Versorgung derjenigen gehen, die in besonderem Maße auf unser Gesundheitswesen angewiesen
sind. Immerhin 17 Millionen Menschen haben eine körperliche oder andere Beeinträchtigung oder eine chronische Erkrankung. Wir sind aufgefordert, genau hinzuschauen und eine Ausgestaltung hinzubekommen, die
diesen Menschen gerecht wird.
({1})
Es geht nicht darum, zu sagen: „Unser Gesundheitswesen ist schlecht“, oder: „Unser Gesundheitswesen
wird den Menschen mit Behinderung in Gänze nicht gerecht.“ Darum geht es nicht. Aber wir wissen, dass wir
zahlreiche Versorgungslücken haben, dass wir hohe Barrieren haben, dass wir Hürden haben, die gerade diejenigen, die eine besondere Beeinträchtigung haben, nicht
nehmen können, was zum Teil zu einer eklatanten Fehlund Unterversorgung führt. Das können wir nicht weiter
zulassen.
({2})
Ich will eine kleine Palette von Themen aufzeigen.
Zum Beispiel ist nur ein ganz kleiner Teil der Praxen von
niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten oder anderen
Gesundheitserbringern wirklich barrierefrei. Ich spreche
dabei noch gar nicht von technischen Barrieren, die etwas mit Verständigungs- bzw. Kommunikationsproblemen zu tun haben, zum Beispiel von Hörhilfen. Die
Überwindung all dieser Barrieren ist in der Regel heute
nicht gewährleistet. In ganz wenigen Praxen und Krankenhäusern haben wir Personal, das über kommunikative Kompetenzen im Umgang mit beispielsweise hörgeschädigten Menschen verfügt. Auch in Bezug auf
sehbeeinträchtigte Menschen mangelt es an vielem. Zusätzlich fehlen barrierefreie Informationen zu allen Gesundheitsleistungen, die es gibt. Auch diesbezüglich
herrscht Fehlanzeige. Wir haben einen großen Mangel
im Bereich der Fort- und Ausbildung in Bezug auf die
Bedarfe von besonderen Personengruppen; diesbezüglich haben wir große Mängel. Auch die erwachsenen
Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung
finden bei ihren komplexen Bedarfslagen wenig adäquate Versorgungsangebote. Es fehlen medizinische
Versorgungszentren, die sich auf genau diese Gruppe
eingerichtet haben.
({3})
Die Liste könnte unendlich fortgeführt werden. Wir sehen: Es gibt einiges zu tun.
Herr Kollege Hüppe hat in der letzten Wahlperiode
umfangreiche Anhörungen von Verbänden, auch Patientenverbänden, durchgeführt. Er hat die Daten erhoben
und weiß genau, wo die Defizite sind. Angesichts dessen müssen wir uns heute fragen: Wo hat das eigentlich
seinen Niederschlag gefunden? Jedenfalls nicht in dem
jetzt geplanten Versorgungsstärkungsgesetz. Von den
155 Änderungen, die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind - wir haben sie gezählt -, beziehen sich gerade
einmal fünf materielle Änderungen speziell auf Menschen mit Behinderung. Wir sagen: Das ist zu wenig.
({4})
Wir legen Ihnen heute einen sehr umfangreichen Antrag vor. Sie können damit in der Beratung machen, was
Sie wollen. Sie könnten im Versorgungsstärkungsgesetz
ein neues, eigenständiges Kapitel für die Menschen mit
Behinderung einfügen.
({5})
Das wäre ein Weg; da sind wir offen. Wir könnten auch
sagen: Wir bringen ein eigenständiges Versorgungsstärkungsgesetz für die Menschen mit Behinderung auf den
Weg. - Das wäre ebenfalls ein Weg; auch da sind wir offen. Aber wir wünschen uns, dass Sie sich unsere Vorschläge, die schon sehr umfangreich sind, anschauen und
dazu einladen, dass die Verbände einbezogen werden,
damit wir wirklich dem Anspruch „Nicht ohne uns über
uns“ gerecht werden. Auch das fehlt in dem jetzigen
Verfahren. Da sollten wir hinkommen. Wir meinen, dass
das aller Mühe wert wäre. Wir wären sehr froh, wenn Sie
sich dieses Themas wirklich annehmen und nicht so verfahren würden wie in der letzten Wahlperiode, als dann
mal eben alles vom Tisch gewischt worden ist. Das wird
dem Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht
gerecht. Wir wünschen uns eine wirklich detaillierte Befassung mit unseren Vorschlägen.
({6})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, nicht jedem Menschen ist es vergönnt, vom Anfang
seines Lebens bis zu seinem Ende - vielleicht mit ein
bisschen Grippe zwischendurch - gesund durch das Leben zu kommen. Das ist ein großes Geschenk, an dem
man selbst arbeitet und an dem viele Leistungserbringer
arbeiten. Leider gibt es in unserem Land zunehmend
mehr Menschen, die nicht gesund zur Welt gekommen
sind, die das Unglück eines Unfalls erleben mussten
oder die an einer Krankheit leiden. Uns um diese Menschen zu kümmern, ist unser aller Anliegen. Das eint uns
zunächst einmal; das will ich sagen. Aber so zu tun, als
hätten wir seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland nichts getan, ist schlichtweg
falsch. Sie wissen ganz genau, dass wir in einem mühevollen, breit angelegten Prozess einen nationalen Aktionsplan für Deutschland verabschiedet haben, der immer noch gilt und der sukzessive, Punkt für Punkt,
umgesetzt werden kann.
Die neue Qualität dieser Sache liegt darin, dass wir
dieses Thema nicht separat denken - Sie, liebe Kollegin,
haben ja gerade vorgeschlagen, vielleicht sogar ein separates Gesetz zur besseren medizinischen Versorgung von
Menschen mit Behinderung auf den Weg zu bringen -,
sondern dass wir es immer im Ganzen denken.
({0})
Wenn wir flächendeckend eine gute Versorgung in der
Medizin haben - bei der Ärzteschaft, in Krankenhäusern, in Apotheken, bei Physiotherapeuten und in sonstigen fachübergreifenden Zentren -, dann kommt das allen zugute, Menschen mit Behinderung genauso wie
Menschen ohne Behinderung. Das muss doch unser Anliegen sein.
({1})
Natürlich braucht man spezielle Kenntnisse, vielleicht
auch eine besondere Sensibilität im Umgang. Aber es
muss in unserer Gesellschaft eigentlich zum Allgemeingut werden, dass jeder hilfsbereit ist. Ganz konkret gesagt: Es gibt nur wenige Zwischenfälle, bei denen Beschwerden geführt werden müssen, weil Menschen mit
Behinderung nicht richtig behandelt worden sind.
Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Debatte extra
die Zusammenfassung unserer Aktivitäten der letzten
Legislaturperiode zur Hand genommen. Allein im Bereich Gesundheit haben wir sieben Gesetzentwürfe verabschiedet, in denen ganz konkrete Dinge im Hinblick
auf die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit
Behinderung geregelt sind. Ich will gleich ein paar Aspekte nennen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.
Was ich an Ihrem Antrag grundsätzlich kritisiere, ist,
dass Sie mit Ihren 21 Forderungen den Eindruck erwecken, als sei bisher nichts gemacht worden.
({2})
Allein der Titel Ihres Antrags suggeriert, dass in
Deutschland derzeit eine nicht menschenrechtskonforme
Versorgung stattfindet. Das kann doch niemand ernsthaft
glauben.
({3})
Trotz aller Probleme, die hier und da noch zu lösen sind
- wir bräuchten ja keine Gesetze zu machen, wenn alles
in Ordnung wäre und wir nicht den Anspruch hätten, es
noch besser zu machen -, muss man doch anerkennen,
dass wir ein hochmodernes, breit aufgestelltes, innovatives, für jedermann zugängliches, solidarisches Gesundheitssystem haben.
({4})
Deshalb widerspreche ich Ihnen, wenn Sie behaupten,
dass Menschen mit Behinderung schlecht versorgt würden.
({5})
Sie haben angesprochen, dass nicht jede Arztpraxis
barrierefrei ist. Das ist tatsächlich ein Punkt.
({6})
Aber schauen Sie sich vielleicht noch mal an, was das
Projekt „Barrierefreie Praxis“ leistet, bei dem, im Ehrenamt übrigens, Leistungserbringer selbst für jedermann
zugänglich eine Übersicht führen - und diese ständig aktuell ergänzen -, in welchen Praxen etwas verbessert
wurde, welche barrierefrei sind und wo bei einem Neubau von vornherein an die Barrierefreiheit gedacht wird.
({7})
Wir sind uns einig, dass in Altbauten, im Bestand, die Situation schwieriger ist. Es gibt in Sachen Barrierefreiheit
aber nicht nur baurechtliche Verbesserungen: Firmen
lassen die Beipackzettel für ihre Arzneimittel in leichter
Sprache erstellen oder berücksichtigen überhaupt die
Barrierefreiheit. Diese Fortschritte kann man doch nicht
einfach ignorieren, nur weil sie, sage ich mal, auf das
Engagement von Einzelnen zurückzuführen sind.
Wir als Gesetzgeber haben die Aufgabe, die Rahmenbedingungen zu setzen. Die sind nicht schlecht. Ich
werde noch zwei Punkte ansprechen, wo wir vielleicht
noch etwas verbessern können. Aber wichtiger ist es
doch, die Rahmenbedingungen so zu nutzen, dass auf die
speziellen Konstellationen vor Ort eingegangen werden
kann und eingegangen wird. Wie sonst im Leben auch ist
gerade bei Menschen mit Behinderung eine besondere
Komplexität zu beachten - im Umgang, in der Sprache,
in der Behandlung -, und das alles interdisziplinär.
({8})
Sie wissen, dass wir in unserem Land gut funktionierende Zentren mit speziellen Angeboten gerade für Kinder haben. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht,
beklagen allerdings auch, dass es dann einen gewissen
Bruch gibt, wenn die Kinder 18 Jahre werden; Menschen
mit Behinderung werden heutzutage ja dank guter medizinischer Versorgung älter als früher. Wir wollen die guten Angebote für Kinder jetzt auch um Angebote für Erwachsene erweitern; das, zum Beispiel, ist ein ganz
konkreter Punkt aus dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz.
({9})
Ich will auch darauf hinweisen, dass wir zum Beispiel
in der Heilmittelversorgung Verbesserungen durchgesetzt haben: Wir haben ganz konkret gesagt, dass bei
langwierigen Behandlungen und auch bei entsprechenden Heilmitteln eine längerfristige Verordnung stattfinden kann, damit die Menschen nicht so oft zum Arzt gehen müssen.
({10})
Sie wissen, dass die Anträge innerhalb von vier Wochen
beschieden werden müssen; andernfalls gelten sie als bewilligt. Auch das ist eine Verbesserung.
Wir haben im Assistenzpflegegesetz unter anderem
geregelt, dass Menschen mit Behinderung, die nach dem
Arbeitgebermodell ihre täglichen Dinge ordnen, die Assistenz ins Krankenhaus oder in Rehabilitierungseinrichtungen mitnehmen können. Die Grünen wollen das mit
ihrem Antrag jetzt auf alle ausdehnen. Zu diesem Thema
hatten wir eine umfangreiche Anhörung. Da empfehle
ich Ihnen: Bitte lesen Sie sich die Argumente, die dort
vorgebracht wurden, noch einmal durch!
({11})
Es ist wichtig, sie noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Ich erinnere auch daran, dass wir zum Beispiel in der
Zahnheilkunde den Ansatz der aufsuchenden Medizin
eingeführt haben und für die zusätzlichen Wege, die
Zahnärzten durch die Versorgung von Menschen mit Behinderung entstehen können, zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen. Da ist eine Verbesserung erfolgt. Wir
wollen jetzt in der Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung stärker noch, als das bisher der Fall war, den
präventiven Gedanken einführen, weil wir wissen, dass
im Grunde die gesamte körperliche Fitness sehr davon
abhängt, wie die Mundhygiene funktioniert. Wenn sich
da Geschwüre entwickeln, können die den ganzen
Körper außer Kraft setzen, und das ist tragisch, wenn
man schon multifunktionale Störungen ertragen muss.
Auch für seltene Erkrankungen erhält man bei uns
eine medizinische Versorgung. Wir haben in die Arzneimittelversorgung mit dem AMNOG ein Prinzip eingeführt, das seinesgleichen sucht und gelobt wird, damit
genau diesen Patienten die notwendigen neuen Medikamente ziemlich unkompliziert, für jedermann zugänglich, zur Verfügung stehen und genutzt werden können.
So kann ich die Reihe fortführen. Ich würde Ihnen
wirklich vorschlagen, dass wir uns lieber darum bemühen - auch bei dem jetzt anstehenden Gesetz -, nicht nur
die einzelnen Dinge im Blick zu haben, sondern vor allem an die Gesamtheit zu denken; daran kann jeder von
uns hier im Raum in seinem Wahlkreis, in seinem Wirkungsumfeld mitarbeiten.
Frau Präsidentin, das darf ich mit Ihrer Genehmigung
sagen: Sie haben sich dafür eingesetzt, dass in unserer
Parlamentszeitung immer wieder Artikel in Leichter
Sprache publiziert werden. Das war nicht einfach, und
mancher versteht auch die Leichte Sprache nicht, weil
sie zu leicht ist. Jeder sollte einmal für seinen Bereich
überlegen, wo man außerhalb der gesetzlichen Regelungen Dinge des täglichen Lebens für die Menschen mit
Behinderung erleichtern kann. Das gilt erst recht in Bezug auf die medizinische Versorgung und die Regelungen im Pflegebereich.
Zum Schluss möchte ich versöhnlich werden: Ich
hoffe, dass wir es schaffen, genau dies im Blick zu haben
und ein menschenwürdiges Dasein für jedermann zu gestalten. Wir sollten aber nicht so tun, als ob wir in
Deutschland quasi noch in der Urzeit sind. Das ist nämlich nicht der Fall.
({12})
Wir können uns sehr freuen, dass wir eine Menge
Leistungserbringer haben, die sich weit über ihre tägliche Arbeit hinaus engagieren und Erleichterungen für
die betroffenen Menschen organisieren und auch verordnen. In diesem Sinne möchte ich mich gerade bei diesen
Menschen herzlich bedanken.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Frau Kollegin, es ist immer gut, wenn
möglichst viele darauf hinweisen, dass viele unserer Debatten und auch vieles von dem, was wir publizieren,
auch in Leichter Sprache veröffentlicht wird; denn es
gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die nicht die
komplizierten Texte lesen, aber trotzdem am gesamten
Leben teilhaben wollen. Deswegen - da können Sie sich
sicher sein - dürfen Sie das hier mit meiner Erlaubnis
immer ansprechen.
Die nächste Rednerin ist Birgit Wöllert, Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuhörerinnen auf den Tribünen, einige von Ihnen haben vielleicht schon einmal im
Rollstuhl vor einer Praxis gestanden und sind nicht alleine hineingekommen, was in Deutschland leider immer noch nicht selten vorkommt. Gerade deshalb sind
wir Ihnen recht dankbar, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, dass Sie diesen Antrag zu diesem Zeitpunkt eingereicht haben.
Ich denke, das hat gar nichts mit Schwarzmalerei und
damit zu tun, dass noch nichts getan wurde. Wenn man
sich die Zahlen des Teilhabeberichts anschaut und sieht,
was seit 2011 nach dem Beschluss des Nationalen Aktionsplanes erreicht wurde, dann erkennt man: Es geht
zu langsam, und wir müssen einfach einen Zahn zulegen.
({0})
Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention von
2011, der hier in Deutschland gültig ist, steht:
Alle Menschen mit Behinderungen sollen einen uneingeschränkten … Zugang zu allen Gesundheitsdiensten und Gesundheitsdienstleistungen haben.
Dabei sind die unterschiedlichen Voraussetzungen
von Frauen und Männern mit Behinderungen und
deren spezifischer Bedarf - sowohl in Bezug auf
Erkrankungen, Medikamente und therapeutische
Versorgung als auch in Bezug auf Umgang, Assistenz und Kommunikation - zu berücksichtigen.
Daher wird die Bundesregierung gemeinsam mit
den Ländern und der Ärzteschaft in 2012 ein Gesamtkonzept entwickeln, das dazu beiträgt, einen
barrierefreien Zugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxen und Kliniken zu gewährleisten.
Ich habe 2014 nachgefragt, wie es mit dem Konzept
aussieht, das 2012 erstellt werden sollte. Die Antwort,
die ich bekommen habe, lautete:
Vorgesehen ist, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der Ärzteschaft hierfür ein Gesamtkonzept
vorlegt.
- Zwei Jahre später! Derzeit prüft die Bundesregierung, welche Anreize
gesetzt werden können, um die Anzahl barrierefreier Einrichtungen zu erhöhen. Die … Fachressorts befinden sich hierzu im Dialog. Die Beratungen sind noch nicht abgeschlossen.
Ihr Antrag hätte eigentlich schon viel eher behandelt
werden müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Nach dem Teilhabebericht der Bundesregierung von
2013, den wir im Fachausschuss behandelt haben, sind
nach Selbstauskunft von 44 380 allgemeinmedizinischen
Praxen lediglich 22 Prozent mit einem rollstuhlgerechten Zugang zu den Praxisräumen ausgestattet, 2 Prozent
haben eine barrierefreie Toilette, und 2 Prozent verfügen
über flexible Untersuchungsmöbel. Auch bei anderen
Arztgruppen unterscheiden sich diese Zahlen nicht wesentlich. Für andere Zugänge zu Gesundheitsberatungen,
Sexualberatung, Logopädie oder Ergotherapie, liegen
erst gar keine Zahlen vor.
Ohne Zahlen kann man natürlich kein Gesamtkonzept
erstellen. Diese Zahlen - das hat die Bundesregierung
selbst gesagt - hat sie nicht. Das Bundesministerium für
Gesundheit will sie im Unterschied zum Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch künftig gar nicht erheben. Das beißt sich doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man es mit dem, was man plant, wirklich
ernst meint.
({2})
Der vorliegende Antrag dagegen greift die Probleme
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
wirklich auf. Das betrifft die technische Barrierefreiheit
für behinderte Menschen, aber auch barrierefreie Information. Denn Informationen müssen allen zugänglich
sein.
Nach Auffassung der Linken haben wir darüber hinaus Handlungsbedarf:
Erstens. Das Recht auf freie Arztwahl muss für jeden
und jede gelten, auch für Menschen mit Behinderung.
({3})
Zweitens. Für einen behinderungsspezifischen Behandlungsbedarf sind Behandlungszentren ein Weg. Hier
gibt es bisher keine seriösen Forschungen. Deshalb besteht auch hier unbedingt Forschungsbedarf. Auch das
ist eine Forderung der Linken.
Nach Auffassung der Linken besteht auch Handlungsbedarf in Finanzierungsfragen. Die aus der Spezifik der
Behinderung auftretenden zusätzlichen Behandlungsbedarfe müssen sich in der ambulanten wie in der stationären Versorgung widerspiegeln.
Leider habe ich jetzt nicht mehr genug Redezeit, noch
andere Vorschläge zu unterbreiten. Aber ich denke, diese
Zeit haben wir dann in der Diskussion. Wir werden diesem Antrag bei der Überweisung unsere Stimme selbstverständlich nicht verweigern. Ich freue mich auf viele
gute Ideen und auf hoffentlich schnelle Ergebnisse.
Danke.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Heike Baehrens, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist ein
wichtiges Anliegen, über das wir hier heute beraten.
Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen wir uns nachdrücklich dafür ein, die gesundheitliche
Versorgung von Menschen mit Behinderung weiter zu
verbessern. Darum haben wir bereits im Herbst 2011 einen umfassenden Antrag mit konkreten Vorschlägen unter einer ähnlichen Überschrift auf den Weg gebracht:
„UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine
inklusive Gesellschaft nutzen“. Einige wesentliche Vorschläge daraus haben wir im Rahmen der Koalitionsverhandlungen als konkrete Gesetzesvorhaben vereinbart.
Jetzt setzen wir diese Vorhaben Schritt für Schritt um.
So ist ein modernes Bundesteilhabegesetz in Vorbereitung. Ein Referentenentwurf für das Präventionsgesetz liegt dem Parlament bereits vor. Weitere zentrale
Punkte des heute vorgelegten Antrags werden in einem
zweiten GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, das bereits
in der parlamentarischen Beratung ist, tatsächlich direkt
angegangen.
({0})
Insofern freuen wir uns durchaus darüber, dass Sie uns
als Grünenfraktion in diesem Vorhaben mit Ihrem heutigen Antrag unterstützen, den Sie am Ende der letzten
Legislaturperiode fast wortgleich schon einmal gestellt
haben.
In den Artikeln 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention werden volle Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung in unserem
Gesundheitssystem gefordert. Sie fordern einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Leistungen sowie angepasste Beratungs-, Hilfs- und Betreuungsstrukturen.
Das ist tatsächlich noch immer eine große Herausforderung und Aufgabe vor allem für alle handelnden
Akteure im Gesundheitswesen - und eben nicht nur,
Frau Wöllert, für die Politik -, für Ärzte und Krankenhäuser, für Leistungserbringer, aber eben auch für die
Kranken- und Pflegekassen. Da haben Sie als Grüne mit
Ihrem Antrag durchaus den Finger in die richtige Wunde
gelegt.
Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung
brauchen Ärzte und Therapeuten verschiedener Fachdisziplinen, die erfahren sind im Umgang mit deren speziellen Bedarfen und den jeweils individuellen Anforderungen auch in der Kommunikation.
Für Kinder und Jugendliche gibt es ein solches Angebot der koordinierten und integrierten Versorgung mit
den etablierten sozialpädiatrischen Zentren. Komplexe
Bedarfslagen enden jedoch nicht mit der Volljährigkeit,
sondern erfordern weiterhin ein spezialisiertes Versorgungsangebot.
Aus dieser Erkenntnis heraus werden wir im Versorgungsstärkungsgesetz die gesetzliche Grundlage dafür
schaffen, dass auch erwachsene Menschen mit geistiger
Behinderung oder schwerer Mehrfachbehinderung
zukünftig in sogenannten medizinischen Behandlungszentren ein auf sie abgestimmtes Versorgungsangebot erhalten.
({1})
Entsprechend qualifizierte multiprofessionelle Teams
können in solchen medizinischen Behandlungszentren
individuell auf jeden einzelnen Menschen in seiner
speziellen Situation eingehen. Gleichzeitig sollen die
Fachkräfte dort aber auch eine Lotsenfunktion übernehmen, damit Menschen mit geistiger Behinderung - wo
immer möglich - die in der Region vorhandenen fachärztlichen und psychotherapeutischen Regelangebote
adäquat nutzen können.
Auch das Entlassmanagement in Krankenhäusern und
damit der Übergang in die ambulante Versorgung wird
mit dem Versorgungsstärkungsgesetz verbessert.
Ich möchte dazu ein kurzes ermutigendes Beispiel aus
der Praxis aus Stuttgart erzählen. Dort ist eine Kooperation zwischen Krankenhäusern und Fachleuten der Behindertenhilfe auf den Weg gebracht worden. So haben
das Diakonieklinikum Stuttgart und das Behindertenzentrum Stuttgart aktuell eine Vereinbarung zur besseren
Versorgung von Menschen mit Behinderung miteinander
geschlossen. Zukünftig wird es am dortigen Klinikum
einen Beauftragten für die Belange der Patienten mit
Behinderung sowie einen regelmäßigen Austausch der
Mitarbeiter beider Einrichtungen und vor allem auch
Fortbildungen für Ärzte und Pflegekräfte geben.
({2})
Diese beiden Partner leisten diesen Mehraufwand zunächst auf eigene Kosten, weil sie zeigen wollen, wie es
gehen kann. Ich finde, das ist ein gutes Vorbild, das uns
Denkanstöße für strukturelle Lösungen liefern kann.
Bisher noch nicht im Versorgungsstärkungsgesetz,
aber doch in unserem Bewusstsein verankert, ist die Notwendigkeit der besseren Versorgung im Rahmen der
häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V. So ist zwar
heute bereits geregelt, dass Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder an sonst einem geeigneten Ort,
insbesondere in betreuten Wohngruppen, in Schulen und
Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf Behandlungspflege als Leistung der Krankenkasse erhalten.
Außen vor aber sind jene Menschen mit Behinderung,
die ihren Lebensmittelpunkt in einer stationären Einrichtung haben. Hier wird die Übernahme der Kosten für die
häusliche Krankenpflege von den Krankenkassen in der
Regel abgelehnt und auf die Leistungen der Eingliederungshilfe verwiesen, die ja auch Pflege umfasst. Aber
medizinische Behandlungspflege ist keine Leistung der
Eingliederungshilfe und wird deshalb auch nicht durch
die Vergütungen der Eingliederungshilfe finanziert. Hier
braucht es, wie Sie zu Recht in Ihrem Antrag angesprochen haben, dringend eine gesetzliche Klarstellung. Mit
diesen Schnittstellenproblemen werden wir uns weiter
beschäftigen und einen Lösungsvorschlag erarbeiten.
({3})
Zuversichtlich bin ich zudem, dass wir weitere
Schritte zur Umsetzung der Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention im Rahmen der zweiten Stufe des
Pflegestärkungsgesetzes gehen können. Denn mit der
Einführung des teilhabeorientierten Pflegebedürftigkeitsbegriffs werden die Barrieren zwischen den Sozialgesetzbüchern zumindest ein Stückchen kleiner. Damit
werden die Chancen größer, unser Hilfesystem durchlässiger zu machen. Ich denke, es wird vielleicht auch ein
wenig der Boden gelockert, auf dem das noch zarte
Pflänzchen eines modernen Teilhabegesetzes in möglichst naher Zukunft seinen Wurzelgrund finden kann.
Insofern danke für den Antrag. Wir hoffen auf Ihre
konstruktiv-kritische Begleitung der anstehenden Gesetze und auf Ihre Zustimmung zu diesen Maßnahmen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens. - Nächster
Redner ist Tino Sorge, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau KleinSchmeink, Sie haben ja dann das Ganze zum Schluss
noch ein bisschen relativiert. Aber als ich Ihren Antrag
gelesen habe, da dachte ich: Wir leben hier in einem
Land, in dem gerade in dem Bereich, der Menschen mit
Behinderungen betrifft, nur menschenunwürdige Zustände herrschen.
({0})
Sie haben es ja zumindest am Schluss noch ein bisschen
relativiert. Ich fand die Überschrift bereits absolut deplatziert, weil Sie damit wieder ein Zerrbild entworfen
haben, das absolut nicht der Realität entspricht.
({1})
Sie wissen ja auch, dass wir gerade unter CDU-geführten Bundesregierungen seit 2005 kontinuierlich
Leistungen verbessert und zusätzliche Regelungen eingeführt haben, die gerade in diesem Bereich Verbesserungen herbeiführen sollen und auch schon herbeigeführt haben.
({2})
Die Initialzündung 2008 im Zusammenhang mit der
UN-Behindertenrechtskonvention ist ja schon angesprochen worden. Sie wurde von allen Fraktionen unterstützt. Infolgedessen gab es ja den Nationalen Aktionsplan, den die damalige Arbeitsministerin Ursula von der
Leyen auf den Weg gebracht hat. Sie wissen ja auch: Die
Laufzeit von zehn Jahren bis 2021 muss man erst einmal
wirken lassen. Bei allem Engagement, bei allen Anträgen, die Sie ja gern schreiben, haben Sie vielleicht übersehen, dass diese Maßnahmen auch Zeit brauchen, um
zu wirken.
({3})
Das bedeutet für uns als Regierungskoalition natürlich,
dass wir geeignete Maßnahmen umsetzen, damit Menschen mit Behinderung Zugang zu Gesundheitsdiensten
einschließlich Rehabilitation haben, dass Gesundheitsleistungen angeboten werden, die speziell auf Menschen
mit Behinderung zugeschnitten sind, und dass wir dafür
sorgen, dass diese Gesundheitsleistungen eben auch
wohnortnah erreichbar sind.
Das alles sind Themenbereiche, die wir alle hier kennen, und zwar nicht deswegen, weil darüber nicht gesprochen wird, sondern deswegen, weil die Bundesregierung von Anfang an hier tätig geworden ist und sich
intensiv damit beschäftigt hat. Die Verbesserungen, die
in diesen Bereichen erfolgt sind, hätten Sie ja auch einmal ansprechen können. Aber Sie haben hier wieder argumentiert nach dem Motto „Das Glas ist halb leer und
nicht halb voll“. Sie haben nicht gesagt, was Sie wollen;
Sie haben nur gesagt: Man sollte mal, man müsste mal,
man könnte mal. - Konkretes haben Sie aber dazu nicht
gesagt.
({4})
Teile Ihrer Forderungen, insbesondere hinsichtlich
ortsnaher Versorgung, stehen ja schon im VersorgungsTino Sorge
stärkungsgesetz. Das hätten Sie doch einmal sagen können. Das haben Sie aber nicht gemacht. Das Beispiel der
medizinischen Versorgungszentren haben Sie dann in einem Halbsatz angesprochen. All das sind doch Dinge,
die bereits im Koalitionsvertrag vereinbart worden sind.
Also können Sie doch hier nicht das Bild zeichnen, als
würde überhaupt nichts getan.
({5})
Sie haben dann auch die Barrierefreiheit angesprochen: Natürlich ist es so, dass diesbezüglich viel Nachholbedarf besteht. Aber schauen Sie sich doch einmal
die Zahlen an. Allein der Etat 2015 im Gesundheitsbereich
({6})
weist - das wissen Sie doch auch - einen Anstieg um
9 Prozent auf 12 Milliarden Euro auf; in der Pflege sind
das konkret 82 Millionen Euro mehr. Private Pflegeversicherung, Verbesserung der Leistungen der Pflegeversicherung, Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Tages- und
Nachtpflege, Ausbau der Wohnraumzuschüsse, Anschubfinanzierung für ambulant betreute Wohnformen sind
doch Aspekte, die Sie nicht einfach negieren können. Da
können Sie doch auch einmal sagen, dass das Verbesserungen sind, die allen zugutekommen, aber eben auch
den Menschen mit Behinderung.
In diesem Zusammenhang will ich nur drei der
21 Punkte ansprechen, die Sie explizit in Ihrem Antrag
formuliert haben.
Eine Forderung lautet, in § 43 a SGB XI eine Regelung hinsichtlich der Feststellung des Wohnortes im
rechtlichen Kontext der Behindertenhilfe vorzulegen.
Sie wissen: Wir werden das überprüfen. Wir werden
schauen, dass Benachteiligungen, die eventuell existieren, abgebaut werden und dass der Zugang zu Leistungen der häuslichen Pflege erleichtert wird.
Ein weiterer Schwerpunkt, den Sie angesprochen haben, betrifft die Mitarbeiter in Gesundheitsberufen, das
heißt Studentinnen und Studenten an Hochschulen und
all diejenigen, die sich tagtäglich um Menschen mit Behinderungen kümmern. Ich wäre froh, wenn wir dahin
gehend Konsens erzielen könnten, dass wir diesen Menschen gar nicht genügend Respekt, Dankbarkeit und gesellschaftliche Wertschätzung entgegenbringen können.
({7})
- Nein, ich rede ja nicht nur von Ihnen. Aber Sie sitzen
da wie so ein Orgelpfeifengebirge und tun so, als sei
überhaupt nichts passiert.
({8})
Sie müssen doch in dem Kontext auch einmal anerkennen, dass da viel passiert ist. Wir diskutieren ja hier auch
über die gesellschaftliche Wertschätzung. Sie wissen
doch selbst, dass wir aktuell Regelungen im Rahmen der
Neuordnung der Pflegeberufe diskutieren. Bei der Reform des Medizinstudiums sind wir doch auf einem guten Weg.
({9})
Also, dann können Sie hier doch nicht immer behaupten,
dass nichts passiert. Deshalb ist Ihr Antrag in der Form
absolut nicht zielführend und nicht wirklich hilfreich.
Dann noch zu dem Thema der Situation in den Arztpraxen. Frau Wöllert, Sie haben das angesprochen. Sie
haben gesagt, dass natürlich gerade im Bereich der Barrierefreiheit mehr gemacht werden könnte.
({10})
- Ja, ja, können, müssen, sollen. Okay. - Aber Sie könnten doch auch einmal sagen: Fast ein Viertel der Praxen
ist barrierefrei.
({11})
Die Ärztinnen und Ärzte sind nicht dumm.
({12})
Die wissen doch auch, dass das ein Wettbewerbsvorteil
ist. Die werden sich darum kümmern.
({13})
Da jetzt immer so zu tun, als müsse man alles regulieren,
das ist doch nicht zielführend.
Zur Wertschätzung gehört auch dazu, dass Sie nicht
immer unterschwellig suggerieren, dass diejenigen, die
in dem Bereich tätig sind, zu dumm seien, mit Menschen
mit Behinderung zu sprechen,
({14})
mit den Leuten, die sich darum kümmern, auch entsprechend umzugehen.
Dass bei der Krankenhausfinanzierung - die BundLänder-Arbeitsgruppe kennen Sie ja - viel passieren
soll, wissen Sie ja auch.
Zu den Arztpraxen nur noch ein konkretes Beispiel:
In der Bedarfsrichtlinie des G-BA ist, wie Sie wissen,
seit 2014 ausdrücklich das Kriterium der Barrierefreiheit
als wichtiges Zulassungskriterium geregelt.
Kollege Sorge, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Ja natürlich, wenn er sich so schön meldet.
Bitte schön, Herr Kollege Kurth.
Herr Sorge, Sie haben gerade gesagt, es sei für die
Ärzte ein Wettbewerbsvorteil, wenn sie ihre Praxen barrierefrei gestalten. Erkennen Sie an, dass die Wirklichkeit in den Arztpraxen ganz anders ist, dass nämlich
Ärztinnen und Ärzte Probleme kriegen, wenn sie viele
Menschen mit Behinderung behandeln, da diese einen
erhöhten Zeitaufwand benötigen, aber in der Vergütung
nicht mehr bringen? Erkennen Sie auch an, dass es im
Gegenteil im Moment in unserem System leider eher einen Anreiz gibt, ab einer bestimmten Zahl von Menschen mit Behinderung, die in Behandlung sind, die
dann noch kommenden Patientinnen und Patienten abzuwimmeln?
({0})
Sehen Sie nicht, dass die Ärzte - wie kann man denen
Dummheit unterstellen? - in der Aus- und Fortbildung
nicht über adäquate Angebote verfügen, wie man zum
Beispiel mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen
kommuniziert? Sehen Sie also nicht, dass faktisch diese
Hürden, wie wir sie in unserem Antrag ansprechen, im
System bestehen?
({1})
Also, die eine Frage ist ja, dass man sie anspricht, und
die andere Frage ist, welche konkreten Lösungsmöglichkeiten man entwickelt.
({0})
Das, was Sie ganz konkret gemacht haben, ist ja, einfach
zu behaupten, dass sie dazu nicht in der Lage seien. Die
Darstellung der Probleme ist ja etwas anderes, als zu sagen, das ist so und es werde sich daran nichts ändern.
Aber gerade bei Neubauten wird doch darauf hingewiesen, dass Barrierefreiheit ein wichtiges Thema ist.
({1})
Insofern ist das Beispiel, das Sie jetzt wieder konstruieren - ich will das nicht weiter kommentieren -, dass sich
ein Arzt ganz bewusst in der ersten Etage Praxisräume
sucht, damit bestimmte Patienten nicht zu ihm kommen,
absolut neben der Sache. Das sind doch Zerrbilder, die
Sie entwickeln.
({2})
Herr Kollege Sorge, Sie hätten jetzt noch einmal die
Gelegenheit, auf eine Frage oder Zwischenbemerkung
der Kollegin Wöllert zu antworten, sofern Sie ihr dies
gestatten würden.
Ich schätze sie sehr, und natürlich darf sie das machen.
Bitte schön, Frau Kollegin Wöllert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Danke, Herr Sorge,
dass ich Sie jetzt etwas fragen darf. Aber vielleicht gab
es hier ein Missverständnis. Ich glaube, da spreche ich
auch für Frau Klein-Schmeink. Keiner von uns hat die
Arbeit der Menschen, die im Gesundheitswesen tätig
sind, schlechtgeredet - an keiner Stelle. Da sollten Sie
noch einmal das Protokoll lesen.
({0})
Ich unterstelle einmal: Sie haben da irgendetwas falsch
verstanden, sodass da ein großes Missverständnis vorliegt.
Meine Nachfrage zielt ganz konkret auf Fragen des
Wettbewerbs ab. Ich war gestern Abend beim Parlamentarischen Abend der ACHSE. Das ist ein Dachverband
von Organisationen für Menschen mit sehr seltenen Erkrankungen. Kollege Hüppe war ebenfalls dort. Da kamen gerade solche Fragen, die wir hier heute erörtern,
zur Sprache. Da kam zur Sprache, dass bei speziellen
Behandlungen der große Aufwand nicht finanziert werden kann - so viel zum Wettbewerb - oder jetzt nicht finanziert wird.
({1})
Was halten Sie - damit komme ich zu meiner Frage von folgendem Vorschlag: Wir könnten uns vorstellen,
neben dem Kriterium der Barrierefreiheit für die Zulassung von gesundheitlichen Einrichtungen auch zusätzliche Vergütungen einzuführen. Das heißt also, es könnte
Zuschläge für Barrierefreiheit geben, indem die Menschen, die Menschen mit Behinderungen behandeln, zusätzliche Vergütungen erhalten, um einen Ausgleich für
die aufgewandte Zeit zu schaffen, zum Beispiel wenn sie
Türen öffnen, um jemanden weiterzuleiten. All das kostet Zeit. Könnten Sie sich vorstellen, dass wir gemeinsam versuchen, hier etwas auf den Weg zu bringen?
Liebe Frau Kollegin Wöllert, ich finde es immer
schön, wenn wir gemeinsam Ideen entwickeln, und ich
finde es vor allen Dingen schön, wenn mein Beitrag bei
Ihnen zur mentalen Erhellung beigetragen hat. Zumindest habe ich das so empfunden.
({0})
Aber statt an weitere Reglementierungen, die Sie jetzt
wieder vorschlagen, zu denken, wäre es schön, wenn Sie
sich vielleicht dem Gedanken annähern könnten, auf die
freie Entscheidung freiberuflicher Ärzte zu vertrauen.
({1})
- Anreize schaffen hat nicht nur etwas mit Reglementierung zu tun. - Entwickeln Sie doch auch einmal ein bisschen Vertrauen in die Betreiber der 130 000 Arztpraxen,
statt ihnen alles vorschreiben zu wollen, von der Geschäftsausstattung bis zur Infrastruktur, und am besten
danach noch zu fordern, dass der Bund all das finanziert.
Insofern ist es, glaube ich, gut, wenn wir gemeinsam
an Lösungsvorschlägen arbeiten. Ich würde mich besonders freuen, wenn Sie dabei eine gewisse Konstruktivität
an den Tag legen würden.
({2})
Herr Kollege Sorge, Sie haben so viel Begeisterung
im Publikum ausgelöst, dass die Kollegin Schulz-Asche
auch noch gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage
oder Zwischenbemerkung hätte. Aber ich mache darauf
aufmerksam: Wenn Sie dazu Ja sagen, dann wäre das die
letzte, die ich in diesem Redebeitrag zulassen würde.
Ich glaube, das wäre der Frau Kollegin Schulz-Asche
gegenüber ein bisschen unfair, ihre Zwischenfrage nicht
zuzulassen.
Aber dann sollte sich keiner mehr melden. - Danke.
Ich weiß nicht, wie viel Redezeit ich jetzt noch zusätzlich habe.
Solange Sie antworten, wird Ihre Redezeit gestoppt.
Deswegen haben Sie die Gelegenheit gehabt, Ihre Redezeit ungefähr fünf bis sechs Minuten zu verlängern; und
das reicht dann.
({0})
Danke, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Sorge, Sie können sich sicherlich vorstellen, dass gerade wir Grünen in der Vorbereitung eines solchen Antrags sehr viele Gespräche auch mit Menschen mit Behinderung führen, weil sie Experten in
eigener Sache sind. Viele der Forderungen, die von diesen Menschen erhoben werden, sind auch in unseren Antrag eingeflossen. Glauben Sie, dass Sie mit der Arroganz, mit der Sie in dieser Diskussion auf die Themen
eingegangen sind,
({0})
den Menschen mit Behinderung in unserem Land einen
Gefallen tun?
({1})
Frau Kollegin Schulz-Asche, was Sie hier wieder unterschwellig suggerieren, entspricht absolut nicht den
Tatsachen. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass
gerade den Menschen mit Behinderung viel mehr gedient wäre, wenn Sie sagen würden, was Sie sich konkret
vorstellen, statt immer nur Kataloge zu entwerfen, was
man tun sollte, müsste oder könnte, ohne dabei auch die
Realitäten im Blick zu behalten.
({0})
Sehr interessant ist auch - ich habe mir das einmal angeschaut - im Zusammenhang mit dem Thema Barrierefreiheit: Sie haben in NRW eine Gesundheitsministerin,
Frau Steffens. Wenn sie das so gut findet, dann hätte sie
das alles machen können. Aber sie ist seit 2010 im Amt,
und ich habe nicht vernehmen können, dass sie eine wie
auch immer geartete Zwangsbarrierefreiheitsverordnung oder irgendwas in der Richtung geschaffen hätte.
({1})
Deshalb fände ich es ehrlicher - Frau KleinSchmeink, ich nehme Sie ausdrücklich davon aus -, in
den Diskussionen auch zu sagen: Da ist schon etwas passiert. Weiterhin gibt es Dinge, die wir lösen müssen. Aber dann machen Sie bitte auch einen konkreten Lösungsvorschlag, statt immer nur zu kritisieren und dann,
wenn die Sprache auf Dinge kommt, die teilweise schon
in Gesetzentwürfen enthalten sind, so zu tun, als gäbe es
sie nicht.
({2})
So, das war die Antwort auf die dritte Zwischenfrage.
Jetzt beginnen Ihre letzten zwei Minuten zu laufen.
Die letzten zwei Minuten meiner Redezeit? - Gut.
Das Thema Versorgungsforschung ist auch angesprochen worden. In dem grünen Potpourri Ihres Antrags
- ich weiß, Sie mögen die Bezeichnung nicht - haben
Sie gefordert, auch da müsse mehr getan werden. Ich
weiß nicht, ob die Regelungen im Innovationsfonds völlig an Ihnen vorbeigegangen sind. Von den jährlich zur
Verfügung stehenden 300 Millionen Euro sind 75 Millionen Euro für Versorgungsforschung eingeplant.
Wenn Sie sich konkreter damit befasst hätten - ich
unterstelle einmal, dass Sie das nicht getan haben -,
dann hätte Ihnen auffallen müssen, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung schon einen Aktionsplan zur Versorgungsforschung vorgelegt hat. Es
gibt also ein konkretes Maßnahmenpaket mit punktgenauen Forderungen zum Wohle der Patienten sowohl mit
Behinderung als auch ohne. Da fließen zwischen 2015
und 2018 50 Millionen Euro. Das ist, glaube ich, keine
kleine Summe.
Meine Damen und Herren, meine Kollegin Maria
Michalk hat bereits konstatiert, dass sie zum Schluss
wieder versöhnlicher wurde. Ich hoffe, dass ich nicht unversöhnlich gewirkt habe.
({0})
Natürlich möchte auch ich versöhnlich wirken. So
möchte ich Ihnen von den Grünen zum Schluss wirklich
ein ganz großes Kompliment machen.
({1})
Denn Sie bleiben sich zumindest treu: Sie fordern in Ihrem Antrag bzw. auf Ihrem Wunschzettel erneut die Einführung der Bürgerversicherung und stellen sie als Allheilmittel dar. Sie sollten eigentlich wissen, dass die
Bürgerversicherung kein Allheilmittel ist, weder für
Menschen mit Behinderung noch für Pflegebedürftige
und auch nicht für andere Versicherte. Ich glaube, dass
diese Strukturdiskussion vollkommen fehl am Platz ist.
Ich würde es begrüßen, wenn wir die Dinge konstruktiv auf den Weg bringen würden und wenn Sie abwarten
würden, welche Wirkung der Nationale Aktionsplan im
Realisierungszeitraum von zehn Jahren entfaltet. Insofern: Hören Sie doch bitte auf, pessimistisch schwarzbzw. grünzumalen!
({2})
Lassen Sie uns gemeinsam Lösungen erarbeiten! Ihr Antrag, den Sie heute gestellt haben, stellt jedenfalls kein
passendes Mittel dar, um den Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft zu helfen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es sind
jetzt so viele Reizwörter gefallen, dass es schwerfällt, einen Einstieg zu finden. Das ist also nicht so einfach.
({0})
Herr Kollege Sorge, wir sind ja Partner in der Koalition und deshalb jetzt auch Freunde.
({1})
Trotzdem muss ich sagen, dass in Nordrhein-Westfalen
unter dem Gesichtspunkt Teilhabe bzw. Barrierefreiheit
sehr viel passiert, zum Teil umgesetzt von den Landschaftsverbänden. Ich habe aber in meinen knapp fünf
Minuten Redezeit nicht ausreichend Zeit, das alles zu
vertiefen.
Kollegin Wöllert, ich unterstütze Ihren Beitrag. Die
Kollegin Kühn-Mengel war übrigens gestern Abend
auch anwesend; das nur nebenbei.
({2})
Die Gesetzgebung für Menschen mit Behinderung hat
einen Vorlauf, an den ich noch einmal erinnern möchte,
nämlich das WHO-Konzept der Gesundheitsförderung,
das 1986 formuliert und bis heute immer weiterentwickelt wurde. Diese sogenannte Ottawa-Charta hat ja einen ganz neuen Blick auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung gerichtet. Krankheit ist danach eben nicht
nur das Fehlen von Gesundheit und umgekehrt.
({3})
Vielmehr hat Gesundheit mit vielen Faktoren zu tun, beispielsweise mit seelischen, ökonomischen und ökologischen, aber auch - damit bin ich beim Thema - mit Partizipation und der Stärkung von Gesundheitskompetenz.
Das hat uns in der Folgezeit bei Gesetzgebungsschritten
immer wieder geleitet, zumal es in der damaligen Charta
um einen weiteren wichtigen Begriff ging, nämlich das
Verringern der sozialen und der gesundheitlichen Ungleichheit. Auch das interessiert uns ja in diesem Zusammenhang. Ganz sicher ist noch nicht genug mit Blick auf
die Menschen mit Behinderung geschehen. Aber - das
kann man schon sagen - es wurde doch eine Menge bewegt.
Ich darf daran erinnern, dass nach 1998 parteiübergreifend viele Gesetze beschlossen wurden, etwa das
Gleichstellungsgesetz
({4})
oder das SGB XI - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -, dem ein wirklich emanzipatorischer
Ansatz zugrunde liegt. Das alles muss weiterentwickelt
werden.
({5})
Manches ist allerdings in der Umsetzung noch nicht so
weit. Aber all das hat Bewusstsein verändert, vor allem
der Gedanke, dass es nicht um mehr staatliche Fürsorge,
sondern um mehr Selbstbestimmung geht, und dass der
Blick nicht immer nur auf die Defizite der Menschen gerichtet werden darf, sondern auf deren Potenziale und
Ressourcen gerichtet werden muss.
({6})
Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet noch
einmal einen anderen Anspruch, den wir auch in der
Fortschreibung der Gesetze aufgreifen.
Wir müssen aber auch kritisch sagen, dass Partizipation und Potenziale manchmal - jetzt werde ich einmal
trivial - an den fünf Stufen vor dem Aufzug zur Arztpraxis enden oder an Untersuchungsgeräten, die nicht
barrierefrei sind, oder an mangelhaftem Wissen über
Krankheitsbilder und Behinderungsbilder sowie über
Alltagssituationen von Menschen. Aber nicht alles kann
die Politik regeln,
({7})
manches muss auch die Selbstverwaltung regeln und
manches auch andere Gruppen.
({8})
Wir stellen eben fest, dass auch Menschen mit Behinderung all das erleben, was die anderen Nutzer und Nutzerinnen im System erleben, nämlich ungenügende Zusammenarbeit der verschiedenen Sektoren, die nicht
immer optimale Kommunikation und zusätzliche Barrieren, architektonische, aber auch die in den Köpfen, wie
wir immer sagen.
Vor allem aber - den Eindruck habe ich aus Gesprächen, und den haben wir auch auf der Basis der kargen
Daten, die es gibt - haben wir einen speziellen Handlungsdruck etwa in der zahnärztlichen Versorgung von
Menschen mit Behinderung - da wird auch etwas verändert werden - und in der Gynäkologie. Es gibt ganze
fünf Praxen in der Bundesrepublik, die so spezialisiert
sind, dass sie den Kinderwunsch von Frauen mit Behinderung aufzugreifen in der Lage sind. Wir sehen hinsichtlich der Belange psychisch kranker Menschen und
auch bei den Menschen mit seltenen Erkrankungen Veränderungsbedarf. Das haben wir gestern Abend ja gehört.
Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz viele innovative Versorgungsformen aufgreift und stärkt und endlich auch Behandlungszentren schafft. Die Kollegin Baehrens hat das
bereits erwähnt. Hier konzentriert und bündelt sich Wissen, und das verändert die Lebenswelt der Menschen.
Außerdem gibt das Präventionsgesetz - nur ganz kurz,
Frau Präsidentin, ich sehe Ihr Signal - die Möglichkeit,
sehr stark in den Lebenswelten der Menschen etwas zu
verändern. Ist denn nicht eine Werkstatt, ist denn nicht
auch ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung ein
Setting, in dem wir betriebliche Gesundheitsförderung
stattfinden lassen können?
({9})
Da müssen die Werkstätten mitmachen.
Wir können in der Kommune gemeinsam mit den
Menschen und mit den Selbsthilfeorganisationen barrierefreie Räume schaffen. Wir können vieles umsetzen,
was wir politisch wollen, und das werden wir auch.
Der Antrag - das wurde schon gesagt - hat viel mit
einem Antrag der SPD vor einigen Jahren zu tun. Das
leitet uns bei der Politik und hat uns auch schon geleitet.
Diesen Weg werden wir fortsetzen.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Frau Kollegin Kühn-Mengel, es ist
schön, dass Sie das Signal sehen, aber in der Regel sollte
man dann auch zum Ende kommen. Auch die anderen,
die das Signal sehen, möchte ich noch einmal darauf hinweisen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 3 auf:
11 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
({0})
Drucksache 18/3699
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
Drucksache 18/4114
ZP 3 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws,
Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der kos8362
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
tenlosen Abgabe an junge Frauen ({2})
Drucksache 18/3834
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
Drucksache 18/4116
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Gabriele
Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
({4})
Vielleicht können die notwendigen Gespräche außerhalb des Saales geführt werden, damit die Kollegin
Hiller-Ohm Ihre ganze Aufmerksamkeit hat.
Bitte schön.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir
heute gemeinsam ein ganz besonderes Gesetz auf den
Weg bringen werden. Im Kern geht es um die Vereinfachung und Verbesserung der Meldeverfahren in der sozialen Sicherung. Keine große Sache, könnte man meinen. Das Ausmaß wird jedoch deutlich, wenn man sich
vor Augen hält, welch riesige Mengen an Formularen
zwischen Arbeitgeberinnen, Arbeitgebern, Bürgerinnen
und Bürgern, den Krankenkassen, den Pflegekassen, der
Rentenversicherung, den Unfallkassen und der Arbeitslosenversicherung hin- und hergeschickt werden.
400 Millionen Meldevorgänge kommen so in nur einem
einzigen Jahr zustande.
Stellen Sie sich einmal vor, jede dieser Meldungen
würde nur ein einziges DIN-A4-Blatt umfassen. Es
würde eine 120 000 Kilometer lange Papierschlange entstehen, die man dreimal um die Erde wickeln könnte.
Christo würde sich vielleicht freuen. Wir kündigen diesen Papier- und Datenmengen jedoch mit geballter parlamentarischer Kraft den Kampf an.
({0})
Wie ernst es uns damit ist, meine Damen und Herren, erkennen Sie schon daran, dass wir bis zur letzten Minute
um weitere Verbesserungen gerungen und sie in den Gesetzentwurf aufgenommen haben.
({1})
16 engbeschriebene Seiten mit zusätzlichen guten Vorschlägen sind seit der Expertenanhörung Anfang Februar
noch als Änderungsantrag hinzugekommen.
Zum Beispiel machen wir das Leben der vielen Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer leichter. Sie
müssen jetzt nicht mehr täglich in ihren Computer
schauen, ob Meldungen von den Sozialversicherungen
für sie vorliegen. Einmal die Woche ist genug.
({2})
Endlich ist auch Schluss mit veralteten Papierformularen beim Nachweis von Löhnen für die Unfallversicherung. Das funktioniert demnächst per Mausklick.
Unsere Kraftanstrengung zahlt sich in barer Münze
aus. Fast 200 Millionen Euro und Berge an Bürokratie
werden mit dem vorliegenden Gesetz Jahr für Jahr eingespart.
({3})
Solche Entlastungsgesetze, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir wirklich viel öfter machen.
({4})
Nun ist es aber nicht so, dass wir uns mit der Entrümpelung und Modernisierung der Meldeverfahren zufriedengegeben hätten. Nein, uns hat dieser Gesetzentwurf
geradezu beflügelt, auch in anderen Bereichen nach Verbesserungen zu suchen und sie gleich mit umzusetzen.
So sorgen wir jetzt für Rechtssicherheit beim Unfallversicherungsschutz, zum Beispiel für die vielen deutschen Ebolahelferinnen und -helfer.
({5})
Das, meine Damen und Herren, ist ein kleines Dankeschön von uns an diese tollen Heldinnen und Helden.
({6})
Im Rentenrecht verbessern wir die Situation für unsere Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland wertvolle
Entwicklungsarbeit leisten.
Sehr wichtig ist mir, dass wir den rezeptfreien Zugang
zur sogenannten Pille danach durchgesetzt haben.
({7})
Heute regeln wir, dass junge Frauen unter 20 Jahren die
Pille danach auch zukünftig kostenlos erhalten können.
({8})
Die Grünen haben genau zu diesem Thema einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ziehen Sie ihn zurück! Wir haben das bereits
erledigt.
({9})
Wer nun meint, liebe Frau Präsidentin, das war’s mit
unserer Schaffenskraft, der irrt gewaltig. Wir haben auch
an unsere Jugendlichen gedacht. Mein Kollege Michael
Gerdes wird gleich noch darauf eingehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin begeistert
von diesem gewaltigen Kraftakt, den wir heute unter Beweis stellen.
({10})
Ich bedanke mich bei den vielen Müttern und Vätern
dieses Gesetzes und hoffe, dass uns auch zukünftig vergleichbar Gutes gelingen wird.
({11})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Selten waren von einem Gesetzentwurf so viele
unterschiedliche Menschen betroffen wie von diesem.
Ursprünglich ging es um einfachere, computergestützte
Meldeverfahren zwischen den Unternehmen und den Sozialversicherungsträgern; Kollegin Hiller-Ohm hat darüber eben gesprochen. Aber jetzt sind zum Beispiel
auch betroffen: die volljährige Waise, das junge Paar, bei
dem es einen Verhütungsunfall gab, der Schulabgänger
ohne Hauptschulabschluss, der jetzt eine berufliche Ausbildung anstrebt, und die langzeitarbeitslose Verkäuferin, die vom Jobcenter in das Programm „Soziale Teilhabe“ aufgenommen werden wird. Diese Liste der
Betroffenen ließe sich übrigens beliebig verlängern.
Aber all diese Menschen haben überhaupt gar keine
Chance, die parlamentarischen Beratungen auch nur im
Ansatz nachzuvollziehen. Warum? Weil die Bundesregierung ohne erkennbaren Grund sachlich völlig unzusammenhängende Gesetzesänderungen in ein sogenanntes
Omnibusgesetz gepackt hat. Transparenz, Bürgernähe
und gute Debattenkultur, meine Damen und Herren von
der Koalition, kriegen Sie mit einem Sammelsuriumgesetz wie diesem nicht hin. Darum, meine Damen und
Herren, lehnen wir Linken ein solches Omnibusverfahren grundsätzlich ab.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD, schauen wir uns dennoch einmal Ihren bunten
Strauß an Gesetzesänderungen an!
({1})
Zuerst die guten Punkte:
({2})
Erstens. Sie verbessern den Unfallversicherungsschutz für die Ebolahelferinnen und Ebolahelfer. Das ist
gut.
({3})
Zweitens. Es ist gut, dass Sie Waisen, die in einer
Ausbildung sind, die Waisenrente künftig nicht mehr
kürzen wollen, auch wenn ihr Einkommen oberhalb von
500 Euro liegt. Gut!
({4})
Drittens. Sie strukturieren die assistierte Ausbildung
für höchstens 10 000 sozial- und bildungsbenachteiligte
Jugendliche neu. Das ist zwar ein richtiger Schritt,
({5})
aber er ist viel zu klein angesichts von 260 000 Jugendlichen, die in Übergangsmaßnahmen stecken statt in einer
ordentlichen Ausbildung. Und: Dieses befristete Programm wird von der Bundesagentur für Arbeit und von
den Jobcentern finanziert. Die Arbeitgeber müssen keinen Cent dazubezahlen, und das, meine Damen und Herren, ist ungerecht.
({6})
Aber wenn es den Jobcentern und den Arbeitsagenturen
wirklich gelingen sollte, 10 000 Jugendliche in eine ordentliche Ausbildung zu bekommen, dann wäre das richtig und gut.
Meine Damen und Herren, kommen wir zur Pille danach. Zehn Jahre hat der peinliche Eiertanz um die Pille
danach gedauert,
({7})
zehn Jahre auf dem Rücken von jungen Frauen, die nach
einem Verhütungsunfall Angst vor einer ungewollten
Schwangerschaft haben. Nun ist er zu Ende, und die Verschreibungspflicht für die Pille danach wird endlich abgeschafft. Das findet die Linke gut.
({8})
Aber warum ist der Eiertanz zu Ende? Zu Ihrem Vergnügen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
zitiere ich die FAZ von gestern:
Die „Pille danach“ ohne ärztliche Beratung würde
er
- gemeint ist Gesundheitsminister Hermann Gröhe gern verhindern, kann es aber gegen das Votum der
EU nicht.
Stimmt! Deshalb sollten die Bundesregierung und die
Koalition sich bei diesem Thema auch nicht vor Stolz
auf die Brust klopfen; denn dafür gibt es keinen Grund.
({9})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem besonders kritischen Punkt kommen. Frau Staatssekretärin
Lösekrug-Möller, Langzeiterwerbslose, die demnächst
über das neue Programm „Soziale Teilhabe“ einen Job
erhalten, sollen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I
erwerben dürfen. Das heißt auf Deutsch: Wenn die Teilnehmenden nach der Maßnahme keinen regulären Job
auf dem ersten Arbeitsmarkt ergattern, dann schicken
Sie sie sofort wieder zurück in Hartz IV. Diesen Drehtüreffekt in Hartz IV lehnen wir Linken ab.
({10})
Ja, wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse. Aber sie müssen gleichwertig und voll sozialversicherungspflichtig sein.
Meine Damen und Herren, unter dem Strich finden
sich in Ihrem bunten Strauß von Gesetzesänderungen einige wenige rote Rosen,
({11})
manche Nachtschattengewächse, viele Zwiebelblüten
und eine Distel. Deswegen enthalten wir uns bei Ihrem
Gesetzentwurf.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Gabriele Schmidt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bürokratieabbau, Rechtsklarheit, Rechtssicherheit und vor allem Entlastung für
die Arbeitgeber - das ist nicht wenig, was wir mit dem
SGB-IV-Änderungsgesetz vorhaben.
Das Formular- und Meldewesen durchdringt die tägliche Arbeit aller Unternehmen bis zur kleinsten Firma.
Das ist kein Wunder bei den schon geschilderten
400 Millionen Meldevorgängen jährlich im Bereich der
sozialen Sicherung. Die Informationspflichten sind da,
müssen auch weitestgehend sein. Aber durch optimierte
und vereinfachte Meldeverfahren wollen und werden wir
die Arbeitgeber entlasten. Das steht in diesem Gesetz
und den Änderungsanträgen.
Die Verbesserung technischer und organisatorischer
Abläufe in den elektronischen Meldeverfahren zwischen
Sozialversicherungsträgern und Arbeitgebern wird die
Bürokratiekosten im dreistelligen Millionenbereich senken.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf fußt auf den Ergebnissen
der gemeinsamen Projektarbeit OMS, an der sich alle
beteiligten Praktiker und Anwender eingebracht haben.
Welche konkreten Änderungen und Verbesserungen
gibt es, die von der CDU/CSU-Fraktion und dem Koalitionspartner angestoßen worden sind? Den täglichen Datenabgleich, der von meinem Kollegen StrengmannKuhn in der ersten Lesung kritisiert worden ist, haben
wir in eine wöchentliche Abruffrist umgewandelt.
({1})
Die kleinen Arbeitgeber werden dadurch sinnvoll entlastet. Die wöchentliche Abruffrist führt auch nicht zu einer
Verschlechterung des Meldewesens.
({2})
Überaus wichtig und richtig sind die Änderungen im
Rentenrecht, zum Beispiel die Angleichung des Waisenrentenrechts an das Steuer- und Kindergeldrecht, Herr
Schiewerling. Der Wegfall der Einkommensanrechnung
führt bei volljährigen Waisen definitiv zur Verwaltungsvereinfachung. Ich erinnere mich gut: Wie Kollegin
Hiller-Ohm habe auch ich zwei Waisenkinder, die als
Studenten gearbeitet haben, was einen ziemlichen Papierkrieg zwischen dem Schwarzwald und der Berliner
Rentenzentrale ausgelöst hat.
Weitere Änderungen gibt es beim elektronischen
Lohnnachweis. Anstatt einer anlassbezogenen Sozialversicherungsmeldung erstellt der Unternehmer einen
jährlichen Lohnnachweis und übermittelt die Daten direkt an den Unfallversicherungsträger. Ob das mit einem
einfachen Mausklick getan ist, wage ich zu bezweifeln.
Es wird aber auf jeden Fall ein vereinfachtes Verfahren
sein. Diese Methode beugt natürlich Fehlern vor und reduziert den zeitlichen und damit finanziellen Aufwand
für die Arbeitgeber ganz erheblich.
Beim Omnibusgesetz - unabhängig davon, ob das beliebt ist oder nicht - habe ich noch weitere Änderungen
zu kommentieren. Ein aktuelles Thema, das die ganze
Welt in Atem hält, ist die Ebolafieberepidemie in Westafrika, bei der es bereits über 9 000 Tote gegeben hat.
Hier haben sich viele freiwillige Helfer aus Deutschland
bereitgefunden, ehrenamtlich helfend einzugreifen. Für
diese stillen Helden wollen wir den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz ausweiten, bis zur geplanten Schaffung einer UVB-eigenen Auslandsversicherung.
({3})
Die Pille danach ist auch schon erwähnt worden. Sie
ist aufgrund einer Entscheidung der EU-Kommission
nicht mehr verschreibungspflichtig. Es soll aber die Kostenübernahme durch die Krankenkassen für junge
Frauen im Alter bis zu 20 Jahren fortgeführt werden. Ein
Werbeverbot soll eingeführt werden. Das halte ich für
vollkommen richtig.
({4})
Gabriele Schmidt ({5})
Auch der Deutsche Apothekerverband und der GKVSpitzenverband haben bei einer Anhörung im Februar
die Sinnhaftigkeit dieses Werbeverbots bestätigt. Wir
wollen der Gefahr einer unsachgemäßen Selbstmedikation entgegenwirken. Das Selbstbestimmungsrecht von
jungen Frauen wird nicht tangiert. Das respektieren wir,
aber es geht um die Gesundheit von jungen Frauen. Die
Pille danach ist eine Notfallverhütung und soll es auch
bleiben.
({6})
Die letzte wichtige Änderung ist die Einführung des
Instruments der assistierten Ausbildung. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, Chancen der assistierten Ausbildung zu nutzen. Sie ist ein wichtiger Baustein neben
den sogenannten ausbildungsbegleitenden Hilfen. Mit
dem neuen, befristeten Instrument der assistierten Ausbildung sollen lernbeeinträchtigte und sozial benachteiligte junge Menschen eine individuelle und kontinuierliche Unterstützung erhalten und zum erfolgreichen
Abschluss einer betrieblichen Berufsausbildung im dualen System geführt werden.
Ja, das ist ein Instrument, das für die Ausbildung im
dualen System in Betrieben eingerichtet wird, wo die
weit überwiegende Zahl der Berufsausbildungen stattfindet. Selbst auf eine Ausbildung in einer Vollzeitschule,
etwa bei Erzieherinnen und Erziehern, bei Altenpflegerinnen und Altenpflegern, folgt - jedenfalls in meinem
Bundesland Baden-Württemberg - zwingend eine Anerkennungszeit in einer entsprechenden Einrichtung. Diese
Ausbildungen sind also auch dual.
Das Instrument soll in besonderer Weise den Arbeitgebern dienlich sein. Wir wollen auch den Arbeitgebern
Unterstützung zur Seite stellen, nicht nur den jungen
Menschen. Damit werden die Erfolgschancen für beide
Seiten verbessert. Die Betriebe sind wichtig für den Erfolg; das dürfen wir nicht vergessen. Wir wollen auch
neue Betriebe ermuntern, ihrer Verantwortung und ihrem
Ausbildungsauftrag gerecht zu werden. Daher haben wir
uns auf die duale Ausbildung konzentriert.
Der Paritätische Gesamtverband sammelt seit Jahren
Praxiserfahrungen mit der assistierten Ausbildung in
meinem Bundesland Baden-Württemberg, von 2004 bis
2008 im Rahmen des Projekts „diana“, seit 2008 im darauffolgenden, umfassenderen Projekt „carpo“. Beide
Projekte wurden von CDU-geführten Landesregierungen
initiiert. Bei der bundesweiten gesetzlichen Verankerung
können wir jetzt von dieser langjährigen Praxiserfahrung
profitieren.
Noch eine Stimme aus der Praxis: Norbert Sedlmair,
der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für
Arbeit in Lörrach, die für einen Teil meines Wahlkreises
zuständig ist, hat mir bestätigt, dass assistierte Ausbildung eine sinnvolle Ergänzung des bereits vorhandenen
Instrumentariums ist, und das in einem Bezirk, der seit
Jahren die zweitniedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz
Deutschland hat.
Dank der Bemühungen und des Einsatzes der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird der Personenkreis nun erweitert, was wir
für sehr sinnvoll erachten.
({7})
Der Wunsch nach einer Erweiterung der Zielgruppe
wurde übrigens in der schon erwähnten Anhörung auch
vom DGB geäußert.
({8})
- Und die SPD findet es auch gut. Sehr gut, wir sind uns
einig.
Unser erstes Ziel ist die Erweiterung der Zielgruppe
um junge Menschen mit einem Abschluss und ältere Jugendliche mit Vermittlungshemmnissen und sogenannter
geringer Affinität zur Berufsausbildung. Dies betrifft
junge Menschen, bei denen vielleicht ein Elternteil gestorben ist, eine Beziehung in die Brüche gegangen ist
oder es einen Drogenabsturz gab; selbst alleinerziehende
Frauen und Männer sind davon betroffen. Vielleicht
muss eine zweite Ausbildung gemacht werden. All diejenigen werden jetzt von diesem Programm erfasst. Sie
können eine betriebliche Ausbildung beginnen, fortsetzen oder erfolgreich zu Ende bringen, sofern Landeskonzeptionen existieren und Dritte sich mindestens mit
50 Prozent an der Förderung beteiligen; ich komme
gleich darauf zu sprechen.
Unser zweites Ziel ist die Schaffung eines angemessenen und offen gestaltbaren konzeptionellen Rahmens,
um auf individuelle Lebenslagen, Unterstützungsbedarfe
und Vermittlungshemmnisse eingehen und mit jeweils
adäquaten Angeboten flexibel reagieren zu können.
Auch dieses Ziel wird erreicht.
Das dritte Ziel ist die Öffnung der Gestaltungs- und
Finanzierungsoptionen für Dritte. Ich meine, die Länder
und Kommunen haben genauso wie wir ein vitales Interesse daran, dass kein Jugendlicher verloren geht. Die
Wirtschaft wird sich ebenfalls an der assistierten Ausbildung beteiligen - sie sucht doch händeringend nach
Fachkräften. Einige IHKs und Handwerkskammern haben hier bereits entsprechende Signale gesetzt. Das sollten bitte auch Sie zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege
Birkwald.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stellen die assistierte Ausbildung auf solide Füße; das wollen wir mit
diesem Gesetz erreichen. Der Start erfolgt bereits zum
nächsten Lehrjahr 2015/16.
Mein letzter Punkt. Eine weitere Änderung - darüber
freue ich mich besonders; ich möchte es hervorheben ist die Aufnahme der assistierten Ausbildung in den
Leistungskatalog des § 115 SGB III. Dort geht es um die
Förderung der Berufsausbildung und damit Teilhabe junger Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben. Die assistierte Ausbildung stellt eine weitere wichtige Möglichkeit zur Förderung inklusiver Berufsausbildung im
Betrieb für Menschen mit Behinderung dar. Sie ist damit
eine Alternative zu einer außerbetrieblichen Ausbildung
Gabriele Schmidt ({10})
oder zur beruflichen Bildung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Damit greifen wir ein ganz
wichtiges Ziel des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf.
Alles in allem ist das ein gelungener Abschluss eines
Gesetzgebungsverfahrens. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. Das war eine punktgenaue Landung. Nächste Rednerin ist Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Birkwald hat recht: Dieses Omnibusgesetz enthält ein
ganzes Konglomerat von unterschiedlichen Regelungen. Ich will hier zu zwei Punkten etwas sagen: erstens
zur assistierten Ausbildung und zweitens zur Pille danach.
Frau Schmidt, wir halten die assistierte Ausbildung
für ein sinnvolles Instrument. Deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf auch zustimmen. Ich will hier aber
betonen: Angesichts von 1,5 Millionen Menschen unter
35 Jahren ohne berufsqualifizierenden Abschluss ist die
assistierte Ausbildung in dem angestrebten Umfang natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein und kann
nicht ausreichen.
({0})
Angesichts der Tatsache, dass wir in den Betrieben eine
historisch niedrige Ausbildungsquote haben, ist es das
Minimum, was Sie tun müssen. Aber es ist ein Schritt in
die richtige Richtung.
Sie haben jetzt - nicht auf Ihre eigene Initiative hin,
Frau Schmidt, sondern nach einer massiven Kritik der
Sachverständigen bei der Anhörung - jedenfalls formal
eine Ausweitung der Zielgruppe vorgenommen. Das finden wir richtig. Ich finde es richtig, dass jetzt nicht nur
sozial benachteiligte oder lernbehinderte Jugendliche davon profitieren, sondern dass es eine Ausweitung auf die
Gruppe gibt, deren Angehörige aufgrund besonderer Lebenslagen, wie Sie es nennen, Schwierigkeiten haben,
eine Ausbildung durchzuhalten oder zu beginnen.
Warum aber setzen Sie dann die Hürden so verdammt
hoch? Die Voraussetzungen für die Angehörigen dieser
Gruppe, dass sie von diesem Instrument profitieren,
sind: Erstens. Sie müssen in einem Bundesland leben,
das ein eigenes Landeskonzept hat, welches diese besonderen Lebenslagen konkretisiert. Zweitens. Es muss eine
eigene Landeskonzeption für diese assistierte Ausbildung geben. Drittens. Es muss einen Dritten geben, der
mindestens 50 Prozent gegenfinanziert. Meine Damen
und Herren, jetzt seien Sie doch einmal ehrlich: Das ist
eher ein Verhinderungsprogramm, als dass es tatsächlich
mehr Jugendliche in die Ausbildung bringt.
({1})
Was ich - auch nach Ihrem Beitrag, Frau Schmidt überhaupt nicht verstehe: Warum sollen Jugendliche, die
eine vollzeitschulische Ausbildung machen, davon nicht
profitieren? Das ist ein Drittel aller Auszubildenden.
Glauben Sie wirklich, dass es in dieser Gruppe keine sozial Benachteiligten, keine Lernbehinderten oder keine
Jugendlichen gibt, die sich in besonders schwierigen Lebenslagen befinden? Also, es macht wirklich keinen
Sinn, so hohe Hürden zu setzen und diese Gruppe auszuschließen. Das kritisiere ich noch einmal ausdrücklich.
({2})
Ich habe es schon in der Ausschussberatung gesagt:
Bitte legen Sie an dieses Instrument nicht die Ausschreibungsregelung der BA an. Wenn Sie das tatsächlich machen, werden Sie in der assistierten Ausbildung weder
Qualität noch Kontinuität sicherstellen. Damit machen
Sie ein sinnvolles Instrument kaputt.
Jetzt noch ein paar Sätze zu der Pille danach. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU - Herr
Birkwald hat es schon gesagt -: Zehn Jahre lang haben
Sie aus rein ideologischer Verbohrtheit verhindert, dass
Frauen auch in Deutschland - wie in anderen europäischen Ländern - nach einer Verhütungspanne oder - viel
schlimmer noch - nach einer Gewaltanwendung einen
schnellen und unkomplizierten Zugang zu der Pille danach bekommen. Sie haben damit das Selbstbestimmungsrecht der Frau behindert.
({3})
Frau Hiller-Ohm, Sie brauchen es sich überhaupt
nicht an die Brust zu heften, dass sich das jetzt ändert.
Das haben die Frauen nicht etwa einem Sinneswandel
der Großen Koalition zu verdanken - da hat die CDU/
CSU nämlich eine interessensgeleitete Einsichtsbarriere -,
({4})
sondern das haben Sie ausschließlich der Europäischen
Kommission zu verdanken.
({5})
Ich sage Ihnen: Wie gut, dass Deutschland ein Teil Europas ist; denn wenn sich die Frauen auf Sie verlassen
müssten, dann wären sie verlassen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Michael Gerdes das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
drei Minuten, in denen ich auch auf die assistierte Ausbildung eingehen will. Frau Pothmer, Sie behaupten, die
Sache mit der Pille danach ist nur auf Ihrem Mist gewachsen - wenn ich das so formulieren darf -, aber das
ist falsch. Auch die SPD hat einiges dafür getan.
({0})
Ich kann mich an viele Diskussionen erinnern, die wir
geführt haben, und auch an viele Probleme, die an uns
herangetragen wurden. Von daher war das auch unser
Verdienst.
In der Politik sind wir gut, wenn wir Chancen eröffnen und Wege ebnen. Das tun wir mit dem vorliegenden
Gesetzesentwurf. Er beinhaltet nämlich unter anderem
das Instrument der assistierten Ausbildung. Dahinter
verbergen sich umfangreiche Hilfen für benachteiligte
junge Menschen. Von daher würde ich das nicht ganz so
negativ sehen, Herr Birkwald. Es geht um verstärkte Berufsorientierung, Hilfe bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, Hilfe beim Lernen und auch um sozialpädagogische Begleitung. Das sind aus meiner Sicht sehr
sinnvolle Hilfestellungen. Schließlich wissen wir alle:
Ausbildung ist ein Schlüssel zum Erfolg. Junge Menschen müssen von Anbeginn an alle Chancen auf Bildung erhalten, damit sie gar nicht erst von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
({1})
Deswegen sage ich: Wenn wir heute gut ausbilden, sichern wir die Fachkräftebasis von morgen. Wir sprechen
also auch über Arbeitsförderung und über Fachkräftesicherung.
({2})
- Ja, 10 000 Plätze mögen zu wenig sein, aber es ist ein
erster Schritt.
Erste Erfahrungen mit der assistierten Ausbildung haben wir zum Beispiel in Baden-Württemberg gemacht;
übrigens ESF-finanziert, das möchte ich dazusagen. Sie
machen uns Mut. Sozialförderungsbedürftige junge
Menschen haben es leichter, in eine betriebliche Ausbildung zu kommen, wenn sie kontinuierlich und gezielt
begleitet werden, und das tun wir.
Ich will übrigens nicht die außerbetriebliche Ausbildung diskreditieren, aber unsere Stärke ist gerade das
duale Ausbildungssystem. Das Lernen im laufenden Betrieb, praxisorientiert, macht viel aus, und dabei sollte es
bleiben.
({3})
Im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens habe ich
etwas Wichtiges gelernt: Ein Und kann auch ein Oder
sein,
({4})
und in diesem Fall lege ich Wert auf das Oder. Damit erweitern wir die Zielgruppe für die assistierte Ausbildung
für diejenigen, die dafür infrage kommen. Wir können
damit also recht vielen ausbildungswilligen Jugendlichen eine Brücke bauen. Lernbeeinträchtigte junge Menschen sollen ebenso wie sozial benachteiligte junge
Menschen unterstützt werden. Das Angebot der assistierten Ausbildung gilt zunächst - das haben wir gerade
schon gehört - von 2015 bis 2018. Das entspricht dem
Zeitraum, den wir für die Allianz für Aus- und Weiterbildung vereinbart haben.
({5})
Für die praktische Arbeit vor Ort brauchen die Mitarbeiter in den Agenturen, die Lehrer und Sozialpädagogen an den Schulen, die Betriebe und selbstverständlich
auch die Jugendlichen selbst klare Konzepte. Es muss
schlüssig und transparent werden, wer wann was und
wen fördert. Langfristig ist ein vergleichbares, gleich gutes Angebot für alle, die sich am Übergang von der
Schule zur Ausbildung befinden, wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
ein Omnibusgesetz, in dem eine Menge drinsteckt. Leider steckt nicht drin die Modernisierung der Sozialwahlen. Wir hätten gerne den Weg dafür freigemacht. Leider
ist dieser Omnibus ohne die Selbstverwalter abgefahren.
Ich hoffe, dass - auch wenn es aktuell nicht absehbar
ist - das Ziel einer starken Selbstverwaltung erreicht
wird. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank und Glückauf!
({6})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/4114, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/3699 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/
CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke in dritter Beratung angenommen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Zusatzpunkt 3. Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entlassung der
Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der kostenlosen Abgabe an junge Frauen.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4116, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3834 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Aufhebung des Betätigungsverbots für die
Arbeiterpartei Kurdistans PKK und Streichung der PKK von der EU-Terrorliste
Drucksache 18/3575
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste vom Kurdischen Nationalkongress auf der Besuchertribüne!
({0})
Die heutige Debatte über das PKK-Verbot ist längst
überfällig. Es ist nach über 20 Jahren an der Zeit, Bilanz
zu ziehen und den Weg des Dialogs zu gehen. Zu den
Folgen des Verbots gehören Tausende Strafverfahren,
Razzien, Vereins- und Versammlungsverbote. Allein in
den letzten zehn Jahren gab es bundesweit 4 500 Straftaten mit PKK-Bezug.
({1})
Dabei handelt es sich in der Masse eben nicht um Gewaltdelikte, Herr Kollege. Es geht um Spenden, um verbotene Symbole und Parolen.
({2})
Auslöser von Polizeieinsätzen bei Demonstrationen sind
oft PKK-Fahnen oder Bilder von Öcalan. In der Türkei
werden diese übrigens längst gezeigt. Das ist doch wirklich absurd.
({3})
Ein Großteil der fast 1 Million Kurden in Deutschland
sieht sich infolge des PKK-Verbots von Grundrechtseinschränkungen und Kriminalisierung, von Diskriminierung, Ausgrenzung und Misstrauen betroffen. Durch das
PKK-Verbot wurde in der hiesigen Gesellschaft ein Negativbild von Kurden erzeugt, mit gravierenden Folgen
im Alltagsleben. Tausenden Flüchtlingen wurde das
Asyl wieder aberkannt. Tausende hier aufgewachsene
Jugendliche werden nicht eingebürgert, weil sie sich für
die Rechte der Kurden einsetzen.
Ein Beispiel ist die junge Kurdin Sultan Karayigit,
besser bekannt als Leyla. Zu ihrem 18. Geburtstag bekam sie, die seit acht Jahren bei ihrer Familie in Nürnberg lebte, einen Ausweisungsbescheid. Sie sei - ich zitiere - „eine abstrakte Gefahr“. Straftaten hat diese junge
Frau nie begangen. Aber als Jugendliche beteiligte sie
sich an kurdischen Demonstrationen und war in einem
Kurdenverein aktiv. Aufgrund von Aufenthaltsbeschränkungen verlor Leyla zwei Ausbildungsstellen. Sie
musste in Deutschland Asyl beantragen. Nach vier Jahren wurde Leyla schließlich als Flüchtling anerkannt - in
Deutschland, wo sie seit ihrer Kindheit lebt. Das zeigt,
dass das PKK-Verbot auch ein Hindernis bei der Integration ist.
({4})
Die Entstehung der PKK war eine Reaktion auf die
jahrzehntelange blutige Unterdrückung der Kurden in
der Türkei und auf das Verbot ihrer Sprache und Kultur.
Das PKK-Verbot in Deutschland wurde wiederum mit
Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei begründet.
Doch heute verhandelt die Türkei mit dem PKK-Chef
Öcalan über eine politische Lösung. Die Waffen schweigen seit zwei Jahren weitgehend.
({5})
Die Aufhebung des PKK-Verbots wäre ein wichtiges
Signal an Ankara, den Friedensprozess weiterzuentwickeln.
({6})
Meine Damen und Herren, im Nahen Osten kämpft
die PKK heute gemeinsam mit Peschmerga und syrischen Kurden gegen die Massenmörder des sogenannten
„Islamischen Staates“. Die PKK und ihre Verbündeten
haben dadurch Hunderttausenden das Leben gerettet, unter anderem vielen Jesiden.
({7})
Selbst Herr Kauder dachte laut darüber nach, der
PKK Waffen zu liefern. Doch in Deutschland wird jede
Sympathiekundgebung für die PKK weiterhin strafrechtUlla Jelpke
lich verfolgt. Außerdem steht die PKK auf der EUTerrorliste. Mit dieser Doppelmoral muss endlich
Schluss sein!
({8})
Wer die Kurden im Nahen Osten als Partner umwirbt,
sollte ihnen auch in Deutschland die Hand zum Dialog
reichen. Deswegen muss das PKK-Verbot endlich aufgehoben werden.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege
Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die PKK wurde 1993 durch den Bundesminister
des Innern verboten. Vorausgegangen war eine ganze
Reihe schwerer Straftaten, Autobahnblockaden und Gewaltaktionen, bei denen viele Polizeibeamte verletzt
wurden; das weiß ich deshalb so genau, weil ich als junger Polizeibeamter bei solchen Einsätzen selber dabei
war. Das Verbot wurde in den Folgejahren bestätigt,
auch 2004 beim Verbot einer Teilorganisation. Allein
seit 2004 gab es - Sie haben es selber gesagt, Frau
Jelpke - mehr als 4 500 Strafverfahren gegen Anhänger
der PKK.
({0})
Angesichts dieser Menge und angesichts des Verbotes
noch im Jahr 2004 halte ich Ihre Forderungen, das PKKVerbot aufzuheben, die PKK von der EU-Terrorliste zu
streichen und eine Amnestie für alle in der Vergangenheit ermittelten Straftäter zu erwirken, für wirklich nicht
realistisch. Das ist rundherum abzulehnen.
({1})
Ich habe Ihren Antrag genau gelesen. Sie sind in Ihrer
Rede aber gar nicht so sehr auf Ihren Antrag eingegangen. In Ihrer Rede haben Sie sich mehr auf Einzelfälle
konzentriert. Ich werde mich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen. Entscheidend ist doch, ob die PKK auf
dieser Wegstrecke irgendwann von ihrer Agenda, die
sich gegen die Völkerverständigung richtet, abgerückt
ist. Dazu gibt es ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2012 - das ist also noch nicht so
lange her -, in dem festgestellt wurde, dass sich die PKK
von ihrer Ideologie und ihrer Agenda her unverändert
gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet.
({2})
Deshalb kann es nicht in Betracht kommen, dass wir das
Verbot aufheben.
Ein weiterer Punkt ist: Sie heben stark auf die außenpolitischen Argumente ab. Es ist wahr, dass sich die
Ereignisse in Syrien überlagern; aber das allein kann
keine Rechtfertigung sein.
Herr Kollege Binninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung der Kollegin Jelpke?
Ja, gestatte ich.
Bitte schön.
Danke, Herr Kollege. - Wenn Sie sagen, die PKK
verstoße gegen den Gedanken der Völkerverständigung,
bzw. das Gerichtsurteil zitieren, würde ich Sie bitten,
doch einmal zu konkretisieren: Was sind die konkreten
Fakten Ihrer Meinung nach, die dazu geführt haben, dass
dieses Urteil so gefallen ist?
Weil im Prinzip nicht erkennbar ist, dass die PKK von
ihrer bisherigen Ausrichtung glaubhaft und dauerhaft abrückt.
({0})
Das war wohl die Grundlage auch für dieses Urteil. Ich
kenne es im Detail nicht; aber entscheidend ist, dass es
ein Urteil gibt, das aus jüngster Zeit stammt und das wir
nicht übergehen können.
({1})
Der Punkt ist: Wir können doch nicht so tun, als ob sich
alles geändert hätte, wenn ein höchstes deutsches Gericht dies anders bewertet. Man muss das doch zumindest einbringen.
({2})
So, jetzt möchte noch die Kollegin Dağdelen eine
Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die auch?
Ja, ich gestatte alle Zwischenfragen.
Vielen Dank. Mein Kollege Birkwald sagt: netter
Kollege. - Das kann ich nur bestätigen aus der Arbeit im
Innenausschuss.
Man kann trotzdem unterschiedlicher Meinung sein.
Ja, das kann man, Herr Binninger. - Ich möchte Sie
trotzdem fragen, was Sie unter Völkerverständigung verstehen. Nehmen Sie vielleicht zur Kenntnis, dass es die
PKK war, die sich sehr erfolgreich gegen den barbarischen „Islamischen Staat“ gestellt hat, Jesiden gerettet
hat, Christen gerettet hat, Aramäer gerettet hat, andere
Minderheiten in der Region gerettet hat? Wenn das nicht
konkrete Völkerverständigung ist, was, bitte, verstehen
Sie dann unter Völkerverständigung?
({0})
Ich wäre sowieso noch darauf eingegangen. Jetzt
müsst ihr euch ein bisschen verständigen: Wenn ich jedem eine Frage gestatte, dauert das. Ich mache das
- kein Problem -; aber es dauert dann halt.
({0})
Ich bin darauf eingegangen, und ich wäre auch in der
Folge noch darauf eingegangen: Natürlich kann man die
aktuelle Entwicklung und die Überlagerung der Ereignisse in Syrien nicht ausblenden; das wäre unredlich. Es
ist dort unten ein schreckliches Kriegsgebiet, wo eine
Terrorarmee - des IS - Schrecken verbreitet und Verbrechen begeht, die wirklich unfassbar sind. Wenn dort Parteien sich gegen diese Terrorarmee stellen, wer wollte
dagegen jetzt etwas sagen! Aber ich frage Sie ernsthaft:
Kann man aus dieser Völkerverständigung, die in dem
Fall ja eher Waffenhilfe bedeutet,
({1})
ableiten - das ist doch der Punkt -, dass die PKK ihre
Ideologie, ihre Agenda komplett geändert hätte?
({2})
Das halte ich für nicht zulässig, und das ist, glaube ich,
auch nicht ausreichend.
Jetzt würde ich gern fortfahren; vielleicht erklärt sich
manches.
Wieso bleiben Sie stehen, Frau Kollegin Dağdelen? Herr Binninger, Sie waren fertig?
Ich war fertig und in Erwartung der nächsten Frage.
Okay, dann hat jetzt die Kollegin Leidig noch die
Chance, etwas zu sagen, und dann geben wir dem Kollegen Binninger bitte die Chance, seine Rede zu Ende zu
führen.
({0})
So lange können 2 Minuten 31 Sekunden dauern.
Ich habe mich jetzt nur gemeldet, weil Sie gesagt haben, Sie sind offen dafür. Ich möchte jetzt weniger eine
Frage stellen, sondern eigentlich eine Kurzintervention
machen. Und zwar finde ich es bedeutsam, dass spätestens seit Mai 2013, als Öcalan aus dem Gefängnis heraus
eine sehr bedeutsame Friedensbotschaft gesendet hat,
sich die Situation in der Türkei selber grundlegend verändert hat. Die Friedensgespräche zwischen Öcalan und
Erdogan finden statt. Wenn Sie sich das Modell der demokratischen Autonomie in der Region Rojava, aber
auch in den kurdisch verwalteten Kommunen auf der
türkischen Seite anschauen, dann sehen Sie, dass dort in
der PKK, in den befreundeten Organisationen, ein wirklich fundamentaler - auch was die Theorie angeht - Veränderungsprozess stattgefunden hat. Ich finde es ausgesprochen wichtig, sich auch mit diesem - ich nenne es
einmal so - demokratietheoretischen Ansatz zu beschäftigen.
Öcalan, ein Mann, der seit über einem Jahrzehnt in
Einzelhaft sitzt und einen großen Einfluss ausübt, hat
diese Veränderungen sehr massiv vorangetrieben. Ich
möchte einfach sagen: Die Position von Öcalan und der
PKK hat sich fundamental verändert. Sie ist ganz stark
auf Kooperation, Völkerverständigung und Friedensprozess ausgerichtet.
({0})
Frau Kollegin, wir sind damit bei der Bewertung der
Gespräche. Ich wäre jetzt ohnehin auf diese Gespräche
zwischen der Türkei und der PKK zu sprechen gekommen. - Da es eine Zwischenbemerkung war, dürfen Sie
sich von mir aus gerne setzen.
Ich verstehe Sie jetzt so, dass Sie Ihre Rede fortsetzen; das ist jetzt keine Antwort mehr. Dann muss ich die
Zeit laufen lassen.
Irgendwann läuft die Zeit; das ist so. Das dürfen Sie.
({0})
Es kommt nachher also keine Beschwerde.
Nach unserer Bewertung dieser Gespräche ist man
weit davon entfernt, dass man wirklich sagen könnte: Es
gibt substanziell Bewegung in der Sache und bei der inhaltlichen Ausrichtung der Agenda. Deshalb sagen wir
an dieser Stelle: Das ist nicht ausreichend. Man kann
diese Argumente nicht heranziehen.
Ein weiterer Punkt: Es wird immer unterschwellig
suggeriert, wir würden Waffen in diese Region liefern.
Dies sei doppelzüngig und scheinheilig.
({0})
- Jetzt kommt der auch noch.
({1})
Wir liefern keine Waffen an die PKK, sondern nur an die
kurdische Regionalregierung, die uns zugesagt hat, sie
eben nicht an die PKK weiterzugeben.
({2})
Das ist ein kolossaler Unterschied.
({3})
Durfte ich Ihrer Bemerkung entnehmen, dass Sie dem
Kollegen Ströbele auch die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage oder Bemerkung geben?
({0})
Ich habe ihm in 13 Jahren noch nie eine Zwischenfrage verweigert. Damit werde ich jetzt auch nicht anfangen.
({0})
Das ist sehr nett, Herr Kollege. Ich konnte erst etwas
später in den Plenarsaal kommen, weil ich noch im Untersuchungsauschuss war.
Ich habe gedacht, ich sei vorher fertig.
({0})
Ich habe hierzu auch einen Vorhalt zu machen: Sie
sind Polizeibeamter von Beruf. Haben Sie als Polizeibeamter nicht ein Problem damit, dass man in Deutschland
wegen einer Tätigkeit strafrechtlich verfolgt wird - es
erfolgen Festnahmen, bei denen den Betroffenen manchmal alles mögliche Übel zugefügt wird, sie kommen ins
Gefängnis, und es wird ermittelt -, die eigentlich nichts
Böses ist? Ich denke beispielsweise an das Sammeln von
Geld. Dieses Sammeln von Geld soll nur böse sein, weil
das Geld für die PKK bestimmt ist.
Die Justiz und der Staat gehen also gegen Personen
vor, die eigentlich etwas viel weniger Böses als die Bundesregierung tun, die nämlich Waffen liefert. Das ist ja
schlimmer, als Geld für dieselbe Organisation zu sammeln. Sie können auch nicht sagen, dass Sie sie gar nicht
dorthin liefern wollen. Wenn man abends vor dem
Fernseher sitzt, kann man beispielsweise Berichte aus
Wohnungen im Irak sehen. Dort sitzen PKK-Kämpfer
mit den Peschmerga zusammen. Sie haben deutsche
Waffen und rühmen sich damit, dass sie den ISIS damit
in die Flucht geschlagen haben.
Das muss doch für jeden Bürger und jede Bürgerin in
diesem Land - auch für Sie als Polizeibeamten - ein
unerträglicher Zustand sein, weil der ganze Strafgrund
dadurch infrage gestellt wird. Unsere Rechtsordnung
wird damit grundsätzlich angegriffen. Man muss doch
konsequent sein: Entweder ist die Unterstützung einer
solchen Organisation etwas Böses und Strafbares oder
nicht. Eine Unterstützung muss dann aber auch für diejenigen strafbar sein, die Waffen liefern. Oder es ist umgekehrt und so, wie wir sagen: Auch das Geldsammeln
darf nicht strafbar sein, weil das im Vergleich zu Waffenlieferungen ja als wesentlich milder anzusehen ist.
({0})
Herr Kollege Ströbele, bleiben Sie bitte stehen. Der
Kollege Binninger darf jetzt antworten.
Ich glaube, so einfach, wie Sie manchmal die Dinge
sehen, ist das Leben nicht, und so romantisch, wie Sie
manches sehen, ist es eben auch nicht. Ich habe keinen
Grund, an der Rechtmäßigkeit dieser Strafverfahren zu
zweifeln, die hier in Deutschland laufen.
Ich sage es noch einmal: Wir liefern keine Waffen an
die PKK. Deshalb ist dieser Vergleich, den Sie gerade
gebracht haben, nicht zulässig.
({0})
Wir liefern Waffen an die kurdische Regionalregierung,
die uns wiederum zusagt, sie nicht weiterzugeben. Ihre
Verknüpfung ist deshalb so nicht zulässig.
({1})
Frau Kollegin Jelpke, Sie sagen - das haben Sie in Ihrem Antrag beschrieben -, dadurch würde die Meinungsfreiheit der hier lebenden Kurden eingeschränkt
und sie könnten ihre Grundrechte hier nicht in Anspruch
nehmen.
({2})
- Einzelfälle können wir hier schlecht bewerten. In
Deutschland leben rund 800 000 Kurden. Davon haben
bestimmt 95 Prozent keine Beziehung zur PKK. Diese
Menschen sind in ihren Rechten und in ihrer Meinungsfreiheit überhaupt nicht eingeschränkt. So eine Behauptung aufzustellen, führt deshalb völlig in die Irre.
Wer in Deutschland unsere Verfassung respektiert,
wer keine Gewalt anwendet und wer für die Völkerverständigung ist, der hat in unserem Land alle Rechte, egal
woher er kommt, egal welche Nationalität er hat.
({3})
Wer aber diese Dinge nicht respektiert, wer nicht glaubhaft der Gewalt abschwört und ein Problem mit der Völkerverständigung hat, bleibt verboten.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Das Wort hat Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Selbstverständlich ist ein Vereinsverbot in einem Rechtsstaat nicht in Stein gemeißelt; denn Situationen und Menschen können sich natürlich ändern. Aber
auch nach Ihrer Rede, liebe Kollegin Jelpke, finde ich,
dass Sie es sich mit Ihrem Antrag doch ein ganz klein
wenig zu einfach machen.
({0})
Sie wollen das PKK-Verbot hier in Deutschland aufheben, begründen das aber in Ihrem Antrag und auch in
weiten Teilen Ihrer Rede fast ausschließlich mit den Verhältnissen im Ausland. Eine Bewertung der Aktivitäten
der PKK im Inland bleibt dabei aber außen vor. Das
finde ich schon erstaunlich, weil wir hier über ein innerstaatliches Verbot sprechen.
Die Bundesregierung verhält sich hier leider nicht
minder widersprüchlich; mein Kollege Ströbele hat das
vorhin an einem schönen Beispiel illustriert. Es ist zwar
richtig, Herr Binninger, dass die Waffen an die kurdische
Regionalregierung geliefert werden. Aber Sie nehmen
doch dabei billigend in Kauf, dass die Waffen auch in die
Hände der PKK gelangen. Das muss man einfach einmal
so festhalten.
({1})
Auf der anderen Seite werden Menschen kriminalisiert, die in einer Fußgängerzone in Deutschland Geld
für die PKK sammeln. Mit diesem Widerspruch müssen
wir irgendwie klarkommen. Darüber müssen wir reden.
Aber sind das jetzt auch gute Gründe dafür, das PKKVerbot aufzuheben? Das ist doch die entscheidende
Frage. Ich persönlich habe da erst einmal einige Fragen;
denn allein der Kampf der PKK gegen den gemeinsamen
Feind „Islamischer Staat“ reicht dafür meines Erachtens
nicht aus.
({2})
Wir müssen uns natürlich auch den Friedensprozess
in der Türkei anschauen. Ich finde aber, dass dieser Friedensprozess äußerst fragil ist. Gerade Erdogan spielt in
diesem Zusammenhang keine rühmliche Rolle und
agiert immer wieder als Brandstifter. Auch setzt er wichtige Schritte im Friedensprozess praktisch nicht um. Wir
können also nicht davon ausgehen, dass dieser Konflikt
in der Türkei bald beigelegt ist.
Auch für einen Gewaltverzicht der PKK gibt es meiner Ansicht nach keine überzeugenden Anhaltspunkte.
In offiziellen Äußerungen setzt die PKK die Türkei mit
dem „Islamischen Staat“ gleich und sagt, dass beide bekämpft werden müssen.
({3})
Wäre es in dieser Situation tatsächlich richtig, das PKKVerbot hier in Deutschland aufzuheben? Ich stelle diese
Frage ganz bewusst. Ich habe darauf keine Antwort.
Aber ich finde, mit dieser Frage müssen wir uns beschäftigen.
({4})
Für den gewaltbereiten Teil der PKK ist der Kampf
gegen das türkische Militär existenziell. Um noch einmal auf die Situation im Nahen Osten einzugehen, die
auch Sie vorhin schon angesprochen haben: Es gibt
sogar Berichte über Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen und Frauen und über massive Menschenrechtsverletzungen in diesem Kampf in Syrien. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, diese Dinge können wir
bei einer Neubewertung des PKK-Verbots nicht ignorieren.
({5})
Wir können auch nicht ignorieren, wie sich die PKK
hier in Deutschland verhält. Mal propagiert sie, auf Gewalt zu verzichten, dann wieder - zum Beispiel im September 2014; das ist also noch nicht so lange her - wird
zu aktiven Aktionen mobilisiert unter der Prämisse: Der
Protest reicht nicht aus, es muss Widerstand geleistet
werden.
Wir haben die zahlreichen Demonstrationen erlebt,
zum Teil verbunden mit schwersten Ausschreitungen. Es
wurden Flughäfen, Bahnhöfe, Parteibüros, zeitweise sogar Rundfunksender besetzt. PKK-Anhänger haben soIrene Mihalic
gar versucht, gewaltsam in den Sicherheitsbereich des
Frankfurter Flughafens einzudringen.
({6})
Da muss man sich schon mal die Frage stellen, wie ernst
es die PKK mit dem Gewaltverzicht hier im Inland
meint.
({7})
- Bevor Sie sich jetzt weiter aufregen, Herr Kollege:
Trotzdem ist es natürlich richtig, die Situation neu zu bewerten
({8})
und diese Fragen, die ich vorhin aufgeworfen habe, zu
klären. Ich finde, hier muss die Bundesregierung präzise
beantworten, wie die jüngsten Ereignisse in der Türkei,
im Nahen Osten und in Deutschland einzuschätzen sind,
wie groß die Gefahren für die innere Sicherheit hier im
Land tatsächlich sind und welche positiven wie auch negativen Auswirkungen das PKK-Verbot tatsächlich hat.
Die PKK muss dabei natürlich auch die Chance haben, zu zeigen, dass sie sich tatsächlich gewandelt hat
und auf Gewalt verzichtet. Das muss sie aber auch
glaubhaft tun. Das ist mir sehr wichtig. Natürlich darf
die PKK von uns Offenheit für Veränderungen erwarten.
Aber ich finde, wir dürfen von der PKK auch echte Bemühungen und tatsächlichen Gewaltverzicht verlangen.
({9})
Vielen Dank. - Der nächste Redner ist Uli Grötsch,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann
gut verstehen, dass der heute diskutierte Antrag zur Aufhebung des Betätigungsverbotes für die Arbeiterpartei
Kurdistans und die Streichung der PKK von der EU-Terrorliste für viele Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land ein sensibles und höchst emotionales Thema ist.
Ja, den Kurden ist über Jahrzehnte viel Unrecht angetan worden, und sie genießen gerade in der Türkei bis
heute nicht die politische und kulturelle Freiheit, die ihnen meiner Meinung nach vielleicht zusteht. Das hat die
SPD offen und klar gesagt, und es ist mir auch wichtig,
das gleich am Anfang zu betonen.
({0})
Andererseits - und ich glaube, dass man diese Perspektive nicht außen vor lassen darf - sind in den Kämpfen mit der PKK auch viele Menschen ums Leben kommen, sodass, aus der anderen Perspektive betrachtet,
Situationen und Gefühle entstanden sind, die für mich
nichts mit Frieden zu tun haben. Auch das und auch
diese Menschen sollten wir nicht vergessen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Und weil mir diese Differenzierung, die auch von
meinen Vorrednern gemacht worden ist, so enorm wichtig ist, will ich hier ganz deutlich sagen: Es geht hier und
heute nicht um die Situation der mehr als 800 000 Kurden in Deutschland.
({2})
Und es geht auch nicht um die Situation der Kurden in
der Türkei. Es geht heute nicht um Kultur, um Brauchtum oder um Akzeptanz oder Integration, sondern es
geht einzig und allein um die Frage, wie die PKK heute
zu Gewalt als Mittel des politischen Kampfes steht, ({3})
also um eine spezifische innenpolitische Frage.
Ich zähle bei der Bewertung dieser Fragestellung
- das wurde heute noch gar nicht gesagt - durchaus auch
sehr auf die Einschätzung der dafür zuständigen Sicherheitsbehörden in Deutschland. Ich gehe mal davon aus,
dass die Behörden, die ständig einen professionellen
Blick auf die PKK in Deutschland richten, auch zu einer
einwandfreien Beurteilung gelangen. Es geht also auch
um die Frage, ob die für eine Einschätzung zuständigen
Behörden des deutschen Sicherheitsapparats der PKK
eine grundlegende friedliche Neuausrichtung bescheinigen können oder nicht.
Und diese Einschätzung fällt denkbar deutlich aus.
Die Einschätzung der Sicherheitsbehörden hat sich hinsichtlich des Agierens der PKK in Deutschland in den
letzten Jahren im Kern auch nicht verändert.
({4})
Ich darf einmal kurz aus dem letzten Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz zitieren, wo es dazu
heißt:
Die weiterhin in hohem Maße mobilisierungsfähige
PKK … hat ihre Anhänger in Deutschland auf eine
Abkehr von militanten Aktionen eingeschworen:
eine Tendenz, die mit einem Scheitern der Friedensverhandlungen wieder Makulatur sein könnte. Gewalt bleibt für die PKK gleichwohl ein strategisches Element, über das sie je nach politischer
Situation entscheidet.
Das Bundesministerium des Innern teilt in seinem Bericht zu gegenwärtigen Erkenntnissen zur Fortführung
des Vereinsverbots der PKK
({5})
vom 16. Oktober 2014 übrigens diese Auffassung. Auch
daraus möchte ich kurz zitieren:
({6})
… die PKK kalkuliert unbeschadet aller „Friedensbekundungen“ den Einsatz von Gewalt und Militanz auch in Europa taktisch, abhängig allein von
den Gegebenheiten in ihren nahöstlichen Herkunftsgebieten.
Ich komme gerade von einem Gespräch mit einer Politikwissenschaftsprofessorin,
({7})
die in ganz Deutschland - hören Sie mir nur gut zu - als
Expertin für die Frage der Kurden angesehen ist und die
ganz bestimmt nicht im Verdacht steht, dahin gehend
grundsätzlich negativ eingestellt zu sein. Sie hat, weil
ich sie danach gefragt habe, vor etwa einer Stunde sinngemäß gesagt, dass sie es so einschätzt: Wenn es unten
hochkocht, dann ploppt das auch bei uns wieder hoch. Der Kollege Berghegger saß neben mir und hat das genauso gehört, sodass man also sagen kann, dass nicht nur
der Sicherheitsapparat, sondern auch Wissenschaftler
dieser Meinung sind, im Übrigen auch solche, die so wie
wir alle - das unterstelle ich einmal - den Kurden, der
kurdischen Bevölkerung gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind.
({8})
Wie gesagt, wir reden hier nicht über die mehr als
800 000 Kurden, sondern wir reden hier über die PKK
und ihr Verhältnis zur Gewalt.
({9})
Können wir also tatsächlich ausschließen, dass die
PKK und ihre Unterorganisationen keine Gefahr mehr
für die innere Sicherheit in Deutschland sind? Können
wir mit Gewissheit sagen, dass sich die Einstellung der
PKK zu Gewaltanwendung und militantem Verhalten
nachhaltig geändert hat? Mit Blick auf die Fakten- und
Nachrichtenlage meine ich: Nein, das können wir zum
jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Jüngste Vorkommnisse
zeigen uns auch, dass Gewaltanwendung und Gewaltaufforderungen vonseiten der PKK weiterhin auf der Tagesordnung stehen.
Ich nenne Ihnen kurz drei Beispiele:
Im September des letzten Jahres erschien in der türkischsprachigen PKK-Nachrichtenagentur ein Artikel, in
dem die kurdische Jugend in Europa zu aktiven Aktionen aufgerufen wurde.
({10})
Daraufhin kam es zu Besetzungen von Flughäfen, Bahnhöfen, Parteibüros, Rundfunk- und Fernsehsendern.
Anfang Oktober 2014 kam es an mehreren Tagen zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden
und Salafisten in Celle und Hamburg. Thorsten Voß,
Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Hamburg, sagt, dass die Gewalt aus wechselseitigen Provokationen heraus entstand und beide Gruppen bewaffnet waren.
Außerdem hat das BMI Erkenntnisse darüber, dass
die PKK bislang Personen im mittleren zweistelligen
Bereich rekrutiert hat, um in Syrien und im Irak gegen
den IS zu kämpfen. Dazu möchte ich sagen: Auch wenn
wir damit sozusagen einen gemeinsamen Feind haben,
ist für mich der Feind meines Feindes nicht automatisch
mein Freund.
({11})
Meiner Meinung nach reichen diese Beispiele aus, um
deutlich zu machen, dass die PKK nicht als harmlos zu
bewerten ist - nach wie vor nicht.
Ich sage zum Schluss noch: Ich glaube auch nicht,
dass wir die innenpolitische Situation in der Türkei vom
Plenarsaal des Deutschen Bundestages und von Deutschland aus so beeinflussen können, dass es in Deutschland
unmittelbar und sofort spürbar ist. Aus all diesen Gründen ergibt sich für mich ganz klar, dass wir dem Antrag
der Fraktion Die Linke nicht zustimmen können. Aus
den gleichen Gründen lehnen wir es ab, die PKK von der
EU-Terrorliste zu streichen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Marian Wendt, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Laut Verfassungsschutz ist die PKK eine von ihrem Ursprung her marxistisch-leninistische Kaderpartei.
Die PKK wollte 1978 eine Volksdiktatur mit sozialistischer Prägung errichten. Jetzt verstehe ich auch, warum
die SED-Nachfolgepartei ein Ende des Verbots der PKK
fordert. Vielleicht wollen Sie ja in der Türkei oder in
Deutschland eine zweite DDR mitbegründen.
({0})
- Richtig.
Der Antrag der Linken mit dem Ziel, das Vereinsverbot der PKK in Deutschland aufzuheben, stellt auf die
politischen Veränderungen in der Türkei und der Region
ab:
({1})
Mit ihrem Einsatz gegen den „Islamischen Staat“ und
der Verkündung eines Friedensprozesses hätten sich
auch die PKK und ihre Nachfolgeorganisation geändert.
Jedoch selbst dann, wenn ich das gelten ließe - wir
haben hierüber bereits breit diskutiert -, haben sich andere Faktoren gerade nicht geändert. Da wäre zum Beispiel die Bereitschaft der PKK zu Bürgerkrieg und
Terrorismus in der Türkei. Der vorgebliche Friedensprozess, mit dem die PKK in Europa wirbt, ist Makulatur.
({2})
In den kurdischen Siedlungsgebieten ist die PKK nämlich weiterhin militärisch organisiert und als Guerilla tätig. Regelmäßig wird mit einem neuen Bürgerkrieg in
der Türkei gedroht. Die PKK verstößt hiermit explizit
gegen den Gedanken der Völkerverständigung, den wir
in Artikel 9 Absatz 2 unseres Grundgesetzes fixiert haben. Dies ist ein ausdrücklicher Verstoß gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung und führt in
Deutschland zu einem Vereinsverbot.
({3})
Weiterhin wäre zu nennen, dass die PKK in Deutschland für den Einsatz in ihren Terroreinheiten wirbt, und
das ist nicht nur auf Deutschland beschränkt.
Laut Angaben des Bundesverfassungsschutzes rekrutiert die PKK aktiv junge Menschen aus Europa für den
Kampf im Nahen Osten. Außerdem gibt es in Deutschland seit 2004 circa 4 500 Ermittlungsverfahren mit
PKK-Bezug. Das sind keine Kleinigkeiten: Erpressung
von Spendengeldern, Körperverletzung und Landfriedensbruch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Gern.
Danke, Herr Kollege. Mir drängt sich eine Frage auf.
Sie sagen, die PKK rekrutiere Kämpfer für den Kampf
im Nahen Osten. Das ist ja nicht irgendein Kampf, sondern da geht es um den Kampf gegen den mörderischen
IS und den ISIS in Syrien und im Irak.
({0})
Das wird auch in Deutschland nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Sie konnten im Fernsehen den Bericht verfolgen, dass eine ganze Familie - ich glaube, aus
Solingen - zum Kampf mit den Peschmerga für ihr Volk
gegen den IS in den Irak gezogen ist. Diese Menschen
werden gefeiert, und zwar nicht nur dort, sondern auch
hier. Sie kommen auch wieder hierher und rühmen sich:
Wir haben wenigstens etwas für die Freiheit getan. Wir
haben etwas dafür getan, dass unsere Frauen nicht vergewaltigt werden. Wir haben etwas dafür getan, dass der IS
gestoppt wird.
Genauso war es auch mit den Unruhen, die es hier in
Deutschland gegeben hat. Nicht die PKK hat ihre Auffassung geändert, sondern es ging darum, dass in
Kobane Menschen hingeschlachtet wurden, als der ISIS
dort vorgedrungen ist, die Stadt fast erobert hat und die
Menschen in völliger Verzweiflung zum Teil in die Türkei geflohen sind, zum Teil versucht haben, Kobane zu
verteidigen - wie wir wissen, Gott sei Dank erfolgreich.
Dass sie erfolgreich waren, finden wir alle ganz gut;
aber wenn sie jetzt junge Männer für den Abwehrkampf
gegen ISIS und IS anwerben, ist das ein Grund für Sie,
weiter am Verbot festzuhalten. Das ist doch irgendwie
widersprüchlich. Sie können doch nicht einfach sagen:
Sie rekrutieren hier. - Sie müssen dann auch sagen, wofür sie rekrutieren. Sie rekrutieren für eine Sache, die
wahrscheinlich auch Sie grundsätzlich für richtig halten.
({1})
Ich war letztes Jahr selber in der Region: Ich war fünf
Tage lang in Arbil und Umgebung. Schade, dass wir im
Bundestag keine große Landkarte haben. Sonst könnte
ich Ihnen verdeutlichen, wie die Situation ist.
Es gibt zurzeit vier kurdische Siedlungsgebiete in dieser Region. Wir verhandeln und arbeiten eng zusammen
mit einer staatlichen Organisation der kurdischen Regionalregierung im Nordirak. Das rechtfertigt nicht die Lieferung von Waffen an eine frei organisierte militante Organisation. Unser Kampf gegen den IS kommt in dieser
Zusammenarbeit zum Ausdruck. Wir dürfen nicht den
Fehler machen - das haben die Kollegen auch schon betont - und sagen: Der Feind unseres Feindes ist unser
Freund. - Das macht es nämlich nicht besser. Das führt
zu Selbstjustiz.
Es ist jeder herzlich eingeladen, sich Gedanken darüber zu machen, wie wir diesen Terror stoppen können.
Dabei sind die demokratisch legitimierten Strukturen zu
beachten. Die kurdische Regionalregierung ist durch
Wahlen legitimiert. Die Bundesregierung ist durch Wahlen legitimiert. Wir im Bundestag, die durch Wahlen legitimiert sind, haben die Waffenlieferung dorthin beschlossen. Das ist doch der richtige Ansatz. Man kann
doch ein undemokratisches System nicht mit undemokratischen Mitteln bekämpfen. Das ist der völlig falsche
Weg. Wir dürfen, wie gesagt, auch nicht den Fehler machen, die PKK mit allen kurdischen Menschen gleichzusetzen.
({0})
- In Kobane gab es die Unterstützung durch die Peschmerga. Die Peschmerga ist die Armee des kurdischen
Staates im Nordirak, die dort Unterstützung geleistet hat.
({1})
In Kobane wäre es sicherlich auch die Aufgabe gewesen, mit der Türkei entsprechend zusammenzuarbeiten.
({2})
Aber wir können diese Debatte nicht unabhängig von
staatlichen und völkerrechtlichen Strukturen führen.
Kommen wir vielleicht noch einmal zurück auf die
Frage - darauf sollten wir uns beschränken -, wie die
PKK in Deutschland reagiert und agiert. Wir begründen
ein Vereinsverbot mit ihren Aktivitäten in Deutschland.
In diesem Zusammenhang bleibt für mich festzuhalten:
Erpressung von Spendengeldern, Körperverletzung,
Landfriedensbruch, Drogen- und Menschenhandel.
Es handelt sich also bei der PKK um eine kriminelle
Vereinigung mit dem Ziel, in Deutschland Straftaten zu
begehen. Dennoch versucht die PKK seit längerem, als
legitime Vertretung der Kurden zu erscheinen. Sie versucht über zahlreiche Tarnorganisationen, die öffentliche
Meinung dahin gehend zu beeinflussen, sie als solche
Vertretung anzuerkennen. Wie ich bereits erwähnte, ist
der Kampf gegen den IS zwar ein starkes Mittel, aber er
ist keine Legitimation.
Abschließend ist es, glaube ich, auch für die Debatte
wichtig, dass wir uns klar werden, um welchen Friedensprozess es in der Türkei und bei der PKK geht. Wer
ernsthafte Friedensverhandlungen in der Türkei führen
will, der darf nicht mit Bürgerkrieg drohen. Die Gefahr
besteht aktuell. Damit stehen der Prozess und der entsprechende Wille auf tönernen Füßen. Die PKK, egal ob
in Deutschland oder der Türkei, ist nach wie vor keine
demokratische Organisation und widerspricht in Wort
und Tat unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Nur diese ist Maßstab für ein Vereinsverbot. Weil
die freiheitlich-demokratische Grundordnung unser
Maßstab ist, müssen wir dafür sorgen, dass die PKK erst
erlaubt wird, wenn sie die Bedenken glaubhaft und
wahrhaftig ausräumt.
({3})
Der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund: Das
ist für uns sehr wichtig. Denn eine Logik nach dem
Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ widerspricht unseren rechtsstaatlichen Prinzipien. Aber mit Unrechtsstaaten kennt sich die Linke aus.
({4})
Aus diesem Grunde kann ich der Aufhebung des
PKK-Verbotes keinesfalls zustimmen. Sie sagen, das
Verbot sei ein Anachronismus; es ist jedoch ein Spiegel
der aktuellen Lage und die einzig richtige Entscheidung
einer wehrhaften Demokratie gegenüber einer terroristischen Organisation.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3575 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Dezember
2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen
wohnhaft sind
Drucksachen 18/3787, 18/4051
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
Drucksache 18/4108
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich ganz
herzlich Herrn Bucior, den Staatssekretär im polnischen Arbeits- und Sozialministerium, mit seiner
Delegation begrüßen. Herzlich willkommen!
({1})
Wir freuen uns, dass Sie heute in Berlin sind und an unserer Beratung teilnehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aussprache und erteile Kerstin Griese von der SPD-Fraktion
als erster Rednerin das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Bucior, der Sie extra
aus Polen heute zu dieser Debatte zu uns gekommen
sind! Im Juni letzten Jahres konnte ich an dieser Stelle
schon zur zweiten und dritten Lesung des Ghettorentenänderungsgesetzes sprechen. Damals haben wir einstimmig die längst überfällige Änderung des Ghettorentengesetzes von 2002 beschlossen, mit der die
Auszahlung der Renten an diejenigen, die in Ghettos
arbeiten mussten, rückwirkend ab 1997 ermöglicht
wurde. Das war nötig. Zwar hatte der Bundestag 2002
das Ghettorentengesetz beschlossen. In den Folgejahren
zeigte sich aber, dass in der Anerkennungspraxis 90 Prozent der Anträge abgelehnt wurden. Erst mit einem Urteil des Bundessozialgerichtes von 2009 hat sich die Ablehnungsrate erheblich reduziert. Danach wurde
immerhin die Hälfte aller bislang abgelehnten Anträge
rückwirkend bewilligt. Aber diese bewilligten Renten
wurden nur vier Jahre rückwirkend ausgezahlt. Das ist
einer Eigenart unseres Sozialrechts geschuldet. Das haben die Betroffenen zu Recht als unfair empfunden. Mit
dem Ghettorentenänderungsgesetz haben wir es dann im
letzten Sommer geschafft, dass alle, die berechtigt sind,
Ghettorenten zu bekommen, wählen können. Sie können
bei einem Ausgleich durch Zuschläge bleiben oder sich
die Ghettorente von Beginn an, ab 1997 rückwirkend,
auszahlen lassen.
({0})
Diese Verbesserung hat bei Betroffenen auf der ganzen Welt zu positiven Reaktionen und Erleichterung geführt. Alle Antragsteller sind seitdem über die geänderten Möglichkeiten in ihrer Heimatsprache schriftlich
informiert worden, und diese Anträge werden schnell
bearbeitet. Dafür ein herzliches Dankeschön an die
Deutsche Rentenversicherung.
({1})
Insgesamt sind bislang 55 600 Anträge auf Ghettorenten
bewilligt worden. Über 2 600 neue Anträge muss noch
entschieden werden. In 13 600 Fällen sind auf Wunsch
der Betroffenen bzw. der Hinterbliebenen automatisch
Neufeststellungen zum früheren Rentenbeginn durchgeführt worden.
Nun komme ich zu unserem heutigen Gesetz, dem
deutsch-polnischen Abkommen. Leider konnten von
dieser Gesetzesänderung im letzten Sommer nicht automatisch auch die in Polen lebenden Ghettorentenberechtigten profitieren; denn das deutsch-polnische Sozialabkommen von 1975 regelt, dass der Wohnsitzstaat eine
Rente auch aus den Zeiten zahlen muss, die in einem anderen Staat verbracht wurden. Zeiten, die in den von den
Nazis errichteten Ghettos, wo die Menschen arbeiten
mussten, verbracht wurden, galten als in Deutschland
zurückgelegt. Deshalb konnten bislang in Polen lebende
ehemalige Ghettoarbeiter keine Rente nach dem Ghettorentengesetz beantragen.
Diese Ausnahme fanden wir, sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament, unbefriedigend; wir haben darüber intensiv im Arbeits- und Sozialausschuss
diskutiert. Das wollten wir so nicht stehen lassen. Deshalb sind wir froh, dass das zuständige Arbeits- und Sozialministerium bereits im letzten Sommer in Verhandlungen mit dem polnischen Partner eingetreten ist und in
mehreren Treffen unter Hochdruck eine Lösung für die
Betroffenen erarbeitet hat. Im Dezember letzten Jahres
wurde dann ein Abkommen zwischen Deutschland und
Polen beschlossen, das es endlich auch den in Polen lebenden ehemaligen Ghettobeschäftigten ermöglicht, Anträge auf Ghettorente zu stellen. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei Ministerin Andrea Nahles
und der Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele
Lösekrug-Möller sowie ihren Mitarbeitern für diese intensive, schnelle und wichtige Arbeit bedanken.
({2})
Auch Ihnen, Herr Staatssekretär Bucior, und Ihren Mitarbeitern herzlichen Dank dafür, dass Sie den Weg dafür
so schnell freigemacht haben und das Abkommen schon
im Dezember letzten Jahres ermöglicht haben.
({3})
Weil noch Opfer des NS-Staates und ihre Nachkommen unter uns leben, stehen wir in der Pflicht, erlittenes
Unrecht anzuerkennen und zumindest eine kleine Unterstützung - von Wiedergutmachung mag ich bei diesem
Thema gar nicht sprechen - zu leisten. Angesichts des
Unrechts, das in den Ghettos stattfand, in denen Menschen unter schlimmsten Bedingungen leben und arbeiten mussten - die meisten waren Juden -, ist es schlimm,
dass es so lange gedauert hat, bis die Ghettorenten ausgezahlt werden. Aber deshalb ist das deutsch-polnische
Abkommen, das jetzt auch in Polen lebenden Ghettoüberlebenden eine Ghettorente ermöglicht, ein folgerichtiger, ein notwendiger und ein überfälliger Schritt.
({4})
Für viele Menschen gerade in Osteuropa und in Israel
bedeutet die Zahlung der Ghettorenten außerdem - auch
wenn die Renten nicht hoch ausfallen - eine echte kleine
Erleichterung ihrer Lebensbedingungen. Deshalb bedanke ich mich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir den Gesetzentwurf hier im Parlament voraussichtlich einstimmig beschließen können. Damit
setzen wir ein weiteres kleines Zeichen für alle Betroffenen, dass wir ihr in den Ghettos erlebtes Leid und ihre
Rechte aus der Arbeit in den Ghettos, für die sie perfiderweise Rentenversicherungsbeiträge zahlen mussten,
anerkennen. Dem fühlt sich der Deutsche Bundestag
verpflichtet. Ich bitte Sie, lieber Herr Staatssekretär
Bucior, das als Botschaft nach Polen mitzunehmen.
Vielen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Tank von der
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär
Marek Bucior! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsch-polnische Abkommen vom 5. Dezember 2014 war längst überfällig. Es
beendet die Diskriminierung von Juden und Roma mit
Wohnsitz in Polen, die bislang vom Bezug von Ghettorenten ausgeschlossen waren.
In enger Zusammenarbeit mit den Betroffenen ist es
uns nun gelungen, das neue Gesetz auf den Weg zu bringen - in nur acht Monaten und fraktionsübergreifend.
Ich danke deshalb dem anwesenden polnischen Staatssekretär Marek Bucior und der Staatssekretärin Frau
Gabriele Lösekrug-Möller für ihren persönlichen Einsatz.
({0})
Aber auf diesem Erfolg können wir uns nicht ausruhen. Damit sind nicht alle Ungerechtigkeiten ausgeräumt. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Stellen
Sie sich vor: Sie haben in einem deutschen Ghetto gearbeitet, Sie haben die Schoah überlebt, Sie sind heute
90 Jahre alt und leben in einem Seniorenheim in Israel.
Vermutlich haben Sie Anspruch auf eine Ghettorente,
doch wissen Sie als Überlebende nicht einmal davon.
Das ist leider eine reale Situation bei der Bearbeitung der
Anträge auf Ghettorenten.
Über die systematische benachteiligende Behandlung
der Antragsteller durch die deutsche Bürokratie liegen
bereits wissenschaftliche Abhandlungen vor. Die Untersuchung von Kristin Platt vom Bochumer Institut für
Diaspora- und Genozidforschung ist hier beispielhaft.
Zahlreiche Anträge ehemaliger Ghettobeschäftigter wurden wegen angeblich mangelnder Mitwirkung nie abschließend beschieden. Neben den polnischen Betroffenen geht es hier immer noch um etwa 15 000 bis 25 000
überlebende Ghettobeschäftigte. Auch sie sind von den
Ghettorenten ausgeschlossen.
Schätzungsweise sind davon etwa 45 Prozent Ghettoüberlebende in Israel, 45 Prozent in den USA und
10 Prozent in Deutschland und den EU-Nachbarländern
betroffen. Diese Zahlen hat die Bundesregierung in der
amtlichen Begründung des Änderungsgesetzes zum
ZRBG selbst bestätigt. Darin heißt es: Von den rund
70 000 Anträgen wurde nur rund die Hälfte positiv beschieden. - Diese Personen haben offenbar noch nicht
einmal einen formellen Ablehnungsbescheid bekommen. Deshalb tauchen diese Fälle in der Statistik nicht
auf.
Viele ehemalige Ghettobeschäftigte wissen also nicht
einmal, dass sie einen Anspruch auf Ghettorente haben,
obwohl ihr Anspruch bei der Rentenversicherung bekannt ist. Solche Ungerechtigkeiten müssen beseitigt
werden.
({1})
Dafür bedarf es keiner weiteren Gesetzesänderung.
Hierzu muss der Verwaltungsvollzug des vom Bundestag einstimmig verabschiedeten ZRBG überprüft werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die positive Entwicklung bei der Auszahlung der Ghettorenten geht
nicht zuletzt auf die progressive Rechtsprechung eines
engagierten Richters zurück. Jan-Robert von Renesse
hat sich dafür stark gemacht, die Wahrheit zu erforschen
und den Holocaustüberlebenden trotz aller Widrigkeiten
zu ihrem Recht zu verhelfen.
({2})
Stellvertretend für alle anderen Unterstützerinnen und
Unterstützer möchte ich mich bei Richter von Renesse
ausdrücklich bedanken.
({3})
Er steht für richterliche Unabhängigkeit und kritisches Denken, auch angesichts von Widerständen in der
Verwaltung und der Justiz. Offensichtlich deswegen und
weil er 2012 eine Petition an den Bundestag gerichtet
hat, wurde er mit einem Disziplinarverfahren überzogen.
Das halte ich für einen Skandal. So etwas darf es in einem Rechtsstaat nicht geben.
({4})
Erst wenn alle Ghettobeschäftigten endlich Gewissheit über ihren Antrag auf Ghettorente haben, kann wenigstens dieser Teil deutscher Geschichte als aufgearbeitet gelten. Das vorliegende Abkommen mit Polen sollte
einen ehrlichen Neuanfang beim Thema Ghettorente im
Umgang mit Ghettobeschäftigten befördern.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß das
Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Uri Chanoch vom Center of Organizations of Holocaust Survivors in Israel hat bei der von uns durchgeführten Anhörung zum Ghettorentengesetz vorgetragen:
Für mich und für jeden Ghettoüberlebenden bedeutet die
Anerkennung der Arbeitsleistung im Ghetto, dass endlich
auch dieser Teil der Geschichte zur Kenntnis genommen
und entschädigungsrechtlich bzw. sozialrechtlich berücksichtigt wird. Aus meiner Sicht ist die Umsetzung des
Ghettorentengesetzes ein wesentlicher Schritt in Richtung Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen. - Er hat damit recht.
Ich will feststellen: Mit dem Sozialversicherungsabkommen mit Polen, das wir heute schließen, erfüllen wir
diesen Anspruch voll und ganz durch die Reformen, die
wir im Ghettorentenrecht vorgenommen haben.
({0})
Gerade die letzte, von Kollegin Griese bereits dargestellte Reform des Ghettorentenrechts, mit der wir die
Wahlmöglichkeit geschaffen haben, vier Jahre rückwirkend mit einem höheren Zahlbetrag oder rückwirkend ab
1997 mit einem niedrigeren Zahlbetrag Ghettorenten zu
beantragen, haben wir in einem intensiven Dialog mit
der israelischen Botschaft hier in Berlin, mit dem israelischen Seniorenministerium, dessen Staatssekretär mehrmals zu Gesprächen hier war, vorbereitet. Zuletzt war
diese Reform auch ein Topthema der deutsch-israelischen Regierungskonsultationen unter Vorsitz von Frau
Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Frau Kollegin, Sie können davon ausgehen, dass in
Israel alles getan wird, dass jeder Berechtigte über seinen Anspruch informiert wird, dass ihm auch Unterstützung durch die israelische Regierung und die dortige
Sozialversicherung dabei gewährleistet wird, einen entPeter Weiß ({1})
sprechenden Antrag zu stellen. Ich glaube, das haben wir
damals mit den Israelis wirklich gut und solide vorbereitet, und es wird auch entsprechend umgesetzt.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Tat,
für einen in Polen Berechtigten war es bislang nicht
möglich, einen Antrag zu stellen. Das war jetzt keine
Gemeinheit gegenüber Polen. Gott sei Dank haben wir
seit 1975 mit Polen ein ausgezeichnetes, funktionierendes Sozialversicherungsabkommen. Dieses Abkommen
folgt einem mustergültigen Prinzip, nämlich dem sogenannten Eingliederungsprinzip, sprich: Eine in Deutschland wohnende Person muss ihre Rentenansprüche an
die deutschen Behörden stellen und bekommt sie auch
erfüllt, jemand, der in Polen lebt, muss seine Rentenansprüche an die polnischen Behörden stellen und bekommt sie dort erfüllt. Das ist eigentlich ein mustergültiges Abkommen; das möchte ich noch einmal betonen.
Auch deshalb will ich hier sagen: Es war richtig, dass
wir das Sozialversicherungsabkommen mit Polen von
1975 vollumfänglich aufrechterhalten.
Richtig ist auch, dass hier schon früher über die Frage
diskutiert worden ist: Was macht man denn nun mit Anspruchsberechtigten in Polen? Ehrlich gesagt, hatte dazu
angesichts des geltenden Sozialversicherungsabkommens niemand eine durchführbare Idee. Es ist diese Bundesregierung, die mit Ihnen, Herr Staatssekretär Bucior,
eine Lösung gefunden hat, die vorher überhaupt nicht
diskutiert worden ist, ausdrücklich und nur allein für die
Frage des Zugangs zur Ghettorente ein eigenes, gesondertes Sozialversicherungsabkommen zu schließen. Dazu
möchte ich den erfinderischen und klugen Beamtinnen
und Beamten sowohl im deutschen Arbeitsministerium
wie im polnischen Arbeitsministerium herzlich gratulieren.
({3})
Deshalb können wir heute als Deutscher Bundestag
dieses Abkommen, dieses gesonderte Abkommen für
Polen, ratifizieren.
Ich will das so zusammenfassen: Nach den zwei Reformen des Ghettorentengesetzes und mit dem zusätzlichen neuen Sozialversicherungsabkommen mit Polen
kommt dieser, wie ich finde, wichtige Bereich, nämlich
dass man für die Leistungen, die man im Ghetto erbracht
hat, auch einen Rentenanspruch hat, zu einem wirklich
guten Abschluss. Ich freue mich, wenn heute der gesamte Deutsche Bundestag diesem Sozialversicherungsabkommen zustimmt.
Vielen Dank.
({4})
Als nächster Redner hat Volker Beck von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Staatssekretär Bucior! Meine
Damen und Herren! Es ist heute ein guter Tag, weil wir
einstimmig im Bundestag endlich zu Ende bringen, was
wir 2002 mit dem Gesetz über die Zahlbarmachung von
Ghettorenten begonnen haben. Dass es 13 Jahre gedauert
hat, ist bitter, aber wir hoffen, dass wir noch viele von
denen erreichen, die nach unserem Willen einen Anspruch auf eine Rente für ihre Zwangsarbeit im Ghetto
haben.
({0})
Ich erinnere an das Ghettorentengesetz und an die
Vorgänge, die dahin geführt haben - Sie haben die Verdienste von Richter von Renesse hier mit angesprochen -, an den Kampf darum, den gesetzgeberischen
Willen durchzusetzen. Es ging darum, anzuerkennen,
dass im Ghetto natürlich nicht normale Arbeitsbedingungen mit Arbeitsvertrag, Lohn und Gehalt sowie Rentenversicherungsbeiträgen gegeben waren. Wir sprechen
hier von einer Notsituation, in der die Menschen, die im
Ghetto gelebt haben, ihre Arbeitskraft verkaufen mussten, damit sie eine Scheibe Brot mehr bekamen oder damit der Judenrat im Ghetto mehr Geld bekam, um damit
zu versuchen, die Menschen irgendwie über die Runden
zu bringen.
Dass da deutsche Sozialgerichte immer wieder gegen
den Willen des Gesetzgebers griffelspitzerisch versucht
haben, den Menschen Hürden auf den Weg zur Erfüllung
ihres Anspruchs zu legen, gehört auch zu den bitteren
Wahrheiten dieses Tages.
({1})
Dass das Bundessozialgericht gesagt hat: „Vier Jahre
rückwirkend bekommen die Leute ihr Geld“, obwohl die
Rechtsprechung damals korrigiert wurde, war auch ein
bitterer Umstand.
Ich bin froh, dass diese Bundesregierung durch den
Einsatz der Sozialdemokratie es geschafft hat - anders
als die Vorgängerregierung -, diese Unwuchten aus dem
Gesetz herauszubringen. Dass wir das heute mit der Öffnung des Leistungsbezugs auch für die polnischen Ghettorentner, also für die Menschen, die heute noch in Polen
leben und davon betroffen sind, endlich abschließen, ist
ein gutes Signal.
({2})
Es ist auch eine gute Erfahrung für das Haus, dass wir
das heute gemeinsam, alle vier Fraktionen, beschließen
können.
Volker Beck ({3})
Hervorzuheben ist, das wir alle anerkennen, dass wir
alle gemeinsam in der Vergangenheit Fehler gemacht haben: bei der Entschädigung, bei der Anerkennung von
NS-Unrecht. Es war über die Jahrzehnte hinweg in der
bundesdeutschen Geschichte und erst recht in der Geschichte der DDR ein schwieriger Prozess, sich dem
Ausmaß des Unrechts, das von Deutschen ausgegangen
ist, wirklich zu stellen, es anzuerkennen und zu versuchen, den Opfern wenigstens einen Ausgleich zu geben.
Ich möchte an so einem Tag sagen, dass wir da noch
eine weitere offene Frage vor uns haben. Ich würde mir
wünschen, dass wir dazu zwischen den Fraktionen ins
Gespräch kommen. Dabei geht es um die sowjetischen
Kriegsgefangenen. 3 Millionen von ihnen wurden in Russenlagern umgebracht. Keiner der sowjetischen Kriegsgefangenen hat je einen Cent von Deutschland gesehen. Es
geht um eine Geste. Ich will gar nicht von Entschädigung und von den Fragen des Reparationsrechts reden.
Es geht um eine Geste der Anerkennung, dass wir sagen:
Das war nationalsozialistisches Unrecht. - Ich glaube,
gerade im 70. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wäre es hohe Zeit, diese Frage endlich, und zwar
gemeinsam, zu klären.
Lassen Sie uns hier einen Versuch machen. Es geht
nicht um das Geld - es leben kaum noch Menschen, die
das erhalten könnten -, es geht um die Geste und in diesem schwierigen Jahr mit der Auseinandersetzung um
die Ukraine und um die Krim vielleicht auch darum,
dass wir bei allen Differenzen, die wir mit der russischen
Regierung haben, gemeinsam zu unserer historischen
Verantwortung gegenüber allen Völkern Osteuropas, gegenüber den Völkern der ehemaligen Sowjetunion stehen. Es wäre schön, wenn wir mit dem „spirit“ des heutigen Tages weiterkommen.
({4})
Jetzt möchte ich die Sozialpolitiker explizit ansprechen - das vorher genannte Thema ist vielleicht etwas
für die Außenpolitiker und die Innenpolitiker -: Es gibt
ein spezifisch rentenrechtliches Problem, das auch mit
unserer Geschichte zusammenhängt. Wir haben uns
1990 entschlossen, durch eine besondere Regelung Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wegen des dortigen
Antisemitismus in Deutschland aufzunehmen. Diese
Menschen, die mitten in ihrem Arbeitsleben nach
Deutschland kamen, fangen mit ihrer Rentenbiografie in
Deutschland bei null an: manche mit 60, mit 65 Jahren
andere mit 20 Jahren; bei denen ist es kein Problem. Für
Aussiedler haben wir im sogenannten Fremdrentengesetz die Regelung, dass wir die Arbeits- und Rentenbiografie dieser Menschen so anerkennen, als ob sie Zeit ihres Lebens in Deutschland gearbeitet hätten.
Ich bitte alle Fraktionen, ob wir ein Treffen der Sozialrechtler, vielleicht auch der Innenpolitiker machen
können, bei dem wir uns der Frage annehmen, ob wir die
jüdischen Kontingentflüchtlinge nicht in die Regelung
des Fremdrentengesetzes einbeziehen können und sagen:
Wir behandeln sie wie Spätaussiedler. - Der historische
Zusammenhang ist ähnlich, das Schicksal ist ähnlich. Sie
kommen aus Ländern, die ähnlich sind. Sie haben als jüdisches Volk das Deutsche Reich vor Jahrhunderten verlassen, wie die Russlanddeutschen auch. Sie haben es
aus anderen Gründen verlassen; sie sind geflohen. Die
anderen sind übergesiedelt. Aber es gibt viele Parallelen.
Das ist Grund genug, sich dieser Frage interfraktionell
zu stellen.
({5})
Für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor allen Dingen: Verehrte Gäste! Ich freue mich, dass
neben unseren Ehrengästen auch so viele Besucher auf
der Tribüne sind - ganz junge und einige lebenserfahrene -, dass sie an dieser Debatte teilhaben, die für dieses Haus ziemlich ungewöhnlich ist.
In den letzten Monaten ist der Platz, an dem ich hier
stehe, ein guter Ort für viele gewesen, die vielleicht
schon ihre Hoffnungen aufgegeben haben - Hoffnung
auf eine Anerkennung ihrer Arbeit in einem Ghetto, Arbeit unter für uns unvorstellbaren Bedingungen; Hoffnung darauf, dass bei der rentenrechtlichen Handhabung
kein Unterschied besteht, in welchem Land der Empfänger lebt.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto wurden 2002 Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto ermöglicht. Dazu haben meine Vorredner und Vorrednerinnen schon sehr viel ausgeführt.
Wir haben am 5. Dezember 2014 in Warschau am historischen Ort das Abkommen unterzeichnet, das heute,
denke ich, mit großer Mehrheit und vielleicht sogar einmütig im Haus akzeptiert wird. Wir schließen damit eine
Lücke, die eigentlich gar nicht hätte entstehen sollen.
({0})
Nun wird es möglich, dass auch in Polen lebende Berechtigte einen sozialversicherungsrechtlichen Ausgleich für ihre Arbeit im Ghetto erhalten. Uns ist klar:
Diese Menschen haben unvorstellbares Leid erlitten. Sie
sind hochbetagt. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.
({1})
Ich freue mich sehr, dass der vorliegende Gesetzentwurf die Unterstützung des ganzen Hauses erfährt. Ich
bin allen Fraktionen des Hauses sehr dankbar. Ich
glaube, das ist ein sehr kräftiges Signal, mit dem wir zeigen, wie ernst wir es mit diesem Abschnitt unserer Geschichte meinen. Ich bedanke mich sehr bei Ihnen.
Ich möchte allerdings Ihnen, Frau Kollegin Tank, sagen: Das BMAS hat am Mittwoch in der Sitzung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales sehr ausführlich
vorgetragen, wie mannigfaltig unsere Aktivitäten sind,
damit auch wirklich jeder und jede möglicherweise Anspruchsberechtigte die Gelegenheit hat, den Rechtsanspruch wieder aufleben zu lassen. Da ist unser Haus, da
sind ganz viele sehr intensiv unterwegs. Und ich sage Ihnen: Das ist auch gut so.
({2})
Die wenige Redezeit, die ich noch habe, will ich jetzt
darauf verwenden, noch einmal die gute Nachbarschaft
und den guten Geist zu betonen, in dem wir die Verhandlungen über das Abkommen führen konnten. Ich finde
das nicht selbstverständlich. Für mich ist das gute Nachbarschaft, die auch ein gutes Fundament für die Zukunft
ist. Insofern freue ich mich sehr, Herr Kollege Bucior,
dass Sie heute da sind. Ich will Ihnen nur sagen: Es
wurde Zeit, dass wir heute zu dieser Abstimmung kommen. Ich glaube, es ist das richtige Signal; es ist ein gutes Signal. Es ist einfach gut für uns alle, dass wir einen
kleinen Punkt hinter eine offene Frage machen können,
bei der wir über viele Jahre versucht haben, es richtig zu
machen. Ich glaube, heute haben wir es dann auch gut
gemacht.
Vielen Dank.
({3})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Dr. Freudenstein von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär
Bucior! Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!
Nach vielen parlamentarischen Beratungen und wechselnden Regierungskoalitionen können wir heute sagen:
Wir machen gemeinsam einen Punkt hinter das Kapitel
Ghettorente. Nun endlich können auch die in Polen lebenden ehemaligen Ghettobeschäftigten diese Rente beziehen. Wir hoffen jetzt auf eine rasche Umsetzung nach
der Ratifizierung; Frau Staatssekretärin hat uns das ja
schon zugesichert. Dafür herzlichen Dank!
({0})
Bis heute gab und gibt es Kritik daran, dass es viel zu
lange gedauert habe, bis alle Berechtigten die Ghettorente beziehen können. In der Tat: Es hat lange gedauert.
Es gab auch immer wieder den mehr oder weniger offenen Vorwurf, dass es vielleicht sogar von staatlicher
Seite die Absicht gegeben haben könnte, dass gar nicht
so viele Menschen die Ghettorente bekommen. Ich
glaube, es ist deshalb wichtig, hier noch einmal festzuhalten: Als alle Parteien dieses Hauses im Jahre 2002 das
Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschlossen, hatten sie ganz sicher nicht die Motivation und das Ziel, dass es möglichst
wenige sein mögen, die diese Ghettorente bekommen.
Gerade die „Zahlbarmachung“ war ja der Hauptgrund
für das Gesetz.
Auch die Reformen in den folgenden Jahren, die in
die Änderungen des Gesetzes im vergangenen Jahr mündeten, gingen in diese Richtung: So haben wir beispielsweise die ansonsten im Sozialrecht geltende Vierjahresfrist bei den Ghettorenten ausgesetzt. Diese Regelung
war zu Recht von den heute hochbetagten ehemaligen
Ghettobeschäftigten als Unrecht empfunden worden.
Auch die für einen Rentenbeginn im Jahr 1997 einzuhaltende Antragsfrist bis 2003 wurde gestrichen.
Ebenfalls können die Betroffenen nun entscheiden, ob
sie die neu festgestellte Rente mit Rentennachzahlung
beziehen wollen oder ob sie die bisherige Regelung mit
Zuschlag beibehalten wollen. Die berechtigten Interessen der ehemaligen Ghettobeschäftigten haben wir also
berücksichtigt und mehr Wahlmöglichkeiten eingeräumt.
Der Prozess, der bis heute andauerte, war vieles: Er
war in der Tat lang. Fast 18 Jahre sind seit dem Urteil
des Bundessozialgerichts vergangen. Dieser Prozess war
von Umdenken geprägt - von einer juristisch sehr strengen und engen zu einer weiteren Auslegung des Gesetzes. Er war natürlich auch tragisch, weil viele Berechtigte in der Zwischenzeit gestorben sind. Doch eines war
dieser Prozess sicher nicht: Er war nicht einfach, er war
nicht eindimensional. Es gab nämlich sehr viele verschiedene Akteure, von den Antragstellern über Anwälte
und Staaten bis hin zu den Sozialversicherungen, und es
gab die Gesetze verschiedener Länder. Es gab nicht zuletzt eine Zeitspanne von 70 Jahren, die das Erlebte von
dem Heute trennt.
Mit diesen Rahmenbedingungen steht das Verfahren
stellvertretend für viele Verfahren im Rahmen der Wiedergutmachung und Entschädigung. Erlebtes und Erlittenes
musste mit objektiv begründbaren Gesetzen in Einklang
gebracht werden. Gerade im Bereich der Sozialversicherungen stellte sich das als schwierig dar. Hier prallten
eben juristische und alltagsweltliche Sprache und Bedeutung aufeinander.
Was bedeutete zum Beispiel das Wort „freiwillig“ im
Sozialrecht? Für die Ghettoarbeiter war die Gesamtsituation, in der sie ihre Arbeit verrichteten, selbstverständlich nicht freiwillig. Das Erzählen aus der eigenen Lebenswirklichkeit hatte deshalb für viele Menschen zur
Folge, dass sie keine Ghettorente bekamen; denn die
Ghettorente setzte eine Freiwilligkeit der Arbeit voraus.
Begrifflichkeiten wie „Zwangsarbeit“ waren ein zentraler Ablehnungsgrund. Erst die Schilderungen von Historikern bewogen das Sozialgericht, die strenge Auslegung
zu beenden. Das alles hinterlässt bei uns heute kein gutes
Gefühl. Ich meine aber, dass Schuldzuweisungen angesichts der Komplexität des Verfahrens nicht angebracht
sind.
Für die in Polen lebenden ehemaligen Ghettobeschäftigten war es zuletzt aber gar kein Problem der Semantik
mehr, das ihnen die Rente nicht ermöglichte, sondern ein
- es wurde schon erwähnt - 40 Jahre altes Sozialversicherungsabkommen. Das Abkommen selbst hat seine
Bedeutung und seinen Sinn. Für die Ghettobeschäftigten
aber war es ein Hindernis. Diesen Missstand beheben
wir heute, und das ist auch gut so.
({1})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik
Polen wohnhaft sind; in Kurzform: Ghettorentengesetz.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4108,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/3787 und 18/4051 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gibt es jemanden, der dagegen
stimmt? - Gibt es jemanden, der sich enthält? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig
angenommen worden.
({0})
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gibt es jemanden, der dagegen stimmt? - Gibt es jemanden, der sich enthält? - Das ist auch nicht der Fall. Dann
ist der Gesetzentwurf auch in der dritten Lesung einstimmig angenommen worden.
({1})
Das ist nicht nur ein ganz wichtiges Signal für diejenigen, die diese für sie sehr schwierige und für uns immer noch unfassbare Zeit im Ghetto erlebt haben. Es ist
auch ein wichtiges Signal für die Zusammenarbeit mit
Polen. Ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank, dass
Sie, Herr Staatssekretär, an den Beratungen teilgenommen haben. Das unterstreicht die gute Zusammenarbeit,
aber auch die Bedeutung dieses Abkommens für unsere
beiden Länder. Vielen Dank, dass Sie da waren.
({2})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Irene Mihalic, Dr. Konstantin von Notz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Private Sicherheitsfirmen umfassend regulieren und zertifizieren
Drucksache 18/3555
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen jetzt die Plätze
gewechselt bzw. eingenommen haben, werde ich die
Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Frage der Regulierung privater Sicherheitsfirmen betrifft einen Kernaspekt demokratischer
Rechtsstaatlichkeit. Es geht um nichts Geringeres als um
die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Ja,
ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Der Verlust des
staatlichen Gewaltmonopols ist heute das größte Sicherheitsrisiko weltweit. Deswegen müssen gerade wir als
demokratischer Rechtsstaat besondere Verantwortung an
den Tag legen und mit gutem Beispiel vorangehen, sowohl, wenn wir im Ausland weltweit um die 140 Sicherheitsfirmen unter Vertrag nehmen, um deutsche Liegenschaften zu schützen, als auch, wenn es darum geht,
welche Anforderungen wir an die Zulassung privater Sicherheitsdienste im Inland erheben.
Aktuell sieht die Gewerbeordnung lediglich eine
80-stündige rechtliche Unterrichtung und den einmaligen Nachweis der Zuverlässigkeit vor, um ein Bewachungsgewerbe anzumelden. Eine Prüfung ist nicht erforderlich. Damit gehört Deutschland zu den
Schlusslichtern in Europa, was die Zugangsvoraussetzungen von privaten Sicherheitsfirmen angeht. Oder vereinfacht gesagt: Es ist in Deutschland leichter, ein Sicherheitsgewerbe anzumelden, als eine Pommesbude zu
eröffnen.
Private Sicherheitsdienste sind in den letzten Jahren
verstärkt in die Lücken vorgestoßen, die die Sparpolitik
des Bundes und der Länder gerissen hat, auch in den
Etats der Innenministerien. Die Innenministerkonferenz
betrachtet die Sicherheitsbranche inzwischen als festen
Bestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur. Gerade
in den letzten Monaten haben aber unter anderem Vorfälle in Asylbewerberunterkünften an deutschen Flughäfen gezeigt, dass die Gesetzgebung nicht mehr den aktuellen Verhältnissen gerecht wird. Es reicht eben nicht,
dass die persönliche Zuverlässigkeit und Geeignetheit
einmalig bei Aufnahme der Tätigkeit im beauftragten
Unternehmen überprüft wurden. Viele dieser Angestellten versehen ihren Dienst immerhin bewaffnet, mit
Schusswaffen oder Schlagwaffen. Hier besteht akuter
Regelungsbedarf, und daher legen wir Ihnen heute diesen Antrag vor.
({0})
Wir hatten bereits in der letzten Legislaturperiode auf
das Problem hingewiesen. Damals forderten die deutschen Reeder die Lizenzierung von Bewachungsunternehmen an Bord von deutschen Handelsschiffen. Aber
statt die Qualitätsstandards für die ganze Branche hochzusetzen - wie wir es in unserem Antrag schon gefordert
hatten -, haben Sie sich damals mit den Schiffen begnügt. Für unseren weitergehenden Antrag hatten und
haben wir übrigens auch die Unterstützung des Branchenverbandes der privaten Sicherheitswirtschaft. Es hat
leider vor allem die FDP nie verstanden, dass es durchaus auch im Interesse der Wirtschaft liegt, sich durch
staatliche Regulierung die Konkurrenz zwielichtiger Rockerbanden vom Hals zu halten, die mal eben ein Gewerbe anmelden, um dann ganz offiziell das Rotlichtmilieu zu kontrollieren.
({1})
Auch die von den Innenministern eingesetzte Kommission hat ein eigenes Gesetz für den Bereich der privaten
Sicherheitsdienste befürwortet. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, es sind auch Ihre Innenminister, die Handlungsbedarf anmelden. Nutzen Sie
jetzt die Chance, dass Sie die FDP abgeschüttelt haben!
Wenn wir schon dabei sind: Lassen Sie uns nicht den
Blick über den Tellerrand vergessen. Wir müssen daran
denken, auch den Export von privaten Sicherheitsleistungen ins Ausland zu kontrollieren. Die Genehmigungsvoraussetzungen für Rüstungsexporte sollten nicht
nur für die Waffe selbst Anwendung finden, sondern
auch für die Hand, die die Waffe führt. Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, das habt ihr in der letzten Legislaturperiode doch auch schon beschlossen.
Exzesse privater Sicherheitsfirmen, wie wir sie im
Irak oder in Afghanistan erleben mussten, können wir
naturgemäß nur im internationalen Rahmen verhindern.
Deutschland muss sich deswegen stärker in den UN für
eine internationale vertragliche Regulierung engagieren.
Da hilft es auch bei der eigenen Glaubwürdigkeit, wenn
man erst mal bei sich zu Hause seiner Verpflichtung
nachkommt.
({2})
Wir wollen Sie mit diesem Antrag motivieren. Wenn
Sie uns nicht zustimmen wollen, dann können Sie gerne
selber etwas vorlegen. So wie bisher kann es jedenfalls
nicht weitergehen.
Vielen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin spricht Dr. Kristina Schröder
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Gewaltmonopol des Staates ist eine
Grundvoraussetzung für das Funktionieren unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Der Bürger verzichtet darauf, Gewalt auszuüben, um seine Rechte
durchzusetzen, und unser Grundgesetz legt fest, dass
dies allein Justiz- und Exekutivorganen vorbehalten ist.
Wir sind uns einig, dass dieses Prinzip essenziell für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Juristisch ist das Gewaltmonopol durch den Antrag der Grünen zur Regulierung privater Sicherheitsfirmen auch
nicht tangiert. Schließlich verfügen die Angestellten dieser Firmen nur über die sogenannten Jedermannsrechte;
das will hier, glaube ich, auch niemand ändern.
De facto sprechen wir heute aber sehr wohl über Aspekte des Gewaltmonopols, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens. Wenn immer mehr Menschen für unterschiedliche Zwecke private Sicherheitsfirmen beauftragen, dann
scheinen sie der Auffassung zu sein, der Staat komme
seinen Pflichten, die aus dem Gewaltmonopol resultieren, nur ungenügend nach.
Ich finde, das muss uns nachdenklich stimmen.
Schließlich kann niemandem daran gelegen sein, dass in
unserem Land Zustände wie beispielsweise in Südafrika
einreißen. Dort ist die Lage so, dass diejenigen, die sich
das leisten können, einen privaten Sicherheitsdienst engagieren, um ihr Leben und ihr Eigentum zu schützen,
weil der Staat das nicht in ausreichendem Maße gewährleistet. Ganze Wohnsiedlungen sind umzäunt und privat
bewacht. Von solchen Zuständen sind wir in Deutschland glücklicherweise noch meilenweit entfernt. Ich
möchte nicht, dass es auch bei uns eine Frage des Kontostands wird, wie sicher man ist oder wie sicher man sich
fühlt.
({0})
Insofern frage ich mich, liebe Grüne, wie Sie es zusammenbekommen wollen, dass Sie - so steht es in Ihrem Antrag - eine Erosion des Gewaltmonopols befürchten, aber an anderer Stelle immer mal wieder gerne
Misstrauen gegen unsere Sicherheitsbehörden schüren
({1})
und mit dafür verantwortlich sind, wenn zum Beispiel in
Schleswig-Holstein die rot-grüne Landesregierung gerade 120 Polizeistellen abgebaut hat.
({2})
Der zweite Grund, warum die heutige Debatte auch
das Gewaltmonopol betrifft, ist folgender: Es reicht doch
schon aus, wenn privates Sicherheitspersonal subjektiv
als Vertretung des Staates empfunden wird. Die meisten
Flüchtlinge, die in eine Asylbewerberunterkunft kommen, gehen mit Sicherheit davon aus, dass Menschen in
Uniform, die ihnen auch Anweisungen geben, Vertreter
des Staates mit hoheitlichen Rechten sind.
Dr. Kristina Schröder ({3})
Daher sollten wir uns nach der umfassenden Regelung der Bewachung von Seeschiffen in internationalen
Gewässern in der letzten Legislaturperiode sehr genau
überlegen, welche Anforderungen wir an private Sicherheitsfirmen stellen, die im Inland tätig sind. Deshalb haben wir uns in unserem Koalitionsvertrag dieses Thema
vorgenommen.
({4})
Ob und in welcher Form wir gesetzgeberisch eingreifen und wie weit wir bei der Regelungstiefe gehen wollen, darüber muss jetzt diskutiert werden. Aber fest steht
erst einmal: Sowohl das Bundeswirtschaftsministerium
als auch das Bundesinnenministerium sehen Handlungsbedarf und haben sich intensiv, wenn auch noch nicht
abschließend mit dem Thema befasst.
({5})
Die Innenministerkonferenz hat im Dezember 2013 Vorschläge zur Überarbeitung des Bewachungsrechts beschlossen. Bundesinnenminister de Maizière hat sich
daraufhin mit der Bitte um Unterstützung an Bundesminister Gabriel gewandt, der zuständig ist, weil das
Ganze eine gewerberechtliche Frage ist. Das ist auch der
Grund, weswegen wir hier eine Federführung der Wirtschaftspolitik haben.
({6})
Im November 2014 wurde dann eine Bund-LänderArbeitsgruppe eingesetzt, die sich unter Vorsitz des Bundeswirtschaftsministeriums der Überarbeitung des Bewachungsrechts annimmt. Die erste Sitzung fand im Januar 2015 statt. Die Arbeitsgruppe war sich einig, dass
insbesondere der Bereich „Zuverlässigkeitsüberprüfung
und Sachkundenachweis“ neu geregelt werden sollte.
Das unterstütze ich. Ich kann mir darüber hinaus weitere
sinnvolle Maßnahmen vorstellen.
Die Vorfälle im letzten Jahr im nordrhein-westfälischen Burbach haben uns alle schockiert. Dort soll privates Wachpersonal Asylbewerber misshandelt und dies
auf Fotos und Videos festgehalten haben. Wenn eine moderate Anhebung der Mindeststandards dazu beitragen
kann, weitere solcher Fälle zu vermeiden, dann sollten
wir das in Angriff nehmen.
({7})
Es ist doch schon bemerkenswert, dass unsere Gewerbeordnung derzeit strengere Regelungen für die Bewachung von Diskotheken vorschreibt als für diejenigen,
die in Asylbewerberunterkünften mit schwer traumatisierten Menschen umgehen.
Aber auch die Länder tragen bei diesem Thema politische Verantwortung. Sie haben es nämlich selbst in der
Hand, in ihren Ausschreibungen zur Überwachung von
Asylbewerberunterkünften bei den Anforderungen an
die Sicherheitsfirmen über die Mindestanforderungen
der Gewerbeordnung hinauszugehen.
Das Land Hessen ist hier ein positives Beispiel. Es
fordert von den Sicherheitsfirmen, die es unter Vertrag
nimmt, für das gesamte Personal das erweiterte Führungszeugnis vorzulegen, das Einverständnis zu einer
Sicherheitsüberprüfung durch die Polizei, und es fordert,
dass das Personal regelmäßig Deeskalationstrainings zu
absolvieren und interkulturelle Kompetenzen nachzuweisen hat. Außerdem vergibt Hessen Aufträge an Sicherheitsunternehmen ausschließlich selbst und überlässt dies nicht den Subunternehmen. Im nordrheinwestfälischen Burbach war genau dies der Fall: Dort war
der Sicherheitsdienst ein Subunternehmen der Betreiberfirma der Asylbewerberunterkunft. Es ist also auch eine
politische Frage, wie weit ein Land bereit ist, sich in diesem sensiblen Bereich zu engagieren, selbst Verantwortung zu übernehmen und bei der Ausschreibung nicht
nur auf die Kosten zu schauen, sondern auch auf Qualitätskriterien.
({8})
Aus wirtschaftspolitischer Blickrichtung ist natürlich
eines klar: Jede Verschärfung der Mindeststandards für
Sicherheitsfirmen ist auch ein Eingriff in die Gewerbefreiheit. Es liegt zunächst in der Freiheit und der Verantwortung des Einzelnen, für die Bewachung seines Eigentums oder die Sicherung der eigenen Veranstaltung
denjenigen einzustellen, den er für diese Zwecke für geeignet hält. Jeder kann, wenn es um eine schwierige Aufgabe geht, die Anforderungen an die beauftragte Person
hochschrauben, oder er kann sagen: Meinen Schrottplatz
zu bewachen, ist nicht so furchtbar anspruchsvoll; da reichen mir die Mindestanforderungen der Gewerbeordnung.
Insofern plädiere ich für eine Neuregelung mit Augenmaß, die innenpolitische und wirtschaftspolitische
Erwägungen berücksichtigt und nur dort regulierend eingreift, wo wir uns begründet einen Mehrwert versprechen können. Bis Ende des Jahres wird die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Eckpunktepapier mit Vorschlägen
zur Novellierung des Gewerberechts erarbeiten. In diesem Sinne freue ich mich auf interessante Diskussionen
zu diesem Thema.
({9})
Als nächster Redner hat Thomas Lutze von der Linken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bündnis 90/Die Grünen beantragen heute unter anderem, dass private Sicherheitsunternehmen stringenter zertifiziert werden müssen.
In der Bundesrepublik gibt es rund 170 000 Menschen,
die bei privaten Sicherheitsunternehmen arbeiten. Die
meisten von ihnen, und zwar die allermeisten, machen
einen sehr verantwortungsvollen Job. Sie stehen rund
um die Uhr bei Wind und Wetter vor Gebäuden und auf
Plätzen. Sie sorgen für die Sicherheit bei Konzertveranstaltungen oder Fußballspielen. Sie gehen dazwischen,
wenn Angetrunkene in Streit geraten, und riskieren dabei oftmals Kopf und Kragen. Sie gehen nach acht bis
zehn Stunden nach Hause und erhalten für ihre Tätigkeit
in der Regel nicht mehr als den Mindestlohn. Dieses Geschäft mit der Sicherheit ist ein knallharter Wettbewerb.
Unternehmen sehen sich oft gezwungen, die Personalausgaben zu drücken, um einen Auftrag zu bekommen.
Das sind Wildwestmethoden. Mit sozialer Marktwirtschaft hat dieser Wettbewerb nichts zu tun.
({0})
Deshalb ist es gut, dass die grüne Fraktion dieses
Thema heute auf die Tagesordnung gesetzt hat. Dieses
Anliegen unterstützen wir. Wir unterstützen die Forderung, dass es für private Sicherheitsunternehmen eine
einheitliche und transparente Zertifizierung geben muss.
Ich sage es ganz deutlich, auch wenn es in diesem Haus
vielleicht nicht so populär klingt: Dieser Markt muss
mehr reguliert werden. Wir brauchen europaweit einheitliche Standards.
({1})
Eine Kommune, die ein Unternehmen beauftragt,
muss quasi auf den ersten Blick erkennen können, welche Leistung sie geboten bekommt. Es muss anhand von
Zertifikaten und Logos sofort zu sehen sein, welche
Ausbildung die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben.
Es muss klar erkennbar sein, dass alle Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter im Hinblick auf die gesetzlichen Grundlagen geschult und diese ihnen präsent sind. Datenschutz
oder Persönlichkeitsrechte zum Beispiel sind hier keine
Nebensächlichkeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Auch das ist mir wichtig: Einige Unternehmen des
privaten Sicherheitssektors - es sind schon Beispiele genannt worden - sind in die Schlagzeigen geraten, weil
ihre Mitarbeiter der rechtsextremen Szene angehören.
Oft ist das kein Zufall; denn in der Regel gehört ein derartiges zwielichtiges Unternehmen Leuten, die selbst in
der rechtsextremen Szene verankert sind. Es ist grotesk,
wenn zum Beispiel ehemalige Straftäter aus dem rechtsextremen Milieu Fußballspiele der Regionalliga absichern und bei Bedarf dazwischengehen, wenn gleich gesinnte zwielichtige Gestalten aufeinander losgehen.
Bei der Polizei von Bund und Ländern werden bei der
Personalauswahl vollkommen zu Recht sehr hohe Anforderungen gestellt. Im privaten Sicherheitsgewerbe
- so mein Eindruck - gibt es öffentliche Aufmerksamkeit
immer erst dann, wenn dicke Schlagzeilen in den Zeitungen stehen. Das kann man mit strengeren Gesetzen und
Richtlinien als Gesetzgeber durchaus vermeiden. Ich
möchte mich dafür einsetzen, dass die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter von privaten Sicherheitsunternehmen einen sicheren Arbeitsplatz haben. Ich sage aber ganz
deutlich, dass es mir lieber wäre, wenn hoheitliche Aufgaben ausschließlich von staatlichen Sicherheitskräften
ausgeführt würden.
({3})
Es fehlt jedoch vielerorts an Polizeikräften; im ländlichen Raum schließt ein Polizeirevier nach dem anderen.
Diese Entwicklung sehen wir als Linke sehr kritisch.
Das muss sich ändern - vielleicht auch dadurch, dass
man Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem privaten
Bereich in den öffentlichen überführt.
Herzlichen Dank. Glückauf!
({4})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt Marcus
Held von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema, mit dem wir uns heute zu befassen haben, ist ein gesamtgesellschaftliches Thema; denn
die Situation und Ausgangslage bei der Überwachung
von Gebäuden, von Straßen, von Plätzen, von Veranstaltungen haben sich in den zurückliegenden Jahren stark
gewandelt. Das hat Auswirkungen auf das tägliche Leben unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, auf ihr
Sicherheitsempfinden und damit auf die Lebensqualität.
Es geht ganz zentral um das Gewaltmonopol des
Staates, um die Frage, ob unsere heutigen Regularien
hierfür überhaupt noch anwendbar sind. War es bis vor
einigen Jahren völlig klar, dass vom Gewaltmonopol des
Staates auszugehen ist und im Bereich der Bewachung
und der Sicherheit und Ordnung keine Privatisierung
erfolgt, so leisten heute in ganz Deutschland über
185 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste einen großen Beitrag zur Gefahrenabwehr und sind damit innerhalb unserer Sicherheitsarchitektur nicht wegzudenken. Ob wir als Gesetzgeber die
rechtlichen Rahmenbedingungen diesen Veränderungen
bereits angepasst haben, das ist leider mehr als fraglich.
({0})
Wir müssen sehen, dass sich hier zwei Interessen gegenüberstehen. Zum einen ist da die althergebrachte und
in unserer Rechtsordnung tief verwurzelte Auffassung,
dass das Gewaltmonopol grundsätzlich beim Staat liegt.
Nach dieser Auffassung bestehen Eingriffsrechte nur
durch Organe des Staates: durch die Polizei, ihre Hilfsbehörden sowie kommunale Ordnungsämter in abgestufter Weise. Dieser seit Jahrzehnten in unserer Rechtsordnung verbriefte Grundsatz ist nicht zuletzt vor dem
Hintergrund unserer Geschichte durchaus nachvollziehbar und begründet. Auf der anderen Seite müssen wir,
wenn 185 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in privaten Sicherheitsdiensten heute vergleichbare Aufgaben in
unserer Gesellschaft verrichten, prüfen, welche Rechte
diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zukommen
sollen und ob diese Rechte dann nicht mehr bei der Poli8386
zei und damit bei dem Gewaltmonopol des Staates liegen müssen.
Voraussetzung für eine solche Übertragung und Veränderung des Rechtssystems ist allerdings, dass private
Sicherheitsfirmen in der öffentlichen Wahrnehmung unumstritten sind, breites Ansehen und Anerkennung genießen, wie dies beispielsweise bei der Polizei der Fall
ist.
({1})
Diese Anerkennung kann nur erreicht werden, wenn die
Qualität der privaten Sicherheitsdienste stimmt und
wenn vor allem die qualitative Auswahl des Personals sichergestellt ist. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, dass wir verbindliche Anforderungen
an Seriosität und Zuverlässigkeit privater Dienstleister
und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen wollen.
Eine Arbeitsgruppe zur Überprüfung und Überarbeitung des Bewachungsrechts ist unter dem Vorsitz des
BMWi eingerichtet worden. Sie soll noch in diesem Jahr
entsprechende Lösungsvorschläge erarbeiten und vorlegen. Wir wollen die Ergebnisse der Kommission abwarten und dann gemeinsam Verbesserungen umsetzen.
Derzeit ist das Bewachungsgewerbe in § 34 a der Gewerbeordnung und in der Bewachungsverordnung geregelt. Die Erteilungsvoraussetzungen sind sehr niederschwellig. Das Gleiche gilt leider auch für Personen, die
in Bewachungsunternehmen beschäftigt sind. Was kann
und soll sich ändern?
Wir haben uns heute mit dem Antrag der Kolleginnen
und Kollegen der Grünen zu befassen und sind im Gegensatz zu dem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben,
nicht der Auffassung, dass wir § 31 der Gewerbeordnung ausdehnen sollten; denn § 31 der Gewerbeordnung
beschäftigt sich mit Bewachungsunternehmen, die auf
Seeschiffen tätig sind und zur Bekämpfung von Piratenangriffen eingesetzt werden. Diese Aufgabe ist mit einem durchschnittlichen Bewachungsgewerbe nicht vergleichbar. Das Zulassungsverfahren wäre zu aufwendig
und kostenintensiv. Außerdem würde es die Gefahr mit
sich bringen, dass kleine Bewachungsunternehmen vom
Markt verdrängt würden. In der Praxis liegen die Probleme zudem nicht bei den Unternehmen, sondern beim
eingesetzten Bewachungspersonal. Hier müssen wir ansetzen. Eine gute Ausbildung, ein gutes Auftreten und
vor allem Fingerspitzengefühl in brenzligen Situation
sind beim Bewachungspersonal wichtig.
({2})
Genau in diese Richtung ist die Arbeitsgruppe in ihrer
ersten Sitzung im Januar gegangen. Es werden die Erhöhung der Sachkundeanforderungen für die Bewacherinnen und Bewacher, die Einführung regelmäßiger Zuverlässigkeitsüberprüfungen und anderes vorgeschlagen.
Weitere Ansätze für Qualitätsverbesserungen können
sich durch die Weiterentwicklung der Norm DIN 77200
ergeben, die sich mit genau diesen Anforderungen befasst. Wir haben uns in diesem Jahr aber auch noch mit
dem Vergaberecht zu beschäftigen. Gerade durch Verbesserungen im Vergaberecht können wir für das Bewachungsgewerbe einiges auf den Weg bringen; denn wenn
es um Menschen geht, kann nicht immer nur der Preis
entscheiden. Hier muss vor allem die Qualität stimmen.
Deshalb ist als wichtiges Auswahlkriterium der Nachweis qualitätssichernder Standards einzuführen.
({3})
Qualität hat ihren Preis, und das ist auch gut so für die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem privaten
Sektor.
({4})
Wir wollen keine Regelung auf EU-Ebene - auch das
sage ich deutlich -, da dies nur zu EU-Minimalstandards
und damit zu einer Absenkung des Niveaus in Deutschland führen würde.
Zum Schluss möchte ich zusammenfassen: Wir wollen die Anforderungen an Seriosität und Zuverlässigkeit
privater Sicherheitsfirmen erhöhen, indem wir Änderungen im Gewerberecht vornehmen. Qualifizierte private
Sicherheitsdienste können zur wirksamen Entlastung der
Polizei in unserem Land beitragen und die Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland verbessern.
Dazu muss aber sichergestellt werden, dass solche Privaten zum Zuge kommen, die genau die Qualifikationen,
die ich genannt habe, nachweisen.
Wir müssen in dieser Debatte aber auch die grundsätzliche Frage beantworten, ob wir bereit sind, gesetzlich
verankerte Befugnisse des staatlichen Gewaltmonopols
Polizei auf private Sicherheitsdienstleister zu übertragen, wie zum Beispiel die Überprüfung von Personalien
oder die Aussprache von Platzverweisen. Viele Tausend
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen unterstützen schon heute die Ordnungsämter unserer Städte bei der täglichen Arbeit. Auch hier werden wir
zu entscheiden haben, wie wir dazu stehen. Am Ende
bleibt die Kernfrage: Rütteln wir am staatlichen Gewaltmonopol aus Artikel 33 des Grundgesetzes oder nicht?
Die heutige Diskussion über das Bewachungsrecht ist
nur ein Einstieg.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3555 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Energie; die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Darüber müssen wir jetzt abstimmen. Ich lasse zuerst
über den Überweisungsvorschlag der Fraktion BündVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
nis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim
Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition.
Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? - Die Opposition. Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen
der Koalition angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Bildung in Deutschland gemeinsam voranbringen, Lehren aus dem nationalen Bildungsbericht 2014 ziehen, Chancen der
Inklusion nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Sabine
Zimmermann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bildungsverantwortung gemeinsam wahrnehmen - Konsequenzen aus dem Bildungsbericht ziehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Kai Gehring, Beate WalterRosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildung schafft Teilhabe und Chancengleichheit - Empfehlungen des Nationalen
Bildungsberichts 2014 zügig umsetzen
Drucksachen 18/3546, 18/3728, 18/3412, 18/4086
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner in dieser Debatte hat der Kollege Xaver Jung von der
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der fünfte Nationale Bildungsbericht bestätigt
erneut eine Verbesserung der Bildung in Deutschland.
Unser Dank gilt allen am Bildungssystem Beteiligten,
zuallererst den Lehrerinnen und Lehrern in allen Bildungsbereichen.
Meine Damen und Herren, der Bericht hat das
Schwerpunktthema Inklusion. Ich möchte gerne die Gelegenheit nutzen, hier verstärkt auf die Herausforderungen für unser Bildungssystem einzugehen. Inzwischen
gibt es an vielen Schulen tolle, lobenswerte Beispiele gelungener Integration und Inklusion. Die Kultusministerkonferenz arbeitet an einer umfassenden Umsetzung zur
Inklusion. Aber auch wir, der Bund, wollen dabei den
Ländern mit Forschungsaufträgen gerne beratend zur
Seite stehen. Viele Bundesländer haben sich zu weitreichenden Zielen hinsichtlich der Inklusion verpflichtet.
Wie diese Ziele verwirklicht werden sollen, ist leider in
vielen Fällen noch völlig offen. Hier wird inzwischen
hektisch an vielen Rädern gedreht. Wir müssen aufpassen, dass unsere Kinder in der Eile dabei nicht unter die
Räder geraten.
Gute Inklusion ist ein langfristiger Prozess, und die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kann
nicht von heute auf morgen gelingen. Inhaltliche Qualität braucht Vorrang gegenüber einer übereilten Umsetzung.
({0})
Wir brauchen ein allgemeines pädagogisches Gesamtkonzept, um individuell und zielgerichtet helfen zu können.
Dazu müssen die Länder die bestmöglichen personellen,
räumlichen und sächlichen Ressourcen bereitstellen.
Ebenso gehört vor allem ein wohnortnahes, differenziertes Schulangebot dazu. Wir dürfen unser differenziertes
Fördersystem nicht leichtfertig aufgeben. Dazu gehört
eine zieldifferenzierte Förderung, mit der sichergestellt
wird, dass alle Schülerinnen und Schüler die für sie bestmögliche Bildung und den bestmöglichen Bildungsabschluss bekommen.
({1})
- Herr Mutlu, Sie haben doch in der letzten Diskussion
dazu dem Schulsystem die Schulnote Sechs gegeben.
({2})
Jetzt führe ich die Defizite auf, die Sie so bemängelt haben. Hören Sie doch zu! Dann können wir das ändern.
Individuelle Förderung kann der Besuch einer Förderschule, einer Außenklasse oder ein inklusives Modell
sein. Wahlfreiheit und unabhängige Beratung für die Eltern sind die Voraussetzungen für eine gelingende Inklusion.
({3})
Es müssen auch alle Lernorte mit einbezogen werden:
von den Kitas über Grundschulen zu den weiterführenden Schulen, auch die berufsbildenden Schulen bis hin
zu den Hochschulen. Sie alle müssen ein stringentes
inklusives Konzept bekommen, wobei besondere Zugangsvoraussetzungen, zum Beispiel für das Gymnasium, auch für Kinder mit Behinderungen gelten müs8388
sen. Um die Schüler besser und praxisnah auf ein
selbstbestimmtes Leben und einen gelingenden Übergang in die Arbeitswelt vorzubereiten, müssen wir auch
die an Förderschulen erworbenen Abschlüsse bundesweit anerkennen.
Meine Damen und Herren, wichtig sind darüber hinaus gut durchdachte pädagogische Konzepte für alle
Regelschulen, die sich für Kinder und Jugendliche mit
besonderen Ansprüchen öffnen. Diese Zusatzleistung
kann und darf nicht auf den Schultern der Lehrer ausgetragen werden.
Wir brauchen mehr Lehrpersonal und vor allem auch
mehr Sonderpädagogen und Sozialpädagogen, die den
Klassen und ihren Lehrern fachlich kompetent zur Seite
stehen. Wir dürfen unsere Lehrerinnen und Lehrer hier
im wahrsten Sinne des Wortes nicht alleinelassen.
({4})
Die Lehrerausbildung muss zwar auf die Anforderungen
der heterogenen Beschulung vorbereiten. Wir brauchen
aber keine Förderschullehrer mit einer Ausbildung light,
sondern hochqualifiziertes Personal.
Eine besondere Aktualität und Herausforderung liegt
zurzeit auch in der Beschulung von Flüchtlings- und
Asylkindern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, die
unter anderem die Vermittlung von Grundkompetenzen
wie die deutsche Sprache in den Fokus nehmen. Mit einem gut funktionierenden inklusiven Schulsystem kann
auch Platz für diese Kinder geschaffen werden. Mit
Sprache als Schlüsselkompetenz können wir diese Kinder mehr in die Gesellschaft integrieren und ihnen so
Wege zu erfolgreichen Schulabschlüssen und gegebenenfalls auch zum Arbeitsmarkt eröffnen. Hierbei müssen sich die Bundesländer auf ihre Kommunen zubewegen und ihnen unterstützend zur Seite stehen. Auch der
Bund wird seiner Verantwortung gerecht: Er hat sich hier
bereits 2015 mit einer halben Milliarde Euro für die
Kommunen beteiligt. Für das kommende Jahr ist noch
einmal eine halbe Milliarde Euro in Aussicht gestellt.
Wir haben in unserem Antrag jede Menge Vorschläge
und Anregungen für Bund und Länder formuliert. Die
Zeit reicht nicht, das alles aufzuzählen. Ich bitte Sie,
dem Antrag der Koalition zuzustimmen.
Vielen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat Dr. Hein von der Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bildungsberichte helfen in der Bildungswirklichkeit nur,
wenn man die Botschaften darin auch ernst nimmt und
die entsprechenden Schlussfolgerungen zieht.
({0})
Das aber haben wir bei den Koalitionen der vergangenen
zehn Jahre durch die Bank weg vermisst. Wir versuchen
deshalb mit unserem Antrag, etwas Nachhilfe zu geben.
Wir haben nicht alles Wünschenswerte dort hineingeschrieben, sondern uns auf grundsätzliche Forderungen
beschränkt, deren Umsetzung wir für ein Umsteuern für
nötig halten. Und die kann jetzt vom Bund in Angriff genommen werden.
Von der Politik wird nämlich erwartet, dass sie in der
Bildung Grundsätzliches ändert. Dabei darf man dann
nicht nur auf die Zuständigkeiten der anderen schauen,
sondern muss als Bund auch selbst etwas Grundsätzliches tun.
({1})
Sie aber haben zusammen mit den Ländern im vergangenen Jahr die Chance verstreichen lassen, grundsätzliche
Bildungsfragen auch grundsätzlich besser zu lösen. Mit
der Grundgesetzänderung, die für den Hochschulbereich
beschlossen worden ist, soll ja nicht einmal mehr Geld in
die Kassen gespült werden, sondern nur Bürokratie abgebaut und etwas mehr Verlässlichkeit geschaffen werden. Das ist sicherlich sinnvoll, aber reicht bei weitem
nicht aus. Die dauerhafte Unterfinanzierung aller Bildungsbereiche gehen Sie nicht an. Darum will ich mich
heute vor allem noch einmal mit dem Geld beschäftigen.
Schon 2007, also vor dem Bildungsgipfel, kommt die
Gewerkschaft Verdi auf einen jährlichen Mehrbedarf
von rund 43 Milliarden Euro. Die Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft hat bereits 2004 notwendige Mehrausgaben von 34 Milliarden Euro festgestellt, und die ist
nicht verdächtig, links zu sein. In einer Studie der HansBöckler-Stiftung von 2008 listet Roman Jaich, den wir
übrigens auch schon im Ausschuss als Experten gehört
haben, einen jährlichen Mehrbedarf von knapp 30 Milliarden Euro auf, und eine GEW-Studie aus dem Jahre
2011 stellt einen jährlichen Mehrbedarf von - nicht erschrecken - 56 Milliarden Euro für die Umsetzung notwendiger Verbesserungen in der Bildung fest, und zwar
Verbesserungen, für die es eine deutliche Mehrheit in der
Gesellschaft und wo es auch eine Erwartungshaltung seitens der Gesellschaft gibt. Schließlich liest man noch im
Wahlprogramm der SPD als Forderung des Bürgerkonvents von 2013 die Summe von immerhin 20 Milliarden
Euro, die jedes Jahr mehr für Bildung ausgegeben werden sollen.
Natürlich müssen diese Summen nicht allein im Bundeshaushalt untergebracht werden. Bund, Länder und
Kommunen können sie gemeinsam tragen. Eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung, wie die Linke sie fordert,
wäre da doch wohl angemessen.
({2})
Ich glaube, das würde helfen; denn bessere Bildung kostet eben auch mehr Geld.
Nehmen wir einmal die 1,2 Milliarden Euro, die in
den letzten Monaten immer als tolles Geschenk an die
Länder verkauft worden sind,
({3})
und schauen wir uns an, was für ein Streit darüber entbrannt ist. Die Ministerin hat noch im Sommer des vergangenen Jahres gesagt, damit könne man gut Schulsozialarbeit finanzieren. Die Koalition, vor allen Dingen
die CDU/CSU, will, dass dieses Geld möglichst vollständig in die Hochschulfinanzierung fließt. Die Länder
wollen es aber auch für die bessere Bezahlung und die
Einstellung von Lehrkräften ausgeben sowie für Inklusion, immerhin ein Schwerpunkt dieses Bildungsberichtes. - Das alles haben Sie ziemlich beargwöhnt. So weit
geht bei Ihnen der Föderalismus dann wohl doch wieder
nicht. Aber man braucht außerdem noch Geld, um die
maroden Schulgebäude zu sanieren. Sie haben eben gesagt: Wir wollen Ganztagsschulen. Wir wollen bessere
Lernbedingungen für Kinder mit Handicaps. - Die Kommunen können die Sanierungsaufgaben schon seit langem nicht mehr stemmen. Wir brauchen bessere, anders
ausgebaute Schulen, und wir brauchen mehr und besseres Personal. Allein der gute Wille wird bei der Inklusion
nicht helfen.
({4})
Wenn der Bund für jede dieser fünf Aufgaben, also
Schulsozialarbeit, Hochschulfinanzierung, Einstellung
von Lehrkräften, Inklusion und Schulsanierung, jeweils
1,2 Milliarden Euro jährlich bereitgestellt hätte, dann
könnte man mit gutem Gewissen sagen: Das ist ein vielversprechender Anfang. So aber wird es hinten und
vorne nicht reichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist völlig bewusst: Sie werden unseren Antrag heute ablehnen. Aber
ich verspreche Ihnen: Wir werden hartnäckig bleiben
und diese Forderungen immer wieder stellen, bis der
Groschen gefallen ist.
({5})
Danke schön.
({6})
Als nächster Redner hat Dr. Rossmann von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist nun, glaube ich, schon das dritte oder vierte Mal,
dass wir über den Nationalen Bildungsbericht im Plenum und im Ausschuss mit ziemlich gleichen Worten reden. Deshalb bleibe ich bei der Linie, die der Kollege
Jung schon angesprochen hat. Wir wollen uns auf den
Schwerpunkt Inklusion, auf das Praktische, auf das Konkrete einlassen. Die große Finanzdebatte führen wir
gerne ein andermal.
({0})
Ich will an die Geschichte der Nationalen Bildungsberichte anknüpfen. 2006 wurde der erste Nationale Bildungsbericht mit den Schwerpunkten Integration, Migration und Bildung vorgelegt; der aktuelle Bericht hat
den Schwerpunkt Inklusion, und der nächste Bericht soll
wieder die Schwerpunkte Migration und Bildung haben.
Was ist eigentlich die Klammer zwischen Inklusion und
Integration? Ich glaube, es ist das Grundverständnis
- diese Erkenntnis hat sich mittlerweile in Deutschland
breit durchgesetzt; das ist ein großes Glück -, dass alle
Menschen trotz ihrer Verschiedenheit jedes Recht auf
Bildungschancen haben müssen.
({1})
Dass diese Bildungschancen nicht immer gleich weit
führen, ist etwas, was wir von Inklusion bis Integration
diskutieren können. Aber jedenfalls sollen alle Menschen Bildungschancen haben.
In Bezug auf das Konkrete, was Inklusion angeht, haben wir versucht, diesen Schwerpunkt in einem sehr
konkreten Handlungsprogramm seitens der Regierungsfraktionen abzubilden. Die Oppositionsfraktionen werden uns treiben, wenn das nicht alles umgesetzt wird.
Wir lassen uns dann auch treiben.
Aber begeisterter ist man ja, wenn man hört, dass in
der Praxis schon etwas passiert. Die Initiative für Assistierte Ausbildung hat auch etwas mit dem Aufnehmen
des Inklusions- und Integrationsgedankens zu tun.
({2})
Die Assistierte Ausbildung ist jetzt gesetzlich verankert
worden und wird mit Geld unterlegt - und das mit nicht
zu wenig. Das ist ein gesamtstaatlicher Beitrag. Aber wir
können auch schauen, was in den Ländern in Sachen Inklusion passiert. Rheinland-Pfalz hat - ich nenne zuerst
die kleinere Zahl - ein spezielles Unterstützungsprogramm für die Kommunen aufgelegt mit zusätzlichen
10 Millionen Euro für Inklusion an Schulen.
({3})
Im größeren Nordrhein-Westfalen sollen 150 Millionen
Euro an die Kommunen gehen, damit Inklusion umgesetzt werden kann. Diesen Geist brauchen wir, wenn es
um die schrittweise Umsetzung unseres Anspruchs geht,
in Verschiedenheit allen Kindern und allen Jugendlichen
Chancen zu geben.
({4})
Weil ich finde, dass dieser Nationale Bildungsbericht
nicht dadurch ertragreicher wird, dass man ihn drei- oder
viermal verbal reflektiert, möchte ich die verbleibenden
vier Minuten nutzen, um auf ein anderes Thema von
nationalem Interesse hinzuweisen: die Situation von
Flüchtlingskindern. Auch wenn das Thema in diesem
Nationalen Bildungsbericht noch nicht erwähnt ist, ist es
eines, das aufgrund der gemeinschaftlichen Philosophie,
die wir in Deutschland haben, Kommunen, Länder und
Bund berühren muss; denn wir wissen, dass unter den
300 000 geflüchteten Menschen viele Kinder und Jugendliche sind, die dramatische Entwicklungen nehmen
können - im Negativen, aber hoffentlich auch im Positiven.
In diesem Zusammenhang hat es über verschiedene
Stationen einen gemeinsamen Geist gegeben, den man
nicht nach Parteifarben sortieren kann. Es war sehr gut,
dass Frau Böhmer in ihrer Zeit als Beauftragte der Bundesregierung verkünden konnte, dass wir den Zugang zu
Kindertagesstätten nicht mehr daran binden, dass die
Kinder Papiere mitbringen. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.
({5})
Denn was können die Kinder dafür, dass sie Papiere haben müssen, wenn sie in eine Kindertagesstätte gehen
wollen? Wir haben auch erreicht, dass Kinder, die in die
Schule gehen, Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets in Anspruch nehmen können; denn wir wollen zwischen Flüchtlingskindern und anderen Kindern keinen
Unterschied machen, wenn es um den Zugang zum Mittagessen geht. Das ist etwas, was wir erreicht haben und
zeigt, dass wir uns um diese Kinder mit kümmern.
Ich bleibe beim Bereich Schule. Es ist vielleicht in anderen Bundesländern genauso; aber Schleswig-Holstein
hat mit den 15 Millionen Euro, die aus den zweimal
500 Millionen Euro an die Länder zur Unterstützung ihrer Integrationsleistungen gegangen sind, 240 zusätzliche Lehrerstellen bewilligt, die dann Deutsch als Zweitsprache in Schulen und anderswo unterrichten können.
Das ist eine Maßnahme, die aus den 500 Millionen Euro
im Land umgesetzt worden ist.
Im Bereich der beruflichen Bildung ist es doch eine
bemerkenswerte Initiative, dass Herr Bouffier, Herr
Kretschmann und Frau Dreyer darauf dringen, dass junge
Flüchtlinge, die eine Ausbildung in einem Handwerksoder Industriebetrieb anfangen wollen, die Garantie haben, dass sie nicht gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen, weil ihr Aufenthaltstitel dies erfordert. Sie
können die Ausbildung bis zum Ende fortsetzen. Das ist
etwas, was diese Koalition mit auf den Weg bringen will.
({6})
Beim BAföG will ich darauf hinweisen, dass man früher vier Jahre warten musste, bis man Zugang zur Förderung hatte; jetzt sind es nur 15 Monate. Das ist vielleicht
auch recht und billig. Aber an der Veränderung von vier
Jahren zu 15 Monaten ist ein Umdenken in Bezug auf
die Förderangebote, die wir geflüchteten jungen Menschen machen wollen, ablesbar.
Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Es wäre
auch überaus wünschenswert - gerade in der Philosophie
dieses Nationalen Bildungsberichtes, der ja von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung reicht -,
dass wir auch das elementare Menschenrecht auf Spracherwerb nicht daran binden, dass man einen Aufenthaltstitel in Deutschland hat. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir Flüchtlingen und
Geduldeten in Zusammenarbeit mit den Ländern einen
Zugang zur Sprache verschaffen wollen. Noch ist die
Koalition nicht so weit; aber wir sollten das zusammen
angehen. Wir, Bund und Länder, müssen die 240 Millionen Euro für Integrationssprachkurse einsetzen, damit
Menschen, die nach einer relativ kurzen Zeit arbeiten
dürfen, vorher die Sprache erlernen können. Das Erlernen der Sprache ist doch in beiden Richtungen wichtig:
Sie ist wichtig für die Menschen und ihre Familien und
gibt Selbstbewusstsein. Sie ist aber auch eine Versicherung für die, in Zukunft würden wir sagen: Altdeutschen,
die erwarten, dass man mit ihnen deutsch sprechen kann.
Diese Biografie müssen wir aufmachen, wenn wir in
Zukunft Inklusion und Integration, Migration und Bildung so zusammenbringen wollen, dass das, was Ministerin Wanka kürzlich auf der Didacta gesagt hat, von dieser Koalition umgesetzt wird: Bildung ist auch für alle,
die zu uns kommen, Perspektive und Chance. Es ist
schon so etwas wie ein Credo, das sich an dem gemeinsamen Brückenschlag zwischen Inklusion und Integration festmacht: Bildung als Perspektive und Chance.
Wenn uns der nächste Nationale Bildungsbericht in
zwei Jahren nicht nur als Zwischenergebnis aufzeigt,
dass das PISA-Niveau in Deutschland durch die Kinder
und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gestiegen
ist - man muss ja einmal darüber nachdenken, welches
Potenzial nach Deutschland gekommen ist -, sondern
auch feststellt, dass wir allen, unabhängig von ihrem
rechtlichen Status, die gleichen Bildungschancen geben,
dann wäre das ein guter gemeinsamer Impuls. Dafür will
ich werben. Das ist ein Anliegen der SPD. Aber wir wissen: Es ist auch ein Anliegen des ganzen Parlaments.
Danke.
({7})
Als nächster Redner hat Özcan Mutlu vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der GroKo, da Sie sich hier und im Fachausschuss
gegenseitig auf die Schulter geklopft haben, möchte ich
gerne an meine Rede im Januar und die Ziele Ihres Bildungsgipfels erinnern.
({0})
Etliche der Ziele, die Sie 2008 in Dresden proklamiert
haben, haben Sie nicht erreicht. Sie haben diese Ziele
deutlich verfehlt: Nach wie vor gibt es zu viele Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss, zu viele junge Erwachsene ohne Berufsabschluss, eine soziale Schieflage
bei der Weiterbildungsbeteiligung etc.
Auch der Nationale Bildungsbericht 2014 stellt Ihnen
leider kein gutes Zeugnis aus:
({1})
eine weiterhin bestehende soziale Ungleichheit bei der
Bildungsbeteiligung, hohe Abbrecherquoten und prekäre
Ausbildungsperspektiven für benachteiligte Jugendliche.
Das wird auch Ihre Allianz nicht so schnell ändern.
Summa summarum gibt es immer noch viel zu viele
sogenannte Risikoschüler, die in einer Risikolage aufwachsen. Ich betone noch einmal: Aufstieg durch Bildung ist unter Ihrer Regierung nicht ohne Weiteres möglich.
({2})
Egal welche Bildungsstudie oder welchen Bildungsbericht wir diskutieren, die Botschaft ist immer dieselbe:
Bildungsgerechtigkeit war, ist und bleibt die Achillesferse des deutschen Bildungssystems und der deutschen
Bildungspolitik. Daran ändert auch Ihr Antrag nichts,
Kollege Rossmann. Es ist zwar schön und gut, dass Sie
immer wieder sagen: Wir müssen gleiche und gute Bildungschancen ermöglichen. - Aber irgendwann müssen
Sie anfangen, diesen Anspruch zu erfüllen und ihn in die
Tat umzusetzen. Leere Worte alleine reichen nicht.
({3})
Ihr Antrag, liebe GroKo, reicht auch nicht aus, um die
zahlreichen bildungspolitischen Herausforderungen wie
den Abbau von sozialen Disparitäten, Ausbau der Ganztagsbetreuung, Inklusion oder digitale Bildung - man
kann die Aufzählung noch fortsetzen - zu lösen. Dass
Sie nun - so haben Sie es jedenfalls im Ausschuss gemacht - die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zum
zentralen Instrument der Förderung von Inklusion erklären, ist ein starkes Stück. Schön wäre es, aber die Realität sieht anders aus. Erstens. Wir kennen die Projektskizzen, mit denen sich die Universitäten für die
Qualitätsoffensive beworben haben, nicht. Es sei denn,
Sie wissen etwas, das wir nicht wissen. Zweitens. Inklusion ist nicht das alleinige Mittel, sondern nur eines unter vielen möglichen Projekten in puncto „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es richtig
und wichtig, über schulische Inklusion zu reden. Sechs
Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention ist das
auch notwendig. Aber nicht auf diese Art und Weise: Sie
prüfen und regen an, Sie regen an und prüfen. Bei Ihnen
wird immer wieder geprüft und angeregt, bis einem dabei richtig schwindelig wird. Das reicht uns nicht. Sie
sollen nicht prüfen, sie sollen umsetzen.
({4})
Inklusion im Sinne einer unteilbaren Teilhabe von allen Kindern und Jugendlichen ist eine gesamtgesellschaftliche und gesamtstaatliche Aufgabe. Deshalb sagen wir immer wieder - das werden wir auch so lange
wiederholen, bis das Kooperationsgebot endlich abgeschafft ist -: Aus der Bildungspolitik darf sich der Bund
nicht heraushalten und verabschieden.
({5})
Der vorliegende Nationale Bildungsbericht macht die
Absurdität des Kooperationsverbotes noch einmal deutlich, und wenn Sie das nicht erkennen, dann tun Sie mir
richtig leid. Wir brauchen ein Kooperationsgebot zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
({6})
Lesen Sie unseren Antrag sorgfältig, wenn Sie wissen
wollen, wie es geht und wie man es besser machen kann,
nämlich durch einen flächendeckenden Ausbau des
Ganztagsschulangebotes und ein verbindliches Betreuungsangebot für alle Kinder und Jugendlichen bis zum
zwölften Lebensjahr,
({7})
den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung in allen Bildungsstufen und die Reform des Bildungs- und Teilhabepaketes, damit allen Kindern und Jugendlichen eine
echte soziokulturelle Existenzsicherung garantiert und
mehr Bildungsgerechtigkeit ermöglicht wird.
({8})
Dieses Angebot machen wir Ihnen mit unserem Antrag.
Springen Sie über Ihren Schatten! Stimmen Sie unserem
Antrag zu! Denn er geht nicht nur in die richtige Richtung, sondern enthält auch die Antworten, die diese Republik von Ihnen erwartet.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte hat Uda Heller
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Mutlu, ich muss wieder
auf die Schultern der Großen Koalition und auf die
Schulter der Ministerin klopfen; denn unser Antrag ist
gut.
({0})
330 Seiten umfasst der fünfte Nationale Bildungsbericht,
welcher uns die Chance gibt, unser Bildungssystem in
Deutschland genauer unter die Lupe zu nehmen und
sachlich Bilanz aus den Fakten zu ziehen. Im Handelsblatt heißt es: „Der Trend zu besserer Bildung in
Deutschland ist unverkennbar.“
({1})
Doch unabhängig von den Erfolgen ist es nun angebracht, die Handlungsempfehlungen des Bildungsberichtes ernst zu nehmen und umzusetzen. Das ist unser
Anliegen, und das werden wir auch tun.
Unser erstes Ziel ist die Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Jeder soll die gleichen
Chancen auf individuell ausgerichtete berufliche Bildung und Zukunft haben, unabhängig von Geschlecht,
familiärem Hintergrund, Einkommen der Eltern, Migrationsgeschichte, Religion oder Behinderung. Ein ganz
wichtiger Faktor für ein Mehr an Bildungsgerechtigkeit
ist die Sprache. Sprache ist der Schlüssel zu Bildung und
Integration. Aus diesem Grund habe ich insbesondere in
den Kindertagesstätten das Programm „Sprache & Integration“ begrüßt und habe im Mai in meinem Wahlkreis
sechs Kitas besucht und mir ein Bild von der praktischen
Ausgestaltung gemacht. Ich kann bestätigen: Bis auf
eine Ausnahme war die Umsetzung ganz hervorragend.
Kinderbetreuung und frühkindliche Förderung gehören zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in Deutschland.
({2})
Traditionell ist dies in Sachsen-Anhalt ein großes
Thema. Erst am vergangenen Samstag konnte ich in der
Presse vom Kitakönig MP Reiner Haseloff lesen. In keinem anderen Bundesland erhalten mehr Kleinkinder unter drei Jahre einen Betreuungsplatz. Mit einer Betreuungsquote - hören Sie gut zu! - von 58,3 Prozent ist
Sachsen-Anhalt bundesweit absolut Spitzenreiter.
({3})
Natürlich ist bei dieser umfassenden Kinderbetreuung
der Betreuungsschlüssel - bitte hören Sie auch hier zu! noch zu hoch. Wichtig ist daher, die Qualität der Betreuung weiter auszubauen und hier Verbesserungen vorzunehmen.
Wie wir alle wissen, ist Bildung eine Lebensaufgabe.
In der frühkindlichen Bildung werden die Grundlagen
sowohl für die schulische Bildung als auch für die spätere berufliche Aus- und Weiterbildung gelegt, ganz
gleich, ob eine duale oder eine akademische Karriere angestrebt wird. Ich freue mich sehr, dass wir es endlich
geschafft haben, hier ein Umdenken anzustoßen. Eine
akademische Bildung ist nicht immer der Königsweg.
({4})
Nein, auch ein Gymnasiast kann eine erfolgreiche Karriere über eine berufliche Ausbildung erreichen.
({5})
Um den passenden Beruf zu finden, ist eine frühe und
praxisnahe Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen und damit auch an den Gymnasien ganz
entscheidend. Auch hier liegt noch einiges vor uns.
Durch Bildungsketten, Berufsorientierung und Einstiegsbegleitung wollen wir jedem einen erfolgreichen
Übergang von der Schule in eine individuelle, passende
berufliche Laufbahn ermöglichen. Gerade beim Übergang von der Schule in den Beruf wünsche ich mir eine
noch engere Vernetzung. Großes Potenzial sehe ich in einer vertraglichen Zusammenarbeit zwischen den Berufsagenturen, den Jobcentern, den Kommunen und den Jugendämtern in Form einer Jugendberufsagentur.
Unser gemeinsames Ziel ist es, durch die individuelle
Unterstützung jeden Einzelnen mitzunehmen. Maßgeblich soll mit der assistierten Ausbildung und der Ausbildungsgarantie ein erfolgreicher Berufsabschluss für
jeden erreicht werden. Hier denke ich neben förderungsbedürftigen und lernbeeinträchtigten Jugendlichen auch
an die wichtige Gruppe der Migranten und Flüchtlinge.
({6})
Die konstruktive Zusammenarbeit aller Partner ist die
grundlegende Voraussetzung für ein niedrigschwelliges
und durchlässiges Bildungssystem. Ich erwarte hier
wertvolle Lösungsansätze aus der Allianz für Aus- und
Weiterbildung.
({7})
Wenn wir dann noch eine enge und verlässliche Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern erreichen
und die zusätzlichen Mittel vom Bund sachgerecht eingesetzt werden, sind wir auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({8})
Herzlichen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf der Drucksache 18/4086.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache
18/3546 mit dem Titel „Bildung in Deutschland gemeinsam voranbringen, Lehren aus dem nationalen Bildungsbericht 2014 ziehen, Chancen der Inklusion nutzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3728 mit dem Titel „Bildungsverantwortung
gemeinsam wahrnehmen - Konsequenzen aus dem Bildungsbericht ziehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Wer enthält sich? - Damit
ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
18/3412 mit dem Titel „Bildung schafft Teilhabe und
Chancengleichheit - Empfehlungen des Nationalen Bildungsberichts 2014 zügig umsetzen“. Wer stimmt für
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist auch diese Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej
Hunko, Azize Tank, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
50 Jahre Europäische Sozialcharta - Deutschlands Verpflichtungen einhalten und die Sozialcharta weiterentwickeln
Drucksache 18/4092
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Andrej Hunko von der Linken das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
26. Februar 1965 trat die Europäische Sozialcharta in
Kraft, nachdem Deutschland als fünftes Mitgliedsland
die Sozialcharta ratifiziert hatte. Ich glaube, das ist schon
ein Anlass, das zu feiern, zu würdigen und daran zu erinnern. Die Europäische Sozialcharta ist das erste völkerrechtliche Dokument, das nicht nur politische Rechte,
sondern auch soziale Rechte verankert. Deutschland hat
sich verpflichtet, diese sozialen Rechte zu respektieren.
Wir fordern, dass das auch umgesetzt wird.
({0})
Es geht dabei unter anderem um das Recht auf Arbeit,
das Recht auf Koalitionsfreiheit, das Recht auf Kollektivverhandlungen und das Recht auf soziale Sicherheit.
Aber wir müssen auch sagen: 50 Jahre nach Inkrafttreten
der Sozialcharta sind auch in Deutschland viele soziale
Rechte nicht gewährleistet.
Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte ist dafür verantwortlich, die Umsetzung der Europäischen Sozialcharta zu überprüfen. Dieser Ausschuss wird vom
Ministerkomitee für sechs Jahre gewählt. In seinen jährlichen Berichten wird zum Beispiel - ich zitiere daraus,
weil Sie bestimmte Dinge ja infrage stellen - das eingeschränkte Streikrecht in Deutschland kritisiert. Es wird
kritisiert, dass eine faire Bezahlung nicht immer gewährleistet ist. Es wird kritisiert, dass Selbstständige viel zu
wenig abgesichert sind,
({1})
dass junge Auszubildende im dritten Ausbildungsjahr
keine Vergütung in Höhe von zwei Dritteln dessen bekommen, was ein Berufsanfänger erhält. Das sind einige
Beispiele für das, was der Europäische Ausschuss für
Soziale Rechte an Deutschland kritisiert. Wir fordern die
Bundesregierung auf, diese Kritikpunkte anzugehen. Sie
hat sich zur Einhaltung der Europäischen Sozialcharta
verpflichtet.
({2})
Im Jahre 2007 hat die Bundesregierung - auch damals
eine schwarz-rote, eine Große Koalition - die revidierte
Europäische Sozialcharta, die etwas weitergeht - sie
beinhaltet auch das Recht auf eine Wohnung und den
besonderen Schutz älterer Menschen -, unterzeichnet.
Aber jetzt, acht Jahre später, hat sie die revidierte Europäische Sozialcharta immer noch nicht ratifiziert. 33 europäische Länder haben sie ratifiziert. Wir fordern die
Bundesregierung auf, die revidierte Europäische Sozialcharta endlich zu ratifizieren.
({3})
Um den Schutz sozialer Rechte wirklich zu gewährleisten, hat der Europarat auch ein Zusatzprotokoll zur
Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden
unterzeichnet. Das ermöglicht zum Beispiel Gewerkschaften oder auch international anerkannten NGOs, soziale Rechte beim Europäischen Ausschuss für Soziale
Rechte direkt einzuklagen. Auch dieses Zusatzprotokoll
ist von etlichen Staaten unterzeichnet und ratifiziert worden. Auch hier steht die Ratifizierung in Deutschland
aus. Wir fordern, dass dieses Zusatzprotokoll endlich ratifiziert wird.
({4})
Ich glaube, dass es auch in der gegenwärtigen Situation - Euro-Krise usw. - wichtig ist, an die besondere
Bedeutung des europäischen Sozialmodells zu erinnern.
Die Europäische Sozialcharta ist ein elementarer Bestandteil dieses Sozialmodells. Wir wissen, es wird gerade in der Krise infrage gestellt, zum Beispiel von der
ehemaligen Troika. Es ist wichtig, dass wir diese Sozialcharta wieder auf die Agenda setzen und voranbringen.
Ich verweise auf den augenblicklich stattfindenden sogenannten Turin-Prozess. In Turin wurde die Europäische
Sozialcharta seinerzeit unterzeichnet. Der Generalsekretär des Europarats fordert die Mitgliedstaaten auf, diesen
Prozess zu unterstützen. Auch ich fordere die Bundesregierung auf, daran teilzuhaben. Ich freue mich auf die
Debatte in den Ausschüssen.
Vielen Dank.
({5})
Als nächster Redner spricht Dr. Pätzold von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir debattieren heute 50 Jahre Europäische
Sozialcharta in der Bundesrepublik Deutschland. 1961
wurde dieses vom Europarat initiierte Abkommen beschlossen; 1965 wurde die Europäische Sozialcharta in
der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Es ist gut,
dass die Oppositionsfraktion Die Linke diesen Antrag
stellt; so können wir über dieses wichtige Thema hier debattieren.
Die Europäische Sozialcharta war bei ihrem Inkrafttreten ein historischer Meilenstein, und sie hat noch
heute eine besondere Bedeutung. Das wird auch darin
deutlich, dass sich in dieser Charta die Grundsätze der
sozialen Marktwirtschaft und damit auch der katholischen Soziallehre wiederfinden. Für uns war immer
wichtig, dass sich die Subsidiarität, die zu stärkende Eigenverantwortung, die Solidarität, der verantwortliche
Umgang miteinander sowie die Personalität, die Menschenwürde in ihr widerspiegeln.
Insgesamt gibt es 19 Grundrechte, die in der Europäischen Sozialcharta fixiert sind; sieben davon sind bindend. Ich möchte drei dieser Grundrechte kurz erwähnen: das Recht auf Arbeit, das Koalitionsrecht und das
Fürsorgerecht. Das alles sind Punkte, die eine besondere
Bedeutung haben. Sie haben es schon angesprochen:
1996 startete ein erster Prozess, diese Sozialcharta weiterzuentwickeln. Unter anderem wurden folgende drei
Punkte diskutiert: Schutz vor Obdachlosigkeit, Schutz
vor Armut, kostenlose Sekundar- und Primarbildung.
2007 hat die Bundesregierung die revidierte Fassung der
Europäischen Sozialcharta zwar unterzeichnet, aber bis
heute liegt keine Ratifizierung vor. Das ist auch der
Grund für Ihren Antrag, der Grund dafür, dass wir darüber diskutieren.
Sie haben beschrieben, dass es 47 Mitgliedstaaten im
Europarat gibt, von denen 33 die revidierte Fassung bereits ratifiziert haben. Da muss man natürlich unterscheiden zwischen „auf dem Papier ratifiziert“ und der Frage,
wie es in der Praxis gelebt wird.
Wir erleben, dass Staaten wie Russland, wie die Türkei, auch wie Aserbaidschan zu den 33 Staaten gehören,
die diese neue Charta ratifiziert haben, auch nur mit den
neuen Bestimmungen, aber die Bundesrepublik
Deutschland noch nicht. Nach Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, nach Auskunft
von Staatssekretär Asmussen, ist eine Ratifizierung noch
in dieser Wahlperiode geplant, und es ist geplant, die
Verbände, die davon betroffen sind, einzubeziehen und
einen Diskussionsprozess zu führen. Deswegen sehe ich
Ihren Antrag quasi als Anstoß dazu, dass sich die
Bundesregierung und auch wir Fraktionen uns damit
auseinandersetzen mit dem Ziel, dass es in dieser Wahlperiode gelingt. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Verbände, die davon betroffen sind, auch beteiligt werden.
An dieser Stelle geht es darum, eher gründlich als besonders schnell zu sein. Es geht auch darum, die offenen
Punkte, die aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland
sehr kritisch angemerkt werden, miteinander zu diskutieren und zu besprechen.
Es sind zwei Punkte, die wir als kritisch ansehen und
über die wir, glaube ich, noch einmal diskutieren müssen. Das ist einerseits der sehr weite Diskriminierungsbegriff, und das ist andererseits die Frage: Wie gehen wir
damit um, dass auch Beamte ein Streikrecht bekommen
sollen? Das könnte man aus dieser Sozialcharta ableiten.
Das sehen wir durchaus kritisch, weil wir in Deutschland
eine besondere Rolle der Beamten definiert haben. Beamte haben besondere Rechte, aber auch Pflichten. Dazu
gehört, dass sie nicht streiken dürfen. Daher brauchen
wir noch etwas Zeit, um das gemeinsam zu diskutieren.
Die Punkte, die Sie aufgegriffen haben, sind nach
meiner Auffassung nachvollziehbar. Es ist wichtig, sie
zu diskutieren. Das Einzige, was ich nicht nachvollziehen konnte, ist das Thema Griechenland und die Verbindung zur Europäischen Sozialcharta. Dazu wird gleich
meine Kollegin Katrin Albsteiger etwas sagen.
Ich finde es wichtig, dass wir den Diskussionsprozess
gemeinsam fortsetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich weiterhin für die Europäische Sozialcharta
einsetzen.
({0})
Als nächster Redner hat Dr. Strengmann-Kuhn das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Pätzold, Sie haben deutlich
gemacht, was für eine Bedeutung die Europäische Sozialcharta hat. Mir ist aber nicht ganz klar geworden, warum die revidierte Sozialcharta, obwohl Deutschland sie
unterschrieben hat, immer noch nicht zur Ratifizierung
vorgelegt worden ist. Die beiden Punkte, die Sie genannt
haben, müssen auch damals schon diskutiert worden
sein. Warum es jetzt noch eine lange Diskussion mit Verbänden geben soll, aber nicht mit dem Bundestag zum
Beispiel, leuchtet mir überhaupt nicht ein. Ich denke, das
sollte schneller gehen. Legen Sie das endlich vor, damit
das hier tatsächlich ratifiziert werden kann!
({0})
Es ist nicht das einzige Beispiel, bei dem die Bundesregierung bremst, wenn es um die Ratifizierung von internationalen Abkommen geht. Wir haben das Beispiel
des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt, bei dem es
ähnliche Verzögerungen gibt. Insofern finde ich, dass
Deutschland seiner internationalen Verantwortung stärker gerecht werden muss und nicht warten kann, bis
33 andere Länder die Sozialcharta ratifiziert haben.
({1})
Außerdem ist es natürlich wichtig, dass auch die Berichte des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte
ernst genommen werden, wenn wir die Sozialcharta
unterschrieben haben. Das hat der Kollege Hunko schon
erwähnt. Da gibt es in den verschiedenen Berichten
diverse Kritik an der Politik der Bundesrepublik
Deutschland, von den Sanktionen bei Hartz IV angefangen bis hin zur Diskriminierung von Frauen beim Einkommen. Ich glaube, dass das Punkte sind, die man einmal deutlicher öffentlich diskutieren sollte und zu denen
die Bundesregierung und der Bundestag auch Stellung
nehmen sollten.
({2})
Es ist gesagt worden: 47 Mitgliedstaaten. Es ist vielleicht wichtig, noch einmal zu betonen: Es geht hier
nicht um die Europäische Union, sondern um den Europarat. Es ist vielleicht gerade in diesen Zeiten noch
einmal zu betonen, dass Europa weitaus mehr ist als die
Europäische Union. Aber auch innerhalb der Europäischen Union wird diese Regierung ihrer Verantwortung
nicht gerecht. Das ist beim EU-2020-Prozess der Fall,
wo es auf europäischer Ebene das Ziel der Armutsreduktion gibt. Wir finden gut, dass es ein quantifiziertes Ziel
gibt. Die letzte Bundesregierung hat gesagt: Wir akzeptieren das Kriterium nicht. Wir denken uns ein neues
Kriterium aus. - Die jetzige Bundesregierung bleibt dabei. Das ist keine Art und Weise, miteinander vernünftig
in der Europäischen Union umzugehen. Wenn man gemeinsame Ziele und gemeinsame Kriterien hatte, sollte
man sich auch an diese gemeinsamen Kriterien halten.
({3})
Auch bei der EU-Krisenpolitik ist die deutsche Bundesregierung ihrer sozialen Verantwortung nicht gerecht
geworden. Die Krisenpolitik hatte eine klare soziale
Schieflage. Dies ist besonders deutlich in Griechenland
zu erkennen, aber nicht nur dort. Es ist nicht gelungen,
die Reformen so auszugestalten, dass sie Armut bekämpfen, dass sie sozial ausgewogen sind. In Griechenland gibt es mit der neuen Regierung vielleicht eine
Chance, dass sich das etwas ändert. Die Liste der Maßnahmen, die vorgelegt worden ist, ist für uns ermutigend. Ob sie umgesetzt wird, ist natürlich die Frage.
Aber als Ziel steht dort, dass eine nationale Grundsicherung eingeführt werden soll, dass die Reicheren mehr
Steuern zahlen sollen, dass eine Verwaltung aufgebaut
werden soll, um die Vermögen zu erfassen. Hier gibt es
tatsächlich eine Chance. Es ist auch gut, dass es von der
Euro-Gruppe und den drei Institutionen tatsächlich auch
gewürdigt worden ist. Nichtsdestotrotz tut diese Bundesregierung immer noch zu wenig für ein soziales Europa.
Ich könnte noch viele Beispiele nennen: die Vertiefung
der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion, der fehlende Einsatz für eine Mindesteinkommensrichtlinie.
Insgesamt appelliere ich an die Bundesregierung:
Nehmen Sie Ihre Verantwortung endlich wahr, sorgen
Sie dafür, dass die genannten Abkommen und Protokolle
endlich ratifiziert werden, und leisten Sie einen stärkeren
Beitrag für ein soziales Europa, denn das ist notwendiger
denn je!
Vielen Dank.
({4})
Als nächste Rednerin hat Angelika Glöckner von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf Antrag der Grünen reden wir heute über
die Europäische Sozialcharta. Es gibt sie bereits seit
54 Jahren. Sie ergänzt die Europäische Menschenrechtskonvention im Bereich der sozialen Grundrechte und
umfasst neben dem Recht auf Arbeit, ordentliche Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz auch Themen wie
berufliche Ausbildung, gewerkschaftliche Vereinigung
und die soziale Sicherheit im Allgemeinen, um nur einige zu nennen.
Die europäischen Staaten gelten als die Ursprungsländer des Wohlfahrtsstaates. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass die Menschen Europas und natürlich auch
wir Deutsche einer umfassenden sozialen Sicherheit eine
ganz herausragende Bedeutung beimessen. Durch die
Europäische Sozialcharta wurden erstmals soziale
Rechte in einem völkerrechtlich verbindlichen Abkommen beschlossen. Auch wenn die Europäische Sozialcharta in der öffentlichen Wahrnehmung meist hinter der
Europäischen Menschenrechtskonvention zurücksteht,
belegt die Tatsache, dass 43 der 47 Mitgliedstaaten des
Europarates die Europäische Sozialcharta mittlerweile
unterzeichnet haben, wovon wiederum 33 Mitgliedstaaten sie ratifiziert haben, die immense Bedeutung dieser
Konvention. Sie ist die Grundlage dafür, dass sich die
Sozialpolitiken und die sozialen Rechte in den Staaten
Europas angleichen, und dies auf hohem Niveau.
Wie hoch die Bedeutung sozialer Rechte gerade auch
für die Zukunft Europas ist, zeigt sich ganz besonders im
Verlauf der europäischen Wirtschaftskrise. In einer Zeit,
in der sich die Arbeitslosigkeit in großen Teilen Europas
- auch über den EU-Raum hinaus - auf lange ungesehenen Rekordhöhen bewegt und hauptsächlich junge
Menschen davon betroffen sind, kommt sozialen Rechten eine ganz besondere Bedeutung zu. Nur wenn es
gelingt, den Menschen ein soziales Auffangnetz zu
spannen, damit sie nicht ins Bodenlose fallen, und es
gleichzeitig gelingt, ihnen Perspektiven für ihre Zukunft
aufzuzeigen, damit sie wieder Licht am Ende des Tunnels sehen können, nur dann werden sie bereit sein, soziale Einschnitte bis auf das Nötigste zur Konsolidierung
ihrer Staatshaushalte und Volkswirtschaften hinzunehmen. Dazu ist die Europäische Sozialcharta ein wichtiger Beitrag. Sie hält die europäischen Staaten an, ihre
Sozialpolitiken auf hohem Niveau anzugleichen, gerade
weil die Staaten Europas ihre Sozialpolitiken eigenständig regeln. Hierbei kann und muss die Europäische Sozialcharta meines Erachtens als Maßstab dienen.
Dieser Maßstab ist übrigens auch für Deutschland anzulegen; denn die Charta wurde von Deutschland - das
wurde schon gesagt - bereits 1961 unterzeichnet und
1965 ratifiziert. Auch ich bin der Meinung, dass die
nachgebesserte Fassung von 1996 mittelfristig durch die
Bundesrepublik Deutschland ratifiziert werden sollte.
Nicht ohne Grund hat die Bundesregierung in der letzten
Großen Koalition im Jahr 2007 die Europäische Sozialcharta unterzeichnet. Auch wenn man wie Sie, verehrte
Damen und Herren von der Linken, beklagt, dass der
Bundestag noch immer nicht darüber abgestimmt hat,
darf man aber nicht vergessen, dass die Bundesrepublik
durchaus viele positive Beispiele setzt und im europäischen Vergleich sozialpolitisch als gutes Vorbild gilt. Zugang zu Bildung und Fortbildung, Kündigungsschutz,
Mutterschutz, Elternzeitregelungen, Tarifautonomie, Mitbestimmungsrechte für Betriebs- und Personalräte und
das Diskriminierungsverbot nach dem AGG sind in unserem Land gute und gelebte Praxis.
Als Gewerkschafterin bin ich davon überzeugt, dass
sich das System der Sozialpartnerschaft in vielfältiger
Weise bewährt hat, ja sogar einen Grundpfeiler der Stabilität unseres Landes darstellt. Hier gibt es natürlich immer auch Raum für Verbesserungen. Einer der zentralen
Kritikpunkte - es wurde darauf hingewiesen - war der
fehlende Mindestlohn. Mit der Einführung des Mindestlohns haben wir aber im Laufe dieser bisher nur kurzen
Legislaturperiode einen Meilenstein erreicht und dazu
beigetragen, dass 4 Millionen Menschen in unserem
Land davon profitieren können.
({0})
Mit dem Elterngeld Plus ermöglichen wir Eltern eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Rentenpaket, das 2014 verabschiedet wurde, verbessert die
Situation von älteren Menschen, insbesondere von Frauen,
die in ihrer Arbeitsbiografie wegen Mutterschaft und Erziehungszeiten öfter Unterbrechungen haben. Mit der Einführung der Mietpreisbremse werden wir für viele
Menschen in unserem Land sicheren und bezahlbaren
Wohnraum schaffen. Das alles ist gute Sozialpolitik,
meine Damen und Herren.
({1})
All diese Entscheidungen werden sich unmittelbar positiv auf das Leben vieler Menschen in unserem Land auswirken und ihre sozialen Rechte stärken.
Was die Umsetzung sozialer Rechte angeht, kommen
Deutschland und auch diese Koalition ihren Verpflichtungen nach. Das soll aber nicht heißen, dass wir auf einen Rahmen, wie ihn die Europäische Sozialcharta vorgibt, nicht angewiesen sind. Es ist aber auch richtig, dass
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingehend prüft - das ist meiner Meinung nach zu begrüßen -,
ob bereits beschlossene und bewährte Grundsätze und
Regelungen, die soziale Rechte in Deutschland garantieren, durch eine Ratifikation der revidierten Fassung der
Europäischen Sozialcharta beeinflusst würden. Das ist
insbesondere aufgrund des Querschnittcharakters vieler
Regelungen der revidierten Fassung der Europäischen
Sozialcharta geboten. Diese wirken sich grundlegend auf
alle Schutzrechte der Europäischen Sozialcharta in der
Fassung von 1961 aus. Diese Prüfung muss meines Erachtens eingehend und umfassend erfolgen und nimmt
daher auch ein geraumes Maß an Zeit in Anspruch.
Diese Zeit möchte ich der Regierung und vor allem auch
dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter
Führung meiner Kollegin Andrea Nahles zugestehen.
Am Ende dieser Prüfung muss aber noch in dieser Legislaturperiode ein Ergebnis stehen.
Vielen Dank.
({2})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Katrin
Albsteiger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Sozialpolitik gehört zu den Feldern, die weitgehend
nationale Angelegenheit sind. Auch die Europäische
Union hat hier kaum Zuständigkeiten. Dadurch entsteht
so eine Art Dilemma, und zwar deshalb, weil eine Angleichung der Sozialsysteme, der Lebensstandards in
Europa durchaus wünschenswert ist und es dennoch aus
guten Gründen keine gemeinsame Sozialpolitik der Europäischen Union gibt.
({0})
Die Sozialcharta des Europarats schafft hier eine Art
Abhilfe. Denn durch dieses Abkommen nähern sich die
Einzelstaaten trotz der Trennung der Sozialsysteme etwas mehr an. Die Europäische Sozialcharta hat durch
ihre Normen auch schon in der Vergangenheit durchaus
deutliche Spuren hinterlassen, und genau das ist auch gut
so.
Die Europäische Sozialcharta trat, wie wir wissen,
heute vor 50 Jahren in Kraft. Mit schöner Regelmäßigkeit - immer wenn ein neuer Jahrestag kommt, sei es der
Jahrestag der Unterzeichnung, der Ratifizierung oder des
Inkrafttretens - werden wir wieder mit solch einem Antrag konfrontiert und dürfen hier darüber debattieren.
({1})
Heute bemängeln Sie - trotz der Tatsache, dass wir
darauf hinarbeiten -, dass es immer noch keine Ratifizierung gibt bzw. dass sie noch nicht in der weitergehenden
Fassung vollzogen ist. Das ist so weit korrekt. Ich
möchte aber an dieser Stelle vorwegschicken: Man kann
wirklich nicht behaupten, dass diese Große Koalition gerade in den sozialpolitischen Bereichen untätig gewesen
ist.
({2})
Wir haben auch in dieser Legislaturperiode schon einiges gemacht.
Wenn man sich das genauer anschaut, sieht man: Das
betrifft den Mindestlohn,
({3})
die Rente mit 63, die weitere Unterstützung des Kitaausbaus für die Kommunen,
({4})
die sinkenden Rentenbeiträge sowie Maßnahmen zum
Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit. All das sind schließlich konkrete Maßnahmen, die wir auch angegangen
sind. Man mag im Einzelnen durchaus unterschiedlicher
Meinung sein, ob sie gut oder schlecht sind. Wir waren
aber durchaus sozialpolitisch tätig.
({5})
Die Beschäftigung in Deutschland ist auf einem
Höchststand. Dadurch kommt auch solch ein Ergebnis
zustande: 66 Prozent aller Deutschen schätzen ihre Situation als eher zuversichtlich ein bzw. schauen eher mit
größerer Zuversicht auf ihre Zukunft. Selbst gegenüber
dem Jahr 2013 hat sich das noch positiv verbessert.
Sie drängen jetzt auf eine Ratifizierung der revidierten Fassung der Europäischen Sozialcharta. Ich glaube
aber, dass wir uns an dieser Stelle nicht unbedingt immer
so sehr unter Druck setzen lassen und beeilen müssen.
Wir können es uns in unserer derzeitigen Lage durchaus
leisten, die Dinge mit aller Gründlichkeit anzugehen. Es
wird streng genommen nichts passieren, egal ob wir dafür jetzt noch ein paar Wochen länger brauchen oder ob
wir diese Ratifizierung morgen vornehmen. Es gibt nun
einmal beispielsweise beim Thema Diskriminierungsverbot noch Unstimmigkeiten. Da muss unsere Devise
sein: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit, und das bedeutet, keine Schnellschüsse zu machen.
Gründlichkeit bedeutet auch, dass wir die Sozialpartner einbinden. Das wünschen wir, ehrlich gesagt, ständig. Wir wünschen, dass wir mit den Verbänden und mit
den betroffenen Interessenvertretern in die Diskussion
kommen. Schließlich diskutieren wir auch heute darüber.
Es kann also nicht die Rede davon sein, dass der Bundestag niemals die Chance hätte, sich dazu zu äußern.
Sie führen in Ihrem Antrag auch noch Griechenland
an. Dabei vermengen Sie die Situation in Bezug auf die
Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta des Europarats auf der einen Seite mit der Sparpolitik in Griechenland. Daraus stricken Sie eine Verantwortung Deutschlands für die Verschlechterung der sozialen Standards in
Griechenland. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung - das sagen Sie bei jeder Debatte über Griechenland - sei schuld daran, dass es den Griechen jetzt so viel
schlechter geht als vorher.
Wieder kann ich Ihnen an dieser Stelle sagen, dass ich
da anderer Meinung bin. Mit mir ist natürlich auch
meine Fraktion anderer Meinung. Ich denke, es muss
noch einmal klar gesagt werden: Gerade der Sparkurs,
den Griechenland durchlaufen muss, ist Voraussetzung
dafür, dass es dort überhaupt noch soziale Mindeststandards geben kann. Wenn wir letzten Endes diesen Kurs
nicht verordnet hätten, wäre Griechenland längst pleite.
Was das für die soziale Absicherung der Menschen in
diesem Land bedeutet hätte, möchte sich sicherlich niemand ausmalen.
({6})
Es wurde an dieser Stelle auch schon gesagt: Deutschland ist ein Vorzeigeland, wenn es um hohe Sozialstandards geht. Der deutsche Sozialstaat ist, international gesehen, ein Synonym für ein gutes soziales Klima. Wenn
Sie sich Beschreibungen aus dem Ausland bzw. aus
Übersee anhören, wissen Sie ganz genau, dass wir für
viele andere Länder eine Wunschvorstellung bzw. ein
Idealmodell sind. Die Bundesregierung wird auch weiter
dafür sorgen, dass wir das bleiben, dass wir weiterhin sozialpolitisch das attraktivste Flächenland in Europa bleiben. - Den Ratifizierungsprozess treiben wir noch innerhalb dieser Legislaturperiode voran.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. Damit schließe ich die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4092 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
dann auch so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
Drucksache 18/3923
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, kann ich auch die Aussprache eröffnen. - Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Parlamentarische Staatssekretärin Dorothee Bär für
die Bundesregierung das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Thema Maut
begann unser Tag, und mit dem Thema Maut beschließen wir unseren Tag, also vom ersten Tagesordnungspunkt bis zum letzten Tagesordnungspunkt, Alpha und
Omega - wenn das kein positives Vorzeichen ist, dann
weiß ich auch nicht.
({0})
- Beides ist sehr gut. Ich hoffe, dass der Kollege
Hartmann zu mir etwas freundlicher ist als zum Minister
heute Morgen. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt auf
seine Rede heute.
Wir sprechen heute über die Stärkung der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung durch die Ausweitung und Vertiefung der Lkw-Maut, über das sogenannte Dritte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes.
Das ist ein ganz wesentlicher Teil unseres Finanzierungshochlaufs. Wir haben verschiedene Parameter:
5 Milliarden Euro Haushaltsmittel, die Einführung der
Infrastrukturabgabe - die wir heute Morgen schon sehr
ausführlich diskutiert haben -, die sogenannten ÖPPModelle und die Erweiterung und Vertiefung der LkwMaut.
Schaut man sich die Lkw-Mautdaten an, die derzeit
erhoben werden, dann stellt man fest, dass die LkwMaut auf circa 12 800 Kilometern Bundesautobahnen
und auf circa 1 200 Kilometern Bundesstraßen - der
Kollege Fischer darf auch zuhören, er kann auch noch
etwas lernen ({1})
und für Fahrzeuge ab einem zulässigen Gesamtgewicht
von 12 Tonnen erhoben wird.
Ein aktuelles Wegekostengutachten, das vorliegt, hat
uns quasi zu einer Reduktion der Mautsätze zum 1. Januar 2015 und zu einer Anlastung externer Luftverschmutzungskosten gezwungen. Die abgesenkten Mautsätze führen zu verringerten Einnahmen - von 2015 bis
2017 wären das circa 460 Millionen Euro -, die uns für
die Finanzierung der Infrastruktur fehlen. - Ich muss sagen: Meine Fraktion ist am unaufmerksamsten; ich weiß
auch nicht, warum.
({2})
Vielleicht wissen die schon alles. Vielleicht wurde meine
Rede vorher geleakt. Die anderen drei Fraktionen haben
Disziplin. Vielleicht wollen sie mehr lernen; ich weiß es
nicht. - Ich versuche es einfach noch mal: Um diesen
Einnahmeausfall in Höhe von 460 Millionen Euro zu
kompensieren, müssen wir weitere Straßen und Fahrzeuge in die Nutzerfinanzierung einbeziehen.
In einem ersten Schritt wollen wir die Ausdehnung
der Mautpflicht auf weitere 1 100 Kilometer der vierstreifigen Bundesstraßen vornehmen, und zwar schon
zum 1. Juli 2015. Das würde einen Zuwachs des mautpflichtigen Streckennetzes von ungefähr 8 Prozent, also
von 14 000 Kilometern auf 15 100 Kilometer, bedeuten.
Die Einnahmeerwartung von 2015 bis 2017 beträgt circa
200 Millionen Euro.
In einem zweiten Schritt wollen wir zum 1. Oktober
2015 die Absenkung der Mautpflichtgrenze auf 7,5 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht vornehmen. Die Einnahmeerwartung von 2015 bis 2017 beträgt hier insgesamt
675 Millionen Euro.
Wir gehen insgesamt von etwa 170 000 Lkw - Inund Ausland - aus, die zusätzlich Maut zahlen. Es gibt
weitere gesetzliche Neuerungen. Wir diskutieren derzeit
über eine Erweiterung der Achsklasseneinteilung von
bisher zwei Achsklassen auf zukünftig vier Achsklassen,
weil aufgrund der Absenkung der Mautpflichtgrenze auf
7,5 Tonnen die gewichtsmäßige Bandbreite mautpflichtiger Fahrzeuge ansteigt. Die größere Bandbreite ist
durch die bisherige Abstufung von nur zwei Achsklassen
- auf der einen Seite bis drei Achsen, auf der anderen
Seite vier und mehr Achsen - nicht mehr adäquat abzubilden. Durch die Einführung von vier Achsklassen - zwei
Achsen, drei Achsen, vier Achsen, fünf und mehr Achsen - wird die verursachungsgerechte Anlastung der Wegekosten besser gewährleistet.
({3})
Das ist auch aus gebührenrechtlichen Gründen angebracht, weil das dem sogenannten Äquivalenzprinzip des
Gebührenrechts entspricht. - Herr Krischer, auch Sie
dürfen aufpassen. Da Sie heute früh bei der Pkw-Maut
nicht so gut aufgepasst haben, lohnt es sich vielleicht,
jetzt bei der Lkw-Maut aufzupassen.
({4})
- Jetzt klatschen Sie; denn vorher habe ich Ihnen ja
keine Gelegenheit dazu gegeben.
({5})
Den Anschiss dafür bekomme ich später. Aber das
macht nichts. Dies ist ja der letzte Tagesordnungspunkt.
Seitens des Bundesrates gibt es die Befürchtung, dass
eine neue Achsklasseneinteilung Fehlanreize auslösen
könnte. Wir teilen diese Bedenken nicht. Wir sind der
Meinung, dass Personal- und Kraftstoffkosten mit über
50 Prozent einen gewichtigeren Anteil an den Gesamtkosten haben, und gehen davon aus, dass die Unternehmen bei wirtschaftlichen Entscheidungen alle Faktoren
berücksichtigen.
Eine große Rolle spielen die unterschiedlichen Nutzlasten. Wir als Bundesregierung wollen ganz genau beobachten, ob sich infolge der Mautänderung die Fahrzeugflotten ändern. Das wird in den nächsten Monaten
sehr engmaschig kontrolliert werden. Die Ergebnisse,
die abzuwarten sind, werden gegebenenfalls in ein neues
Wegekostengutachten einfließen, weil wir alles daransetzen wollen, Fehlanreize zu minimieren. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig.
Insofern hoffe ich, dass wir bei der Lkw-Maut auf einem guten Weg sind, und freue mich auf die weiteren
Beratungen nach dieser ersten Lesung.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat Herbert Behrens von der Linken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute das zweite Mal über die Maut, aber die Debattenzeiten stehen in einem ausgesprochenen Missverhältnis. Heute Morgen haben wir 90 Minuten über eine
Summe von möglicherweise 500 Millionen Euro - oder
auch nicht - geredet, und heute Abend reden wir über
zusätzliche Einnahmen von 350 Millionen Euro. Ich
denke, dies ist die angemessenere Debatte.
Was die Gerechtigkeit betrifft, die heute Morgen in
der Rede von Herrn Dobrindt eine Rolle spielte, müssen
wir heute Abend nacharbeiten. Ich glaube, Gerechtigkeit
wird dadurch hergestellt, dass wir eine Schlechterstellung verhindern. Bei der Pkw-Maut geht es um die
Schlechterstellung von Autos anderer europäischer Staaten, die wir verhindern müssen.
Wir müssen uns auch fragen, wie wir mit den entsprechenden Notwendigkeiten umgehen. Wir haben heute
Morgen über die Begriffe „Nutzerfinanzierung“ und
„Verursacherprinzip“ gesprochen. Ich habe angemerkt,
dass wir mit diesen Begriffen falsch umgegangen sind.
Nutzerfinanzierung heißt: Jeder hat zu zahlen, wenn er
eine bestimmte Leistung in Anspruch nimmt oder eine
bestimmte Straße nutzt. Das sagt aber noch nichts darüber aus, ob das System gerecht ist. Ja, das Verursacherprinzip ist das gerechtere System, weil die Kosten demjenigen angelastet werden, der sie verursacht. Das heißt,
wenn ich eine bestimmte Struktur in Anspruch nehme,
dann zahle ich dafür, sei es direkt über die Maut, sei es
über Steuern.
Das Verursacherprinzip bedeutet, dass diejenigen zahlen, die für Schäden an der Infrastruktur und an der Umwelt verantwortlich gemacht werden können. Der Anteil
der Pkw-Fahrerinnen und -Fahrer an diesen Schäden ist
weit geringer als der Anteil der Lkw-Fahrer im Straßengüterverkehr.
Die Linke will das Verursacherprinzip stärken. Dazu
stehen wir.
({0})
Wir wollen auch erreichen, dass der Güterverkehr auf
weniger umwelt- und infrastrukturzerstörende Verkehrsträger wie Schiff und Bahn verteilt wird. Und wir begrüßen es, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, über
den wir hier diskutieren, der Einstieg in die Ausweitung
der Lkw-Maut vorgenommen wird.
({1})
Dieser Gesetzentwurf hat in seiner jetzigen Form allerdings Macken. Bislang gibt es zwei unterschiedliche
Gebühren: für Lkws mit bis zu drei Achsen und für
Lkws mit mehr als drei Achsen. Mit der Neueinteilung
der Achsklassen in vier Gruppen kann bei den Spediteuren der Anreiz entstehen, beispielsweise zu überlegen,
ob es nicht günstiger ist, mit einem Vierachser unterwegs zu sein als mit einem Fünfachser, weil die Tonnage
dann mit 2 Cent weniger pro Kilometer transportiert
werden kann. Der Bundesrat hat die Bundesregierung
deshalb aufgefordert, dies noch einmal genau zu prüfen.
Die Bundesregierung sagt, dass sie im Weiteren die Anregung des Bundesrates prüfen wird; so heißt es in ihrer
Stellungnahme. Ich würde schon gern wissen, wann und
wie denn geprüft werden soll, Frau Staatssekretärin. In
einem Monat soll der Gesetzentwurf bereits verabschiedet werden. Es ist notwendig, glaube ich, dass wir sowohl in der Anhörung als auch im Ausschuss die Ergebnisse dieser Überprüfung erfahren.
Aber ich meine, die eigentliche Musik, Kolleginnen
und Kollegen, spielt bei der Ausweitung der Maut auf
alle Bundesstraßen, nicht bei der Ausländermaut. Das
hier vorliegende dritte Lkw-Maut-Gesetz bringt - so die
Berechnung des Verkehrsministers - pro Jahr knapp
350 Millionen Euro ein. Die Ausländermaut soll angeblich 500 Millionen Euro bringen. Wahrscheinlich kommt
dabei aber gerade einmal eine schwarze Null heraus. Die
Maut auf allen Bundesstraßen hingegen bringt 2 Milliarden Euro jährlich mehr. Darum ist diesem Gesetz viel
größere Aufmerksamkeit und viel größere Sorgfalt zu
widmen als dem anderen.
({2})
Der Verkehrsminister aber setzt diese Einnahmen aufs
Spiel. Er will Toll Collect die Vorbereitungen für diese
Ausweitung der Maut direkt zuschanzen. Das ist rechtlich hochproblematisch. Wenn Konkurrenten gegen
diese Entscheidung klagen, dann wird es wesentlich später als Mitte 2018. Jeder Monat ohne Maut wird richtig
teuer.
Letzter Satz. Günstiger und besser wäre es gewesen,
die sogenannte Call-Option zu ziehen, das heißt, den
Mautbetreiber Toll Collect in staatliche Hand zu übernehmen. An dieser Bundesstraßenmaut wird sich der
Verkehrsminister messen lassen müssen. Scheitert die
Ausweitung auf alle Bundesstraßen oder verzögert sie
sich, dann ist auch der Minister gescheitert.
({3})
Dann hat er einen Milliardenschaden hinterlassen. Das
ist nicht gut für die Infrastruktur. Darum ist es notwendig, mehr Sorgfalt, mehr Zeit und mehr Gewissenhaftigkeit auf diesen Punkt zu verwenden.
Danke.
({4})
Als nächster Redner hat Sebastian Hartmann von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der
Infrastrukturabgabe beginnt es, mit der Lkw-Maut wird
es noch lange nicht enden. Deswegen: Vielen Dank für
die Ausführungen an die Bundesregierung, Frau Staatssekretärin, auf die ich mich sehr gerne beziehen möchte.
Wir werden als Große Koalition deutlich mehr in den
Erhalt und die Sanierung der deutschen Infrastruktur investieren. Wir werden das auf mehreren Wegen tun. So
werden wir die Investitionen deutlich ausweiten. Wir erhöhen die Investitionen; das ist das erklärte Ziel der Großen Koalition. Wir tun das, indem wir die zwei Säulen
der Infrastrukturfinanzierung systematisch stärken. Der
eine Teil kommt aus dem Haushalt, der andere aus der
Stärkung der Nutzerfinanzierung, also der Säule der
Lkw-Maut. Die Kolleginnen und Kollegen haben das
schon ausgeführt. Doch so einfach ist der Weg eben
nicht. Wir gehen diesen Weg langsam, wir gehen ihn ordentlich, und wir gehen ihn so genau, dass er rechtssicher wird. Es ist das Risiko angesprochen worden, dass
Konkurrentinnen und Konkurrenten klagen. Deswegen
geht die Koalition den Weg, die Lkw-Maut in zwei
Schritten auszuweiten.
Am 1. Juli dieses Jahres werden wir weitere 1 100 Kilometer vierstreifige Bundesstraßen in die Lkw-Bemautung aufnehmen. Am 1. Oktober dieses Jahres werden
wir dann das Gesamtgewicht auf 7,5 Tonnen ablasten,
sodass wir deutlich mehr Fahrzeuge in die Lkw-Maut
aufnehmen. Doch das alles ist nur ein Zwischenschritt.
Das erklärte Ziel ist es, alle Bundesstraßen in die Bemautung hineinzunehmen. Darum müssen wir diesen
Schritt jetzt gehen. Wir werden ihn so gehen, dass nicht
das Risiko einer Konkurrentenklage droht.
({0})
Erlauben Sie mir, weil das alles nicht so einfach ist,
wie es möglicherweise erscheint, ein, zwei Anmerkungen zu diesem Punkt. Selbstverständlich ist es die Sache
des Ministers, über die Zukunft von Toll Collect zu entscheiden. Diese Entscheidung ist getroffen. Wir wissen
nun - Stichwort: Call-Option -, wie in den nächsten
zwei, drei Jahren mit dem Unternehmen Toll Collect
umgegangen wird. Es ist wichtig, dass wir hier Rechtssicherheit und Rechtsklarheit haben, um zu der Ausweitung der Bemautung auf alle Bundesstraßen zu kommen;
denn sie wird richtig viel Geld in die Kassen spülen. Das
ist kein Geld, das man jemandem wegnimmt, sondern
Geld, das vollumfänglich in den Finanzierungskreislauf
der Straße reinvestiert wird, um unsere Straßen zu erhalten und zu sanieren und dem Gewerbe eine leistungsfähige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Das ist das
Ziel der Großen Koalition, meine Damen und Herren.
({1})
Aber das Gewerbe hat auch Anspruch auf Verlässlichkeit. Wir haben an anderer Stelle vernommen, dass die
Lkw-Maut nun ohne Not abgesenkt wird. Das stimmt
nicht. Die Lkw-Maut orientiert sich an einer sehr genauen Wegekostenrechnung. Diese Wegekostenrechnung basiert auf einem europäischen Rechtsrahmen, und
diesen europäischen Rechtsrahmen schöpfen wir vollumfänglich aus.
({2})
- Herr Krischer, Sie müssen sich an den Fakten orientieren! Wir sind hier nicht bei „Wünsch Dir was“, sondern
bei „So isses“.
({3})
Auch wenn Sie hier regelmäßig erzählen, dass wir die
Lkw-Maut ohne Not absenken, es stimmt nicht.
({4})
Das Gewerbe hat einen Anspruch darauf, dass wir die
Wegekostenrechnung beachten. Wenn die Kapitalverzinsung Grundlage der Anlagen in unserem Infrastrukturvermögen ist und die Zinssätze in Europa sinken - was
wir an der Stelle bedauern, weil das auch an allen anderen Ecken und Kanten ein Problem ist -, dann müssen
wir im Sinne der Rechtssicherheit diesem Umstand
Rechnung tragen.
({5})
Die Kürzungen fielen viel dramatischer aus, wenn wir
die anderen Möglichkeiten der europäischen Rahmenrichtlinie - die Anlastung von Luftschadstoffen und
Lärm - nicht ausschöpfen würden. Das genau tun wir,
um die Investitionslücke zu verkürzen und diesen Zwischenschritt zu gehen, bevor wir zur Ausweitung kommen. Die Systematik der Wegekostenrechnung ist durchzuhalten. Wir können die Kosten nicht beliebig anlasten;
das geht nicht.
Wir nehmen die Hinweise des Speditionsgewerbes
ernst. Wir achten darauf, was der Bundesrat in seiner
Stellungnahme aufgenommen hat. Und wir nehmen das
Lob des Kollegen Behrens gerne an; vielen Dank für
Ihre Unterstützung an dieser Stelle!
({6})
Ich glaube, dass nach einem hochemotionalen Start in
den Tag heute Abend doch versöhnliche Töne angezeigt
sind und wir uns gemeinsam auf den Weg der Stärkung
der Säule der Nutzerfinanzierung machen können. Die
Entscheidung, die wir hier treffen, ist nicht zu unterschätzen. Wir wollen keine negative Lenkungswirkung
erreichen, indem wir zum Beispiel durch eine unterschiedliche Anlastung der Achsklassen vielleicht auslösen, dass im Gewerbe von Fünfachsern auf Vierachser
umgeswitcht wird und wir auf diese Art und Weise vielleicht sogar mehr Belastung auf die Straße bekommen.
Das müssen wir im Verfahren klären. Wir werden auch
eine Anhörung bekommen. Wir werden uns mit den Hinweisen und den Vorschlägen in aller Ruhe und aller Ordnung auseinandersetzen. Es kann nicht darum gehen, zu
riskieren, dass die Infrastruktur stärker verschleißt, sondern darum, bei Verlässlichkeit für das Gewerbe rechtssicher genügend Geld für den Erhalt und die Sanierung
der Infrastruktur zu erlösen. Das wird unser Ziel sein,
und das werden wir auch gemeinsam erreichen.
({7})
Ich habe schon ausgeführt, dass wir diesen Schritt
jetzt als Zwischenschritt gehen. Dass wir Luftschadstoffe und Lärm entsprechend anlasten, bedeutet, dass
wir die Reduktion der Investitionslinie nicht so stark hinnehmen, wie man es hätte tun können. Das ist auch,
glaube ich, etwas, was wir im europäischen Vergleich
nicht unterschätzen sollten. Jetzt bitte ich auch die Bundesregierung um Aufmerksamkeit - ich darf das mal zurückgeben -; denn wir setzen auf Ihre tatkräftige Mithilfe. Sie müssen ja die europäische Rahmenrichtlinie
verhandeln, wenn wir die externen Kosten vernünftig
anlasten wollen. Dazu muss der europäische Rechtsrahmen jetzt erweitert werden, dass wir nicht nur 2018 alle
Bundesstraßen erfassen, sondern diese externen Kosten
tatsächlich eins zu eins abgebildet werden. - Ich glaube,
was die Aufmerksamkeitskurve angeht, steht es jetzt
spätestens 1 : 1, Frau Kollegin Bär.
({8})
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt noch einiges zu tun. Es wird auf das gute Zusammenspiel der
Parlamentarierinnen und Parlamentarier ankommen. Wir
werden das in gutem Einvernehmen mit der Bundesregierung tun. Ich danke für die Aufmerksamkeit und
freue mich auf die weiteren Beratungen.
Vielen Dank.
({9})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Wilms von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herzlichen Dank an die neu hinzugekommenen Zuschauer, dass Sie noch dieser Debatte hier folgen wollen!
Leider haben Sie das Beste verpasst: Heute Morgen hatten wir einen richtig schönen Schlagabtausch mit dem
Minister. Frau Bär, wo haben Sie den gelassen? Hat er
sich nicht mehr hereingetraut heute Abend?
({0})
Wir kommen heute Abend zu dem entscheidenden
Punkt; denn hier können wir wirklich ernsthaft Einnahmen generieren. Es geht um diejenigen, die uns die Straßen kaputtklopfen: die Lkws. Wir Grüne fordern schon
lange, dass wir uns endlich mit diesem System beschäftigen, statt mit Ihrer Ausländermaut, die wir heute Morgen
behandelt haben.
Ihr Vorgehen in dieser Sache will sich mir aber nicht
erschließen. Sie wollen nur die Fahrzeuge ab 7,5 Tonnen
belasten. Damit bleibt eine Mautlücke zwischen
3,5 Tonnen - die Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen wollen Sie ja
mit der Ausländer-Pkw-Maut erfassen - und 7,5 Tonnen.
Die Sprinter lassen Sie also vom Mauthaken, bei den
Pkws wollen Sie abkassieren. Das ist irre und völlig konzeptionslos.
({1})
Außerdem nehmen Sie mit dem jetzt vorliegenden
Gesetzentwurf nur einen kleinen Teil der Bundesstraßen
in den Blick: 1 100 Kilometer. Wir haben aber ein Bundesstraßennetz von etwa 32 000 Kilometern. Stimmt
doch, Kollege Behrens, oder? Damit berücksichtigen Sie
hier weniger als 4 Prozent der Bundesstraßen. Das ist
eine echte Lachnummer, mit der wir uns heute hier beschäftigen. Ich sage: Hier ist deutlich mehr drin, wenn
der Minister der Verkehrsruinen, den wir heute Morgen
hier gesehen haben, und die Koalition es nur wirklich
wollen.
({2})
Aber es geht ja noch weiter: Die jährlichen Mehreinnahmen, die Sie durch den vorliegenden Gesetzentwurf
erwarten, Kollegin Bär - anscheinend ist Twitter interessanter -, wurden bereits durch Ihre Mautsenkung im
Sommer 2014 zunichtegemacht. Jetzt haben wir ein
Nullsummenspiel, anstatt mehr Mittel für den Erhalt einzunehmen; dabei brauchen wir dringend mehr Mittel für
unsere mittlerweile vorhandenen - das muss ich sagen Verkehrsruinen.
Wann nutzen Sie endlich das Potenzial Ihres Ministeriums besser, um unsere Verkehrsinfrastruktur wirksam
zu erhalten? Dann könnten Sie nämlich auf das Verscherbeln des Vermögens verzichten. Denn das wollen
Sie ja: Straßen, die einst mit Steuermitteln gebaut
wurden, wollen Sie durch Ihre teuren ÖPP-Projekte an
private Investoren verscherbeln.
({3})
Mit der sinnvollen und dringend notwendigen Ausweitung der Lkw-Maut auf Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen
Gewicht und auf alle Bundesstraßen würden Sie die derzeitigen Mauteinnahmen beinahe verdoppeln. Das wäre
endlich einmal eine echte verursachergerechte Finanzierung.
({4})
Die Straßen werden nämlich in aller Regel durch die
Lkws und nicht durch die Pkws zerstört.
({5})
Oder fahren Sie alle mittlerweile kleine Lkws, werte
Kollegen?
Sie von der Koalition verzichten aber lieber auf bis zu
2,3 Milliarden Euro an zusätzlichen Nutzereinnahmen
bei Ausweitung der Maut auf alle Bundesstraßen und
schieben alle wichtigen Vorhaben zur Rettung unserer
Infrastruktur auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Das ganze
Ministerium beschäftigt sich ein Jahr lang nur mit
({6})
- mit Twitter - diesem Unfug, dieser Pkw- bzw. Ausländermaut. Das ist typisch CSU: Sie besetzen ein Thema
mit bayerischem Lokalkolorit, wollen aber keine Verantwortung für das Gesamtsystem Verkehr übernehmen.
({7})
Sie wollen das erst 2018 angehen. Dann läuft aber gerade der ohne Not von Ihnen verlängerte Vertrag mit
dem heutigen Mautbetreiber Toll Collect aus. Schauen
wir einmal, wie es dann läuft und ob wir dann wirklich
noch Mauteinnahmen haben; denn es kann ja durchaus
auch voll danebengehen, sodass wir nachher gar keine
Einnahmen haben. Alle Experten haben Ihnen empfohlen, schon jetzt Toll Collect zu übernehmen, also die
Calloption zu ziehen. Bei Ihnen geht aber Ideologie bedauerlicherweise vor Verantwortung.
({8})
Es wird eine Rechnung mit vielen Unbekannten geben.
Sie wissen nicht, wer nach 2018 die Lkw-Maut eintreibt.
Sie wissen nicht, ob der neue Betreiber ab 2018 auch darauf vorbereitet ist, die Maut auf allen Bundesstraßen
einzutreiben. Die Probleme beim Start von Toll Collect
dürften Ihnen doch nicht unbekannt sein. Da laufen immer noch Schiedsverfahren.
So verspielen Sie die Zukunft für die Menschen und
vor allem für die Wirtschaft. Beide brauchen funktionsfähige Verkehrswege und keine Ruinen. Übernehmen
Sie endlich Verantwortung für eine nachhaltige Verkehrspolitik! Werte Kollegin Staatssekretärin Bär, teilen
Sie das bitte auch Ihrem Minister mit.
({9})
- Vielleicht schon per Twitter; denn möglicherweise ist
er ja online dabei.
Herzlichen Dank.
({10})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Oliver Wittke
von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wie schon heute Morgen, so haben auch heute
Abend die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition
wieder versucht, der Koalition zu unterstellen, sie stelle
sich nicht den Herausforderungen für eine aktive Verkehrsinfrastrukturpolitik in unserem Land.
({0})
Der heutige Tag, lieber Herr Krischer und liebe Vertreter
von den Linken, hat Sie Lügen gestraft.
({1})
Der heutige Plenartag, den wir mit einem ersten Tagesordnungspunkt zur Infrastrukturabgabe für Pkws begonnen haben und mit einem letzten Tagesordnungspunkt
zur Ausweitung der Lkw-Maut beenden, zeigt: So viel
aktive Verkehrsinfrastrukturpolitik gab es in diesem
Parlament selten an einem Tag. Das ist Verdienst dieser
Koalition.
({2})
Ich will Ihnen auch sagen, warum es eine glückliche
Fügung ist, dass heute beide Themen an einem Plenartag
gemeinsam beraten worden sind.
Erstens. Wir wollen mehr Geld in die Verkehrsinfrastruktur investieren. Wir sagen sogar anders als Sie, Herr
Krischer, woher das Geld kommen soll. Sie führen immer nur im Munde, dass Sie mehr Geld ausgeben wollen, aber sagen nicht, wie das Geld in die Kasse kommen
soll.
({3})
Zweitens. Wir wollen, dass die Nutzerfinanzierung
auf der Straße weiter Gestalt annimmt, nicht nur bei den
Lkws, die ganz maßgeblich unsere Verkehrsinfrastruktur
verbrauchen. Ich will nicht sagen, dass sie sie beschädigen; denn es handelt sich um einen normalen Verbrauch,
einen normalen Verschleiß, wenn Straßen, die genau zu
dem Zweck, Verkehre aufzunehmen, gebaut worden
sind, entsprechend genutzt werden.
Wir werden in dieser Legislaturperiode die Ausgaben
im Verkehrsbereich von 10 Milliarden Euro auf
13,4 Milliarden Euro steigern. Das ist die höchste Steigerung, die wir jemals im Verkehrsbereich in der Bundesrepublik Deutschland hatten. Bei der Straße werden
wir unsere Anstrengungen in dieser Legislaturperiode
von 5 Milliarden Euro auf 8,2 Milliarden Euro steigern.
({4})
Auch da wird es 3,2 Milliarden Euro mehr Geld geben.
Das ist ein Rekord. Damit bringen wir die Verkehrsinfrastruktur wieder in Ordnung, die auch zu Zeiten grüner
Regierungsbeteiligung arg vernachlässigt wurde. Die
Leverkusener Rheinbrücke bröckelt ja nicht erst, seitdem Alexander Dobrindt Bundesminister ist,
({5})
sondern da haben grüne Verkehrsminister Schuld auf
sich geladen. Da hätten Sie viel eher tätig werden können.
({6})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, da sich sowohl
die Kollegin Wilms als auch der Kollege Behrens heute
Abend wieder als Kassandra betätigt haben, will ich an
dieser Stelle eines feststellen: Auch wenn es bei der Einführung der Maut große Probleme gab und auch wenn
das Schiedsgerichtsverfahren bis zum heutigen Tage
noch nicht beendet worden ist, können wir trotzdem festhalten, dass die Maut in den letzten Jahren eine echte Erfolgsgeschichte war. Diese Erfolgsgeschichte werden
wir weiter fortsetzen.
Über 40 Milliarden Euro Einnahmen haben wir generiert, seitdem die Lkw-Maut 2005 eingeführt wurde.
Über 800 000 On-Board-Units sind eingebaut worden.
Das zeigt, wie groß das Vertrauen der Nutzer in diese
Technologie ist. Die Beanstandungsquote, das heißt die
Anzahl der Mautpreller und der Falschzahler, liegt unter
1 Prozent. Wir haben nicht zuletzt einen wesentlichen
Beitrag zur Schadstoffreduzierung geleistet; denn
85 Prozent der Fahrleistung werden mittlerweile von
Fahrzeugen mit der Euro-Norm 5 und 6 erbracht. Das ist
ein Riesenerfolg. Auch das muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden.
({7})
Wir werden weiter voranschreiten, indem wir als Erstes weitere 1 100 Kilometer Bundesstraßen in die Maut
einbeziehen, um dann 2018 das gesamte Bundesstraßennetz zu bemauten. Die Vorhaltungen, die Sie uns hier
machen, sind unseriös. Sie wissen nämlich ganz genau,
dass es allein technisch zum 1. Juli dieses Jahres nicht
möglich ist,
({8})
egal mit welchem Anbieter und egal mit welcher Technik, eine flächendeckende Maut auf deutschen Bundesstraßen einzuführen. Darum ist das, was Sie hier vorgetragen haben, unseriös.
({9})
Es ist gut, dass wir auch die Lkw ab 7,5 Tonnen in die
Maut einbeziehen. Auch das ist ein weiterer Beitrag
dazu, dass sich die Nutzer unserer Verkehrsinfrastruktur
Stück für Stück an den Kosten beteiligen. Das wird bis
zum Ende dieser Legislaturperiode im Jahre 2017
875 Millionen Euro Mehreinnahmen bringen, 875 Millionen Euro, auf die wir nicht verzichten wollen und die
wir dringend brauchen, um sie in unsere Verkehrsinfrastruktur investieren zu können.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will noch eine
letzte Bemerkung zum Thema Achsklassen machen. Wir
tun uns nicht ganz so leicht darin, dem zu folgen, was
von der Bundesregierung vorgeschlagen worden ist. Wir
haben da noch Gesprächsbedarf, Frau Staatssekretärin.
Das sage ich ganz offen. Wir stehen da ja auch in Gesprächen. Dabei haben für uns zwei Dinge absoluten
Vorrang:
Erstens. Wir werden nicht auf Einnahmen verzichten.
Zweitens. Wir brauchen eine rechtssichere, eine gerichtsfeste Lösung. Wir wollen keine Fehlanreize schaffen. Ja, wir nehmen die Bedenken des Bundesrates ernst.
Auch ich glaube, dass es zu Fehlanreizen kommen kann,
wenn ein Vierachser niedriger bemautet wird als ein
Fünfachser. Aber wir brauchen trotzdem eine Lösung,
die am Ende tragfähig ist, also die nicht nur hier durchs
Parlament geht, sondern auch einer gerichtlichen Überprüfung standhält.
Darum werden wir uns im weiteren Verfahren kümmern. Das ist ein ganz normaler Vorgang; da gibt es auch
überhaupt keinen Dissens zwischen den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung. Da müssen wir nur
noch ein Stück weit nacharbeiten. Damit werden wir uns
auseinandersetzen. Auf diese Debatten und diesen Austausch freue ich mich ganz besonders.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit
und wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. Ich
wollte immer schon mal als Letzter in diesem Hohen
Hause sprechen. Das ist mir heute gelungen.
Vielen Dank.
({10})
Ganz ist Ihnen das nicht vergönnt, weil die Präsidentin das letzte Wort hat.
({0})
Erstens wird die Debatte geschlossen.
Zweitens wird interfraktionell die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3923 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Februar 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
schönen Abend.