Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen! Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung
ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
16 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierter Bericht der Bundesregierung über die
Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“
({0})
Drucksache 18/3213
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, Tom
Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen Friedenseinsätzen
Drucksachen 18/1460, 18/3931
Zu dem Bericht der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({3})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! In ungefähr drei Stunden werde ich in
Richtung München zur Münchner Sicherheitskonferenz
abreisen, wo wir - Sie ahnen es - eine Debatte über die
Lage in der Welt und über die Vielzahl und Gleichzeitigkeit ernsthafter Krisen rund um den Erdball führen werden. Natürlich werden wir über die ganz akuten Krisen
diskutieren, die uns alle miteinander beschäftigen:
Syrien, Irak, Libyen, und über die, die uns geografisch
am nächsten ist, die in der Ukraine.
Ich sage das, weil wir in München vermutlich nicht
über die Vielzahl der verhinderten Krisen reden werden.
Aber das macht die Arbeit der Krisenprävention, über
die wir heute Morgen reden, nicht weniger wichtig. Das
Paradox der Prävention ist: Am erfolgreichsten ist sie
immer dann, wenn sie niemand bemerkt, wenn eben
keine Bilder von Krieg und Gewalt die Fernsehbildschirme zu Hause erreichen. Vielleicht hat sich gerade
dann aktive Außenpolitik in diesem Sinne für Krisenprävention gelohnt.
Deshalb sage ich zu Anfang: Wir dürfen gerade inmitten von Krisen nicht nachlassen, den Krisen von morgen
vorzubeugen. Das ist meine Überzeugung, und dafür
müssen wir arbeiten.
({0})
Viele im Hause erinnern sich - das dürfte inzwischen
mehr als zehn Jahre her sein -, dass die damalige Bundesregierung den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention,
Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ auf den
Weg gebracht hat. Das war schon damals dringend notwendig, und ich freue mich darüber, dass das Engagement für diesen Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zugenommen hat. Allein die Haushaltsansätze im
Auswärtigen Amt haben sich seit der Zeit - ich habe dieser Tage einen Blick darauf geworfen - ungefähr verzehnfacht. Im laufenden Haushalt stehen ungefähr
150 Millionen Euro zur Verfügung, die wir hoffentlich
im Laufe der Legislaturperiode mit Ihrer Hilfe mindestens verstetigen können.
Damit wird etwas möglich - deshalb ist mir das wichtig - jenseits des aktuellen Krisenmanagements. Dies
wird zwar weiter erforderlich sein, aber es wird zudem
etwas möglich, was ich gerne unter der Überschrift der
vorsorgenden Außenpolitik zusammenfasse. Das ist
nicht nur die passende Überschrift für den Aktionsplan
Zivile Krisenprävention, sondern auch, wie ich finde, für
den mutigen Dienst der vielen Hundert zivilen Experten
aus Deutschland in Friedensmissionen rund um den Globus, für das Engagement des Zentrums für Internationale
Friedenseinsätze und auch für die Arbeit der Friedensforschungsinstitute, die Krisenfrüherkennung und zivile
Lösungsansätze erforschen. Deshalb möchte ich in dieser Rede all denjenigen, die hier genannt sind, auch einmal meinen Dank und den Dank des Hohen Hauses sagen.
({1})
Damals vor zehn Jahren - ich erinnere mich zurück haben wir durchaus bewusst mit dem Begriff der vorsorgenden Außenpolitik Anleihe an manche innen- und sozialpolitische Diskussionen genommen, die wir hier im
Lande auch vor ungefähr zehn Jahren - ein bisschen länger ist es her - geführt haben. Damals haben wir gesagt:
Lieber früh ins Bildungssystem investieren als später zu
viel in Arbeitslosengelder. Oder: Lieber früh in die soziale Stadt investieren als später in eine dann notwendige
Kriminalitätsbekämpfung.
Genau aus diesem Ansatz bzw. dieser Annäherung ist
auch der Begriff der vorsorgenden Außenpolitik entstanden, bei dem man immer vorneweg sagen muss: Natürlich gibt es keine Garantie für den Erfolg. Es gibt natürlich keine Garantie dafür, dass immer da, wo wir mit
vorsorgender Außenpolitik unterwegs sind, auch tatsächlich keine Krisen ausbrechen. Nur eines bleibt, glaube
ich, richtig: Man sollte lieber vorsorgend, gezielt und
flexibel in Stabilität und Frieden investieren, um nicht
spät oder zu spät eingreifen zu müssen. Deshalb müssen
wir auch die Debatte fortführen, die seit dem letzten Jahr
mit größerer Intensität über Verantwortung in der Außenpolitik in Deutschland läuft. In München wird das
ganz sicher geschehen; sie wird dort - wie aber auch hier
und in anderen öffentlichen Foren - geführt werden.
Sie wissen: Ich stehe für einen Instrumentenkasten
der Außenpolitik, den man tatsächlich auch in seiner
ganzen Bandbreite anwenden sollte. Dieser Werkzeugkasten ist viel reichhaltiger gefüllt, als das in der öffentlichen Debatte immer wieder gesagt wird. In München
oder anderswo könnten jetzt wieder Stimmen laut werden, welche die Außenpolitik auf die Ultima Ratio verkürzen und deshalb die Alternativen „entweder endloses
fruchtloses Geschwätz“ oder „Auslandseinsätze der
deutschen Bundeswehr“ aufmachen. Das sind die falschen Alternativen.
({2})
Dazwischen gibt es viel mehr Instrumente, denen wir
uns zuwenden müssen.
Worum geht es wirklich bei vorsorgender Außenpolitik und Krisenprävention, liebe Kolleginnen und Kollegen? Dabei geht es vor allen Dingen um die Stärkung
von Staatlichkeit. Das ist ein mühsames Geschäft, und
manchmal sieht man nach fünf oder zehn Jahren den Erfolg, den wir uns wünschen, immer noch nicht. Diese
mühsame Arbeit bleibt aber notwendig, weil wir wissen,
dass die fragilen Staaten von heute - da, wo staatliche
Strukturen zu erodieren drohen - die Krisenstaaten von
morgen werden. Deshalb müssen wir diese Staaten im
wahrsten Sinne des Wortes ertüchtigen. Das können wir
nicht in erster Linie mit Waffenlieferungen machen, sondern vor allen Dingen durch Stärkung von staatlichen
Funktionen wie Justiz, Verwaltung, Gesundheit und Bildung. Das ist der Grund dafür, weshalb wir - das wird in
der deutschen Öffentlichkeit nicht diskutiert - zum Beispiel in Tunesien, Burundi und Niger sowie im Tschad in
Polizeiausbildung investieren. Wir wollen ein Mindestmaß an Sicherheit für die dortige Bevölkerung erreichen.
Gernot Erler ist jetzt nicht hier. Er könnte sich aber
gut erinnern, dass wir vor wenigen Jahren mit einer frühzeitigen Investition - durch Beratung bei der Koalitionsbildung in Kenia nach der damaligen Wahl - vielleicht
sogar eine bürgerkriegsähnliche Situation verhindert
haben, indem wir zu verhindern halfen, dass der selbsternannte Gewinner und der vermutete Verlierer der damaligen Präsidentschaftswahl in eine gewaltsame Auseinandersetzung miteinander gerieten. Wir kümmern uns
auch weiterhin um Kenia - ein Land, in dem die Lage,
wie Sie wissen, immer noch nicht einfach ist. Wir bauen
in diesem Land jetzt eine Kammer für Völkerstrafrecht
am Obersten Gerichtshof auf. Das ist Stärkung von staatlichen Institutionen. Es ist Einübung in justizielle Verfahren sowie in Verlässlichkeit von Verwaltung. Das
braucht unendlich viel Zeit und Geduld. Wir müssen
hoffen, dass sich das lohnt.
Diese Stärkung von staatlichen Funktionen versuchen
wir auch bei der Bewältigung der Folgen der syrischen
Flüchtlingstragödie zu berücksichtigen. Warum? Weil
wir auf die Flüchtlinge achten müssen, denen wir humanitäre Hilfe zuteilwerden lassen müssen. Das ist klar,
und dafür steht dieses Hohe Haus auch. Dafür haben wir
Mittel zur Verfügung gestellt - mehr als andere Staaten.
Außerdem müssen wir immer wieder auch sehen, dass
die Nachbarstaaten, insbesondere Jordanien und der Libanon, unter dem Ansturm der Vielzahl der Flüchtlinge
zusammenzubrechen drohen.
Im gemeinsamen Interesse der Flüchtlinge und der
Region, aber auch in unserem Interesse, muss uns deshalb daran gelegen sein, die staatlichen Funktionen dort
zu erhalten und den Staaten auch jenseits von humanitärer Hilfe zu helfen, mit diesen Sonderbelastungen in diesen Jahren der Syrienkrise fertigzuwerden. Das tun wir,
indem wir neben der humanitären Hilfe Mittel dafür bereitstellen.
Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Stärkung regionaler und multilateraler Strukturen. Im Rahmen der Stärkung der Zusammenarbeit zwischen uns
und der Afrikanischen Union zum Beispiel bilden wir
afrikanische Polizisten für Peace-Keeping-Operationen
aus. Daneben unterstützen wir die Afrikanische Union
bei einem ganz wichtigen Großprojekt, das nicht sehr
bekannt ist: Die Afrikanische Union hat vor, bis zum
Jahre 2017 umstrittene Grenzverläufe in Afrika zu identifizieren, die Grenzen zu markieren und sie möglichst
zwischen den Staaten zu vereinbaren. Das verlangt technische Unterstützung, aber auch eine Umsetzungshilfe,
an der wir uns ebenfalls beteiligen.
Ein dritter Schwerpunkt ist die Friedensmediation,
damit Gesellschaften in Post-Konfliktstaaten nicht erneut in Gewalt abgleiten, wenn der eigentliche Konflikt
vorüber ist. Dazu zwei Beispiele:
Erstens. In der nächsten Woche werde ich, wenn die
Dinge so laufen, wie ich mir das wünsche, in Südamerika sein - am Schluss der Reise auch in Kolumbien. Bei
dem Versöhnungsprozess, der in Kolumbien jetzt hoffentlich ansteht, stehen wir auf Bitte des Präsidenten
Santos Calderón, der vor wenigen Wochen hier in Berlin
war und um Unterstützung gebeten hat, beratend zur
Seite. Wir nehmen ganz konkrete Projektvorschläge
dorthin mit, die wir gemeinsam mit der Gedenkstätte
Berlin-Hohenschönhausen entwickelt haben. Darüber
hinaus haben wir gemeinsam mit der Max-Planck-Stiftung für Internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit
eine Zusammenarbeit beim Thema Übergangsjustiz vorbereitet. Auf diese Weise versuchen wir, auch präventiv
etwas gegen das Wiederaufflammen der Auseinandersetzungen in Kolumbien beizutragen. Auch das ist Krisenprävention.
Zweitens. Wenn diese Debatte vorbei ist, werde ich
eine Delegation aus Korea treffen, mit der wir bereits im
November gesprochen haben und die ein neues Interesse
an den deutschen Erfahrungen mit der Wiedervereinigung hat. Wir werden heute Mittag gemeinsam mit den
koreanischen Kollegen darüber debattieren und später in
einer zweiten Sitzung mit der deutsch-koreanischen Beratergruppe - Hartmut Koschyk und Markus Meckel
sind dabei - zu diesem Thema tagen. Gemeinsam mit
dieser deutsch-koreanischen Beratergruppe werden wir
dann zum zweiten Mal zum Thema Wiedervereinigung
zusammensitzen.
Sie haben gestern hier im Deutschen Bundestag über
die Ausbildungsmission in Mali diskutiert. Das ist gut
und richtig. Richtig finde ich auch, dass die breite Unterstützung des Deutschen Bundestages gewährleistet ist.
Ich sage das nur, weil viel weniger häufig zur Kenntnis genommen wird, wie breit unser politisches Engagement in Mali wirklich ist. Wir unterstützen dort zum
Beispiel auch ein neugeschaffenes Ministerium für Versöhnung. Die Versöhnungsarbeit kann dort noch nicht
richtig laufen, weil der Konflikt noch heiß ist, aber wir
versuchen, jetzt die Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass die Versöhnungsprozesse später schnellstmöglich
anlaufen können.
Ich nenne Ihnen diese wenigen Beispiele auch, um
den falschen Eindruck zu vermeiden, dass die Außenpolitik in diesen Tagen nur mit den vier, fünf Großkrisen
rund um die Welt beschäftigt ist. Darauf müssen wir uns
sicherlich konzentrieren. Die Öffentlichkeit hätte wenig
Verständnis, wenn wir uns davon abwenden. Aber Krisenprävention, Friedenskonsolidierung oder Versöhnungsprozesse sind auch Teil meiner täglichen Arbeit
bzw. des Auswärtigen Amts genauso wie Friedensmediation. Dazu haben wir gerade im letzten Spätherbst in
Berlin eine große Konferenz durchgeführt. Wir wurden
gebeten, noch mehr in die Ausbildung von Friedensvermittlern zu investieren. Das ist wichtig, keine Frage.
Mit einem letzten Blick auf die vielen Krisen der Welt
sage ich noch einmal: Nicht überall gelingt zivile Krisenprävention. Aber ich glaube fest daran: Vorausschauende Außenpolitik ist jeden Euro wert. Ihre Rendite
zahlt sich zwar heute nicht in Geldscheinen aus, aber
vielleicht morgen in vermiedenen Konflikten, und das ist
viel wert.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Minister. - Für die Fraktion Die
Linke hat jetzt das Wort Kathrin Vogler.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor 35 Jahren habe ich als
Jugendliche die Grundsatzerklärung der Deutschen Friedensgesellschaft unterschrieben. Da heißt es:
Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit.
Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu
unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.
Deswegen bin ich ausgesprochen stolz und froh, einer
Fraktion in diesem Haus angehören zu dürfen, die keinem Militäreinsatz im Ausland zustimmt.
({0})
Uns ist es wichtig, Gewalt, Krieg und Bürgerkrieg durch
eine aktive Friedenspolitik im Vorfeld zu verhindern.
Menschen, die von Krieg und Gewalt betroffen sind,
wollen wir ohne Waffen wirksam helfen. Dafür setzen
wir voll auf die zivile Konfliktbearbeitung.
({1})
Herr Steinmeier, es ist gut, dass Sie sich heute selbst
an dieser Debatte beteiligen. Es ist auch gut, dass der
Bundespräsident in der nächsten Woche aktive und
engagierte Menschen aus der zivilen Konfliktbearbeitung in das Schloss Bellevue zu sich einlädt. Das sind
wichtige Symbole. Aber wir wollen, dass die zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung endlich über
Symbolpolitik hinauskommen.
({2})
Worüber reden wir hier? Zivile Konfliktbearbeitung
bedeutet, mit zivilen, das heißt mit nicht militärischen
Mitteln Gewalt zu verhindern oder zu beenden. Das findet etwa statt, wenn Friedensverhandlungen vereinbart
oder überwacht werden, wenn Kindersoldaten durch
Verhandlungen befreit und zu ihren Familien zurückgebracht werden oder wenn Journalisten lernen, wie man
der Verbreitung von Hass und Angst durch eine ausgewogene Berichterstattung entgegentreten kann. Das findet statt, wenn Kriegsverbrecher in rechtsstaatlichen
Verfahren verurteilt werden und ihre Opfer Gerechtigkeit erfahren.
Ich freue mich, dass wir heute auf der Besuchertribüne Menschen begrüßen können, die sich dieser großen
Aufgabe leidenschaftlich widmen. Stellvertretend begrüßen möchte ich Ramy Lakkis und Assem Shraif aus dem
Libanon.
({3})
Sie bauen dort mit Unterstützung des Zivilen Friedensdienstes aus Deutschland Friedensnetzwerke auf und arbeiten so gegen die wachsenden Spannungen zwischen
den Religionsgruppen, aber auch - Herr Steinmeier, Sie
haben das angesprochen - zwischen syrischen Flüchtlingen und Einheimischen an. Diese Arbeit ist schwierig,
aber notwendig. Diese müssen wir noch mehr unterstützen.
({4})
Das Grundgesetz verlangt in seiner Präambel von uns
allen, dem Frieden in der Welt zu dienen. Das bedeutet
doch, dass Frieden die Leitschnur unseres Handelns in
allen politischen Bereichen sein muss. Genau dafür gibt
es seit 2004 den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention,
Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Wenn Sie
einmal draußen auf der Straße fragen, ob die deutsche
Politik in den letzten zehn Jahren nach Einschätzung der
Menschen friedlicher geworden sei: Was meinen Sie,
was Sie dann zu hören bekommen? Das ist beileibe nicht
nur ein Vermittlungsproblem; denn die Menschen erleben das Tag für Tag. Sie müssen nur die Nachrichten
verfolgen.
Obwohl wir in einer Zeit leben, in der Krisen und
Konflikte immer häufiger in Gewalt münden, bleibt
doch der Beitrag Deutschlands und dieser Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung auch nach zehn Jahren Aktionsplan beschämend
gering. Das beginnt schon bei den Begrifflichkeiten. Bei
Ihnen findet sich unter der Überschrift „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“
ein buntes Sammelsurium an Maßnahmen, auch Polizeieinsätze, die Aufrüstung und Ausbildung von Armeen
und sogar Militäreinsätze mit Kampfauftrag. Das hat
doch mit ziviler Krisenprävention nichts, aber auch gar
nichts zu tun.
({5})
Ein Beispiel: Sie wollen die Kapazitäten der eigenverantwortlichen zivilen Krisenprävention in Afrika
stärken. Gut, aber welche Maßnahmen führen Sie dafür
an? Die Ausbildung von Soldaten in Mali. Was, bitte, hat
das mit ziviler Krisenprävention zu tun? Nichts, aber
auch gar nichts.
({6})
Man kann unterschiedlicher Meinung sein, welche
Rolle Militär und Polizei in der Konfliktvorbeugung
oder -beilegung haben können, aber wir sollten doch
bitte zivile, polizeiliche und militärische Maßnahmen ordentlich trennen, genau wie wir das aus gutem Grund
auch im Inland tun.
({7})
Ja, wir haben auch Fortschritte zu verzeichnen. Der
Zivile Friedensdienst ist mit 230 Fachkräften in 36 Konfliktregionen im Einsatz und unterstützt dort Friedensprozesse. Er hat sich ganz hervorragend entwickelt. Aber
es gibt viel mehr Bedarf, gerade dort, wo die Konflikte
zwar auf der Straße liegen, aber noch nicht offen ausgebrochen sind, wie zum Beispiel in den Flüchtlingslagern
des Libanon. Im Libanon kommt mittlerweile auf jeden
Einwohner ein syrischer Flüchtling. Deswegen will die
Linke den Zivilen Friedensdienst auch deutlich besser
ausstatten.
({8})
Auch die Ausbildung ziviler Fachkräfte kommt in
kleinen Schritten voran. Das Förderprogramm ifa zivik
des Auswärtigen Amtes war wichtig. Auch da könnte
man noch mehr tun.
Aber was den Kern des Aktionsplans eigentlich betrifft, da hat sich meiner Ansicht nach zu wenig bewegt;
denn eigentlich sollten doch alle Ministerien hinterfragen, was sie vielleicht unbeabsichtigt zu den Konflikten
in der Welt beitragen. Es ist doch der Kern des Aktionsplans, dass sich zum Beispiel das Wirtschaftsministerium vor dem Abschluss des nächsten Freihandelsabkommens einmal Gedanken darüber macht, ob das
Abkommen vielleicht zur Verschärfung von Konflikten
in dem entsprechenden Partnerland beitragen könnte,
oder dass es dann, wenn es um Erdölimport aus Nigeria
geht, die Auswirkungen auf die Konfliktlage in den Fördergebieten im Nigerdelta berücksichtigt. Ich würde mir
wünschen, Herr Steinmeier, dass die Bundesregierung
diese Perspektive wieder aufgreift.
({9})
Das Bild von der Bundesrepublik als Vorreiter der zivilen Krisenprävention, das die Bundesregierung so
gerne zeichnet, ist schon deshalb schief, weil Deutschland selbst inzwischen Partei in allzu vielen Kriegen und
Konflikten ist. Das kommt daher, dass Sie vor allem auf
die Karte des militärischen Eingreifens setzen. Deswegen wird unser Land mehr und mehr unfähig, die zivilen
Möglichkeiten, die es gibt, auch wirklich zu nutzen.
Wenn Sie, Herr Steinmeier, oder der Bundespräsident
von Deutschlands Verantwortung in der Welt reden,
dann ist es vor diesem Hintergrund doch kein Wunder,
dass viele Menschen das als Ankündigung von noch
mehr Militäreinsätzen wahrnehmen. Diese Regierung
benutzt die zivile Krisenprävention als Feigenblatt für
eine militärinterventionistische Politik, und das zeigt
sich doch schon an den finanziellen Mitteln.
Meine Fraktion hat die Bundesregierung gefragt, was
sie denn für die Umsetzung des Aktionsplans in den einzelnen Ressorts ausgibt. Das Wirtschafts- und das Umweltministerium haben dafür nach eigenen Angaben in
den letzten zehn Jahren keinen einzigen Cent ausgegeben. In vielen Ministerien ist noch nicht einmal klar, was
dieses Zivile eigentlich ist, das gefördert werden soll.
Die jährlich etwa 1,2 Milliarden Euro, die für die zivile
Krisenprävention nach Ihren eigenen Angaben ausgegeben werden - die Angabe ist überhöht -, sind einfach lächerlich gering, wenn man überlegt, dass allein die Bundeswehr 32 Milliarden Euro im Jahr verschlingt.
Dann haben wir konkret nachgefragt, welche Rüstungsexporte diese Bundesregierung in Länder genehmigt hat, für die sie gleichzeitig Maßnahmen der Krisenprävention bewilligt hat. Die Antwort darauf haben Sie
uns verweigert. Das war selbst Ihnen wohl doch zu peinlich. Also haben wir das selber zusammengestellt, und
der Befund ist erschreckend. Herr Steinmeier - Sie haben über Kolumbien gesprochen -, im Jahr 2013 hat die
Bundesregierung Rüstungsexporte nach Kolumbien im
Wert von über 50 Millionen Euro bewilligt. Gleichzeitig
hat das Auswärtige Amt Projekte zur Konfliktbewältigung im Wert von 1,5 Millionen Euro gefördert, unter
anderem Projekte für den Kampf gegen Korruption. Sie
liefern also Waffen an eine korrupte Regierung. Ist das
„vorsorgende Außenpolitik“?
Indien und Pakistan: Beide Länder haben Maßnahmen der Krisenprävention ergriffen. Gleichzeitig haben
Sie nach Indien 2013 Waffenexporte im Wert von
107 Millionen Euro, nach Pakistan Waffenexporte im
Wert von 47 Millionen Euro bewilligt. Beide Länder
sind seit langen Jahren im Streit um Kaschmir. In beiden
Ländern gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen. Jetzt
erklären Sie mir doch einmal, was das für eine Krisenprävention ist, die Sie da betrieben haben, und wie man
zwei Länder aufrüsten kann, die sich miteinander im
Dauerkonflikt befinden?
({10})
Das können Sie nicht erklären. Entschuldigen Sie, das ist
doch reiner Etikettenschwindel.
Militäreinsätze und Waffenlieferungen sind nämlich
nicht Teil der Lösung; sie sind Teil des Problems.
({11})
Wir müssen feststellen: Bei nahezu jedem größeren bewaffneten Konflikt, der heute über unsere Fernsehbildschirme flimmert, gab es in der Vergangenheit Waffenlieferungen, missglückte Interventionen. Außerdem gibt
es eine Politik der Spaltung auf diesem Planeten, die immer mehr Menschen arm und sehr wenige Menschen dafür sehr reich macht. Wenn etwa im Südsudan die Viehzüchter und die Ackerbauern wie Kain und Abel um die
letzten Wasserressourcen kämpfen, dann nützt ihnen
auch keine noch so große Militärpräsenz. Diese Konflikte können sie nur beilegen, wenn es einerseits genug
Wasser gibt und andererseits Streitbeilegungsmechanismen, die von allen Seiten akzeptiert sind.
({12})
Wenn alle Ministerien überprüfen müssten, was sie
zur Eskalation von Konflikten beitragen, dann gilt das
natürlich auch für das Verteidigungsministerium. Ich bin
der festen Überzeugung, dass dann kein einziger der derzeitigen Bundeswehreinsätze mehr Bestand hätte.
({13})
Aber leider ist der Irrglaube an den Nutzen militärischer Interventionen nicht nur in der Bundesregierung
verbreitet; in Ihrem Entschließungsantrag zur heutigen
Debatte fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, Deutschlands Fähigkeiten im militärischen Bereich nach dem „do no harm“-Ansatz zu überprüfen, also dahin gehend, wie sie sich auf gewaltsam
ausgetragene Konflikte auswirken. Das klingt so ähnlich
wie etwas, was auch wir fordern. Es klingt also erst einmal nicht schlecht; aber es wirft doch die Frage nach den
Konsequenzen auf. Welcher der von den Grünen in den
letzten Jahren unterstützte Militäreinsatz hätte denn Ihrer
Meinung nach diesen Anspruch erfüllt? Der KosovoKrieg? Der Afghanistan-Krieg? Die westliche Intervention in Libyen, für die auch in Ihrer Fraktion geworben
wurde?
Nein, ich sage Ihnen eines: Sie müssen diese militärische Logik überwinden.
({14})
Deutschland braucht ein Gesamtkonzept für eine zivile
Außenpolitik, die sich von den Regeln des Völkerrechts,
dem Prinzip des Gewaltverzichts und vom Gedanken des
frühzeitigen, vorbeugenden Handels leiten lässt. Dafür
brauchen wir auch eine Umverteilung im Bundeshaushalt. Denn, meine Damen und Herren, würden Sie einen
einzigen Eurofighter weniger kaufen, könnten Sie mit
dem eingesparten Geld die Mittel für den Zivilen Friedensdienst für fünf Jahre mehr als verdoppeln. Das wäre
mehr als ein Symbol, und damit könnte Deutschland
wirklich dem Frieden in der Welt dienen.
({15})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Franz Josef
Jung, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn der Debatte möchte ich unserer Bundesregierung
herzlich für den Beitrag danken, den sie zur zivilen Krisenprävention, zur Konfliktlösung und zur Friedenskonsolidierung leistet. Frau Vogler, wenn Sie das als Symbolpolitik bezeichnen, dann kann man das nur mit
Nachdruck zurückweisen. Das Gegenteil ist der Fall.
({0})
In diesem Bericht wird, denke ich, sehr klar zum Ausdruck gebracht, welchen Beitrag wir zur nachhaltigen
Friedensförderung in Europa und in dieser Welt leisten;
der Außenminister hat auf sehr konkrete Maßnahmen
hingewiesen. Gerade auch in Ansehung der heute beginnenden Münchner Sicherheitskonferenz - der Kollege
Ischinger hat verdeutlicht, dass die Frage des fortlaufenden Krisenmanagements
({1})
mit an zentraler Position der Diskussion stehen wird -,
wird deutlich, dass man sich hier sehr konkret der Frage
nach den Ursachen und der konkreten Frage der Prävention zuwenden muss.
Zunächst muss man natürlich feststellen, dass sich die
Konfliktsituationen in der Welt verändert haben. Wir haben eine Situation des globalen Terrors; ich erwähne nur
ISIS, Boko Haram und natürlich auch al-Qaida. Es gibt
eine Zunahme an radikalen und islamistischen Extremisten. Wir haben - darauf hat der Bundesaußenminister zu
Recht hingewiesen - die sogenannten Failing States, die
fragilen Staaten. Wir haben transnationale organisierte
Kriminalität und das Problem der Ressourcenkonflikte.
Ich denke, darauf müssen wir zunächst eine Antwort im
Rahmen ziviler Krisenprävention zu finden versuchen;
denn das sind die Instrumente, die im Vorfeld unabdingbar sind, um letztlich eine friedliche Entwicklung in unserer Welt zu befördern. Deshalb ist genau dieser Akzent, den die Bundesregierung hier setzt, richtig.
({2})
Wir sind mit diesen Maßnahmen auch führend in Europa.
Ich finde aber, es gehört auch dazu, dass wir über das
reden, was wir damals im Weißbuch 2006 als vernetzte
Sicherheit bezeichnet haben. Es geht darum, dass wir außen- und entwicklungspolitische, zivile, polizeiliche
Instrumente einsetzen, dass wir aber auch nicht ausschließen, als Ultima Ratio militärische Fähigkeiten einzusetzen nach dem Grundsatz: Ohne Sicherheit keine
Entwicklung, aber ohne Entwicklung auch keine Sicherheit. - Dies ist zu einem Kennzeichen deutscher Außenund Sicherheitspolitik geworden und hat mit einen Beitrag dazu geleistet, dass wir in einigen Regionen unserer
Welt zu einer friedlichen Entwicklung gekommen sind.
({3})
Da dies immer wieder bestritten wird, will ich nur in
Erinnerung rufen: Was wäre denn gewesen, als es die
Massenhinrichtungen - Stichwort „Srbrenica“ -, die
Massenvergewaltigungen, das menschenverachtende
Vorgehen in den ehemaligen Balkanstaaten gegeben hat?
Ohne dass die NATO dort eingegriffen hätte, wäre es
nicht zu einer stabilen und friedlichen Entwicklung gekommen. Auch das gehört dazu, wenn wir über Krisenbewältigung und Friedenssicherung in unserer Welt
sprechen.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider müssen wir feststellen, dass es letztlich oft des letzten Mittels bedarf - ich nehme jetzt zu dem aktuellen Thema der
Bekämpfung des ISIS-Terrors Stellung -, nämlich des
Einsatzes militärischer Fähigkeiten. Wenn man sieht, in
welcher brutalen Art und Weise ISIS vorgeht - ich erinnere an den Piloten und ich erinnere an im Grunde genommen Kinder, die hingerichtet werden; Menschen
werden abgeschlachtet -, dann erkennt man: Dort ist leider Gottes alleinige zivile Krisenprävention nicht die
Maßnahme, die zu einer friedlichen Entwicklung führt.
Dort ist es richtig, beispielsweise die Peschmerga mit
Waffen zu unterstützen und eine Ausbildungsleistung im
Irak zu erbringen, um dazu beizutragen, dass derartiges
menschenverachtendes Vorgehen einer Terrororganisation zurückgedrängt wird und dass es in dieser Region
wieder zu einer friedlichen Entwicklung kommt.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich ist
es richtig, dass die zivile Krisenprävention weltweit an
Bedeutung gewonnen hat. Dadurch wird vorsorgend in
Frieden und Stabilität investiert: durch Förderung von
Rechtsstaatlichkeit, durch die Unterstützung guter Regierungsführung, durch Ausbildung von Polizei- und Sicherheitskräften, durch die Stärkung der Zivilgesellschaften, durch die Förderung von Bildungs- und
Gesundheitssystemen, aber auch durch die Gewährleistung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung.
Ich habe zu oft - beispielsweise in Afghanistan, um
ein konkretes Beispiel zu nennen - erlebt, dass Menschen, die überhaupt keine Perspektive hatten, dass ihre
Familien überleben, die in Not und Elend lebten, viel
empfänglicher für radikale Werbeaktionen - beispielsweise der Taliban - waren als diejenigen, deren Grundbedürfnisse gesichert waren. Deshalb gehört auch die
Förderung der Grundbedürfnisse der Menschen in diesen
Regionen dazu, um zur Stabilität und zur friedlichen
Entwicklung beizutragen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein solcher
vorsorgender und ressortübergreifender Ansatz ist das
Markenzeichen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Damit übernehmen wir - das zeigen die Unterstützungsmaßnahmen, die auch in diesem Jahr vorgenommen werden - mehr Verantwortung in der Welt, wie
es sowohl der Bundespräsident als auch der Außenminister und die Verteidigungsministerin auf der letzten
Sicherheitskonferenz in München deutlich gemacht haben. Aber es gilt auch, die Instrumente der Krisenprävention fortzuentwickeln. Dazu gehört der Review-Prozess im Auswärtigen Amt, wo unter Einbeziehung von
Fachleuten, von Bürgerinnen und Bürgern ein gesellDr. Franz Josef Jung
schaftlicher Diskurs in dieser Richtung vorangetrieben
wird. Dazu gehört das Eintreten des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit für eine passgenaue
Krisenprävention und zivile Konfliktberatung. Dazu gehört in der Perspektive auch der vernetzte Ansatz, dass
beispielsweise Ausbildungsunterstützung und Unterstützung bei Polizeimaßnahmen geleistet werden und auch
durch die Teilnahme an UN-Missionen zur Friedenssicherung beigetragen wird. Wenn Sie sich die UN-Missionen sowohl im Libanon als auch in Mali, im Sudan, in
Darfur, in Afghanistan und im Kosovo anschauen, dann
sehen Sie: All dies sind Beiträge, mit denen Deutschland, wie ich finde, einen wichtigen Beitrag zur Krisenprävention, zur Krisenbewältigung und damit zur Friedenssicherung in unserer Welt leistet.
({7})
Meine Damen und Herren, wir haben eine Verantwortung, wenn es darum geht, Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu
verhindern bzw. zu bekämpfen. Dies hat der Bundespräsident vor ein paar Tagen von diesem Pult aus - wie ich
finde, zu Recht - noch einmal deutlich gemacht. Wir
wollen mit diesen Maßnahmen unseren Beitrag für eine
friedliche Entwicklung in Europa und darüber hinaus
leisten. Es ist es auch wichtig, dass unsere Bundeskanzlerin gemeinsam mit Staatspräsident Hollande sowohl in
Kiew als auch - heute - in Moskau ist, um dazu beizutragen, dass wir endlich zu dem kommen, was einst vereinbart worden ist, nämlich dass die Waffen in der
Ukraine schweigen und es dort wieder zu einer friedlichen Entwicklung kommt. Auch dies ist ein Beitrag zur
Friedenssicherung, der von unserer Bundesregierung geleistet wird.
({8})
Ich füge hinzu: Es war erst am 21. Januar, als unter
Verantwortung unseres Bundesaußenministers sowohl
der Außenminister der Ukraine als auch der Außenminister Moskaus - der Außenminister Frankreichs war
ebenfalls dabei - vereinbarten: Die Demarkationslinie
wird anerkannt. Die schweren Waffen werden abgezogen. - Und was ist passiert? Das Gegenteil! Es wurde
eine Großoffensive mit all den bekannten Geschehnissen
gestartet, beispielsweise der Rakete, die dort zu 30 Toten
und zur weiteren Verschärfung der Situation geführt hat.
Deshalb müssen wir alles tun, unseren Einfluss geltend zu machen, um hier zu einer friedlichen Entwicklung beizutragen, um dazu beizutragen, dass das, was
einmal als Grundlage in Minsk vereinbart worden ist
- und zwar von der Ukraine und Russland unter Beteiligung der OSZE -, umgesetzt wird: dass nicht nur die
Waffen schweigen, sondern auch eine humanitäre, eine
wirtschaftliche Entwicklung erfolgt, dass die lokale
Selbstverwaltung eingerichtet und auch in dieser Region
mehr Autonomie gewährleistet wird, um letztlich dazu
beizutragen, dass diese kriegerischen Auseinandersetzungen mitten in Europa endlich beendet werden und
wir wieder zu einem Zusammenleben in friedlicher Koexistenz in Europa kommen. Das ist eine Grundvoraussetzung für Frieden. Deshalb ist es so wichtig, dass
unsere Bundeskanzlerin und der Staatspräsident Frankreichs heute hoffentlich einen Erfolg in Moskau erzielen
können.
({9})
Meine Damen und Herren, ich will noch eines hinzufügen, weil dies aus meiner Sicht in der Öffentlichkeit
immer sehr einseitig dargestellt wird: Gerade fand die
NATO-Verteidigungsministerkonferenz statt. Der NATOGeneralsekretär hat noch einmal unterstrichen, dass wir
eine Zusammenarbeit mit Russland wollen, dass die
NATO-Russland-Grundakte gilt, die von Moskau allerdings verletzt wurde, weil sie die territoriale Integrität
der Ukraine nicht akzeptiert hat. Aus meiner Sicht gehört dies aber elementar zur friedlichen Koexistenz und
zum friedlichen Zusammenleben. Seit dem Zweiten
Weltkrieg war es die gemeinsame Grundlage der Staaten
in Europa, dass die Integrität der Grenzen der Staaten
anerkannt und nicht infrage gestellt wird. Das muss in
Zukunft wieder für alle Beteiligten gelten, damit Frieden
und ein friedliches Zusammenleben in Europa und darüber hinaus möglich sind.
({10})
Meine Damen und Herren, ich sage zusammenfassend: Wir wollen unseren Beitrag zur zivilen Krisenprävention, zur Konfliktlösung und zur Friedenskonsolidierung leisten. Wir sind aber auch im äußersten Fall bereit,
militärische Mittel einzusetzen,
({11})
um Frieden zu sichern bzw. zu ermöglichen. Deshalb
bitte ich Sie um Zustimmung zum Entschließungsantrag
der Koalitionsfraktionen.
Besten Dank.
({12})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Franziska
Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf der
Tribüne! Schön, dass Sie heute gekommen sind. Es ist ja
der dritte Versuch; Sie waren schon zweimal eingeladen.
Dass es beim dritten Mal geklappt hat, ist wirklich einen
Applaus wert.
({0})
Heute beginnt in München die alljährliche Sicherheitskonferenz. Im letzten Jahr wurde diese Tagung von
Bundespräsidenten Gauck mit dem Plädoyer eröffnet,
Deutschland solle mehr Verantwortung übernehmen.
Tage zuvor hatten Sie, Herr Außenminister Steinmeier,
im Bundestag appelliert, die Bundesrepublik dürfe keine
Kultur des Heraushaltens üben. Häufig wurde diese Debatte verengt geführt, rein auf die militärische Komponente abgestellt. Auch wenn es von Ihnen nicht immer
beabsichtigt war, hat zu dieser Verengung sicherlich beigetragen, dass für das Nichtmilitärische, das Zivile kaum
neue Vorschläge oder Ansätze in die Debatte eingebracht
wurden. Dadurch verengt sich die Debatte auf das Militärische.
({1})
Ein Jahr nach diesen Reden - und es waren einige dürfen Fragen gestellt werden: Hat Deutschland mehr
Verantwortung im zivilen Bereich übernommen, und wo
hat es dies getan? Hat es seine Möglichkeiten genutzt?
Verfügt es überhaupt über diese Möglichkeiten? Auf der
Habenseite der Regierung stehen eindeutig die deutschen Vermittlungen im De-facto-Krieg zwischen der
Ukraine und Russland ebenso wie Vorhaben im Bereich
der Mediation. Wir haben es als Bundestag geschafft, die
Gelder für ZIF und ZFD zu erhöhen.
Zivile Krisenprävention ist kein Selbstläufer. Die Erfolge sind nicht einfach zu messen. Das ist ein Umstand,
der vielen Aktiven ständig widerfährt: Man verhindert
Konflikte und hat keine Fotos, die in den Zeitungen veröffentlicht werden oder über CNN laufen. Deswegen
fragt man vielleicht, wofür sie eigentlich da sind. Außerdem bietet die zivile Krisenprävention durchaus Anlass
für sehr schwierige Fragen, über die sich trefflich diskutieren lässt: Kann man Konflikte überhaupt verhindern?
Geht es nicht eher um Konfliktbearbeitung und Konflikttransformation?
({2})
Und wenn es das ist: Können wir wirklich verlässliche
Staatlichkeit aufbauen und voranbringen? Sind wir da
nicht häufig gescheitert? - Selbst wenn wir es könnten:
Können wir denn die Konflikte voraussehen? Woran machen wir das fest? - Ich glaube, dass wir viel davon können. In diesen Bereichen müssen wir endlich mehr tun.
({3})
Aber es gibt eben auch vieles, was wir noch nicht oder
nicht gut genug können. Wir müssen das ehrlich anerkennen und dann eben auch massiv investieren - in Wissen, in Konzepte, in weitere Instrumente und eben auch
in Menschen.
Beispiele für Gelungenes finden wir im Vierten Bericht über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention“. Er ist übrigens zum ersten Mal lesbar;
das ist wirklich ein Unterschied zu den vorherigen Berichten.
({4})
Das geht auch auf die Arbeit des Unterausschusses für
Zivile Krisenprävention in der letzten Legislaturperiode
zurück, der jedes Mal moniert hat, man möge doch bitte
einen lesbaren Bericht erhalten.
Es gibt viele Beispiele in diesem Bericht, etwa aus Sri
Lanka: 20 000 Menschen wurde mit der Ausstellung
gültiger Dokumente geholfen, an der Wahl teilzunehmen. Es ist ein ganz wichtiger Faktor, ob sich die Menschen vor Ort beteiligt fühlen, ob sie die Möglichkeit haben, an einem demokratischen Prozess teilzunehmen,
oder eben ausgeschlossen sind. Ein weiteres Beispiel
- das wurde erwähnt - sind die Grenz- und Polizeistationen in Afrika, die man zivil aufbaut und mit denen man
Grenzkonflikten vorbeugt. Es gibt ganz viele Beispiele,
und wenn sie noch so klein und noch so weit entfernt
von uns sind, sollten sie nicht unterschätzt werden. Sie
sind ein wirklicher Beitrag dazu, diese Welt friedlicher
zu machen. Ein Dank gilt all jenen, die diese schwierige
Arbeit vor Ort leisten. Ihnen möchte ich wirklich danken.
({5})
Wenn wir aber anerkennen, dass wir damit wirklich
erfolgreich sein können, stellt sich doch die Frage, ob es
nicht auch mehr Geld für diese Projekte gibt. Da sprechen die Haushaltszahlen, Herr Steinmeier, leider eine
andere Sprache. Sie hatten vorhin den Betrag von
150 Millionen Euro erwähnt. Dabei haben Sie die Beiträge für die internationalen Organisationen und das,
was wir in der Klimaaußenpolitik machen, mit eingerechnet. Der Ansatz für die rein zivile Krisenprävention
liegt in den letzten Jahren, seit 2013, bei 95 Millionen
Euro. Der Haushaltsansatz für dieses Jahr war sogar
niedriger und lag bei 93 Millionen Euro - das wurde
zum Glück korrigiert -, obwohl der tatsächliche Bedarf
2013 bei 133 Millionen Euro lag. Der Bedarf sollte doch
das Minimum sein, wenn wir die Zahlen für das nächste
Jahr veranschlagen, zumal es so viel mehr Krisen in dieser Welt gibt.
({6})
In der Süddeutschen Zeitung stand gestern, der Unterschied zwischen SPD, CDU/CSU und den Grünen sei
nur, dass die Grünen in dem Bereich mehr Geld wollten.
Da sage ich Ihnen: Ja, aber das ist ein ganz wichtiger
Unterschied. Wer von uns ist denn gegen zivile Krisenprävention? - Ja wohl keiner. Deswegen kommt es darauf an, nicht nur Worte zu finden, sondern auch bereit
zu sein, dafür mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
({7})
Wir entsenden neben Soldatinnen und Soldaten auch
viele zivile Fachkräfte ins Ausland: Polizistinnen und
Polizisten, Juristinnen und Juristen, Ingenieurinnen und
Ingenieure, Frauenrechtsexperten und viele weitere
Expertinnen und Experten. Sie versuchen - oft unter
schwierigen Bedingungen -, vor Ort für Versöhnung,
Wiederaufbau und nachhaltige Entwicklung einzutreten.
Über 1 000 Deutsche sind derzeit im Rahmen der Missionen der Vereinten Nationen, der EU und der OSZE
aktiv. Hinzu kommen viele Fachkräfte von Nichtregierungsorganisationen, zum Beispiel 230 Expertinnen und
Experten des Zivilen Friedensdienstes in 36 Ländern.
Dieses Engagement wird viel zu selten anerkannt und
gewürdigt; aber dies zu tun, ist eine Aufgabe, die wir
alle gemeinsam haben.
({8})
Ich darf Ihnen aber einmal die Frage stellen: Warum
stellt Deutschland von insgesamt mehr als 12 400 Polizeikräften in UN-Missionen derzeit gerade einmal zwei
Dutzend? Unter den 12 400 Polizeikräften sind 24 Deutsche. Ist das Ausdruck von mehr deutscher Verantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen? - Ich sage Ihnen klar: Nein. Da kann und muss Deutschland mehr für
die Vereinten Nationen leisten.
({9})
Auch da gilt - weil die Verhandlungen mit den Bundesländern manchmal eine schwierige Angelegenheit sind -:
Ohne zusätzliches Geld vom Bund wird das nicht funktionieren.
Wir müssen uns auch fragen: Können wir Staatlichkeit, können wir die Rule of Law und Reformen im Sicherheitssektor vorantreiben? Es kommt vor, dass wir
den Aufbau einer unabhängigen Justiz fördern, aber
dann die Richter höchst korrupt sind und es gar niemanden mehr gibt, der sie kontrolliert. Es kommt auch vor,
dass Rechtsstaatsmissionen selber in Korruption verwickelt sind, keinerlei rechtsstaatliche Kontrollmechanismen haben und deswegen vor Ort jegliche Glaubwürdigkeit verlieren. Es kommt auch vor, dass wir eine
demokratisch legitimierte Armee vorantreiben wollen,
aber die Missionen nicht mit den Parlamenten vor Ort
zusammenarbeiten, zum Beispiel im Kongo. - Das sind
Situationen, in denen unsere Arbeit ad absurdum geführt
wird, weil wir nicht die richtigen Konzepte und Instrumente haben.
Es gibt in diesem Bereich Grenzen, Misserfolge und
Rückschläge; aber das ändert nichts an der Notwendigkeit der Arbeit. Es geht darum, mehr zu wissen und besser zu werden. Deutschland führt keine kontinuierlichen,
systematischen, fortlaufenden und unabhängigen Evaluierungen der Projekte durch. Wir müssen in Forschung
und Wirkungsanalysen investieren; hier gibt es ein großes Manko. Zehn Jahre nach dem Aktionsplan ist es
dringend an der Zeit, zu schauen: Wo stehen wir? Was
können wir? Wo müssen wir etwas verbessern? - Das
müssen wir ehrlich angehen.
({10})
Wenn wir schon nicht überall für Staatlichkeit sorgen
können - ich glaube, man muss auch die Grenzen anerkennen -, dann müssen wir wenigstens dazu beitragen,
dass die betroffenen Gesellschaften und Staaten nicht
weiter wirtschaftlich destabilisiert werden. Davon sind
wir aber noch weit entfernt. Wenn die Handels-, die Fischerei- und die Agrarpolitik nicht im Dienste des Friedens stehen, sondern dazu beitragen, dass Gesellschaften
destabilisiert werden, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn diese Staaten weiter zerfallen.
({11})
Wer Waffen nach Saudi-Arabien exportiert, braucht sich
auch nicht die Augen zu reiben, wenn diese eines Tages
zu falschen Zwecken eingesetzt werden. Eine verantwortungslose Klimapolitik trägt mit dazu bei, dass mehr
Menschen zur Flucht gezwungen sind.
Sie haben erwähnt, dass Deutschland ein Vorreiter ist,
was die notwendige Abstimmung unter den Ressorts angeht. Es tut mir schrecklich leid, aber das ist Deutschland eindeutig nicht. Deutschland ist noch längst nicht
wirklich gut, wenn es darum geht, die unterschiedlichen
Ressorts abzustimmen.
({12})
Wir haben zwar den Ressortkreis „Zivile Krisenprävention“; aber er ist weder personell noch finanziell stark
genug ausgestattet. Ich würde mir von Ihnen, Herr
Steinmeier, wünschen, dass Sie hier ein richtiges Zeichen setzen und ihn aufwerten und stärken, damit dieses
Nebeneinanderher endlich beendet wird.
({13})
Wenn Frau von der Leyen jetzt ein neues Weißbuch
will, dann kann ich nur sagen: Wir brauchen nicht ein
Weißbuch für einen Bereich. Wir brauchen in der Außenpolitik endlich friedenspolitische Leitlinien für den
gesamten internationalen Bereich. Das wäre ein Prozess,
den es sich lohnt anzustoßen - nicht wieder Bereich für
Bereich.
({14})
Wir haben auch die schwierigen Punkte angesprochen
- IS, Boko Haram - und die Frage gestellt, ob wir da
überhaupt etwas machen können. Häufig hat man das
Gefühl, eigentlich machtlos zu sein. Aber ich glaube,
man darf nicht aufhören, auch dort nach zivilen Ansätzen zu suchen. Das reicht nicht immer aus; wir wissen
alle, dass man auch die militärische Komponente
braucht. Klar ist aber, dass man immer zivile Möglichkeiten suchen muss. Die Austrocknung von Finanzierungsquellen und die Stabilisierung der Nachbarstaaten
sind hier wichtige Punkte. Entwicklungsminister Müller
hat 1 Milliarde Euro zusätzlich gefordert. Ich hoffe, Ihre
Regierung wird das Geld zur Verfügung stellen; denn es
ist eindeutig notwendig für Syrien und die Nachbarstaaten.
({15})
Erlauben Sie mir, am Ende meiner Rede auf die Frage
zurückzukommen, ob wir überhaupt Konflikte erkennen
können. Hierzu gibt es Indikatoren der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Im Bericht werden in diesem Bereich
Verbesserungen angekündigt - das ist positiv -; aber wir
alle wissen, dass ein Indikator die Ausgrenzung ganzer
Bevölkerungsgruppen bzw. die Diskriminierung eines
Teils der Bevölkerung ist. Es geht hier um Menschenrechtsverletzungen. Die Zunahme von Menschenrechtsverletzungen ist ein guter Indikator für kommende gewalttätige Auseinandersetzungen; denn sie sind schon
Gewalt. Im Bericht wurde der Zusammenhang zwischen
Menschenrechten und Frieden aufgegriffen. Aber in der
Praxis erleben wir leider immer wieder ein Entweder-oder: entweder Menschenrechte oder Stabilität. Unterdrückung und massive Menschenrechtsverletzungen
stehen aber nicht für Stabilität. Sie sind einfach Unterdrückung und massive Menschenrechtsverletzungen.
Punkt!
({16})
Ägypten ist momentan ein trauriges Beispiel. In dieser Woche gab es wieder Hunderte Urteile, die für viele
Kinder, Demokratieaktivisten und Muslimbrüder den
Tod bedeuten. Selbst trauernde Menschen werden einfach erschossen, zum Beispiel eine junge Frau, die zur
Erinnerung Blumen niedergelegt hat. Al-Sisi sagt der
Bundesregierung, dass er die deutschen Gelder für die
Zivilgesellschaft einzeln kontrollieren werde. Die Bundesregierung stellt daraufhin vorzeitig die Zahlung neuer
Gelder für zivilgesellschaftliche Projekte in Ägypten
ein. Es gibt also kein neues Geld für zivilgesellschaftliche Projekte in Ägypten aus Deutschland. Und als Dank
wird al-Sisi nach Berlin eingeladen. - Dazu kann ich nur
sagen: Wer glaubt, dass diese Politik für Stabilität in der
Region sorgt, wer glaubt, dass al-Sisi, der 20 Prozent
seiner Bevölkerung massiv unterdrückt und in Bezug auf
Libyen keine positive Rolle spielt, ein Garant für Stabilität und Frieden ist, denkt in den Mustern der alten, falschen Politik. Wir müssen endlich eine ehrliche und vorsorgende Außenpolitik betreiben und aufhören, an die
falschen Stabilitätsvisionen des letzten Jahrhunderts zu
glauben.
({17})
Frau Kollegin Brantner, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Vorsorgende Außenpolitik, Krisenprävention hat einen Preis. Fangen wir an, die Sache ernst zu nehmen und
diesen Preis zu zahlen: Mehr Verantwortung - das wünsche ich mir.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Ute FinckhKrämer, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf der
Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dem russischen Schriftsteller Marschak gibt es ein Gedicht über
ein vermutlich fiktives Gespräch zwischen ihm und seinem Enkel, das er 1957 veröffentlicht hat. Er fragt in
diesem Gedicht seinen Enkel, was dieser gerade spielte.
Er erhält die Antwort: U-Boot-Krieg. Als er dem Enkel
vorschlägt, nicht Krieg, sondern Frieden zu spielen, läuft
der Enkel los, kommt aber schnell wieder zurück: Großvater, wie spielt man Frieden? In der letzten Strophe des
Gedichts schreibt Marschak, dass man aufhören müsse,
mit dem Krieg zu spielen, damit die Kinder lernen könnten, Frieden zu spielen.
Wir wissen alle: Frieden ist mehr als die Abwesenheit
von Krieg, und zum Frieden gehörten nicht nur die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen und Prinzipien und die
Förderung von politischen Versöhnungsprozessen, die
Außenminister Steinmeier in seiner Rede eben ausführlich beschrieben hat, sondern auch das friedliche Zusammenleben der Menschen vor Ort. Es geht darum, diejenigen zu unterstützen, die sich innerhalb ihrer Gesellschaft
für Frieden und Versöhnung und für die gewaltfreie Austragung von Konflikten einsetzen.
({0})
Dazu gibt es seit 2001 das Förderprogramm zivik
- Zivile Konfliktbearbeitung -, das aus dem Haushalt
des Auswärtigen Amtes finanziert und vom Institut für
Auslandsbeziehungen, ifa, inhaltlich und organisatorisch
getragen wird. Zivik fördert Projekte, die von oder zusammen mit ausländischen Projektpartnern entwickelt
werden. Eines der Glanzlichter von zivik ist die Ausstellung „Peace Counts“ über Friedensstifter. Diese Ausstellung wurde unter anderem in Sri Lanka, in Mazedonien,
in der Elfenbeinküste, auf den Philippinen, in Russland,
mehrfach in Indien, in Kolumbien, in Jordanien, in
Afghanistan und in Armenien gezeigt - jeweils organisiert zusammen mit lokalen Partnerorganisationen und
verbunden mit einem Begleitprogramm, auch und gerade für Schülerinnen und Schüler. Auch Theaterworkshops, Film- und Kunstprojekte mit Jugendlichen, die
auf diese Weise lernen, sich aktiv für den Frieden in ihrem Land und die gewaltfreie Austragung von Konflikten einzusetzen, werden von zivik gefördert, zum Beispiel in Armenien. Es werden auch Organisationen
unterstützt, die das oft hohe Gewaltniveau in Familien
und Gemeinden nach Ende eines Bürgerkriegs senken
wollen, zum Beispiel in Südafrika und Kolumbien. Das
ifa bietet im Rahmen von zivik an, Abgeordneten vor ihren Reisen mit Ausschüssen oder Parlamentariergruppen
Informationen zu Projekten in den Reiseländern zu geben und Projektbesuche zu ermöglichen. Dieses Angebot sollten wir alle nutzen.
({1})
Auch die Menschen, die Projekte des Zivilen Friedensdienstes durchführen, würden sich über Abgeordnetenbesuche freuen, zum Beispiel das Projekt im Libanon,
von dem Kathrin Vogler eben gesprochen hat. Die Projektverantwortlichen wünschen sich darüber hinaus eine
verlässliche mittelfristige Unterstützung. Nach Einschätzung der für das Libanon-Projekt Verantwortlichen sind
fünf bis zehn Jahre notwendig, unabhängig davon, wie
sich der syrische Bürgerkrieg entwickelt. Wir wissen aus
anderen Konflikten, dass Kriegsflüchtlinge auch nach
Kriegsende nur sukzessive in ihre jeweilige Heimat zurückkehren können. Die Konflikte, die sich im Libanon
derzeit wieder verschärft haben, erledigen sich auch
nicht von selbst. Dafür müssen wir daher eine Möglichkeit finden.
({2})
Eine weitere wichtige Institution, die in den letzten
zehn Jahren aufgebaut wurde, ist die Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung, FriEnt. Sie ist eine Public-private-Partnership besonderer Art, ein Zusammenschluss von staatlichen Organisationen, kirchlichen
Hilfswerken, zivilgesellschaftlichen Netzwerken und
politischen Stiftungen. Hier wird Krisenprävention und
Friedensförderung fast tagtäglich weiterentwickelt, werden Ideen und Erfahrungen zwischen Politik und Praxis
ausgetauscht, zum Beispiel zu so vielfältigen Themen
wie Landkonflikten, Transitional Justice oder der Frage,
welche Ansätze in der Friedensarbeit sich als wirksam
erwiesen haben und welche nicht. Regelmäßig finden
runde Tische zu Krisenregionen statt, zum Beispiel zu
aktuellen Konfliktgebieten wie Syrien, Ägypten und
Mali, aber auch zu den vergessenen Konflikten in Kenia,
in Indonesien, in Nepal und im Südkaukasus, die derzeit
nicht im Fokus der öffentlichen Debatte stehen.
Wir haben darüber hinaus eine aktive deutsche zivilgesellschaftliche Fachöffentlichkeit wie die Plattform
Zivile Konfliktbearbeitung, die den Aktionsplan gefordert hat, im Beirat zum Aktionsplan mitarbeitet, Stellungnahmen zu den Umsetzungsberichten formuliert und
im ständigen Dialog mit dem Unterausschuss für Zivile
Krisenprävention steht. Erstmals haben wir eine gemeinsame Stellungnahme von vier zivilgesellschaftlichen
Netzwerken erhalten: der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, dem Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe, VENRO, dem Forum Menschenrechte und
dem Konsortium Ziviler Friedensdienst. Außerdem liegt
uns eine Stellungnahme der Gemeinsamen Konferenz
Kirche und Entwicklung, GKKE, und des Beirats zum
Aktionsplan vor. Wir als Unterausschuss haben alle
diese Stellungnahmen aufmerksam gelesen. Mehr Aufmerksamkeit für die Bedrohungen, denen Zivilgesellschaft in Konfliktländern ausgesetzt ist, können wir auch
im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
geben.
Die Stärke des Aktionsplans von vor zehn Jahren ist,
dass er deutlich gemacht hat, dass Friedensförderung
eine Querschnittsaufgabe ist, zu der alle Ministerien etwas beitragen können. Seine Schwäche damals war, dass
in 161 Einzelpunkten mögliche Aktionen vorgestellt
wurden, aber keine übergreifende Strategie enthalten
war. Insofern haben wir, Frau Brantner, tatsächlich noch
eine große Aufgabe vor uns, eine deutsche Strategie für
Friedensförderung und Konflikttransformation zu entwickeln.
Die Rolle des Parlaments wurde schon angesprochen.
Es ist für die Finanzierung verantwortlich. Wir haben
nicht nur mehr Geld für den Zivilen Friedensdienst erreicht, sondern wir haben auch mehr Geld für humanitäre Hilfe in den aktuellen Haushalt eingestellt. 2014
wurde zudem ein neuer Titel für Projekte in Ländern der
östlichen Partnerschaft eingerichtet,
({3})
der übrigens zu den 150 Millionen Euro dazuzurechnen
ist, die Frank-Walter Steinmeier vorhin erwähnt hat.
Auch gibt es Mittel für das ZIF und für die Transformationspartnerschaften in Nordafrika.
Wir haben Anfang November im Unterausschuss gemeinsam mit dem Innenausschuss eine Anhörung zu
Polizeimissionen durchgeführt. Am 2. März werden wir
uns im Unterausschuss ebenfalls öffentlich mit der Verbesserung der Rahmenbedingungen für ziviles Personal
im Ausland befassen. Bei der Anhörung zur Polizeimission wurde deutlich, dass Deutschland zu internationalen
Polizeimissionen eher qualitativ als quantitativ beitragen
kann, weil es bei uns aus guten Gründen keine militärisch organisierten bzw. dem Militär unterstehenden
Polizeieinheiten wie die französische Gendarmerie oder
die italienischen Carabinieri gibt. Wir können und sollen
zukünftig mehr Fachleute, die ihr Praxiswissen weitergeben können, in Einsätze der Vereinten Nationen und der
Europäischen Union entsenden, aber keine Hundertschaften der Bereitschaftspolizei.
Bei der Anhörung wurde auch deutlich, dass in der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Internationale Polizeimissionen“ die Einsätze kompetent vorbereitet, begleitet
und ausgewertet werden. Uns wurden konkrete Vorschläge vorgestellt, darunter relativ einfach zu erfüllende
wie eine regelmäßige Unterrichtung des Deutschen Bundestages über die internationalen Polizeimissionen und
eine Verankerung in der polizeilichen Aus- und Fortbildung, insbesondere der Führungskräfte. Ich hoffe, dass
wir in der Anhörung am 2. März dieses Jahres weitere
konkrete Vorschläge für den gesamten Bereich der zivilen Fachkräfte in internationalen Einsätzen erhalten.
Deutschland übernimmt 2016 den OSZE-Vorsitz. Das
ist ein weiterer Aspekt von „mehr Verantwortung übernehmen“. Die OSZE hat eine entscheidende Rolle in der
Ukraine-Krise gespielt. Sie ist derzeit der einzige Rahmen, in dem die Staaten in und um Europa über Sicherheitsthemen und vertrauensbildende Maßnahmen diskutieren und verhandeln können. Deswegen ist es gut, dass
Deutschland 2016 den Vorsitz übernimmt und schon
jetzt im Rahmen der Troika-Konstruktion der OSZE
Mitverantwortung übernimmt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Debatte
leistet einen Beitrag zu dem, was sich die Fachöffentlichkeit lange gewünscht hat: zivile Konfliktbearbeitung
und Friedensförderung öffentlich sichtbarer zu machen.
„Mission Frieden“ hat die Süddeutsche Zeitung gestern
in Vorschau auf unsere heutige Debatte getitelt. Das nehmen wir gerne auf.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Thorsten Frei,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute den aktuellen Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention“ diskutieren und beraten, dann ist das,
glaube ich, in der Tat eine starke und überzeugende Antwort auf die Debatten, die wir in den vergangenen zwölf
Monaten rund um die Frage, welche Rolle Deutschland
in der internationalen Politik spielen kann, soll und
muss, geführt haben.
Ich glaube, es ist richtig, dass wir dabei auf eine umfassende Verantwortung Deutschlands in der Welt setzen. Es kommt eben auf alle Komponenten an; das ist in
dieser Debatte deutlich geworden. Es kommt auf Diplomatie und Verhandlungen an - so wie es die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister seit Monaten
mit hoher Energie in der Ukraine und im Russland-Konflikt tun. Es kommt auf Entwicklungszusammenarbeit
und wirtschaftliche Aufbauarbeit an. Immer wieder wird
man in Situationen kommen, in denen man im Sinne des
vernetzten Ansatzes auch militärische Mittel und Möglichkeiten einsetzen muss.
({0})
Aber klar ist, dass die zivile Krisenprävention und
Konfliktbearbeitung in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Das kommt nicht
von ungefähr. Das hat mit der Veränderung der Konfliktszenarien, mit denen wir konfrontiert sind, zu tun.
Während früher vorwiegend starke, souveräne, funktionierende Staaten gegeneinander Krieg geführt haben,
etwa um Land, Rohstoffe oder politische Einflusssphären, sind die Konfliktschemata, mit denen wir derzeit
konfrontiert sind, völlig andere. Zu finden sind sie in der
Regel in fragilen, gescheiterten Staaten ohne staatlichen
Ordnungsrahmen. Deshalb, glaube ich, müssen wir an
exakt diesem Punkt ansetzen. Das war in Afghanistan so,
und es ist beispielsweise im Krisenbogen rund um Europa der Fall, angefangen bei Mali über Darfur, den
Südsudan, Somalia, Syrien bis hin zum Irak.
Ich glaube, vor diesem Hintergrund war es im Jahr
2004 eine wegweisende Entscheidung der Bundesregierung, den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ auf
den Weg zu bringen. Zum einen hat er die Erfahrungen
der Zeit und die Rahmenbedingungen sortiert und eingeordnet, zum anderen hat er die wesentlichen Marksteine
für die Politik der Zukunft formuliert, nämlich erstens
den Vorrang des Zivilen vor dem Militärischen, zweitens
die Einbindung Deutschlands in eine multilaterale Dimension und drittens die Hilfe zur Selbsthilfe. Es geht
nicht darum, anderen Staaten etwas zu oktroyieren, sondern es geht darum, die lokalen und regionalen Akteure
zu befähigen, die Herausforderungen selbst zu bewältigen.
({1})
Wenn wir die Erfolge der letzten zehn Jahre Revue
passieren lassen, stellen wir fest: Sie sind ganz maßgeblich darauf zurückzuführen, dass es gelungen ist, die Institutionen - die staatlichen wie die zivilen - zu stärken
und weiterzuentwickeln. Ich denke dabei zum Beispiel
an das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, aber
auch an die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, an
den Beirat für Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt und an den Unterausschuss hier in unserem
Hause. Das sind die Institutionen, mit denen wir erfolgreich arbeiten konnten und mit denen darüber hinaus
auch eine Vernetzung der unterschiedlichen staatlichen
und nichtstaatlichen Akteure möglich war.
Auch in puncto Geld ist viel passiert - der Außenminister ist darauf eingegangen -: Heute stehen zehnmal
mehr Mittel für die zivile Krisenprävention zur Verfügung als im Jahr 2004. Dahinein fällt auch, was wir im
Rahmen von internationalen Organisationen leisten, dahinein fällt auch, was wir im Bereich des Klimaschutzes
machen; denn wir sind der Meinung, dass zivile Krisenprävention letztlich ein umfassendes Thema ist, das man
nicht in einzelne Ressorts filetieren kann, sondern das
man in der Gesamtheit betrachten muss. Wenn man den
Summenstrich zieht, können wir, so glaube ich, sagen:
Es ist viel passiert. Da waren wir sehr erfolgreich.
Immer wieder wird in der öffentlichen Debatte darüber diskutiert, dass wir mehr Aufmerksamkeit für die
Arbeit im Bereich der zivilen Krisenprävention brauchen. Das ist richtig; davon bin ich überzeugt. Wer hat
denn schon auf dem Schirm, dass durch diese Arbeit beispielsweise im Jahr 2001 in Mazedonien ein Bürgerkrieg
zwischen zwei Ethnien verhindert werden konnte? Wer
hat denn beispielsweise die Alphabetisierungsoffensive
in Afghanistan auf dem Schirm oder die Ausbildung der
Sicherheitskräfte dort, wodurch es möglich wird, dass
sie selbst ihren Ordnungsrahmen definieren und ausfüllen können? Wer hat das alles im Bewusstsein?
Deshalb wäre es richtig und gut, wenn wir es schaffen
würden, einmal im Jahr eine außenpolitische Generaldebatte hier im Bundestag zu führen, um jenseits von konkreten Einsatzmandaten den Blick für die Herausforderungen zu schärfen, mit denen wir konfrontiert sind, und
um die Aufmerksamkeit der Menschen auf das zu lenken, was wir hier tun.
Es ist im Übrigen ja nicht so, dass wir altruistisch unterwegs wären, dass das alles ein Selbstzweck wäre, um
den es hier geht, sondern wir verfolgen unsere Interessen. Das gilt zum einen auf der negativen Seite: Wir sind
konfrontiert mit internationalem Terrorismus; wir sind
konfrontiert mit organisierter transnationaler Kriminalität; wir sind konfrontiert mit Flüchtlings- und Migrationsströmen nach Europa und Deutschland. Im Positiven sind wir aber auch die Volkswirtschaft, die mehr als
alle anderen internationalisiert und globalisiert ist. Niemand außer uns hat ein so großes Interesse an einer
freien, offenen und weitestgehend sicheren Welt. Deshalb geht es um unsere eigenen Interessen. Wir müssen
deutlich machen, dass wir deutsche und europäische Interessen in der Welt vertreten und dass es uns darum
geht, einen guten Ordnungsrahmen nicht nur in unserem
Land, sondern auch darüber hinaus zu schaffen. Darum
geht es, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({2})
Ich glaube darüber hinaus, dass wir uns auch im Bereich der zivilen Krisenprävention ähnlich wie beim Einsatz der militärischen Fähigkeiten auf bestimmte Weltregionen konzentrieren müssen. Wir müssen unsere
Interessen definieren und unsere Möglichkeiten danach
ausrichten. Deshalb ist es, glaube ich, auch richtig, nicht
als eine Art Weltpolizei oder als eine Art Weltentwicklungswerk unterwegs zu sein, sondern klare Schwerpunkte in der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas zu setzen. Es geht darum, lokale und regionale
Akteure zu stärken, etwa die Afrikanische Union. Das
können wir in vielfältiger Art und Weise tun. Es geht,
glaube ich, auch darum, dass wir es schaffen, eine noch
stärkere Integration der europäischen Staaten in diesem
Bereich zu erreichen. Damit sind die Frage der Wirksamkeit und auch die Frage der Glaubwürdigkeit verbunden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
uns in diesen Wochen ganz intensiv damit auseinandersetzen, wie wir es schaffen können, ein Missverhältnis
umzukehren. Deutschland tut viel; wir sind der drittgrößte Geber der UN. Gemeinsam mit den anderen EUStaaten, den USA und Japan finanzieren wir etwa
80 Prozent des Peacekeeping-Budgets der Vereinten Nationen. Umgekehrt haben wir im Moment beim Personal
die Situation, dass 70 Prozent der Einsatzkräfte, egal in
welchem Bereich, aus Staaten Afrikas, Zentral- und Südasiens kommen. Uns geht es darum, Personal und personelle Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Ich
glaube, dass wir unsere Kompetenzen insbesondere im
Bereich der zivilen Experten und der Polizeikräfte noch
stärker und besser einsetzen können und müssen. Dafür
wollen wir in den nächsten Wochen die Voraussetzungen
schaffen. Dann sind wir, glaube ich, in der Tat auf einem
guten Weg.
Herzlichen Dank, auch für Ihr Verständnis, Frau Präsidentin.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Josip Juratovic,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste! Wir leben in konfliktreichen
Zeiten: Es brennt in der Ukraine, es brennt in Syrien,
und es brennt an vielen anderen Orten. Es hat den Anschein, als gäbe es kein Mittel, diesen Konflikten vorzubeugen. Aber es gäbe noch viel mehr Konflikte, wenn
nicht zivile Experten zivile Krisenprävention betreiben
würden. Das Problem ist: Das bekommt kein Mensch
mit. Nachrichten gibt es nur, wenn es Konflikte gibt bzw.
wenn sie ausbrechen.
Zivile Krisenprävention ist ein immens wichtiges
Thema. Leider diskutieren aber außerhalb des Hohen
Hauses nur wenige Experten darüber. Das muss sich ändern. Deshalb begrüße ich, dass der heute diskutierte Bericht neben anderen Aufgaben vor allem die Sichtbarkeit
der zivilen Krisenprävention als eigenes Aufgabenfeld
festhält. Es ist auch unsere Aufgabe als Abgeordnete.
Wenn wir in unseren Wahlkreisen über Außenpolitik reden, müssen wir dieses wertvolle zivile Engagement
hochhalten. Es ist ein großartiges Engagement, das wir
mit Stolz vermitteln sollten.
({0})
Ich bin mir sicher: Es ist kein Zufall, dass Deutschland
eine führende Rolle bei der zivilen Krisenprävention
spielt. Die Menschen in unserem Land wollen Konflikte
nicht militärisch lösen. Sie wissen, dass eine militärische
Intervention immer nur die allerletzte Lösung sein kann.
Lassen Sie mich auf zwei Punkte des Berichts besonders eingehen: erstens den Ansatz der Regionalität und
zweitens die Nachhaltigkeit.
Unsere Umsetzung - erstens - der zivilen Krisenprävention ist richtig; denn sie folgt einem regionalen Ansatz. In der Empfängerregion kann nur regionale Zusammenarbeit die Grundlage für dauerhafte und bessere
Beziehungen und Stabilität legen. Zu begrüßen ist auch,
dass Deutschland die zivile Krisenprävention nicht allein
betreibt. Wir wollen sie gemeinsam mit unseren Partnern
voranbringen: in der EU, in der OSZE und in der UNO.
Zweitens möchte ich Sie auf einen Fakt hinweisen,
der mir im Bericht besonders gefällt. Ich blicke dabei
auch durch die Brille der Entwicklungszusammenarbeit.
Im Bereich der zivilen Krisenprävention wird endlich
einmal nachhaltig gearbeitet. Wir bauen nicht nur
Leuchttürme, sondern wir bauen auch dauerhafte Strukturen auf; denn wir wissen: Frieden wird zwar schnell
zerstört, aber nur mühsam und mit viel Einsatz wieder
aufgebaut. Deswegen ist es gut, dass wir langfristig wirkende Strukturen schaffen.
({1})
Ich denke dabei an den Ressortkreis Zivile Krisenprävention, den Beirat Zivile Krisenprävention, das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, den Zivilen
Friedensdienst, die Deutsche Stiftung Friedensforschung
und das Programm zivik des Instituts für Auslandsbeziehungen, ifa.
Die Nachhaltigkeit sieht man auch an den investierten
Finanzmitteln: Waren es 2004 noch rund 14 Millionen
Euro, so steht heute dem Auswärtigen Amt die zehnfache Menge an Euro zur Verfügung.
Trotzdem gibt es noch einiges zu tun. Erstens sollten
wir uns verstärkt dafür einsetzen, dass Deutschland zukünftig mehr Personal für vereinte Missionen zur Verfügung stellt. Zweitens sollten wir die ressortübergreifende
Vernetzung weiter verstärken. Drittens sollten wir die
Kooperation und Koordination mit den internationalen
Partnern Deutschlands weiter ausbauen. Wir brauchen
stärkere internationale Organisationen, das heißt eine
Stärkung der sicherheits- und friedenspolitischen Konzepte und Kapazitäten von Europäischer Union und
Afrikanischer Union, aber auch von Organisationen wie
der OSZE. Ganz besonders brauchen wir eine Stärkung
der Führungsrolle und der Autorität, aber auch der
Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen.
Wenn wir bedenken, welche menschlichen Tragödien
und materiellen Schäden verhindert werden, ist die Arbeit der zivilen Krisenprävention von unschätzbarem
Wert. Deswegen danke ich allen Akteuren der zivilen
Krisenprävention für ihre großartige, ausdauernde und
mutige Arbeit.
Zum Schluss lassen Sie mich noch in Richtung Linke
etwas sagen. Hier wird sehr stark pointiert, dass Sie gegen Krieg und Militäreinsätze sind. Das ist ehrenwert.
Ich aber war in der Friedensbewegung vom Westbalkan.
Ich war mit vielen Freunden vernetzt, zum Beispiel im
Kosovo. In den 90er-Jahren ist einer meiner besten
Freunde aus der Friedensbewegung, Agim Hajrizi, Vorsitzender der Metallgewerkschaft im Kosovo, von
Milosevics Milizen, er war der Dritte auf ihrer Liste, liquidiert worden. Ich habe einfach die Bitte: Wenn Sie
sagen: „Wir sind gegen Militäreinsätze“ - oder sonstige
Dinge, die Sie hier propagieren -: Verlieren Sie den einen oder anderen Gedanken auch an die Opfer.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Juratovic, herzlichen Dank für
Ihre letzten Worte.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass ein Aktionsplan, der 2004 beschlossen worden ist, jetzt auch
für die vierte Koalitionsregierung gilt, zeugt von der
Weitsicht dieses Plans, zeigt aber auch seine Notwendigkeit. Es ist schon damals in diesem Plan richtig erkannt
worden, dass es wichtig ist, die Krisenprävention als
politische Querschnittsaufgabe zu sehen.
Inzwischen hat sich das Konfliktgeschehen vollständig gewandelt. Die Anforderungen an das internationale
Krisenmanagement verändern sich fast jährlich, man
kann sogar sagen: fast täglich. Es gibt immer mehr bewaffnete Konflikte. Man spricht von über 40 Krisen und
Kriegen in der Welt. Dabei werden die Konflikte immer
komplexer und die Kriege immer asymmetrischer.
Wir haben weltweit Gewaltausbrüche. Es gibt Menschenrechtsverletzungen in vielen Staaten, egal ob in
Syrien, in der Ukraine, in Nigeria, in der Zentralafrikanischen Republik oder im Irak, um nur einige zu nennen.
Wir sehen Bilder von Gräueltaten, die uns schockieren
und von denen wir uns nicht vorstellen können, dass sie
so auf der Welt überhaupt passieren. Damit ist im Laufe
der letzten Jahre der Stellenwert, den wir einer zivilen
Krisenprävention zumessen, gestiegen. Wir müssen
überlegen: Wie bauen wir Strukturen auf, um zu verhindern, dass in fragilen Staaten bewaffnete Konflikte entstehen? Wie können wir zielgerichteter vorgehen? Wie
können wir in diesem Bereich lösungsorientierter handeln?
Das Entwicklungsministerium hat die Zukunftscharta
„EINEWELT - Unsere Verantwortung“ auf den Weg gebracht. Darin wird richtig gesagt, dass die Ursachen von
Gewalt, Fragilität und Unsicherheit nicht allein innerstaatlicher Natur sind, sondern dass viele andere Dinge
von außen hineinwirken, dass der „Do No Harm“-Ansatz über die Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit
hinaus angewendet werden muss. Dafür brauchen wir
permanent eine umfassende Akteursanalyse. Wir brauchen immer eine umfassende Konfliktanalyse für jedes
Land und jede Region. Wir müssen uns auch mit anderen
Themen beschäftigen, egal ob das in diesem Zusammenhang die Handelspolitik, die Agrarpolitik oder die Rohstoffpolitik ist.
({1})
Ich glaube, wir haben mit unseren Institutionen - das
ist angesprochen worden - gute Vorarbeit geleistet: Ziviler Friedensdienst, Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, Deutsche Stiftung Friedensforschung, der
Beirat für Zivile Krisenprävention, der Ressortkreis Zivile Friedensprävention. Aber hier ist es, wie auch in anderen Bereichen, wichtig, eine bessere Koordinierung
der Akteure zu erreichen. Manchmal hat man das Gefühl, jeder arbeitet ein bisschen für sich. Wir müssen die
Zusammenarbeit stärker vernetzen. Wir müssen
schauen, dass mehr gemeinsam in eine Richtung gearbeitet wird.
Wir machen sehr viel. Die Frage ist, ob es immer genug ist. Genug kann es nie sein. Das Entwicklungsministerium gibt jedes Jahr 500 Millionen Euro aus, um Konflikte, Fragilität und Gewalt zu verhindern. Wir sind
auch froh, dass die entsprechenden Titel immer wieder
eine Erhöhung erfahren. Aber wir müssen trotzdem
schauen - das ist von Ihnen angesprochen worden -:
Wie schaffen wir es, zu einem friedenspolitischen Leitbild zu kommen? Ich bin froh, dass das alle Kollegen des
Hauses angesprochen haben. Wir müssen uns aber auch
fragen: Wie schaffen wir es, zu einem besseren Krisenmanagement und zu einem Frühwarnsystem, das wir mit
aufbauen müssen, zu kommen? Das erinnert mich immer
an Mali. Da hat man die Warnzeichen zwar erkannt, aber
nicht rechtzeitig. Als dann 2012 die Tuareg zu den Waffen gegriffen haben, war es zu spät.
Ich glaube, eine richtig angewandte und nachhaltige
Entwicklungspolitik ist auch für die Krisenprävention
das Wichtigste. Wir müssen schauen, dass wir zu einer
guten Regierungsführung kommen, die die politische
Teilhabe aller ermöglicht und nicht nur das nackte Überleben sichert und dabei die Lebensgrundlagen nicht
maßlos zerstört. Bildung, Ausbildung, Gesundheitsversorgung, Ressourcen- und Klimaschutz sowie der Aufbau funktionierender Strukturen sind dabei wichtige
Aspekte.
Ebenfalls wichtig ist der Aufbau von Sicherheit. Sie
ist genauso wichtig wie stabiles und rechtsstaatliches
Verwaltungshandeln. Wir müssen effektive und demokratische Strukturen bei der Polizei und beim Militär, angefangen bei der Ausbildung, sicherstellen. Das darf
man nicht ausblenden. Das ist alles eins. Diese Bereiche
müssen ineinandergreifen.
Wichtig ist auch, Maßnahmen zur Achtung von Menschenrechten zu ergreifen. Die Zivilgesellschaft vor Ort
muss stärker eingebunden und stärker als in der Vergangenheit gefördert werden.
Ich möchte noch Folgendes ansprechen: Das
schwächste Glied in der Kette sind meist die Frauen und
die Kinder. Sie sind von Konflikten am stärksten betroffen, sind aber die wichtigsten Wegbereiter von Frieden.
Denken Sie an die erste Friedensnobelpreisträgerin Afrikas, Wangari Maathai, eine wunderbare Frau, die sich
friedlich dafür eingesetzt hat, ihr Kenia nach vorne zu
bringen. Sie hat mehr erreicht als irgendjemand sonst.
Die Erziehung durch die Mütter legt den Grundstein für
Frieden und Sicherheit. Deshalb muss dieses Thema in
der Entwicklungszusammenarbeit und in der Krisenprävention stärker gewürdigt werden.
({2})
Erfolgreiche Gewaltverhütung ist hoch angesehen,
aber meist unsichtbar und wenig öffentlichkeitswirksam.
Viele Krisen werden im Hintergrund aus dem Weg geräumt, bevor sie für uns überhaupt sichtbar sind oder wir
sie spüren. Wer ist denn überhaupt bereit, 1 Euro oder
1 Cent dafür auf den Tisch zu legen? Man spürt es nicht.
Man merkt nicht, dass Krisen im Hintergrund beseitigt
werden. Es muss erst wehtun. Man wird erst wach, wenn
die Flüchtlinge bei uns vor der Tür stehen. Erst dann beginnen wir, über die Situation und deren Ursachen nachzudenken. Aber dann ist es für die Ursachenbekämpfung
zu spät. Dann können wir nur noch die Symptome lindern.
Wir wissen, dass es kein Allheilmittel gibt. Deutschland kann die Aufgabe auch nicht allein bewältigen.
Deswegen ist es wichtig, dass alle staatlichen, nichtstaatlichen, internationalen und nationalen Akteure ein bestmögliches Zusammenwirken erreichen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und als diese muss sie
auch erkannt werden.
Es gilt, unsere Regionalorganisationen - die AU und
die OSZE sind bereits angesprochen worden - in der Zukunft zu stärken. Wir haben die Chance dazu, wenn wir
2016 die OSZE-Präsidentschaft übernehmen. Es müssen
dann teilweise Reformen durchgeführt werden; auch das
muss man in diesem Zusammenhang sehen.
Wenn wir von Übernahme von Verantwortung
Deutschlands und darüber, was wir alles wollen, sprechen, dann stellt sich die Frage: Kann man nicht noch
mehr tun? Damit beziehe ich mich insbesondere auf die
Tatsache, dass 70 Prozent des Personals in der Friedenssicherung aus Staaten Afrikas und Zentral- und Südasien
kommen; Herr Frei hat das vorhin angesprochen. An
dieser Stelle ist noch viel zu tun. Wir haben die Möglichkeit, uns in diesem Zusammenhang noch viel aktiver
einzubringen.
({3})
Entwicklungszusammenarbeit und zivile Krisenprävention, ob auf europäischer, internationaler oder lokaler
Ebene, sind Teamarbeit. Wir kennen die notwendigen Instrumente zur Sicherung von Frieden und Sicherheit. Es
geht nun darum, sie effektiv einzusetzen. Es geht aber
auch darum, dass wir sie weiterentwickeln, und zwar jedes Jahr, weil jedes Jahr neue Herausforderungen auf
uns zukommen.
In diesem Sinne bedanke ich mich für das Zuhören.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Bevor ich der Kollegin Pfeiffer das
Wort gebe, erteile ich der Kollegin Marieluise Beck das
Wort zu einer Kurzintervention zum Redebeitrag des
Kollegen Juratovic.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! - Neben dem, wo
wir uns alle einig sind - Friedensarbeit, auch Prävention
und vorausschauendes Handeln im Hinblick auf mögliche Konflikte; das alles ist wichtig -, hat der Kollege
Juratovic - dafür bin ich ihm sehr verbunden - festgestellt, dass es dennoch Situationen geben kann, in denen
auch der Einsatz von Gewaltmitteln bzw. militärischen
Mitteln ethisch legitim oder sogar notwendig sein kann.
Ich finde, gerade wir in Deutschland müssen darüber
nachdenken.
Wir in Deutschland haben gelernt: Nie wieder Krieg.
Ich gehöre zu der Generation, die deswegen politisch geworden ist. Sie hat erst später begonnen, darüber nachzudenken, was denn mit den Opfern ist. Wenn wir „nie
wieder Krieg“ sagen - und damit meinen, dass es nie,
nie, nie erlaubt sein darf, eine Waffe in die Hand zu nehmen -, delegitimieren wir damit, dass sich die Polen, die
sowjetische Armee, die Franzosen, die Amerikaner und
die Briten mit Waffengewalt gegen den deutschen Faschismus zur Wehr gesetzt haben.
Marieluise Beck ({0})
Ich habe diesen Gedanken erst gehabt, als ich gesehen
habe, wie die Menschen in Bosnien eingeschlossen waren. Sie stellten die Fragen der Opfer, nämlich: Seid ihr
bereit, uns zu schützen? Oder gebt ihr uns die Möglichkeit, uns selbst zu schützen und selbst zu verteidigen?
Die Beantwortung dieser Fragen sollte für uns gerade die
Schlussfolgerung aus der Verantwortung sein, die dieses
Land hat, nachdem es im letzten Jahrhundert Europa
zweimal ins Verderben gestürzt hat. Diese Fragen der
Opfer müssen uns deshalb genauso bewegen. Deswegen
darf es nicht eine ethisch höherwertige, moralisch bessere und manchmal auch etwas selbstgerecht vorgetragene Gewissheit geben, dass jeder Einsatz von Waffen
ethisch nicht gerechtfertigt sei.
({1})
Vielen Dank. Das ist dann so angenommen. - Die
Kollegin Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ungemein schwierig, Konflikte zu lösen, wenn sie
ausgebrochen sind. Deshalb lohnt sich in jedem Fall der
Ansatz, die Konflikte gar nicht erst stattfinden zu lassen.
Es ist darum wichtig, dass wir diese Debatte heute führen. Ich glaube, es war vor allen Dingen in den letzten
Jahren auch Sache der Großen Koalition, über Konfliktprävention zu reden. Das scheint - wenn wir uns einmal
umschauen und sehen, wie die Welt aus den Fugen gerät aktueller denn je. Auf diesem Feld müssen wir arbeiten,
um das ein wenig in den Griff zu bekommen.
Ich möchte anhand von drei Beispielen - nachdem
wir darüber jetzt schon relativ lange diskutieren - auf
Einzelheiten eingehen. Zum Beispiel nenne ich das
Thema „Integration von Minderheiten als Krisenprävention“. In diesem Zusammenhang führe ich die Ukraine
an. Man kann natürlich trefflich darüber streiten, wer
wann welche Schuld auf sich geladen und welchen Fehler gemacht hat. Der große Teil dieses Hauses ist sich
aber doch einig, dass der Konflikt maßgeblich von Russland befeuert und in die Region hineingetragen wurde.
Das geschah mithilfe von russischen Minderheiten, die
den bewaffneten Kampf gegen Kiew - mit direkter, aber
auch indirekter Unterstützung des Militärs aus Moskau suchten.
Was können wir daraus für die Zukunft lernen? Wir
können daraus lernen, dass es sehr gut funktionieren
würde, wenn es uns gelänge, durch gute Arbeit - auch
durch gute Entwicklungszusammenarbeit - Minderheiten zu integrieren. Wir haben gelernt, dass verschiedene
Ethnien, Religionsgruppen oder Stämme Quelle für
Konflikte sein können, aber nicht müssen. Wenn wir in
den Irak schauen und uns den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ansehen, stellen wir fest, dass wir dort
genau dasselbe Problem haben.
Ein wichtiger Punkt für mich in diesem Zusammenhang: Gut integrierte Minderheiten sind weniger empfänglich für Avancen von Akteuren, die Konflikte befeuern. Das ist ein wichtiges Thema unserer Arbeit. Es hat
eine politische, eine kulturelle und auch eine religiöse
Dimension, und es ist zielführend, das in die Konfliktbearbeitung einzubeziehen.
Zweiter Punkt. Welche Möglichkeiten haben wir als
externe Akteure eigentlich, in Konflikten oder in der
Krisenprävention tätig zu sein? Mit Ihrer Genehmigung,
Frau Präsidentin, zitiere ich gerne einmal Rainer Nolte.
Er ist Referatsleiter im Ministerium für Integration des
Landes Baden-Württemberg und hat 2010 gesagt:
Für die Krisenprävention verantwortlich sind in erster Linie die Konfliktparteien selbst. … Aufgabe
externer Akteure ist es, subsidiär friedenserhaltende
oder friedensschaffende Prozesse zu unterstützen
und zu begleiten.
Was heißt das für uns? Das heißt, dass wir nie zu einer
echten Konfliktpartei werden dürfen. Wenn wir ehrliche
und neutrale Makler sein wollen, dann dürfen wir nur die
Konflikte begleiten und versuchen, sie zu lösen. Wir
dürfen sie aber nie zu unserem eigenen Konflikt machen,
weil wir aus diesem Spannungsfeld dann nicht mehr herauskommen würden.
Es ist nicht immer einfach, das durchzuhalten. Das
gilt vor allen Dingen für die Neutralität, weil wir natürlich für Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Ähnliches stehen. Wenn die Konfliktseiten einseitig ihre Rechte geltend machen, ohne auf
diese Werte zu achten, dann ist es manchmal extrem
schwer, auch Neutralität zu wahren. Aber genau das ist
unsere Aufgabe. Das sage ich vor allen Dingen in dem
Wissen, dass die Konflikte nicht von uns gelöst werden
können, und ich wiederhole mich: Immer nur die Parteien selber haben die Konflikte zu lösen. Wir können
nur unterstützen.
Das bringt mich zum dritten Punkt, den ich ansprechen möchte, nämlich zur zivilen Konfliktlösung. Wir
haben es oft erlebt, dass uns die Öffentlichkeit gerade in
aufkeimenden oder aktuellen Konflikten unglaublich unter Druck setzt. Sowohl die Bundesregierung als auch
wir Bundestagsabgeordnete werden zum umgehenden,
aber auch zielführenden Handeln aufgefordert. Es ist
manchmal nicht leicht, das zu erfüllen, da die zivile Krisenprävention und die Konfliktlösung eher nachhaltige,
langfristige Akte sind, die in der Regel nicht von heute
auf morgen möglich sind.
Um den Konflikt in eine bestimmte Richtung zu leiten, muss man dann unter Umständen auch einmal militärische Unterstützung anfordern, und mit sanftem
Druck, wie im Falle Russlands, muss man den Willen
auch einmal durch Sanktionen - auch Wirtschaftssanktionen - deutlich machen. Im Prinzip brauchen wir aber
Zeit, um Konfliktlinien aufbrechen, Diskussionen in
Gang setzen und unterstützend und nachhaltig tätig sein
zu können.
Ich bin sehr froh, lieber Franz Josef Jung, dass schon
2006 in das Weißbuch des Verteidigungsministeriums
aufgenommen wurde - ich zitiere noch einmal mit Ihrer
Erlaubnis, Frau Präsidentin -:
Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen … bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung.
Liebe Freunde, das heißt für mich und auch für die
Politik, dass zuallererst die zivilen Instrumente eingesetzt werden müssen, bis sie greifen; denn nur sie sind
nachhaltig und langfristig, nur sie greifen die gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Bedingungen der einzelnen Ethnien in den Ländern
auf und wirken in der schnelllebigen Zeit langfristig.
Obwohl wir den Konflikten schnell entgegenwirken
müssen, müssen wir an Nachhaltigkeit und Langfristigkeit arbeiten. Das ist präventive Arbeit.
Präventive Arbeit können wir als Entwicklungspolitiker sehr leicht betreiben; denn wir versuchen schon im
Ansatz, die Ursachen zu bekämpfen. Die Ursachen sind
beispielsweise Armut, fehlende Gesundheitsversorgung
und mangelnde Bildung. All das betrifft das, was wir in
der Entwicklungspolitik als Grundlage unserer Basisarbeit ansehen. Als Entwicklungspolitiker betreiben wir
im Rahmen der Entwicklungspolitik per se - egal in welchem Bereich wir tätig sind - aktiv und grundsätzlich
zivile Krisenprävention. Das dokumentiert sich zum
Beispiel in unserem Haushaltsansatz zur Stabilisierung
der Entwicklung Nordafrikas. Wir kennen aber auch die
Transformationspartnerschaften. All das ist Entwicklungspolitik auf höchstem Niveau, aber gleichzeitig auch
nachhaltige und langfristige zivile Krisenprävention auf
allen Gebieten. Es gibt beste Beispiele, die belegen, dass
das wirkt.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Egon Jüttner, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Deutschland beteiligt sich derzeit mit etwa
4 500 Soldaten, zahlreichen zivilen Experten und rund
300 Polizeibeamten an internationalen Friedenseinsätzen. Dies ist eine beachtliche Entwicklung seit dem ersten deutschen Friedenseinsatz 1989/90. Damals wurden
50 Beamte des Bundesgrenzschutzes als Teil der UNTAGMission zur Sicherstellung fairer und freier Wahlen nach
Namibia entsandt. Heute erfolgt der Einsatz Deutschlands in vielen Konfliktregionen dieser Welt, sei es in
Mittelamerika, im Nahen Osten oder auf dem afrikanischen Kontinent. Das wiedervereinigte Deutschland
wird durch diese Einsätze seiner außenpolitischen Bedeutung und seiner Rolle in der Welt gerecht. Wir sollten
im Rahmen der heutigen Debatte den Zivilisten, den
Polizisten und den Soldaten danken, die sich häufig unter schwierigsten Bedingungen und teilweise sogar unter
Einsatz ihres Lebens für Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzen.
({0})
Der Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung
des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ zeigt eine bemerkenswerte Bandbreite der zivilen Krisenprävention Deutschlands. Ziel der Krisenprävention ist, gewaltsame
Konflikte im Vorfeld ihres Entstehens zu verhindern und
zum Erhalt von Frieden und Freiheit beizutragen.
Deutschland unterstützt dabei seine Partner beim Aufbau
funktionsfähiger staatlicher Strukturen und bei der Friedenskonsolidierung durch Rechtsstaatsaufbau, Demokratieförderung, die Förderung unabhängiger Medien,
die Wahrung der Menschenrechte und die Schaffung von
Lebensgrundlagen. In all diesen Bereichen gibt es zahlreiche bilaterale und multilaterale Projekte, die von der
Bundesregierung unterstützt und finanziert werden.
Lassen Sie mich einen Aspekt besonders hervorheben, nämlich die Menschenrechte, die tagtäglich weltweit verletzt werden. In vielen Ländern, in die wir Soldaten, Polizisten und Zivilisten entsenden, werden
Menschenrechte oft mit Füßen getreten. Morde und Folter sind an der Tagesordnung. Politische Partizipation
und persönliche Freiheiten sind entweder stark eingeschränkt oder gänzlich unbekannt. Es ist deshalb eine
wesentliche Aufgabe der zivilen Krisenprävention, Menschenrechtsorganisationen zu unterstützen und sie in die
Lage zu versetzen, Menschenrechtsverstöße in ihren
Ländern zu thematisieren und ihre Ursachen zu bekämpfen.
Die Bundesregierung, hier insbesondere das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, steht in regelmäßigem Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um die lokale Menschenrechtslage zu verbessern, Regierungen für Menschenrechte zu sensibilisieren und Gremien zum Schutz
der Menschenrechte zu schaffen.
Über das Instrument des zivilen Friedensdienstes finanziert das Ministerium den Einsatz von Friedensfachkräften, die sich im Kontext der Friedensentwicklung
und der Krisenprävention für den Schutz von Menschenrechten engagieren.
Hierbei spielt auch der Schutz von Menschenrechtsverteidigern eine wichtige Rolle; denn in vielen Ländern
gehen Menschen enorme Risiken ein, wenn sie die Verletzung von Menschenrechten bekannt machen oder sich
gegen Straflosigkeit einsetzen. Durch ihren Einsatz werden sie häufig das Ziel von Angriffen und Bedrohungen.
Sie brauchen Sicherheit und Schutz. Die Bundesregierung fördert deshalb Projekte für Menschenrechtsverteidiger, indem sie diese beispielsweise auf diplomatischem Wege schützt und finanziell unterstützt oder
Seminare und Sicherheitstrainings anbietet. Der Schutz
von Menschenrechtsverteidigern ist Teil des menschenrechtlichen Aktionsplans der Bundesregierung.
Um dies zu verwirklichen, ist eine kontinuierliche Beobachtung der Lage von Menschenrechtsverteidigern erforderlich. Dabei kooperiert die Bundesregierung eng
mit anderen Staaten der Europäischen Union auf der
Grundlage der EU-Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern, wonach die Situation von Menschenrechtsverteidigern in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen weltweit nachhaltig verbessert werden
soll.
Deutschland war gemeinsam mit Dänemark federführend, die Global-Values-Initiative auf den Weg zu bringen, mit der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im außenpolitischen Handeln der EU
stärker verankert wurden. Dies war die Grundlage für
die im Juni 2012 verabschiedete erste EU-Menschenrechtsstrategie, die für alle Bereiche des Außenhandelns
der EU gilt. Schließlich gipfelte dieses kontinuierliche
Engagement im selben Jahr in der Ernennung des ersten
EU-Sonderbeauftragten für Menschenrechte. Damit
setzte die EU ein Zeichen, die Menschenrechte zu einem
ihrer strategischen Schwerpunkte zu machen und in
Menschenrechtsfragen mit einer Stimme zu sprechen.
Die Bundesregierung setzt sich, wie ihr Bericht zeigt,
vorbildlich für einen höheren Stellenwert des Menschenrechtsschutzes ein. Dabei kann sie sich auf die Koalitionsvereinbarung berufen, in der klar zum Ausdruck
kommt, dass Verstöße gegen die Menschenrechte nicht
nur die Würde des jeweils Betroffenen verletzen, sondern auch den Frieden und die internationale Sicherheit
bedrohen können, weshalb die Bundesregierung auch
die neue Strategie der EU-Menschenrechtspolitik unterstützt.
Der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD zur zivilen Krisenprävention anerkennt
die im Bericht der Bundesregierung beschriebenen Maßnahmen und begrüßt das ressortübergreifende Handeln
der Bundesregierung ebenso wie das Engagement zivilgesellschaftlicher Organisationen. Wir stimmen deshalb
dem Entschließungsantrag der CDU/CSU und der SPD
zu.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Interfraktionell ist vereinbart, über die Entschließungsanträge
abweichend von der Geschäftsordnung sofort abzustimmen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann verfahren wir so.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3926. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Entschließungsantrag der Fraktion die Linke auf
Drucksache 18/3927. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3928. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, Linken gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Zusatzpunkt 4. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen
Friedenseinsätzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3931, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1460 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
13. Sportbericht der Bundesregierung
Drucksache 18/3523
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die noch Gespräche führen müssen, das vor den Türen des Plenarsaals zu tun.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Anlass für die heutige Debatte ist die Vorlage des
13. Sportberichts der Bundesregierung; er liegt Ihnen
vor. Er zeichnet ein umfassendes Bild der Sportförderpolitik des Jahres 2013 und nimmt auch noch die Ergebnisse der Olympischen Winterspiele von Sotschi 2014 in
den Blick. Das waren solide sportliche Erfolge auf der
Basis einer soliden Finanzierung.
Die Arbeit für den Sport ist auch ein Beitrag zum
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sport verbindet und
schafft gemeinsame Ergebnisse. Richard von
Weizsäcker, an den wir in diesen Tagen denken und der
bis weit in die 1980er-Jahre hinein immer noch das
Sportabzeichen abgelegt hat, hat einmal gesagt:
Der Sport ist der stärkste Antrieb für das, was unsere demokratische Gesellschaft vor allem braucht:
nämlich nicht einfach den privaten, kritischen
Rückzug, sondern die aktive Bürgergesellschaft.
Sport ist ein Imageträger für unser Land. Deutschland
ist eine in der Welt hochangesehene Nation, auch wegen
seiner Spitzenleistungen im Sport - und nicht nur im
Fußball. Im Spitzensport muss der Platz auf dem Podest
aber immer wieder neu verteidigt werden. Die Bilanz der
Olympischen Winterspiele in Sotschi war, wenn wir ehrlich sind, letztlich enttäuschend. Am Ende von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften werden nun einmal Medaillen gezählt, und Spitzensportförderung aus
dem Bundeshaushalt ist Spitzen-Sportförderung.
Der Vorstandschef der Stiftung Deutsche Sporthilfe,
Michael Ilgner, hat jüngst einmal gesagt: Der deutsche
Leistungssport kommt nicht mehr durch den TÜV. Eine harte Analyse.
({0})
Die Olympiaanalysen von DOSB und IAT zeigen,
dass wir Gefahr laufen, den Anschluss an die absolute
Weltspitze zu verlieren. Ich habe es schon bei der Mitgliederversammlung des DOSB gesagt: Wir stehen am
Scheideweg. Entweder wir gehen allmählich immer
mehr ins Mittelmaß, mit sinkender Tendenz, überdeckt
durch einige herausragende Einzelsportler, oder wir finden den Weg zurück in die Spitzengruppe der großen
Nationen der Welt, wo wir als Spitzensportnation hingehören.
Ich habe mit dem Präsidenten des DOSB vereinbart
- der DOSB hat das so beschlossen -, die Strukturen der
Spitzensportförderung auf den Prüfstand zu stellen und,
wo nötig, neue Wege zu beschreiten. Bis zu den Olympischen Spielen in Rio 2016 soll ein Konzept stehen. Im
März beginnen wir mit der ersten Arbeit des sogenannten Lenkungsausschusses. Diesem Lenkungsausschuss
sitzen Herr Hörmann und ich persönlich vor. Wir wollen
die Sache jetzt in Angriff nehmen.
({1})
Was wir auf internationaler Ebene erleben, ist eine zunehmende Fokussierung vieler Nationen auf wenige Disziplinen und ihre Stärken. Dazu hat es schon eine Anhörung im Sportausschuss gegeben. Wir wollen nicht das
holländische Modell nachahmen, wo man sozusagen
ganz viele Medaillen mit einer Disziplin erreicht, nämlich dort mit Eisschnelllauf. Wir wollen auch nicht London 2012 kopieren. Wir haben unsere eigene Sporttradition. Die ist stark von Vielfalt geprägt. „Ohne Breite
keine Spitze“, das ist die griffige Formel; das ist auch
richtig.
Dennoch wird darüber zu diskutieren sein: Was bedeutet denn „Breite“ genau in einem System Spitzensport? „Breite“ kann nicht bedeuten, alles gleichmäßig
zu fördern und alles zu machen. Dieser Weg wird
Deutschland nicht an den Platz zurückführen, an den es
als Sportnation gehört.
Vieles wird zu analysieren sein: Welche Verbände
sind besonders erfolgreich, welche weniger, und warum
ist das so? Eine solche Analyse wird schmerzhaft sein,
aber sie ist unumgänglich. Wie sieht es mit den Rahmenbedingungen - Trainer, Übergabe von Nachwuchstrainern an Spitzentrainer, Stützpunkte, Nachwuchsarbeit aus? Wie sieht es mit der sportwissenschaftlichen Unterstützung aus? Ist das vernünftig? Wie arbeiten Köln und
Leipzig zusammen? Ist es wirklich schon richtig gut?
Wie ist die Rolle von IAT und FIS?
Wir wollen uns Zeit lassen für die Analyse. Unser
Blick geht über Rio 2016 hinaus. Unser Zeitplan für die
Umsetzung zielt auf die Jahre 2024/28, nicht nur wegen
der Olympiabewerbung, auf die ich gleich komme, sondern auch wegen der Auswirkungen von Ergebnissen einer Neustrukturierung der Spitzensportförderung; das
geht eben nicht über Nacht, sondern dauert 5, 10,
15 Jahre.
Deswegen hängt die Strukturveränderung in der Förderung des Spitzensports, die wir gemeinsam mit dem
DOSB betreiben wollen, eng mit der Olympiabewerbung zusammen. Jedes Gastgeberland will zeigen, was
es kann; das liegt in der Natur der Sache. Es geht bei der
Neustrukturierung also auch darum, uns für unsere Gastgeberrolle optimal aufzustellen.
Der 13. Sportbericht, den wir heute diskutieren, führt
uns noch einmal die gescheiterte Olympiabewerbung
München 2018 und München 2022 vor Augen. Vor allem die eindeutigen Bürgervoten im November 2013 gegen eine Bewerbung waren enttäuschend. Sie sind auszuwerten. Es ist zu klären, warum das so war.
Es ist daher richtig, dass der DOSB gemeinsam mit
Hamburg und Berlin frühzeitig entschieden hat: Ohne
eine deutliche und frühe Zustimmung der Bürgerinnen
und Bürger wird es ein zukünftiges Projekt Olympia in
Deutschland nicht geben können.
({2})
Deshalb muss es darum gehen, die Bevölkerung in
der jeweiligen Bewerberstadt, aber auch darüber hinaus
zu begeistern. Jeder und jede sollte sich bewusst machen: Die Chance, Olympische Spiele in der eigenen
Stadt oder im eigenen Land zu haben, hat man vielleicht
nur einmal im Leben oder jedenfalls nicht häufig; sie
kommt so schnell nicht wieder.
Ich glaube, Olympische Spiele sind eine einmalige
Möglichkeit und Chance, der Welt unser Land so zu präsentieren, wie wir sein wollen: fröhlich, leistungsorientiert, patriotisch und weltoffen.
({3})
Wo sonst finden Menschen aller Altersgruppen, Nationen, Schichten, Religionen so zusammen? Wo sonst gibt
es Ereignisse, bei denen ein solches Wir-Gefühl erlebbar
wird? Jeder weiß noch, wie es war, als wir im Sommer
2006 Gastgeber waren, wie stolz wir als Gastgeber waren, wie viel Freude, Mut und Zuversicht wir aus diesen
Wochen gewonnen haben - sogar ohne Weltmeister zu
werden.
Es geht deshalb bei der Entscheidung, die in den
nächsten Wochen - im März - ansteht, nicht in erster Linie um Berlin oder Hamburg, sondern es geht um eine
deutsche Bewerbung, auch wenn am Ende nur eine Stadt
den Zuschlag bekommt.
({4})
Die Bundesregierung unterstützt den Weg einer Olympiabewerbung für Deutschland mit ganzer Kraft.
Ein weiterer Punkt. Unsere Position sollte sich nicht
darin erschöpfen - das können wir Deutschen besonders
gut -, das IOC und andere für die Vergabeverfahren der
Vergangenheit zu kritisieren, die Gastgeberstädte zu kritisieren oder auf unhaltbare Zustände in einzelnen Austragungsorten hinzuweisen. Das kann man alles machen.
Besser wäre es, wir machten es besser und zeigten, wie
es anders geht in einer Demokratie. Selbst antreten und
besser machen: Das ist die Devise.
({5})
Die guten Konzepte von Hamburg und Berlin sind dafür
geeignet.
Abkehr vom Gigantismus. Dieser Ansatz hat sich - darauf hat Hans-Jochen Vogel vor einiger Zeit hingewiesen - auch in München 1972 bewährt und war Teil des
Konzepts. Deshalb passen die Konzepte von Hamburg
und Berlin auch gut in die IOC-Reformen, die unter Führung des deutschen Präsidenten dort in Gang gesetzt
worden sind.
Wir brauchen womöglich einen langen Atem. Sie
wissen, was ich meine: Nicht jede Bewerbung gelingt
beim ersten Mal. Es gibt eine starke Konkurrenz. Aber
das ist dann so.
Auch die Reise der deutschen Fußballnationalmannschaft zum WM-Titel 2014 begann nicht erst im Trainingslager in Südtirol 2014. Der Anfang dieser Erfolgsgeschichte ist sogar noch vor dem Sommermärchen
2006 zu suchen. Joachim Löw hat in seiner Rede anlässlich der Auszeichnung mit dem Deutschen Medienpreis
sehr eindrucksvoll beschrieben, welch langer strategischer Weg vom DFB eingeschlagen worden ist, um
schließlich viele, viele Jahre später einen solch großen
Erfolg zu landen. Das war ein langer, auch hürdenreicher
Weg mit viel Kritik, sogar mit Personalwechsel, wie wir
wissen. Aber die Strukturen blieben gleich. Die Zielrichtung, eine Vorstellung davon, wie der deutsche Fußball
der Zukunft aussehen sollte, stand am Anfang.
Deswegen ist für den Sport außerhalb des Fußballs
jetzt die Zeit für einen solchen Anfang und auch Zeit,
sich zu fragen: Wo wollen wir 2024, 2028 sein? Welche
Schritte brauchen wir bis dahin, und wie gehen wir das
strategisch an? So sollten wir also in Sachen Olympia
mit Mut und Zuversicht am Startblock stehen. Wir wissen nicht, wie das IOC 2017 entscheiden wird, aber wir
sollten uns gut darauf vorbereiten.
Was wir also brauchen, ist nicht eine Bewerbung nur
von Hamburg oder Berlin und nicht nur eine Bewerbung
des DOSB, sondern wir brauchen eine Bewerbung des
gesamten Sports, einschließlich des Breitensports. Wir
brauchen eine Bewerbung und die Begeisterung ganz
Deutschlands. Möglichst alle sollten sagen: Ja, wir wollen die Spiele. Wir sind stolz darauf, sie zu bekommen,
und wir freuen uns darauf, wieder Gastgeber sein zu dürfen.
({6})
Dann gibt es noch etwas anderes. Wir haben ja nun
nicht so ganz viele großartige Erfolge mit der Organisation von Großprojekten. Hier liegt eine Chance, nicht
nur der Welt, sondern auch uns selber zu beweisen, dass
wir imstande sind, ein solches Großprojekt fristgerecht,
termingerecht, rechtsstaatlich, mit Bürgerunterstützung
und vernünftig - mit nachhaltiger Nutzung - hinzubekommen. Das wäre ein Erziehungsprojekt weit über
Olympia hinaus, auch nach innen; das fände ich gut.
Meine Damen und Herren, wenn ich in die Reihen
hier schaue, sehe ich viele, die dem Sport mit Begeisterung verbunden sind. Das ist gut so, reicht aber nicht
aus. Deswegen müssen wir ab heute und insbesondere in
den Tagen nach der Entscheidung des DOSB nicht nur in
diesem Haus, sondern überall eine Welle der Begeisterung auslösen, die lange anhält. Das ist schwer. Es ist jedenfalls Zeit, dass wir Deutschland mit seinem Spitzensport wieder gemeinsam in die Spitzengruppe der Welt
führen und dass wir es schaffen, die Olympischen Sommerspiele im nächsten Jahrzehnt nach Deutschland zu
holen. Daran sollten wir arbeiten.
Vielen Dank.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten André Hahn, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sport ist
nicht nur, wie es manchmal heißt, die schönste Nebensache der Welt, sondern für immer mehr Menschen ein
ganz wichtiger Bestandteil ihres Lebens, und das zum
Teil von der Kindheit bis ins hohe Alter. Der Deutsche
Olympische Sportbund hat derzeit knapp 28 Millionen
Mitglieder in 90 000 Vereinen. Was dort von den Aktiven aller Altersklassen, von den Trainern und Übungsleitern, von den Sportfunktionären der verschiedenen
Ebenen und nicht zuletzt auch von den Schieds- und
Kampfrichtern Jahr für Jahr geleistet wird, verdient allerhöchste Anerkennung. Dafür möchte ich mich auch
im Namen meiner Fraktion ganz herzlich bedanken.
({0})
Leider spielt der Sport in den Debatten des Bundestages nur selten eine Rolle. Schon deshalb ist der
13. Sportbericht der Bundesregierung wichtig. Er enthält
durchaus viele wertvolle Informationen, er krankt allerdings an einem zentralen Punkt, dem völlig fehlenden
Problembewusstsein. Die Lage wird in fast allen Bereichen schöngefärbt. Eigentlich unübersehbare Defizite
werden verschwiegen. Auf der Hand liegende offene
Fragen bleiben unbeantwortet. Der Minister - das will
ich gerne einräumen - war in seiner Rede schon etwas
differenzierter. Ich komme gleich noch auf einzelne
Punkte zurück.
Zuvor will ich an den 12. Sportbericht erinnern, zu
dem der Bundestag im Januar 2011 eine Entschließung
verabschiedet hatte. Vieles von dem, was vor vier Jahren
beschlossen wurde, ist nicht erfüllt worden.
({1})
Die Olympiabewerbung von München für 2018 ist gescheitert. Ein Anti-Doping-Gesetz ist immer noch nicht
beschlossen; es gibt jetzt immerhin einen Referentenentwurf. Der Zugang von Kindern und Jugendlichen mit
Behinderungen, mit Migrationshintergrund sowie aus
sozial schwachen Familien zum Vereinssport liegt weiter
deutlich unter dem Durchschnitt. Die sportliche Infrastruktur und die Situation der Sportstätten sind kaum
besser, sondern vielerorts sogar noch schlechter geworden.
Nach wie vor - auch das will ich sagen - gibt es einen
enormen Unterschied bei den in Sportvereinen organisierten Menschen zwischen Ost- und Westdeutschland.
Im Westen liegt der Organisierungsgrad bei durchschnittlich 30 Prozent, im Osten nur bei 15 Prozent. Damit sollten wir uns nicht zufriedengeben.
({2})
Das gilt im Übrigen auch für den Leistungssport. Der
erfreuliche Gewinn der Fußballweltmeisterschaft hat einiges überdeckt; denn die Resultate der Olympischen
Spiele in Sotschi waren wirklich nicht berauschend. Das
erfordert auch Konsequenzen. Der Sportausschuss hat
sich damit wiederholt beschäftigt. Wenn es um die künftige Förderung des Spitzensports geht, müssen wir sorgfältig abwägen, wofür wir Steuergelder in die Hand nehmen.
({3})
Im Kern gibt es für Deutschland zwei Alternativen:
entweder eine absolute Konzentration der zur Verfügung
stehenden Mittel auf einige wenige ausgewählte und medienträchtige Sportarten - diesen Weg haben zum Beispiel die Holländer beim Eisschnelllauf eingeschlagen oder die Fortsetzung einer differenzierten Sportförderung in allen für Deutschland traditionellen olympischen
und paralympischen Sportarten. Die Linke ist für die
zweite Variante, wobei uns klar ist, dass es perspektivisch zu veränderten Prioritätensetzungen kommen
muss.
Beim Sport für Menschen mit Behinderungen gab es
positive Entwicklungen. Trotzdem bleibt noch viel zu
tun. Ein Basketballer braucht nicht nur Sportkleidung.
Wenn er im Behindertensport tätig ist, braucht er auch
einen teuren Sportrollstuhl. Der Weitspringer Markus
Rehm benötigt nicht nur Turnschuhe, sondern eine teure
Spezialprothese. Hinzu kommen Ausgaben für Assistenz
und für den Transport zum Training. Für all das gibt es
in der Regel keine Zuschüsse. Auch Sponsoren stehen
bei den Behindertensportlern nicht Schlange.
1950 stiftete Bundespräsident Theodor Heuss das Silberne Lorbeerblatt als höchste staatliche Auszeichnung
im Sport. Es dauerte sage und schreibe 43 Jahre, ehe
Bundespräsident Richard von Weizsäcker erstmals auch
Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen mit dem
Silbernen Lorbeerblatt ehrte. Es vergingen noch einmal
zwei Jahrzehnte, bis auch die von den Linken immer
wieder geforderte Gleichbehandlung der Medaillengewinner bei Olympischen und Paralympischen Spielen
hinsichtlich der Prämierung durch die Deutsche Sporthilfe endlich realisiert wurde. Das ist gut und richtig,
aber die Trainer werden bei der Prämierung weiter ungleich behandelt. Hierfür ist die Bundesregierung zuständig; sie sollte das endlich ändern.
({4})
Übereinstimmung gibt es auch bei der Notwendigkeit
der Bekämpfung von Doping. Die Linke hat dazu bereits
im August letzten Jahres in einem Antrag Eckpunkte für
das längst überfällige Anti-Doping-Gesetz vorgelegt.
Wir wollen die bestehenden Strafvorschriften für den
Handel mit Dopingmitteln erweitern und auch einen
neuen Straftatbestand Sportbetrug einführen, der es
künftig ermöglichen würde, beteiligten Trainern die Lizenz und beteiligten Ärzten die Approbation zu entziehen sowie gegen gedopte Athleten harte Geldbußen und
bei Wiederholungstätern auch Freiheitsstrafen zu verhängen. Zudem hoffe ich, dass wir fraktionsübergreifend
möglichst noch in diesem Jahr eine Lösung für die Ent8162
schädigung von Dopingopfern in Ost und West finden;
sie haben eine angemessene Lösung verdient.
({5})
Zum Schluss nur noch einige wenige Stichworte. Der
Sport ist keine Spielwiese für Rechtsextremisten und
Gewalttäter, für Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.
({6})
Im Gegenteil: Der Sport leistet einen wichtigen Beitrag
zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, Asylbewerbern und Flüchtlingen. Die diesbezüglichen Aktivitäten müssen wir noch stärker unterstützen.
({7})
Auch als langjähriger Kapitän des FC Landtag Sachsen und jetziger Aktiver beim FC Bundestag sage ich:
Der Fußball darf in der Berichterstattung der öffentlichrechtlichen Sender nicht alles dominieren.
({8})
Es gibt im Spitzensport sowie im Breitensport viele
Sportereignisse, über die es zu berichten lohnt. Es war
inakzeptabel, dass die Spiele der Handballweltmeisterschaft in Katar hierzulande nur im Pay-TV verfolgt werden konnten.
({9})
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für das
Zusammenwirken mit dem DOSB bedanken. Präsident
Alfons Hörmann leistet hier in schwieriger Zeit eine sehr
gute Arbeit.
({10})
Ich wünsche seinem Vorgänger, Thomas Bach, viel Erfolg bei seinem Bemühen, die längst überfälligen Reformen im verkrusteten, überalterten und in Teilen wohl
auch korrupten IOC tatsächlich umzusetzen.
({11})
Und ich wünsche mir eine FIFA ohne Sepp Blatter an
der Spitze.
({12})
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir abschließend, dass wir bei allen Verweisen auf die Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen die Situation im
Breitensport nicht aus dem Blick verlieren. Wir haben
dort viel zu tun. Packen wir es gemeinsam an!
Sport frei!
({13})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Detlev Pilger, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege André Hahn hat
gerade ein sehr gutes Beispiel dafür genannt, wie integrativ der Sport sein kann, nämlich beim FC Bundestag,
wo wir uns alle hervorragend verstehen.
({0})
Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit so der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Volker
Kauder.
({1})
Damit hat er recht.
Betrachten wir doch einmal die Wirklichkeit der
Sportvereine in Bezug auf den Mindestlohn! Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass Angestellte von Vereinen
nun für ihre getane Arbeit fair bezahlt werden, und das
- da sind wir uns sicherlich einig - ist auch gut so.
({2})
Das, was für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
anderen Branchen gilt, muss auch im Sport gelten.
Hierbei ist zu betonen, dass das Ehrenamt von der
Mindestlohnregelung nicht betroffen ist. Die Frauen und
Männer, die sich ehrenamtlich engagieren, leisten einen
ungeheuren volkswirtschaftlichen Beitrag und tragen
maßgeblich zum Gelingen des gesellschaftlichen Miteinanders bei.
({3})
Auch wenn der Ehrenamtler für seine Aufwendungen
und Kosten eine Aufwandsentschädigung erhält, trifft
auf ihn der Arbeitnehmerstatus nicht zu. Er fällt somit
nicht unter die Mindestlohnregelung.
Ebenfalls ist denkbar, dass ein Verein jemanden auf
Minijobbasis anstellt, zum Beispiel zur Führung des Vereinsheims. Hierfür stehen ihm richtigerweise 8,50 Euro
pro Stunde zu.
({4})
Dies schließt jedoch nicht aus, dass er weiterhin für diesen Verein ehrenamtlich tätig ist und dafür auch eine
Aufwandsentschädigung erhalten kann, etwa wenn derjenige, der das Vereinsheim führt, eine Jugendmannschaft trainiert. Also - und nun hingehört! -: Arbeitnehmer ist nur, wer aufgrund eines privatrechtlichen
Vertrages weisungsgebundene Arbeit leistet, und darunter fällt das Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung eindeutig nicht.
({5})
Kommen wir zum Monster der Dokumentationspflicht von Arbeitszeiten. Es wird teilweise so getan, als
hätte es diese bisher nicht gegeben. Diejenigen von uns,
die schon einmal in einer Fabrik gearbeitet haben, werden sich an die berühmte Stechuhr erinnern, die Beginn
und Ende der Arbeitszeit registriert hat. Nach dem
Arbeitszeitgesetz müssen die geleisteten Arbeitsstunden
festgehalten und Überstunden ausgeglichen werden.
Dies macht Sinn und schützt Arbeitnehmer vor Ausbeutung.
Wie kann die Dokumentationspflicht von Arbeitszeiten für Sportvereine denn nun aussehen? Recht einfach:
Man trägt handschriftlich den Beginn und das Ende der
Arbeitszeit in eine Liste ein, und dies bei einem Zeitaufwand unter einer Minute.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist sicher zu leisten.
({7})
Die Vereine haben das auch schon in Bezug auf die Registrierung der Übungsleiterstunden getan, da ansonsten
eine Bezuschussung durch den jeweiligen Landessportbund nicht erfolgen kann. Es ist also ein Prozedere, das
in den Vereinen durchaus üblich ist. Es handelt sich bei
der Kritik an der Dokumentationspflicht also um einen
Scheinriesen, ähnlich Herrn Turtur aus der Augsburger
Puppenkiste, der bei näherem Betrachten immer kleiner
wird.
({8})
Eine Schwierigkeit - Kollege Gienger und ich haben
es thematisiert - ist der Status der sogenannten Vertragsamateure,
({9})
jener Sportlerinnen und Sportler, die sich vertraglich an
einen Verein binden und dafür ein geringes Entgelt erhalten; im Bereich des Fußballs häufig 250 Euro pro
Monat. Das Problem ist erkannt und bei unserer Arbeitsministerin Andrea Nahles in den besten Händen.
({10})
Ich darf Beispiele nennen. Sie hat für die Angestellten
des Schaustellergewerbes und für die Mitarbeiterinnen
- ich hätte fast gesagt: der Pfälzer Bergdörfer - der Pfälzer Berghütten eine Lösung gefunden.
({11})
- Sie können gespannt sein. - Sie wird ein gutes Ergebnis liefern, weil Andrea Nahles mit den Menschen, den
Organisationen und Vereinen spricht. Bleiben Sie also
bitte alle ganz entspannt.
({12})
Zwei kurze Bemerkungen seien mir noch erlaubt. Der
Kollege Hahn hat es eben schon angesprochen: Der
Sport trägt beispielhaft zur Integration von Menschen
bei, unabhängig von ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer
Hautfarbe oder ihrem sozialen Status, und muss alle erdenkliche Unterstützung hierfür erhalten; gerade in diesen Tagen!
({13})
Ein Letztes. In Bezug auf die Olympiabewerbung von
Berlin und Hamburg möchte ich erwähnen, dass die Akzeptanz der Bevölkerung davon abhängen wird, ob sie
erkennt, dass das Großereignis eine nachhaltige Bedeutung für unser Land bzw. eine Region hat. München,
London und Warschau an der Weichsel haben es uns
vorgemacht.
Vielen Dank.
({14})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister, zunächst möchte ich einen Satz zu
Ihrer Rede sagen. Ich habe mich in den zwölf Minuten
wirklich gefragt: Reden Sie hier zu Olympia, oder reden
Sie hier zum 13. Sportbericht der Bundesregierung?
Diese Frage habe ich mir die ganze Zeit gestellt.
({0})
- Ja, aber im Sport geht es um mehr als um Olympia, lieber Herr Grindel, und auch um mehr als Fußball.
({1})
Aber sei’s drum: Im Sportausschuss bestehen über
Parteigrenzen hinweg viele Gemeinsamkeiten. Neben
diesen Gemeinsamkeiten gibt es natürlich auch Differenzen und Unterschiede, und das ist auch gut so, weil der
Sport die politische Debatte braucht. Leider diskutieren
wir im Sportausschuss ohne Öffentlichkeit, hinter verschlossenen Türen. Daran möchte die Große Koalition
leider nichts ändern. Das ist der falsche Weg.
({2})
Lassen Sie uns wieder zu öffentlichen Sitzungen des
Sportausschusses zurückkehren. Nicht weniger, sondern
mehr Transparenz und damit mehr Demokratie - das
sollte unser Gebot sein.
({3})
Meine Damen und Herren, der 13. Sportbericht der
Bundesregierung, über den wir heute diskutieren, gibt
vertiefte Einblicke in die Sportpolitik. Es gibt vielleicht
keinen anderen Bericht in dieser Form und mit dieser
Tiefe; das ist auch gut so. Der Sportbericht macht deutlich, wie vielfältig der Sport ist und welche wichtigen
gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen er erfüllt.
Jedoch frage ich mich öfter - auch bei den Reden heute -,
ob die Politik im Deutschen Bundestag dieser Vielfalt im
Sport tatsächlich gerecht wird.
Nun zwei Sätze zu der Olympiabewerbung.
({4})
Es ist nicht verwerflich, wenn man eine Olympiabewerbung begrüßt. Aber es ist schon komisch und eine absolute Missachtung des Bürgerwillens, wenn im Bericht
verschwiegen wird, dass die letzten Bewerbungen an
fehlenden Mehrheiten vor Ort und an einem fehlenden
Bürgerwillen gescheitert sind, weil die Bürgerinnen und
Bürger eben nicht mitgenommen wurden. Diese Tatsache gehört hier unbedingt erwähnt.
({5})
Immer wieder wird die Autonomie des Sports betont.
Wir haben an dieser Stelle keinen Dissens. Autonomie
im Sport ist wichtig. Ich kritisiere aber, dass man in der
Vergangenheit zu häufig auf die Autonomie verwiesen
hat und die Sportverbände einfach hat machen lassen.
Eine gute Sportpolitik lässt die Sportverbände aber nicht
alleine, vor allem nicht mit den gesellschaftlichen Themen und Anforderungen, die Kollege Hahn vorhin aufgezählt hat. Ich nenne als Beispiel nur ein Stichwort: Inklusion.
Eine gute Sportpolitik setzt eigene Akzente. Nehmen
wir zum Beispiel Sportgroßveranstaltungen: Ist Olympia
heute tatsächlich noch eine Botschaft des friedlichen
Wettstreits der Nationen? Ich habe da Zweifel - siehe
Sotschi.
({6})
Olympia wurde zu einer Marke und zu einem Hochglanzprodukt weiterentwickelt, in dessen Pflege das IOC
mehr Eifer steckt als in die Bewältigung der sportlichen
Aufgaben und Herausforderungen des Verbandes.
({7})
Die Politik hat zugeschaut. Daran wird auch die IOCAgenda 2020 nicht viel ändern. An dieser Stelle sage
ich: Papier ist geduldig; wir brauchen Taten.
Gleiches gilt für die Fußball-WM und die FIFA. Die
FIFA ist ein Weltsportverband, der zu einem Symbol für
Intransparenz, Vetternwirtschaft und Korruption verkommen ist. Das ist doch die traurige Realität. Damit
wird der Sport kaputtgemacht.
({8})
Schauen wir uns die jüngste Handball-WM in Katar
an: gekaufte WM, gekauftes Image, gekaufte Fans, gekaufte Journalisten. Ist das die Zukunft des Sports? Soll
das die Zukunft des Sports sein? Wir sagen klar Nein.
({9})
Wir müssen uns die Frage stellen: Wie weit darf die
Kommerzialisierung des Sports gehen? Es ist doch offensichtlich, dass der einseitige Fokus auf Einnahmen
und Gewinne unter Aufgabe der moralischen Werte den
organisierten Sport selbst schädigt und kaputtmacht.
({10})
Dabei geht es nicht nur um Fairplay, Moral und Integrität. Es geht um Menschenrechte, um Nachhaltigkeit im
Sozialen, im Wirtschaftlichen und um Fragen der Umwelt. Dies wird der Sport alleine nicht schaffen. Die
Politik und damit wir alle gemeinsam müssen den Sport
dabei unterstützen.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir eine
solche grundsätzliche Debatte auch zum Anti-DopingGesetz hier führen werden. Ihr Referentenentwurf setzt
sich nur mit den Symptomen, jedoch nicht mit den Ursachen von Doping auseinander. Sie entkleiden die Sportlerinnen und Sportler von ihren Bürgerrechten. Wir dagegen lehnen den gläsernen Athleten ab.
Ein weiteres Thema, das in dem Bericht zu kurz
kommt, ist die Manipulation im Sport. Ich vermisse eine
konkrete Initiative der Bundesregierung gegen Wettbetrug, gegen Korruption. Wir alle wissen doch, dass wir
hier bisher nur die Spitze eines Eisbergs sehen.
Der organisierte Sport braucht nicht nur die finanzielle Unterstützung durch die Politik, vielmehr braucht
er auch unsere Anregungen und Denkanstöße. Die Ergebnisse der Weltsportministerkonferenz MINEPS, die
hier in unserer Hauptstadt stattgefunden hat, sind dafür
eine gute Basis. Nun muss die Bundesregierung auf dieser Grundlage weniger reden und mehr handeln. Es hilft
überhaupt nicht, wenn die Bundesregierung den Sport
als Faustpfand gegen die Bundesländer einsetzt. Die Erpressung der Bundesländer über die geplante Kürzung
der Mittel bei „Jugend trainiert für Paralympics“ und
„Jugend trainiert für Olympia“ war Ihrer nicht würdig
und beschämend. Mit dieser Aktion haben Sie dem Sport
einen Bärendienst erwiesen.
({11})
Ich komme zum Schluss. Ich habe den Eindruck, dass
sich der Sport zu sehr auf Einnahmen durch den Leistungssport und auf Hochglanzevents konzentriert. Deshalb - da bin ich bei Ihnen, Herr Minister - gehört die
Spitzensportförderung in der Tat auf den Prüfstand gestellt. Wir Grüne wollen eine Politik, die Bewegung und
Sport in der Gesellschaft und die Sportverbände fördert,
in der Spitze wie in der Breite. Hier sollten wir als Politik vorangehen. Ich lade Sie herzlich ein, mitzulaufen,
und hoffe sehr, dass Ihnen unterwegs nicht die Puste ausgeht.
({12})
Dieser sportpolitische Appell kam unter leichter
Überziehung der Redezeit zustande, aber immerhin. Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Lieber Herr Bundesminister! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe sportinteressierte Zuschauer oben auf den Rängen! Im 13. Sportbericht der
Bundesregierung werden für die Jahre 2010 bis 2013 die
zahlreichen Maßnahmen und Initiativen der Bundesregierung im Bereich der Sportförderung zusammengefasst. Auf ungefähr 140 Seiten wird dargestellt, wie einzelne Bundesministerien den Sport unterstützen und
vorangebracht haben. Die Maßnahmen der einzelnen
Ministerien reichen dabei über verschiedene Aktionsfelder vom Familiensport bis hin zur Förderung des Spitzensports.
Für den Sport ist der Bundesinnenminister zuständig.
Ich möchte an dieser Stelle Herrn Bundesinnenminister
Thomas de Maizière ganz herzlich dafür danken, dass er
dem Sport und dem Spitzensport eine große Förderung
hat zuteilwerden lassen, nicht zuletzt dadurch, dass wir
im laufenden Jahr eine Erhöhung des Sporthaushaltes
von 15 Millionen Euro erhalten haben. Wir haben ja gerade gehört, wie wichtig es ist, den Spitzensport auf neue
Ebenen zu heben; denn die Ergebnisse der Olympischen
Spiele von Sotschi waren tatsächlich nicht berauschend.
Die Sportberichte der Bundesregierung sind mittlerweile eine Art Standardwerk geworden. Hier können
sich Bürger und Sportinteressierte umfassend informieren, was in der Sportförderung alles unternommen wird,
welche Fördergrundsätze gelten und was zukünftig für
und mit dem Sport bewegt werden soll. In diesem Sinne
bietet der 13. Sportbericht zweierlei: eine Rückschau in
die Vergangenheit - das ist hier eine durchaus positive
sportpolitische Bilanz der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen in der 17. Wahlperiode - und, das ist
noch viel wichtiger, einen Blick in die Zukunft, also auf
die vielen Vorhaben und sportpolitischen Ziele in der
18. Wahlperiode.
Letzteres wirft ein Schlaglicht auf die sportpolitischen Ziele im Koalitionsvertrag und auf das, was wir
bereits auf den Weg gebracht haben, zum Beispiel das
Anti-Doping-Gesetz, das wir bis zum Herbst dieses Jahres beschließen wollen. Ich glaube, wir sind hier auf einem guten Weg und werden ein gutes Gesetz hinbekommen.
Wir wollen weiterhin die Konflikte im Bereich Sport
und Lärm entschärfen. Des Weiteren wollen wir zusammen mit den Gesundheitspolitikern ein Präventionsgesetz auf den Weg bringen; dieses wird heute im Bundesrat beraten. Wir wollen zudem die wissenschaftliche
Forschung unterstützen und die Sportförderung weiter
reformieren. Ich bin sehr dankbar, dass der Innenminister und der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, Herr Hörmann, dies zur Chefsache gemacht haben.
Wir wollen auch weiterhin die Sportvereine stärken
und von bürokratischen Hürden befreien, Stichwort Mindestlohn; ich darf mich bedanken, dass Detlev Pilger
dieses Thema schon angesprochen hat. Ich freue mich
besonders, dass es am 23. Februar dieses Jahres ein Gespräch geben wird, zu dem sich die Ministerin Andrea
Nahles und Vertreter des BMAS mit dem Deutschen
Olympischen Sportbund und dem Deutschen FußballBund treffen werden, um insbesondere die Probleme der
von Detlev Pilger angesprochenen Athletinnen und Athleten, der Vereine und der Mitglieder des Ehrenamtes einem guten Konsens zuzuführen.
Meine Damen und Herren, aufgrund der begrenzten
Zeit möchte ich mich hier auf wenige Aspekte konzentrieren. Beginnen möchte ich mit der 5. Weltsportministerkonferenz, die im Mai 2013 hier in Berlin durchgeführt wurde. Das BMI hat zusammen mit dem
organisierten Sport und zahlreichen Organisationen der
Zivilgesellschaft sowie diversen Sportministerien die
Berliner Erklärung erarbeitet. Die von den Staaten unterzeichnete Selbstverpflichtung listet auf über 20 Seiten
konkrete Punkte auf, um den Sport weltweit voranzubringen. Es geht um Themenblöcke wie den freien Zugang zum Sport, Investitionen in Sportprogramme oder
auch die Wahrung der Integrität des Sports.
Dabei wurde nicht nur national ein Meilenstein in der
Sportpolitik gelegt, sondern es wurden auch international neue Maßstäbe gesetzt. Offenbar hat die Berliner Erklärung auch bei internationalen Sportverbänden große
Beachtung gefunden. Unter anderem hat das Internationale Olympische Komitee im Dezember 2014 die Reformagenda 2020 verabschiedet und dabei gleichzeitig gezeigt, dass sich der Sport weiterentwickeln muss. Auf
40 Punkte ist man dabei gekommen. Die IOC-Reformagenda 2020 weist auch zahlreiche Schnittstellen mit der
Berliner Erklärung auf. Sie können daher in einem Kontext gesehen werden.
Der Sport muss sich wandeln, gerade weil die internationalen Sportverbände vor allem in den westlichen Gesellschaften an Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Gründe dafür sind - das wurde heute schon
mehrfach erwähnt - Gigantismus, fehlende Nachhaltigkeit, Verschwendung und Korruption, Umweltzerstörung
und nicht zuletzt auch massive Menschenrechtsverletzungen. Das IOC hat in seiner Agenda 2020 einen
neuen Kurs eingeschlagen. Mitverantwortlich hierfür ist
Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der diesen Kurswechsel im internationalen Sportgeschehen eingeleitet hat. Nicht ohne Grund
wird dieses Reformvorhaben ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen. Es ist auf das Jahr 2020 datiert. Das IOC
wird sich an der Umsetzung messen lassen müssen.
({0})
Der 13. Sportbericht der Bundesregierung geht auch
auf die misslungenen, gescheiterten Bewerbungen um
die Olympischen Winterspiele 2018 und 2022 ein. Die
Ablehnung vieler Bürger gründet häufig in einer großen
Skepsis gegenüber den internationalen Verbänden. Die
Bewerbungskonzepte von Hamburg und Berlin für die
Sommerspiele 2024 und 2028 stehen dagegen auch im
Zeichen der IOC-Agenda. Mit beiden Städten können
wir zeigen, dass wir es - auch im Vergleich zu anderen
Nationen - anders und in nicht wenigen Kritikpunkten
besser machen können. Es hilft nicht weiter, sich über
Großsportereignisse in anderen Ländern zu beschweren,
sondern wir müssen, ähnlich wie beim Fußball, zeigen,
dass wir nachhaltige, freundliche und vor allem an den
Menschen ausgerichtete Großsportereignisse umsetzen
können.
({1})
Natürlich müssen wir auch die Bürger mitnehmen; sie
müssen dafür begeistert werden. Bei der eigenen Meinung über die Austragung von Olympischen Spielen
steht - nicht zu Unrecht - häufig die Frage im Raum:
Wem nutzt das Großsportereignis eigentlich? Was bringt
es mir persönlich, meinen Kindern, meiner Familie, meinem Verein, meinem Umfeld? Diese Frage lässt sich am
besten mit Blick auf die Olympischen Spiele 1972 in
München beantworten. Viele für uns heute selbstverständliche Voraussetzungen im Breiten- und im Spitzensport bilden das Erbe der Olympischen Spiele 1972. Vieles wurde eigens für die Spiele ins Leben gerufen oder
weiter befördert: der Schulsport, „Jugend trainiert für
Olympia“, die anschließende Olympische Erziehung, die
Jugendlager bei Olympischen Spielen, die Bundesleistungszentren, die Olympiastützpunkte, zahlreiche Trainingsstätten, die nun auch vom Breitensport genutzt
werden können. Weitere infrastrukturelle Errungenschaften abseits des Sports wurden eingeführt.
Deshalb: Lassen Sie uns alle zusammen die Spiele
nach Deutschland holen! Die Chancen und die Vorteile
wird auch der Breitensport nutzen können.
({2})
Meine Damen und Herren -
Das wäre jetzt ein toller Schluss gewesen, zumal auch
die Redezeit abgelaufen ist. Es kamen ein schöner Beifall und ein schöner Schlussgedanke.
({0})
Ich bin auch so gut wie fertig. - In diesem Jahr werden wir die Zusammenarbeit mit dem organisierten
Sport bei vielen Vorhaben deutlich voranbringen können. Im Sportausschuss werden wir gemeinsam mit der
Opposition für die Reform der Leistungssportförderung
eintreten, sie eng begleiten und nach Kräften unterstützen.
Jetzt, Herr Präsident, haben Sie es geschafft und ich
auch.
({0})
Ich bitte, liebevoll mit der Geduld des Präsidiums umzugehen.
({0})
Gerade in dieser Debatte haben wir viel Zeit zur Aussprache. Deshalb sollten wir uns auch aus Fairnessgründen an die Redezeiten halten.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Frank Tempel, Fraktion Die Linke.
({1})
Das ist richtig.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir sind uns in diesem Haus sehr schnell
darin einig, dass nur ein gut funktionierender Breitensport zu Spitzenleistungen im Sport führt; der Breitensport ist das Fundament des Spitzensports. Auseinander
gehen die Meinungen allerdings dann, wenn es um die
Schaffung von Rahmenbedingungen und die Finanzierung des Breitensports geht. Sie verweisen darauf, dass
der Bund hierfür nicht zuständig sei. Ich meine, das ist
falsch; denn wenn es politisch gewollt wäre, dann
könnte auch der Bund seinen Beitrag zur Entwicklung
des Breitensports leisten, und zwar mehr als bisher.
({0})
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, weigern sich seit Jahren beharrlich, ein Sportfördergesetz
auf den Weg zu bringen, in dem beides geregelt werden
könnte.
Für den Breitensport sind - darauf möchte ich verweisen - zum Beispiel Schwimmbäder und Sportstätten
existenziell. Um beides ist es aber seit Jahren schlecht
bestellt. Viele Schwimmbäder sind gegenwärtig sanierungsbedürftig. 30 bis 40 Prozent dieser Anlagen stammen aus den 60er- und 70er-Jahren. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels muss uns bewusst
sein, dass wir hier auch Maßnahmen hinsichtlich Barrierefreiheit und Zugänglichkeit ergreifen müssen.
Es sollte für uns ein Alarmzeichen sein, dass immer
weniger Schülerinnen und Schüler nach Abschluss der
Grundschule schwimmen können. Sage und schreibe
50 Prozent der Grundschüler gelten heute als keine sicheren Schwimmer. Die Linke meint, wie Lesen und
Schreiben sollte jedes Kind auch schwimmen können.
Schwimmen ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Bildungsauftrages.
({1})
Einen Sanierungs- und Investitionsstau gibt es auch
bei allen anderen Sportstätten. Dabei möchte ich festhalten, dass die Konjunkturpakete I und II natürlich ein Erfolg waren und von vielen Kommunen genutzt wurden.
Über 4 500 Sportstätten konnten gebaut und saniert werFrank Tempel
den. Dadurch konnte das Problem aber nicht gelöst werden. Der Verfall der Sportstätten schreitet weiter voran,
wie auch Sie, meine Damen und Herren, das alle von Besichtigungen vor Ort selber wissen werden. Im Jahr 2014
betrug der Investitionsrückstand im Bereich der Bäder
und Sportstätten 12 Milliarden Euro. Mit einer Trendwende ist gerade in finanzschwachen Kommunen nicht
zu rechnen, sicherlich auch, weil finanzschwache Kommunen das Problem hatten, die Mittel aus den Konjunkturpaketen nicht in dem vorgesehenen Maße nutzen zu
können, weil der notwendige Eigenanteil fehlte. Da haben Bürgermeister fertige Konzepte für notwendige Projekte in der Schublade, können sie aber nicht umsetzen,
weil die erforderlichen Eigenmittel im kommunalen
Haushalt nicht vorhanden sind. Das berichte ich nicht
vom Hörensagen, sondern aus meiner Erfahrung als Gemeinderat und Mitglied eines Kreistages.
Diese Problematik findet im Sportbericht der Bundesregierung keine Erwähnung. Wenn ich zu Hause im
Wahlkreis Sportvereine besuche, werde ich aber genau
mit dieser Frage konfrontiert, auch von Bürgermeistern,
die etwas für ihre Vereine und den Breitensport in ihrer
Gemeinde machen wollen. Darunter, meine Damen und
Herren, sind nicht wenige Mitglieder von CDU und
SPD, die es im Übrigen nicht lustig finden, wenn ich ihnen berichte, dass man auf Bundesebene die Situation eigentlich ganz toll findet und man der Meinung ist, dass
die Bundespolitik hier keine Verantwortung trägt.
Auch die sportpolitischen Sprecher der CDU aller
Landtage sowie der CSU haben anscheinend das Problem erkannt. Sie fordern ein Investitionsprogramm. Auf
ihrer Beratung im März 2014 betonten sie, dass die
Kommunen nicht allein gelassen werden dürften. Der
Sanierungsstau bei Sportstätten und Bädern könne nicht
mehr länger ignoriert werden; Bund, Land und die
Sportverbände müssten gemeinsam diese Probleme angehen. Recht haben sie. Die Linke unterstützt ihre Forderung und erwartet, dass Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Landtagen und Kommunen endlich ernst
nehmen.
({2})
Die Linke fordert in diesem Sinne die Auflage eines
neuen Sportstättenförderprogramms.
({3})
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Thüringen; das darf
ich als Thüringer ganz kurz hier sagen. Die rot-rot-grüne
Regierung stellt erheblich mehr finanzielle Mittel für
den Sport zur Verfügung. Statt 10 Millionen Euro werden nun 20 Millionen Euro für die Sportförderung bereitgestellt. So kann man handeln statt reden.
({4})
Ich möchte auch noch auf ein weiteres Problem verweisen. Es gibt ja Sportanlagen, die sich durchaus in einem halbwegs guten Zustand befinden. Sie können in
vielen Regionen aber nur eingeschränkt genutzt werden,
weil es Bürgerinnen und Bürger gibt, die wegen unzulässigen Lärms klagen und recht bekommen,
({5})
weshalb dann die Sportanlagen zu bestimmten Zeiten
geschlossen bleiben. Der Sportausschuss beschäftigt
sich damit regelmäßig. Ich bin seit 2009 im Bundestag.
Seitdem höre ich von Prüfaufträgen zur Lösung dieses
Problems. Dass sich wirklich etwas ändert, werde ich
erst glauben, wenn ein konkretes Programm - es soll ja
kommen - auf dem Tisch liegt. Dieses werden wir dann
auch diskutieren. Wir hoffen, dass wir hier dann gemeinsam möglichst schnell eine Änderung herbeiführen können.
({6})
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. In
der Auswertung des 12. Sportberichtes wurde die Bundesregierung aufgefordert, gesellschaftliche Teilhabe
insbesondere mit Blick auf Kinder und Jugendliche aus
sozial schwachen Familien im Sport zu gewährleisten.
Im Sportbericht ist hierzu wieder nichts zu finden. Allerdings wissen wir aus dem aktuellen Bildungsbericht,
dass hier akuter Handlungsbedarf besteht.
({7})
Die Linke fordert erneut: Alle Kinder und Jugendlichen müssen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern Zugang zum Sport haben. In diesem Sinne, Herr Minister,
möchte ich einen Vorschlag machen: im künftigen Sportbericht der Bundesregierung in einem eigenen Kapitel
die Zugangsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu sportlichen Angeboten, insbesondere zu Sportvereinen und weiterführenden Sportschulen, darzustellen. Machen Sie den Sportbericht ganz einfach zum
Wegweiser für künftige Aufgaben.
Danke schön.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Michaela Engelmeier, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine
sehr verehrten Damen und Herren auf den Rängen! Ich
freue mich ausdrücklich und außerordentlich, dass wir
heute in der Kernzeitdebatte 96 Minuten über den Sport
diskutieren, die schönste Nebensache der Welt und, wie
ich finde, auch eine der wichtigsten Nebensachen der
Welt.
Im 13. Sportbericht werden auf über 140 Seiten alle
Facetten des Sports beleuchtet. Es gibt viele Anregungen. Ich habe mir einmal drei Punkte herausgesucht, die
ich Ihnen gerne heute hier vortragen möchte. Ich fange
einmal mit der Rolle der Frau im Sport an; das wird Sie
jetzt vielleicht überraschen. Ich komme aber auch noch
zu Olympia und zum Anti-Doping-Gesetz.
Lassen Sie mich mit einem Blick auf das Thema
„Frauen im Sport“ beginnen. Ich möchte hier den geringen Anteil von Frauen auf der Führungsebene des organisierten Sports ansprechen.
({0})
Leider muss man über den viel zu geringen Anteil von
Frauen in den Spitzenverbänden reden, weil nur etwas
mehr als 10 Prozent aller Führungskräfte im deutschen
Sport weiblich sind. Als Vizepräsidentin des Deutschen
Judo-Bundes, einer männlich dominierten Sportart, weiß
ich, wovon ich rede. Obwohl man sich im Sport dieses
Problems durchaus bewusst ist, fruchtet die viel beschworene Selbstverpflichtung für das Werben um mehr
Frauen in besonderen Positionen nicht. Ich denke, wir
müssen da neue Wege gehen, Barrieren in den Köpfen
überwinden und möglicherweise, ohne dass Sie jetzt einen Schrecken kriegen, einmal über eine Quote nachdenken.
({1})
So würde es Frauen ermöglicht, zu beweisen, dass sie
diese Funktionen ebenso gut erfüllen, ohne dafür kämpfen zu müssen, besser zu sein als Männer oder nur mindestens genauso gut wie ihre männlichen Kollegen.
({2})
Ich verweise auf aktuelle Forschungsergebnisse aus
der Psychologie: Frauen erhöhen die kollektive Intelligenz einer Gruppe.
({3})
Insofern können sich die männlichen Kollegen glücklich
schätzen, Frauen im Team zu haben. Aber zur Ehrenrettung, meine Herren, es gibt da eine wesentliche Einschränkung: Reine Frauengruppen weisen auch keine
höhere Schwarmintelligenz auf, das heißt, gemischte
Gruppen sind am stärksten.
({4})
Was will ich damit zum Ausdruck bringen? Ich mache
dem organisierten Sport ausdrücklich keinen Vorwurf.
Ich sehe die Bemühungen im organisierten Sport für
Frauen und unterstelle niemandem eine Absicht. Aber
wenn im Sport der Anteil der Frauen in der Gesellschaft
nicht repräsentiert ist, dann, finde ich, stimmt da etwas
nicht. Da geben Sie mir doch sicherlich recht.
({5})
Vielleicht sind es aber immer noch verkrustete Strukturen, die es nicht erlauben, dass Frauen in diese Führungspositionen aufrücken können. Ich weiß es nicht,
aber wir müssen wirklich dranbleiben. Darum bitte ich
auch meine Kolleginnen in den Führungsgremien des
DOSB und in den Spitzenverbänden: Wir müssen wirklich mehr dafür arbeiten. Es läuft gut im deutschen
Sport, keine Frage. Aber mit mehr Frauen in Führungspositionen liefe es vielleicht noch etwas besser.
({6})
- Das dachte ich mir.
Kommen wir zum zweiten Punkt: zur Bewerbung für
die Olympischen und Paralympischen Spiele in unserem
Land. Wir haben für die Spiele 2024 oder möglicherweise 2028 mit Hamburg und Berlin bzw. Berlin oder
Hamburg zwei richtig gute deutsche Bewerberstädte.
Ungeachtet der noch ausstehenden Entscheidung des
deutschen Sports, der sich in einer außerordentlichen
Mitgliederversammlung des DOSB am 21. März in der
Paulskirche in Frankfurt für eine der beiden Städte aussprechen wird, steht bereits jetzt fest, dass wir die deutsche Bewerbung Berlins oder Hamburgs bzw. Hamburgs
oder Berlins unterstützen wollen.
Ich möchte zwei Vorteile der deutschen Bewerberstädte bzw. zwei Vorzüge, die unser Land für die Bewerbung um die Olympischen Spiele und Paralympischen
Spiele aufzuweisen hat, besonders hervorheben. Da wäre
einmal - das haben wir heute schon mehrfach gehört „Jugend trainiert für Olympia“ und „Jugend trainiert für
Paralympics“. Das sind mit fast 800 000 Schülern nicht
nur die größten Schulsportwettbewerbe weltweit, sondern auch mögliche Talentschmieden für Olympia und
Paralympics. Die Finalwettkämpfe der Schulen bieten
gute Chancen, junge Talente zu entdecken, und stellen
eindeutig einen Pluspunkt der deutschen Bewerbung dar.
Als dritter Punkt ist hier natürlich unser Anti-DopingGesetzentwurf zu nennen, den die Koalition auf den Weg
gebracht hat. Der von Thomas de Maizière und Heiko
Maas vorgelegte Entwurf, für den übrigens - das muss
an dieser Stelle einmal gesagt werden - die SPD-Bundestagsfraktion schon seit Jahren gestritten hat,
({7})
bietet die gesetzliche Grundlage im Kampf gegen Doping für einen fairen Sport.
({8})
Mit dem Gesetz unterstützen wir die vielen Athletinnen und Athleten, die einen ehrlichen Wettkampf führen.
Damit schützen wir die Integrität des sportlichen Wettbewerbs und kämpfen für einen fairen und sauberen
Sport sowie gegen Doping und gegen Manipulation. Ein
nationales Anti-Doping-Gesetz ist ein weiterer Vorteil
und ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Bewerbung für die Olympischen Spiele. Unsere Initiative für
ein Anti-Doping-Gesetz zeigt, wie wichtig uns in
Deutschland ein fairer und sauberer Sport ist und wie
wichtig es ist, für faire und saubere Sportveranstaltungen
und Sportwettbewerbe zu sorgen.
Ich möchte es nicht versäumen, an dieser Stelle die
Ausrichtung von Olympischen und Paralympischen
Spielen in Deutschland hervorzuheben. Aus Sicht der
Athletinnen und Athleten ist es das Größte, das eigene
Land bei der prominentesten Sportveranstaltung, den
Olympischen Spielen, zu vertreten. Es ist oftmals die Erfüllung eines lebenslangen Traums, für den Schweiß und
Tränen vergossen wurden.
Der bundesweite Nutzen von gelungenen Olympischen und Paralympischen Spielen besteht meiner Meinung nach in erster Linie in der positiven Außenwirkung. Wir erinnern uns alle an das Sommermärchen
2006. Die Deutschen waren kollektiv in Jubelstimmung.
Wir hatten eine wunderbare Gemeinschaft; das war einfach großartig. Aber auch unser Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Jahr und das überzeugende Fair Play haben das Bild der Deutschen in der
Weltöffentlichkeit, wie ich denke, nachhaltig verändert.
({9})
Darüber hinaus erfahren Sportvereine gerade in den
Austragungsländern regen Zulauf, und zwar in allen Altersklassen. Jeder in unserem Land hat etwas von Sportgroßveranstaltungen, sei es der besondere Spirit von
Olympischen Spielen, die ansteckende Begeisterung der
Menschen oder einfach nur die vermehrte Sanierung von
Sportstätten. Das ist gut für dich, für mich, für uns alle
und eben auch für unsere Vereine.
({10})
Aus den genannten Gründen ist es nur konsequent,
dass die Bundesregierung auch künftig deutsche Bewerbungen befürwortet. Das stärkt den Standort Deutschland als Sportnation und ein bisschen auch als Wirtschaftsnation.
({11})
Zusammen mit dem organisierten Sport will sich die
Bundesregierung für faire und nachhaltige Standards bei
der Vergabe von internationalen Sportgroßveranstaltungen einsetzen.
Dazu will ich eine grundlegende Anmerkung machen,
die trivial scheinen mag, aber zentral für das Verständnis
ist. Das Problem der Vergabe von internationalen Sportgroßveranstaltungen, wie wir es mit Sotschi erlebt haben
oder aktuell mit Katar erleben, wo man es mit den Menschenrechten, mit fairer Arbeit und mit Umweltschutz
nicht so genau nimmt, ist ein internationales. Unsere politische Handlungskompetenz beschränkt sich logischerweise nur auf Deutschland; vereinfacht gesagt: internationale Problemlage und nationale Handlungsmacht.
Nun könnte man den Schluss ziehen, dass zum Beispiel eine internationale Initiative wie die aktuelle Reformagenda 2020 des IOC das Problem bei der Vergabe
internationaler Sportgroßveranstaltungen lösen könnte.
Diese Reform ist sicherlich ein erster und wichtiger
Schritt für die Glaubwürdigkeit des organisierten Sports.
Ich glaube aber fest daran, dass auch eine nationale Strategie eine positive Wirkung entfalten kann.
Ein gutes Konzept für eine nachhaltige Veranstaltung
kann ein Vorbild sein, dem andere Staaten folgen, genauso wie eine transparente und nachvollziehbare Bewerbung für eine Sportgroßveranstaltung. Die Nutzung
der vorhandenen Infrastruktur zum Beispiel bei unserer
hoffentlich erfolgreichen deutschen Bewerbung - und
ich bin fest davon überzeugt, dass sie erfolgreich sein
wird - ist dafür ein gutes Mittel. Aber der mögliche Neubau von Sportstätten und Wohnquartieren ist mindestens
genauso wichtig. Das alles muss aber in einem sozialen
Kontext stehen und - unter der Prämisse sozialer Gerechtigkeit und der Förderung des Sports für alle Bevölkerungsgruppen - der Gemeinschaft zur Verfügung stehen.
({12})
Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zum
Schluss. Ich finde es sehr wichtig, darauf hinzuweisen,
dass es nur demokratischen Staaten möglich ist, Demokratie und Sport zusammenzubringen und Sportgroßveranstaltungen wirklich gut auszurichten.
Ich drücke beiden Städten die Daumen, wer auch immer sich am 21. März durchsetzt. Sie sind beide gute Bewerber.
Für uns alle gilt - das ist mein Schlusssatz -: Wir
müssen auch im Sport ein bisschen mehr Demokratie
wagen, und dann werden wir sehen, was dabei herauskommt.
({13})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Monika Lazar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Sportbericht bietet die schöne Gelegenheit, in der ganzen Breite über die Sportpolitik zu reden, quasi vom
Fußball bis zum Paddeln. Stichwort „Fußball“: In den
Diskussionen sollte man nicht so tun, als ob wir persönlich letzten Sommer in Jogis Truppe mittrainiert hätten.
({0})
Freude ist zwar schön, aber man sollte nicht allzu dick
auftragen.
({1})
Wir sind alle viel zu alt, um mitzutrainieren und mitzuspielen.
({2})
Auf den 150 Seiten des Sportberichts werden verschiedene Aspekte genannt, die nicht ständig im Ram8170
penlicht stehen. Auch das Thema Zivilgesellschaft spielt
eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang werden
auch Programme wie „Zusammenhalt durch Teilhabe“
oder die Kampagne „Sport und Politik verein({3}) gegen
Rechtsextremismus“ aufgeführt, und es ist viel von
Netzwerken, Dialog und gegenseitiger Unterstützung die
Rede. Das hört sich erst einmal gut an. Fast könnte man
meinen, in dem Berichtszeitraum wäre alles prima gelaufen.
Wenn aber alle Akteure gerade im Bereich des
Rechtsextremismus so viel unternommen haben wie dargestellt, dann stellt sich die Frage, wie es sein konnte,
dass am 26. Oktober letzten Jahres fast 5 000 Hooligans
und Neonazis die Kölner Innenstadt fast auseinandernehmen konnten. Da war das Entsetzen groß. Dabei
mahnen Szenekenner schon seit langem, dass rechte Einstellungen bei einem Teil der Hooligans nicht zu unterschätzen sind.
Selbst die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze,
ZIS, schätzte die Schnittmenge der sogenannten Gewalttäter Sport mit bekannten Rechtsextremisten direkt vor
den Kölner Krawallen auf nur 400 ein. Ich denke, dass
an dieser Stelle dringend Korrekturen nötig sind.
({4})
Es waren übrigens auch Hooligans bei den Pegidaund Legida-Demonstrationen unterwegs. Mehrfach wurden in Dresden Hools von Dynamo Dresden gesehen.
Erst vor einer Woche dankte ein Redner auf der LegidaKundgebung in Leipzig den Hools euphorisch für ihre
Unterstützung. Das war absurd, und die Reaktion erfolgte prompt: Jubel und Applaus von den Angesprochenen.
So kann es auf alle Fälle nicht weitergehen. Wir müssen uns auch in diesem sehr speziellen Fall Gedanken
machen, wie wir uns dieser Thematik weiter annehmen.
({5})
Eine weitere Leerstelle im Bericht bildet die sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Sport.
Weder gibt es ein eigenes Kapitel im Sportbericht, noch
geben Sie dort, wo das Thema ab und zu zur Sprache
kommt, Auskunft über gegenwärtige Planungen und
Perspektiven. Stattdessen wird nur Altbekanntes aufgezählt. Neuigkeiten sind leider Fehlanzeige. Erst in dieser
Woche lief ein Beitrag in der WDR-Sendung sport inside. Hier wurde berichtet, dass allein in den letzten zwei
Jahren 58 Kinder und Jugendliche in 300 Fällen Opfer
sexualisierter Gewalt wurden. Das sind nur die Zahlen,
die durch Gerichtsurteile aktenkundig geworden sind.
Wir alle wissen, dass der Sportverein ein sensibles Umfeld für junge Menschen ist. Trainerinnen und Trainer
sind Vertrauenspersonen.
Der Beauftragte für Fragen des Kindesmissbrauchs,
Herr Rörig, hat noch im November 2013 dringenden
Handlungsbedarf auch bei diesem Thema im Sport festgestellt. Ich hätte mir gewünscht, dass auch dieser Bereich im Sportbericht noch Niederschlag gefunden hätte
und damit dem Wunsch von Herrn Rörig nach Handlungsempfehlungen Rechnung getragen worden wäre.
Zum Thema Doping möchte ich eine Lösung für die
Opfer des DDR-Dopings anmahnen. Das Thema beschäftigt uns schon seit vielen Jahren. Auch wir Grüne
machen dazu regelmäßig Vorschläge. Es ist gut, dass
sich alle Fraktionen weiterhin um eine Lösung bemühen
und dass wir uns bald im Sportausschuss intern erst einmal mit den Vorschlägen, die von der aktuellen Bundesregierung auf den Tisch gelegt wurden, befassen werden.
Mein persönlicher Wunsch und der meiner Fraktion
ist, dass wir in diesem Jahr - 25 Jahre nach der Wiedervereinigung - zu einer Entschädigungsleistung für die
damals minderjährigen Opfer des Zwangsdopings in der
DDR kommen werden. Vielleicht bekommen wir es ja
hin.
({6})
- Aber in der DDR gab es spezielle Fälle. Herr Hahn,
das wissen Sie mindestens genauso gut wie ich.
Insgesamt hinterlässt der Sportbericht deshalb für
mich doch eher einen faden Beigeschmack. Schon beim
letzten Mal wurde beschlossen, dass es im Sportbericht
einen Ausblick geben soll. Statt tragfähiger Konzepte,
wie dies Kollege Gienger vorhin angesprochen hat, finden sich meiner Meinung nach aber eher Andeutungen,
Ankündigungen und Ausflüchte.
Auch warten wir noch auf den großen Wurf des Innenministers hinsichtlich einer Reform der Spitzensportförderung. Sie haben heute wieder angekündigt, dass es
jetzt langsam losgeht. Das ist gut. Bis 2016 sollen dann
auch die Konzepte auf dem Tisch liegen. Wir sind schon
sehr gespannt darauf und erwarten selbstverständlich,
dass Sie uns auch im Sportausschuss eng miteinbeziehen. In den großen Linien sind wir uns in vielen Fällen
einig. Deshalb wäre es gut, wenn das Parlament miteinbezogen werden könnte. Ansonsten sind wir gehalten,
dazu vielleicht noch eine Ausschussanhörung durchzuführen. Es wäre aber gut, wenn wir da gemeinsam an einem Strang ziehen würden. Es ist uns allen sehr wichtig,
in diesem Bereich gute Dinge hinzubekommen; denn so
etwas macht man nicht alle Jahre.
In diesem Sinne: Schauen wir einmal, was passiert.
Die Grünen werden die Sportpolitik auch weiterhin kritisch begleiten.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu seiner ersten
Rede im Deutschen Bundestag erteile ich das Wort dem
Kollegen Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsident Peter Hintze
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Lazar, zu alt zum Trainieren bin ich nicht.
Allerdings gebe ich durchaus zu, dass es nur zur Bezirksliga reicht.
({0})
Aber zurück zum Spitzensport, mit dem wir uns hier
beschäftigen. Der Hochleistungssport ist die Marketingabteilung für den gesamten Sport in Deutschland. Lassen
Sie mich das kurz erläutern. Wenn wir auf den Sommer
2014 und den WM-Titel zurückblicken, so ist uns heute
noch die Faszination für den Fußball präsent. Was das
für die Vereine vor Ort und den Nachwuchs bedeutet, ist
schnell beschrieben.
Als langjähriger Jugendtrainer meines Heimatvereins
Rot-Weiß Seebach weiß ich, dass die Kinder- und Jugendmannschaften immer dann einen guten Zulauf hatten, wenn die Nationalelf stark war. Genauso verhält es
sich nicht nur im Fußball, sondern auch in vielen anderen Sportarten - überall dort, wo erfolgreiche Spitzensportler Vorbilder sind.
Im Übrigen gilt umgekehrt das gleiche Prinzip: Die
beste Basis für den Spitzensport ist eine große Basis im
Breitensport. Die Kinder und Jugendlichen, die heute begeistert trainieren, können - wenn auch nicht alle - die
Weltmeister von morgen sein. Das ist, meine Damen und
Herren, also ein guter Grund, dass wir heute den
13. Sportbericht der Bundesregierung diskutieren.
Dabei lässt sich festhalten: Die Sportwelt hat sich seit
dem 1. Sportbericht vor 44 Jahren stark verändert:
„Schneller, höher, weiter“ ist die Devise. Man kann sagen, dass die internationale Konkurrenz mittlerweile
größer geworden ist. Festzuhalten ist bei allen Herausforderungen, die der Minister beschrieben hat, aber
auch: Die Sportnation Deutschland steht insgesamt gut
da. Vor allem im Berichtszeitraum der vergangenen vier
Jahre hat die Bundesregierung viel für den Sport im
Land getan.
({1})
Basis war, ist und bleibt die positive Strahlkraft des
Sports besonders auf junge Menschen. In welche Richtung die Reise jetzt geht, hängt daher ganz wesentlich
von der Weichenstellung bei der Talentförderung ab.
Der aktuelle Sportbericht der Bundesregierung zeigt:
Das System der deutschen Olympiastützpunkte ist vorbildlich. Der Bund engagiert sich aus diesem Grund an
den Olympiastützpunkten in Form der bewährten Trainermischfinanzierung. Derzeit werden auf diese Weise
176 Trainerstellen finanziert.
Genauso wichtig sind die bundesweit 41 Eliteschulen
des Sports. Hier werden rund 11 500 Talente ausgebildet
und betreut. Sie bilden ein solides Fundament für den
Spitzensport. Dabei ist klar: Leistungssportler brauchen
eine klare und sichere Perspektive - im Übrigen auch
über ihre aktive Laufbahn hinaus.
({2})
Zentral ist dabei die Möglichkeit der dualen Karriere, die
der Bund bei Polizei, Zoll und Bundeswehr bietet. Es
gilt, das weiter zu sichern.
Gerade bei den Nachwuchstalenten ist das Zusammenspiel von Ausbildung und Leistungssport entscheidend für die Karriere und außerordentliche Leistungen;
denn die jungen Sportler müssen sowohl die Hürden in
der Schule als auch im Sport meistern, also Schule und
Spitzensport miteinander vereinbaren. An dieser Stelle
leisten die Laufbahnberater an den Olympiastützpunkten
eine hervorragende Arbeit.
Das alles trägt Früchte: Bei Olympia 2012 in London
waren über 100 nominierte Sportler - das waren fast
30 Prozent - Absolventen einer Eliteschule des Sports.
Neben dem Blick auf den Nachwuchs müssen wir
Sportpolitiker aber vor allem auch die Potenziale, Trends
und Entwicklungen im Sport im Fokus haben. Genau mit
diesen Chancen beschäftigt sich die Sportwissenschaft.
Wenn wir sehen, dass sich der aktuelle Sportbericht auf
fast 20 Seiten allein mit der Sportwissenschaft befasst,
dann wird deutlich, was hier für den Sport drinsteckt.
Lassen Sie mich beispielhaft zwei Institute nennen,
die im Wissenschaftlichen Verbundsystem Leistungssport eng verzahnt miteinander arbeiten: das Institut für
Angewandte Trainingswissenschaft, IAT, in Leipzig, und
das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten, FES, in Berlin.
Das IAT entwickelt präzise abgestimmte Trainingsmethoden für Athletinnen und Athleten. Diese Optimierung des Trainings ist für die Sportler von sehr großem
Wert, aber ebenso komplex. Es bedarf nämlich einer
ganzheitlichen Analyse des sportartspezifischen individuellen Belastungs- und Trainingsniveaus. 2013 konnten
beim IAT erstmals über 1 000 solcher spezieller Komplexuntersuchungen durchgeführt werden. Das IAT erhält jetzt nach den Haushaltsaufwüchsen jährlich eine
Förderung von rund 7 Millionen Euro aus dem Haushalt
des BMI.
Gemeinsam mit dem FES entwickeln wir für materialabhängige Sportarten innovative Sportgeräte, um den
Athleten einen Materialvorteil zu verschaffen. Ich habe
vorhin erwähnt, dass die weltweite Konkurrenz immer
größer wird. Genau dieser Materialvorteil kann hier die
nötigen Zehntel oder Hundertstel für die Goldmedaille
bringen. Es war deshalb eine nachhaltige Entscheidung,
das FES im aktuellen Haushalt mit knapp 5 Millionen
Euro - das ist ein Budgetaufwuchs um 1,4 Millionen
Euro - auszustatten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland gilt als
Land der Ingenieure. Wir sind Weltmeister bei Patenten
und Innovationen. Es ist daher richtig und gut, dass auch
unsere Athletinnen und Athleten von dem jeweils neuesten Stand der Technik profitieren.
({3})
Das tun sie auch: Die Hälfte der 44 in London gewonnenen Medaillen konnte mit Unterstützung von FES-Technologien errungen werden.
Nach dem enttäuschenden Abschneiden der Bobpiloten in Sotschi - auch das wurde heute erwähnt - gab es
auch Kritik. Die Ursachen wurden gefunden und im
Übrigen auch bei uns im Sportausschuss ehrlich analysiert. Bei der EM in La Plagne am vergangenen Sonntag
holte der Zweierbob Gold und der Viererbob Bronze.
Wir sehen also: Die Tendenz ist wieder klar steigend.
({4})
In den vergangenen Jahren haben wir im Hinblick auf
große Sportveranstaltungen im eigenen Land eine stolze
Bilanz vorzuweisen: von der WM im Rennrodeln in Altenberg bis zum Kanurennsport in Duisburg.
({5})
Wir haben immer wieder eindrucksvoll gezeigt, dass wir
eine Sportnation sind. Mit erfolgreichen Athleten und einem großartigen Publikum ist für mich eines klar: Wir
können Olympia!
Viele stellen an ein solches sportliches Megaevent zurecht Anforderungen in puncto Nachhaltigkeit und
Transparenz. Das Ende vom Lied kann aber nicht sein,
dass wir keine Olympischen Spiele mehr in Europa haben und diese nur noch dort stattfinden, wo wir tatsächlich ein großes Fragezeichen hinter Nachhaltigkeit und
Transparenz setzen müssen.
({6})
Daher kann ich es kaum nachvollziehen, dass wenige, jedoch sehr aggressiv, sowohl in Hamburg als auch in Berlin die Bewerbung um die Olympischen und Paralympischen Spiele torpedieren.
({7})
Eingangs habe ich von der großen positiven Kraft des
Sports, Frau Künast, besonders für junge Menschen gesprochen. Aus diesem Grund brauchen wir die Olympischen Spiele in Deutschland. Der Minister hat vorhin darauf hingewiesen, dass wir dafür auch Begeisterung
wecken können. Gerade die Talente sind hierfür die richtigen Adressaten. Die Talente, die heute in den Nachwuchskadern trainieren, werden diejenigen sein, die
2024 im eigenen Land um Medaillen kämpfen. Was für
eine tolle Perspektive! Was für ein toller Ansporn für
junge Sportler! Lassen Sie uns deshalb gemeinsam werben, um die Sommerspiele 2024 nach Deutschland zu
holen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Lieber Herr Kollege Steiniger, im Namen des ganzen
Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag. Ich hoffe, dass noch viele muntere und interessante Reden darauf folgen werden.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jeannine Pflugradt, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Sport war und
ist ein immer wichtiger werdender Bestandteil unseres
gemeinschaftlichen Lebens. Wer Sport treibt, lernt,
Spielregeln zu akzeptieren, zu tolerieren und mit Siegen
und Niederlagen umzugehen. Wer sich sportlich in einem Verein betätigt, erlernt den Umgang mit seinen
Sportkameraden und somit auch den Umgang innerhalb
unserer Gesellschaft. Gerade in der heutigen Zeit, einer
Zeit voller Veränderungen, voller Orientierungsprobleme und Schnelllebigkeit, sind Sport sowie Sportvereine wichtige Stabilisatoren und ein Garant für Kameradschaft und Geselligkeit.
({0})
Ehrenamtliches Engagement ist das Fundament eines
jeden Vereins und im Grunde das Fundament unserer
funktionierenden Gesellschaft. Sportvereine können allen Menschen, jeder Zielgruppe den Bewegungsdrang
ergänzende Angebote machen und sind darüber hinaus
ein gesellschaftlicher Anlaufpunkt für die soziale Integration. Jeder Mensch sollte daher freien Zugang zu allen sportlichen Angeboten erhalten.
({1})
Vor ganz anderen Herausforderungen stehen Leistungs-, also Spitzensportlerinnen und Spitzensportler,
die aus ihrem Sport kaum finanziellen Gewinn erzielen
können. Sie erreichen zwar Spitzenplätze bei hochkarätigen Veranstaltungen, können aber den dazugehörigen finanziellen Aufwand nicht ausgleichen. Diese Sportlerinnen und Sportler stehen häufig vor der Entscheidung,
ihre sportliche Karriere abzubrechen oder sie im besseren Fall mit einer beruflichen Karriere zu verbinden, um
zusätzlich Möglichkeiten zu schaffen, nach Karriereende
auf eigenen Füßen zu stehen. Sie wissen sicherlich, dass
ich hier nicht von Fußball und Tennis rede, sondern eher
von Leichtathletik, Kanurennsport oder Eisschnelllauf.
Es darf nicht sein, dass sich Sportler zwischen beiden
Karrierewegen entscheiden müssen. Vielmehr muss die
Option bestehen, beides optimal und zielgerichtet sowie
erfolgreich zu verknüpfen. Das Ziel, im Leistungssport
erfolgreich zu sein, macht intensives Training und Wettkämpfe im In- und Ausland notwendig.
An dieser Stelle möchte ich einen kleinen, aber sehr
eindringlichen Gruß an die Verantwortlichen im Innenministerium senden, die im Rahmen der vergangenen
Haushaltsplanungen versucht haben, die finanziellen
Mittel für die Projekte „Jugend trainiert für Olympia“
und „Jugend trainiert für Paralympics“ zu kürzen. Das
sind genau die Leute, die einen Wettkampf vor dem
Fernseher verfolgen und über einen nur fünften oder
sechsten Platz meckern, ohne jeglichen Fachverstand für
den Leistungssport.
({2})
Wer so etwas versucht, hat nicht die geringste Ahnung
von den Belastungen und Entbehrungen angehender
Spitzensportler und der Notwendigkeit, sie über solche
Projekte zu motivieren. Gerade solche Projekte sind für
die Breite gedacht. Ohne Breite gibt es keine Spitze. Das
haben Sie, Herr Minister - leider ist er nicht mehr anwesend -, vorhin in Ihrer Rede gesagt. Bitte versuchen Sie
nicht noch einmal, die Mittel zu kürzen. Wir passen auf.
Es müssen geeignete Rahmenbedingungen für duale
Laufbahnen geschaffen werden, die unbedingt über die
Maßnahmen des Bundes hinausgehen. Ich meine hier einen angemessenen rechtlichen und finanziellen Rahmen
sowie einen maßgeschneiderten Ansatz, der den verschiedenen Sportarten Rechnung trägt. Zwar fördert der
Bund via Bundeswehr, Bundespolizei und Zoll zweite
Karrierewege deutscher Sportler, aber wir müssen auch
an diejenigen denken, die sich keine Zukunft bei Bundesbehörden vorstellen können. Wir sollten zusammen
mit Unternehmern Programme und Initiativen erarbeiten, die es den Sportlern in Deutschland ermöglichen,
Sport und Beruf oder Ausbildung gleichsam zu absolvieren. Teilzeitstudiengänge oder Teilzeitarbeit sind gute
Beispiele. Ausbildungszeiten könnten verlängert werden, oder das Alter bei der Erstausbildung für diese Fälle
könnte angehoben werden.
Vielleicht empfiehlt sich aber auch die zusätzliche
Einrichtung eines runden Tisches, um spezielle Programme und Projekte so sportlernah wie möglich zu entwickeln und die Umsetzung beider Laufbahnen effektiv
zu steuern. Ich auf jeden Fall wäre dabei.
Die Deutsche Sporthilfe leistet mit ihren fünf privaten
Förderern einen bedeutenden und überaus wertvollen
Beitrag bei der finanziellen Unterstützung unserer Athletinnen und Athleten. Das möchte ich an dieser Stelle
ausdrücklich betonen. 3 800 deutsche Sportlerinnen und
Sportler werden in über 50 Sportarten mit circa
12,5 Millionen Euro jährlich finanziell sowie beratend
gefördert - und das nicht mit Bundesmitteln, sondern
ausschließlich über Spenden oder Wirtschaftskooperationen.
Jetzt zu uns Amateuren. So nenne ich uns jetzt einmal
hier im Hause.
({3})
- Ich möchte niemandem zu nahe treten; ich gehe nur
von mir persönlich aus. - Einen Großteil des Sports treiben wir, auch als Nichtleistungssportler, in der freien
Natur. Wir gehen spazieren, laufen, wandern, wir paddeln und schwimmen, fahren im Winter Ski oder, oder.
Die Umwelt ist dabei für den Sport nicht nur Ressource,
sondern vor allem Partner.
Ein umweltbewusster Sport begründet sich in dem
rationalen Interesse an einer nachhaltigen Nutzbarkeit
des Raumes für das Sporttreiben. Ein umweltbedachter
Sport begründet sich zudem auch in der Idee von gegenseitiger Achtung und Fair Play als Werte zwischen
Sportlern sowie der eigenen Person in deren Lebenswelt.
Damit man einander im Sport begegnen kann, bedarf es
eines nachhaltigen Gleichgewichts zwischen Nutzung
und Schutz von Natur und Umwelt.
In diesem Sinne werden schon seit langem zahlreiche
Anstrengungen durch die Bundesregierung in Kooperation mit den Sportverbänden, den Vereinen und den
Sporttreibenden unternommen. Diese Anstrengungen
heißt es weiter zu unterstützen und voranzubringen. Mit
verschiedenen Leitprojekten wird der organisierte Sport
in Kooperation mit den zuständigen Ministerien sowie
weiteren wichtigen Partnern schon jetzt in vielen Bereichen seiner Verantwortung gerecht.
Der organisierte Sport in Deutschland setzt mit seinen
Programmen zu Umwelt- und Klimaschutz und mit seinem Engagement für internationale Sportgroßveranstaltungen zukunftsweisende Maßstäbe, um einen Sport im
Einklang mit der Natur zu ermöglichen. Dies wurde insbesondere bei der Bewerbung Münchens um die Austragung der Olympischen und der Paralympischen Winterspiele 2018 mit dem umfangreichen Umwelt- und
Nachhaltigkeitskonzept deutlich.
Sportorganisationen sind beim Umwelt- und Klimaschutz auf die Unterstützung und die aktive Begleitung
durch die Politik angewiesen. Eine nachhaltige Sportentwicklung in Deutschland kann nur mit allen Beteiligten
gemeinsam verfolgt werden. Eine dem Grundsatz der
Wahrung des Naturerbes folgende Sportpolitik unterstützt den organisierten Sport auch künftig kraftvoll bei
den gemeinsamen Herausforderungen, um den Klimaund Umweltschutz im und durch den Sport weiter voranzubringen.
Sport frei!
({4})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Gudrun Zollner, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! „Deutschland bewegt sich!“ Diesen Trailer
kennen wir wahrscheinlich alle. Jeder von uns ist hoffentlich in einem Sportverein Mitglied. Sport ist zentraler Bestandteil des sozialen Lebens und Bindeglied der
Gesellschaft. Er inkludiert, integriert und induziert. Er
eint die Nationen und verbindet Menschen, ohne dass es
eine Sprache braucht. Mehr noch: Sport ist für mich
auch ein Synonym für Frieden und Völkerverständigung.
({0})
Ich spreche heute nicht nur als Sportpolitikerin, sondern auch als Familienpolitikerin zu Ihnen. Viele Pro8174
jekte, die im vorliegenden Sportbericht der Bundesregierung aufgelistet sind, beziehen sich auf Familien,
Senioren, Frauen und Jugend. Auf diese Bereiche
möchte ich besonders eingehen.
Generationenübergreifend einander begegnen, gemeinsam aktiv sein, das ist Familiensport. Um die Familienfreundlichkeit im Sport bundesweit voranzubringen,
hat das Bundesfamilienministerium zusammen mit dem
DOSB 2011 und 2012 das Modellprojekt „Sport bewegt
Familien - Familien bewegen den Sport“ durchgeführt.
Durch die gemeinsamen sportlichen Aktivitäten und die
dadurch miteinander verbrachte Zeit wurde der Zusammenhalt in den Familien gestärkt - ein Erlebnis für alle.
Für unsere Kinder ist Sport für die körperliche, kognitive, emotionale und soziale Entwicklung unerlässlich.
Als Einzel- oder Mannschaftssport vermittelt er Kompetenzen, was das Internet oder eine Playstation nie erreichen können. Laut einer Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland sind 28 Prozent
der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen täglich
eine Stunde körperlich aktiv. Das heißt im Umkehrschluss, dass 72 Prozent die Empfehlung der WHO nach
Alltagsaktivität oder sportlicher Aktivität nicht umsetzen. Im Vorschulalter folgt noch die Hälfte der Kinder
der WHO-Empfehlung, im Jugendalter zwischen 14 und
17 Jahren sind es nur noch 12 Prozent
({1})
Das sollte für uns alle ein Alarmzeichen sein. Der vorliegende Sportbericht zeigt viele Möglichkeiten auf, um
diesem Trend entgegenzuwirken.
Auch in der zweiten Lebenshälfte ist Sport mit seinen
vielfältigen Angeboten ein wichtiger Bestandteil zur
Aufrechterhaltung der körperlichen, aber auch geistigen
Leistungsfähigkeit. Er ist eine wichtige Gesundheitsvorsorge.
({2})
Der Seniorensport sichert eine längere Mobilität für
eine selbstständige Lebensführung und hilft, die Lebensqualität im Alter zu erhalten und zu fördern. Der vorliegende Bericht zeigt viele Anregungen für die sogenannte
Generation 50 plus auf, zur Nachahmung sehr zu empfehlen.
Ein für mich sehr wichtiger Punkt im Sportbericht ist
der Abschnitt „Frauen und Mädchen im Sport“. Die Aktion „Gewalt gegen Frauen - nicht mit uns!“ wurde zusammen mit den Kampfsportverbänden im DOSB durchgeführt. Gewaltprävention ist unerlässlich und kann
Frauen und Mädchen wirkungsvoll vor möglichen Übergriffen schützen. Hier setzt auch das bundesweit eingerichtete Telefon „Gewalt gegen Frauen“ an, um einen
niedrigschwelligen Zugang für eine erste Anlauf- und
Kontaktstelle zu garantieren.
„Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern“, kommt Ihnen diese Formulierung bekannt vor?
Passend zur derzeitigen Debatte um die Frauenquote findet man auf Seite 103 des Sportberichts: „Frauen an die
Spitze“. Das damit verbundene Projekt fördert gezielt
das zivilgesellschaftliche Engagement von Frauen, um
ihnen Wege in die Führungsgremien des Sports zu ebnen. Aber keine Angst, es wird keine 30-Prozent-Quote
gefordert und eingeführt.
Aber was wäre unser Sport ohne die vielen Millionen
Ehrenamtlichen, denen ich an dieser Stelle ein großes
Dankeschön zurufen möchte.
({3})
Mit der Nationalen Engagementstrategie reagiert die
Bundesregierung auf die wachsende Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Mit der
Initiative „Junges Engagement im Sport“ wurden unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Religion oder
Kultur chancengerechte Zugänge zum Engagement im
Sport eröffnet. Neue Formen wurden erprobt, um verstärkt auch jungen Menschen in besonderen Lebenslagen
Wege aufzuzeigen, sich in Strukturen der Zivilgesellschaft zu integrieren. Gerade im Hinblick auf die aktuelle Debatte über das Ehrenamt und den Mindestlohn
müssen wir aber darauf achten, den freiwilligen Einsatz
nicht durch Überbürokratisierung und zusätzliche Dokumentationspflichten zu ersticken.
({4})
Eine Ausnahme vom Mindestlohn für als gemeinnützig
anerkannte Vereine würde ich deshalb sehr begrüßen.
Auch für eine Vereinfachung bezüglich der Vorlage
des erweiterten Führungszeugnisses setze ich mich ein.
Eine zentrale Abfragemöglichkeit beim Bundeszentralregister könnte die Kommunen enorm entlasten.
Wir müssen den Ehrenamtlichen dankbar sein für die
vielen Tausend Stunden, die sie in ihrer Freizeit für das
Gemeinwohl einbringen.
Der Bund nimmt seine Verantwortung aber nicht nur
national wahr; er engagiert sich auch gezielt in der Entwicklungszusammenarbeit. Auf Initiative unseres Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, Dr. Gerd Müller,
({5})
werden unter anderem Kinder und Jugendliche unterstützt, deren Leben von Armut, Unsicherheit und Angst
geprägt ist. Besonders Mädchen sollen neue Lebensperspektiven entwickeln können. Aufbauend auf dem Fußballsport, werden gewaltfreie Räume für sie geschaffen.
Ein besonderes Augenmerk des BMZ liegt aktuell auf
der Initiative „Mehr Platz für Sport - 1 000 Chancen für
Afrika“. Als Wohlstandsland sehe ich uns hier in der
Pflicht, dabei zu helfen, Life Skills zu vermitteln.
Das Scheitern der Bewerbung meiner Landeshauptstadt München gemeinsam mit der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen und dem Landkreis Berchtesgadener Land um die Ausrichtung der Olympischen und
Paralympischen Winterspiele 2018 habe ich persönlich
sehr bedauert. Den Ausgang der Bürgerentscheide für
die weitere Bewerbung für 2022 müssen wir akzeptieren. Ich sehe es allerdings als verpasste Chance, der Welt
zu zeigen, dass Olympische Spiele auch im Einklang mit
der Natur veranstaltet werden können, nämlich nachhaltig und ohne überbordenden Pomp.
({6})
Ich durfte als Kind die Sommerspiele 1972 miterleben - ein für mich immer noch beeindruckendes Erlebnis. Auch heute ist das Olympiastadion ein einzigartiges
Wahrzeichen von München, das von Menschen als Erholungs- und Eventort Sommer wie Winter gern genutzt
wird.
Apropos Eventort: Die Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Letzter Satz. - Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens möchte ich meine Rede mit dem
olympischen Gedanken beenden, mit der Friedensbotschaft und dem Aufruf zur Waffenruhe.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Matthias Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man in so einer Debatte als zwölfter
von 13 Rednern dran ist,
({0})
dann ist es wahrlich eine sportliche Herausforderung,
jetzt noch Punkte zu finden, die bisher niemand erwähnt
hat. Ich will mich ihr trotzdem stellen.
({1})
- Kollege Grindel hat als 13. Redner zum 13. Sportbericht natürlich den Vorteil, dass er sagen kann: So ein
Glück, dass heute nicht Freitag, der 13., ist, sondern
Freitag, der 6.! Freitag, den 13., haben wir erst nächste
Woche.
({2})
Ich habe trotzdem eine Sache gefunden, die ich gern
sagen möchte und die mir sehr am Herzen liegt. Ich
möchte nämlich, Herr Kollege Krings, der Sportabteilung herzlich danken. Sie ist momentan in einer schwierigen Situation, kurz vor dem Umzug nach Berlin, was
für alle persönlich sehr schwierig ist. Ihr ist es trotzdem
gelungen, sehr sauber, sehr sachlich einen umfassenden
13. Sportbericht zu erstellen. Ich würde mich freuen,
wenn Sie den Dank aller Fraktionen an die Sportabteilung weitergeben würden.
({3})
An die Zuhörerinnen und Zuhörer gerichtet: Im
Sportbericht ist wirklich alles drin. Ich gehe davon aus:
Einige von Ihnen sind auch Mitglied in einem Sportverein, sind aktive Sportler, manche vielleicht sogar im Vorstand oder an anderer Stelle ehrenamtlich tätig. Wenn
Sie einmal etwas für den Überbau brauchen: Ein Blick in
den Sportbericht der Bundesregierung lohnt immer! Es
ist alles drin.
({4})
- Bis auf die Selbstkritik; sehr gut. Die Kollegen sind
heute sehr erfinderisch.
Ich möchte etwas zur Weltsportministerkonferenz sagen. Ich möchte den Gedanken aufgreifen, den die Kollegen Mutlu und Gienger auch schon aufgenommen haben. Die Bundesregierung scheint mit den Ergebnissen
der Weltsportministerkonferenz sehr zufrieden zu sein.
Die Weltsportministerkonferenz findet sich in diesem
Bericht an zwölf verschiedenen Stellen. Ich denke, die
Bundesregierung kann zu Recht mit den Ergebnissen zufrieden sein, die sich am Ende in der Berliner Erklärung
in 19 Punkten finden.
Ich möchte trotzdem auf etwas hinweisen, was sich in
der letzten Sportausschusssitzung abgespielt hat. Wir
hatten die Gewinner der „Sterne des Sports“ in der Sportausschusssitzung. Gewonnen hat der Fußballverein „Bananenflanke“
({5})
aus Regensburg - zu Recht -, der eine Fußballliga für
Kinder mit geistiger Behinderung organisiert. Ein Vater
sagte uns dann im Sportausschuss, er hätte es sehr viel
lieber gesehen, wenn sein Sohn in einen inklusiven
Sportverein hätte gehen können, und fragte, was wir dafür täten, damit dies künftig möglich sei. Herr Krings,
Sportabteilungsleiter Böhm hat mit der Weltsportministerkonferenz geantwortet. Er hat völlig richtig geantwortet - das stimmt schon -, aber in den Augen des Vaters
konnte man sehen, wie weit die Sportpolitik von der
Realität entfernt ist. Manchmal ist das so, und dieser
Hinweis richtet sich an uns alle, nicht nur an die Bundesregierung, schon gar nicht an den Abteilungsleiter. Er
richtet sich an uns alle, immer daran zu denken, die
Sportpolitik für die Vereine, für die Menschen in unserem Land, die Sport treiben, zu machen.
({6})
Ein zweites Beispiel, das in die gleiche Kerbe haut,
haben wir als Sportausschuss vorgestern in Brüssel gesehen, als wir dort mit dem Sportkommissar und den EU8176
Matthias Schmidt ({7})
Parlamentariern gesprochen haben, die das Programm
Erasmus plus sehr lobten,
({8})
ein mit einer Förderung von 265 Millionen für die
nächsten sieben Jahre sehr groß angelegtes Programm.
Es ist als ein Programm annonciert, das den Vereinen
und dem Ehrenamt helfen soll. Aber die Hürden sind in
der Tat so hoch, dass es für die Vereine extrem schwer
ist, überhaupt daranzukommen. Auch das ist ein Beispiel, das uns daran erinnern sollte, dass wir die Politik
für die Menschen im Land machen.
({9})
Natürlich gibt es auch sehr, sehr gute Beispiele, wo
die Sportpolitik genau das macht, und das ist für mich
ausdrücklich im Bereich des Sports von Menschen mit
Behinderungen. Dort ist jeder Euro, den wir als Haushaltsgesetzgeber investieren, gut investiert. Die Menschen, die dort Sport treiben, sind nicht nur sportliche,
sondern auch menschliche Vorbilder. Ich finde, da können wir nicht genug tun. Pierre de Coubertin, der Gründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, würde - ich
wage die Prognose - heute bei den Paralympics auf der
Tribüne sitzen, weil dort die Werte, die er für den Sport
seinerzeit ausgerufen hat, vorbildlich gelebt werden.
Diese Unterstützung müssen wir weiterführen.
({10})
Diese Unterstützung schließt das Ehrenamt ausdrücklich ein. Im Bereich des Sports von Menschen mit Behinderungen gibt es vier Verbände: den Deutschen
Behindertensportverband, den Deutschen GehörlosenSportverband, den Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbund und Special Olympics Deutschland.
Sie werden von zwei männlichen und zwei weiblichen
Präsidenten geleitet: von Herrn Beucher und Herrn
Wiencek, Frau Reymann und Frau Krajewski, die alle
hervorragende Arbeit mit ihren Vorständen leisten und
den Sport ehrenamtlich vorantreiben.
Dies ist die Stelle, Herr Krings, wo folgender Nebensatz zu „Jugend trainiert für Olympia“ und „Jugend trainiert für Paralympics“ gestattet sein muss: Es war unglücklich, wie sich das Ministerium an dieser Stelle in
dem Versuch verhalten hat, das eine gegen das andere
auszuspielen.
({11})
Ich bin froh, dass wir als Haushaltsgesetzgeber zweimal
standhaft geblieben sind und „Jugend trainiert für Olympia“ und „Jugend trainiert für Paralympics“ sowie den
Deutschen Behindertensportverband weiter fördern.
({12})
Das letzte Thema, das ich gern ansprechen möchte
- Kollege Tempel von den Linken hat es schon gestreift -, ist das Thema Sport und Lärm. Es findet sich
nur ein kleiner Absatz im Sportbericht, auf Seite 130.
Dort ist - Herr Krings, dafür sind übrigens Ihre Kollegen
vom Umweltministerium zuständig; das richtet sich
nicht direkt an das Innenministerium - die Sportanlagenlärmschutzverordnung, kurz SALVO, zitiert. Das ist ein
schöner Name, er kommt aus dem Lateinischen, hat auch
etwas mit „gesund“ zu tun. Zu der SALVO schreiben die
Autoren, sie habe sich grundsätzlich bewährt, weil es einen Ausgleich zwischen den Interessen des Sports und
anderen Interessen gebe. Da - so habe ich den Eindruck ist dem Autor etwas die Feder ausgerutscht; denn wir
alle wissen aus unseren Wahlkreisen: Sport und Lärmschutz sind, wenn sie aufeinandertreffen, ein massives
Problem. Wir müssen dafür eine neue Lösung finden.
Wir haben im Sportausschuss darüber debattiert. Wir
haben sehr gute Vorschläge, beispielsweise des Deutschen Städtetages, erhalten. Er hat das ganz sauber aufgelistet: Muss es sonntags von 13 bis 15 Uhr eine Mittagspause geben? Ich meine: Nein. Wie lange darf man
Sport werktagsabends treiben? Ich denke: bis 22 Uhr.
Wie werden Altanlagen geschützt? Das ist ein Auftrag
an uns alle hier im Parlament, im Jahr 2015 etwas zu bewegen. In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn
wir das gemeinsam mit der Bundesregierung angehen
und für den Sport etwas tun.
Vielen herzlichen Dank.
({13})
Als letztem Redner dieser Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Reinhard Grindel, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Ehrenamt ist hier völlig zu Recht immer wieder in den
Reden erwähnt worden. Man muss daran erinnern, wenn
man sagt: „Ohne gute Breite keine gute Spitze“, dass in
den Vereinen, an der Basis, die Nachwuchs- und Talentförderung stattfindet, die Weichen gestellt werden. Das
machen die Ehrenamtlichen. In diese Richtung geht die
große Kritik, die wir von den Vereinen hören. Nehmen
wir zum Beispiel den Sportentwicklungsbericht der
Sporthochschule Köln. Vereine wurden gefragt: Was
sind eure größten Risiken? Das mit Abstand größte Risiko für die Vereine ist, keine ehrenamtlichen Mitarbeiter mehr zu gewinnen. Warum? Weil sie unter der Last
der Bürokratie ächzen. Also hören wir auf, die Vereine
zusätzlich mit Bürokratie zu belasten. Lassen wir sie
nicht allein im Dschungel des Steuerrechts, sonst werden
wir Probleme haben, Menschen zu finden, die sich gerne
im Ehrenamt engagieren.
({0})
Ich bin dem Kollegen Pilger außerordentlich dankbar,
dass er, als Rheinland-Pfälzer sicherlich nicht ohne
Rücksprache mit einem prominenten Mitglied seiner
Landesgruppe, angedeutet hat, dass wir für die Auswirkungen des Mindestlohns auf den Sport eine Lösung
finden wollen. Wir reden hier nicht über Wirtschaftsunternehmen, wir reden über gemeinnützige Vereine, die
nicht Gewinne erzielen wollen, sondern alles Geld für
den Sport verwenden. Denen wollen wir helfen.
Ein Problem stellen in diesem Zusammenhang die Vertragsspieler dar. Der Vertragsspieler steht nicht in einem
Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis. Die Konstruktion
des Vertragsspielers ist gewählt worden, damit ein Spieler in der Winterpause nicht einfach den Verein wechselt.
Zudem müssen Vereine die Chance haben, für die Entwicklung von Talenten, die zu größeren Vereinen wechseln, eine Ausbildungsentschädigung zu bekommen. Insofern ist meine herzliche Bitte, gerade auch an die
Kollegen der Sozialdemokratie, dieses Thema pragmatisch zu betrachten und nicht ideologisch.
Das Kernproblem ist - Kollege Pilger hat es angesprochen -, dass die Vereine aus Gründen der einfacheren Abwicklung diese Vertragsspieler bei den Minijobzentralen angemeldet haben. Sie wollen steuer- und
sozialversicherungsrechtliche Abgaben auch leisten. Insofern wäre es nicht gut, wenn wir mit einer bürokratischen Regelung die Bemühungen der Vereine, ehrlich zu
sein und Steuern und Sozialabgaben zu leisten, infrage
stellen würden. Ich will keine zusätzliche Bürokratie. Ich
will nicht, dass Bargeld in der Umkleidekabine gezahlt
wird. Das müssen wir alle verhindern, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({1})
Es ist auch richtig, dass der Kollege Schmidt das
Thema Sport und Lärm angesprochen hat. Ein großes
Thema, das zunehmend wichtiger wird - auch das steht
im Sportentwicklungsbericht -, ist die Vereinbarkeit von
Schule und Verein. Durch die Ganztagsschulen - eine
bildungspolitisch sicherlich gute Einrichtung - werden
die Möglichkeit für unsere Sportvereine, mit den Kindern und Jugendlichen zu trainieren, verkürzt, werden
die Trainingszeiten verkürzt. Deswegen brauchen wir an
dieser Stelle bessere Rahmenbedingungen. Mancher
Verein wandelt seinen Grandplatz in einen Kunstrasenplatz um, weil er bessere Trainingsbedingungen bieten
will. Wenn der Verein als Folge davon weniger Sportstunden anbieten könnte, weil es dann eine Neuanlage
ist, für die andere Lärmimmissionswerte gelten, und der
Altanlagenbonus weggefallen ist, dann wäre auch das
zusätzliche Bürokratie, und die Ehrenamtlichen würden
sagen: Meine Güte, was macht die Politik da? Lasst uns
doch in Ruhe unser Training durchführen, wenn wir
schon immer schwierigere Rahmenbedingungen haben.
({2})
Wenn wir Kinder für den Sport gewinnen wollen,
dann - so steht es im Sportbericht völlig zu Recht - dienen erfolgreiche Athletinnen und Athleten als Vorbilder,
denen man nacheifert und auf deren Integrität man vertraut. Der Sport hat eine große gesellschaftspolitische
Bedeutung. Er hat eine große Integrationskraft, übrigens
auch, wenn es um die Arbeit mit Flüchtlingskindern
geht, die von zentraler Bedeutung ist. Deswegen betont
der Sportbericht:
Nur der saubere Sport vermag seine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Wirkung zu entfalten und
auf diese Weise die finanzielle Unterstützung des
Sports durch die öffentliche Hand zu legitimieren.
Gleichzeitig ist uns im Sportausschuss die Studie mit
dem etwas sperrigen Titel „Dysfunktionen des Spitzensports: Doping, Match-Fixing und Gesundheitsgefährdungen aus Sicht von Bevölkerung und Athleten“ vorgestellt worden. Nur 53,4 Prozent der befragten Athleten
sagten glasklar Nein zum Dopingmissbrauch. 5,9 Prozent räumten die Einnahme von Dopingmitteln ein. Gut
40 Prozent haben die Antwort auf die entsprechende
Frage verweigert. Nun soll man die Ergebnisse dieser
Studie nicht dramatisieren; aber man kann wohl auch
nicht behaupten, dass im Kampf gegen Doping unter generalpräventiven Gesichtspunkten alles in bester Ordnung sei.
Die Maßnahmen des bestehenden Dopingkontrollsystems des organisierten Sports mit seinen verbandsrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten stellen einen wichtigen
Grundpfeiler in der Dopingbekämpfung dar. Besonders
ist hier die gute Arbeit der NADA zu erwähnen, die wir
von der Koalition noch einmal mit zusätzlichen Finanzmitteln gestärkt haben. Aber angesichts der von mir beschriebenen hohen gesellschaftspolitischen Bedeutung
des Sports muss auch der Staat seine Mittel zum Schutz
der Integrität des sportlichen Wettbewerbs in vollem
Umfang nutzen. Deshalb ist es richtig, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn wir in Deutschland ein Anti-Doping-Gesetz bekommen,
({3})
mit dem wir übrigens auch die Sportgerichtsbarkeit und
die Schiedsvereinbarungen auf eine klare gesetzliche
Grundlage stellen wollen. Wenn dazu kartellrechtliche
Ergänzungen des entsprechenden Gesetzes notwendig
sind, dann wollen wir sie vornehmen.
Wir brauchen eine Reform des CAS. Der Sportausschuss wird diese Fragen im April bei seinem Besuch in
Lausanne vor Ort ansprechen. Aber wir brauchen doch
wohl tatsächlich eine weltweit gültige Sportgerichtsbarkeit. Es darf doch nicht sein, dass am Ende Gerichte in
Kasachstan, in Russland oder in Jamaika darüber entscheiden, ob Sportler bei internationalen Sportereignissen tatsächlich starten dürfen oder nicht. Das kann auch
nicht im Interesse unserer Spitzensportler sein. Deswegen bin ich über manche Äußerung von Spitzensportlern
etwas überrascht. Wir brauchen eine Reform der Sportgerichtsbarkeit und ein Anti-Doping-Gesetz, weil wir
gerade die Chancen unserer Sportler im internationalen
Wettbewerb schützen und hier für Fair Play sorgen wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Es ist angesprochen worden, dass wir im Koalitionsvertrag nicht nur ein Anti-Doping-Gesetz angekündigt
haben, sondern auch ein Gesetz gegen Spielmanipulationen. Dazu sagt der Sportbericht:
Die Integrität des Sports wird zwar in erster Linie
durch das Regelwerk der Sportverbände gewährleistet. Allerdings zeigen Phänomene wie die Manipulation von Sportwettbewerben, dass staatliche Interventionen und Sanktionen notwendig sind …
Insofern will ich persönlich anfügen, dass ich es richtig
finde, dass wir nicht nur ein Anti-Doping-Gesetz, sondern auch ein umfassendes Gesetz zum Schutz der Integrität des sportlichen Wettbewerbs schaffen, in dem es
klare Regelungen gegen Spielmanipulationen gibt.
Die Menschen werden sich vom Sport abwenden,
wenn sie den Glauben an das, was den Sport ausmacht,
verlieren und die Ungewissheit des sportlichen Ergebnisses nicht mehr gegeben ist. Deshalb gilt auch hier,
dass der Staat seine Schutzpflicht mit den Mitteln des
Strafrechts wahrnehmen muss.
({5})
Am Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein
letzter Gedanke. Wir reden viel von den sozialen Netzwerken und denken dann an unseren Laptop, unser
Handy oder iPad. Ist es wirklich richtig, hier von sozialen Netzwerken zu reden? Einmal Stromausfall, und alle
Freunde sind weg!
({6})
Wäre es nicht richtig, wenn wir bei sozialen Netzwerken
an den Sportverein um die Ecke denken? Erleben wir
nicht dort das wirklich Soziale im Leben:
({7})
miteinander gewinnen und verlieren, sich für andere einsetzen und dankbar Unterstützung entgegennehmen?
Kabinenschweiß riechst du nicht auf Facebook.
({8})
Da musst du schon selber auf den Platz, in den Sportverein gehen und mitmachen.
({9})
Dafür gute Rahmenbedingungen zu schaffen, ist Aufgabe der Sportpolitik.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3523 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nationales Konversionsprogramm entwickeln Umwandlung der Militärwirtschaft in eine
Friedenswirtschaft ermöglichen
Drucksache 18/2883
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Verteidigungsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Abgeordneten Katrin Kunert, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutsche Sturmgewehre sind bei jener mexikanischen Polizeieinheit aufgetaucht, die mit dem Mord an
43 Studenten in Verbindung gebracht wird; das berichtete vor kurzem der Spiegel.
Deutsche Waffen sind leider ein Exportschlager und
finden immer ihren Weg. Die Bundesrepublik ist nach
den USA und Russland weltweit der drittgrößte Exporteur von Waffen und Rüstungsgütern.
2013 hat die Bundesregierung Rüstungsexporte im
Wert von 8,34 Milliarden Euro genehmigt. Während
deutsche Rüstungskonzerne sich eine goldene Nase verdienen, wird in anderen Teilen der Welt mit ihren Waffen
gekämpft und getötet. Der dritte Platz bei den Waffenexporten ist für uns kein Grund zur Freude; im Gegenteil: Er sollte uns zutiefst beschämen.
({0})
Wir wollen endlich politische Konsequenzen daraus
ziehen. Wir fordern ein generelles Verbot von Waffenund Rüstungsexporten, und wir fordern, dass keine WafKatrin Kunert
fen und Rüstungsgüter mehr in Deutschland produziert
werden.
({1})
Die Linke schlägt Ihnen heute vor, gemeinsam ein nationales Konversionsprogramm zu erarbeiten. Wir schlagen Ihnen vor, schrittweise die militärische Produktion
in eine zivile Produktion umzuwandeln. Zudem wollen
wir militärische Liegenschaften, also Kasernen, Schießplätze und Waffenlager, künftig nur noch für zivile Zwecke nutzen.
({2})
Wir sind davon überzeugt: Konversion kann gelingen.
Seit 1990 gab es gerade im Osten Hunderte Schließungen von Militärliegenschaften der Sowjetarmee und der
NVA. Oft wurden die Kommunen bei der weiteren Nutzung der Liegenschaften alleingelassen. Das wollen und
müssen wir ändern.
({3})
Die Kommunen müssen finanziell unterstützt und
Konversionspartnerschaften müssen geschlossen werden.
Die Stadt Stavenhagen in Mecklenburg-Vorpommern ist
ein gutes Beispiel für eine solche Partnerschaft. In Stavenhagen werden ehemals militärische Gebäude und
Flächen zivil genutzt. In einem neu entstandenen Gewerbepark gibt es unter anderem metallverarbeitende Industrie, Lebensmittelindustrie und einen der größten Solarparks im Land. Wir wollen, dass dieses Beispiel Schule
macht.
({4})
Bisher wurde mit der wirtschaftlichen Bedeutung von
Bundeswehrstandorten und der Rüstungsindustrie Politik gemacht. Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, die als
Argument genannt werden, sind bis heute heilige Kühe,
mit denen die Menschen und die Kommunen in eine gewisse Abhängigkeit gedrängt werden. Alternativen zur
militärischen Nutzung werden in der gesellschaftlichen
Debatte durch politische Mehrheiten unterdrückt.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, seit Anfang
der 90er-Jahre hat Deutschland einen tiefen Strukturwandel erlebt. So hat es EU-Förderprogramme gegeben,
um den wirtschaftlichen Umstellungsprozess in Deutschland abzusichern. Mithilfe der Programme KONVER I
und II wurden in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Unternehmensansiedlungen
gefördert. Den Programmen fehlte damals der friedenspolitische Aspekt. Es ging immer nur um reine Strukturpolitik, und es gab auch nie ein Konzept zur Einbindung
des Bundes. Und genau hier setzt unser Antrag an.
Wir fordern ein nationales Konversionsprogramm.
Alle möglichen Akteure wie die Menschen in den Kommunen, Friedensorganisationen, Kirchen und Gewerkschaften sind in die Erarbeitung einzubeziehen. Der
Bund, die Länder, die Kommunen, die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben und die Bundeswehr müssen konkrete Aufgaben übernehmen.
({5})
Wir schlagen vor, dass auf Bundesebene ein Konversionsfonds eingerichtet wird. Der Fonds soll zunächst mit
2,5 Milliarden Euro Startkapital aus dem Reingewinn der
Bundesbank ausgestattet werden. Zusätzlich soll die
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ihre Gewinne
aus Immobilienverkäufen in den Fonds einspeisen. Das
Geld soll die Umwandlung der Militärwirtschaft in die
zivile Wirtschaft sozialverträglich absichern.
Um eines klarzustellen: Im unmittelbaren Kernbereich der wehrtechnischen Industrie, also für die Herstellung von Waffen und Munition, sind lediglich circa
17 000 Menschen beschäftigt. Die Konversion dieser
Arbeitsplätze sollte doch möglich sein.
({6})
Die über 80 000 Beschäftigten in der Sicherheitsindustrie arbeiten bereits jetzt in Bereichen, die rein zivil nutzbar sind. Das betrifft die Aufklärungstechnik, IT-Systeme, das Einsatzmanagement sowie die technische
Ausrüstung zum Schutz von Infrastruktur.
Der Erhalt von qualifizierten und gut bezahlten Arbeitsplätzen ist Kernstück des Konversionsprogramms.
Wir wollen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg
entscheiden. Die Linke unterstützt deshalb die Forderung der IG Metall nach einem Branchenrat „Wehr- und
Sicherheitstechnik“. Die Gewerkschaften und Betriebsräte sollen die Umstrukturierung in ihren Unternehmen
aktiv mitgestalten.
Die Möglichkeiten für Konversionsprojekte sind vielfältig. Verkehr, Maschinenbau, Elektrik, Technik, Umweltschutz, Raumfahrt oder Schifffahrt bieten hierfür ein
riesiges Potenzial. Ein Konversionsprozess ist kein normaler und selbstverständlicher Prozess, sondern ein extrem notwendiger Prozess. Jeder Technologiepark anstelle eines Munitionsdepots bedeutet Innovation statt
Stillstand,
({7})
und jede neue Wohnanlage mit einem Naherholungsgebiet anstelle einer Halle für Kampfflugzeuge bedeutet
mehr Lebensqualität für die Menschen, und jedes Forschungsprojekt mit Blick auf die Konversion an den
Universitäten bedeutet Friedensperspektiven.
Die Linke will, dass Deutschland zur Friedensmacht
wird. Wir wollen aus der Militärwirtschaft aussteigen.
Lassen Sie uns darüber ordentlich in den Ausschüssen
streiten.
Schönen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Frau Kunert, um es gleich vorweg zu sagen: Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass
wir eine starke Bundeswehr haben. Ich bin stolz auf unsere Bundeswehr und die Leistungen, die sie vollbringt.
({0})
Wir wollen, dass unsere Bundeswehr auch mit den technologischen Fähigkeiten, die in Deutschland entwickelt
und weiterentwickelt werden, kämpfen kann, wenn es
notwendig ist.
({1})
Uns liegt - in neuem Gewand - ein Antrag vor, der
sich eigentlich um den Export von Rüstungsgütern dreht.
Einmal mehr versuchen Sie hier, ein Bild zu zeichnen,
als würden wir leichtfertig in der ganzen Welt Waffen
und technologische Fähigkeiten verbreiten.
({2})
Sie wissen ganz genau, dass das Gegenteil der Fall ist.
({3})
Wenn Sie im westlichen Bündnis bündnisfähig bleiben wollen - das ist notwendig für Deutschland, weil wir
die Sicherheit alleine nicht gewährleisten können -,
dann müssen Sie natürlich auch technologisch etwas zu
bieten haben, gerade als Hochtechnologiestandort, der
Deutschland ist.
({4})
Es ist abenteuerlich, hier eine Deindustrialisierung zu
fordern, zu fordern, dass man in irgendeinen Kuschelzustand kommt.
Wenn wir technologisch spitze sind und im Bereich
der Sicherheits- und Wehrindustrie über Können verfügen, dann müssen wir das fördern. Wir müssen der Industrie auch gelegentlich beim Export helfen, weil die
Abnahme im eigenen Land nicht hinreichend ist, um
Kernfähigkeiten zu erhalten.
({5})
Sie wissen genau, dass alle Entscheidungen über den
Export von Rüstungsgütern Einzelfallentscheidungen
sind, dass sie in einem dichten Netz rechtlicher Regulierungen gefällt werden und dass wir weder in Gebiete liefern, in denen ein Angriffskrieg droht, noch in Länder,
bei denen ein hinreichender Verdacht besteht, dass die
Güter zum Zwecke der Repression oder für sonstige
Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden.
({6})
- Wenn Sie ein bisschen Dinge zur Kenntnis nehmen
und aufpassen würden, könnten Sie klüger reden. Sie
wissen, dass wir in Saudi-Arabien mit den Rüstungsgütern im Wesentlichen dafür Sorge tragen, dass die
Grenzen gesichert werden können, was ein selbstverständliches Recht eines jeden Staates ist. Das hat eine
ausgesprochen friedensstiftende Wirkung. Viele der
Konflikte, die wir gegenwärtig in Afrika erleben, hängen
damit zusammen, dass Grenzen nicht kontrolliert werden können und nicht geachtet werden, dass Grenzen
dort willkürliche Linien sind, die nicht vernünftig kontrolliert werden können.
Wenn Sie weiter aufgepasst hätten, wüssten Sie auch,
dass wir mit der Verstärkung des Schiffseinsatzes im Bereich der Küstenwacht einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten, dass die internationalen Handelswege, der internationale Seeverkehr, vor Bedrohungen durch Piraten,
Salafisten und allen möglichen anderen Hasardeure und
Verbrecher, die dort unterwegs sind, geschützt sind. Das
ist für Deutschland natürlich ein ganz wesentlicher
Punkt. Als eine führende Welthandelsnation sind wir auf
freie Handelswege angewiesen. Dazu müssen wir einen
Beitrag leisten. Wenn das mit deutscher Technologie geschehen kann - deutsche Technologie wird nachgefragt;
wir drängen sie niemandem auf -, dann bin ich als deutscher Abgeordneter stolz darauf. Genauso wie wir in anderen Hochtechnologiebereichen weltweit führend sind
und deshalb die Produkte, ob Autos oder Werkzeugmaschinen, einen reißenden Absatz finden, sind wir auch in
dem Bereich gut. Dass wir in der Handelsstatistik nur
Dritte sind, zeigt, dass wir sehr zurückhaltend damit umgehen.
({7})
Sonst würden wir den Kampf um Platz eins und zwei mit
den USA und der Sowjetunion sicher leicht aufnehmen
können.
({8})
Die politischen Grundsätze, nach denen wir das alles
handhaben, sind übrigens in rot-grüner Regierungszeit
aufgestellt worden. Diese gelten nach wie vor. Sie wissen, dass es in diesem Bereich wie auch generell in der
Außenpolitik bei uns eine bemerkenswerte Kontinuität
gibt.
({9})
Es geht um Ihr grundsätzliches Nein zum Militär, zumindest für Deutschland. Ob Sie das in anderen Teilen
der Welt genauso sehen, weiß ich nicht.
({10})
Ich erinnere mich noch an viele Äußerungen von Ihren
Vorgängerorganisationen - die man ohne Probleme als
fünfte Kolonne der Sowjetunion hier im Land bezeichnen konnte -, die alles Mögliche, was an Interventionen,
an Menschenrechtsunterdrückung seitens der Sowjetunion in der Welt stattfand, fröhlich bejubelt haben und
ansonsten hier das Geschäft im ideologischen Kampf für
die falsche Seite besorgt haben.
({11})
Ich will Ihnen zeigen, wie weit wir mit unserer Zurückhaltung gehen. Nehmen Sie als Beispiel die Republik China, Taiwan - ein freies Land, ein Leuchtturm der
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Asien. Wir liefern
nicht dorthin. Die USA tun es, und zwar - das will ich
dazu sagen - glücklicherweise; denn sonst hätte Taiwan
wahrscheinlich schon das gleiche traurige Schicksal wie
Tibet ereilt.
Ich will Sie, wenn Sie hier im Bundestag immer wieder diese Platte auflegen, auch daran erinnern, was Ihre
Kollegen vor Ort in Wolgast dazu gesagt hätten, wenn
der Auftrag für die Grenzpatrouillenschiffe für SaudiArabien nicht gekommen wäre. Dann wären dort die
Lichter ausgegangen, und die Werft wäre heute geschlossen.
({12})
- Natürlich geht es darum. - Sie müssen sich einfach daran gewöhnen, dass die Wirklichkeit - auch wenn Sie sie
immer wieder abstreiten - mächtiger ist als Ihr Gerede.
Sie müssen den alten Grundsatz beherzigen: Schauen Sie
sich die Wirklichkeit an, dann sehen Sie, was nottut.
({13})
Wir haben gegenwärtig eine Situation, in der wir uns
über einen Mangel an außenpolitischen Brennpunkten
nicht beklagen können.
({14})
Es gab einen Angriff auf die Ukraine mit der Annexion
der Krim, und es gibt eine anhaltende Destabilisierung
der Ostukraine. Dort kämpfen russische Kräfte. Dies
wäre wahrscheinlich nicht passiert, wenn sich die
Ukraine seinerzeit nicht darauf eingelassen hätte, gegen
Garantie auf die eigenen Atomwaffen zu verzichten.
({15})
Dann wäre solch ein Angriff nicht so leicht erfolgt.
({16})
Wir erleben, dass wir vor gewaltigen Herausforderungen in puncto Sicherheit und Verteidigung stehen. Wenn
wir nach Afrika schauen, wenn wir in den Mittleren
Osten schauen, sehen wir, mit welcher Brutalität und Rigorosität dort Kräfte wie IS, Boko Haram und andere
vorgehen, die - wie hat es Cem Özdemir gesagt? - wahrscheinlich nicht in einem Stuhlkreis zu bewegen sind,
sondern nur mit Waffengewalt. Sie können weiter Ihre
Träume von Pflugscharen und Winzermessern träumen.
Sie werden dort mit Pflugscharen und Winzermessern
nichts erreichen. Sie werden das Schwert und das Feuer
brauchen, um das zu beenden.
Ich will, um das Thema noch etwas auszuweiten, sagen, dass wir uns überlegen müssen, ob wir eigentlich
für die Verteidigung genug tun. Ich bin den Kollegen
von der CSU - leider ist in dieser Debatte kein CSURedner angemeldet - dankbar, dass sie auf ihrer Klausurtagung dieses Thema in den Mittelpunkt gerückt haben. Wir sind von unserer Verpflichtung, die wir in der
NATO eingegangen sind, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, weit entfernt. Wir erleben, dass Länder wie Schweden und Finnland, die immer der klassische Inbegriff von sogenannten Friedensländern waren,
die wenig Wert auf militärische Stärke gelegt haben, darüber nachdenken und auch schon darangehen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, weil die Bedrohung in
der Welt größer geworden ist.
({17})
In einer solchen Situation kommen Sie mit dem Vorschlag, dass wir unsere Rüstungsindustrie abschaffen
sollen. Wir sind stolz und froh, dass wir sie haben. Wir
versuchen, ihr zu helfen, wo wir können.
({18})
Wir dürfen nicht zulassen, dass wir schutzlos werden
und dass wir keine Bündnisfähigkeit mehr haben.
Letzter Gedanke. Wir alle miteinander haben im Januar des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz
gedacht. Auch diese Befreiung ist nicht mit Pflugscharen
oder was weiß ich was durchgeführt worden, sondern
von einer kampfkräftigen Armee. Da schlägt es dem
Fass den Boden aus, dass von Ihnen, wenn wir sehen,
wie der französische Präsident Hollande und unsere
Bundeskanzlerin Angela Merkel momentan versuchen,
eine Friedenslösung für die Ukraine hinzubekommen,
der Vorschlag kommt, dass Putin zum 70. Jahrestag des
Kriegsendes vor diesem Haus reden soll. Das schlägt
dem Fass wirklich den Boden aus und zeigt, dass Sie
nichts aus der Geschichte gelernt haben, sondern - im
Gegenteil - so wie Ihre Vorgängerpartei nach wie vor als
fünfte Kolonne Moskaus zu bezeichnen sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Katharina Dröge, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Antrag der Linken zur Rüstungskonversion wirft einige Fragen auf, über die wir hier im Bundestag tatsächlich diskutieren sollten. Allerdings - das
muss ich vorwegschicken -: Ihre Antwort in diesem Antrag überzeugt mich so nicht.
({0})
Richtig ist, dass wir hier im Bundestag darüber diskutieren müssen, dass es auf dem europäischen Rüstungsmarkt veränderte Rahmenbedingungen gibt. Seit langem
ist der Trend festzustellen, dass sowohl die europäischen
Staaten als auch die NATO-Staaten insgesamt ihre Verteidigungsetats konsolidieren wollen und angekündigt
haben, ihre Militärausgaben zu kürzen. Aus grüner Sicht
ist das eine gute und richtige Entwicklung.
({1})
Die Frage ist nur: Wie lautet die Antwort der Bundesregierung darauf? In keinster Weise - weder sicherheitspolitisch noch menschenrechtlich - wäre es verantwortlich, wenn die deutsche Rüstungsindustrie, weil der
Umfang ihrer Ausfuhren gegebenenfalls stagniert, ihre
Ausfuhren in sogenannte Drittstaaten, insbesondere in
autoritäre Regime im Nahen Osten, steigern würde. In
keinster Weise wäre es verantwortlich, wenn der Bundessicherheitsrat diese Exportpolitik durch eine gezielte
Missinterpretation der Rüstungsexportrichtlinien auch
noch unterstützt.
({2})
Genau diese Entwicklung ist bei Genehmigungen des
Bundessicherheitsrates jedoch immer wieder zu beobachten. Erst diese Woche hat die Bundesregierung im
Wirtschaftsausschuss die neueste Ausfuhrliste des Bundessicherheitsrates vorgestellt. Auf dieser Liste stehen
Radargeräte, Software und Technologien für Grenzsicherungssysteme, Zieldarstellungsgeräte und Schießsimulationssysteme, die nach Saudi-Arabien geliefert
werden.
Herr Willsch, Sie haben hier gesagt, dass all die Güter, die wir nach Saudi-Arabien liefern, nicht zum Zwecke der Repression gegenüber der eigenen Bevölkerung
eingesetzt werden. Schauen Sie sich die Schießsimulationssysteme, die zur Ausbildung von Scharfschützen
eingesetzt werden können, einmal an. Können Sie mir
wirklich mit Sicherheit sagen bzw. mir garantieren, dass
diese Ausbildung nicht auch für Repressionen im eigenen Land genutzt werden kann? Die Bundesregierung
konnte mir diese Frage im Wirtschaftsausschuss nicht
klar beantworten.
({3})
Zur Bilanz Ihrer noch sehr kurzen Regierungszeit gehört auch - das muss man einfach so feststellen -, dass
die Lieferung einer Panzerfabrik nach Saudi-Arabien genehmigt wurde, ebenso die Lieferung Tausender Kleinwaffen in den Jemen, nach Saudi-Arabien, Indonesien,
in den Oman und in die Vereinigten Arabischen Emirate,
sowie die Bürgschaft für Patrouillenboote für Saudi-Arabien. All das gehört zur Bilanz Ihrer Regierungszeit. Da
helfen auch die Berichte von vor zwei Wochen nicht,
dass Sie einen Stopp für Rüstungsexporte nach SaudiArabien verhängen wollen. Die Zahlen, die Sie uns immer wieder präsentieren, sprechen eine andere Sprache,
und nur die können wir interpretieren.
({4})
Aus meiner Sicht missachten Sie mit Ihrer Politik in
verantwortungsloser Weise Ihre eigenen Rüstungsexportrichtlinien, zu deren Einhaltung Sie sich im Koalitionsvertrag verpflichtet haben. Ich kann Sie nur daran erinnern: Rüstungsexporte in Drittstaaten müssen eine
Ausnahme bleiben. Solche Exporte dürfen keinesfalls
genehmigt werden, wenn die Sorge besteht, dass diese
Güter im Landesinneren für Repressionen gegen die
eigene Bevölkerung oder in einer bedenklichen Menschenrechtslage genutzt werden. Ich muss Sie ganz
ernsthaft fragen: Wollen wir wirklich miteinander über
die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien diskutieren?
Besteht für irgendwen in diesem Parlament ein Zweifel
an der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien?
Aus meiner Sicht passiert hier etwas anderes. Aus
meiner Sicht stellen Sie, obwohl es Ihre eigenen Grundsätze ausschließen, doch Wirtschaft und Arbeitsplatzeffekte vor menschenrechtliche Erwägungen. Dabei hat
selbst Ihr Wirtschaftsminister gesagt, diese Argumente
dürften im Kern nicht Leitlinie unserer Außen- und Sicherheitspolitik sein.
({5})
Deshalb kann ich wirklich nur an Sie appellieren: Entwickeln Sie eine vernünftige Gesamtstrategie für die Rüstungspolitik und die europäische Rüstungswirtschaft!
Analysieren Sie: Welche sind die betroffenen Industrien
und die Zulieferunternehmen, die von einem Absatzrückgang gegebenenfalls betroffen wären? Welche Industrien und welche Technologien sind in der Europäischen Union sicherheitspolitisch relevant? Wo ergeben
sich auch auf europäischer Ebene Synergieeffekte? Denn
wir brauchen mit Sicherheit nicht in jedem EU-Mitgliedstaat eigene Werften, um den begrenzten Bedarf an
Schiffen und Marine innerhalb der EU zu befriedigen.
Wenn Sie all das analysieren, dann ergibt sich daraus,
dass man auch den Umbau der Rüstungsindustrie in zivile Wirtschaftszweige fördern kann. Darüber reden wir
selbstverständlich - das hat die IG Metall ja auch gefordert - mit den Gewerkschaften und den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in diesen Betrieben.
Den Vorschlag der Linken, hierfür 2,5 Milliarden
Euro an öffentlichen Geldern in die Hand zu nehmen,
halte ich allerdings für völlig verfehlt. Wir können das
Geld der Steuerzahler schon für sinnvollere Investitionen in Deutschland ausgeben.
({6})
Wichtig ist, die Rüstungsindustrie selbst in die Verantwortung zu nehmen, einen entsprechenden Umbau zu
gestalten. Dazu braucht es endlich klare Signale von der
Bundesregierung, dass wir die eigenen Rüstungsexportrichtlinien ernst nehmen. Dann hat nämlich auch die
Rüstungsindustrie Planungssicherheit, weil klar ist, dass
es keine neuen Absatzmärkte in Drittstaaten geben wird
und somit auch ein entsprechender Umbau dieser Betriebsteile notwendig ist.
({7})
Das Wort hat der Kollege Bernd Westphal für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wie schön wäre es, wenn man auf der Welt Frieden ohne
Waffen schaffen könnte. Die Realität sieht leider oft anders aus. Das ignorieren Sie von der Linken leider in Ihrem Antrag.
({0})
Die Welt ist eben nicht so, wie wir sie uns wünschen.
Das zeigt die Lage in den Krisenregionen der Welt, aktuell in der Ukraine, das zeigen aber auch die barbarischen Zustände im Nordirak und anderswo in der Welt.
Es gibt weltweit einen Bedarf an Waffen, um sich zu
schützen. Deshalb werden Waffen produziert und auch
exportiert. In Deutschland benötigen wir Waffen für die
Bundeswehr zur Landesverteidigung, aber auch für die
Polizei und die Sicherheitswirtschaft
({1})
und darüber hinaus zur Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung in den Bündnissen, deren Verpflichtungen wir nachkommen müssen. Deshalb brauchen wir Rüstungsgüter, die die Länder vor Ort besitzen
und die in den Regionen zur Absicherung und Abschreckung angewendet werden können.
({2})
Sie fordern in Ihrem Antrag „Konversion der Rüstungsindustrie in zivile Wirtschaftsbereiche“. Das ist
- das sage ich Ihnen - erst einmal ausschließlich Sache
der Unternehmen. Diese müssen entscheiden, für welche
Produkte sie Produktionslinien aufbauen und welche
Technologien sie anreizen.
({3})
2010 hat das Bundeswirtschaftsministerium ein industriepolitisches Konzept beschlossen, welches zur Stärkung der zivilen Sicherheitswirtschaft in Deutschland
beiträgt. Dieses Konzept wird von zahlreichen Unternehmen der Branche auch genutzt. Es sichert nämlich
ein zweites Standbein außerhalb der Wehrtechnik.
Derzeit erarbeitet das Wirtschaftsministerium gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesverteidigungsministerium ein Strategiepapier zur Stärkung der
Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist, Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsbranche den Einstieg in den
Bereich der zivilen Sicherheitstechnologien oder deren
Weiterentwicklung zu ermöglichen.
({4})
Das Ministerium hat in diesem Jahr auch ein auf zwei
Jahre angelegtes Innovationsförderprogramm im Umfang von 7,5 Millionen Euro pro Jahr gestartet. Es soll
Unternehmen ebenfalls den Umstieg auf die Herstellung
von zivilen Gütern erleichtern.
Die weltweite Bedeutung der Märkte für zivile Sicherheitstechnologie ist in den letzten Jahrzehnten enorm
gewachsen. Zahlreiche Unternehmen aus Deutschland,
auch aus dem Bereich der Verteidigungsindustrie, nehmen weltweit eben wegen ihrer technologischen Entwicklungen einen Spitzenplatz ein. Diese auf Abwehr
und Schutz ausgerichtete Technologie ist weltweit nachgefragt.
Sie fordern weiter die Umwidmung militärischer Liegenschaften. Im Koalitionsvertrag wurde eine verbilligte
Abgabe von ehemals militärisch genutzten Grundstücken vereinbart. Die Abgabe soll „mit Rücksicht auf die
vielen am Gemeinwohl orientierten Vorhaben der Kommunen, wie der Schaffung bezahlbaren Wohnraums und
einer lebendigen Stadt, … realisiert“ werden. Für die
nächsten vier Jahre stehen dafür 100 Millionen Euro zur
Verfügung. Der Bund unterstützt die Länder auch bereits
in erheblichem Umfang im Rahmen der Mittelansätze
bestehender Förderprogramme. Ebenso räumt der Bund
den von Konversion betroffenen Gebietskörperschaften
auch den Erstzugriff auf diese Liegenschaften ein.
In meinem Wahlkreis waren einmal fünf Kasernen.
Diese sind umgewidmet worden. Heute befinden sich an
deren Stelle Gewerbebereiche, in denen sich Handwerk
ansiedelt, kulturelle Nachnutzungen, aber auch in erheblichem Maße Naturschutzflächen. Das zeigt, dass wir
nicht bei null anfangen, sondern schon Erhebliches geschafft haben. In den letzten 25 Jahren ist viel passiert.
Vor diesem Hintergrund ist Ihr Antrag etwas eigentümlich formuliert.
({5})
Nun zu den Arbeitsplätzen: Unser Wirtschaftsminister
hat im September vergangenen Jahres einen ersten Branchendialog mit den Unternehmen der Sicherheits- und
Verteidigungswirtschaft aufgenommen. Auch IG Metall
und Betriebsräte sind selbstverständlich eingebunden.
Der Dialog hat zum Ziel, Maßnahmen zur Stärkung der
Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland
gemäß den Festlegungen im Koalitionsvertrag zu diskutieren. Auch das Thema Diversifizierung wurde erörtert.
Im März findet ein weiterer Dialog zu diesem Thema
statt. Wie man sieht, ist dieser intensive Dialog für Sozialdemokraten selbstverständlich und bedarf nicht erst
des Impulses oder eines Antrages der Linken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland verfolgt nicht das Ziel eines offensiven Verkaufs von Wehrtechnik. Genau das sind die Grundsätze von 2000, die
auch heute noch das Regierungshandeln bestimmen. Sie
sind restriktiv. Rüstungs- und Verteidigungsgüter werden nur zurückhaltend eingesetzt. Sie werden eben nicht
eingesetzt, um Konflikte weltweit zu erzeugen oder weiter anzuheizen, sondern sie dienen dem Frieden und der
Durchsetzung von Menschenrechten. Sie dienen der Sicherheit von Regionen. Sie dienen dem berechtigten
Schutz von Menschen, und vor allen Dingen helfen sie
- das ist wichtig -, geschützte Räume für den Einsatz
von Hilfskräften zu garantieren.
({6})
Die Linke fordert in ihrem Antrag eine Zwangskonversion aller Rüstungsbetriebe. Das werden wir ablehnen. Für die SPD geht es schwerpunktmäßig um Konversionsprogramme für Betriebe, die sich aufgrund
fehlender Nachfrage oder aus anderen Gründen verändern wollen. Die Forderungen der Linken zeigen, dass
Sie die außen- und sicherheitspolitischen sowie die industrie- und europapolitischen Realitäten nicht zur Kenntnis
nehmen. Die Fokussierung auf die Abschaffung und die
teilweise Diffamierung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie durch die Linken ist der falsche Weg. Sie
verstellt den Blick auf das Engagement unseres Landes
für Frieden in der Welt.
({7})
Unterstrichen wird dies vor allen Dingen durch den
Fokus unseres außen- und sicherheitspolitischen Handelns: Erst wenn alle vorgeschalteten Maßnahmen ausgeschöpft sind, ist der Einsatz militärischer Mittel möglich. Der Außenminister hat ja heute Morgen sehr
eindrücklich hier im Haus vorgestellt, welche Friedensinitiativen und präventiven Maßnahmen eingeleitet werden. Das muss man honorieren. Das darf man nicht einseitig betrachten. Kurt Schumacher hat einmal gesagt:
Nichts ist lehrreicher als die Wirklichkeit. - Diese Erkenntnis wünsche ich Ihnen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ingbert Liebing für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Fraktion Die Linke ausgesprochen
dankbar für diesen Antrag;
({0})
denn er dokumentiert eindrucksvoll, wie weit entfernt
von der Wirklichkeit Sie Ihre Politik in diesem Land und
in der Welt gestalten.
({1})
Dieser Antrag dokumentiert, dass Sie alles andere als
regierungsfähig sind.
({2})
Dies sollte für die Sozialdemokraten und die Grünen Anlass sein, alle Gedankenspiele über eine gemeinsame
Politik mit Ihnen zu beenden. Die Vorschläge in Ihrem
Antrag stellen unsere nationalen Sicherheitsinteressen
infrage und sind damit verantwortungslos. Dass Sie diesen Antrag stellen, verwundert nicht, da Sie schon lange
die Auflösung der NATO in Ihrem Programm haben.
({3})
Man mag ja von einer Welt ohne Krieg träumen, aber
die Wirklichkeit sieht nun einmal anders aus. Wir wissen: Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Im Moment erleben wir das Gegenteil. Gerade die
jüngste Vergangenheit zeigt doch, dass wir in verschiedenen Regionen der Welt eine zunehmende Radikalisierung mit kriegerischen Auseinandersetzungen erleben
müssen: Der Irak, Syrien und viele Regionen Afrikas
sind dafür traurige Beispiele.
({4})
Aber nicht die Waffen sind dafür die Ursache, sondern
die Tatsache, dass Menschen glauben, anderen Menschen und anderen Völkern ihre Ideologie oder ihre Religion aufzwingen zu können. Das ist die Ursache, die wir
angehen müssen, um ein friedliches Miteinander, Toleranz, die Achtung weltweiter Menschenrechte, Religionsfreiheit und den Schutz von Minderheiten durchzusetzen.
({5})
Darüber haben wir ja auch heute Morgen hier im Plenum
diskutiert.
Die Bundesregierung und wir als Unionsfraktion stellen uns dieser Aufgabe. Dabei brauchen wir keine Nachhilfe von den Linken.
({6})
Aber solange es diese Auseinandersetzungen in vielen
Regionen dieser Welt gibt, muss das oberste Gebot sein,
die Sicherheit und das Leben der Menschen zu schützen,
die bedroht sind. Dazu bedarf es auch der eigenen Wehrhaftigkeit.
Dafür haben wir hier in Deutschland die Bundeswehr
mit ihren Fähigkeiten. Gemeinsam mit unseren Partnern
wollen wir weltweit Krisen eindämmen und für Sicherheit sorgen. Die Initiative der Linken zur Abschaffung
der wehrtechnischen Industrie in Deutschland gefährdet
genau diese nationalen Interessen.
Es liegt in unserem nationalen Interesse, dass wir entscheiden, welche Ausrüstungsgegenstände die BundesIngbert Liebing
wehr braucht. Wir können es nicht allein einem Markt
überlassen, auf dem wir die Ausrüstungsgegenstände der
Bundeswehr beschaffen. Dies würde uns von anderen
abhängig machen. Sicherheitstechnische Ausrüstung lässt
sich nun einmal nicht von der Stange kaufen oder im Onlineshop erwerben.
({7})
Nein, wir selbst müssen im eigenen Land in der Lage
sein, die Ausrüstungsgegenstände und Technologien zu
beschaffen, die unsere Armee braucht. Dabei ist es sinnvoll, dies in guter Kooperation gemeinsam mit unseren
Partnern in der EU und in der NATO zu tun, aber eben
nicht in Abhängigkeit von anderen.
Die Beschränkung der wehrtechnischen Industrie allein auf die Ausrüstung der Bundeswehr greift dabei
aber zu kurz. Allein von Aufträgen der Bundeswehr
kann kein wehrtechnisches Unternehmen leben. So ist
die deutsche wehrtechnische Industrie bereits heute zu
circa 50 bis 70 Prozent vom Export abhängig.
({8})
Dabei unterliegt der Export von Rüstungsgütern sehr
hohen Hürden. Die Richtlinien, die schon angesprochen
worden sind, stammen aus dem Jahr 2000. Sie gelten
nach wie vor. Sie wurden von einer rot-grünen Regierung beschlossen.
({9})
Auf dieser Basis erfolgen heutige Entscheidungen über
Rüstungsexporte. Ich denke, dass diese Richtlinien, von
Rot-Grün eingeführt, nicht unter dem Verdacht stehen,
nur einseitig wirtschaftliche Interessen zu bedienen. Das
Gegenteil ist der Fall.
({10})
Die wehrtechnische Industrie stellt sicherlich einen
wichtigen wirtschaftlichen Faktor dar. Die Arbeitsplätze
in den Unternehmen sind wichtig und zum Beispiel gerade in den Küstenländern mit den Werften nicht zu verachten. Der Marineschiffbau ist für viele Werften eine
wichtige wirtschaftliche Grundlage. Aber die Sicherung
der Arbeitsplätze ist eben nicht das entscheidende Argument für die wehrtechnische Industrie.
Entscheidend dafür, nationale wehrtechnische Schlüsseltechnologien und erforderliche industrielle Kapazitäten zu erhalten, sind sicherheitspolitische Ziele. Sie ergeben sich aus einer Reihe von Gründen. Deutschland
braucht die Möglichkeit, die Ausstattung der Streitkräfte
im eigenen Land und im Bündnis gemeinsam mit den
strategischen Partnern selbst sicherzustellen.
Es geht auch darum, dass wir unsere eigene rüstungstechnische Reaktionsfähigkeit auf sicherheitspolitische
Veränderungen erhalten. Nur mit einer eigenen nationalen Rüstungsindustrie können wir im Rahmen der europäischen und der transatlantischen Rüstungsbeziehungen
eigene Interessen einbringen. Nur wer etwas einzubringen hat, der kann in Verhandlungen seine Position erfolgreich vertreten.
({11})
Ohne all diese Fähigkeiten würden wir in Abhängigkeiten geraten, die nicht in unserem nationalen Interesse liegen können.
Die Wehrtechnik in Deutschland ist leistungsfähig.
Diese 200 Unternehmen stehen für hohe technologische
und ökonomische Kompetenz. Die Zahl von 200 Unternehmen belegt auch die mittelständische Struktur der
wehrtechnischen Industrie. Es gibt keineswegs eine Konzentration auf wenige Großkonzerne. Dies alles können
und dürfen wir nicht aufs Spiel setzen und gefährden,
wie es die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert.
Kollege Liebing, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Keul?
Ja, bitte.
Bei all dem Stolz, Herr Kollege, auf die Leistungen
der deutschen Rüstungsindustrie frage ich mich: An was
denken Sie da konkret? A400M oder NH90, Euro Hawk
oder G36?
({0})
Aber ich hatte mich gemeldet, weil Sie eben in der
Frage der Entwicklung von Rüstungsgütern völlig zu
Recht sicherheitspolitische Erwägungen vorrangig betont haben. Deswegen frage ich Sie, warum Sie dann
dagegen sind, dass wir dieses Thema im Verteidigungsausschuss unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten
debattieren, und auf Überweisung in den Wirtschaftsausschuss bestehen, obwohl wir doch sinnvollerweise sagen
müssten: Im Verteidigungsausschuss ist dieses Thema
richtig.
({1})
Es ist gar keine Frage, dass es hier zu Überschneidungen der verschiedenen Themenbereiche kommt. Aber
der Antrag der Linken ist so formuliert, dass er auf ein
wirtschaftliches Programm hinausläuft.
({0})
Bei diesem Antrag zu Rüstungskonversion und Wirtschaftsprogrammen ist es logisch, ihn federführend in
den Wirtschaftsausschuss zu überweisen.
({1})
Der Antrag der Linken fordert auch ein Konversionsprogramm. Mit der Umstrukturierung der Bundeswehr
werden zunehmend Liegenschaften frei. Es ist seit vielen
Jahren ein gängiges Geschäft, für angemessene Nachfolgelösungen zu sorgen. Dabei geht es nicht nur um Geld.
Schließlich gibt es einzelne ehemalige militärische Liegenschaften in attraktiven Innenstadtlagen, bei denen es
überhaupt keine Probleme bei der Nachfolgenutzung
gibt. Andererseits gibt es aber auch sogenannte Einödstandorte, bei denen die Verwertung schon schwieriger
wird. Hier müssen alle Beteiligten zusammenwirken.
Die Standortgemeinden brauchen Unterstützung. Wir
leisten sie mit unserer Konversionspolitik.
Wie es aber nicht laufen sollte, erlebe ich an einem
Beispiel in meinem eigenen Wahlkreis. In Leck hat die
Bundeswehr einen Militärflugplatz aufgegeben. Die Gemeinde hat ein attraktives wirtschaftliches und gewerbliches Nachfolgenutzungskonzept entwickelt. Es gibt Interessenten, die sich dort ansiedeln wollen. Was aber
macht die Landesregierung in Kiel? Der Umweltminister
stellt diesen Flugplatz erst einmal vorläufig unter Naturschutz sicher. Das ist natürlich eine tolle Konversion hin
zu ziviler Nachfolgenutzung und wirtschaftlicher Entwicklung. Die Leute dort sprechen von „Wolferwartungsland“, was dort geschaffen wird. Ich stelle mir
Konversion anders vor.
({2})
Der Antrag der Linken ist kein ernsthafter Beitrag zur
Lösung der Probleme unserer Zeit, weder sicherheitspolitisch noch wirtschaftspolitisch. Er dokumentiert,
dass wir hier eben grundsätzlich unterschiedlicher Auffassung sind.
Es ist gut, dass die Koalition aus Union und SPD sich
in ihrem Koalitionsvertrag zu einer innovativen leistungs- und wettbewerbsfähigen nationalen Sicherheitsund Verteidigungsindustrie bekennt. Deswegen wollen
wir ausgewählte Schlüsseltechnologien erhalten und industrielle Fähigkeiten in unserem Land in diesem Sektor
bewahren. Dies alles wird jetzt regierungsintern ressortübergreifend in eine umfassende Strategie gegossen, mit
der wir unserer Verantwortung in diesem sensiblen Bereich gerecht werden. Der Antrag der Linken ist dazu
kein reeller Beitrag, und deswegen werden wir ihn auch
ablehnen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Karl-Heinz Brunner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Kollegin Kunert, ich frage mich schon: Können Sie die Energie, die Sie in Anträge wie diesen stecken, nicht sinnvoller einsetzen?
({0})
Ich weiß, dass die Opposition Fragen stellen, Gegenentwürfe präsentieren und Alternativen entwickeln
muss. Sie muss auch dann die Debatte vorantreiben,
wenn die Regierungskoalition, wie es gerade der Fall ist,
hervorragende Arbeit leistet; Außenminister FrankWalter Steinmeier hat dies heute Morgen eindrucksvoll
gezeigt.
({1})
Dass dies durchaus geht, zeigen manche Beiträge der
Grünen; wobei der sehr flott vorgetragene Beitrag der
Kollegin Dröge mich dann doch manchmal ein bisschen
ins Zaudern gebracht hat.
Was heute aus der linken Ecke des Hohen Hauses
dröhnt, bringt beim besten Willen niemanden weiter, weder in der Sicherheits- noch in der Verteidigungs- und
Rüstungspolitik und schon gar nicht in der Friedenspolitik. Der Antrag, den Sie zu einer sogenannten Friedenswirtschaft vorlegen, ist nichts anderes als - so möchte
ich es bezeichnen - ein selbstgefälliges, populistisches
Potpourri Ihrer schlechten Laune in Bezug auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik dieses Landes.
({2})
Ihr Antrag spricht den wirklich für Frieden und Sicherheit engagierten Menschen dieses Landes einfach
nur Hohn. Er schafft Unsicherheit und ignoriert die Leistungen und Bemühungen der Bundesregierung. Das
könnte man ja noch gelassen hinnehmen. Jedoch ignoriert er nicht nur die Fakten, sondern auch die Bedürfnisse der Menschen dieses Landes.
Machen wir doch einmal einen kleinen Faktencheck:
Erstens. Sie fordern ein nationales Programm zur
Umwandlung der Rüstungsindustrie in zivile Bereiche.
({3})
Das haben wir doch bereits. Konkret setzt sich das Wirtschaftsministerium dafür ein, dass Unternehmen des
Verteidigungssektors ein zweites ziviles Standbein aufbauen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern mit Geld.
Unter anderem gibt es seit diesem Jahr ein zusätzliches
Innovationsförderprogramm mit einem jährlichen Volumen von 7,5 Millionen Euro, das den Umstieg erleichtern soll. Nicht vergessen dürfen wir die gemeinsame
Strategie des Auswärtigen Amts und des Verteidigungsund Wirtschaftsministeriums, die gerade in Arbeit ist,
um die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in
Deutschland zu stäken.
Zweitens. Sie fordern, ungenutzte Liegenschaften der
Bundeswehr günstig zu verkaufen. Das tun wir bereits.
Seit 2002 haben die Städte, Märkte, Gemeinden und
Kreise ein Erstzugriffsrecht. Weil es manchmal hakte,
wird man außerdem ab 2015 noch einen Schritt weitergehen. Die Veräußerungsrichtlinien der BImA werden so
geändert - so sieht es der Haushaltsausschuss vor -, dass
der verbilligte Verkauf an die Kommunen ermöglicht
wird. Ich bin gespannt, ob die Linke dem dann zustimmen wird oder bei ihrer Phobie gegenüber allem, was
von der Bundeswehr kommt, wieder die bekannten Reflexe zeigen wird.
Drittens. Sie fordern einen Branchenrat „Wehr- und
Sicherheitstechnik“. Der Kollege Westphal hat dazu bereits ausgeführt, dass wir den bereits haben. Ich habe leider nur fünf Minuten Redezeit, deshalb lasse ich es bleiben, dies Punkt für Punkt vorzutragen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich bin es irgendwie leid, die Linken aufzuklären. Es erzürnt mich, dass
sie mit der Angst ihr Spiel treiben. Das Schüren einer
diffusen Angst folgt dem Gedanken, dass alles, was die
Bundeswehr macht, was von ihr kommt und was sie
braucht, böse sei.
Wir brauchen aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den konkreten Sicherheitsfragen unserer Zeit.
Wir brauchen eine echte Debatte über Rüstungsexporte
und Rüstungswirtschaft in Deutschland; dabei können
wir nicht ignorieren, dass wir gemeinsam mit UNO und
NATO in Verantwortung stehen. Wir können nun einmal
sehr gute Gefechtsfahrzeuge herstellen, und unsere Raketenabwehr und unsere U-Boote leisten einen Beitrag,
dieser Verantwortung nachzukommen.
Das heißt nicht, dass wir unsere Soldatinnen und Soldaten überall hinschicken. Für manche mag es überraschend sein: Aber gerade ein funktionierendes Militär
kann Puffer sein, kann abschrecken, kann Konflikte verhindern und Frieden bewahren. Diese Wahrheit zu sagen, ist unsere Verantwortung. Dies zu vertreten, erwarten, glaube ich, die Menschen dieses Landes von uns.
Kolleginnen und Kollegen, merken Sie sich: Schlimmer als Lügen sind Halbwahrheiten, ist diffuse Angstmacherei. Dieser Antrag liest sich fast wie ein lustiger
Trolleintrag voller Halbwahrheiten auf Facebook. Es
fehlen nur noch die Bildchen von traurigen Kätzchen
und den Links zu YouTube-Videos von Russia Today
unter der Überschrift „Muss man wissen“.
Meine Kolleginnen und Kollegen, zu einer echten Debatte um Rüstungstechnologie und Rüstungsexporte sagen wir: Ja, gerne. - Zu diesem Antrag sagen wir Nein.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2883 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Verteidigungsausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke - Federführung beim Verteidigungsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Ludwig, Barbara Lanzinger, Klaus Brähmig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Hiltrud Lotze, Burkhard Blienert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kulturtourismus in den Regionen weiterentwickeln
Drucksache 18/3914
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir
heute über einen der wichtigsten Wirtschaftszweige in
Deutschland sprechen, den Tourismus.
({0})
Nun gibt es viele Arten von Tourismus. Der von uns vorgelegte Antrag befasst sich mit dem Kulturtourismus.
Den wollen wir in Deutschland stärken.
Sie denken jetzt vielleicht: Warum das denn? Der
Kulturtourismus ist doch ein Selbstläufer. Deutschland
ist inzwischen das Kulturreiseziel Nummer eins in Europa - vor Frankreich und Italien. - Ja, Sie haben recht:
Wir haben in Deutschland einen wahren Schatz an Kultur: Museen, Theater, Opernhäuser, Festivals, Industriekultur und vieles mehr. Darüber hinaus haben wir ein unglaublich reiches Weltkulturerbe, wie meine Heimatstadt
Lübeck, deren Altstadt zum UNESCO-Welterbe gehört.
Sie ist als Kulturhauptstadt des Nordens ein wahrer Besuchermagnet.
Auch viele andere Großstädte haben in den letzten
Jahren überdurchschnittlich vom Tourismus profitiert.
Hier funktioniert das Zusammenspiel von Kultur und
Tourismus also hervorragend.
Wie aber sieht es in den ländlichen Regionen aus?
Auch sie haben ja einiges zu bieten, doch leider gelingt
hier der Austausch nicht immer so gut. Das wollen wir
jetzt ändern.
({1})
Wir werden die Kultur und den Tourismus mit einer „Initiative Kulturtourismus in den Regionen“ zum gegenseitigen Nutzen stärker zusammenbringen.
Das regionale Kulturangebot bietet oft wertvolle Alleinstellungsmerkmale für die Vermarktung. Zugleich
verschafft der Kulturtourismus den Kultureinrichtungen
neue Zielgruppen, mehr Besucherinnen und Besucher
und eine breitere Wahrnehmung. Das funktioniert aber
nur, wenn die Akteurinnen und Akteure in der Kultur
und im Tourismus die gleiche Sprache sprechen. Das ist
oft nicht der Fall; denn die Kultur und der Tourismus haben unterschiedliche Herangehensweisen: Museen und
Kulturstätten wollen in erster Linie ein umfassendes thematisches Angebot machen und die Kulturschätze mitunter vor zu starkem Andrang schützen. Für Hotels, Restaurants und Tourismusmarketing ist dagegen die
Gästenachfrage das A und O, nach dem Motto: Je mehr,
desto besser.
Leider funktioniert auch die Zusammenarbeit von
Stadt und Land oft nicht so gut. Wenn es gelingt, mehr
Verständnis füreinander und einen fruchtbaren Austausch der unterschiedlichen Interessen zu erreichen,
kann nur Gutes daraus erwachsen - für die Urlauber genauso wie für die Regionen und für die Menschen, die
dort leben und arbeiten.
({2})
Wir wollen mit unserer Initiative darüber hinaus dazu
beitragen, dass nicht jede Gemeinde nur für sich um ihren eigenen kleinen Kirchturm herum touristisch wirkt.
Wir schaffen Anreize und Möglichkeiten, sich überregional und über Landesgrenzen hinweg zu vernetzen.
Um diese Herausforderung zu bewältigen, brauchen
wir die Bundesregierung und unsere Tourismusbeauftragte. Ihre Aufgabe ist es nun, eine koordinierte „Initiative Kulturtourismus in den Regionen“ ins Leben zu rufen. Wichtigste Ziele hierbei sind:
Erstens. Die Entwicklung guter Vermarktungskonzepte für den Kulturtourismus soll gefördert werden.
Zweitens. Wir wollen eine Plattform für strategisches
kulturtouristisches Marketing entwickeln.
Drittens. Mit einem Bundeswettbewerb sollen vor allem im ländlichen Raum kulturtouristische Projekte initiiert werden.
Viertens. Wir wollen insbesondere überregionale kulturtouristische Projekte in jedem Bundesland modellhaft
fördern, wenn sie besonders innovativ sind und einen
barrierefreien Ansatz verfolgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Initiative
bringen wir den Kulturtourismus bundesweit noch ein
Stück weiter voran und verschaffen wir vielen Regionen
neue Perspektiven.
({3})
Dass das Thema auch in der Branche verstärkt im Trend
liegt, macht unter anderem eine neue eigene Halle für
Kulturtourismus auf der ITB im März deutlich.
Wichtig ist uns auch, die herausragende Bedeutung
des Tourismus noch stärker im Bewusstsein von Politik
und Gesellschaft zu verankern. Immerhin ist der Tourismus mit einer Wertschöpfung von rund 100 Milliarden
Euro einer der wichtigsten Wirtschafts- und Wachstumsmotoren, die wir in Deutschland haben, und er brummt,
wie die aktuelle Jahresbilanz 2014 belegt. Der Deutschlandtourismus hat mit 423 Millionen Übernachtungen
zum fünften Mal in Folge ein Rekordergebnis eingefahren. Das sind satte 3 Prozent mehr.
Dieses tolle Ergebnis ist natürlich nicht vom Himmel
gefallen. Nein, es ist vor allem das Verdienst der fast
3 Millionen engagierten und fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Tourismusbranche. Ich
freue mich deshalb sehr, dass wir uns jetzt endlich einmal ganz konkret bei ihnen bedanken können. Wir tun
das mit dem gesetzlichen Mindestlohn, der seit Januar
gilt und vor allem den Beschäftigten in der Tourismusbranche Verbesserungen bringen wird.
({4})
Ich bin mir sicher: Mit einer guten Lohnkultur klappt es
noch besser mit Tourismus und Kultur vor allem in den
Regionen.
Danke.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Kerstin
Kassner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Kulturtourismus steckt in der Tat viel Musik; er hat viel Potenzial. Deshalb war es mir in meiner
Zeit als Landrätin auf Rügen sehr wichtig, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die Wertschöpfung im Rahmen des
Tourismus zu erhöhen. Wir auf der Insel Rügen sind sehr
abhängig von Sonne, Strand und Sommer. Deshalb ist es
wichtig, die Möglichkeit, die naturräumlichen und die
kulturräumlichen Besonderheiten der Region in Wert zu
setzen und damit die Umsatzrendite zu erhöhen, zu nutzen. Unter anderem hat die Errichtung des KönigsstuhlZentrums, eines informativen Erlebnisbereichs im Nationalpark Jasmund, dazu beigetragen, dass ganzjährig
viel mehr Gäste dorthin kommen und sich mit BildungsKerstin Kassner
angeboten für alle Generationen auseinandersetzen. Das
ist ein wunderbarer Erfolg.
({0})
Es gibt aber auch Privatinitiativen wie die StörtebekerFestspiele, die ebenfalls sehr viele Gäste auf die Insel locken und eine Bereicherung des Kulturkalenders darstellen. Die Vernetzung aller Angebote, die es auf der Insel
gibt, eröffnet die Möglichkeit, den Gästen Alternativen
anzubieten und vieles andere, was die Insel ebenfalls
ausmacht, erlebbar zu machen.
({1})
Vor den Toren der Insel liegt die schöne, ehrwürdige
Stadt Stralsund. Dort hat die Anerkennung als
UNESCO-Welterbestadt einen riesigen Boom ausgelöst.
({2})
- Ja, Herr Kollege, auch Wismar hat eine solche Anerkennung erhalten. - Die Tourismusbranche hat dadurch
eine Belebung erfahren. Nicht zuletzt sind Museen etwas
Wunderbares. Das Meereskundemuseum in Stralsund ist
eines der interessantesten Museen. Die Erweiterung
durch das Ozeaneum hat dazu geführt, dass viele Menschen dieses Museum besuchen. Das ist gut für unsere
Region.
({3})
Nun haben die Kolleginnen und Kollegen von der
Großen Koalition einen Antrag vorgelegt. Hut ab! Darin
stecken viel Fleiß und Arbeit. Aber das ist nicht genug.
({4})
Ich wünsche mir, dass Sie nicht so zaghaft sind. Das haben Sie angesichts der vielen Stimmen, die Sie bekommen haben, gar nicht nötig.
({5})
Sie müssen nicht nur begrüßen, feststellen und vielleicht
ganz vorsichtig die Regierung bitten, zu prüfen, ob sich
etwas verändern lässt.
({6})
Nein, Sie sollten ganz konkrete Forderungen stellen. Ich
will einmal die Forderungen auflisten, die ich stellen
würde, wenn ich an Ihrer Stelle in der Regierungsverantwortung wäre.
({7})
Ich würde zuallererst an die Menschen denken, die in
den Bereichen Kunst und Kultur arbeiten. Sie, meine
Damen und Herren von der Koalition, haben gesagt, dass
der Mindestlohn das regeln wird. Nein, das wird er nicht;
denn viele sind selbstständig und ringen darum, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Menschen bedürfen
unserer Hilfe, damit es gerechter zugeht.
({8})
Der zweite ganz besonders wichtige Punkt, den ich an
Ihrem Antrag bemängele, ist, dass Sie die Bundesregierung lediglich auffordern, zu prüfen, ob sie mit den Ländern gemeinsam etwas erreichen kann. Das reicht nicht.
Es ist natürlich so: Kultur fällt in den Aufgabenbereich
der Länder; das ist auch richtig. Ich denke, das muss
auch weiter so bleiben. Trotzdem bedarf es des ganz festen Willens, dass zwischen Bund und Ländern etwas verändert wird. Alle müssen auf der jeweiligen Stufe ihre
Verantwortung wahrnehmen.
({9})
Ich möchte natürlich auch die Onlineplattform, die
vieles vernetzt. Aber, liebe Leute, dazu müssen wir erst
einmal erreichen, dass alle diese Möglichkeit nutzen
können. Gerade im ländlichen Raum haben wir da absolute Defizite.
({10})
Ein ganz besonderes Anliegen ist mir immer das Reisen für jedermann. Ich will an Ilja Seifert erinnern, der
lange Jahre meinen Platz im Tourismusausschuss eingenommen hat. Er hat gesagt: Die eigentliche Bedeutung
des Tourismus besteht darin, Menschen mit und ohne
Behinderung zu ermöglichen, sich zu erholen, zu entspannen, sich die Welt anzuschauen, ihre Gesundheit zu
stärken, andere Kulturen kennenzulernen und vielfältige
Freizeiterlebnisse zu genießen. - Wir wollen, dass das
allen Menschen möglich ist, unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern.
({11})
Lassen Sie mich noch ein letztes Thema ansprechen.
Die Erhaltung der Infrastruktur funktioniert nur, wenn
die Kommunen für diese Erhaltung genügend Mittel zur
Verfügung haben. Ich habe gerade gelesen, dass irgendwo
überlegt wird, Kunstwerke der Stadt zu verkaufen. Das
kann doch nicht die Lösung sein. Die Kommunen brauchen ausreichende Mittel, um die Infrastruktur zu erhalten. Ich wiederhole meine These: Es wäre gut, wenn
mehr aktive Kommunalpolitiker in diesem Parlament
wären. Dann würden wir nicht nur darüber reden, sondern auch die Voraussetzungen dafür schaffen.
Kollegin Kassner, bei allem Engagement haben Sie
offensichtlich das Zeichen übersehen, dass Ihre Redezeit
zu Ende ist.
Oh. - Wir würden alles dafür tun, dass die Kommunen besser ausgestattet werden - alle.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher!
Fast genau vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle die
erste tourismuspolitische Debatte geführt, und wir konnten schon damals feststellen: Der Tourismus boomt in
Deutschland. Heute, ein Jahr später, sehen die Zahlen sogar noch besser aus. Sie, Kollegin Hiller-Ohm, haben es
schon erwähnt. 2014 war das fünfte Rekordjahr in Folge
für den Tourismus in Deutschland: 423 Millionen Übernachtungen in deutschen Beherbergungsbetrieben, ein
Zuwachs um 11 Millionen oder 3 Prozent gegenüber
dem Vorjahr. Das ist eine tolle Leistung auch der Betriebe, die dazu beigetragen haben. Das heißt, der Tourismus ist ein wirkliches Zugpferd für die Wirtschaft in
Deutschland.
Wie ich bereits in meiner Rede vor einem Jahr festgestellt habe, brummt es vor allem in den Städten. Ich sage
ganz bewusst: Es brummt in den großen Städten. Wir
wissen aus vielen Aussagen, dass es manchen oftmals
schon fast zu viel wird, dass die Städte klagen, dass sie
zu viele Besucherinnen und Besucher haben und die
Menschen die großen Städte regelrecht überrennen, wohingegen sich der ländliche Raum zwar sehr gut behauptet, aber es dennoch schwer hat, das Besucherpotenzial
auszuschöpfen.
Eine Idee hatten wir damals schon angerissen. Wir
haben sie im Laufe des Jahres weiterentwickelt. Es ist
die Idee, wie wir den Ansatz, der im Koalitionsvertrag
verankert ist, nämlich eine Initiative für den Kulturtourismus zu entwickeln, mit Leben erfüllen können. Es
muss uns gelingen, die Unverwechselbarkeit, die Besonderheiten der ländlichen Räume - wir haben sie Regionen genannt, aber der ländliche Raum gehört dazu - zu
stärken und den Begriff des klassischen Kulturtourismus
zu erweitern.
Deshalb hat unser Antrag den Titel „Kulturtourismus
in den Regionen - ich füge hinzu: in den ländlichen Regionen - weiterentwickeln“. Baugeschichtliches Erbe,
kulturelle Veranstaltungen, Sehenswürdigkeiten, Kleinode sollen mit regionalen gastronomischen und handwerklichen Traditionen und den einzigartigen Landschaften eine Art Symbiose eingehen. Dieser Gedanke
steht hinter unserem Antrag. Es geht also um, so haben
wir es auch formuliert, Kulturgenuss „mit allen Sinnen“,
mit den Augen, mit dem Gaumen, mit allem, was dazugehört.
Der französische Schriftsteller Marcel Proust sagte
einmal:
Die besten Entdeckungsreisen macht man nicht in
fremden Ländern, sondern indem man die Welt mit
neuen Augen betrachtet.
Genau das wollen wir tun; das ist der Kern unseres Antrags: mit neuen Augen betrachten und schauen, dass wir
Potenziale heben, die oft noch nicht ausgeschöpft sind.
Insofern, liebe Frau Staatssekretärin Gleicke, freuen wir
uns natürlich, dass Sie und Ihr Ministerium unsere Idee
aufgegriffen haben. Ich darf hinzufügen: Nicht immer
sind die Wege zwischen Ministerium und Parlament so
kurz.
({0})
Ihr Vorstoß ist jedoch nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist jetzt, hier nicht stehen zu bleiben, sondern eine Breitenwirkung anzustoßen. Um eine
echte Schubkraft für unsere so wertvollen ländlichen
Räume zu entwickeln, brauchen wir nämlich mehr als
bloß eine Bestandsaufnahme und Best-Practice-Beispiele.
Frau Kassner, unser Antrag enthält alle Gesichtspunkte, die Sie angerissen haben. Sie haben zum Beispiel die Kommunen angesprochen. Das, was die Koalition für die Kommunen in den letzten Monaten getan
hat, ist schon enorm. Das sollten Sie auch so sehen.
({1})
- Es kommt immer darauf an, wie die Kommunen das
umsetzen.
Wir fordern einen Bundeswettbewerb, in dem sich die
Akteure vor Ort zusammenschließen und gemeinsam bewerben können. Denn schon aus den Vorarbeiten zu diesem Wettbewerb - Frau Staatssekretärin, ich würde das
Ganze gern weiterentwickeln - können neue Ideen erwachsen, die den teilnehmenden Regionen neue Perspektiven eröffnen. Wenn man sich für diesen Wettbewerb bewirbt, können schon im Vorfeld über Landesgrenzen
hinweg gemeinsam Vermarktungsideen entwickelt werden, um dann über noch festzulegende Zeiträume die
Vermarktung aufzubauen und letztendlich auszuwerten.
Das bietet die Chance, Alleinstellungsmerkmale herauszubilden und neue, vor allem auch grenzübergreifende
Kulturregionen zu entwickeln.
Wichtig ist, dass wir genau dort ansetzen, wo eben
noch keine gelungene Vernetzung und Vermarktung
stattfinden. Ich denke da zum Beispiel an die Oberpfalz
- wie fast jeder habe auch ich einen Werbeblock -, die
ich besser kenne als viele andere Regionen. Die Oberpfalz grenzt an Franken mit seinen barocken Klöstern,
mit seinen Bergfesten, mit Zoiglwirtschaften. Hinzu
kommt die Nähe zu Tschechien mit den Kurbädern
Karlsbad und Marienbad und auch zu größeren Städten.
Die einzelnen Orte an sich sind wunderbar, funktionieren aber isoliert nicht unbedingt als Publikumsmagnet.
Wenn es gelänge, dort eine bessere Vernetzung herzustellen, könnten wir ganze Gegenden besser erschließen.
({2})
Ich möchte es aber nicht bei den Gegenden belassen,
die ich gerade genannt habe. Beispiele für Gegenden, die
wir stärken können, wenn wir Kirchturmdenken überwinden, lassen sich überall in Deutschland finden, zum
Beispiel im südöstlichen Niedersachsen und im westlichen Sachsen-Anhalt oder am nördlichen Niederrhein,
wo es zwar schon viel Gutes gibt, wo man aber noch viel
Neues erschließen könnte.
Das alles hat auch viel mit dem Bild zu tun, das die
Menschen von einer Gegend haben. Ich möchte, dass wir
mit unserer Initiative dazu beitragen, Bilder entstehen zu
lassen, die sich aus der Zusammenschau der verschiedenen kulturellen, gastronomischen und landschaftlichen
Aspekte formen, gerade da, wo ein solcher Zusammenhang noch nicht gesehen wird oder noch nicht deutlich
erkennbar ist.
Wir müssen noch viel tun - da gebe ich Ihnen recht -,
gemeinsam mit den Ländern, in denen es schon viele
gute Ansätze gibt. Ich verweise auf die Dachmarke Kulturland Brandenburg.
({3})
Hier müssen wir auch durch einen regelmäßigen Austausch für mehr Vernetzung sorgen. - Ich versuche halt
einmal, alles ein bisschen einzubinden.
({4})
Was wir auf Bundesebene tun können, ist, Anreize für
eine bessere Kooperation und Vernetzung auf lokaler
und regionaler Ebene zu setzen, gerade auch bei den
Förderstrukturen. Wir brauchen Modellregionen in jedem Bundesland, um auf unterschiedliche regionale Besonderheiten eingehen zu können. Darum bitte ich Sie,
das mit zu berücksichtigen. Natürlich brauchen wir die
Zusammenarbeit mit den Bundesländern, um mit ihnen
zu prüfen, wie wir die Zusammenarbeit der Kultur- und
Tourismusakteure vor Ort - da sind wir uns alle einig und der Landesmarketingorganisationen stärken können.
Das Ganze müssen wir zusätzlich mit der schon genannten Plattform flankieren.
Nur in diesem Zusammenspiel steigern wir die Attraktivität für den einheimischen ländlichen Tourismus,
aber vor allem auch für den stetig wachsenden Zustrom
aus dem Ausland. Tourismus ist eine Botschaft, eine
Botschaft für den Reichtum unserer Kultur, unserer Kulturlandschaften und unserer Lebensart, eine Botschaft
für unser Land und unsere Menschen.
Ich schließe wieder mit Marcel Proust - um auf ihn
zurückzukommen -: Machen wir uns also gemeinsam
auf eine Entdeckungsreise! Machen wir die Augen auf:
Wo können wir Schätze in unseren ländlichen Regionen
heben und neue Kulturregionen für den Tourismus erschließen und stärken, und zwar ohne Scheu davor, Modelle zu fördern, die grenzüberschreitend denken und
handeln wollen? Nur so können wir das Potenzial, das
unser Land und unsere Menschen zu bieten haben, umfassend und breitenwirksam erschließen.
Danke schön fürs Zuhören.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Markus Tressel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch von unserer Seite vielen Dank dafür, dass wir
heute über dieses wichtige Thema noch einmal debattieren dürfen. Wir hatten es in den vergangenen Jahren
schon des Öfteren hier debattiert. In der letzten Legislaturperiode haben wir in einem interfraktionellen Antrag
gemeinsam bereits viel von dem gefordert, was Sie jetzt
wieder beantragt haben. Es ist auch einiges passiert; das
ist erfreulich. Die damals geforderte Förderung der DZTThemenjahre „Luther 2017“ oder „100 Jahre Bauhaus“
- in der letzten Sitzungswoche Thema im Plenum - wird
bereits umgesetzt. Es bleibt aber eines immer gleich: Der
Knackpunkt ist die Finanzierung. Wie können wir die
Vernetzung von Kultur und Tourismus gezielt fördern?
Wie tragen wir dadurch die Erfolgsgeschichte Kulturtourismus in die Fläche? Da bleibt Ihr Antrag zumindest
schwammig. Absichtserklärungen allein - darauf hat die
Kollegin Kassner hingewiesen - helfen nicht weiter; das
wissen Sie so gut wie ich.
Immerhin nennen Sie im Gegensatz zu Ihren vorhergehenden Anträgen Finanzierungsinstrumente. Sie verweisen zum einen auf die Fördermöglichkeit über die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“. Ja, die GRW hat einen Maßnahmenbereich „Infrastruktur im Tourismus“; aber die Verwaltung der Mittel liegt bei den Ländern. Das ist das
erste Problem. Mir ist zudem nicht bekannt, dass die
GRW einen explizit kulturtouristischen Schwerpunkt definiert hätte. Vor allem: Clusterbildung und Vernetzung
sind keine investiven Maßnahmen. Da muss die GRW
weiterentwickelt werden. Dazu bieten wir unsere Unterstützung an.
({0})
Das zweite Instrument, das Sie in Ihrem Antrag nennen, ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist nicht bekannt, wie der Kulturtourismus der Verbesserung der Agrarstruktur oder gar
des Küstenschutzes dient. Er ist somit über die GAK in
der bisherigen Form nicht förderbar. Da bringen Sie die
Weiterentwicklung zur Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“ ins Spiel, in deren Rahmen zukünftig
auch Kultur und Tourismus gefördert werden sollen. Dafür muss aber erst einmal das Konzept auf dem Tisch liegen. Das ist bisher nicht erkennbar. Wenn die Bundesregierung - das muss man an dieser Stelle auch einmal
deutlich sagen - weiter im Schneckentempo an der Förderpolitik nach 2020 tüftelt, wird das in dieser Legislaturperiode sicher auch nichts mehr.
({1})
Die Kollegin Kassner hat es schon deutlich gesagt:
Eine Modellförderung hier, ein Wettbewerb da - das
setzt keine Anreize, neue Projekte und Kooperationen,
nachhaltige Projekte ins Leben zu rufen; das wissen Sie
alle. Die Kulturfinanzierung vor Ort ist prekär. Darüber
kann man bei aller Euphorie für das Thema Kulturtourismus, die ich im Übrigen teile, nicht hinwegsehen. Man
muss an dieser Stelle deutlich sagen: Da kann man sich
nicht dauerhaft auf bürgerschaftliches Engagement allein verlassen.
Ich will aber gern zugestehen: Bei aller Kritik stößt
der Antrag eine interessante und überfällige Debatte an.
Was bedeutet eigentlich Kulturtourismus in unseren und
für unsere ländlichen Regionen? Wie können wir Synergien aus Kultur, Kreativökonomie und Tourismus auf
dem Land schaffen? In Vorbereitung dieser Debatte ist
mir aufgefallen, dass der Kulturtourismus immer ein Synonym für Städtetourismus war.
({2})
Kultur findet aber nicht nur in der Stadt statt. Wir müssen überwinden, dass Kulturreisen stets in einem Atemzug mit Städtereisen genannt werden. Deswegen ist es
gut, dass wir heute darüber diskutieren.
({3})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Kulturtourismus auf dem Land stehen noch große Hindernisse
im Weg - das gehört zur Lagebeschreibung dazu -: qualitative und quantitative Defizite in Beherbergung und
Gastronomie, schlechte Anbindung der Veranstaltungsorte an den öffentlichen Nahverkehr und - das haben Sie
angesprochen - wenig Erfahrung der Touristiker mit
dem Kulturtourismus. Dazu habe ich in Ihrem Antrag zumindest zu den ersten beiden Punkten - wenig bis gar
nichts gelesen.
Sie schreiben auch, dass die DZT-Mittel bezüglich
China aufgestockt werden. Ich begrüße es, wenn die
DZT in China Kulturreisen nach Deutschland bewirbt.
Ob das aber vorrangig dem ländlichen Raum in Deutschland hilft, ist fraglich. Das wird sich auf die Hotspots fokussieren. Im Übrigen wissen wir alle, wie viel Reisezeit
die Chinesen haben.
Wir dürfen hier nicht nur nach außen schauen; denn
das Reiseverhalten ändert sich auch im Inland. Das wäre
der erste Schritt. Leute aus den umliegenden Regionen
müssen angesprochen werden, was auch im Sinne eines
nachhaltigen Tourismus für die Region ist. Durch kurze
Wege und regionale Wertschöpfung bieten sich so neue
Entwicklungschancen für die ländlichen Räume.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen sektorübergreifende Ansätze nicht nur in der Finanzierung
der Infrastruktur, sondern auch in der Finanzierung vor
Ort, beispielsweise der Hotels. Wir brauchen neue Ansätze im Städtebau und in der Förderpolitik nach 2020,
und wir brauchen neue Ansätze, was die Erreichbarkeit
ländlicher Regionen angeht. Wir müssen die Debatte
noch viel breiter führen, als Sie jetzt mit Ihrem Antrag
angeregt haben. Ich glaube aber, dass wir da nicht so
weit auseinander sind. Wir müssen die Frage der Finanzierung angehen; das können wir in der weiteren Debatte
noch vertiefen.
({4})
Wichtig ist, dass wir darüber sprechen und dies weiterentwickeln.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Iris Gleicke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich zunächst beim Parlament und ausdrücklich bei den Mitgliedern des Tourismusausschusses
für das gute Miteinander bedanken, das auch in dieser
Debatte wieder deutlich wird. Wir gehen sehr pragmatisch an die Sache heran. Ich bedanke mich als Tourismusbeauftragte der Bundesregierung sehr herzlich für
das gute Miteinander und die konstruktive, aber auch
kritische Begleitung, die wir im Ausschuss miteinander
pflegen.
Ich bin froh über den Antrag der Koalitionsfraktionen
„Kulturtourismus in den Regionen weiterentwickeln“.
Und Frau Kassner, Sie können sich darauf verlassen: Die
bitten mich nicht nur. Die Kollegen sind alle sehr selbstbewusst und tragen ihre Bitten mit ordentlichem Nachdruck vor; das ist keine Frage.
({0})
- Sie auch, natürlich. - Ich will einfach noch einmal darauf hinweisen - Sie wissen das aus Ihrer langjährigen
Erfahrung genauso gut wie ich -: Der Bund sitzt nun
einmal leider in der zweiten Reihe. Ich wünschte mir
- was auch Sie bezüglich der Finanzierung angemahnt
haben -, dass ganz klar ist, dass der Tourismus einer der
wichtigsten Wirtschaftszweige ist, der zwar sehr kleinteilig daherkommt, aber ein großes Potenzial hat. Das
muss sich im Endeffekt natürlich auch in der Wirtschaftsförderung in den Ländern, aber auch in den Landkreisen, in den Kommunen widerspiegeln. Deshalb sage
ich auch, dass dieser Antrag zur richtigen Zeit kommt.
Wir haben im Tourismus Boomzahlen; wir hören das
immer wieder. Frau Hiller-Ohm hat es angesprochen:
Die europäischen Kunst- und Kulturliebhaber haben
Deutschland zum beliebtesten Reiseziel auserkoren. Wir
haben auch eine ganze Menge zu bieten: Kulturgüter,
historische Denkmale, Musikfestivals oder auch die
Kasseler Documenta und, und, und. - Jetzt habe ich wenigstens Hessen noch hineingebracht; das hat, glaube
ich, in der Aufzählung noch gefehlt. Aber man muss ein
wenig Wasser in den Wein gießen - das ist schon deutlich geworden -; denn der Kulturtourismus findet hauptsächlich in den Städten statt. In den Städten gibt es natürlich ein geballtes kulturelles Angebot, und entsprechend
viele Touristen fahren deshalb dorthin.
Auf der anderen Seite zeichnet sich das Reiseland
Deutschland dadurch aus, dass wir in der Fläche jede
Menge Kultur zu bieten haben. Wir brauchen bloß in unserer Heimatregion zu schauen, wo die Schlösser und
Burgen sind. Sie sind sehr häufig in oder bei ganz kleinen Orten, zum Beispiel die Burgen und Schlösser an
der Saale. Auch Thüringen hat hier eine Menge zu bieten. Insofern muss es an dieser Stelle darum gehen, die
Potenziale zu nutzen.
Der Tourismus hat eine ganz wichtige Funktion als
Entwicklungsstütze und -motor für strukturschwache
Regionen, die sich nicht in der Nähe von Ballungszentren befinden. Hier kommt dem Tourismus eine ganz besondere Rolle zu. Deswegen, Herr Kollege Tressel, sind
wir dabei, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ neu auszurichten. Durch
die vorgesehene Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche
Entwicklung“ können wir mehr als die Landwirtschaft
fördern. Solche Gespräche sind schwierig; das wissen
Sie. Aber wir arbeiten mit Nachdruck daran. Wir brauchen entsprechend Zeit, damit eine qualitativ gute Diskussion entsteht. Die Punkte, die in diesem Antrag stehen, werden in der Debatte sicherlich eine Rolle spielen.
Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen - Frau Lanzinger
hat es bereits gesagt; sie hat ein wenig vorgearbeitet -,
dass das Projekt „Tourismusperspektiven in ländlichen
Räumen“ an den Kulturtourismus andockt. Mir geht es
darum, nicht noch eine Urkunde für einen Wettbewerb
zu verteilen oder ein weiteres Gutachten zu bekommen.
Das verstaubt in den Schubladen oder geht in den Weiten
des Internets verloren. Ich möchte, dass wir schauen, wo
Potenziale und pfiffige Ideen sind, und diese dann umsetzen, indem wir diese Ansätze in ausgewählten Modellregionen unterstützen. Das ist eine praktische Hilfe,
um bei den Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern etwas anzustoßen.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die
besten Berater, die besten Anträge und die besten Konzepte nützen nichts, wenn Deutschland nicht als weltoffenes Land wahrgenommen wird.
({1})
Wir müssen aufpassen auf Pegida, Legida, Sügida und
wie sie alle heißen; denn eines ist klar: Glaubt irgendjemand, dass es eine gute Werbung für das Reiseland
Deutschland ist, wenn Hunderte oder Tausende irgendwelchen rechten Populisten, Rassisten oder zum Teil
richtig harten Neonazis hinterherlaufen? Ich hoffe immer noch, dass diejenigen, die den Organisatoren auf
den Leim gehen und angeblich für die Verteidigung
abendländischer Werte demonstrieren, gar nicht genau
wissen, was sie tun. Sie versetzen Menschen in Angst
und Schrecken, die bei uns Schutz vor Krieg und Terror
suchen. Ich finde das erbärmlich.
({2})
Sie beschädigen auch den guten Ruf ihrer Heimat, die
ihnen doch angeblich so wichtig ist. Das finde ich dumm
und töricht. Aber es ist sehr ermutigend, wie viele Menschen in Dresden, Leipzig und Suhl auf die Straße gehen
und ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus setzen. Deutschland hat sich spätestens mit der Fußball-WM 2006 zu Recht den Ruf erworben, ein weltoffenes und freundliches Land zu sein. Genau das wollen wir
bleiben.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin
Daniela Ludwig.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf unseren
Tribünen! Kultur ist - das wissen wir längst - ein Standort- und Wirtschaftsfaktor für nahezu jede Gemeinde, für
jedes Bundesland, für ganz Deutschland. Das kulturelle
Angebot einer Region ist für viele Reisende ausschlaggebend bei der Wahl ihres Urlaubsziels. Kultururlaub als
solcher steht bei ausländischen Gästen an zweiter Stelle
der Urlaubsgründe, die sie angeben. Die Bundesrepublik
ist Kulturreiseland Nummer eins in Europa, deutlich vor
Italien und Frankreich. Diesen Reisetrend sollten wir in
Deutschland noch besser nutzbar machen, als es bis dato
schon geschieht.
Von dem Verbesserungspotenzial, das wir insbesondere im ländlichen Raum heben können, ist heute schon
viel die Rede gewesen. Wir alle wissen, dass Hamburg,
Berlin und München millionenfach absolute Publikumsmagnete sind; aber die Kunst wird nun sein, die Menschen, die unsere Großstädte besuchen und sich dort
gerne aufhalten, mit unterschiedlichsten Mitteln dazu
anzureizen, das Umland dieser Ballungsgebiete aufzusuchen und dort festzustellen, dass wir auf dem flachen
Land Tausende Museen, mehr als 800 Theater und
Opernhäuser sowie viele Musik-, Theater- und Schauspielfestivals anzubieten haben.
In meinem Wahlkreis, in Rosenheim, gibt es den
„Lokschuppen“. Rosenheim hat 60 000 Einwohner. Der
Lokschuppen ist unter den Top Ten der deutschen Ausstellungshäuser. Das ist für solch eine mittelgroße Stadt
relativ beachtlich. Nachdem wir 1988 den Lokschuppen
eröffnet hatten, überrannten uns in Rosenheim gleich
180 000 Besucher, die die erste Ausstellung besucht haben. Mittlerweile pendelt sich die Zahl der Besucher unserer Ausstellungen bei 210 000 bis 220 000 ein. Natürlich mag man annehmen, dass so etwas nur in den
großen Städten passiert; aber man kann schon sagen:
Was in Rosenheim funktioniert, was am Bodensee in der
touristischen Zusammenarbeit über viele Grenzen hinweg passiert, das lässt sich durchaus auf andere Regionen dieses Landes übertragen.
Letztlich ist es der Hintergrund unseres Antrags, das
Augenmerk - Herr Tressel, Sie haben es völlig richtig
gesagt; ich nehme es gerne als kleines Lob mit - nicht
wieder auf die Ballungsgebiete zu richten, sondern wirklich auf die ländlichen Regionen.
({0})
Dass parallel dazu eine Ausschreibung des Bundeswirtschaftsministeriums um die Ecke kommt, nehmen wir
als Kompliment für innovative Ideen aus dem Parlament, die auch sofort umgesetzt werden;
({1})
ich glaube, das kann man durchaus so sagen. Insofern ist
hier bei aller Kritik, die ich gerne zulasse - ich freue
mich sehr auf die parlamentarische Zusammenarbeit und
auch Auseinandersetzung -, schon zu erkennen: Wir haben hier Ideen, die wir schon länger in uns tragen, zu einem ausgesprochen wichtigen Thema ausgearbeitet, das
im Trend liegt.
Ich habe es schon gesagt: Die UNESCO führt eine
Liste des Welterbes mit schützenswerten Kultur- und
Naturerbestätten. Dazu gehört bei uns zum Beispiel der
Kölner Dom, der sich wiederum in einem Ballungsgebiet befindet. Wenn man es auf die ländlichen Regionen
herunterbricht, dann wird man feststellen, dass fast jede
Gemeinde ein schützenswertes Denkmal - in Anführungszeichen -, eine Sammlung vorzuweisen hat, die einen Besuch lohnen.
Wir wissen, dass viele Touristen nach ihrem ersten
Deutschlandbesuch, der sie meistens tatsächlich in die
großen Städte führt, gerne wiederkommen und dann bereit sind, auf Entdeckungsreise zu gehen und im wahrsten Sinne des Wortes die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Umso schöner ist es, dass sich die Deutsche
Zentrale für Tourismus im Jahr 2015 mit ihren Themen
auf die ländlichen Regionen konzentriert: „Deutschland
kulinarisch“, „Gelebte Tradition“ sowie „Kunst und
Handwerk“. Das ist im Prinzip genau das, was uns allen
hier im Hause am Herzen liegt.
({2})
Wenn wir bei der DZT sind: Im vergangenen Jahr haben wir die Kampagne „UNESCO-Welterbe - Nachhaltiger Kultur- und Naturtourismus“ erleben können. Hier
sind die immerhin 39 Welterbestätten in Deutschland beworben worden, zum Beispiel die Klosteranlage Maulbronn oder der Muskauer Park; beide liegen nicht mitten
in einem Ballungszentrum, sondern eher fernab. Ich
finde es unglaublich wichtig, dass wir hier erkennen
können: Wenn wir die DZT zu etwas anregen, dann wird
das tatsächlich ordentlich umgesetzt. Das entspricht
wirklich dem, was wir wollen.
Natürlich, Herr Tressel: Wir müssen dafür sorgen,
dass die Stätten, die wir in den einzelnen Gemeinden
vorfinden, erhalten und unterhalten werden. Da gehört
natürlich auch Geld dazu. Ich teile durchaus Ihre Kritik,
dass wir hier und beim Tourismus im Allgemeinen immer mit den Kompetenzen der Länder - ich sage es jetzt
diplomatisch - in Berührung kommen. Aber ich glaube,
wenn wir unser Land ganzheitlich vermarkten wollen,
dann werden wir, was die Bundesländer angeht, die eine
oder andere Denkschwelle in den Köpfen überwinden
müssen; das ist meine feste Überzeugung. Ich nehme
gerne das Angebot an, uns gemeinsam darüber Gedanken zu machen, wie wir das umsetzen können.
Wir haben in unserem Antrag aufgezählt, was es
schon alles gibt. Für die Förderung von Innenstädten und
Ortszentren sind 700 Millionen Euro vorgesehen. Wir
haben ein neues Förderprogramm mit Förderschwerpunkt auf Denkmälern mit nationalem Rang aufgelegt;
auch das sei hier nicht unerwähnt. Dass immer ein touristischer Hintergrund dahintersteckt, das erklärt sich
fast von selbst. Wir haben ein Denkmalschutzsonderprogramm mit 29 Millionen Euro ausgestattet. Also, ganz
so schlecht ist das alles nicht.
({3})
- Vielen Dank. - Wir sind auf einem guten Weg, noch
mehr Anreize zu schaffen.
Eines verbinde ich aber auch mit dem Kulturtourismus und mit unserer Initiative heute dazu - wir haben es
in den letzten Tagen oft gehört, und es ist ganz wichtig -:
Das beliebteste Reiseland der Deutschen ist Deutschland.
({4})
Hier sollten wir ansetzen; denn je besser wir unsere Heimat kennen - wir alle, auch die wir hier sitzen -, desto
besser können wir sie bewerben. Das ist die nächste Brücke: Wir sollten nicht nur im Ausland, sondern auch bei
uns im Inland für uns werben. Das wäre mir die liebste
Wertschöpfung, die ich an dieser Stelle sehe.
({5})
Meine lieben Kollegen, Theodor Fontane hat es einmal so ausgedrückt:
Ich bin die Heimat durchzogen, und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte.
In diesem Sinne, glaube ich, haben wir ein paar Arbeitsaufträge aufgezeigt und mit unseren Forderungen an die
Bundesregierung sicher ein paar gute Ideen formuliert.
Ich freue mich jetzt sehr auf die parlamentarische Auseinandersetzung, auch auf die vielen Ideen, die - da bin
ich sicher - auch aus den beiden anderen Fraktionen
kommen.
Vielen herzlichen Dank für das Zuhören.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3914 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Katja Keul, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Provenienzforschung stärken - Bessere Rahmenbedingungen für einen angemessenen und
fairen Umgang mit Kulturgutverlust schaffen
Drucksache 18/3046
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! 2015 jährt sich
zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs und damit auch das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Dieser Teil unserer Geschichte beeinflusst
auch heute noch unsere Gegenwart.
Gerade im Bereich des Kunstmarktes sind die Folgen
der NS-Enteignung bis heute sehr präsent. Der Verbleib
vieler Kunst- und Kulturgegenstände, die von ihren Eigentümerinnen und Eigentümern zwischen 1933 und
1945 aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung unfreiwillig verkauft, abgepresst, enteignet, beschlagnahmt
oder gestohlen wurden, ist unzureichend aufgearbeitet.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum Teil hat sich der
Kulturbetrieb unwissentlich, zum Teil aber auch bewusst
bislang unzureichend mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Problematik des verfolgungsbedingten Entzugs von Kulturgütern befasst. So gesehen ist es eigentlich ein Glücksfall, dass der Kunstfund in Privatbesitz
von Cornelius Gurlitt die Diskussion über das Thema
Provenienzforschung, die wir seit Ende 2013 führen, neu
entfacht hat. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen,
müssen wir jetzt diese Chance nutzen. Wir müssen uns
im Bereich der Provenienzforschung den Problemen
stellen und beim Umgang mit NS-verfolgungsbedingt
entzogenen Kulturgütern faire und gerechte Lösungen
für alle Beteiligten finden.
({0})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
mit der Washingtoner Erklärung hat sich Deutschland
1998 international verpflichtet, zur Provenienzforschung
und Restitution beizutragen. Auch wenn diese Absichtserklärung für die öffentliche Hand keine Gesetzeskraft
hat, sie fordert doch zum politischen Handeln auf. Ich
meine, die Umsetzung darf nicht allein vom Wohlwollen
öffentlicher Einrichtungen abhängen. Das wird dem
Geist der Erklärung nicht gerecht. Hier sind Sie, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, in der
Pflicht.
({1})
Wir haben darüber hinaus eine moralische Verpflichtung, die weit über den öffentlichen Bereich hinausgeht.
Auch wenn Private von den internationalen Verabredungen nicht tangiert sind, können und dürfen auch sie, die
privaten Kunstsammlerinnen und Kunstsammler, die privaten Kunsthändlerinnen und Kunsthändler und auch die
Auktionshäuser, sich einer moralischen Verantwortung
nicht entziehen.
Durch die Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste Anfang dieses Jahres in Magdeburg soll die
Provenienzforschung in Deutschland weiter gestärkt
werden. Eine Bündelung der bisherigen Aktivitäten ist
sinnvoll - deshalb unterstützt meine Fraktion die Gründung dieses Zentrums ganz ausdrücklich -, aber allein
mit einer Bündelung der Aktivitäten ist es eben nicht getan.
({2})
Was wir brauchen, sind systematische Koordination und
Strukturierung und vor allem ein Ausbau der Provenienzforschung. Eine bloße Zusammenlegung von Strukturen ist noch keine Stärkung. Es dabei zu belassen, wäre
eine Pseudoinitiative der Bundesregierung. Das neue
Zentrum muss am Ende des Tages auch einen Mehrwert
bringen. Es geht um wirkliche Professionalisierung der
Provenienzforschung und vor allem um den Abbau der
Informationsdefizite hinsichtlich der Grundsätze der
Washingtoner Erklärung, insbesondere in den Ländern
und Kommunen und den Museen dort.
Was wir in den Museen brauchen, ist mehr Verbindlichkeit bei der Erforschung der Provenienz von Exponaten. Wir brauchen eine bessere personelle Ausstattung,
und an den Universitäten müssen mehr Fachleute im Bereich Provenienzforschung ausgebildet werden. Das
wäre konsequent, um die steigenden Bedarfe decken zu
können.
({3})
Die Forscherinnen und Forscher dürfen bei ihren wichtigen Arbeiten nicht behindert werden. Zugangshemmnisse bei Quellen, Archiven, Nachlässen und Forschungsergebnissen müssen abgebaut werden.
Was bleibt, ist das schwierige Terrain der privaten
Sammlungen. Hier gilt es, Anlaufstellen zu schaffen
und, ebenso wie im öffentlichen Bereich, Informationsdefizite abzubauen. Es sollte auch die Einführung eines
Fonds geprüft werden, durch den in berechtigten Fällen
die Provenienzforschung im Privatbereich unterstützt
werden kann. Rechtlich sollte der gutgläubige Erwerb
auf gesetzliche Auktionen beschränkt werden, und der
Eigentumserwerb durch Ersitzen ist zu erschweren.
Aber nicht nur im Kunstmarkt sehen wir uns mit der
Frage nach der Provenienz konfrontiert. Wie steht es um
die Sorgfaltspflicht bei der Provenienzprüfung in anderen Bereichen? Ich sage Ihnen: Verbleib von Kunst- und
Kulturgut zum Beispiel von Sinti und Roma oder Homosexuellen ist bislang kaum beachtet worden. Auch die
Aufarbeitung von Kulturgutverlusten jenseits des NSverfolgungsbedingten Entzugs, wie zum Beispiel in der
Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, muss verstärkt und gefördert werden.
Es gilt, allen, denen Kulturgut entzogen wurde, die
gleichen Grundlagen zur Aufarbeitung zu gewährleisten.
({4})
Dies gilt für NS-Raubkunst ebenso wie für kriegsbedingt
verlagerte Kunst- und Kulturgüter, aber auch für Objekte, die aus kolonialen Unrechtskontexten stammen
oder für die Bestände aus archäologischen Raubgrabungen. Die Provenienzforschung wird uns in den großen
Debatten, wie über das Humboldt-Forum und die Reform des Kulturgüterrückgabegesetzes, weiter begleiten. Die Provenienzforschung gehört zur Sorgfaltspflicht
bei der Vermittlung von Kunstobjekten und muss eine
Selbstverständlichkeit sein.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Ansgar
Heveling das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass wir die Gelegenheit haben - der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen gibt uns diese Gelegenheit -,
über das Thema Provenienzforschung zu reden und deutlich zu machen, was in den letzten Monaten dazu vonseiten der Bundesregierung schon getan worden ist. Vieles
von dem, was Sie, Frau Kollegin Schauws, angesprochen haben, ist richtig. Vieles ist aber schon in der Umsetzung.
Das Thema Provenienzforschung kam zum Ende des
vorvergangenen Jahres unerwartet und mit voller Wucht
auf uns zu. Gleich zu Beginn der Wahlperiode hatten wir
damit ein Thema auf der politischen Agenda, das zuvor
nicht im Zentrum der kulturpolitischen Vorhaben und
Planungen für die 18. Wahlperiode gestanden hatte. Mit
dem spektakulären sogenannten Schwabinger Kunstfund, der auch als Fall Gurlitt Ende November 2013
durch die Weltpresse ging, rückte das Thema Raubkunst
und Provenienz von Kunstwerken in privaten Sammlungen, aber auch in öffentlichen Museen und Sammlungen
in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion und des
politischen Interesses. So hat unsere Kulturstaatsministerin, Kollegin Professor Monika Grütters, kaum neu im
Amt, das Thema Provenienz und Raubkunst umgehend
zu ihrer Priorität gemacht.
({0})
Innerhalb kurzer Zeit hat sie kluge Entscheidungen getroffen und wichtige Maßnahmen für dieses Thema auf
den Weg gebracht. Darauf werde ich im Folgenden noch
weiter eingehen.
Zunächst einmal bestehen zwei Handlungsfelder bei
der Frage, wie mit dem sensiblen Thema Provenienzrecherche und Raubkunst umzugehen ist: Wir können
und müssen auf der einen Seite kulturpolitische Entscheidungen treffen, es gibt aber auf der anderen Seite
auch noch eine rechtspolitische Dimension. Als Kulturpolitiker konzentrieren wir uns natürlich zunächst einmal auf die notwendigen kulturpolitischen Schlussfolgerungen und Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus
dem ergeben, was vor anderthalb Jahren aufgefallen ist.
Die wichtigen juristischen Fragen im Zusammenhang
mit dem Umgang mit Raubkunst stehen zunächst einmal
auf einem anderen Blatt. Das bedeutet aber nicht, dass es
nicht ebenso wichtig ist, sich auch diesen Fragen zu stellen und gegebenenfalls auch auf diesem Feld nach Antworten zu suchen.
Das Land Bayern, das beim Schwabinger Kunstfund
sehr schnell im Zentrum des Geschehens stand, hatte
dem Bundesrat bereits einen ersten Vorschlag unterbreitet. Die bayerische Initiative für eine rechtspolitische
Reaktion war im Kontext der politischen Debatten sicherlich ein erster Anstoß, den wir auch auf Bundesebene dankbar wahrgenommen haben. Das ist allerdings
ein Aufgabenbereich, über den sich der Bundesjustizminister vertieft Gedanken machen muss und bei dem er
nach Lösungen, so sie denn notwendig sind, suchen
muss.
Durch den Schwabinger Kunstfund wurde Deutschland mit berechtigten Fragen konfrontiert. Es geht um
die Aufarbeitung des breiten Kunstraubs durch die Nationalsozialisten, aber auch um individuelle Schicksale
von Einzelpersonen oder ganzen Familien. Diese Opferbiografien müssen einerseits anerkannt, andererseits
aber auch nach den Prinzipien der Washingtoner Erklärung umgesetzt werden, die eine faire und gerechte Lösung für alle Beteiligten postuliert. Da sind wir alle hier
im Hause, glaube ich, einer Meinung.
({1})
Der Fall Gurlitt hat deutlich gemacht, vor welch großen Herausforderungen wir sowohl in juristischer Hinsicht als auch bei dem Thema Provenienzrecherche an
dieser Stelle stehen. Die Bundesregierung hat vier wichtige Maßnahmen getroffen, um auf diese Herausforderung zu reagieren: die Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, die deutliche Erhöhung der
Bundesmittel für die Provenienzrecherche, die Einrichtung einer Taskforce speziell zur Klärung des Schwabinger Kunstfundes sowie die Vereinbarung mit der Stiftung
Kunstmuseum Bern über das Erbe von Cornelius Gurlitt.
Mit diesen Maßnahmen ist es gelungen, in die Offensive
zu gehen. Deutschland hat gegenüber der internationalen
Opfer deutlich gemacht, dass es die Aufarbeitung von
Kulturgutverlust insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus sehr, sehr ernst nimmt und handelt.
Lassen Sie mich auf die Maßnahmen im Einzelnen
eingehen. Die wichtigste Maßnahme zur Verbesserung
der Provenienzforschung in Deutschland und zur Restitution von Kulturgut, das bedingt durch die Verfolgung
durch die Nationalsozialisten entzogen wurde, ist sicherlich die Gründung des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste. Kollegin Schauws hat dies eben begrüßt, so
wie wir alle diese Gründung begrüßen. In der vergangenen Woche hat sich der Stiftungsrat des neuen Zentrums
mit seiner Vorsitzenden, Kulturstaatsministerin Monika
Grütters, konstituiert. Das Zentrum ist auch ein Beispiel
für die gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in dieser Frage. Beide Seiten leisten ihren jeweiligen Beitrag in einer gemeinsamen Stiftung. Das Zentrum Kulturgutverluste soll der zentrale Ansprechpartner
für die gemeinsamen Anstrengungen der deutschen Restitutionspraxis werden, insbesondere eben auch im Bereich der NS-Raubkunst.
Ein weiteres wichtiges Element im Engagement der
Bundesregierung ist die signifikante Erhöhung der Mittel. Im vergangenen Jahr hat der Bund die Mittel für Provenienzforschung bereits auf 4 Millionen Euro verdoppelt. In diesem Jahr werden dann schon 6 Millionen
Euro bereitgestellt. Damit haben wir die Bundesmittel
seit dem Jahr 2012 verdreifacht.
({2})
Das zeigt, dass die Große Koalition die Notwendigkeit
erkannt hat, die Provenienzforschung in Deutschland zu
verbessern, und dementsprechend handelt.
Dennoch bleibt in diesem Bereich viel zu tun. Nach
wie vor stellt die Provenienzrecherche vor allem für
viele kleinere Museen und Einrichtungen eine große Herausforderung dar. Diese Häuser brauchen Unterstützung. Deshalb ist es gut, dass auch die Kommunen in
das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste eng eingebunden sind. Kurz- und mittelfristig werden sicherlich weitere finanzielle und personelle Ressourcen nötig sein,
um angesichts des großen Nachholbedarfs in deutschen
Museen, den wir anerkennen müssen, die Sammlungsgeschichte öffentlicher Einrichtungen umfassend aufzuarbeiten.
Allein bei dem Thema NS-Raubkunst gibt es in grob
60 Prozent der öffentlichen Museen Bestände, die zumindest theoretisch Raubkunst umfassen könnten. Es
betreiben jedoch nur 10 Prozent der Museen proaktiv
Provenienzrecherche, da hier - auch das muss man anerkennen - sowohl die Mittel als auch das Personal mit
dem erforderlichen Wissen an allen Ecken und Enden
fehlen. An genau dieser Stelle setzt das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste an. So sollen vor allem die kleineren Häuser und Einrichtungen unterstützt werden.
({3})
Die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste in
gemeinsamer Trägerschaft von Bund, Ländern und
Kommunen soll die unteilbare Verantwortung zur Aufarbeitung von NS-Kunstraub übernehmen. Nicht zuletzt
konnte für den Schwabinger Kunstfund mit dem Erben
Kunstmuseum Bern eine gute Einigung erzielt werden,
mit der für die Zukunft eine solide Grundlage geschaffen
worden ist. Die kurz nach Bekanntwerden des Schwabinger Kunstfunds eingerichtete Taskforce unter der Leitung von Ingeborg Berggreen-Merkel wird ihre intensive, gute Arbeit dazu weiter fortsetzen.
({4})
Es war im Übrigen eine beeindruckende Leistung von
Kulturstaatsministerin Grütters, diese Taskforce in der
Kürze der Zeit entsprechend hochkarätig wie divergent
zu besetzen und arbeitsfähig zu machen.
({5})
Sicher, es bleiben im Zusammenhang mit dem Umgang mit Raubkunst nach wie vor viele auch juristische
Fragen offen. Diese fallen jedoch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kulturstaatsministerin, sondern müssen von anderen Häusern beantwortet werden. Welchen
weiteren Beitrag die Länder in ihrer eigenen Zuständigkeit zur Verbesserung der Provenienzforschung leisten
wollen, bleibt ihnen selbst überlassen. Der Bund ist hier
jedenfalls mit gutem Beispiel vorangegangen und hat die
erforderlichen Mittel in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht.
({6})
Neben der Suche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut beschäftigen sich mehrere Projekte und
Einrichtungen auch mit der Aufarbeitung sogenannter
entarteter Kunst. Auch die Erforschung der in der DDR
sowie in der Sowjetischen Besatzungszone entzogenen
Kulturgüter ist ein formulierter Auftrag des Koalitionsvertrages, womit eine weitere sensible Aufgabe in den
Fokus der Provenienzforschung gerückt ist.
Deutschland hat eine besondere, bleibende Verantwortung für die Aufarbeitung des nationalsozialistischen
Kunstraubs. Diese Verantwortung müssen vor allem die
öffentlichen Kultureinrichtungen und ihre Träger wahrnehmen. Die gemeinsame Erklärung von Bund, Ländern
und kommunalen Spitzenverbänden aus dem Jahr 1999
ruft aber auch privatrechtlich organisierte Einrichtungen
sowie Privatpersonen dazu auf, ihrer Verantwortung zur
Umsetzung der Washingtoner Prinzipien in Deutschland
nachzukommen, auch wenn sie juristisch oder völkerrechtlich dazu nicht verpflichtet sind.
Wir werden uns im Ausschuss für Kultur und Medien
mit dem vorliegenden Antrag auseinandersetzen und ihn
dort in angemessener Weise in seinen einzelnen Punkten
beraten. Viele Punkte sind der Diskussion wert, vieles ist
aber auch schon auf dem Weg.
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! 2015, also 70 Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges und der Nazidiktatur, debattieren
wir heute hier im Bundestag über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Provenienzforschung. Warum,
bringt der schwedische Autor Anders Rydell in seinem
kürzlich erschienenen Buch Hitlers Bilder: Kunstraub
der Nazis - Raubkunst in der Gegenwart in einem Satz
auf den Punkt:
Im Januar 2013 wurde der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel plötzlich klar, dass sie auf
Hermann Görings Teppich stand.
Das ist weder überraschend noch eine Übertreibung.
Zahlen einer Studie des Instituts für Museumsforschung von 2012 belegen den Nachholbedarf beim
Thema NS-Raubkunst eindrucksvoll: Von 6 355 Museen
in öffentlicher und privater Trägerschaft haben sich
3 800 an der Umfrage beteiligt. 60 Prozent dieser Museen besitzen Objekte, die zwischen 1933 und 1945 erworben wurden. Aber nur 285 von über 6 000 Museen
haben erforscht, ob ihre Bestände NS-Raubkunst umfassen. Der Umgang mit dem Thema NS-Raubkunst ist mit
den Begriffen „Langsamkeit“ und „Intransparenz“ zusammenzufassen. Analogien zur deutschen Entschädigungspolitik nach 1945 drängen sich auf.
Der Fall Gurlitt hat in den letzten zwei Jahren Bewegung in die Sache gebracht, und der vorliegende Antrag
der Grünen nutzt nun die Gunst der Stunde, einige eher
unstrittige Forderungen aufzustellen: Ja, die Provenienzforschung in Deutschland muss gestärkt werden. Ja, die
Museen brauchen mehr Personal und ganz offensichtlich
Nachhilfe in Sachen Herkunftsforschung.
({0})
Es ist Konsens, dass auch private Sammler und Museen eine zentrale Informationsstelle zu diesem Thema
brauchen, und natürlich sollten mit Bundesgeldern geförderte Ausstellungen die Washingtoner Erklärung berücksichtigen.
({1})
So weit, so brav und in Teilen bereits vom Engagement
der Staatsministerin überholt. Mit mehr Geld und dem
gerade gegründeten Deutschen Zentrum Kulturgutverluste versucht sie, die genannten Punkte zumindest ansatzweise abzudecken. Es wäre sicherlich sinnvoll, die
Arbeit des Zentrums in einem Jahr zu evaluieren.
Nun stecken in diesem Antrag aber auch noch ein
paar konkretere Forderungen. Es werden zwei rechtliche
Verbesserungsvorschläge gemacht, um die Restitution,
also Rückgabe, von in der NS-Zeit abgepressten oder geraubten Kunstgegenständen an ihre ursprünglichen Eigentümer oder deren Erben zu erleichtern. Denn die
BRD hat es nach 1945 versäumt, Gesetze zu erlassen,
die die Opfer dieses riesigen und systematischen
Kunstraubs geschützt hätten. Und so stehen wir nun vor
der Situation, Opferfamilien erklären zu müssen, dass
ihre Ansprüche auf geraubtes Eigentum nach deutschem
Recht allesamt verjährt sind. Das ist moralisch schwer
vermittelbar.
({2})
Die Grünen fordern jetzt die Bundesregierung auf, die
§§ 935 und 937 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu ändern. Aber warum so zaghaft? Natürlich ist es sinnvoll,
den Druck auf Auktionshäuser zu erhöhen, seriöse Herkunftsforschung vor Versteigerungen zu betreiben, und
ich nehme an, alle hier Anwesenden würden gern die
rechtliche Stellung der NS-Opfer in dieser Frage stärken.
({3})
Die Vorschläge der Grünen bieten aber ein Heftpflaster
an, wo eine Operation notwendig wäre. Denn an dem zugrundeliegenden Problem - das ist die Beweislast würde sich rein gar nichts ändern. Sie liegt nach wie vor
beim ursprünglichen Eigentümer. Wie aber soll jemand,
der durch den Terror der Nazis alles außer seinem Leben
verloren hat, beweisen, dass jenes Bild oder dieses Buch
ihm einst gehörte? Ich empfinde dies als eine Zumutung.
({4})
Was wir an dieser Stelle bräuchten, wäre eine Beweislastumkehr.
In einer von der Linken eingeforderten Anhörung des
Ausschusses für Kultur und Medien zum Thema im Mai
2014 haben international anerkannte Experten wie Professor Dr. Haimo Schack oder Professor Dr. Julius
Schoeps rechtliche Regelungen für die Rückgabe von
NS-Raubkunst gefordert. Auch in der von uns im letzten
Sommer veranstalteten Podiumsdiskussion hier im
Reichstag wurde ein Restitutionsgesetz angemahnt.
Stefan Koldehoff schlug einen Fonds vor, analog zur
Zwangsarbeiterentschädigung. Diese Idee taucht im vorliegenden Antrag auch auf.
An Ideen und Engagement, den Zustand zu ändern,
dass sich im Jahr 2015 noch immer eine Vielzahl von
Raubkunst in deutschen Museen und Wohnzimmern befindet, mangelt es also nicht.
Die Bundesregierung will offensichtlich bei den „fairen und gerechten Lösungen“ der Washingtoner Erklärung bleiben. Ich kann an Sie nur appellieren, auf die
eben genannten Experten zu hören und endlich den geforderten Gesetzentwurf vorzulegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Burkhard Blienert hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Vor etwas mehr als einer Woche haben wir anlässlich des 70. Jahrestages der
Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz der Opfer
der NS-Diktatur gedacht. Es gehört heute zu unserem
nationalen Selbstverständnis, dass Deutschland seine
immerwährende Verantwortung für diese grausamsten
Verbrechen in seiner Geschichte annimmt. Eine Dimension dieser moralischen Verantwortung besteht darin, die
damaligen Verbrechen aufzuklären und Wiedergutmachung zu leisten. Bezogen auf die Debatte über NSRaubkunst, die sogenannten verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgüter, ist es wichtig, hervorzuheben, dass
der planmäßige Entzug von Eigentum ein wesentliches
Element der geplanten und systematischen Vernichtung
der Juden war. Dabei spielt es im Resultat keine Rolle,
ob der Entzug auf der Grundlage von unfreiwilligem
Verkauf, Erpressung, Enteignung, Beschlagnahme,
Diebstahl oder Raub erfolgte.
Mit dem Fall Gurlitt wurde offenbar, dass in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg der gesamte Komplex der unrechtmäßigen Entziehung von Kulturgütern
während der NS-Zeit nur unzureichend aufgearbeitet
worden ist. Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag, der viele in diesem Kontext diskutierte Vorschläge in Bezug auf die Provenienzforschung und Restitutionspraxis aufgreift, spricht daher
ein außerordentlich wichtiges Thema an.
Es ist wichtig, zu betonen, dass sich die Bundesregierung zusammen mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden vorbehaltlos zur Verantwortung für die
Aufarbeitung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem
Kulturgut in öffentlichen Sammlungen bekennt. Diese
Verantwortung beruht auf den Prinzipien der Washingtoner Erklärung von 1998. In einer Gemeinsamen Erklärung haben sich dann Bund, Länder und kommunale
Spitzenverbände 1999 zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes,
insbesondere aus jüdischem Besitz, verpflichtet. Alle öffentlichen Einrichtungen sind aufgerufen, ihre Kulturgutbestände zu überprüfen und unklare oder verdächtige
Erwerbsvorgänge offenzulegen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um diese Verpflichtung umzusetzen, sind in der Folge zahlreiche Instrumente entstanden. Dazu gehört die Lost-Art-Internetdatenbank der Koordinierungsstelle Magdeburg, mit der
seit dem Jahr 2000 ein Verzeichnis geschaffen wurde,
welches heute 154 000 detailliert und mehrere Millionen
summarisch beschriebene Kulturgüter auflistet, die infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und
der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges verbracht, verlagert oder insbesondere jüdischen Eigentümern verfolgungsbedingt entzogen wurden. 2003 wurde zur
Schlichtung strittiger Restitutionsfragen eine unabhängige Beratende Kommission unter Leitung von Jutta
Limbach gegründet, die konkrete Fälle prüfen und unverbindliche Empfehlungen für faire und gerechte Lösungen aussprechen kann. 2008 wurde dann die Arbeitsstelle für Provenienzforschung bei der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz geschaffen, die seitdem mit insgesamt
14,5 Millionen Euro Museen und Bibliotheken bei der
dezentralen Herkunftssuche unterstützt hat.
Ich beschreibe diese Punkte, um die jenseits aller Regierungsfarben unternommenen Bemühungen aufzuzeigen, die es in den letzten Jahren gegeben hat, um Provenienzrecherche und -forschung gezielt zu verbessern.
Doch noch immer gibt es Verbesserungsmöglichkeiten,
die im Antrag auch benannt werden.
Der sogenannte Schwabinger Kunstfund machte aber
auch deutlich, dass es in Deutschland an einem einheitlichen Ansprechpartner sowohl für Museen und Kunsthändler als auch für Privatpersonen fehlt und dass weiterhin erhebliche Mittel und Personal benötigt werden,
um dem Bedarf zu entsprechen. Auch die Tatsache, dass
die Washingtoner Erklärung für private Besitzer nicht
verbindlich ist, stellt einen unbefriedigenden Zustand
dar. Von daher ist es außerordentlich zu begrüßen, dass
mit Unterstützung des Bundestages Staatsministerin
Grütters deutlich mehr Mittel für die Provenienzforschung zur Verfügung stellt und die Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste auf den Weg gebracht
hat.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sollen die Kompetenzen der verschiedenen Einrichtungen gebündelt
und damit ein einheitlicher Ansprechpartner geschaffen
werden. Auch Privatpersonen können sich dahin wenden, die ihre Sammlungen gewissenhaft überprüfen wollen. Zudem ist die Aufarbeitung von Kulturgutverlusten
in der ehemaligen DDR bzw. der Sowjetischen Besatzungszone Aufgabe der Stiftung, eine wichtige Aufgabe;
denn bislang wurden fast ausschließlich die in der Zeit
des Nationalsozialismus entzogenen Kulturgüter in den
Blick genommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe deutlich
machen wollen, wie ernst die Koalitionsfraktionen das
im Antrag vorgetragene Anliegen nehmen. Viele der zu
Recht benannten Forderungen an die Bundesregierung
werden ganz im Sinne der Washingtoner Prinzipien umgesetzt. Wir wissen allerdings auch, dass noch eine
Menge zu tun ist; denn die Recherche über die Herkunft
der Kunstwerke ist nur ein Teil dieser Arbeit.
Die Bundesregierung bemüht sich zugleich darum,
die Rechtslage in Deutschland dahin gehend zu verbessern, unter welchen Umständen Kunstwerke, die jüdischen Bürgern geraubt wurden und die sich heute in öffentlichen und privaten Museen oder in Privatbesitz
befinden, den ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben werden können und müssen.
Das sind für mich zwei Seiten einer Medaille - beides
gehört zusammen -: eine bessere Provenienzrecherche
und -forschung sowie das Bemühen, jüdischen Alteigentümer bzw. ihren Rechtsnachfolgern NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut wirklich zurückgeben zu
können.
Ich freue mich auf die konstruktiven Gespräche in
den Ausschüssen und bedanke mich heute für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Dr. Astrid Freudenstein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir nähern uns in großen Schritten dem Wochenende. Ich will Ihnen hier kurz
von einem gelungenen Fall von Provenienzforschung
berichten.
Im Kunstforum Ostdeutsche Galerie, ein durchaus renommiertes Museum in meiner Heimatstadt Regensburg, hängt ein Ölgemälde von Lovis Corinth, die Drei
Grazien. Das Motiv kennen Sie: drei nackte Frauen, die
sich berühren und umarmen. Raphael hat sie gemalt,
ebenso Rubens. Im 16. und 17. Jahrhundert war dieses
Thema in der Kunst sehr beliebt. Insofern ist das Werk
von Lovis Corinth ein bisschen aus der Zeit gefallen.
Corinth war schon in der Moderne ein großer Konservativer. Seine Drei Grazien sind erst vor hundert Jahren
entstanden.
Dieses Bild hängt als Dauerleihgabe der Bayerischen
Staatsgemäldesammlungen in Regensburg. Das dortige
Kunstforum Ostdeutsche Galerie ist ein Spezialmuseum
mit einem bundesweit einzigartigen Auftrag. Es bewahrt
das Kunsterbe der ehemals deutsch geprägten Kulturräume in Osteuropa. Das ist interessant, weil der Bund
an diesem Haus finanziell ganz wesentlich beteiligt ist.
Seit einigen Monaten nun hängt neben diesem Gemälde ein kleines Schild mit Anmerkungen zur Provenienz der Drei Grazien. Die Geschichte, die hier zu lesen
ist, ist eine ausgesprochen spannende; denn das Gemälde
ist mit dem tragischen Schicksal einer jüdischen Familie
eng verbunden, der Familie Levy. Clara Levy, eine
Tuchfabrikantin hier aus Berlin, war seit 1921 die Eigentümerin dieses Bildes. Das Gemälde gelangte 1939, als
sie Deutschland verlassen musste, mit ihrem Umzugsgut
nach Luxemburg, wo Clara Levy wenig später starb. Ihre
Erben ließen die Drei Grazien zu Verwandten nach New
York verschiffen.
Hier wird es dann unübersichtlich: Die Erbengemeinschaft von Clara Levy beantragte nämlich 2002 von den
Bayerischen Staatsgemäldesammlungen die Rückgabe
dieses Bildes. Aussage stand gegen Aussage: Die Familie Levy behauptete, dass das Bild nie in Amerika angekommen sei. Ihrer Meinung nach haben die NS-Behörden das Gemälde noch vor der Verschiffung nach New
York beschlagnahmt. Bei den Verwandten in Amerika
sei das Bild jedenfalls nie angekommen. Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen widersprachen: Sie sehen sich als rechtmäßige Eigentümer, also ein klassischer Fall für die Provenienzforschung. Sie erforscht die
Herkunft eines Kunstwerkes, recherchiert die Besitzverhältnisse, stellt rechtmäßige und unrechtmäßige Eigentümer fest.
Nun beschäftigen wir uns heute mit einem Antrag der
Grünen, der die Defizite in der Provenienzforschung
darlegt. Sie sehen ein generelles Informationsdefizit und
verlangen eine intensivere Auseinandersetzung mit dem
Kulturgutverlust, auch anderer Opfergruppen als der NSOpfer, und sind der Meinung, dass Privatleute beim
Thema Provenienzforschung immer noch recht alleine
gelassen werden. In Ihrem Antrag steht:
Auch die von der Bundesregierung geplante Gründung eines „Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste“ wird diese wesentlichen Problemfelder nicht
abfangen und beheben können.
Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, doch ans Herz legen, die Satzung des
neu gegründeten Zentrums zu lesen. Ich gebe gerne zu,
dass es Spannenderes als dieses neunseitige Papier gibt.
Aus der Satzung des „Deutschen Zentrums Kulturgutverluste“ geht jedoch klar hervor, was unter Staatsministerin Grütters geschaffen wird. Ein Großteil Ihrer Forderungen ist in dieser Satzung bereits realisiert. Die
Gründung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste
markiert auch längst nicht den Anfang der Bemühungen
um Provenienzforschung und Restitution.
({0})
Seit dem Jahr 2008 wurden über die Arbeitsstelle für
Provenienzforschung 170 Projekte in 89 Museen und
Dutzenden Bibliotheken, wissenschaftlichen Institutionen und universitären Einrichtungen gefördert. Fördergelder in Höhe von rund 12 Millionen Euro wurden zur
Verfügung gestellt. In den geförderten Projekten wurden
und werden mehr als 90 000 Objekte - überwiegend Gemälde, Zeichnungen und Grafiken - und mehr als
520 000 Bücher und Drucke überprüft, bei denen ein
Verdacht auf NS-verfolgungsbedingten Entzug nicht
ausgeschlossen werden konnte.
Die Fundmeldungen öffentlicher Einrichtungen in der
Lost-Art-Datenbank haben sich seit dem Jahr 2008 mehr
als vervierfacht, und zwar auf jetzt gut 29 000. Nach Erkenntnissen der Koordinierungsstelle in Magdeburg
wurden in Deutschland allein im Bereich NS-Raubkunst
seit der Washingtoner Erklärung von 1998 mehr als
12 000 Objekte restituiert. Diese Zahlen beeindrucken,
und doch - darin sind wir uns alle einig - liegt noch ein
ganzes Stück Arbeit vor uns.
Klar ist, dass die Debatte um Provenienzforschung
durch den Schwabinger Kunstfund eine neue Dynamik
bekommen hat. Klar ist aber auch, dass Sie Ihren Antrag
besser vor zehn Jahren eingebracht hätten: Im Spätsommer 2005 wäre er genau richtig gewesen. Denn damals
neigte sich gerade die zweite Legislaturperiode dem
Ende zu, in der Rot-Grün die Mehrheit hatte.
({1})
Zwei Legislaturperioden lang, und zwar genau die sieben Jahre nach der Washingtoner Erklärung, ist nämlich
in Sachen Provenienzforschung in unserem Land reichlich wenig passiert.
({2})
Erst mit der Amtsübernahme durch Bernd Neumann und
nun mit Monika Grütters wurde der Provenienzforschung die herausgehobene Stellung eingeräumt, die sie
jetzt hat.
({3})
Die Drei Grazien - um die Geschichte zu Ende zu
bringen - sind übrigens noch immer im Regensburger
Kunstforum Ostdeutsche Galerie zu sehen. Nicht nur
deshalb lege ich Ihnen einen Besuch dieses Hauses besonders ans Herz. Die Limbach-Kommission, von der
vorhin schon die Rede war, die sich strittigen Fällen der
Provenienzforschung widmet, hat unmissverständlich
empfohlen, das Gemälde bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zu belassen. Sie sind der rechtmäßige
Eigentümer.
Die Wissenschaftler der Koordinierungsstelle Magdeburg haben Frachtzettel unter die Lupe genommen, Unterschriften verglichen, Stempel inspiziert und Verkaufsurkunden überprüft. Die Drei Grazien wurden nämlich
tatsächlich wie geplant von Luxemburg nach Amerika
verschifft und dort von den Verwandten entgegengenommen. Sie verkauften das Bild an den New Yorker Galleristen Curt Valentin, der die Drei Grazien 1949 zurück
nach Europa verkaufte, und zwar an das Kunstmuseum
Bern. Im März 1950 erwarben die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen das Bild wiederum vom Kunstmuseum Bern.
Der Fall ist beklemmend, weil die Eigentümerfamilie
tatsächlich wegen der Nationalsozialisten Deutschland
verlassen musste. Das Bild wurde aber weder von den
NS-Behörden beschlagnahmt noch unter dem Druck der
politischen Lage unter Wert verkauft. Beides war nicht
der Fall. Die Anzahl der Restitutionen sagt also nichts
darüber aus, wie gut Provenienzforschung funktioniert.
Die Geschichte der Drei Grazien ist im Übrigen in der
Lost-Art-Datenbank nachzulesen. Auch diese Lektüre
möchte ich Ihnen fürs Wochenende ans Herz legen.
Danke schön.
({4})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein sprachliches Bild, das Bundespräsident
Joachim Gauck in seiner Ansprache zum 70. Jahrestag
der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz geprägt hat, hat mich in der
Vorbereitung dieser Rede besonders begleitet. Er sagte,
es sei „ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig
bleibt“. Dieser Bruch in unserer Identität begleitet uns
tatsächlich auch heute noch.
70 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers
Auschwitz ist es uns immer noch nicht gelungen, das
NS-Unrecht zu beseitigen. Es lebt auch heute noch
- auch in der modernen Bundesrepublik - fort.
Eigentümerinnen und Eigentümer, denen verfolgungsbedingt Kunstwerke entzogen wurden, oder deren Erben,
warten noch immer auf Wiedergutmachung, Rückgabe
und Gerechtigkeit. Dass die Folgen nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen noch heute fortbestehen, befremdet uns.
Wir haben Handlungsbedarf zum einen hinsichtlich
der Sachverhaltsaufklärung bzw. der Tatsachenaufklärung und zum anderen hinsichtlich des rechtlichen Rahmens. Bei der Tatsachenaufklärung haben wir in den
Koalitionsvertrag geschrieben, dass wir die Provenienzforschung verstärken wollen. Damit wollen wir dem Anspruch auf Restitution gerecht werden.
Die Tatsachenaufklärung ist der zentrale Baustein,
will man in irgendeiner Form dafür sorgen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird. Sämtliche Kunstwerke, die jüdischen Bürgern in der NS-Zeit geraubt wurden, müssen
aufgespürt werden. Dies gilt besonders für deutsche Museen. Auch solche Kunstwerke, die sich in Privatbesitz
befinden, müssen stärker in den Fokus geraten.
Zum 1. Januar dieses Jahres ist das Deutsche Zentrum
Kulturgutverluste als Stiftung bürgerlichen Rechts in
Magdeburg gegründet worden. Ziel des Zentrums ist, die
Initiativen von Bund, Ländern und Kommunen zu bündeln. Es wird die unabhängig beratende Kommission
unter der Leitung von Jutta Limbach ebenfalls unterstützen. Ich wünsche mir, dass damit eine effektive Sachverhaltsaufklärung möglich wird.
Die Herausforderungen hinsichtlich der Gestaltung eines adäquaten Rechtsrahmens sind allerdings komplizierter. Was ist 70 Jahre nach Untergang des NS-Regimes
gerecht? Auf der einen Seite haben wir es mit dem Gerechtigkeitsbedürfnis von Menschen zu tun, denen durch
die Nazis Unrecht zugefügt wurde. Sie wurden ihres Eigentums beraubt. Auf der anderen Seite haben wir es mit
Menschen zu tun, die unter Einsatz von privaten Mitteln
Kunstgegenstände erworben haben. Kann es gerecht
sein, wenn wir diese Menschen angesichts des NS-Unrechts rechtlos stellen, auch wenn sie zum Zeitpunkt des
Erwerbs eventuell gutgläubig waren?
Möglicherweise bietet die Washingtoner Erklärung
aus dem Jahr 1998 hierfür einen geeigneten Rahmen. Sie
verlangt nach gerechten und fairen Lösungen. Sicher ist,
dass das Gerechtigkeitsbedürfnis beider Seiten in Ausgleich gebracht werden muss. Wir können nicht einseitig
das Gerechtigkeitsbedürfnis einer Seite ignorieren. Wichtig ist: Es muss erlaubt sein, sich den aufkommenden
Fragen permanent mit einem ernsthaften Aufklärungswillen zu stellen. Es reicht nicht, bloß auf den geltenden
Rechtsrahmen zu verweisen.
Wir müssen möglicherweise unsere Rechtsordnung
nachjustieren. Zentrale Fragestellungen hierbei sind: Welche Anforderungen stellen wir an den guten Glauben
beim Erwerb eines Kulturgutes? Wie sieht ein Herausgabeanspruch aus, der die verfassungsrechtlichen Grenzen
echter Rückwirkung im Blick hat? Welche Verjährungsfristen sind sachgerecht? Wie sehen die Regeln gutgläubigen Erwerbs in einer öffentlichen Auktion aus? Welche Verjährungsfrist ist hier sachgerecht? Des Weiteren
müssen wir die Regelungen der gutgläubigen Ersitzung
überprüfen.
Ich finde, dass das Bundesjustizministerium an dieser
Stelle gute Arbeitet leistet. Ich weiß, dass derzeit an verschiedenen Stellen Strategien im materiellen Recht und
im Verfahrensrecht geprüft werden, um eine ausgewogene und gerechte Lösung zu entwickeln. Wir alle sind
auf die Lösungsansätze gespannt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3046 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. Februar 2015, 13 Uhr,
ein. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute.
Die Sitzung ist geschlossen.