Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte Sie zunächst um Zustimmung zu einigen vorgeschlagenen Änderungen unserer Tagesordnung bitten.
Interfraktionell ist vereinbart worden, unsere heutige
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({0})
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz herstellen und Verhandlungen
über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über
den Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung
aufnehmen
Drucksache 18/3917
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag in die Entscheidung über die neue schnelle NATO-Eingreiftruppe einbeziehen
Drucksache 18/3922
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Alexander S. Neu, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Demilitarisierung statt Eskalation - Keine
NATO-Eingreiftruppe im Osten Europas
Drucksache 18/3913
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, Tom
Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen Friedenseinsätzen
Drucksachen 18/1460, 18/3931
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 6 - Gesetzentwurf zur Änderung des SGB IV - wird heute abgesetzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen
rücken entsprechend vor. Der Tagesordnungspunkt 12
- Baukulturbericht 2014/15 - soll nunmehr mit einer Beratungszeit von 38 Minuten debattiert werden. Des Weiteren wird der Tagesordnungspunkt 15 - hier geht es um
Anträge zur Menschrechtslage in Mexiko - abgesetzt.
Stattdessen soll der Tagesordnungspunkt 9 - Anträge für
ein internationales Staateninsolvenzverfahren und zur
Restrukturierung von Staatsschulden - mit einer Debattenzeit von 25 Minuten aufgerufen werden.
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am letzten Samstag
ist Richard von Weizsäcker verstorben. Mit ihm hat
unser Land eine seiner herausragenden Persönlichkeiten
verloren, ein großes Staatsoberhaupt, für viele Menschen
eine Identifikationsfigur, in dessen Leben sich ein
Präsident Dr. Norbert Lammert
ganzes Jahrhundert deutscher und europäischer Geschichte spiegelt.
Zwölf Jahre war er Mitglied dieses Hauses und bekleidete in dieser Zeit führende Funktionen. Als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gehörte er zu den prominenten Parlamentariern der
1970er-Jahre. Zuletzt, von 1979 an, war Richard von
Weizsäcker Vizepräsident des Deutschen Bundestages.
Er verließ ihn 1981, um - in seinen Worten - als
„Schwabe im Exil“ Regierender Bürgermeister von Berlin zu werden, in einer Zeit, als die ideologischen wie die
realen Mauern noch für die Ewigkeit errichtet schienen.
Die deutsche Teilung und ihre Überwindung sollten seine
Amtszeit als Bundespräsident entscheidend prägen.
„Es kommt meinem Amt zu, Fragen zu stellen und die
Arbeit für Antworten auf sie zu ermutigen, nicht aber
Rezepte anzubieten“, sagte er nach seiner Wahl zum
Staatsoberhaupt 1984. Sein Amtsverständnis war überparteilich, aber nicht neutral oder gar meinungslos. Das
spürten gelegentlich auch andere Verfassungsorgane,
nicht zuletzt die Parteien. Er schonte sie nicht, wenn er
von ihren besonderen Rechten und Pflichten sprach, dabei wohl wissend und regelmäßig betonend, welche Bedeutung den Parteien im Gefüge der parlamentarischen
Demokratie zukommt.
In diesem Parlament, damals noch in Bonn, hielt
Richard von Weizsäcker seine vielleicht persönlichste,
ganz sicher aber seine politisch bedeutendste Rede. Dolf
Sternberger, der große Publizist, hat ihre Wirkung gedanklich vorweggenommen, als er über die Einflussmöglichkeiten eines Bundespräsidenten 1979 schrieb:
„Auch Reden sind Taten.“ Die Ansprache vom 8. Mai
1985 im Deutschen Bundestag war eine solche - im
Wortsinn - wegweisende Tat. Dass der 8. Mai ein Tag
der Befreiung war, hatten andere schon vor ihm gesagt.
Nachhaltig Wirkung entfaltete der Gedanke aber erst in
seinen Worten, kraft seines Amtes wie seiner persönlichen Autorität, seiner Lebenserfahrung, der erlittenen
Brüche in seiner Familie, aber auch durch die intellektuelle Schärfe seiner zugleich berührenden Gedanken. Die
Rede wirkt nach, weil sie die Deutschen nicht etwa mit
der Geschichte versöhnte, sondern sie veranlasste, der
Wahrheit ins Gesicht zu schauen, auch wenn sie wehtut.
Richard von Weizsäcker hat damit einen ganz persönlichen Beitrag zum nachhaltigen Umgang der Deutschen
mit ihrer Geschichte geleistet - und das wird bleiben.
In seine Amtszeit fielen mit der Wiederherstellung
der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges
weltbewegende Ereignisse. Die deutsche Frage hatte ihn
bereits als Parlamentarier bewegt: Er war seinerzeit Mitglied im Ausschuss für innerdeutsche Beziehungen, und
er bewies seine Fähigkeit zur wort- und wirkmächtigen
Intervention bereits in den kontroversen Debatten um die
Ostverträge.
Als Richard von Weizsäcker 1990 schließlich der
erste Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschland wurde, erkannte er die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Menschen in Ost und West, und er sah es
als seine Aufgabe an, sie zusammenzuführen. Am Tag
der Deutschen Einheit formulierte er einen Satz, der die
Herausforderung des inneren Einigungsprozesses auf
den Punkt brachte, indem er jedem Einzelnen seine persönliche Verantwortung zumaß: „Sich zu vereinen, heißt
teilen lernen.“ Es ist sicher in seinem Sinne hinzuzufügen, dass dieser Gedanke über die Nation hinaus auch im
europäischen Einigungsprozess Geltung beanspruchen
kann.
Für die europäische Integration, insbesondere die
Überwindung der Teilung in Ost und West, hat sich
Richard von Weizsäcker mit hohem persönlichem Einsatz engagiert - auch nach seinem Abschied vom
Schloss Bellevue. In dieser „dritten Amtszeit“, wie die
beträchtliche Wirkung seiner Auftritte als Altbundespräsident anerkennend beschrieben wurde, verfolgte er
seine Anliegen mit großer Intensität weiter. Dazu zählten
vor allem die freundschaftlichen Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn, wie Polen und Tschechen, aber
auch sein Einsatz für das deutsch-israelische Verhältnis.
Den Staat Israel hatte er als erstes deutsches Staatsoberhaupt besucht. Richard von Weizsäcker genoss überall in
der Welt höchste Wertschätzung und blieb auch ohne
Amt angesehener Botschafter unseres Landes; sein Wort,
wo es ihm wichtig und nötig erschien, hatte Gewicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 11. Februar
wird unser Land Richard von Weizsäcker die letzte Ehre
erweisen; dann werden wir von ihm Abschied nehmen.
Als Abgeordnete verneigen wir uns schon heute vor ihm,
in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit für seine herausragende politische Lebensleistung im Dienste unseres Landes. Richard von Weizsäcker hat sich um
Deutschland verdient gemacht.
Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei seiner
Familie, bei allen Angehörigen, vor allen bei seiner Frau
Marianne, die ihm nicht zuletzt im Amt des Bundespräsidenten die wichtigste, liebevoll stützende Kraft gewesen ist.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 unserer heutigen Plenarsitzung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht
über Versicherungen
Drucksachen 18/2956, 18/3252
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
Drucksache 18/3900
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Donnerstagmorgens um zehn nach neun ist für uns die Primetime, die Zeit der großen Debatten. Es geht um Regierungserklärungen, Weltpolitik, Mindestlohn und was es
da sonst noch alles gibt. Heute unterhalten wir uns hier
über den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der
Finanzaufsicht über Versicherungen. Sie hier im Saal,
die Gäste auf der Tribüne und unser treues Stammpublikum bei Phoenix werden sich fragen: Ist denn dieses
Thema wirklich so wichtig? Ich kann Ihnen nur sagen:
Es ist sehr wichtig. Es geht um Versicherungen. Jeder
von uns hat irgendwelche Versicherungen. Wem das
nicht reicht: Es geht auch um Lebensversicherungen. Da
reden wir über 90 Millionen Verträge in Deutschland,
und wir reden über ein Anlagevolumen von 900 Milliarden Euro. Wir wollen diese Versicherungen sicherer und
besser machen.
Deswegen sagen wir: Versicherungen brauchen mehr
Kapital, damit sie in Krisenzeiten stärker dastehen. Versicherungen brauchen andere Risikomanagementsysteme, damit sie weniger Fehler machen. Versicherungen
müssen besser an die Aufseher berichten, damit dieser
ganze Prozess auch kontrolliert werden kann. Deswegen
setzen wir heute die Solvency-II-Richtlinie in deutsches
Recht um. Das ist ein Mammutwerk. Über zehn Jahre ist
auf europäischer Ebene und in Deutschland an diesem
Prozess gearbeitet worden. Um ganz ehrlich zu sein: Wir
werden mit diesem Gesetz ziemlich vielen Leuten ziemlich viel Arbeit machen. Denn das, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Versicherungen nun umsetzen
müssen, ist wahrlich ein Jahrhundertwerk.
Wer infrage stellt, ob das alles so richtig und wichtig
ist, den möchte ich aus dem Februar 2015 in den Oktober 2008 mitnehmen. Wir alle erinnern uns noch, was
damals geschehen ist: Finanzinstitutionen standen kurz
vor der Insolvenz oder sind in die Insolvenz, in die
Pleite, gegangen. Banken haben anderen Banken kein
Geld mehr geliehen. Die Konjunktur ist eingebrochen.
Wir hatten eine hohe Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle, die uns alle vor ganz enorme Schwierigkeiten gestellt haben. Alle, die damals dabei waren, haben sich
gesagt: Wir möchten nie wieder erleben, dass es möglich
ist, dass Finanzinstitutionen ganze Volkswirtschaften in
den Abgrund reißen.
Was danach gefolgt ist, ist meines Erachtens eines der
bemerkenswertesten Projekte, die die deutsche Politik
seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Damals haben
sich Menschen zusammengesetzt - ich sehe zum Beispiel Peer Steinbrück, der im Saal sitzt; die Bundeskanzlerin und viele andere - und haben in unglaublich kurzer
Zeit sehr viel auf den Weg gebracht. Sie haben zunächst
einmal den Patienten, den Finanzmarkt, stabilisiert.
„Stabilisiert“ heißt, dass wir einen Rettungsfonds aufgelegt haben: mit Investitionssummen, mit Garantien, mit
Kapitalbeteiligungen von über 200 Milliarden Euro; das
meiste davon ist übrigens zurückgezahlt worden. Die
Bundesländer haben sehr viel Geld in die Hand genommen, um die Landesbanken zu sanieren. Wir alle erinnern uns auch an die legendäre Pressekonferenz unserer
Bundeskanzlerin und des damaligen Bundesfinanzministers, in der gesagt worden ist, dass die Spareinlagen vom
Staat geschützt werden. Das war der erste Schritt. Aber
allen war klar, dass diese Stabilisierung nicht reichen
wird, sondern dass wir neue Regeln brauchen.
Dann hat man auf internationaler Ebene, auf europäischer Ebene und in Deutschland ein Regelpaket auf den
Weg gebracht, das seinesgleichen sucht.
Damit Sie ein Gefühl dafür bekommen, was in den
letzten sechs Jahren passiert ist, nur einige Beispiele:
Wir haben die Aufsicht über die Ratingagenturen geändert. Wir haben die Vergütungsregeln bei Banken geändert. Wir haben Leerverkäufe verboten. Wir haben ein
Banken-Restrukturierungsgesetz auf den Weg gebracht.
Wir haben neue Regeln für Verbriefungen, für Großkredite auf den Weg gebracht. Wir haben die Anlageberatung bei Banken und bei Finanzanlagevermittlern geändert. Wir haben die nationale Finanzaufsicht verändert.
Wir haben europäische Institutionen zur Finanzaufsicht
auf den Weg gebracht. Wir haben internationale Organisationen wie den IWF gestärkt. Wir haben dafür gesorgt,
dass Finanzkonglomerate anders beaufsichtigt werden.
Wir haben ein neues Börsengesetz auf den Weg gebracht. Wir haben Veränderungen bei den besonders toxischen Derivaten vorgenommen und haben diese auf
eine komplett neue Grundlage gestellt. Wir haben den
Hochfrequenzhandel reguliert. Wir haben Stufe eins der
Bankenunion umgesetzt, indem wir eine europäische
Bankenaufsicht installiert haben. Wir haben Stufe zwei
der Bankenunion umgesetzt, indem wir einen gemeinsamen europäischen Restrukturierungsmechanismus auf
den Weg gebracht haben. Wir sind dabei, Stufe drei der
Bankenunion umzusetzen, nämlich eine neue Einlagensicherung auf den Weg zu bringen. Wir haben ein Trennbankengesetz gemacht. Wir haben die Strafvorschriften
für Vorstände von Banken verändert. Wir haben Banken
gezwungen, Testamente zu machen. Wir haben kürzlich
erst die Lebensversicherungen fit gemacht für die Niedrigzinsphase. Heute werden wir das große Werk Solvency II, die komplette Neuordnung der Versicherungsaufsicht, auf den Weg bringen, übrigens eines der ganz
wenigen Projekte, die schon vor der Krise, im Jahr 2005,
begonnen worden sind.
({0})
Das alles ist sehr erstaunlich. Wir haben europäisches
Recht umgesetzt, wir haben uns in die europäische
Rechtsetzung eingebracht, indem wir für die Interessen
unserer Sparkassen, unserer Volksbanken, unserer mittelständischen Banken und unseres Mittelstandes gekämpft haben, und werden weitere Projekte auf den Weg
bringen. Wir werden uns mit Schattenbanken beschäftigen und werden uns im Rahmen des Kleinanlegerschutzgesetzes um den Verbraucherschutz kümmern. Wir haben - davon könnte sich der eine oder andere in Europa
eine Scheibe abschneiden - die Zeit, die wir uns 2008
mit der Rettung der Finanzsysteme erkauft haben, genutzt. Wir haben sie genutzt, um die Finanzmärkte zu
verändern. Wir haben nicht den Anspruch, dass wir perfekt sind, und können auch niemandem garantieren, dass
es keine weiteren Krisen gibt, aber wir haben daran gearbeitet, dass Finanzinstitutionen weniger Fehler machen,
dass sie krisenfester sind, dass sie besser beaufsichtigt
werden, als das in der Vergangenheit der Fall war, dass
sie abgewickelt werden können, ohne ganze Wirtschaften mit in den Abgrund zu reißen.
({1})
Wenn Sie jetzt das Gefühl haben, dass das alles unglaublich viel und unglaublich schnell war, dann können
Sie sich ungefähr in die Menschen hineinversetzen, die
das alles umsetzen müssen, nämlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Banken und Versicherungen, die
Aufseher, die Wirtschaftsprüfer und die Berater, die
Zehntausende von Seiten in ihre tägliche praktische Arbeit einbringen müssen. Das ist wahrhaft ein Mammutwerk.
Deswegen wäre meine Bitte, dass wir vielleicht an
dieser Stelle, an der wir einen ganz großen Schritt nach
vorne gekommen sind, innehalten und überlegen: Was
haben wir da eigentlich gemacht? War all das so richtig?
Welche Auswirkungen hat das auf die Realwirtschaft?
Können wir noch Kredite an Mittelständler vergeben?
Können Zins- und Währungsrisiken noch vernünftig abgesichert werden? Wie sieht es mit der Langfristfinanzierung aus? Wie sieht es - ein ganz aktuelles Thema mit der Finanzierung von Unternehmensgründern und
Venture Capital aus? Haben wir Widersprüche in diesem
System, bei diesen unglaublich vielen Initiativen, die
gleichzeitig gelaufen sind? Haben wir unnütze Bürokratie aufgebaut? Gibt es noch die Möglichkeit, tatsächlich
in einer Marktwirtschaft zu agieren, oder ist alles so reguliert, dass man nichts mehr machen kann? Und vor allen Dingen: Welche Veränderungen bringt das in der
Wirtschaftsstruktur mit sich? Was haben wir eigentlich
für Auswirkungen bei mittelständischen Unternehmen,
bei Sparkassen, bei Volksbanken, bei kleinen Versicherungen? Was bedeutet diese Regulierung für deren Zukunft?
Um jetzt wieder auf den Gesetzentwurf zurückzukommen: Wir haben uns genau des Punktes, den ich als
Letztes angesprochen habe, angenommen, nämlich: Wir
wollen durch die unglaubliche Regulierung in diesem
Gesetz nicht die kleinen und mittleren Versicherungen
plattmachen. Sie brauchen Luft zum Atmen, müssen
auch weiterhin ihr Geschäft machen können und sollen
sich nicht den ganzen Tag damit beschäftigen müssen,
irgendwelche Meldebögen auszufüllen. Wo wir das
konnten, haben wir das auch in das Gesetz hineingeschrieben. Weil wir das nicht immer in das Gesetz hineinschreiben konnten, haben wir in unserem Ausschussbericht den Aufsehern der BaFin mit auf den Weg
gegeben: Behandelt die Kleinen anders als die Großen,
erdrückt sie nicht mit Bürokratie, mit Meldevorschriften! Das ist uns ganz wichtig. Wir haben zusammen vereinbart, dass wir uns in zwei Jahren ansehen werden, ob
das auch so gehandhabt wird. Insofern ist eine Nachricht
und eine Erkenntnis aus diesem ganzen Prozess: Wir
werden nicht zulassen, dass bei all diesen Regulierungen
der deutsche Mittelstand auf der Strecke bleibt.
({2})
Um darunter einmal einen Strich zu ziehen: Wir verabschieden heute ein großes Gesetzespaket. Das wird
Versicherungen besser und sicherer machen. Das wird
die Anlagen von Ihnen allen bei den Versicherungen besser schützen. Das wird dazu führen, dass im Falle einer
Krise eben nicht zuerst der Steuerzahler einspringen
muss, wie es im Jahr 2008 der Fall war. Das ist gut und
richtig. Wir haben dieses Gesetz - ich schaue jetzt die
Berichterstatter Manfred Zöllmer und Anja Karliczek
und die Opposition an - in einem, glaube ich, sehr vernünftigen Verfahren entwickelt. Dafür herzlichen Dank!
Herzlichen Dank auch der Opposition für den konstruktiven Teil der Kritik, die geäußert worden ist. Herzlichen
Dank an die Bundesregierung, aber auch an unsere europäischen Kollegen, die die eigentliche Last bei der
Schaffung dieses Gesetzes getragen haben, indem sie
nämlich auf europäischer Ebene mit den entsprechenden
Richtlinien vorgearbeitet haben. Wir hätten uns vorstellen können, dass das ein bisschen schneller und schlanker erfolgt; aber okay: Mit so vielen Ländern ist das
nicht ganz einfach. Wir haben jetzt ein Ergebnis. Damit
müssen wir arbeiten, und damit werden wir arbeiten.
Wir werden weitermachen. Wir haben die nächsten
Projekte - ich habe das bereits erwähnt - vor der Brust.
Diese werden wir mit dem gleichen Engagement angehen. Ich denke, auch das wird gut und richtig werden.
Ich freue mich auf die weiteren Finanzmarktprojekte.
Wie gesagt: Das, was in den letzten sechs Jahren erreicht worden ist, ist sicherlich eines der bemerkenswertesten Gesamtprojekte, die wir gemacht haben. Noch nie
ist so schnell so viel gemacht und so viel verändert worden. Unsere Aufgabe ist es jetzt, dafür zu sorgen, dass
das auch alles vernünftig umgesetzt wird, dass die Wirtschaftsstrukturen in Deutschland entsprechend erhalten
bleiben. Dem werden wir uns widmen.
Danke schön.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Karawanskij für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Nachdem es ja einige Zeit etwas ruhig schien, ist in den letzten drei Wochen doch wieder einiges in den Zeitungen und Zeitschriften zum Thema Versicherungen zu lesen, zum Teil
mit ganz dramatischen Überschriften wie: „Ausschüttungen gestoppt“, „Kunden auf Nulldiät“, „Kunden gehen
leer aus“. Oder wie jüngst im Handelsblatt zu lesen war:
Lebensversicherer investieren riskanter und schütten
dennoch weniger Geld an ihre Kunden aus. - Es zeigt
sich einmal mehr: Versicherungskunden brauchen eine
starke Lobby, die dafür sorgt, dass die Kundenansprüche
und die Kundengelder erhalten bleiben und dass diese
Gelder nicht der Risikoabsicherung von Versicherungen
und deren Gewinnmaximierung dienen.
({0})
Die Bundesregierung steht hier an der Seite der Versicherungen, der Versicherungslobby. Wir, die Linke, sind
an dieser Stelle die Lobby für Versicherte.
({1})
Es geht heute um ein Gesetz, welches als Solvency-IIRichtlinie seinen Ursprung auf der europäischen Ebene
hat. Diese Richtlinie soll heute mit der Modernisierung
der Finanzaufsicht über Versicherungen in deutsches
Recht umgesetzt werden. Das Aufsichtsrecht über Versicherungen soll harmonisiert werden. Das ist - wir haben
es gerade gehört - ohne Zweifel ein Mammutprojekt,
das der Versicherungsbranche einiges abverlangt. Natürlich brauchen diese Umstellungen Zeit. Ob aber die veranschlagten 16 Jahre und länger der passende Zeitrahmen dafür sind, steht auf einem anderen Blatt.
Als Erkenntnis aus der Finanzmarktkrise sollen die
Versicherungen einen Großteil ihrer Kapitalanlagen nun
nach Marktrisiken bewerten und einer strengen und koordinierten europäischen Aufsicht unterstellt werden.
Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Aber es muss auch
dafür gesorgt werden, dass die richtigen Schlussfolgerungen aus der Krise gezogen werden. Das Gesetz soll
hier für dreierlei sorgen: zum Ersten soll es die systemischen Finanzmarktrisiken senken, und zwar wirkungsvoll, zum Zweiten soll die Stabilität des Versicherungssystems ohne den Einsatz von Steuermitteln
gewährleistet werden, zum Dritten sollen die Verluste
der Versicherten weitestgehend reduziert werden, also
Versichertenschutz betrieben werden. Wenn ich mir
diese Punkte vor Augen führe, komme ich zu dem
Schluss, dass die Mission gescheitert ist und dass das
Ziel verfehlt wurde.
({2})
Ich möchte einige Gründe für dieses Scheitern aufzeigen.
Die Eigenmittelanforderungen an die Versicherungen
sind ein Kernstück, um für mehr Stabilität zu sorgen. Die
Versicherungslobby in Brüssel hat dafür gesorgt, dass
genau diese über die Zeit Stück für Stück eingedampft
wurden. Sie sind insgesamt zu gering, um im Krisenfall
wirken zu können. Wenn es hart auf hart kommt, wird
auch Solvency II nicht vor Insolvenzen in der Versicherungsbranche schützen können. Hier wird ein Plan B benötigt.
Während auf der einen Seite die Eigenmittelanforderungen der Unternehmen nach unten gedrückt werden,
bleiben auf der anderen Seite mehr Gewinne, die ausschüttungsfähig sind, im Unternehmen. Das ist für die
Aktionäre sehr erfreulich; denn sie profitieren von den
Gewinnausschüttungen. Sie werden im Gegensatz zu
den Kunden, den Versicherten, bevorzugt behandelt. Ja,
ich weiß, es gibt eine Ausschüttungssperre für die Dividenden. Die ist allerdings Augenwischerei geblieben.
Sie kann umgangen werden.
Sie haben es schon beim Reformgesetz für die Lebensversicherungen letztes Jahr versäumt, dieses Ungleichgewicht zu beenden. Sie beenden es auch jetzt
nicht. Das geht ungerechterweise zulasten der Kunden.
Dies ist nicht hinnehmbar. Hier muss der Grundsatz verfolgt werden, dass die Versicherten bei der Zuweisung
und damit der Auskehrung der Gewinne keinesfalls
schlechtergestellt werden als Aktionäre.
({3})
Es ist ein ganz einfaches und nachvollziehbares Prinzip:
Gelder, die den Kunden zustehen, müssen auch an die
Kunden ausgezahlt werden - und das nicht nur in homöopathischen Dosen.
({4})
Auch was die Senkungen der Finanzmarktrisiken betrifft, bleibt das Gesetz hinter den Erwartungen zurück.
Wir Linken lehnen es ab, dass Versicherungen das ihnen
anvertraute Geld der Versicherten in hochspekulative
Produkte wie Hedgefonds oder Private Equity Fonds anlegen können. Es besteht doch weiterhin die Gefahr, dass
in hochriskante Marktbereiche und Finanzinstrumente
angelegt wird, was sowohl die Marktrisiken nicht senkt
als auch die Stabilität der Kundengelder gefährdet. Auch
dem schiebt Solvency II keinen Riegel vor.
Es ist brisant, dass mit diesem Gesetz den Versicherungen im Rahmen der Anlagemöglichkeiten weiter der
Weg geebnet wird, in den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur - Stichwort „Gabriel-Plan“ - zu investieren. Wir
sind strikt dagegen, für private Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen die Eigenmittelanforderungen der
Versicherungen zu senken.
({5})
Einer Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge
und Infrastruktur darf hier nicht weiter Vorschub geleistet werden. Versicherungen hoffen, damit ihre Garantieversprechen leichter erfüllen zu können; aber die Risiken
tragen letztendlich die Kunden. Hier wird privates Kapital durch die Hintertür zu Risikokapital. Das ist kein Versichertenschutz, und es beeinträchtigt auch die Finanzmarktstabilität.
({6})
Ich habe den Eindruck, dass Herr Gabriel - leider ist
er gerade nicht da - nichts dazugelernt hat. Wie viele
deutsche Kommunen haben sich zum Teil in undurchsichtige Finanzspekulationen verrannt, die sich im Nachhinein als grotesk erwiesen haben! Sie stehen nun vor
den Scherben. Hier wird weiter dem Irrweg von ÖPPProjekten - also der privaten Beteiligung an der öffentlichen Daseinsvorsorge - Vorschub geleistet. Es wird weiter der Weg beschritten, dass privates Risikokapital in
die öffentliche Hand geleitet wird.
Ich frage: Was passiert denn, wenn die Versicherungsleistungen bei den renditeträchtigen, aber riskanten
ÖPP-Projekten ausfallen? Wer trägt denn dann die Verluste? Das muss dann wieder die öffentliche Hand übernehmen. Sie muss die Verluste bzw. Ausfälle ausgleichen. Die Versicherten tragen also nicht nur als Kunden
die Risiken, sondern sie werden gleichzeitig auch als
Steuerzahler zur Kasse gebeten. Daraus muss man doch
die entsprechenden Schlüsse ziehen und darf nicht weiter falsche Wege beschreiten!
({7})
Seit längerem ist bekannt, dass ein Bereich aus den
Überschusstöpfen, die aus Kundengeldern bestehen
- die sogenannten freien Rückstellungen für Beitragsrückerstattung, also die freien RfB -, von den Versicherungen als Eigenmittelersatz genutzt werden kann. An
dieser Stelle wird die ganze Intransparenz der Überschusstöpfe sichtbar.
Große Teile der Eigenmittel werden einfach durch
Kundengelder ersetzt. Dadurch sinkt in der Folge die
Überschussbeteiligung der Versicherten, sprich: Die Kunden bekommen weniger Geld. Es bleibt völlig unklar,
wann wie viel von diesem Geld wieder an die Versicherten zurückfließt und nicht nur in einen Überschusstopf gebucht, sondern letztendlich auch wieder ausgezahlt wird.
Sie verstecken sich hinter der formulierten Absicht,
lediglich die Richtlinie umzusetzen. Jetzt haben Sie die
Möglichkeit, hier nachzusteuern, sich an die Seite der
Versicherten zu stellen und für klare Verhältnisse zu sorgen. Sie haben die Möglichkeit, klarzustellen, wie die
Kundengelder, die in den Überschusstöpfen geparkt
sind, letztendlich wieder zurückfließen. Das kann nämlich - so, wie es jetzt der Fall ist - nachträglich nicht
überprüft werden. Auch ist das Ganze nicht durchsichtig.
Ich möchte es noch einmal betonen: Den Kunden
werden voreilig Bewertungsreserven gekürzt. Sie müssen Abstriche hinnehmen, damit Versicherungen über
ihre freien RfB Eigenmittel bekommen, die sie, wie es
scheint, auch behalten. Kunden finanzieren ungewollt
auch noch den Reservepuffer namens Zinszusatzreserve
mit eigenem Geld. Das ist ein Dreiklang des Kundenschröpfens und keine versichertenfreundliche und transparente Politik.
Wir Linke lehnen den Gesetzentwurf ab; denn er vermag weder Finanzmarktrisiken deutlich zu senken noch
für ausreichende Stabilität und einen verbesserten Versichertenschutz zu sorgen. Diesen falschen Weg können
wir nicht mitgehen.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion erhält der Kollege Manfred
Zöllmer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
amerikanische Filmsternchen Lindsay Lohan macht
Werbung für eine amerikanische Versicherung. Das
Handelsblatt schrieb dazu - ich zitiere -:
Bei einer Gesellschaft, die Lohan versichert, sei
man ganz offensichtlich in besten Händen, schließlich kenne sich das Hollywoodsternchen bestens
mit Versicherungen aus - wegen ihrer zahlreichen
Autounfälle! …
({0})
Wahrscheinlich telefoniert Lindsay Lohan häufiger
mit ihrer Versicherung als mit ihrer Großmutter.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Was hat die Hollywood-Skandalnudel mit dem jetzt zu beschließenden
Gesetz zur Umsetzung von Solvency II zu tun?
({1})
Ganz einfach: In beiden Fällen geht es um Risikominimierung, um Sicherheit. Versicherungen sind ja ein
Stück Solidarität auf Beitragsbasis. Zudem bringt das
Beispiel Lindsay Lohans etwas Hollywood-Glamour in
eine ansonsten doch ziemlich trockene Materie, die für
uns alle aber sehr wichtig ist;
({2})
denn es ist ein zentrales Bedürfnis von uns Menschen,
Risiken, die das Leben mit sich bringt, zu begrenzen.
Mit dem Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen - auch als „Solvency II“ bezeichnet - werden neue europaeinheitliche Vorschriften
für Versicherungsunternehmen etabliert. Nicht zuletzt
durch die Finanzmarktkrise mit den realen oder möglichen Zusammenbrüchen namhafter Finanzinstitute war
die Notwendigkeit staatlicher Regulierung auch im Versicherungssektor gegeben. Es bleibt dabei: Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein Finanzmarkt
darf unreguliert bleiben.
({3})
Damit ist Solvency II Teil einer umfassenden Reformagenda zur Stabilisierung der Finanzmärkte.
Auch hier gilt, was wir bereits für die Banken wissen:
Ein Marktversagen kann nie komplett verhindert und
eine systemische Krise nie zu 100 Prozent ausgeschlossen werden. Aber mit der Umsetzung der Solvency-IIRichtlinie in deutsches Recht wollen wir dieses Risiko
minimieren und die notwendigen Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen. Dass dies sehr wichtig ist, erkennt
man, wenn man sich vor Augen führt, dass wir in Europa
den größten Versicherungsmarkt der Welt haben. Laut
Zahlen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft haben die europäischen Versicherer jährliche Prämieneinnahmen in Höhe von rund 1,1 Billionen
Euro und einen Kapitalanlagebestand in Höhe von
8,4 Billionen Euro. Da darf nichts ins Wanken kommen,
nicht zuletzt im Hinblick auf die Alterssicherung vieler
Menschen. Insgesamt gibt es in Deutschland 460 Millionen Versicherungsverträge - davon allein 90 Millionen
Lebensversicherungsverträge - und rund 550 000 Beschäftigte in dieser Branche. Damit ist diese Branche
wahrlich ein ökonomisches Schwergewicht in der deutschen Wirtschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neuen Vorgaben
bedeuten einen gravierenden und bedeutenden Systemwechsel in der Versicherungsaufsicht in Europa. Das bisherige Aufsichtssystem basierte hauptsächlich auf quantitativen Anforderungen. Jedoch kann die komplexe
reale Risikosituation eines Unternehmens durch diese
quantitativen Normen alleine nicht vollständig erfasst
werden. Durch eine zusätzliche qualitative Aufsicht wird
diesem Problem Rechnung getragen. Damit wird die
Aufsicht intensiver und die Stabilität des Systems größer.
Die Entwicklung von Solvency II hatte einen sehr
langen Vorlauf. Seit vielen Jahren wurde daran gebastelt.
Zeitweise kam immer wieder die düstere Prognose auf:
Das kommt nie. - Aber das war zum Glück ein Irrtum.
Jetzt ist es da.
Die Befugnisse für die Versicherungsaufsicht werden
national und europaweit gestärkt. Damit wird gleichzeitig sichergestellt, dass konzernweite Risiken nicht unbeachtet bleiben. Denn wir müssen uns vor Augen führen,
dass viele Versicherungen nicht nur in einem Land, sondern europaweit oder gar weltweit agieren. Es wird eine
engere Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden umgesetzt. In Deutschland ist das die BaFin, in Europa die EIOPA. Konzernen wird es ermöglicht, konzernweite Modelle zu verwenden und die Vorteile der
Diversifizierung zu nutzen.
Die Aufsichtsregeln werden durch Solvency II europaweit vereinheitlicht. Gleichzeitig wird damit auch die
Harmonisierung mit anderen Branchen des Finanzsektors, in erster Linie mit der Kreditwirtschaft, vorangetrieben. Ebenso wie bei Basel III, dem Regelwerk für die
Banken, gibt es bei Solvency II einen Dreisäulenansatz.
In der ersten Säule finden sich detaillierte Bestimmungen über die Mindestkapitalanforderungen. Diese
werden über sogenannte Faktormodelle ermittelt. Die
Aufsichtsbehörde kann wahlweise ein vorgegebenes
Standardmodell oder ein internes Risikomodell des Versicherers akzeptieren. An diesem Verfahren wurde eben
Kritik geäußert. Wir haben aber im Finanzausschuss
dazu eine Anhörung durchgeführt, die sehr deutlich gemacht hat, dass die Versicherungsaufsicht diese internen
Modelle genau in den Blick nimmt, um Risiken zu begrenzen, und dass sie an die Versicherer Anforderungen
stellt, die weit über das hinausgehen, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Damit ist Ihre Kritik an diesem Ansatz
unbegründet, Frau Karawanskij.
({4})
In der zweiten Säule finden sich im Wesentlichen
Vorschriften für die internen Modelle und Prozesse für
das Risikomanagement des Versicherungsunternehmens
sowie Anforderungen zum Beispiel an die Qualifikation
der Vorstände von Versicherungsunternehmen. Ich glaube,
auch das ist ein ganz wichtiger Punkt, um zu verhindern,
dass das eine reine Laienspielgruppe wird. In der dritten
Säule finden sich vor allem Berichterstattungspflichten
gegenüber Aufsichtsbehörden und der Öffentlichkeit.
Daneben gibt es weitgehende Neuerungen zur Beaufsichtigung von Versicherungsgruppen. Es wird eine kooperative Gruppenaufsicht auf europäischer Ebene geben, bei der die Aufsichtsbehörden in Aufsichtsgruppen,
den sogenannten Colleges of Supervisors, zusammenarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Regelwerk gibt
den Versicherern mehr Flexibilität, etwa in ihren Anlageentscheidungen. Aber gleichzeitig müssen die Unternehmen mehr Eigenmittel vorhalten, je mehr Risiken sie
eingehen, damit die Stabilität der Unternehmen gesichert
ist.
Die Linken fordern, mehr Geld aus dem Unternehmen
an die Versicherten auszuzahlen. Gleichzeitig verhindern
sie aber mit ihrer Forderung nach ganz engen Regeln,
dass die Unternehmen Geld verdienen. Das wird nicht
funktionieren.
({5})
Das wird dazu führen, dass die Unternehmen nicht mehr
in der Lage sind, ihre Aufgaben als Versicherungen zu
erfüllen. Ein Zusammenbruch der Unternehmen wäre
dann sicher. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was
wir mit Solvency II erreichen wollen. Das werden wir
nicht zulassen.
({6})
Die neuen Regeln schaffen ein modernes und einheitliches Aufsichtssystem für ganz Europa und sorgen so
für eine bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Sie sorgen für mehr ökonomische Stabilität. Gleichzeitig sollen
die Bedürfnisse und Besonderheiten der nationalen
Märkte angemessen berücksichtigt werden.
Es ist völlig normal, dass bei großen Gesetzesvorhaben die Betroffenen auch entsprechende Wünsche haben. Ich will auf zwei Punkte eingehen.
Es geht in dieser Debatte um die Umsetzung einer
Richtlinie der Europäischen Union. Die Kollegen im Europaparlament haben die Hauptarbeit schon erledigt. Wir
haben gesagt, dass bereits bestehende nationale Regelungen, die über die Vorgaben dieser Richtlinie hinausgehen, beibehalten werden. Es gab den Wunsch hier und
da, deutsche Standards zu senken. Diesem Wunsch sind
wir nicht gefolgt.
In Bezug auf Änderungswünsche beim Datenschutz
bei Ausgliederungen haben wir uns - das war einer der
zentralen Punkte - sehr intensiv beraten. Wir sind zu
dem Ergebnis gekommen, die bestehende Rechtslage
nicht zu verändern. Die Richtlinie stellt ausdrücklich
fest, dass Ausgliederungen nicht dazu führen dürfen,
dass datenschutzrechtliche Vorgaben unterlaufen werden. Wir wissen, dass der Datenschutz ein sehr sensibler
Bereich ist. Darüber wird auf europäischer Ebene sehr intensiv diskutiert. Hier sind neue Regeln in Vorbereitung.
So lange gelten die 2013 von der Versicherungswirtschaft
zur Förderung der Beachtung datenschutzrechtlicher Regelungen nach dem Bundesdatenschutzgesetz förmlich
anerkannten Verhaltensregeln fort. Zusammengefasst:
Wir sehen jetzt keine Veranlassung, in diesem Gesetz
neue Datenschutzregeln in Deutschland einzuführen.
Wir haben in Deutschland eine sehr vielfältige Versicherungslandschaft. Es gibt große und sehr große, aber
auch viele kleine Unternehmen. Unser Ziel ist, diese
vielfältige, sehr wettbewerbsintensive Versicherungslandschaft auch in Zukunft zu erhalten. Mit diesem Gesetz werden umfangreiche Regeln für Versicherungen
neu eingeführt. Die Versicherungsaufsicht wird zukünftig sehr viel intensiver sein. Es gab im Vorfeld dieses
Gesetzes die Befürchtung vieler kleiner Unternehmen
nach dem Motto: Das können wir doch als kleine Unternehmen gar nicht leisten. - Die Bedenken der kleinen
Unternehmen halten wir für berechtigt. Wir haben deshalb bei der Gesetzgebung großen Wert darauf gelegt,
den sogenannten Grundsatz der Proportionalität - das
heißt, dass Unternehmen unterschiedlich behandelt werden - bei der Umsetzung der neuen Regeln zu betonen
und zu beachten.
({7})
Diese Regeln müssen von der Versicherungsaufsicht differenziert angewandt werden, bei einem kleinen Unternehmen anders als bei Großkonzernen. Alle Regeln gelten also nicht für alle gleich. Es ist die dauernde Aufgabe
der Versicherungsaufsicht, dies entsprechend umzusetzen; der Kollege Brinkhaus hat das eben angesprochen.
Wir als Finanzausschuss werden das intensiv verfolgen.
Wir haben festgelegt, dass wir das 2017 überprüfen werden.
Versicherungen haben es momentan nicht leicht in
Deutschland. Die Risiken steigen, da die Niedrigzinsphase an den Finanzmärkten uns auf absehbare Zeit erhalten bleibt und die Kapitalpolster vielfach schrumpfen.
Hinzu kamen in der Vergangenheit einige sehr unerfreuliche Skandalmeldungen über die Branche; auf Details
verzichte ich hier. Das Handelsblatt titelte zu Recht:
„Die schönen Jahre sind vorüber“. Die Branche muss
sich vielfach neu aufstellen. Neue Produkte müssen entwickelt werden. Der Wettbewerb wird härter und europäischer. Die Gewinnmargen werden kleiner. Es gilt, das
Vertrauen der Menschen in die Versicherungswirtschaft
weiter zur stärken.
({8})
Versicherungen sind unverzichtbare Risikominimierer;
das weiß nicht nur Lindsay Lohan, sondern das wissen
wir alle.
Solvency II ist ein wichtiger Schritt einer guten Regulierung, hin zu einer stärkeren, zukunftsfähigen Versicherungswirtschaft in Europa. Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt ist es Aufgabe der Aufsicht, die
Vorgaben klug umzusetzen. Aufgabe der Unternehmen
ist, aus ihren Fehlern zu lernen sowie die Interessen und
Wünsche der Kunden niemals aus den Augen zu verlieren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Gerhard Schick für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn europäisches Recht in nationales Recht umgesetzt
wird, müssen wir bei der Bewertung zwischen dem unterscheiden, was in Europa schon entschieden worden
ist, und dem, was bei der Umsetzung vor Ort zu entscheiden gewesen ist. Im Falle des vorliegenden Versicherungsaufsichtsgesetzes ist die Umsetzung in
Deutschland ganz in Ordnung. Die Bundesregierung
hatte hier auch nicht viele Spielräume, etwas falsch zu
machen, sondern nur wenige Wahlmöglichkeiten. Aber
das Problem ist, dass die Richtlinie selber schlecht ist.
Deswegen haben wir Grüne sie auf europäischer Ebene
abgelehnt, und deswegen wird auch die grüne Bundestagsfraktion diesem Gesetz nicht zustimmen. Wichtig
ist, zu schauen, wer eigentlich schuld daran ist, dass die
Richtlinie schlecht ist. Da müssen wir gleich auch über
die Rolle der Bundesregierung ausführlich reden.
({0})
Zunächst zur Umsetzung in Deutschland. Wir unterstützen den Ansatz, die weitgehenden Befugnisse der
BaFin über die Versicherungen aufrechtzuerhalten, damit sie gegen allgemeine Missstände vorgehen kann. Die
Finanzaufsichtsbehörde BaFin muss diese Rolle ernst
nehmen und vor allem das Hauptziel des Versicherungsaufsichtsgesetzes stärker in den Fokus rücken, nämlich
den Schutz der Versicherten.
Richtig ist auch, dass versucht wird, mit der neuen
Regulierung keine Konzentrationstendenz im Markt hervorzurufen, sondern die Anforderungen an die Unternehmen an der Größe dieser Unternehmen auszurichten.
Wir Grüne haben deswegen unterstützt, dass wir im parlamentarischen Verfahren Erleichterungen für kleine Unternehmen bei den organisatorischen Anforderungen
vorgenommen haben und dass wir das evaluieren wollen. Schwächen bei der Umsetzung gibt es allerdings
nach wie vor bei der Beaufsichtigung der Vermittlungstätigkeit.
Nun aber zur Richtlinie selbst. Die Logik der neuen
Regulierung stammt noch aus der Zeit vor 2008, also vor
Ausbruch dieser Finanzkrise. Die Anpassungen, die seither vorgenommen wurden, haben die Situation teilweise
noch schlimmer gemacht. Ich will das im Einzelnen darlegen.
Zunächst ist da die grundlegende Vorgehensweise von
Solvency II. Wir wechseln von einem regelbasierten zu
einem prinzipienbasierten Aufsichtsansatz. Es geht um
risikoorientierte Eigenkapitalunterlegung, um die Nutzung interner Risikomodelle, um Marktpreisbewertung
der Anlagen - viele Sachen, die den meisten Menschen
wahrscheinlich nicht viel sagen werden. Ich will es deswegen auf eine Formel bringen: Die Versicherungsregulierung wird komplexer, für die Unternehmen flexibler,
für die Aufsicht komplizierter, und im Ergebnis leidet
die Stabilität der Finanzmärkte.
({1})
Vor allem aber wird eine wichtige Lehre aus der Finanzkrise ignoriert, dass nämlich der Blick auf das einzelne Institut - man spricht da von der mikroprudenziellen Aufsicht - nicht ausreicht, sondern dass man sich
auch die Rolle des einzelnen Instituts in dem gesamten
Finanzmarkt anschauen muss; das ist die sogenannte makroprudenzielle Aufsicht. Genau da stimmt Solvency II
nicht. So warnt die Bundesbank, dass unter Solvency II
ein Spielraum für makroprudenzielles Handeln kaum
vorhanden ist. Die Kapitalanforderungen seien nicht
darauf ausgelegt, von Versicherungsunternehmen ausgehende Risiken für das Finanzsystem direkt einzubeziehen. - Wir haben damit eine neue Versicherungsregulierung, die einer veralteten Logik folgt, und das ist
richtig ärgerlich.
({2})
Nun wurden nach Ausbruch der Finanzkrise noch Aktualisierungen vorgenommen, und es kam dabei zu üblen
Verschlimmbesserungen. Erstes Beispiel: Es wurden
Erleichterungen bei den langfristigen Garantien eingeführt. Da gab es zwar tatsächlich Korrekturbedarf; die
Bewertung langfristiger Garantien wäre aufgrund der
Marktpreisbewertung unangemessenen Schwankungen
ausgesetzt. Deshalb ist richtig, dass die Gefahr einer prozyklischen Wirkung gedämpft werden sollte. Doch statt
an die Ursache heranzugehen, haben die europäischen
Regierungen die Wunschliste der Versicherungslobby
umgesetzt. Insgesamt kam es zu Entlastungen in Höhe
von 200 Milliarden Euro bei dem regulatorischen Eigenkapital. Das ist eine viel zu hohe Entlastung im
Vergleich zu den ursprünglich durch Solvency II vorgesehenen Regeln. Das kritisiert auch die Deutsche Bundesbank, und das kritisiert auch der European Systemic
Risk Board, also genau der Rat, den man eingesetzt hat,
damit man nach der Finanzkrise endlich zu besseren
Finanzmarktregeln kommt.
({3})
Die Kritik äußert auch die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA. Sie warnt, dass so Anreize für risikoreiches Verhalten der Versicherungsunternehmen gesetzt
werden.
Die Versicherungslobby ist allerdings mit dem neuen
Regelwerk ganz zufrieden. Da sehen wir das ganze
Drama der europäischen Versicherungspolitik. Die europäischen Regierungen tun zwar so, als wollten sie alle
Finanzstabilität; aber wenn es konkret wird, wenn es bei
der Gesetzgebung um die Details geht, die die Öffentlichkeit nicht mehr verstehen kann, dann hören sie auf
die Versicherungslobby und nicht auf die Empfehlung
unabhängiger Experten und Aufsichtsbehörden. Wozu
haben wir denn diese Gremien eingesetzt, wenn die Regierungen nachher doch auf die Lobby hören?
({4})
Das zweite Beispiel sind die Festlegungen der Kapitalanforderungen für Verbriefungsprodukte. Es ist ja
durchaus richtig, dass wir den europäischen Verbriefungsmarkt nicht kaputtregulieren sollten. Ist es dafür
aber notwendig, die von den Versicherungsaufsehern ursprünglich vorgeschlagenen Kapitalanforderungen um
bis zu 75 Prozent zu reduzieren? Nein, das ist nicht notwendig.
({5})
Auch hierzu die klare Kritik der Bundesbank - ich zitiere -:
Regulatorische Maßnahmen sollten nicht für andere
wirtschaftspolitische Ziele, z. B. die Wiederbelebung des Verbriefungsmarktes, herangezogen werden.
Wann hören Sie endlich auf, auf Vorschlag der Lobby
den Finanzmarkt zu pampern? Hören Sie doch auf die
unabhängigen Experten, und setzen Sie stabile Regeln!
({6})
Das dritte Beispiel ist die Übergangszeit von 16 Jahren. Das ist extrem lang. Da wird ersichtlich, dass es
nicht irgendeine andere europäische Regierung war und
irgendeine andere Lobby, sondern dass sich hier insbesondere die deutsche Versicherungswirtschaft durchgesetzt hat. Ich zitiere erneut aus der Stellungnahme der
Bundesbank:
Die … schrittweise Einführung von Solvency II
durch eine sogar 16-jährige Übergangsphase stellt
insbesondere für die deutschen Lebensversicherer
eine bedeutende Entlastung dar. … Allerdings sollten die Lebensversicherer bereits jetzt ihre Kapitalbasis stärken.
Die deutschen Lebensversicherer arbeiten durchschnittlich mit weniger als 2 Prozent eigenem Kapital.
Selbst wenn man die Besonderheiten dieses Geschäftsmodells berücksichtigt, ist das deutlich zu wenig. Und
diese Bundesregierung hat nichts Besseres zu tun, als
den Wünschen der Lobby zu folgen und den nötigen Eigenkapitalaufbau weiter in die Zukunft zu schieben. Das
ist skandalös.
({7})
Es ist doch genau wie bei den Banken. Ich habe hier
in der letzten Legislaturperiode praktisch in jeder Rede
gesagt: Die Eigenkapitalbasis der deutschen Banken ist
zu niedrig. Da müssen Sie etwas tun.
({8})
Sie haben genau das nicht getan. Dann kam die Europäische Zentralbank mit ihrem Bankenstresstest und hat die
Anforderungen noch einmal nach oben geschraubt. Damit wurde genau unsere Kritik bestätigt. Inzwischen sind
auch Sie dafür, das zu machen.
({9})
Sie müssten in diesem Bereich einmal früher agieren.
Ich will noch ein weiteres Beispiel nennen, auch
wenn es sich jetzt nicht auf den vorliegenden Gesetzentwurf bezieht; aber das muss in diesem Zusammenhang
gesagt werden. Als wir hier vor etwa zwei Jahren das
SEPA-Begleitgesetz verabschiedeten, in dem es eben
auch um Versicherungen ging, lag einer Regelung dieses
Gesetzes ein Gutachten zugrunde, das der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV, in
Auftrag gegeben hatte. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Vertretern der Aufsichtsbehörde BaFin und
des GDV wurde die Gesetzgebung vorbereitet. Unabhängige Experten, Vertreter der Verbraucherseite oder
gar die kritische Öffentlichkeit waren bei der Vorbereitung des Gesetzes nicht vorgesehen. Als uns dann das
Gesetz vorgelegt wurde, hat man uns von der Zusammenarbeit von Lobby und Aufsehern bei der Vorbereitung des Gesetzes nichts gesagt. Bis heute ist das Gutachten nicht öffentlich zugänglich. Das sind die
Strukturen der Machtwirtschaft: Staat und Lobby Seite
an Seite. Mit einer Marktwirtschaft, wo der Staat die Regeln für die Unternehmen setzt, hat das alles nichts mehr
zu tun.
({10})
Wir können hier noch tausend Finanzmarktgesetze
verabschieden: Solange sich diese Kultur nicht ändert, in
der die Branche sich quasi selbst die Regeln gibt,
({11})
in der Regierung und Lobby traut zusammenarbeiten
und gemeinsam Öffentlichkeit und Parlamentarier austricksen, so lange werden wir nie Stabilität am Finanzmarkt haben.
Ich danke.
({12})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Michael Meister.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns in diesem Haus in den vergangenen
Jahren intensiv mit der Bekämpfung der Auswirkungen
der Finanz- und Wirtschaftskrise befasst und dazu auch
eine ganze Reihe von Beschlüssen gefasst, um die Finanzmarktstabilität wiederherzustellen.
Ein ganz zentraler Punkt ist die Stärkung der Eigenkapitalsituation der Finanzinstitute. Das haben wir im
Bankenbereich mit der europäischen Bankenunion, der
Schaffung einer gemeinsamen Aufsicht und eines gemeinsamen Abwicklungsmechanismus vorangebracht.
Mit diesem Gesetz wenden wir uns jetzt dem Bereich der
Versicherungen zu.
Dazu will ich einmal ganz deutlich sagen, Frau Kollegin Karawanskij: Die Bundesregierung arbeitet für die
Versicherten in diesem Land.
({0})
Uns kommt es darauf an, dass die Versicherten die garantierten Leistungen am Ende der Vertragslaufzeiten
auch bekommen. Das schafft Vertrauen. Damit arbeitet
die Bundesregierung für die Versicherten und für Vertrauen in diesem Land.
({1})
Sie halten ein Plädoyer für Gewinnmaximierung von
Einzelnen. Das ist ein typisch kapitalistischer Ansatz.
({2})
Wir werben dafür, dass die Solidargemeinschaft ihre Ansprüche erfüllt bekommt,
({3})
und wir leben den Solidargedanken in diesem Land.
Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus für die Banken ist seit einigen Monaten in Kraft. Heute beraten wir
das analog für die Versicherungswirtschaft: stabile Rahmenbedingungen im europäischen Finanzsystem durch
die Reform des Versicherungsaufsichtsrechts. An dieser
Stelle setzen wir die europäische Richtlinie in nationales
Recht um - da haben Sie recht, Herr Schick -, und wir
schaffen ein modernes, europaweit einheitliches Aufsichtsrecht in Deutschland. Das sorgt für gleiche Wettbewerbsbedingungen und eine bessere Versicherungsaufsicht in diesem Land und in Europa insgesamt. Diese
Anforderungen gelten ab dem Jahr 2016, meine Damen
und Herren.
Jetzt wird vorgetragen - Zitat der Bundesbank; Kollege Schick hat es eben vorgelesen -: Wir lassen den
deutschen Versicherern 16 Jahre Zeit, um das notwendige Eigenkapital aufzubauen. - Es ist unser Interesse,
die Versichertenkollektive nicht zu zerstören, sondern
sie deutlich und nachhaltig zu stabilisieren.
({4})
Deshalb haben wir von dieser Übergangsmöglichkeit,
Herr Schick, Gebrauch gemacht.
Mich hat überrascht, was ich gestern von Moody’s gelesen habe, und zwar in einer Stellungnahme dazu, was
es im deutschen Versicherungsmarkt an Problemen gebe.
Zunächst habe ich mich darüber gewundert, dass so
große Experten an zwei Stellen von fehlerhaften Annahmen ausgehen. Sie haben erstens gesagt, ab dem nächsten Jahr müssten die Eigenkapitalvorschriften erfüllt
sein. Nein, nach einem Übergangszeitraum von 16 Jahren!
({5})
Zum Zweiten haben diese Experten darauf hingewiesen,
dass der Höchstrechnungszins ab dem 1. Januar 2015
von den Versicherungsunternehmen heruntergesetzt
worden sei. Nein, wir im Parlament haben entschieden,
den Höchstrechnungszins herunterzusetzen! Deswegen
würde ich solchen Organisationen raten, sich erst einmal
mit der Sache zu befassen, bevor sie aufgrund von fehlerhaften Annahmen für Unsicherheit im Markt sorgen.
({6})
Wir haben neben der EU-Kommission, die die Richtlinie vorgelegt hat, die europäische Versicherungsaufsicht, die EIOPA, die jetzt in den nachgeordneten Regularien dafür sorgen wird, dass wir zu einem einheitlichen
Aufsichtsregime in Deutschland kommen. Neben den
europäischen und nationalen Aufsehern werden wir Kollegien haben, die dafür sorgen, dass bei grenzüberschreitend tätigen Versicherungsunternehmen eine gemeinsame Aufsicht praktiziert wird - auch das ist, wie ich
glaube, ein Fortschritt im Interesse der Versicherten,
meine Damen und Herren.
Natürlich werden wir als Prinzip - das ist der entscheidende Punkt - einen konsequent risikobasierten
Ansatz zugrunde legen, der nicht nur nach der Größe
schaut, sondern auch nach dem Risiko des Geschäftsmodells, das das einzelne Versicherungsunternehmen praktiziert. Dabei werden wir jeweils die Risiken aus dem
Markt genau abbilden: Wir werden versicherungstechnische Risiken abbilden, wir werden Kreditrisiken abbilden, und wir werden operationale Risiken abbilden. Damit kommen wir zu einer wesentlich höheren Qualität in
der Aufsicht und der Regulierung, als wir sie in der Vergangenheit hatten. Ich glaube, das ist ein Fortschritt im
Interesse der Versicherten in diesem Land.
({7})
Meine Damen und Herren, ich will auf das Thema
Niedrigzinsumfeld eingehen. Über das Niedrigzinsumfeld müssen wir uns natürlich Gedanken machen; denn
das ist die eigentliche Herausforderung, die sich den
Versicherungsunternehmen und damit natürlich auch den
Versicherungsnehmern in Zukunft stellt. Es geht darum:
Wie können die Unternehmen das Geld verdienen, um
die Ansprüche, die die Versicherten haben, in Zukunft
adäquat erfüllen zu können? Man muss schon sagen,
dass es einen massiven Renditeverfall bei sicheren Kapitalanlagen gibt. Die große Herausforderung wird sein:
Wie können wir das in Zukunft erarbeiten? Wenn eine
Bundesanleihe mit zehn Jahren Laufzeit aktuell eine
Rendite von etwa 1 Prozent aufweist, gleichzeitig die
Garantiezinsen bei den Lebensversicherern in etwa dreifacher Höhe liegen, muss man sich doch die Frage stellen: Wie können wir das auflösen?
An dieser Stelle, Herr Schick, machen Sie es sich
doch ein bisschen zu einfach, wenn Sie, während wir uns
genau diese Frage stellen, einfach mit Polemik antworten und sagen, wir seien hier der Knecht der Versicherungswirtschaft. Nein, wir sind diejenigen, die überlegen, wie wir die Ansprüche der Versicherten auch in
Zukunft sichern können. Wir arbeiten für die Versicherten, und Sie machen ein Stück weit billige Polemik an
dieser Stelle.
({8})
Dieser Verantwortung, Herr Schick, haben wir uns im
vergangenen Jahr beim Lebensversicherungsreformgesetz gestellt. Wir haben dabei genau das, was ich vorhin
gesagt habe, gemacht, nämlich die Garantieleistungen,
die dem Kollektiv zustehen, für das Kollektiv zu sichern.
({9})
Wir haben auch die Aktionäre beteiligt, indem in der Sekunde, wo Bewertungsreserven angegriffen werden, die
Aktionäre keine Dividende bekommen. Das ist genau
die ausgewogene Balance, die in diesem Land erforderlich ist, meine Damen und Herren.
({10})
Wir werden nicht nur darüber nachdenken müssen,
wie der Gesetzgeber, der Regulator und der Aufseher reagieren müssen, vielmehr sind durch das Niedrigzinsumfeld auch die Unternehmen gefordert. Man wird überlegen
müssen, ob man mit den Produkten der Vergangenheit die
Herausforderungen der Zukunft bewältigen kann. Deshalb
rufe ich die Versicherer auf, darüber nachzudenken, mit
welchen neuen Produkten sie dieser Herausforderung in
Zukunft begegnen wollen. Ich glaube, dass die klassischen Produkte aus der Vergangenheit das, was wir in Zukunft brauchen, nicht werden leisten können. Deshalb
steht dort die Wirtschaft vor einer Herausforderung.
Sie haben massiv kritisiert, dass wir die Möglichkeit
schaffen, zu überlegen, ob Versicherungsunternehmen in
Zukunft nicht nur in Staatsanleihen investieren können
- ich weiß gar nicht, woher das große Vertrauen in
Staatsanleihen kommt -, und haben gesagt, andere Anlageformen seien viel risikobehafteter. Wenn wir uns einmal Gedanken machen, ob wir nicht langfristige Investitionen in Infrastruktur tätigen müssen, die tatsächlich
benötigt wird - also nicht nur die, die da ist, sondern
auch die, die gebraucht wird -, und zwar Infrastruktur im
umfassenden Sinne, dann müssen wir doch einmal etwas
Gehirnschmalz aufwenden, wie wir es ermöglichen, dass
langfristige Kapitalanlagen auf der einen Seite und die
Finanzierung dieser Infrastrukturinvestitionen auf der
anderen Seite vernünftig zusammenkommen. Auch das
ist ein Beitrag, mit dem Niedrigzinsumfeld umzugehen.
({11})
Wer dagegen polemisiert und sich dem verweigert, verschließt die Augen vor den Herausforderungen, vor denen wir stehen.
Herr Staatssekretär, darf der Kollege Schick noch eine
Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Sehr geehrter Herr Präsident, selbstverständlich darf
der Kollege Schick eine Frage stellen oder eine Bemerkung machen.
Danke schön. - Sie haben gerade argumentiert, dass
es bei Infrastrukturinvestitionen sinnvoll sein könnte,
dass man das praktisch mit Investitionsmöglichkeiten
der Versicherungswirtschaft verknüpft. Jetzt gibt es sicher private Infrastrukturen, bei denen es auch eine private Finanzierung geben soll. In Bezug auf die öffentliche Infrastruktur, die letztlich immer der Nutzer oder der
Steuerzahler zahlt, möchte ich Sie fragen, warum es aus
Sicht der Steuerzahler sinnvoller sein soll, für 5 oder
6 Prozent Rendite das Geld von den Versicherungsunternehmen zu leihen, statt es für zurzeit sehr niedrige Zinsen - sagen wir 1 Prozent - am Kapitalmarkt aufzunehmen, also die teurere Lösung zu wählen anstatt die
billigere. Warum soll das gut sein?
({0})
Zunächst einmal, Herr Schick: In beiden Fällen passiert dasselbe. Ob wir eine Staatsanleihe am Markt emittieren und der Versicherer sie kauft oder der Versicherer
direkt das Infrastrukturprojekt finanziert, in beiden Fällen kommt das Geld vom Versicherer ins Infrastrukturprojekt. Die Frage ist nur, auf welchem Weg und wer das
Risiko trägt. Für mich ist ÖPP - öffentlich-private Partnerschaft; damit es auch andere verstehen - nicht einfach
das, was Sie in Ihrer Frage unterstellen, ist nicht nur die
Frage: Wie finanzieren wir? Das ist eine zu eindimensionale Betrachtungsweise, die Sie da haben. Die entscheidende Frage ist doch: Wer trägt das Risiko über die gesamte Laufzeit eines Infrastrukturprojekts?
({0})
Wenn wir nicht nur über Finanzierung, sondern über Risikotransfer reden, dann muss ich die Prozentzahlen, die
Sie nennen, natürlich auch bezogen auf das zu tragende
Risiko sehen. Dann kann das für die öffentliche Hand
sehr wohl ein rentierliches Geschäft sein. Das ist die
Frage, die wir gemeinsam diskutieren müssen.
({1})
An dieser Stelle werbe ich - das sei mein letzter Gedanke - ein Stück weit dafür, dass wir in Zukunft eine
regelbasierte, aber flexible Versicherungsaufsicht benötigen. Die Regeln, die wir machen, sind das eine, wie sie
angewendet werden, ist das andere. Deshalb werden wir
eine risikoorientierte Aufsicht benötigen.
Damit kommen wir zur nächsten Aufgabe, die uns als
Bundesregierung bevorsteht, nämlich: Wie gehen wir
mit der Anlageverordnung um? Wir werden uns Gedanken machen müssen und die Anlageverordnung entsprechend anpassen müssen, um diese Infrastrukturinvestitionen möglich zu machen. An dieser Stelle werden wir
Vorschläge unterbreiten.
Meine Damen und Herren, mit Solvency II gehen wir
einen gewaltigen Schritt nach vorne, aber es wird nicht
der letzte Schritt sein. Wir müssen das als gemeinsame
Aufgabe verstehen. Wir benötigen eine Eigenverantwortung derjenigen, die das Versicherungsgeschäft machen,
risikoorientierte, nah an den Unternehmen stehende Aufseher und eine klar prinzipienbasierte Regulierung. In
diesem Sinne werbe ich dafür, dass Sie diesem Gesetz
heute zustimmen, und hoffe, dass es auch den Bundesrat
passiert.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Matthias Birkwald für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem Song der Kölner Band BAP heißt es:
„Besser hätt ich dat jelosse, dann wöhr alles nit passiert“.
Vor 15 Jahren versprachen SPD, Grüne und Union den
Menschen großspurig: Ja, wir kürzen Ihre gesetzliche
Rente, aber mit Lebensversicherung und Riester-Rente
werden Sie im Alter viel besser leben als bisher von der
guten gesetzlichen Rente allein. - Liebe Kolleginnen
und Kollege, dieses Versprechen war 2001 falsch, es ist
heute falsch, und es wird auch 2030 falsch sein.
({0})
Sie können die Finanzaufsicht über Versicherungen
verbessern, so viel Sie wollen, aber dadurch werden
Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, kein anständiges Alterseinkommen erreichen. Ein Ende der
niedrigen Zinsen, Herr Staatssekretär, ist nämlich nicht
in Sicht. Mit niedrigen Zinsen können Sie zwar gut eine
Wohnung kaufen, aber Ihre Lebensversicherung geht
den Bach herunter.
Ein Beispiel: Die Bundesbank hat die Folgen der
niedrigen Zinsen für 85 deutsche Lebensversicherer modellhaft untersucht. Unter „verschärften Stressbedingungen“ würden 32 Unternehmen die Eigenmittelanforderungen von Solvency I bis 2023 nicht mehr erfüllen.
({1})
Also: Von 85 Versicherern wären dann 32 pleite, Herr
Zöllmer. Diese Modellrechnung zeigt: Selbst die Bundesbank kann Lebensversicherungen als Altersvorsorge
nicht empfehlen. Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, senken den garantierten
Zins für Lebensversicherungen auf mickrige 1,25 Prozent, und die Lebensversicherer senken ohne Not die Beteiligung der Kunden an den Überschüssen. Was sind die
Folgen? Am Ende werden Millionen Menschen im Alter
schwer enttäuscht, wenn sie sehen, wie tief ihre Ansprüche aus den Lebensversicherungsverträgen gesunken
sein werden. Zum Teil ist das heute schon der Fall. Sie
müssen dann die Zeche zahlen, nicht die Unternehmen
oder gar die Aktionäre und Aktionärinnen. Das, meine
Damen und Herren, ist unverantwortlich.
({2})
Mit 1,25 Prozent garantierten Zinsen und völlig unsicheren Überschüssen, Herr Flosbach, können Normalverdienende unmöglich das Loch stopfen, das Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD, Grünen und Union
in die gesetzliche Rente gerissen haben. Lebensversicherungen und Riester-Verträge taugen nicht als Altersvorsorge. Zeigen Sie Größe und geben es endlich zu!
({3})
Der Präsident der Versicherungswirtschaft, Alexander
Erdland, hat das am vergangenen Freitag - unfreiwillig getan. Er sagte, ein dauerhaft niedrigeres Zinsniveau mache eine um 15 Prozent höhere Sparanstrengung nötig,
um im Alter das gleiche Versorgungsniveau zu erreichen. Ich frage Sie: Wer kann denn noch einmal 15 Prozent zusätzlich für das Alter zurücklegen und von welchem Lohn? Der Leiharbeiter, die Verkäuferin und der
Taxifahrer können es jedenfalls nicht.
({4})
Die Zeitschrift Öko-Test bringt es in ihrem aktuellen
Heft voll auf den Punkt - ich zitiere -: „Schließen Sie
keine neue Kapitallebens- oder Rentenversicherung
mehr ab!“ Richtig so!
({5})
Die Linke schlägt Ihnen deshalb, Herr Michelbach,
ein Drei-Punkte-Programm vor: Erstens. Die staatliche
Riester-Förderung, von der die Versicherungen profitieren, wird gestoppt. Wer heute schon einen Riester-Vertrag hat, soll die bisher angesparten Gelder reibungslos
und freiwillig auf sein persönliches Rentenkonto bei der
Deutschen Rentenversicherung einzahlen können.
({6})
Zweitens. Statt jedes Jahr 3,5 Milliarden Euro Steuern
für die Riester-Förderung auszugeben, wird mit dem
Geld das Rentenniveau stabil gehalten.
({7})
Drittens. Alle Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel werden gestrichen.
({8})
Ziehen Sie endlich Schlussfolgerungen aus der Finanzkrise! Stärken Sie die gesetzliche Rente! Stärken
Sie das Umlagesystem! Und sorgen Sie dafür, dass die
gesetzliche Rente wieder den Lebensstandard sichert
und vor Altersarmut schützt! Das wäre zu tun. Deswegen: Die Finanzaufsicht bei den Versicherungsdienstleistungen zu verbessern, ist ein Schritt; aber hier geht es darum, dass die Menschen eine anständige Altersvorsorge
erhalten. Darum müssen Sie sich kümmern.
Danke schön.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kiziltepe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir stehen hier und
heute mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen an einem wichtigen und auch bedeutenden Punkt. Ohne eine
ordentliche Aufsicht geht es nicht.
({0})
Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, wie zerbrechlich und risikoreich der Markt für Finanzdienstleistungen ist, wenn es an einer starken Regulierung fehlt.
Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber sie gerät oft in Vergessenheit. Nur durch konsequente Regulierung und deren Kontrolle durch die Aufsicht können das Risiko und
die Größe von Versicherungsunternehmen kritisch beobachtet werden. Es muss unbedingt vermieden werden,
dass uns nach der Bankenkrise eines Tages eine Versicherungskrise ereilt und es dann wieder einmal heißt: too
big to fail. - Das darf nie wieder passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Genau dies soll mit der verbesserten Versicherungsaufsicht vermieden werden.
Die Verabschiedung dieses Gesetzes - das hat sich in
der Debatte heute besonders gezeigt - bedeutet einen
grundlegenden Paradigmenwechsel. Erst die tiefgreifende Finanzkrise hat ihn möglich gemacht. Es hat sich
nämlich gezeigt, dass, wenn der Markt sich selbst überlassen wird, damit große und weitreichende Gefahren
verbunden sein können. Ich freue mich, dass diese Erkenntnis heute auch in den letzten Reihen angekommen
ist. Der Schutz der Versicherten wird nun stärker in den
Blick genommen; das ist auch richtig. Mit diesem
Gesetz wird das Verhältnis von Risiko und Kapitalausstattung der Unternehmen beaufsichtigt - ein Fortschritt
hin zu mehr Sicherheit für Versicherungsnehmerinnen
und -nehmer. Das bedeutet: Die EU-Richtlinie wird klar
im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher umgesetzt.
Nachdem wir im Bankensektor wichtige Schritte hin
zu einer besseren Aufsicht und Regulierung getan haben,
tun wir dies nun im Bereich der Versicherungen. Es hat
sich in den letzten Jahren hinsichtlich der europäischen
Versicherungsaufsicht einiges getan. So wurde in der
Folge der Finanzkrise eine einheitliche neue Aufsichtsbehörde geschaffen, die EIOPA. Es geht also sowohl bei
den Banken als auch bei den Versicherungen um mehr
Kontrolle der Institute und um weniger Risiko für die
Verbraucherinnen und Verbraucher. Hier sind wir auf
dem richtigen Weg. Denn eine stärkere Angleichung der
Regelungen auf europäischer Ebene ist nicht nur sinnvoll, sondern notwendig und längst überfällig.
Eine stärkere Regulierung und eine verbesserte Aufsicht bedeuten natürlich höheren Aufwand für die Versicherungsunternehmen. Dieser Mehraufwand - das war
für uns als SPD-Fraktion wichtig - muss im Verhältnis
zum Risiko stehen. Dass die großen Versicherungskonzerne diese neuen Regelungen ohne Mühe umsetzen
können, ist klar; das gilt jedoch nicht für alle Versicherungsunternehmen. Deshalb haben wir als SPD-Fraktion
darauf gedrungen, dass der Proportionalitätsgrundsatz
gewahrt bleibt. In diesem Fall ist die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, gefordert, in
den kommenden Jahren darauf achtzugeben. Wir im Finanzausschuss werden das kontrollieren und die Umsetzung dieses Gesetzes kritisch begleiten. Dazu stehen wir.
({2})
Dass wir dazu stehen, ist natürlich kein Selbstzweck. Es
geht vielmehr darum, die Gefahren, die eine mögliche
Marktkonzentration mit sich bringen würde, abzuwehren, weil eine solche Marktkonzentration den Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmern schaden
würde, und das wollen wir nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, grundsätzlich soll
die Modernisierung der Versicherungsaufsicht, wie der
Name bereits sagt, ausschließlich für die Versicherungsunternehmen gelten. Die Einrichtungen der betrieblichen
Altersversorgung sind ausgenommen. Das hat bereits
das Europäische Parlament so beschlossen, und bei der
Umsetzung in deutsches Recht hat es auch keine Änderungen gegeben, obwohl in den Beratungen insbesondere
die vorgeschlagenen §§ 23, 26 und 124 des Versicherungsaufsichtsgesetzes in der Kritik standen. Vonseiten
der Pensionsfonds gab es die Befürchtung, dass die aufsichtsrechtlichen Regelungen durch die Hintertür auch
auf die EbAV, also die Einrichtung der betrieblichen Altersversorgung, übertragen werden könnten. Dem ist
nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das möchte
ich hier noch einmal deutlich sagen.
({3})
Wir haben eben eine freie Rede zur Rente gehört; darauf gehe ich kurz ein.
({4})
In unserem Koalitionsvertrag steht, dass die betriebliche
Altersversorgung gestärkt und geschützt werden soll,
und das ist auch richtig; denn bei der zweiten Säule der
Alterssicherung in Deutschland handelt es sich um eine
historisch gewachsene und bewährte Säule. Wir werden
uns im laufenden Jahr intensiv damit auseinandersetzen,
um eine stärkere Verbreiterung der zweiten Säule zu erreichen. Allerdings wird dies nicht im Rahmen dieser
Debatte erfolgen, sondern im Rahmen der Überarbeitung
der Richtlinie zu den Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung. In diesem Zusammenhang wird es auch
um die Frage gehen, wie diese Einrichtungen beaufsichtigt werden. Der Vorschlag der Kommission hierzu liegt
seit etwa einem Jahr vor. Die Umsetzung in nationales
Recht soll Ende nächsten Jahres erfolgt sein. Daher werden wir die Probleme, die bei der betrieblichen Altersversorgung auftreten können, erkennen und angehen,
und wir werden uns im Rahmen dieser Debatte auch für
die betriebliche Altersversorgung einsetzen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte
ich noch ganz kurz auf die wenig beachtete Petition des
Versicherungsverbandes Deutscher Eisenbahnen eingehen. Dieser forderte, im Rahmen der Beratungen von der
Aufsicht gemäß diesem Gesetz freigestellt zu werden.
Jedoch gehört der Versicherungsverband Deutscher Eisenbahnen vom Wesen und auch vom Umfang seiner Tätigkeit her zu den Unternehmen, auf die diese Solvabilitätsrichtlinie Anwendung findet. Daher wäre es eine
Verletzung des EU-Rechtes, wenn man den Versicherungsverband Deutscher Eisenbahnen ausnehmen würde.
In der heutigen Debatte ist deutlich geworden, wie
komplex und umfangreich die Umsetzung ist. Auch angesichts der langen Übergangszeit und im Zuge der weiteren Beobachtungen durch den Finanzausschuss - damit werden wir uns in den nächsten Jahren befassen
müssen - wird sich zeigen, welcher Änderungsbedarf
noch vorhanden ist. Doch vor allem eines ist wichtig:
Wichtige Schritte sind getan worden hin zu mehr Stabilität und hin zu geringerem Risiko für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Michelbach
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf wird ein
weiteres Sicherungsgerüst in unseren Finanzmarkt eingezogen. Wir werden die andauernde Leistungsfähigkeit
und Sicherheit des deutschen Finanzmarktes erhalten,
mit Vernunft, mit Maß und Ziel. Darauf kommt es an,
und dafür arbeiten wir: für diese Sicherheit, für diese andauernde Leistungsfähigkeit, für die Versicherten und
für die Unternehmen gleichermaßen.
({0})
Die Opposition, Linke und Grüne, startet stets den
Versuch, den Finanzmarktunternehmen einen möglichst
hohen Reputationsschaden zuzufügen.
({1})
Damit schaden Sie, meine Damen und Herren, Versicherten und Versicherungsunternehmen gleichermaßen.
Sie sind nicht die seriöse Lobby, die Lobby der Versicherten, wie Sie hier vorgeben. Den Versicherten nutzt
es gar nichts, wenn Sie die Versicherungsunternehmen
überfordern. Hören Sie auf damit, die millionenfach abgeschlossenen Versicherungsverträge politisch zu instrumentalisieren! Das ist schäbig, das ist polemisch. Das
dient niemandem, schon gar nicht den Versicherten.
({2})
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf
wird die europäische Richtlinie über die Aufnahme und
Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit, die sogenannte Solvency-II-Richtlinie, seriös
und zielführend in nationales Recht umgesetzt. Damit
wird die Versicherungsaufsicht gestärkt und dem Aufbau
von Risiken im Bereich der Versicherungsunternehmen
frühzeitig entgegengewirkt. Ziel der damit verbundenen
Maßnahmen ist es, das Risiko der Insolvenz eines Versicherungsunternehmens zu verringern. Erreicht wird dies
durch umfassendere, risikoorientiertere Eigenkapitalund Eigenmittelvorschriften für die Versicherungsunternehmen. Die Versicherer werden künftig verpflichtet
sein, Kapital bereitzustellen, um Markt- und Kreditrisiken oder auch operationelle Risiken deutlich besser absichern zu können.
Dabei geht es nicht nur um mehr Stabilität im Versicherungsmarkt. Es geht auch um ein Stück mehr Verbraucherschutz - darauf kommt es uns an -, insbesondere im
Bereich der Lebensversicherer. Der Schwerpunkt deutscher Versicherer liegt traditionell auf Verträgen mit
langjährigen Zinsgarantien. Damit wird Stabilität erreicht. Damit komme ich zu einem wesentlichen Punkt:
Das derzeitige Niedrigzinsumfeld ist nicht politisch von
uns veranlasst, und wir müssen deutlich sagen, dass auch
die Preisstabilität, die wir im Moment haben, für die Versicherten grundsätzlich positiv ist. 7 Prozent Inflation
sind ihm lieber als 5 Millionen Arbeitslose, hat ein Weltökonom einmal gesagt.
({3})
Das Gegenteil von beidem ist entstanden. Heute haben
wir Preisstabilität. Dann ist es selbstverständlich, dass
man bei Preisstabilität, wenn es also keine Inflation gibt,
auch keine Inflationsdividende einstreichen kann. Das
ist in diesem Marktumfeld ganz normal.
Ich kann Ihnen nur immer wieder sagen: Sie versuchen immer wieder, alles Private als Feindbild darzustellen. Da machen wir nicht mit. Wir brauchen den privaten
Kapitalmarkt, den privaten Finanzmarkt.
({4})
Bei den neuen Regelungen und Bewertungen, die mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf eingeführt werden sollen, geht es darum, die Risiken sichtbar zu machen. Das
ist ein wesentlicher Punkt. Uns geht es um Transparenzverbesserung. Die Garantien werden transparent, öffentlich überprüfbar sein und können letzten Endes auch von
uns immer wieder überprüft werden. Damit wird das
notwendige Instrumentarium geschaffen, um in Zukunft
Risiken besser bewältigen zu können. Das ist angesichts
des aktuellen Niedrigzinsumfeldes sicher keine leichte
Aufgabe für die Versicherungsunternehmen; aber es ist
unausweichlich, dass sich die Versicherer dieser Aufgabe verstärkt stellen.
Die deutschen Lebensversicherungen insgesamt werden den Einstieg in die neuen Kapitalanforderungen unter dem künftigen Aufsichtsregime bewältigen können.
Auch das ist ein wesentliches Ergebnis der Erhebung der
BaFin. Sie hat gezeigt, dass bei allen deutschen Lebensversicherungen die Welt letzten Endes in Ordnung ist. Es
gibt einige wenige kleine Unternehmen, die keine ausreichenden Eigenmittel nachweisen konnten und nachbessern müssen. Diese machen aber weniger als 1 Prozent Marktanteil aus. Dies nun anzuprangern, ist daher
völlig falsch. Ich glaube, auch das ist nur Polemik.
Herr Dr. Schick, Sie polemisieren immer wieder über
Aktionäre. Wir haben Ausschüttungssperren eingeführt.
({5})
Damit ist das Eigentum beschwert worden. Aber Eigentumsenteignung geht mit uns nicht, Herr Schick;
({6})
das müssen Sie sich einmal merken. Eigentum ist Eigentum. Indem Sie immer wieder gegen Eigentum polemisieren, zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Das geht mit uns
nicht.
({7})
Ich sage Ihnen eines: Hören Sie auf, mit den 90 Millionen Lebensversicherungsverträgen politische Agenda
zu machen. Das ist verwerflich und nicht in Ordnung.
({8})
Den Reputationsschaden, der dadurch für die Unternehmen entsteht, tragen letzten Endes die Versicherten. Das
ist die Konsequenz Ihres Tuns, meine Damen und Herren.
({9})
Es ist richtig: Wir haben es hier heute mit einem Paradigmenwechsel zu tun. Wir gehen weg von den vielen
Detailregelungen hin zu einer gesamtrisikoorientierten
Betrachtungsweise; das ist richtig und zielführend und
deshalb notwendig. Das führt keineswegs zwangsläufig
dazu, dass sich das Volumen der Anlagen in hochriskante Marktbereiche und Finanzinstrumente weiter erhöht, wie immer wieder zu hören ist. Ganz im Gegenteil
bewirken die neuen Eigenmittelvorschriften, dass es in
Zukunft weniger bis gar keine hohen Risiken mehr gibt.
Denn je höher die eigene Haftung, desto geringer der
Anreiz, risikoreiche Investitionen zu tätigen. So funktioniert Markt. Wenn Sie die eigene Haftung erhöhen, dann
ist das letzten Endes die beste Vorsorge gegenüber risikoreichen Investitionen.
Sie können, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, den
Versicherungen nicht vorschreiben, in welche Anlageformen sie zu investieren haben. Das wäre ein Rückfall
in alte Zeiten. Dass Sie jetzt auch gegen die Möglichkeit,
dass das Kapital für die Allgemeinheit und das Gemeinwohl in die Infrastruktur fließt, polemisieren, verstehe
ich überhaupt nicht. Das Geld wird dort benötigt. Es
dient allen, wenn es bei den Infrastrukturprojekten
schneller vorangeht. Das ist ein wirklicher Paradigmenwechsel. Das ist ein großer Vorteil für den Standort
Deutschland.
({10})
Die neuen Vorschriften ermöglichen es den Versicherern, künftig ein weiteres Feld zu nutzen. Die Öffnung
der Infrastrukturinvestitionen für die Versicherer schafft
neue Optionen. Das ist eine Win-win-Situation für die
öffentliche Hand und die Versicherer und damit auch für
deren Kunden. Wir haben unzweifelhaft einen erheblichen Investitionsbedarf im Bereich der öffentlichen Infrastruktur. Dieser Investitionsbedarf kann von der öffentlichen Hand alleine nicht zeitnah vollständig gedeckt
werden. Gleichzeitig sehen wir erhebliche private Mittel,
die sinnvoll angelegt werden wollen. Nichts liegt also
näher, als beides zusammenzubringen.
Gewiss wird der Versicherungsbranche mit den neuen
Regelungen einiges abverlangt; das muss man deutlich
sagen. Von Versicherungslobby ist aber nicht zu reden.
Sie können uns mit dieser nebulösen Verdächtigung von
Lobbyismus überhaupt nicht gemeint haben.
({11})
Sie können uns damit nicht meinen. Es lohnt sich, Herr
Dr. Schick, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir tun
dies mit hoher Fachkompetenz. Wir haben Fachleute aus
der Fraktion im Finanzausschuss, die sich damit genau
auskennen und beschäftigt haben und mit ihrer Fachkompetenz eine gute Richtlinie in ein deutsches Gesetz
umgesetzt haben.
({12})
Das ist hervorzuheben. Ich sage herzlichen Dank dafür,
dass wir im Finanzausschuss mit dieser Kompetenz einen vorbildlichen Gesetzentwurf für die Versicherten
und für die Versicherungsunternehmer erarbeitet haben.
Herzlichen Dank.
({13})
Christian Petry hat nun das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! 2015 kann das Jahr
des Verbraucherschutzes werden. 2015 ist ein Jahr, in
dem es viele neue Regelungen im Bankenbereich, im Finanzbereich generell und - so wie jetzt auch hier mit
Solvency II - im Versicherungsbereich gibt, ein Jahr, in
dem der Verbraucher im Mittelpunkt steht, in dem der
Verbraucher geschützt wird, in dem der Verbraucher gestärkt wird. So ist auch Solvency II - dies wollen wir
heute in nationales Recht umsetzen - zu sehen. 2015 ist
ein Jahr des Verbraucherschutzes.
({0})
Wir sind damit die Lobby der Verbraucherinnen und der
Verbraucher.
Es ist ein Mammutgesetz. Das ist vielfach gesagt worden. Es hat lange gedauert: Bereits vor der Finanzkrise
ist es in die Wege geleitet worden. Es musste umgestellt
werden. Das führt dazu, dass wir diese Regelungen,
diese Verpflichtungen in einem sehr, sehr langen Übergangszeitraum von 16 Jahren umsetzen. Ich glaube, damit ist ein guter Weg gefunden worden, sowohl den Versicherungsinstituten als auch dem Versicherten gerecht
zu werden. Es ist ein wichtiger Schritt zur Harmonisierung europäischer Standards im Finanzbereich: eine
ganzheitliche Risikobetrachtung, neue Bewertungsmöglichkeiten von Verbindlichkeiten und Vermögenswerten
und eine Aufsicht, die nun mit solchen Instrumentarien
versehen ist, auf dass die Kapitalausstattung der Versicherungen sichergestellt ist.
All dies sind Lehren aus der Krise. Bankensanierung
und Bankenabwicklung durch Restrukturierungsfonds
sind Instrumentarien, die sich im Bankensektor bereits in
der Umsetzung befinden. Nun wird mit Solvency II auch
die Versicherungswirtschaft auf einen in der EU einheitlichen Standard gesetzt. Dabei spielt die verbraucherschutzpolitische Komponente eine wesentliche Rolle.
2015 steht also im Zeichen des Verbraucherschutzes. Die
Harmonisierung der europäischen Einlagensicherung
und der Anlegerentschädigung sind bereits auf den Weg
gebracht. Ich verweise auch auf das Engagement von
Verbraucherschutzminister Heiko Maas, der mit dem
Kleinanlegerschutzgesetz den grauen Kapitalmarkt regulieren will. Das ist ein weiterer Schritt.
Ich kann Herrn Dr. Michelbach nur zustimmen. Er hat
eben gesagt: Das machen wir mit Maß und Ziel. - Das
ist im doppelten Sinne so. Denn der Verbraucherschutz
steht bei all diesen Maßnahmen bei uns im Zentrum der
Politik und führt zu einer Stärkung des Verbraucherschutzes und damit zum Jahr des Verbraucherschutzes
2015.
({1})
Herr Dr. Schick und Frau Karawanskij, ich bin zwar
auch nicht gerade der größte Fan von privaten Investitionen im öffentlichen Bereich, aber Sie können nicht
- Herr Michelbach hat es eben schon gesagt - alle Möglichkeiten, wie man sich refinanziert, wie man Rendite
erwirtschaftet, verteufeln, indem Sie sagen: Hedgefonds,
Private Equity, das dürfen die alles nicht machen.
({2})
- Herr Dr. Schick, das stimmt, ich komme aber noch auf
eine andere Aussage von Ihnen. - Wenn wir nun tatsächlich in den öffentlichen Finanzen so stehen, wie wir stehen, und wenn es auf der anderen Seite eine so hohe Kapitalmenge gibt, die möglicherweise verfügbar ist, mit
der wir öffentliche Infrastruktur zeitnah realisieren können - durch die zeitnahe Realisierung ist es natürlich
auch wirtschaftlicher, als wenn man 10, 15, 20 Jahre
wartet; von daher entsteht auch dadurch eine Rendite -,
dann bin ich der Meinung: Wenn Versicherer hier auf
eine sehr solide, sichere Anlagestrategie wechseln können, sollten wir ernsthaft über diese Instrumentarien diskutieren und diese Möglichkeit nicht, wie hier geschehen, verteufeln. Ich glaube, das ist nicht in Ordnung.
({3})
Darf der Kollege Schick noch einmal eine Zwischenbemerkung machen?
Ja, gern.
Bitte.
Es bezieht sich zwar nicht im Kern auf den vorliegenden Gesetzentwurf, aber ich finde, es ist eine wichtige
Auseinandersetzung. Der Bundesrechnungshof hat für
eine ganze Reihe von Projekten der Vergangenheit
durchgerechnet, ob die These, die Sie aufstellen und die
auch vorhin genannt worden ist, stimmt, nämlich dass es
letztlich aufgrund der Risikoübernahme - Herr Meister
hatte es so ausgeführt - für die Bundesregierung sinnvoll
ist. Der Bundesrechnungshof kommt zu dem vernichtenden Urteil, dass es für den Steuerzahler schlechter ist.
Warum sollten wir denselben Fehler, den uns der Bundesrechnungshof schon einmal bescheinigt hat, noch
einmal machen?
({0})
Herr Dr. Schick, herzlichen Dank für diese Zwischenfrage, gibt sie mir doch die Gelegenheit, zu sagen, dass
die Modelle, über die wir jetzt diskutieren, diese Risiken
mit Blick auf die Zukunft tatsächlich minimieren. Wir
müssen ein Auge darauf werfen; da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Nicht alles, was irgendwo in Europa in
diesem Sinne anzugehen ist, muss unsere Unterstützung
finden. Aber ich halte es generell für eine Versündigung
an der Jugend und an der Zukunft, Infrastruktur verfallen
zu lassen, wenn man hier eine Finanzierungsmöglichkeit
hat, die sehr zeitnah auf Vordermann zu bringen ist. Ich
glaube, darüber sollten wir alle nachdenken.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kernziele der Richtlinie sind im Gesetzentwurf genannt. Die
europaweit einheitlichen Anforderungen im Bereich der
Eigenmittel setzen nun Instrumentarien voraus, die die
Aufsicht zur Kontrolle haben muss. Versicherungen
müssen Anlagen nach Marktrisiken bewerten; das halte
ich für einen Fortschritt. Dass neben Standardmodellen
auch individuelle Modelle zugelassen sind - dazu kann
Lothar Binding als Mathematiker viel sagen -, wird die
Aufsicht nicht leichter machen; das wissen wir. Dort
muss man sich auf diese Modelle einstellen. Aber letztlich ist es doch so: Wenn wir alle Versicherer, alle Versicherungsunternehmen, stärken wollen, dann müssen wir
letztlich dafür sorgen, dass sie die Bewertungen für ihre
spezifischen Produkte vornehmen können, statt ausschließlich standardisierte Modelle zu benutzen. Deswegen ist die Wahlfreiheit sehr zu begrüßen.
({1})
Auch eine europaweite Harmonisierung der Aufsicht
der Versicherungsunternehmen ist zu begrüßen. Das
macht die Sache europaweit besser, vergleichbarer und
- da in diesem Bereich international gearbeitet wird auch stabiler. Auch das ist ein wesentlicher Beitrag zur
Stärkung des Versicherungsschutzes.
Schlussendlich geht es auch um Transparenz. Die Berichtspflicht gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber
dem Versicherer im Hinblick auf die Risikosituation, das
Kapitalmanagement und die Geschäftstätigkeit wird erweitert und gestärkt. Auch das ist ein Ziel dieser Richtlinie und führt zu einer Stärkung dieses Prozesses.
({2})
Das Ergebnis liegt uns nun vor. Es ist ein Mammutgesetz. Es reiht sich in eine Vielzahl von Maßnahmen, die
den europäischen Finanzsektor stärken, ein. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wird nach den Krisenjahren durch die vielen Maßnahmen, die wir durchführen, weiter gestärkt. Neben der Einlagensicherung,
der Bankenunion und dem Kleinanlegerschutzgesetz
trägt auch Solvency II dazu bei, dass 2015 das Jahr des
Verbraucherschutzes ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
({3})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Anja Karliczek für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin die Letzte - wir haben es
gerade gehört - und mache jetzt den Sack in dieser zweiten und dritten Lesung zu.
({0})
- Zu diesem Tagesordnungspunkt.
({1})
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, meinem Kollegen
Herrn Zöllmer, mit dem ich in den letzten Monaten und
auch beim Thema Lebensversicherungsreformgesetz intensiv habe zusammenarbeiten dürfen, dafür Dank zu sagen, dass die Zusammenarbeit in der Koalition immer so
gut klappt. Deswegen will ich mich jetzt auch nicht auf
alle Einzelheiten stürzen, sondern mich mit den wesentlichen Dingen beschäftigen, die diesem Gesetzentwurf
zugrunde liegen, und dann die Gelegenheit nutzen, zu erklären, warum einige Zusammenhänge, die hier immer
wieder in den Raum gestellt werden, falsch sind.
Der Abschluss von Solvency II - das haben wir ja
jetzt schon einige Male gehört - ist etwas Besonderes.
Denn seit fast zehn Jahren wird über dieses Gesetz diskutiert, und es bleiben noch 16 Jahre zur Umsetzung ein Vierteljahrhundert für ein Gesetz, das ist schon etwas
Besonderes. Allein an der zeitlichen Dimension erkennen wir die Tragweite dieses Gesetzes, aber eben auch
an den massiven Reaktionen unserer Versicherer; denn
ihre Sorge ist nach wie vor sehr groß. Vor allem bei den
kleinen und mittelständischen Versicherungsunternehmen, die es bei uns ja glücklicherweise noch gibt, sind
die Sorgenfalten angesichts dieses Mammutwerkes tief.
Doch ich versichere ihnen: Uns als CDU/CSU-Fraktion
sind ein fairer Wettbewerb unter den Marktteilnehmern
in Europa und der Erhalt unserer mittelständischen Wirtschaftsstruktur sehr wichtig.
({2})
Deshalb setzten wir eins zu eins um, was uns die europäische Richtlinie vorgibt, und haben dabei stets die Augen darauf gerichtet, dass die Umsetzung der neuen Vorschriften für unsere kleinen und mittelständischen
Unternehmen machbar bleibt.
2007 entstand die Idee einer europaweit einheitlichen
Regulierung der Versicherungswirtschaft. Das war vor
der Finanzkrise. Seit der Krise nehmen wir die Risiken
der Finanzmärkte ganz anders wahr. Das hat auch die
Verhandlungen und die Regeln von Solvency II spürbar
beeinflusst. Was sich nicht geändert hat, sind der Leitfaden und das übergeordnete Ziel der novellierten Versicherungsaufsicht, erstens den Schutz der Versicherten
vor einer Insolvenz von Versicherungsunternehmen zu
verbessern und zweitens eine hohe Risikosensitivität unserer Versicherungsunternehmen einzufordern.
Versicherungsunternehmen sind - das ist heute Gott
sei Dank ja schon mehrfach gesagt worden - in ihrer Geschäftstätigkeit auf das Solidarprinzip der Versichertengemeinschaft ausgelegt, sie bündeln Einzelrisiken und
stehen mit den Mitteln der Versicherten solidarisch für
eingetretene Risiken ein. Was wir heute beschließen, die
Novellierung eines rund 115 Jahre alten Aufsichtsgesetzes, ist an dieser Stelle aber noch mehr, nämlich eine
Verbesserung des Versichertenschutzes. Es ist ein grundlegender Paradigmenwechsel in der europäischen und
der deutschen Versicherungsaufsicht. Wir können es
nicht oft genug sagen: Wir starten eine neue Philosophie,
die im Kern auf drei Säulen basiert:
Erstens. Wir verpflichten die Unternehmen, ihre Kapitalanlagen risikoadäquat und nicht mehr dem Geschäftsumfang entsprechend mit Eigenkapital zu unterlegen.
Zweitens. Wir verpflichten die Unternehmen, sich intern über ein unternehmensinternes Risikomanagement
mit ihren Risiken zu beschäftigen.
Drittens. Wir verpflichten die Unternehmen, der Aufsicht und der Öffentlichkeit regelmäßig über Risiko- und
Ertragslage zu berichten.
Das neue Aufsichtssystem ist prinzipienorientiert.
Das bedeutet, dass Ziele vorgegeben werden, nicht aber,
wie die Unternehmen diese zu erreichen haben; das entscheiden sie selbst.
Nach den ersten einer ganzen Reihe von Gesprächen
war relativ schnell klar, dass es weniger die neuen Kapitalanforderungen sind als die neue Geschäftsorganisation und die erweiterten Berichtspflichten, die insbesondere die kleinen und mittleren Versicherer sehr
umtreiben; denn das Gesetz bringt einen erheblichen
Mehraufwand mit sich. Der Aufbau eines vierstufigen
Risikomanagements ist bei wenigen Mitarbeitern eine
oft kaum überwindbare Barriere. Ein Vertreter eines
kleinen Unternehmens sagte einmal: Wir müssen unsere
Reinigungskräfte einbinden, so viel Personal haben wir
gar nicht.
Uns ist es deshalb ein großes Anliegen, dass die
BaFin das im Gesetz vorgesehene Proportionalitätsprinzip wo immer möglich anwendet und dadurch die Unternehmen entlastet werden. Wir wollen, dass der Aufwand
für die Unternehmen in einem angemessen Verhältnis zu
deren Versicherungsgeschäft steht. Deswegen haben wir
im Verlauf der Diskussion zu diesem Gesetz noch zwei
Punkte direkt ins Gesetz aufgenommen: Erstens haben
wir mit einer Klarstellung im Gesetzestext sichergestellt,
dass operative Tätigkeiten von der internen Revision unabhängig sein müssen, nicht aber Funktionen. Zweitens
legt das Gesetz jetzt zudem fest, dass Geschäftsleiter
auch Schlüsselfunktionen wahrnehmen können, eine
Koppelung von Schlüsselfunktionen bleibt jedoch auch
EU-rechtlich untersagt.
Wir gehen davon aus, dass die Versicherungsaufsicht
von den gegebenen Möglichkeiten hinreichend Gebrauch macht, gerade die kleinen Unternehmen von Berichtspflichten zu befreien. Wir haben Vertrauen in die
solide Arbeit unserer BaFin. Ich finde es gut, sagen zu
können, dass unsere Durchführungsorgane oft eher dafür
gescholten werden, dass sie Gesetze zu eng und zu genau nehmen, als dass man ihnen vorwirft, sie großzügig
auszulegen. Lediglich die Umsetzung des Proportionalitätsprinzips werden wir - das haben wir auch schon ein
paar Mal gesagt - uns nochmals genau anschauen. Das
zu erwähnen, ist mir wichtig. Deswegen haben wir auch
im Bericht des Finanzausschusses festgehalten, dass uns
die BaFin im Jahr nach der Einführung von Solvency II,
also im Jahr 2017, zur Umsetzung des Proportionalitätsgrundsatzes berichten wird; denn wir wollen im Sinne
der Kunden die Vielfalt der deutschen Versicherungslandschaft erhalten und einen fairen Wettbewerb sicherstellen.
({3})
Die umfassende Novellierung des Versicherungsaufsichtsgesetzes ist von den Versicherungsunternehmen
mittlerweile akzeptiert. Die langen Jahre der Diskussion
bis zur Einführung dieser Novelle haben daran aus meiner Sicht einen großen Anteil. Gerade auch auf die
Herausforderung der Niedrigzinsphase ist Solvency II
grundsätzlich die richtige Antwort; denn quantitatives
und qualitatives Risikomanagement muss sich an den
Gegebenheiten des Marktes orientieren.
Ich will noch einen weiteren wichtigen Punkt der Debatte ansprechen. Immer wieder wurde geäußert, dass
der Schutz des einzelnen Verbrauchers gegenüber dem
Schutz der Unternehmen vor Insolvenz Vorrang haben
müsste. Diese Frage trifft den Kern einer Versicherungsgemeinschaft und das Prinzip der Versicherung: Es ist
die Frage, ob die Interessen der Versicherten oder die der
Solidargemeinschaft Vorrang haben. Für uns steht klar
die Solidargemeinschaft im Vordergrund.
({4})
Ich will das am Beispiel der deutschen Lebensversicherung deutlich machen; denn gerade hier wird immer
wieder das Prinzip der solidarischen Versichertengemeinschaft infrage gestellt. Seit mehr als 100 Jahren gibt
es die deutsche Lebensversicherung. Von Anfang an und
bis in die heutige Zeit liegt ihr die Idee der Solidargemeinschaft zugrunde. Sie ist privatwirtschaftlich organisiert, aber dem Solidarprinzip einer Gemeinschaft verpflichtet. Sie arbeitet als Kollektiv, das mit einem hohen
Maß an Stabilität gemeinsam spart, Sicherheit bietet und
über die Zeit im Verbund die Risiken ausgleicht, und
zwar in guten wie in schlechten Zeiten, in Zeiten hoher
wie niedriger Zinsen, in Zeiten hoher wie geringer Risiken - und das über Generationen hinweg.
({5})
Risiken gemeinsam zu übernehmen, bedeutet immer,
einen eigenen angemessenen Beitrag zu leisten, wenn
ein Mitglied der Gemeinschaft einen Schaden erlitten
hat. Damit werden Lebensrisiken, die jeden von uns treffen können, beherrschbar. Damit sind wir solidarisch in
der Gemeinschaft der Versicherten. Damit gehen wir
aber auch die Verpflichtung ein, uns selbst einzubringen.
Es ist das Prinzip der Risikominimierung für jeden Einzelnen, nicht das Prinzip der Gewinnmaximierung für jeden Einzelnen, liebe Frau Karawanskij.
Das Selbstverständnis als Solidargemeinschaft wurde
während der Beratungen konkret und intensiv anhand
der Funktionsweise der freien RfB, also der Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen, die Sie eben schon angesprochen haben - ein kompliziertes Wort und ein
kompliziertes Regelwerk -, diskutiert. Ich will hier kein
handelsrechtliches Seminar abhalten, aber es ist wichtig,
noch einmal klarzustellen: Die freien Rückstellungen für
Beitragsrückerstattungen sind genau der Posten in der
Bilanz eines Versicherers, der den Topf abbildet, aus
dem über Generationen hinweg das Kollektiv der Versicherten mit stabilen Erträgen versorgt wird. Ich sage bewusst: mit stabilen Erträgen; denn es ist gerade das Prinzip eines Versicherers, nicht einzelnen Jahrgängen von
Versicherten maximierte Erträge zu garantieren, sondern
über Generationen hinweg möglichst stabile Erträge.
({6})
Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen speisen
sich aus Überschüssen; das wissen Sie. Bei der RfB fließen jeweils 90 Prozent der Kapitalanlagegewinne und
der Risikogewinne sowie 50 Prozent der Kostengewinne
ein. Diese Überschüsse kommen den Versicherten zugute, und zwar vollständig. Das geschieht jedoch nicht
unmittelbar und individuell für jeden einzelnen Versicherten. Die freie RfB ist vielmehr eine Zahlungsverpflichtung des Versicherers an die Gemeinschaft der
Versicherten, nur der Zeitpunkt, die Höhe und der Einzeladressat sind in dem Moment noch unbestimmt.
Vielfach war die Kritik zu hören, dass die Versicherer
mithilfe der freien Rückstellung für Beitragsrückerstattungen, die ja eigenmittelfähig ist, ihre Eigenmittelquote
stärken würden, anstatt die Überschüsse aus der freien
RfB unmittelbar an die Kunden auszuschütten. Somit
würden Kundengelder als Eigenmittel eingesetzt. Ich
sage es noch einmal: Die Gelder der freien RfB gehören
den Kunden - unwiderruflich. Das steht der Eigenmittelfunktion der freien RfB aber gar nicht entgegen; denn es
ist die praktische Umsetzung des Modells des kollektiven Sparens und Versicherns. Müsste an dieser Stelle
echtes Eigenkapital eingesetzt werden, wer sollte das bezahlen? Kapitalgeber stellen ihr Geld stets nur gegen
eine angemessene Rendite zur Verfügung. Die Solidargemeinschaft erspart sich damit gegenseitig die Kosten
für externe Kapitalgeber und konnte dadurch in den vergangenen Jahren trotz sinkender Zinsen noch eine beachtliche Rendite erwirtschaften.
Ein weiterer Punkt, der immer wieder besonders von
den Linken kritisiert wurde, ist die Klarstellung in Bezug
darauf, dass Versicherungsunternehmen in sogenannte
alternative Investmentfonds investieren dürfen. Dazu
kann ich nur immer wieder sagen: Je breiter die Kapitalinvestitionen auf verschiedene Investitionszweige gestreut sind, umso besser. Ich denke, Sie alle kennen die
erste Regel der Kapitalanlage: Lege nicht alle Eier in einen Korb. Zudem sind unter Solvency II die Versicherer
verpflichtet, ihre Kapitalanlagen adäquat zum Risiko mit
Eigenkapital zu unterlegen. Gerade das ist eine Säule des
neuen Regelwerks.
Ich sagte bereits am Anfang meiner Rede, dass die
Finanzkrise diesem Gesetz einen deutlichen Stempel
aufgedrückt hat. Das Gesetz ist eine Antwort auf stark
veränderte europäische Rahmenbedingungen und ein
wichtiger Schritt, Vertrauen in eine Branche zu stärken,
die wir wesentlich für unsere Altersvorsorge - und damit
für unsere Zukunft - brauchen.
Die drei Säulen unserer Altersversorgung - gesetzlich, betrieblich und privat - sind nur leistungsfähig,
wenn wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Wir
haben das Glück eines immer länger werdenden Lebens;
aber wir werden eben auch immer weniger. Zum Erhalt
unseres Lebensstandards werden wir - auch wenn Sie
das glauben, Herr Birkwald - nicht allein auf die staatliche Säule der Altersversorgung bauen können.
Wir müssen - ich werde nicht müde, es immer und
immer wieder zu betonen - eigene Vorsorge leisten.
Auch wenn es nicht immer einfach ist: Wir müssen mit
einer betrieblichen und/oder einer privaten Altersvorsorge selbst etwas für unseren Lebensabend tun.
({7})
Wir dürfen den Staat nicht überfordern, denn wir alle
sind der Staat. Gemeinsam können wir nur so sozial sein,
wie wir es uns leisten können. Deshalb muss es so viel
Solidarität wie nötig und so viel eigene Leistung wie
möglich geben.
Mit der Novellierung des Versicherungsaufsichtsgesetzes wollen wir das Vertrauen stärken, dass sich die eigene Leistung trotz allem lohnt. Diese Debatte fällt in
eine Zeit großer Unsicherheit. Wir müssen als europäische Gemeinschaft Geschlossenheit zeigen. Eine Gemeinschaft braucht gemeinsame Regeln. Die Rücksicht
auf nationale Besonderheiten bleibt dabei immer eine
Herausforderung. Das war auch in der Diskussion um
Solvency II immer wieder ein Thema. Dieses Gesetz berücksichtigt beides. Deswegen werden wir als CDU/
CSU-Fraktion diesem Gesetz heute zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/3900, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2956 und
18/3252 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen in zweiter
Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
18/3924. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Nach einigem Zögern die gesamte Fraktion der Linken.
Wer stimmt gegen diesen Entschließungsantrag? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 4:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Brigitte Pothmer, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein modernes Einwanderungsgesetz
Drucksache 18/3915
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Dieser angekündigte Titel führt zur Einwanderung
und Auswanderung verschiedener Kolleginnen und Kollegen aus dem Plenarsaal. Sobald sich das neu sortiert
hat, eröffne ich die Aussprache. Vorher frage ich, ob es
Einvernehmen gibt, dass die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt wiederum 96 Minuten umfassen soll. Das ist offensichtlich der Fall, wenn auch möglicherweise gar nicht nötig. Wie auch immer, das diskutieren
wir immer wieder aufs Neue.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Deutschland ist kein Einwanderungsland“: Dieser Satz,
den Helmut Kohl 1991 gesagt hat, hatte eine ziemlich
lange politische Halbwertszeit. Er hat die Diskussion
über Einwanderung vergiftet und am Nachdenken gehindert. Es gab ein Denkverbot in Bezug auf Regeln, unter
denen Menschen anderer Nationen, Ethnien und Religionen einwandern, und in Bezug auf Ideen, wie wir eine
offene Gesellschaft - natürlich auf dem Boden des
Grundgesetzes - organisieren können.
Übrigens: Als Helmut Kohl diesen Satz sagte, waren
gerade 18 Millionen Ostdeutsche, so wie ich, zu verkraften gewesen, und es waren viele Aussiedler und Spätaussiedler, Menschen jenseits der Oder-Neiße-Grenze, zu
uns gekommen.
({0})
Historisch gesehen war Deutschland seit 1945 eigentlich immer ein Einwanderungsland:
({1})
Nach Kriegsende kamen Flüchtlinge und Vertriebene
aus den Ostgebieten und nach 1949 Flüchtlinge aus der
DDR. 1955 hat Deutschland das erste Anwerbeabkommen mit Italien und nach 1960 mit Spanien, Portugal,
Griechenland, der Türkei und sogar mit Südkorea geschlossen. Auch der 1973 vom SPD-Arbeitsminister unterzeichnete Anwerbestopp war nichts anderes als ein
kleiner Zwischenhalt. Über die Europäische Union
konnten bald Italiener, Spanier und Portugiesen als
Unionsbürger nach Deutschland kommen.
Die ganze Zeit wurde aber gesagt, Deutschland sei
kein Einwanderungsland. Wenn man so redet, dann hat
das Konsequenzen. Alle sehen die Unterschiede zwischen Schein und Sein. In den 90er-Jahren ist es im Hinblick auf die Migration deshalb zu einer Polarisierung
gekommen, die in der Pegida-Bewegung so etwas wie
eine späte Sumpfblüte erlebt.
({2})
Rassismus hat es in der Bundesrepublik immer gegeben. Seitdem in den Medien aber Sätze wie: „Man hat ja
nichts gegen Ausländer, aber …“, wieder öffentlich gesagt werden können, hat sich die Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe in Deutschland verdreifacht. Meine
Damen und Herren, wir sind ein Einwanderungsland
ohne „Aber“.
({3})
Wir sind ein Land, in dem das Recht auf Asyl gilt, und
zwar erst recht ohne jedes „Aber“.
({4})
Wahr ist auch, dass der größte Teil unserer Gesellschaft heute viel offener und einladender als vor 25 Jahren ist. Ja, auch wir Grüne haben uns verändert. Die Migrantinnen und Migranten haben Rechte, aber eben auch
Pflichten; das ist klar. Integration muss von allen Seiten
geleistet werden. Ich sage das an die Adresse der Union,
der SPD und auch derjenigen bei uns selbst, die den alten Frontstellungen immer noch nachhängen: Die Lebenslüge von damals und alle daraus folgenden Ideologien haben wir viel zu lange mit uns herumgeschleppt.
({5})
Es reicht nicht, sich jetzt davon zu distanzieren und
zuzugeben: Na gut, Deutschland ist doch ein Einwanderungsland. Es reicht in diesem Fall auch nicht, einfach
die Realitäten anzuerkennen, sondern wir müssen sie gestalten. Nein, Herr Scheuer, das ist nicht wie Sand in der
Sahara. Deutschland ohne Einwanderer ist wie das Oktoberfest ohne Dirndl.
({6})
Herr Scheuer, wir schaufeln auch nicht den Sand in die
Sahara, sondern Sie schaufeln den Sand in das Getriebe
der deutschen Wirtschaft. Kommen Sie in der CSU raus
aus Ihrer Ecke und machen Sie endlich mit - für ein modernes Einwanderungsland!
({7})
Es geht darum, dass wir für diejenigen, die hier sind
- wann immer sie hierhergekommen sind -, und für diejenigen, die zu uns kommen - ohne Unterschied, warum
und woher -, ein Heimatland werden. Deutschland
braucht pro Jahr 300 000 Einwanderer. Das sagen alle
Experten übereinstimmend. Wir brauchen ein echtes
Einwanderungsgesetz und kein Einwanderungsverhinderungsgesetz.
({8})
Wir brauchen Kriterien. Wir brauchen das Recht auf
Staatsbürgerschaft mit der Geburt. Das ist für uns selbstverständlich. So buchstabieren wir Willkommen. Wer
hier geboren ist, ist auch Deutsche oder Deutscher,
meine Damen und Herren.
({9})
Wir müssen uns auf globale Beschäftigte einstellen,
die dieses Jahr hier und nächstes Jahr in Australien arbeiten. Dem syrischen Arzt oder der eritreischen Pflegekraft, die als Flüchtlinge hierherkamen, muss nicht nur
ermöglicht werden, hier zu arbeiten, sondern als echter
Einwanderer und echte Einwanderin auch die deutsche
Staatsbürgerschaft zu erhalten.
({10})
Deswegen sagen wir: Kriterienbasierte Einwanderung
darf kein starres System, kein Dauerkatalog und übrigens auch keine „Ordre de Mutti“ werden. Es geht darum, zusammen über Auswahlkriterien und Gewichtung
der Punkte eine jährliche Anpassung vorzunehmen und
darüber jedes Mal im Deutschen Bundestag zu diskutieren.
Ein Einwanderungsgesetz ist aber auch eine doppelte
Verpflichtung. Es bedeutet nämlich, sich um Migration
und Integration bzw. um das echte Zusammenleben zu
kümmern. Das gilt für diejenigen, die schon im Land
sind, wie auch für die, die noch kommen. Es geht um
Zugang zu Bildung ohne Diskriminierung und um Arbeit. Solange jemand, der Can Erdal heißt, bei der Wohnungssuche immer noch behauptet, er sei Kai Schuster,
stimmt etwas nicht in diesem Land.
({11})
Solange eine Frau, die Mürvet heißt, schon bei Eingang
der Bewerbung aussortiert wird, ohne dass ihr Lebenslauf und die Zeugnisse auch nur angeschaut werden,
stimmt etwas ganz eindeutig nicht in diesem Land. Das
zu ändern, ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
({12})
Jetzt sagt auch der Bundesinnenminister, dass wir
kein Einwanderungsgesetz brauchen. Wer hochqualifiziert sei, könne doch kommen. Die Bundesregierung hat
in der Tat eine ganze Menge kleine Türen aufgemacht.
Ein paar Tausend sind auch gekommen. Die Bundesagentur für Arbeit gibt dazu eine Hilfe heraus: 26 eng
bedruckte Seiten. Auf diesen 26 Seiten werden 7 verschiedene Aufenthaltstitel erklärt. Es werden Ausnahmen für Schweizer und Kroaten aufgelistet. Es wird
definiert, was Mangelberufe, Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis sind. Und so weiter. Wahrscheinlich
hätten wir alle auch Schwierigkeiten, da durchzusteigen,
und am Schluss wüssten wir nicht, was für uns zutrifft.
Meine Damen und Herren, wenn man jemanden anwerben und einladen will, dann verbreitet man nicht
26 Seiten, sondern man macht daraus eine Seite mit der
Überschrift „Kommen Sie zu uns!“.
({13})
Dass man einen Arbeitsplatz nachweisen muss, ist inzwischen überholt. Das ist lebensfremd. Die im Thüringer Wald dringend benötigte Pflegekraft wird sich dort
nicht bewerben, weil sie den schönen Ort Tabarz gar
nicht kennt. Wenn man einen Beruf hat, der hier gebraucht wird, dann muss man hierherkommen können
und Punkt, meine Damen und Herren.
({14})
Deutschland ist derzeit theoretisch das zweitattraktivste Land für Einwanderung weltweit. Praktisch attestiert uns die OECD wegen der bürokratischen Hürden,
das deutsche Zuwanderungssystem sei - ich zitiere „Anwerbestopp mit Ausnahmen“. Wir müssen dringend
die Perspektive ändern. Viele kleine Türen müssen zu
großen Toren werden, bei denen am Einlassschild ablesbar ist, welche klar definierten Voraussetzungen für Migration gelten. Dann wird dieses Land reicher und vielfältiger, und es wird mit ziemlicher Sicherheit auch
erfolgreicher.
Dann werden wir gemeinsam ein anderes Land, und
zwar eines, in dem wir uns alle zu Hause fühlen und in
dem wir uns gegenseitig für unsere Herkunftsgeschichte
interessieren, aber auch wissen: Eine Zukunft haben wir
gemeinsam. Das meine ich, wenn ich sage: So verstehe
ich Heimat.
({15})
Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie Schluss
mit den Lebenslügen! Machen Sie Schluss mit der Bürokratie! Hören Sie auf mit dem kleinkarierten Streit in der
Koalition! Jetzt ist der richtige Moment. Die Bevölkerung ist in ihrer übergroßen Mehrheit längst so weit.
({16})
Die Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Kirchen:
Alle sind bereit. Wir sollten uns an die Spitze der Bewegung stellen.
Schluss mit Zaudern und Zögern! Schluss mit SaharaVergleichen! Legen wir los und sorgen für ein modernes
Einwanderungsland!
({17})
Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. - Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten
Morgen, liebe Gäste auf der Tribüne! - Nächster Redner
ist für die Bundesregierung Dr. Ole Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten Wochen wurde von verschiedenen
Seiten die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz
erhoben. Was die Zielrichtung eines solchen Gesetzes
sein soll, blieb dabei weithin unklar. Wenn man sich anschaut, wer alles diese Forderung erhoben hat, wird eines ganz deutlich: Mit der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz werden ganz unterschiedliche Ziele
verbunden. Die einen verbinden mit einem solchen
neuen Gesetz eher eine Beschränkung der jetzigen Zuwanderungsregelungen. Andere stellen sich dabei eher
eine massive Ausweitung der Regelungen vor.
Die Frage, die es also zu beantworten gilt, lautet: Was
brauchen wir, und was haben wir schon? In dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heißt es hierzu:
Die Bundesrepublik Deutschland braucht ein Gesetz, das Einwanderung in ihrem wirtschaftlichen
und arbeitsmarktpolitischen Interesse ermöglicht
und zugleich ihrer menschenrechtlichen Verantwortung gerecht wird.
({0})
Ich denke, jeder hier im Saal wird dem zustimmen
können. Wir brauchen eine nach den wirtschaftlichen
und arbeitsmarktpolitischen Interessen gesteuerte Zuwanderung. Gleichzeitig ist es natürlich notwendig, die
Aufnahme- und Integrationsbereitschaft des Landes zu
berücksichtigen.
({1})
Mit Blick auf den demografischen Wandel bedeutet das,
dass wir uns vor allem um Fachkräfte aus anderen Staaten außerhalb der EU bemühen müssen. Gleichzeitig
muss Deutschland natürlich seiner humanitären Verantwortung gerecht werden. Wer nun einen Blick in § 1 Absatz 1 des geltenden Aufenthaltsgesetzes wirft, wird feststellen, dass genau das bereits Gegenstand des geltenden
Aufenthaltsgesetzes ist. Deutschland hat bereits ein
Gesetz, das genau regelt, wer unter welchen Voraussetzungen nach Deutschland kommen kann und einen Aufenthaltstitel erhält. Das schließt die Arbeitsmigration
ebenso ein wie Ausbildung und Studium, den Familiennachzug sowie den Aufenthalt aus humanitären Gründen.
Mit unserer jetzigen Regelung ist es auch möglich,
flexibel auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu reagieren, aber auch die langfristigen Entwicklungen im
Blick zu behalten. Wir haben erst vor kurzem die Blaue
Karte EU für Hochqualifizierte eingeführt. Die Blaue
Karte EU wird sehr schnell in einem unbürokratischen
Verfahren vergeben. Das ist der Grund, weshalb sich
diese Blaue Karte hier in Deutschland zu einem Erfolgsmodell entwickelt hat.
({2})
Mit dem Visum zur Arbeitsplatzsuche ermöglichen wir
Fachkräften, nach Deutschland zu kommen, um hier
zum Beispiel Bewerbungsgespräche zu führen und in
Kontakt mit ihren zukünftigen Arbeitgebern zu treten.
({3})
Nicht nur für Hochqualifizierte, sondern auch im
Bereich der klassischen Ausbildungsberufe haben wir
umfassende Neuregelungen getroffen. In sogenannten
Mangelberufen kann eine Zuwanderung ebenso unbürokratisch erfolgen wie bei Hochqualifizierten. Die Berufe,
in denen ein Mangel besteht, werden transparent in einer
Positivliste veröffentlicht. Derzeit sind das 70 Berufe,
insbesondere Gesundheits- und Pflegeberufe sowie Mechatroniker- und Elektroberufe. Diese Positivliste wird
halbjährlich überprüft. Die Ergebnisse und die entsprechenden Anpassungen werden für jeden sichtbar im Internet veröffentlicht.
Der Zuwanderung von Fachkräften stehen daher in
Deutschland keine aufenthaltsrechtlichen Hürden mehr
entgegen.
({4})
Das hat auch die OECD in ihrem jüngsten Bericht über
die Steuerung der arbeitsmarktorientierten Zuwanderung
in Deutschland bestätigt. Sie hat unser System sehr gelobt als eines der innovativsten Systeme, die die modernen Herausforderungen wirklich anpacken.
Wir haben uns aber ganz bewusst - darauf kommt es
an - für ein nachfrageorientiertes System entschieden.
Das heißt, Voraussetzung dafür, dass jemand nach
Deutschland kommen kann, ist, dass ein konkreter Arbeitsplatz in einem Betrieb nachgewiesen wird.
({5})
Das alternative System der Arbeitsmigration, das derzeit in Deutschland diskutiert wird und das auch Sie in
Ihrem Antrag fordern, ist das Punktesystem, das gerade
keinen nachfrage-, sondern einen angebotsorientierten
Ansatz verfolgt. Der Kerngedanke des Punktesystems ist
es, Menschen mit bestimmten Merkmalen und Qualifikationen unabhängig von einem konkreten Arbeitsplatzangebot nach Deutschland zu holen. Dadurch entsteht
ein großer Pool an Arbeitskräften, und aus diesem Pool
kann sich die Wirtschaft dann bedienen. Für die Wirtschaft ist das natürlich höchst komfortabel.
({6})
Aber was passiert denn mit denjenigen, für die die
Wirtschaft kein Jobangebot hat? Was passiert mit denjenigen, die keinen Job bekommen? Anders als in den
klassischen Einwanderungsländern - darum geht es ja überlassen wir mit unserem Sozialsystem diejenigen, die
keinen Job bekommen und die arbeitslos sind, nicht sich
selbst, sondern wir haben den Anspruch, dass wir uns
auch um diese Menschen kümmern, damit auch sie ein
würdevolles Leben führen können. Genau da liegt der
Unterschied. Das gilt es zu berücksichtigen.
({7})
Zu berücksichtigen gilt natürlich auch, dass eine hohe
Anzahl von Menschen ungesteuert über das Asylsystem
zuwandert. 200 000 Menschen waren es im letzten Jahr.
Hinzu kommt der Zufluss über den EU-Arbeitsmarkt,
wo wir null Beschränkung haben, sodass jeder aus der
EU nach Deutschland zur Arbeitsaufnahme kommen
kann. Zu berücksichtigen ist natürlich auch unsere geografische Lage. Die USA haben zwei Grenzen, Kanada
hat nur eine Grenze. Wir machen nicht mit, wenn es darum geht, möglichst viele billige Arbeitskräfte ins Land
zu holen.
({8})
Lohndumping ist die Konsequenz, wenn Arbeitskräfte
ins Land geholt werden, ohne dass es einen konkreten
Job für diese Arbeitskräfte gibt.
({9})
Zuwanderung auf Kosten unserer Sozialsysteme lehnen wir ab.
({10})
Zuwanderung muss - das ist wichtig - auch immer mit
Integration einhergehen. Dabei spielt die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft eine Rolle, aber natürlich auch
die Integrationsmöglichkeiten eines jeden Einzelnen. Integration findet eben am Arbeitsplatz statt, Integration
findet nicht in der Arbeitslosigkeit statt.
({11})
Unbürokratischer ist ein Punktesystem gerade nicht.
Das zeigen die Erfahrungen aus Kanada. Da dauert es
Monate, zum Teil sogar Jahre, bis irgendwann jemand
die Möglichkeit hat, ins Land zu kommen.
({12})
Vor allen Dingen bringt ein Punktesystem Angebot und
Nachfrage nicht zusammen. Es ist bürokratisch, es ist
planwirtschaftlich und entspricht noch nicht einmal den
Anforderungen der Wirtschaft.
({13})
Ich halte daher ein solches Punktesystem nicht für den
richtigen Weg.
Das bedeutet aber nicht - deshalb ist eine solche Debatte vielleicht auch ganz gut -, dass wir keinen Verbesserungsbedarf in Deutschland haben. Potenzial für
Verbesserungen sehe ich beispielsweise bei der Kommunikation über bestehende Möglichkeiten. Das zeigt auch
das Niveau, auf dem diese Debatte zum Teil geführt
wird.
({14})
Hier sind aber keine neuen Gesetze gefordert, sondern
hier sind wir alle gefordert.
({15})
Hier sind vor allen Dingen die Außenhandelskammern
gefordert, und hier sind die Botschaften gefordert, um
deutlich zu machen, welche Möglichkeiten es gibt. Wir
müssen gerade die mittelständischen Unternehmen unterstützen, wenn es darum geht, Fachkräfte in Drittstaaten anzuwerben. Wir sollten daher gemeinsam mit der
Wirtschaft über die Bereitstellung zum Beispiel einer
IT-Plattform nachdenken, wo sich ausländische Bewerber für Jobs bewerben können. Auf diese Bewerbungen
können dann beispielsweise Wirtschaftsunternehmen zugreifen. Da könnte Kanada in der Tat Vorbild sein.
({16})
Auch bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse
durch Nachqualifizierung in Deutschland sehe ich Verbesserungsbedarf. Dazu brauchen wir allerdings kein
neues Einwanderungsgesetz. Im Gegenteil: Ein neues
Einwanderungsgesetz mit einem überflüssigen Punktesystem und einem aufwendigen Gesetzgebungsverfahren
wäre das absolute Gegenteil von dem, was wir jetzt
brauchen, auch wenn viele hier immer gerne neue Gesetze machen. Insbesondere Juristen machen gerne neue
Gesetze. Aber damit ändern wir nicht die Welt. Die Welt
ändern und unser Land verbessern wir nur dann, wenn
wir bestehende Gesetze implementieren und anwenden.
({17})
Notwendig sind also gemeinsame Anstrengungen von
Wirtschaft und Politik, um die bestehenden Möglichkeiten zu nutzen. Wir haben dabei keine Zeit zu verlieren;
denn jeder erfolgreiche Zuwanderer, der sich hier in
Deutschland erfolgreich integriert, ist am Ende nicht nur
ein Gewinn für die Unternehmen, sondern auch für unser
gesamtes Land.
({18})
Vielen Dank, Kollege Dr. Schröder. - Nächste Rednerin in der Debatte: Petra Pau für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine erste Debatte im Bundestag über ein Einwanderungsgesetz liegt knapp 15 Jahre zurück. Damals
regierte Rot-Grün. Uns lagen Empfehlungen der
Süssmuth-Kommission vor, benannt nach der einstigen
Präsidentin des Bundestages. Der zugrundeliegende
Auftrag stammte vom damaligen Bundesinnenminister
Otto Schily, SPD. Dieser Auftrag war sehr restriktiv
gefasst. Gleichwohl mahnte die Kommission, Zu- und
Einwanderung jeder Art sei nicht auf die Innenpolitik
reduzierbar. Sie sei zudem Prinzipien wie der Menschenwürde, der Demokratie sowie Werten wie Gerechtigkeit
und Solidarität verpflichtet.
({0})
Außerdem gelte es, „für Toleranz, Akzeptanz und wechselseitigen Respekt“ innerhalb der Bevölkerung zu werben; so hieß es im Bericht der Kommission.
Die Widersprüche waren übersichtlich: Ich warb in
der damaligen Debatte für eine Willkommenskultur, die
Union für eine deutsche Leitkultur, was immer das auch
sei. Wir wollten eine menschenrechtliche Einwanderung, andere dagegen eine profitable Zuwanderung, und
das Ganze auf Zeit. Alle diese Konflikte sind nicht aus
der Welt - nicht im geltenden Gesetz und nicht in der
Praxis. Auch deshalb begrüßt die Linke eine neue Initiative.
Zum Rückblick gehört auch: Der Gesetzentwurf von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen blieb damals hinter
den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission zurück.
CDU und CSU sorgten für weitere Restriktionen. Initiativen und Verbände sprachen damals von einem Einwanderungsverhinderungsgesetz. Hinzu kam die „WowereitPanne“ im Bundesrat: Die Brandenburger SPD stimmte
mit Ja, die Brandenburger CDU stimmte mit Nein. Bundesratspräsident Wowereit wertete das dennoch als
Brandenburger Ja. Das und damit das ganze Gesetz wurden dann vor Gericht kassiert. Es kam zu erneuten Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat. Heraus
kam 2004/2005 ein noch schlechterer Kompromiss. Seither sind zehn Jahre vergangen. Es wird also höchste Zeit
für ein modernes Einwanderungsrecht mit einer guten
Willkommenskultur.
({1})
Bündnis 90/Die Grünen haben dafür einen Antrag
vorgelegt. Etlichen Gedanken und Vorhaben kann die
Linke folgen. Über Details und Differenzen wird in den
Ausschüssen zu sprechen sein. Deshalb möchte ich
heute hier etwas grundsätzlicher bleiben:
Erstens. Einwanderung ist derzeit auch ein gesellschaftliches Thema. Ich kann nur hoffen und appellieren: Möge niemand dieses Thema parteipolitisch missdeuten, um bei Pegida oder AfD-Wählern auf
Stimmenfang zu gehen. Das käme uns alle ganz schlecht
zu stehen.
({2})
Zweitens. Wir reden über Menschen mit Rechten und
nicht über Roboter.
({3})
Menschen teilt man nicht in nützlich, unnütz oder gar
schädlich ein.
({4})
Wer das dennoch versucht, und sei es über Punktesysteme, entfernt sich gedanklich von Artikel 1 Grundgesetz.
({5})
Drittens. Bei alledem geht es auch immer um Integration. Die wiederum bleibt ein zweiseitiger Prozess. Sie
fordert Einwandernde ebenso wie die aufnehmende Gesellschaft. Maßstab für dieses Miteinander ist das
Grundgesetz und kein deutschnationaler Dünkel.
({6})
Viertens. Ein transparentes Einwanderungsrecht und
ein humanes Asylrecht sind zweierlei. Sie dürfen weder
verwechselt noch vermengt werden. Für die Linke heißt
das auch: Ein neues Einwanderungsgesetz ersetzt keine
bessere Flüchtlingspolitik. Diese bleibt überfällig.
({7})
Fünftens. Wenn wir über Einwanderung reden, dann
reden wir nicht nur darüber, mit welchem Recht Menschen einwandern dürfen, sondern auch darüber, welches Recht Eingewanderten gebührt. Die Spanne dazu
reicht vom Wahlrecht bis zur doppelten Staatsbürgerschaft.
Sechstens. Wir erleben derzeit, wie sich rassistisches
Gedankengut enthemmt entlädt. Dem müssen wir gemeinsam wehren. Ob dies gelingt, hängt auch von unserer Debattenkultur zum Einwanderungsgesetz ab. Wir
sollten die Gelegenheit ergreifen, Ressentiments abzubauen; und wir sollten sie auf gar keinen Fall bedienen.
({8})
Vielen Dank, Petra Pau. - Nächster Redner in der Debatte: Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, ob Ihnen das eben aufgefallen ist: Wir
spielen hier ein bisschen verkehrte Welt. Der Kollege
Staatssekretär Dr. Schröder wandte sich gegen ein Punktesystem mit einem Argument, das normalerweise aus
der Gewerkschaftssicht hätte kommen können:
Lohndumping sei zu befürchten. Die Linkspartei hat
auch ihre Probleme mit dem Punktesystem. Jetzt müssten wir einmal überlegen, wo welche Positionen mit welchen Argumenten bestehen, und das sortieren.
Um die Botschaft im Kern vorweg zu bringen: Man
muss nicht jeden Tag das Rad neu erfinden, schon gar
nicht alle vier Räder. Man muss sich aber manchmal Gedanken um eine neue Bereifung machen, und man muss
die Räder vielleicht auch manchmal auswuchten. Das
heißt, selbst wenn man ein gutes Recht hat, hindert das
nicht daran, dieses Recht noch besser zu machen. Sie
wissen ja: Das Bessere ist nun einmal der Feind des Guten.
({0})
Von daher gesehen bin ich froh, dass dieses Thema
jetzt wieder - Kollegin Pau hat ja dankenswerterweise
auf die Historie verwiesen - bei uns und in der Gesellschaft debattiert wird. Nachdem annähernd zeitgleich
unsere Fraktion und unser Fraktionsvorsitzender
Thomas Oppermann sowie Ihr Generalsekretär
Dr. Tauber das zum Thema gemacht haben, ist jetzt auch
wieder die Partei Bündnis 90/Die Grünen dabei: Willkommen im Klub!
Wenn ich daran denke, wer vor 13, 14, 15 Jahren
schon dabei war - ich nenne nur Volker Beck,
Marieluise Beck, Cem Özdemir und Claudia Roth -,
dann wundert mich auch nicht, dass die Ideen, die jetzt
im Antrag der Grünen stehen, im Wesentlichen auf das
zurückgeführt werden können, was wir damals schon
diskutiert haben.
Jetzt allerdings leidet meine Fröhlichkeit und Freundlichkeit darunter, dass die Union in dem Gesetzgebungsverfahren damals leider einige maßgebende Verwässerungen und Verschlechterungen durchgesetzt hat. Weil
jenes Gesetz im Bundesrat zustimmungsbedürftig war
- darauf ist hingewiesen worden -, mussten wir auf
diese Verschlechterungen eingehen. Dazu gehört, dass
wir die Kettenduldung nicht wegbekommen haben.
Dazu gehört aber auch, dass ein punktegesteuertes Auswahlsystem für die Einwanderung - damals § 20 - in der
Versenkung verschwunden ist. Höchste Zeit, dass wir
das jetzt wieder einmal diskutieren!
({1})
Die Notwendigkeit ist größer geworden. Wir wussten
im Prinzip auch schon damals, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland im Jahr 2050
10 Millionen, 15 Millionen, vielleicht sogar 20 Millionen weniger Einwohner in Deutschland haben werden.
Heute ist das Problem deswegen dringlicher, weil wir
15 Jahre näher an dieser Jahreszahl sind und wissen,
dass diejenigen, die heute nicht geboren sind, 2050 auch
keine Eltern sein können und dementsprechend Kinder
fehlen.
Jetzt könnte man etwas flapsig sagen: Was macht das?
Dann haben wir alle mehr Platz! - Wunderbar, aber die
Bedrohung für unser gesamtes Gesellschaftssystem ist
erheblich. Um das zu verdeutlichen, will ich auf Folgendes aufmerksam machen: Wir werden älter, und wir werden weniger. Das bedeutet etwa für das Jahr 2050, dass
nicht - wie heute - etwa zwei Arbeitnehmer einen Rentner ernähren und finanzieren müssen, sondern dann wird
das Verhältnis eins zu eins sein.
({2})
Das heißt im Übrigen auch, dass eine ganze Reihe von
ganz wichtigen Versorgungsstrukturen von weniger
Menschen finanziert werden muss.
Ich weiß, wovon ich rede; denn nicht nur in Ostdeutschland, sondern sogar in einem Landkreis des Landes Hessen - er gehört zur Hälfte zu meinem Wahlkreis
- sind heute schon Abwanderung und Bevölkerungsschwund Realität. Da machen sich die Bürgermeister zu
Recht Gedanken über die Frage, wie denn das mit der
Aufrechterhaltung der Infrastruktur gehen soll; das
reicht von Kanal über Wasser bis hin zum Verkehr. Ich
sage aber auch: Wenn die Wege zu Kindergärten und
Schulen immer länger werden, weil es aufgrund des Kindermangels immer weniger davon gibt, dann ist auch das
ein Problem, das uns nicht kaltlassen kann.
({3})
In der zusammenfassenden Betrachtung, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird klar, dass wir im Jahre 2050
etwa 15 Millionen weniger Personen im Erwerbsleben
haben werden. Um das einmal ins Verhältnis zu setzen:
Das ist ein Drittel weniger. Spätestens an der Stelle muss
bei uns allen das Nachdenken einsetzen; denn wir alle
hier sind für vorausschauende Politik gewählt, und die
muss sich auch auf solche Situationen einstellen.
({4})
Ich will zwei Vorbemerkungen machen, die aus der
Sicht der SPD-Fraktion ganz besonders wichtig sind.
Die erste lautet: Wir müssen uns verstärkt und mit mehr
Mühe um diejenigen kümmern, die bereits hier sind und
als Erwerbspersonen infrage kommen.
({5})
Dazu gehören diejenigen, die bisher nicht am Erwerbsleben teilnehmen konnten, weil sie dafür nicht qualifiziert
genug waren - Stichwort: zweite, dritte Chance. Dazu
gehört aber auch das Potenzial derjenigen Frauen, die
zum Teil gegen ihren Willen noch nicht in ihren Beruf
zurückkehren können, weil etwa die Kinderbetreuungsmöglichkeiten noch nicht optimal sind. Auch darauf
werden wir unser Augenmerk legen.
({6})
Die zweite Vorbemerkung ist mindestens genauso
wichtig: Man kann Nützlichkeitserwägungen bei der Arbeitsmigration - da stimme ich mit den Vorrednern, insbesondere mit Petra Pau völlig überein - nicht gegen
unsere Verpflichtung aufwiegen, schutzbedürftige
Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
({7})
Ich setze aber hinzu: Wenn man hier in jeder Hinsicht
vorbildlich, korrekt - sicherlich nie ganz ausreichend seine Verpflichtungen gegenüber den humanitären Zuwanderungsbewegungen erfüllt, dann muss es, dann
kann es angesichts unseres demografischen Aufbaus am
Rande auch erlaubt sein, Nützlichkeitserwägungen anzustellen. Dann ist das erlaubt, meine Damen und Herren.
({8})
Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die einem
da in den Sinn kommen, beispielsweise den sogenannten
Zweckwechsel vom Flüchtling zum arbeitsmarktorientierten Zuwanderer. Den haben wir in der Großen Koalition in § 18 a Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz
übrigens schon eingeführt; das galt für die Hochqualifizierten, aber das reicht natürlich nicht. Das ist eine der
Stellschrauben, die man bedienen kann.
Wir müssen uns aber auch Gedanken darüber machen, ob nicht jemand, der hier in Deutschland seine
Hochschulausbildung oder Berufsausbildung absolviert
hat, dann auch für einen längeren Zeitraum hier bleiben
darf, um sich adäquate Arbeit zu suchen.
({9})
- Herr Kollege Brand, 18 Monate ist vielleicht ein bisschen wenig. - Auch da können wir noch besser werden.
({10})
Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, ob
wir das im Rahmen der Bluecard-Zuwanderung nicht
auch auf diejenigen erstrecken sollten - die europäische
Richtlinie würde das zulassen -, die eine entsprechende
Berufserfahrung, aber keine Spezialausbildung haben.
Da gibt es noch eine Regelungslücke, die wir ausfüllen
könnten.
Und wir müssen uns - Stichwort: Erschließung der
Potenziale - um eine bessere Anerkennung ausländischer Abschlüsse kümmern. Auch dort ist einiges liegen
geblieben; auch das läuft noch nicht rund.
({11})
Nicht zu vergessen: Wir alle haben die Veranlassung,
uns vom ersten Tag an um die Integration von Zuwanderern, gleich aus welchen Gründen, zu kümmern. Erstaunlicherweise bzw. lobenswerterweise steht in der
Koalitionsvereinbarung, dass wir uns dies vorgenommen
haben. Wir müssen nur langsam mit der Umsetzung beginnen; denn sonst sind es verlorene Jahre für die Betroffenen und letztendlich für uns alle. Hier gibt es also
Handlungsbedarf.
({12})
So könnte man die Reihe weiter fortsetzen. Ich
stimme im Übrigen zu, dass wir uns in der Außendarstellung, in der Werbung und in der Darstellung der Systematik noch ein bisschen verbessern könnten. Im Kern
geht es heute darum, einem damals nicht zum Zuge gekommenen System, nämlich einer angebotsorientierten
Anwerbung von Arbeitskräften, eine Chance zu geben.
Ich sage noch einmal: Das ist nur ein Baustein und ersetzt nicht alle anderen. Er beschränkt nicht alle anderen.
Er muss hinzutreten, damit der gewünschte Effekt eintreten kann.
({13})
Wenn in diesem Zusammenhang immer von Kanada
die Rede ist, dann müssen wir uns auch der aktuellen
Entwicklung dort zuwenden. Die Kanadier - ähnlich wie
die Australier - haben, was wir alle nicht wollen, eine
Quotierung der Zuwanderung aus humanitären Gründen - übrigens auf eine sehr kleine Zahl. Das ist schon
mal gar nicht vergleichbar mit unserem System und den
Erfordernissen bei uns in Europa. Die Kanadier haben
jetzt von dem früheren Punktesystem, bei dem sich jeder
hinten anstellen musste und irgendwann über seinen Antrag entschieden wurde, zum sogenannten ExpressEntry-System gewechselt, das, soweit ich es nachlesen
konnte, bedeutet: Zuwanderungswillige wenden sich an
die kanadische Regierung bzw. Einwanderungsbehörde
und legen ihre Potenziale, Chancen und Möglichkeiten
dar. Dies wird in eine Datenbank aufgenommen. Wenn
dann ein Arbeitgeber in Kanada auf diese Datenbank
zugreift und jemanden gefunden hat, der zu dem Profil
passt, das er braucht, dann beginnt der eigentliche Prozess. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitgeber willens
und in der Lage ist, einer bestimmten Person einen bestimmten Arbeitsplatz anzubieten - hier findet sich
wieder die nachfrageorientierte Komponente, und hier
haben wir den Anflug einer Möglichkeit, sich zu einigen -, fällt schon mit mehr als der Hälfte der Punkte ins
Gewicht. Wir könnten auch in diesem Bereich von anderen lernen.
({14})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Dinge sagen;
leider endet meine Redezeit gleich.
({15})
Ja, so ist es.
Jetzt wollte ich gerade anheben, die Kanzlerin zu loben. Das kommt bei mir an dieser Stelle wahrhaft selten
vor.
Möglicherweise hat das dann jemand zu bezahlen.
Die Kanzlerin ist normalerweise zuwartend in ihren
Entscheidungen und deswegen heute in der Süddeutschen Zeitung wieder einmal heftig kritisiert worden. Ich
finde es per saldo gar nicht so schlecht, dass sie, bevor
sie die neu angefachte Debatte zu ersticken versucht, einen Augenblick zuwartet und dass eine hoffentlich qualifizierte Debatte zu einer eigenen Meinungsbildung
führt. Sie sehen daran, da ist noch Hoffnung.
Am Schluss möchte ich allen Gegnern, die Angst haben, es könnten zu viele kommen und unsere Sozialsysteme oder unseren Arbeitsmarkt bedrohen, ein Zitat des
Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus Nürnberg mit auf den Weg geben. Er hat gestern in einem Interview gesagt: Man muss sich auch
einmal entscheiden, ob man den Zuwanderern eher vorwerfen will, dass sie Sozialleistungen kassieren, oder,
dass sie uns die Jobs wegnehmen. Beides gleichzeitig
können sie schlecht tun.
({0})
Vielen Dank, Rüdiger Veit. - Nächster Redner in der
Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist gut, dass wir heute
diese Debatte über das Einwanderungsrecht führen. Es
ist nicht die erste Debatte zum Zuwanderungsrecht, die
ich hier im Deutschen Bundestag bestreiten darf. Meistens sind die Debatten sehr emotional und sehr aufgeheizt. Ich glaube, angesichts der derzeitigen Stimmung
in unserem Land sollten wir uns alle, egal welcher Fraktion wir angehören, daran orientieren, dass wir eine
sachliche, eine objektive Debatte führen. Ich finde es
gut, dass wir heute diese Debatte führen, weil sie wieder
Gelegenheit bietet, klarzumachen, wo wir stehen, wie
die Fakten sind und was eventuell, wenn überhaupt, geändert werden sollte.
Ich persönlich habe den Eindruck - ich sage dies ganz
offen -, dass der Antrag, den die Grünen heute zur Debatte stellen, den falschen Eindruck vermittelt. Er vermittelt den Eindruck, wir bräuchten in Deutschland ein
modernes Einwanderungsgesetz.
({0})
Ich möchte dem, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen, ganz klar entgegenhalten: Wir haben schon
längst ein außerordentlich modernes und fortschrittliches
Zuwanderungsrecht.
({1})
Sehr verehrte Kollegin Göring-Eckardt, Sie haben auf
die Kritik des CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer
hingewiesen. Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht - Sie
werden jetzt wahrscheinlich überrascht sein -: Auch ich
bin der Meinung, dass das Münchner Oktoberfest nicht
ohne Dirndl geht. Ich sage das ganz bewusst, weil die
Kollegin Kotting-Uhl aus Ihren Reihen einmal sehr massiv Kritik am Dirndl geübt hat,
({2})
als sie meinte, das Dirndl der Parlamentarischen Staatssekretärin Dorothee Bär sei rückständig. Offenbar hat
bei den Grünen schon insoweit ein Umdenken stattgefunden, als auch Sie Dirndl für essenziell halten und sich
das Oktoberfest nicht ohne Dirndl vorstellen können.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen -
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage einer jüngst Dirndl tragenden Kollegin
namens Kotting-Uhl?
Selbstverständlich, sehr gerne.
({0})
Herr Kollege, wenn Sie schon meinen, diese etwas
unpassende Debatte hier noch einmal aufwärmen zu
müssen, dann will ich Sie schon ein bisschen korrigieren. Ich war niemals gegen das Dirndl auf dem Oktoberfest
({0})
und habe das auch in dem nun längst beendeten kleinen
Zwist mit der Kollegin Bär von Anfang an klargemacht.
Ich habe gesagt: Es gibt einen gewissen Unterschied
zwischen dem Oktoberfest und dem Deutschen Bundestag.
({1})
Sehr verehrte Frau Kollegin Kotting-Uhl, ich bitte
wirklich um Verständnis. Ich wollte Ihnen jetzt auch
nicht zu nahe treten. Es ist nur so:
({0})
Sie haben das Dirndl als rückständig bezeichnet. Das ist
kritikwürdig. Ich wollte insoweit nur die Debatte etwas
auflockern, die aus meiner Sicht sehr ernst ist.
Ich möchte in Bezug auf das Oktoberfest noch eines
in aller Ernsthaftigkeit und Seriosität sagen: Wenn man
das Münchner Oktoberfest besucht - gerade auch die
Frau Präsidentin hat immer sehr ansehnliche und fesche
Dirndl an - ({1})
Ja, das stimmt.
({0})
Wenn man das Oktoberfest besucht, sieht man auch,
was gelebte Integration ist. Denn gerade auf dem
Münchner Oktoberfest sind Besucher von nah und fern
herzlich willkommen.
({0})
Gerade das Oktoberfest ist ein Indiz dafür, wie weltoffen
und tolerant der Freistaat Bayern ist.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nun
zu den Fakten. Wir haben in Deutschland derzeit die
zweithöchste Zuwanderung auf dem gesamten Globus.
Nach den USA verzeichnen wir in Deutschland die
höchste Zuwanderung aller Länder.
({2})
Sie mögen ja sagen: Wir glauben der CDU/CSU
nicht, wenn sie unser Zuwanderungsrecht lobt. - Dann
glauben Sie doch zumindest der OECD. Die OECD hat
in ihrem Deutschland-Bericht 2013 das deutsche Zuwanderungsrecht ausdrücklich gelobt. Die OECD hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass unser Zuwanderungsrecht sehr geringe Hürden für die Zuwanderung
von nichteuropäischen Fachkräften aufweist.
Es ist unstreitig, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, dass wir auch in den nächsten Jahren und
wohl sogar in den nächsten Jahrzehnten verstärkt Fachkräftezuwanderung benötigen. Aber ich sage dazu auch
ganz offen: Aus meiner Sicht sind wir mit den geltenden
Regelungen, die wir heute haben, durchaus in der Lage,
den erhöhten Bedarfen der Wirtschaft entsprechend
Rechnung zu tragen. Ich möchte auch darauf hinweisen:
Wir haben in den letzten Jahren unser Zuwanderungsrecht immer wieder geändert und aus meiner Sicht sukzessive verbessert.
Häufig wird in diesem Zusammenhang Kanada genannt. Es gibt ganz entscheidende Unterschiede zwischen Deutschland und Kanada. In Kanada gibt es keine
EU-Freizügigkeit. Drei Viertel der Zuwanderer, die nach
Deutschland kommen, kommen aus den anderen 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union.
({3})
Wir haben seit dem 1. August 2012 ein Bluecard-Gesetz,
das wirklich als Erfolgsschlager zu bezeichnen ist.
({4})
90 Prozent aller Zuwanderer, die auf Grundlage der
Bluecard-Richtlinie in die Europäische Union kommen,
kommen nach Deutschland. Wir haben die Mindestverdienstgrenzen deutlich reduziert.
({5})
Heute ist es so: Wenn man Angehöriger eines Mangelberufes ist, dann muss man nur ungefähr 37 000 Euro
brutto verdienen, um ohne jegliche Vorrangprüfung nach
Deutschland kommen zu können. Ich möchte betonen:
Es sind insgesamt 70 Berufe in die sogenannte Positivliste aufgenommen worden. Für Akademiker gilt die
Mindestverdienstgrenze von 37 000 Euro generell, und
für 70 Berufe aus dem Gesundheits- und Pflegebereich,
aus dem Mechatronikbereich und aus dem Bereich des
Elektroingenieurwesens gilt ebenfalls die Mindestverdienstgrenze von 37 000 Euro. Ich möchte betonen: Ich
bin wirklich sehr wirtschaftsaffin und sehr wirtschaftsfreundlich; aber die Wirtschaft darf es sich nicht zu
leicht machen: Hochqualifizierte Fachkräfte müssen
auch entsprechend bezahlt werden.
({6})
Die Mindestverdienstgrenze von 37 000 Euro darf keine
Barriere darstellen.
Es kann nicht sein - um auch das in aller Deutlichkeit
zu sagen -, dass wir es der Wirtschaft leicht machen, indem wir die Verdienstgrenzen immer weiter senken. Damit erhöhen wir den Anreiz, nach Deutschland zu kommen. Die Wirtschaft kann sich dann die besten Kräfte
heraussuchen, und der Rest liegt der Solidargemeinschaft auf der Tasche und belastet die Sozialkassen.
({7})
Stephan Mayer ({8})
Wir haben darüber hinaus viele Vorschriften geschaffen, die der Zuwanderung von Selbstständigen, Unternehmensgründern und Forschern sehr entgegenkommen.
Bei Forschern und Wissenschaftlern gelten beispielsweise überhaupt keine Mindestverdienstgrenzen.
Wir haben aus meiner Sicht auch außerordentlich attraktive Regelungen für Studenten geschaffen. Im Jahr
2013 sind 86 000 Menschen aus dem nichteuropäischen
Ausland allein aufgrund der Bildungsangebote nach
Deutschland gekommen. Man kann nicht partout behaupten, dass dies keine attraktiven Regelungen seien.
Wenn jemand in Deutschland sein Hochschulstudium
absolviert hat, dann hat er 18 Monate Zeit, einen Arbeitsplatz zu finden. Ich sage ganz offen: Wem es in
18 Monaten nicht gelingt, einen Arbeitsplatz zu finden,
der findet auch in zwei oder drei Jahren keinen Arbeitsplatz.
({9})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung einer SPD-Kollegin?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Ich habe mich vor allem deshalb zu Wort gemeldet, weil
Sie den Hochschulbereich angesprochen haben. Sie haben gesagt, dass 18 Monate ausreichen, um einen Arbeitsplatz zu finden. Dabei wissen Sie sehr wohl, dass
Studien belegen, dass sich Menschen, die einen ausländisch klingenden Namen haben, fünfmal häufiger bewerben müssen als Menschen, die einen deutschen Namen haben. Wie wollen Sie das angesichts der Rhetorik,
die Sie hier vorbringen, ändern? Warum ist es nicht
möglich, die Wirtschaft durch anonymisierte Bewerbungen dazu zu bewegen, diese Diskriminierung sein zu lassen?
({0})
Meine sehr verehrte Kollegin, um es klar zu sagen:
Ich bin kein Anhänger von anonymisierten Bewerbungen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Arbeitgeber ein Anrecht darauf hat, zu erfahren, mit wem er es zu
tun hat, wer sich konkret bewirbt.
({0})
Ich gestehe aber durchaus zu, dass wir im Bereich der
Bewerbungen noch das eine oder andere verbessern können.
Nur, werte Kollegen, wie sieht denn die Realität in
Deutschland aus? Wir haben in vielen Landesteilen mittlerweile Vollbeschäftigung, und zwar nicht nur in Baden-Württemberg und auch nicht nur in Bayern. Wenn
ich nach Eisenach blicke, wenn ich nach Oldenburg blicke, aber auch, wenn ich in viele Teile Süddeutschlands
blicke, dann stelle ich fest, dass nicht der Arbeitnehmer
bzw. der Bewerber in der strukturell benachteiligten
Position ist. Vielmehr suchen die Arbeitgeber händeringend nach geeigneten Bewerbern.
Ich bitte Sie darum, nicht den Eindruck zu vermitteln,
dass in Deutschland momentan Notstand herrscht. Es
stimmt: Wir haben immer noch 3 Millionen Arbeitslose;
das gilt es zu betonen, gerade in Bezug auf das wichtige
Thema Einwanderungsrecht. Wir müssen doch vor allem
mehr dafür tun, dass die 3 Millionen Arbeitslose, die es
in Deutschland immer noch gibt - das ist immer noch zu
viel -, nachqualifiziert bzw. weitergebildet werden, damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
Ich möchte Sie wirklich bitten, hier nicht den Eindruck
zu vermitteln, dass es derzeit überaus schwierig sei und
dass die Barrieren zu hoch seien, um in Deutschland einen Arbeitsplatz zu bekommen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben aus meiner Sicht ein sehr differenziertes, vielleicht auch ein sehr kompliziertes Zuwanderungsrecht.
Ich bin auch der Meinung, man könnte, was die Übersichtlichkeit anbelangt, das eine oder andere durchaus
verbessern. Aber es muss - und das ist die Conclusio aus
dieser Debatte - bei dem Grundsatz bleiben, dass die Zuwanderung von nichteuropäischen Fachkräften nach
Deutschland klar an den Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzes gebunden ist.
Da Kanada in diesem Zusammenhang so häufig zitiert wird: Die Kanadier sind kein gutes Beispiel; denn
sie haben gerade eben eine Rolle rückwärts vollzogen.
Die Kanadier haben ab dem 1. Januar dieses Jahres ihr
Punktesystem dahin gehend geändert,
({1})
dass nur 25 000 Zuwanderern ohne konkreten Arbeitsplatznachweis die Zuwanderung ermöglicht wird. Die
Kanadier haben das geändert, weil interessanterweise
die Arbeitslosigkeit in Kanada derzeit höher ist als in
Deutschland und es in Kanada sehr viele arbeitslose
Akademiker gibt, die zwar aufgrund des Punktesystems
nach Kanada einreisen durften, dort aber entweder keinen Arbeitsplatz gefunden oder ihn schnell wieder verloren haben. Die Kanadier haben ihr nachfrageorientiertes
Zuwanderungsrecht jetzt also geändert und an das deutsche Zuwanderungsrecht angenähert. Insofern wäre es,
glaube ich, falsch, dem alten kanadischen Vorbild zu folgen. Das Gegenteil ist richtig.
({2})
Stephan Mayer ({3})
Konkret zum Antrag der Grünen: Ich finde es wirklich schade - ich sage das hier in aller Offenheit -, dass
Sie zwei Rechtsbereiche miteinander verbinden, die
überhaupt nichts miteinander zu tun haben: Sie verbinden das Zuwanderungsrecht mit dem Staatsangehörigkeitsrecht.
({4})
In Ihrem Antrag lese ich, dass Sie sich zum einen für die
komplette Mehrstaatigkeit aussprechen und zum anderen
unser Staatsangehörigkeitsrecht dahin gehend ändern
wollen, dass die Kinder von ausländischen Eltern, von
denen sich nur ein Elternteil rechtmäßig in Deutschland
aufhält, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit
bekommen.
({5})
Dazu sage ich Ihnen hier klipp und klar: Das ist mit uns,
das ist mit der CDU/CSU nicht zu machen.
({6})
Wir sollten uns wirklich davor hüten, den Bereich des
Staatsangehörigkeitsrechts mit dem wichtigen Bereich
des Zuwanderungsrechts zu vermengen. Beides hat zunächst überhaupt nichts miteinander zu tun.
Wir haben ein gutes Zuwanderungsrecht; aber wir reden vielleicht noch zu wenig darüber. Das möchte ich
zum Abschluss in aller Deutlichkeit sagen.
({7})
Diesbezüglich sind viele gefordert. Ich nehme die Politik
dabei gar nicht aus, ich sehe aber vor allem die Wirtschaft, die Außenhandelskammern, die Botschaften und
die Generalkonsulate in der Verantwortung, noch mehr
für unser heutiges Zuwanderungsrecht zu werben und zu
betonen, wie gut unser Zuwanderungsrecht ist. Es gibt
durchaus positive Beispiele, zum Beispiel das Projekt
der GIZ zur Anwerbung von Fachkräften aus Ostasien
oder die Make-it-in-Germany-Website und die entsprechende Kampagne; aber diesbezüglich kann man mit Sicherheit noch mehr Aufklärungsarbeit leisten. In den
nächsten Wochen und Monaten sollte der Fokus darauf
gerichtet werden.
Wie gesagt, meiner Ansicht nach ist es gut, dass wir
diese Debatte führen, weil sie eine hervorragende Gelegenheit bietet, darzustellen, dass wir ein exzellentes,
sehr fortschrittliches und modernes Zuwanderungsrecht
haben. Darauf können wir alle stolz sein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. - Nächste Rednerin in der Debatte: Sabine Zimmermann für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zuwanderung ist für unsere Gesellschaft eine
große Bereicherung. Wer aber auf Abschottung setzt
oder versucht, Menschen, die zu uns kommen, nach
Nützlichkeit auszuwählen, muss sich fragen lassen, ob er
wirklich im Hier und Jetzt lebt und ob er die deutsche
Geschichte überhaupt verstanden hat.
({0})
In Deutschland leben inzwischen etwa 16 Millionen
Menschen mit einem Migrationshintergrund. Fast jede
dritte Familie hat ausländische Wurzeln. Aber leider hat
diese Regierung das immer noch nicht verstanden. Sie
tut viel zu wenig für eine offene Willkommenskultur,
und sie tut viel zu wenig, um die Menschen, die zu uns
kommen, mit ordentlichen Angeboten zu versorgen.
({1})
Insbesondere seitens der CSU ist immer wieder von Sozialtourismus die Rede. Besonders Starrköpfige unter Ihnen meinen - und das im 21. Jahrhundert -, dass andere
Kulturen mit unserer Gesellschaft nicht zu vereinbaren
seien.
({2})
Meine Damen und Herren, das ist Wasser auf die Mühlen von Pegida und AfD. Das können Sie doch nicht
wirklich wollen.
({3})
Die Linke sagt klar: Wir sind für eine offene Einwanderungsgesellschaft, in der die Zugewanderten die gleichen Rechte und Möglichkeiten bekommen sollen wie
alle anderen Menschen, die in Deutschland leben.
({4})
Aber statt endlich Klarheit zu schaffen, streitet sich
die Bundesregierung munter weiter - und das auf dem
Rücken der Menschen, die zu uns, die in unser Land
kommen.
Herr Oppermann von der SPD zum Beispiel - er sitzt
ganz hinten und unterhält sich gerade - sagt, wir brauchen Zuwanderung, um Fachkräfteengpässe zu stopfen.
Herr Stegner, Ihr Genosse, auch von der SPD und dort
auf dem linken Flügel zu Hause, mahnt zur Zurückhaltung und erhält Unterstützung aus der Union. Sie meinen, wir müssen mehr auf die Potenziale im Inland
setzen. Die Wahrheit ist doch aber, dass diese Bundesregierung weder für Langzeiterwerbslose noch für Migrantinnen und Migranten Geld in die Hand nimmt, um zum
Beispiel eine ordentliche Qualifizierung zu bezahlen.
({5})
Sabine Zimmermann ({6})
- Nein. - Ihr arbeitsmarktpolitischer Kahlschlag in den
letzten Jahren verbaut vielen Erwerbslosen die Chancen,
egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund.
({7})
Wieder einmal werden Menschen, die zu uns kommen,
und Menschen, die bereits bei uns leben, gegeneinander
ausgespielt. Das macht die Linke nicht mit.
({8})
Schauen wir uns die Situation einmal genauer an: Im
Jahr 2013 kamen 1,2 Millionen Menschen neu nach
Deutschland, andere zogen weg. Es blieb also ein Zuwachs von 430 000 Menschen. Ohne diese Menschen
wäre unsere Bevölkerung insgesamt geschrumpft.
Drei Viertel der Zugewanderten kommen aus der Europäischen Union. Für sie gilt die EU-Freizügigkeit. Sie
dürfen ohne Einschränkungen zur Arbeitsaufnahme nach
Deutschland kommen. Sie sind von diesem Zuwanderungsgesetz überhaupt nicht betroffen. An dieser Stelle
würde ich mir klare Worte der Regierung wünschen.
Denn diese Menschen brauchen die gleichen Rechte,
und zwar ohne Wenn und Aber.
({9})
Es kann doch nicht sein, dass spanische oder polnische
Pflegerinnen und Pfleger als billige Arbeitskräfte missbraucht werden.
({10})
Wenn wir über ein neues Zuwanderungsgesetz reden,
dann reden wir über Menschen, die aus Staaten außerhalb der Europäischen Union kommen. Derzeit trifft dies
auf etwa jeden vierten Zugewanderten zu. Für diese wollen nun die Grünen und offenbar auch Teile der SPD ein
Punktesystem einrichten, mit dem nach wirtschaftlicher
Nützlichkeit ausgewählt werden soll. Ich betone noch
einmal: nach wirtschaftlicher Nützlichkeit der Menschen. Das, meine Damen und Herren, findet die Linke
unerträglich.
({11})
Schon heute haben wir ein Zuwanderungsgesetz, das
den Zuzug von Menschen nach arbeitsmarktrelevanten
und wirtschaftlichen Gesichtspunkten steuert und auch
begrenzt. Was steckt eigentlich hinter dem sogenannten
Fachkräftemangel? Klagen über mangelnde Fachkräfte
hört man doch nur aus Bereichen, in denen die Arbeitsbelastung hoch ist und die Verdienste gering sind.
({12})
Die Lösung kann doch nicht sein, dass wir billige und
flexible Arbeitskräfte aus dem Ausland als Arbeitnehmer zweiter Klasse in diesem Land beschäftigen. Das
machen wir nicht mit.
({13})
Die Arbeitsbedingungen müssen für alle, die in diesen
Bereichen arbeiten, verbessert werden.
Auch Hochqualifizierte, die bereits heute eine sogenannte Bluecard haben, werden oft schlechter bezahlt.
Uns fehlt kein Einwanderungsgesetz, das die Menschen
nach Nützlichkeit sortiert und die Zugewanderten als billige Arbeitskräfte missbraucht. Uns fehlt eine offene
Einwanderungskultur in Deutschland.
({14})
Wir brauchen außerdem eine bessere Anerkennung
von ausländischen Berufsabschlüssen. Noch immer sind
die Kosten des Anerkennungsverfahrens für viele eine
unüberwindbare Hürde. Dieser Zustand gehört endlich
abgeschafft.
({15})
Jeder vierte Beschäftigte mit Migrationshintergrund
wird unterhalb seiner Qualifikation beschäftigt und bekommt dementsprechend einen niedrigen Lohn. Das ist
inakzeptabel.
({16})
Gut die Hälfte der in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten berichtet von einer - die Kollegin
De Ridder hat es vorhin, als es um den Hochschulbereich ging, angesprochen - Diskriminierung bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche. Das geht gar nicht.
Den Arbeitgebern sage ich ganz deutlich: Nutzen Sie
endlich das vorhandene Potenzial hier in Deutschland!
Wir haben hier genug Fachleute. Sie müssen nur ordentlich ausgebildet und qualifiziert werden.
({17})
Wir brauchen endlich auch eine Lösung für Flüchtlinge,
die oftmals hochqualifiziert sind oder einen Beruf erlernen wollen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir als Linke sagen klar Ja zu einer offenen Einwanderungsgesellschaft. Dazu gehören leichter anzuwendende
Einbürgerungsregelungen. Das schließt zuallererst das
Grundrecht auf ein Familienleben ein. Ein Nachzug von
Ehegatten und Kindern muss möglich sein. Denn es
kommen Menschen zu uns und keine Arbeitssklaven.
Ändern Sie endlich Ihre Einstellung!
({18})
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. - Nächste Rednerin in der Debatte: Staatsministerin Aydan Özoğuz.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Mayer, ich glaube, ich habe Ihnen von dieser
Stelle aus noch nie zugestimmt. Ich tue es heute, aber
leider stimme ich ausschließlich Ihrem ersten und Ihrem
letzten Satz zu. Das dazwischen Gesagte war, glaube ich,
diskussionswürdig.
({0})
Der erste und der letzte Satz besagten: Wir müssen diese
Debatte intensiv und ausführlich führen. Das finde ich
richtig. Denn ich glaube, es gibt bei kaum einem anderen
Themenfeld so viele Widersprüche. Jetzt besteht die
Chance, wirklich einmal aufzuklären und auch überflüssige oder sich widersprechende Regelungen auszuräumen.
Wir wissen ganz genau, dass damals bei der Debatte
über das Zuwanderungsgesetz - Frau Pau hat daran erinnert - tatsächlich im Vordergrund stand, die Einwanderung zu begrenzen; das steht ja so auch im vollen Titel
des Gesetzes. Heute wissen wir alle, dass wir den Fokus
viel stärker auf das Gestalten legen müssen und den
Blick auf die hiesige Gesellschaft und die Bedürfnisse
nie verlieren dürfen. Das heißt: Ja, wir brauchen Einwanderung. Wir haben in den nächsten Jahren nicht genug Fachkräfte. Wir werden Einwanderung brauchen.
({1})
Aber gleichzeitig brauchen wir eben auch stärkere
Bemühungen um die jungen und übrigens auch die älteren Menschen in unserem Land, die ihren Platz auf dem
Arbeitsmarkt entweder finden oder noch behaupten wollen. Das muss immer zusammengedacht werden.
({2})
Klar gesagt: Jeder Jugendliche muss eine Ausbildung
machen können. Jeder braucht einen Berufsabschluss.
Wir brauchen auch eine Kultur der zweiten und dritten
Chance - das haben wir immer wieder betont -, wenn es
nicht gleich mit der Berufsausbildung klappt.
({3})
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und
eben auch des Fachkräftemangels müssen wir alle für
den Arbeitsmarkt fit machen. Wir müssen faire Chancen
schaffen.
Ich glaube, dass der Hinweis von Frau GöringEckardt hier noch einmal erwähnt werden sollte - ich
laufe damit schon seit Monaten durch die Lande -: Es ist
leider mehrfach nachgewiesen worden, dass ein ausländischer Name zu einer deutlichen Benachteiligung bei
Bewerbungen führt.
({4})
Ich finde, man kann unmöglich sagen: Wir haben Vollbeschäftigung, und damit ist jede Ungleichbehandlung
gerechtfertigt. - Das geht nun wirklich gar nicht.
({5})
- Man muss schon einmal das Richtige sagen.
Gleichzeitig ist es richtig, zu sagen, dass bis 2025 das
Erwerbspersonenpotenzial - das ist auch so ein Wort - in
unserem Land um viele Millionen zurückgehen wird;
wir gehen von über 6 Millionen aus. Wir brauchen daher
mehr gut ausgebildete, qualifizierte Einwanderer und
müssen dringend dafür werben. Wir haben im internationalen Vergleich zumindest auf dem Papier wirklich liberale Einwanderungsregelungen - das wird uns immer
wieder bescheinigt -, zum Beispiel für Fachkräfte. Aber
dies ist vielen vollkommen unbekannt. Nicht nur im
Ausland, sondern auch bei uns in Deutschland versteht
doch kaum jemand all diese Regelungen, die hier schon
vorgetragen wurden. Wem nützen eigentlich so viele unterschiedliche Regelungen, wenn man einen Rechtsanwalt braucht, um auch nur einen Teil davon zu verstehen?
({6})
Was mich bei dieser Debatte eben umgetrieben hat
- das will ich hier deutlich sagen -, ist etwas, das mich
auch Studierende an einer Universität vor einiger Zeit etwas unbedarft gefragt haben, nämlich: Können wir nicht
einfach bei den Flüchtlingen schauen, wer gut ausgebildet ist und wer nicht, und dann behalten wir die einen
hier und schicken die anderen wieder zurück? Das ist
eine völlige Vermengung von vollkommen unterschiedlichen Themen. Das führt mir unser Dilemma hier sehr
stark vor Augen: Wenn wir Flüchtlingspolitik mit der
Arbeitsmarktsituation in Deutschland rechtfertigen, dann
laufen wir in eine Falle, aus der wir irgendwann nicht
mehr herauskommen.
({7})
Flüchtlinge nehmen wir auf, weil sie politisch verfolgt werden, weil sie vor Krieg oder Terror fliehen, und
eben nicht, weil sie in irgendeiner Form ausgebildet
sind. Dennoch ist es natürlich wichtig - dies zeigt uns
die Erfahrung -, dass wir sehr gut daran tun, jedem und
jeder schnell eine Perspektive in der Mitte unserer Gesellschaft, in der Mitte unseres Arbeitsmarktes zu geben,
jedem die Chance zu geben, schnell Deutsch zu lernen
und arbeiten zu gehen. Genau das sind Regelungen, die
wir hier im letzten Jahr alle gemeinsam miteinander beschlossen haben. An dieser Stelle müssen wir weitermachen.
({8})
Ich finde, dass wir im Koalitionsvertrag richtige
Dinge aufgeschrieben haben. Wir haben an diesem
Thema gearbeitet. Was würde also dagegen sprechen,
jetzt einen ordentlichen Gesetzentwurf zu erarbeiten, in
dem das alles vernünftig aufgelistet wird, und zwar so,
dass man es verstehen kann?
({9})
Ich glaube schon, dass wir gerade im Einwanderungsbereich viel getan haben. Denken Sie zum Beispiel an das
Freizügigkeitsgesetz. Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten
Asylbewerber und Geduldete nach drei Monaten Aufenthalt, und die Vorrangprüfung entfällt spätestens nach
15 Monaten. Die Residenzpflicht wurde abgeschafft. Im
Bundesausbildungsförderungsgesetz wurde die Wartefrist für junge Geduldete auf 15 Monate verkürzt. Das alles sind Dinge, die wir tun, weil wir wissen, dass sie
wichtig sind.
({10})
Wir wissen, dass es in der Vergangenheit ein Fehler war,
die Menschen auszugrenzen und ihnen zu sagen: Wartet
vier Jahre; dann könnt ihr eine Ausbildung machen. - Dann
sitzen die jungen Leute nämlich vier Jahre auf der Straße,
anstatt sofort mit einer Ausbildung zu beginnen. Da haben
wir also schon die richtigen Dinge angepackt.
({11})
Wir müssen auch Lücken füllen; ich will hier gar
nicht alle Punkte aufzählen. Ich finde, dass manches,
was in Ihrem Antrag steht, richtig ist. Über vieles muss
man sicher noch diskutieren. Aber wenn der Lebensweg
von Einwanderern in Deutschland anders verläuft, als
ursprünglich geplant, dann darf unser Recht nicht vollkommen unflexibel sein. Das sogenannte Zweckwechselverbot ist wirklichkeitsfremd. Ich stimme dem Antrag
der Grünen an dieser Stelle ausdrücklich zu.
({12})
Man muss zum Beispiel von einer betrieblichen Ausbildung an eine Hochschule wechseln dürfen, ohne dass gesagt wird: Reise bitte vorher aus, und stell einen neuen
Visumantrag; dann kannst du zurückkommen. - Das ist
doch wirklichkeitsfern. Ich glaube, das leuchtet in Wahrheit auch jedem ein.
({13})
Ich stimme Ihrem Antrag auch insoweit zu, als es darum geht, eine klare Perspektive in Richtung Einbürgerung zu vermitteln. Aber wenn ich einen kleinen Kritikpunkt nennen darf - vielleicht wird Herr Beck dazu noch
etwas sagen -: Auch ich finde die Formulierung, die Sie
in Ihrem Antrag gewählt haben, etwas problematisch. Es
heißt darin, ein Elternteil müsse sich rechtmäßig in
Deutschland aufhalten. Das legt irgendwie nahe, als sei
das bei ganz vielen nicht der Fall. Ich nehme an, dass das
gar nicht so gemeint ist, und hoffe, dass Herr Beck
gleich noch etwas dazu sagt.
({14})
Ein wichtiger Punkt - das möchte ich hier deutlich sagen - ist der Sprachnachweis beim Ehegattennachzug.
({15})
Das ist für uns alle ein hochemotionales Thema. Ich
weiß, dass es vielen, die diese Forderung immer wieder
erheben, darum geht, dass das gut für die Frauen sei.
Meistens hat man dabei ja im Blick: Wenn auch die Ehegatten zu uns kommen, dann sollen sie Deutsch können.
Der Gedanke, dass sie Deutsch können sollen, ist natürlich richtig. Aber macht es wirklich Sinn, zu sagen: „Du
musst erst einen Deutschkurs gemacht haben“ - da ist ja
ohnehin ein sehr niedriges Niveau gefordert -, „und
dann musst du fast ein Jahr auf das Visumverfahren warten, bis du überhaupt nach Deutschland kommen darfst,
um hier wieder bei null anzufangen“? Wäre es nicht
sinnvoller, zu sagen: „Kommt zu uns und fangt hier sofort mit eurem Sprachkurs an“? Darüber sollten wir noch
miteinander reden.
({16})
Mein letzter Punkt. Der Mittelstand ist ja das Herz unserer Wirtschaft, wenn ich das einmal so sagen darf.
Wenn uns Menschen aus dem Mittelstand, etwa Handwerker, sagen, sie würden gerne junge Leute, die Flüchtlinge sind, ausbilden - da ich Hamburgerin bin, weiß
ich, dass das in Hamburg häufiger der Fall ist -, wir ihnen aber keine Garantie geben, dass diese jungen Menschen wirklich die gesamte Ausbildungsdauer im Betrieb bleiben, dann kann kein Mittelständler dieses
Risiko eingehen. Das heißt, die Betriebe brauchen die
Garantie, dass diese Auszubildenden ihre Ausbildung zu
Ende führen und dann möglicherweise im Betrieb beschäftigt werden können.
Vielen Dank.
({17})
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Nächster Redner in der Debatte: Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute eine seltsame Allianz von Linksfraktion und
CSU erlebt, die sich wie in einem Wettbewerb in der
Disziplin der Realitätsverweigerung überbieten.
Deutschland hat einen Zuwanderungsbedarf
({0})
von ungefähr 300 000 Menschen im Jahr. In den letzten
Jahren haben wir einiges davon durch die Entwicklung
im Süden der Europäischen Union innereuropäisch kompensieren können.
({1})
Das wird nicht so bleiben. Wenn sich die Wirtschaft in
den südeuropäischen Staaten erholt - das wollen wir
Volker Beck ({2})
hoffen -, dann werden im Saldo nicht nur keine Menschen mehr von dort kommen, sondern es werden sogar
mehr Menschen dorthin zurückwandern. Darauf müssen
wir uns schon heute vorbereiten, ansonsten bezahlen wir
einen hohen Preis.
({3})
Die Alternative ist: Entweder die Arbeitskräfte kommen zu uns oder die Arbeit geht zu ihnen.
({4})
Wenn das eintritt, dann ist bei uns die Wertschöpfung
weg, dann ist bei uns die Basis unserer Sozialversicherungssysteme weg.
({5})
Doch wer zahlt dann in Zukunft unsere Rente? - Auf
diese Frage haben Sie einfach keine Antwort.
({6})
Sie haben sich gerade gegen eine Arbeitskräftezuwanderung nach Punktesystem gewehrt,
({7})
gegen eine Zuwanderung nach Qualifikation.
Herr Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
Aber gerne, wenn ich nur kurz den Satz zu Ende sprechen darf. - Das haben Sie denunziert, als würde man
die Menschen nur noch nach Nützlichkeitskriterien betrachten. Nein, wir müssen unterscheiden zwischen
Flüchtlingen, die wir aus humanitären Gründen aufnehmen - das ist unsere Pflicht -, und Arbeitskräften, die
wir brauchen.
({0})
Die können wir dann in der Tat nach unserem Bedarf
auswählen.
Nun bitte, Frau Kollegin.
Das mache ich, Herr Beck. - Bitte, Frau Kollegin
Zimmermann.
Vielen Dank. - Das, was Sie sagen, irritiert mich
schon. Ich habe doch klar und deutlich gesagt, dass wir
für Einwanderung sind.
({0})
Aber wir wollen für die Menschen, die zu uns kommen,
die gleichen Rechte, ob am Arbeitsmarkt oder anderswo.
Ich denke, es ist richtig, dass wir darauf hinweisen; denn
viele Menschen, die zu uns kommen, arbeiten bei uns als
billige Arbeitnehmer, als Arbeitnehmer zweiter Klasse
unter wirklich schlechten Bedingungen. Es gibt Beispiele genug. In Zwickau am Rande des Erzgebirges, in
der Stadt, aus der ich komme, arbeiten viele Tschechinnen und Tschechen für 2,50 Euro pro Stunde. Es kann
doch nicht sein, dass wir in diesem Haus so etwas wollen.
({1})
Es ist nicht so, dass wir Einwanderung nicht wollen. Wir
wollen vielmehr gleiche Bedingungen für alle.
({2})
Lassen Sie mich mit einer landsmannschaftlichen Gemeinsamkeit beginnen. Meine Großeltern kommen aus
Zwickau, genauer gesagt vom Huckel auf der anderen
Seite der Mulde; das wird Ihnen etwas sagen. Ich habe
dort einen Teil meiner Jugend verbracht. Das ist vielleicht eine Basis für das weitere Gespräch zu Ihrer
Frage.
({0})
Wir sind uns auch einig darin - das hat ja Herr Mayer
kritisiert; Sie wollen in diese Richtung gehen, das finde
ich richtig, das erkenne ich auch an -: Um attraktiv für
Zuwanderer zu sein, müssen wir ihnen sagen: Wenn ihr
hierher kommt, dann könnt ihr mit uns auf einer Augenhöhe zusammenarbeiten. Das heißt für mich, Herr
Mayer: Wenn in Deutschland ein Kind von legal hier lebenden Ausländern geboren wird, dann muss es von Anfang an Deutscher sein,
({1})
dann dürfen wir es nicht im Kreißsaal ausbürgern. Willkommenskultur muss schon im Kreißsaal beginnen.
({2})
Wir müssen aber auch Menschen, die eine gewisse
Zeit hier gelebt haben, sich integriert haben, sagen: Ihr
könnt unsere Staatsbürgerschaft bekommen, dürft
gleichzeitig aber auch eure alte Staatsbürgerschaft behalten und könnt dorthin auch wieder zurückgehen.
Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir in unserem Antrag ausdrücklich niedergelegt haben, sind die Aufenthaltstitel bei der sogenannten zirkulären Migration. Konservative Zuwanderungspolitiker denken, Deutschland
ist so attraktiv, dass alle zu uns wollen und auch alle
bleiben werden, weil es nichts Schöneres auf der Welt
Volker Beck ({3})
als Deutschland gibt. Dem ist nicht so. Das ist auch gar
nicht schlimm. Moderne Arbeitskräfte - ({4})
- Bitte bleiben Sie stehen!
Ich bin bei der Aufzählung der Gemeinsamkeiten.
Moment. Ich glaube, Sie haben die Frage der Kollegin umfassend nicht beantwortet. Deswegen kann sie
sich hinsetzen. Machen Sie bitte weiter in Ihrer Rede.
({0})
Nun denn, ich möchte trotzdem einen Satz zur zirkulären Migration sagen; denn das ist ein entscheidender
Punkt. Moderne Arbeitskräfte, High Potentials wandern
nach Deutschland ein, wandern weiter in die Vereinigten
Staaten, gehen zurück in ihre Herkunftsländer. Nach unserem Aufenthaltsrecht verlieren sie so den Zugang zum
deutschen Arbeitsmarkt und ihren Aufenthaltstitel. Wir
sagen: Nein, wenn diese Menschen hier etwas geleistet
haben, dann dürfen sie jederzeit zurückkommen. Wir
wollen gerade für solche hochqualifizierten Menschen
attraktiv sein und bleiben.
({0})
Wir müssen auch darüber reden, wie wir die Potenziale, die wir hier in unserem Land haben, besser nutzen;
Stichwort „Statuswechsel“. Warum soll ein Auszubildender, ein Studierender, ein Asylbewerber im Asylverfahren oder nach der Ablehnung als Geduldeter, wenn er
hier auf dem Arbeitsmarkt gebraucht wird, wenn er sich
hier selbstständig machen will, das nicht dürfen? Warum
muss unser Aufenthaltsrecht das gegenwärtig unterbinden? Das ist ein großer Fehler. Hier können wir Potenziale heben, die schon da sind, und den Menschen zu
gleichen Rechten und gleichen Chancen verhelfen.
({1})
Das sind wichtige Punkte. Diese muss man neben dem
Punktesystem im Blick haben. Das Punktesystem ist nur
eine von fünf Forderungen in unserem Antrag, und das
zu Recht.
({2})
Außerdem ist es richtig. Sie stellen das einfach falsch
dar, Herr Mayer. Das Punktesystem ist ein lernendes
System. Es ermöglicht, die Punktevergabe für bestimmte
Kriterien Jahr für Jahr neu festzulegen. Es ermöglicht
Bundestag und Bundesrat, die Aufnahmezahl für den
Bereich der Arbeitsmigration Jahr für Jahr entsprechend
der Entwicklung der Migrantenzahlen festzulegen.
({3})
Wenn es eine hohe Zahl von Flüchtlingen gibt oder wenn
es viele Zuwanderer aus der Europäischen Union gibt,
braucht man vielleicht keine so hohe Aufnahmezahl. In
einem Land, aus dem viele Menschen wieder wegwandern, braucht man eine hohe Zahl. Lassen Sie uns ein
solch flexibles System einführen, das nicht nur nachfrageorientiert ist, wie unser jetziges Zuwanderungssystem,
sondern das auch angebotsorientiert ist, wie das Punktesystem.
({4})
Dazu hat ja der Generalsekretär der Union - er durfte
ja offensichtlich noch nicht einmal hier in den Raum; offensichtlich hat man ihn weggesperrt - das Richtige in
der Süddeutschen Zeitung gesagt:
Bisher regeln wir nur die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Wer eine Stelle nachweist, hat eine
Chance - andere nicht.
Andere Länder fragen:
Wer ist ein Gewinn für unser Land?
Diese Frage wollen wir mit Ihnen gemeinsam stellen
und uns daranmachen, unser Aufenthaltsgesetz zu modernisieren, damit Deutschland auch in 10, 20 oder 30
Jahren ein starker Wirtschaftsstandort ist und wir die
Grundlagen unseres Sozialstaates weiter finanzieren
können. Wer sich dem verweigert, versündigt sich an der
Zukunft unseres Landes.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Beck. - Nächster Redner
in der Debatte: Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Beck, ich gebe ungern Ratschläge, aber
ich muss Ihnen einmal sagen: Man könnte Ihnen zumindest angenehmer zuhören, wenn Sie nicht so laut
schreien würden. - Zu Beginn meiner Rede ({0})
Sie schreien ja schon wieder, Herr Beck - möchte ich
mich aber an Ihre Kollegin, Frau Göring-Eckardt, wenden. Wir können und sollten über dieses wichtige Thema
der Einwanderung sachlich und ruhig debattieren. Das
war auch überwiegend der Fall. Aber wenn Sie sagen:
„Deutschland ist ein Einwanderungsland ohne Wenn und
Aber“, dann ist das eine gefährliche Aussage, die möglicherweise Wasser auf die Mühlen derer ist, die wir gerade in Zeiten von Pegida nicht bedienen wollen.
({1})
Wir haben im Grunde genommen ein modernes Einwanderungsrecht. Wir haben allerdings zugegebenermaßen ein kompliziertes Rechtssystem, das für Unkundige
oft nur schwer durchschaubar ist. Aber wir haben in den
letzten Jahren immer wieder auf veränderte Bedürfnisse
- diese sind ja hier vielfach angesprochen worden - und
auch auf EU-rechtliche Vorgaben reagiert. Es liegt an der
Komplexität unseres Systems, dass zwischen der Zuwanderung aus Ländern der Europäischen Union, der
Einwanderung aus Drittstaaten, dem Familiennachzug
und dem Asylrecht unterschieden werden muss. Jede
dieser Zuwanderungsarten ist nach unserer Gesetzessystematik eigenständig zu betrachten. Das ist im Grunde
genommen auch gut so.
Für die Zuwanderung aus den Ländern der Europäischen Union gilt das Freizügigkeitsgesetz. Hier haben
wir allenfalls das Problem der sogenannten Armutsmigration, das wir schon vor Monaten diskutiert haben. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof Ende 2014 ja
entschieden, dass dies kein Grund ist, ein Land aufzusuchen und dort sesshaft werden zu wollen. Vielmehr kann
ein Land von der Möglichkeit Gebrauch machen, jemanden, der ohne Arbeit ist und der nur in das Sozialsystem
einwandert, des Landes zu verweisen. Freizügigkeit innerhalb der EU bedeutet eben nicht, dass man sich das
Sozialsystem aussuchen kann, das einem lieb ist.
Wir haben, was die Bedingungen für die Zuwanderer
aus Drittstaaten angeht, in den letzten Jahren sehr viele
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich möchte sie
- auch zur Versachlichung der Debatte - hier einmal aufzeigen:
Die Einführung der Bluecard - dabei geht es um die
Zuwanderung Hochqualifizierter aus Drittstaaten in die
EU - ist eine solche Maßnahme. Es ist eben schon gesagt worden: 90 Prozent aller Bewilligungen betreffen
Menschen, die aus den 27 Staaten der EU nach Deutschland gekommen sind. Das zeigt doch, wie attraktiv unser
Standort ist. Es zeigt aber auch, dass diese Regelung den
modernen Anforderungen genügt.
Die Forderung - sie wird hier innerhalb der Parteien,
also auch in der SPD, immer wieder unterschwellig und
durchaus kontrovers diskutiert -, die Einkommensschraube nach unten zu drehen, ist nach meiner Auffassung völlig falsch. Das würde - auch dies ist hier schon
kritisiert worden - zu Dumpinglöhnen und damit Zuwanderung führen, unter der der deutsche Arbeitsmarkt
leiden würde. Das kann nicht in unserem Sinne sein.
Wir haben die Möglichkeit geschaffen, zum Zwecke
der Ausbildung nach Deutschland zu kommen. Dies gilt
für 70 Ausbildungsberufe. Zudem haben wir die Regelung eingeführt, nach der man ein Visum beantragen
kann, um hier einen Arbeitsplatz zu suchen. Schließlich
haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass ausländische
Studierende nach Abschluss ihres Examens 18 Monate
- das sind immerhin eineinhalb Jahre - in Deutschland
bleiben dürfen, um sich einen Arbeitsplatz zu suchen.
Ich meine, das ist eine hinreichend lange Zeitspanne.
({2})
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden
- auch ich möchte es noch einmal tun -, dass Deutschland bei der OECD-Studie sehr positiv abgeschnitten
hat. Wir sind das Land, das am meisten für die Freizügigkeit gelobt wird. Insofern haben wir, glaube ich, keinen akuten Nachholbedarf.
Ich will hier aber auch auf das Recht auf Asyl eingehen; denn das kommt vielleicht etwas zu kurz, und es
wird oft mit anderem vermengt. Nach unserem Grundgesetz gibt es - das ist auch unser Selbstverständnis - für
jeden, der politisch verfolgt wird, einen Anspruch darauf, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen und
auch hierbleiben zu können. Das soll und darf man nicht
mit der übrigen Zuwanderung vermengen.
({3})
Gut war es insoweit - weil auch Missbrauch mit dem
Asylrecht getrieben wird -, dass wir gemeinsam mit der
SPD und der Mehrheit des Bundesrates Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Drittstaaten eingestuft haben, sodass Menschen, die aus nicht
asylrelevanten Gründen aus diesen Staaten kommen,
schneller wieder nach Hause zurückgeschickt werden
können. Sie können hier keine Anerkennung finden. Wir
wollen denen Schutz bieten, die diesen Schutz auch tatsächlich benötigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fehlt nach meiner
Auffassung nicht an den rechtlichen Grundlagen, sondern oft an der mangelnden Umsetzung der bestehenden
Regelungen. Das gilt insbesondere in Bezug auf die
Frage der Rückführung von nicht anerkannten Asylbewerbern. Die Nichtrückführung dieser Menschen wird
von der Bevölkerung oft nicht mehr akzeptiert.
Unser Aufenthaltsrecht regelt seit 2005 mit diversen
Vorschriften im Detail, unter welchen Voraussetzungen
jemand legal nach Deutschland kommen und hier bleiben kann. Ich gebe den Kritikern recht - das ist eben
auch bei Stephan Mayer angeklungen -, dass wir, was
die eine oder andere Formulierung angeht, sicherlich
noch etwas optimieren oder vielleicht auch konzentrieren können.
Ich habe aber folgende Befürchtung: Wenn es heißt,
dass wir ein modernes Gesetz schaffen müssen, kommt
am Ende meist eine Vorschrift heraus, die noch schwerer
als das zu verstehen ist, was man bisher hatte. Das sollten wir auf jeden Fall vermeiden.
Nun komme ich zu Kanada und dem dortigen Punktesystem. Auch das ist hier schon gesagt worden: Kanada
hat mit dem früheren Punktesystem eine Fehlentwicklung auf dem Arbeitsmarkt produziert, die weder im
Sinne Kanadas noch eines anderen Landes sein kann.
Wer sich die heutigen kanadischen Regelungen anschaut,
wird feststellen, dass es - dies muss man den Linken
auch einmal ganz klar sagen - natürlich auch darauf ankommt, Zuwanderung arbeitsmarktspezifisch zu steuern.
Es kann doch nicht richtig sein, dass man, nur weil man
die Voraussetzungen des Punktesystems erfüllt, als Arzt
nach Kanada oder auch nach Deutschland kommt und
keine Anstellung findet, sondern als Taxifahrer endet.
({4})
Das war aber die Situation in Kanada bei dem Punktesystem, und das kann weder uns noch den Zuwanderern
zugemutet werden.
({5})
Es wurde zu Recht die Tatsache erwähnt, dass wir in
den nächsten Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung Bevölkerung verlieren. Immer weniger Menschen werden in Deutschland leben. Wenn wir nicht genügend Arbeitskräfte haben, dann werden darunter auch
unsere Sozialsysteme leiden; das ist gar keine Frage. Insofern brauchen wir Zuwanderung.
In den letzten Jahren hatten wir gute Zuwanderungszahlen. Allein in 2013 - die Zahlen liegen Ihnen allen
vor - hatten wir über 1 Million Zuwanderer. Natürlich
gab es auch einige Auswanderer, aber es sind immerhin
fast 500 000 Menschen mehr in Deutschland geblieben,
als abgewandert sind.
({6})
500 000: Das ist eine beachtliche Zahl, und das sind
Menschen, die nicht mit den darüber hinaus noch aufgenommenen 200 000 Asylbewerbern zu verwechseln
sind.
({7})
Deshalb muss ich darauf hinweisen: Wenn wir unser
wohlausgewogenes und anspruchsvolles System aufrechterhalten wollen, dann müssen wir das immer wieder beachten.
Ich sehe, die Präsidentin zeigt mir an, dass ich zum
Ende kommen muss.
({8})
Das wäre sehr nett.
Ich will es deshalb etwas abkürzen: Unsere Zuwanderungspolitik, unser Ausländerrecht, ist kein weißes Blatt
Papier mehr. Wir haben in den letzten Jahren schon an
sehr vielen Stellschrauben gedreht, und wir werden dies
auch in den nächsten Jahren tun müssen - aber mit Bedacht und mit Vorsicht und nicht mit bloßen Parolen, die
modern klingen, am Ende aber nichts nutzen.
Besten Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. - Nächster Redner
in der Debatte ist Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden uns in den nächsten
zehn Jahren 6 Millionen Erwerbstätige fehlen. Das bedeutet mehr Rentner, aber auch 6 Millionen weniger
Beitragszahler.
Wenn wir die Zahl unserer Erwerbstätigen auf dem
jetzigen Niveau halten wollen, dann brauchen wir nach
der IAB-Studie jährlich 400 000 qualifizierte Einwanderer.
({0})
Das heißt, wenn wir nichts ändern, dann wird uns der demografische Wandel eher früher als später einholen. Die
Folgen für unsere Wirtschaft und die Sozialsysteme werden verheerend sein.
({1})
Auf die Frage, ob jetzt der richtige Augenblick ist, um
über ein neues Einwanderungsgesetz zu sprechen, habe
ich deshalb eine klare Antwort: Ja.
({2})
Die Debatte über Neuerungen beim Einwanderungsgesetz kommt im richtigen Moment. In der bisherigen
Debatte über eine mögliche Neuregelung der Einwanderung kam wiederholt der Vorwurf, dass die Neuregelung
den Menschen auf seine Nützlichkeit und Punkte reduziert. Ich gebe zu: Im ersten Moment war ich ebenfalls
skeptisch. Mittlerweile sehe ich die Lage differenzierter.
Wir dürfen die Menschen nicht nur nach ihrer Nützlichkeit beurteilen; darin sind wir uns alle hier einig.
({3})
Wir müssen aber sehr wohl darüber sprechen, ob wir
selbst glauben, dass sich die Menschen hier bei uns zurechtfinden können. Daher finde ich es richtig, sich bei
der Debatte mit der Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften zu befassen. Dies sind wir den Einwanderern, aber auch den Menschen hier vor Ort schuldig.
Die 3 Millionen Arbeitslosen in Deutschland brauchen eine Antwort auf die Frage, warum ein Einwanderungsgesetz auch für sie gut ist. Die Antwort ist klar: Die
verstärkte Einwanderung von Hochqualifizierten ist
auch für die bereits hier lebenden Menschen von Vorteil;
({4})
denn jeder hochqualifizierte Arbeitsplatz bringt zwei
qualifizierte und einen niedrigqualifizierten Arbeitsplatz
mit sich.
({5})
Im Umkehrschluss heißt das: Ohne hochqualifizierte Arbeitsplätze sind die niedrigqualifizierten Arbeitsplätze
gefährdet. Daher lohnt sich gesteuerte Einwanderung für
uns alle.
Das möglicherweise einzuführende Punktesystem
kann ein sinnvolles Mittel sein, um sich nicht ausschließlich auf Engpassanalysen und Positivlisten zu
konzentrieren. Von einer möglichen Einführung des
Punktesystems verspreche ich mir deshalb vor allem
eine Ausweitung der Möglichkeiten der Einwanderung
qualifizierter Arbeitskräfte.
Ein weiterer wichtiger Hinweis ist in dem Antrag der
Grünen enthalten:
Über eine Verknüpfung der Variablen „Berufsqualifikation“ und „Herkunftsland“ kann das Recht der
Herkunftsländer auf Wahrung ihrer Entwicklungschancen berücksichtigt werden …
Dieser Hinweis bezieht sich auf die Gefahr eines
Braindrains in den Herkunftsländern. Diese Gefahr ist
vorhanden und sehr ernst zu nehmen. Ungesteuerter
Braindrain aus den Herkunftsländern darf nicht das Ergebnis unserer Einwanderungspolitik sein. Ein Punktesystem bietet uns eine Möglichkeit, die Migration länderspezifisch zu steuern. Diese Chance gilt es ernst zu
nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
So sinnvoll das Punktesystem sein kann, es ist jedoch
nicht das Allheilmittel, das die gesamten sonstigen Regelungen zur Einwanderung ersetzen soll oder kann.
({6})
Vor allem muss eines klar sein: Die Kernelemente der
Asyl- und Flüchtlingspolitik müssen unangetastet bleiben.
({7})
Das ist ein hohes Gut unserer Gesellschaft, auf das wir
ganz unabhängig von der Nützlichkeitsdebatte nie verzichten dürfen.
Ich finde es wichtig, dass wir beim Thema Einwanderung gleichzeitig die Integration von Einwanderern nicht
außer Acht lassen. Die Menschen sollen sich hier willkommen fühlen. Nur dann werden sie auch wirklich
kommen und vor allem bleiben. Das ist die einfache
Wahrheit.
Tatsächlich bleibt aus meiner Sicht für eine verbesserte Integration von Einwanderern eine Menge zu tun.
Die Anerkennung der Berufsabschlüsse muss unbürokratischer werden, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Nur so werden die Einwanderer ihrer Qualifikation entsprechend eingesetzt werden können und nicht
dauerhaft im Niedriglohnsektor verharren.
({8})
Die Integrationskurse müssen endlich nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ ausgebaut werden. Das beinhaltet auch eine angemessene Bezahlung
der Lehrkräfte.
({9})
Nicht zuletzt müssen wir bei den Neuerungen auch
Verbesserungen bei der Arbeitsintegration für Asylsuchende mitbedenken; denn auch ihre Potenziale dürfen
nicht ungenutzt bleiben. Mit der Ermöglichung der Arbeitsaufnahme bereits nach drei Monaten bei genehmigtem Asylantrag ist ein entscheidender Schritt hierzu bereits erfolgt.
Ein Arbeitsplatz ist der beste Ort für eine erfolgreiche
Integration.
({10})
Jedoch nur mit entsprechender Begleitung und gezielter
Vermittlung wird Asylsuchenden tatsächlich die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht. Das
dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.
Zur Integration gehört aber auch, dass sich unsere
Politik nicht nur auf die Zielperson konzentriert. Wir
müssen auch das soziale Umfeld, die Familie und die
Kinder im Blick behalten. Für sie brauchen wir gut vorbereitete Schulen und auf Einwanderung eingestellte
Ausbildungsstellen. Wir dürfen den Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen, als wir uns um die zweite
und dritte Generation nicht ausreichend gekümmert haben.
In dieser Gemengelage müssen wir uns auf das Argument einstellen, es kämen schon 500 000 Kriegsflüchtlinge, Asylsuchende und EU-Migranten pro Jahr nach
Deutschland. Aber diese Gruppe ist schwer zu steuern.
Wir wissen nicht, wie viele dieser Menschen bei uns
bleiben. Das heißt: Unabhängig von dieser Einwanderung brauchen wir in dieser Situation Einwanderer, die
nach Bedarf bzw. nach dem Punktesystem in unser Land
kommen. Sie sind eine wichtige und verlässliche
Gruppe.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe
ich einen persönlichen Wunsch, was die aktuelle Debatte
um die Reform der Einwanderung betrifft. Ich habe
keine Angst, dass die Integration unserer neuen Einwanderer nicht funktioniert, zumindest nicht was ihren Willen zur Integration betrifft. Viel wichtiger ist unsere Diskussionskultur beim Thema Einwanderung. Unsere
Worte enthalten viel zu oft nicht geahnte Verletzungen,
die zu Distanz, Isolierung und Parallelgesellschaften
führen. Sie sind übrigens der ideale Nährboden für Radikalisierung. Deshalb kann ich hier nur bitten, unsere
Vorbildrolle in der Gesellschaft ernst zu nehmen und dabei besonnen, fair und mit etwas mehr Einfühlungsver8048
mögen mit dem Thema Einwanderung umzugehen. Es
liegt an uns allen, dies zu ermöglichen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in der
Debatte ist Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Forderung nach einem neuen
Einwanderungsgesetz scheint gerade modern zu sein.
Die aktuelle Debatte über ein neues Gesetz löst aber
nicht die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir im Bereich der Integration stehen und über die
heute schon viel gesagt wurde. Die Forderung soll
suggerieren, wir hätten kein funktionierendes Einwanderungsrecht im Sinne funktionierender gesetzlicher
Regelungen. Deutschland hat aber ein funktionierendes
Einwanderungsrecht. Das Statistische Bundesamt
schätzt, dass die Bevölkerung im vierten Jahr in Folge
gewachsen ist, trotz des hohen Geburtendefizits. Die Zuwanderung überkompensiert derzeit den demografischen
Wandel.
({0})
Deutschland ist heute weltweit das beliebteste Zielland für Migranten nach den USA. Im vergangenen Jahr
sind rund 470 000 Menschen mehr eingewandert als ausgewandert. Im letzten Dezember stellte die OECD fest,
dass auch die dauerhafte Zuwanderung, also die Zuwanderung über mehr als ein Jahr, in keinem Land so stark
zunahm wie in Deutschland. Ja, wir sind ein Einwanderungsland. Die hohe Zuwanderung stellt Deutschland
auch vor einige Herausforderungen. Armutsmigration
aus der EU, überfüllte Flüchtlingsheime und teilweise
misslungene Integration sind nur einige Beispiele. Diese
Herausforderungen müssen wir aber separat voneinander
betrachten und auch lösen. Man darf nicht alle Formen
der Migration in einen Gesetzestopf werfen und dann
glauben, dass man damit Bürokratie beseitigt, wie es der
Antrag beschreibt.
({1})
Rund 60 Prozent aller Migranten, die heute nach
Deutschland kommen, sind EU-Bürger und genießen europaweite Freizügigkeit. Die im Antrag angedeutete
Steuerung der Arbeitsmigration geht also an der großen
Masse der Migranten hierzulande völlig vorbei. Das
Europarecht ist im Übrigen die Hauptursache für die
Komplexität unseres Ausländerrechts. Als EU-Mitglied
muss Deutschland vorrangig europarechtliche Vorgaben
umsetzen. Der Handlungsspielraum des Bundestages im
Bereich der Migration wird dadurch stark begrenzt. Unser Ausländerrecht mag kompliziert sein. Das liegt aber
vor allem daran, dass die Realität in der globalisierten
Welt kompliziert ist. Die Unterscheidung zwischen Arbeitsmigration, Flüchtlingsschutz, Familienzusammenführung und Bildungszuwanderung hat gute Gründe.
({2})
Natürlich muss der Flüchtlingsschutz einer anderen
Logik folgen als die Arbeitsmigration. Soll etwa der Bildungsgrad darüber entscheiden, wer ein Recht auf Asyl
hat und wer nicht? Natürlich müssen die Anwerbung von
Fachkräften und die Ausweisung abgelehnter Asylbewerber rechtlich sauber getrennt und separat gelöst
werden. Eine Studentin aus den USA muss doch einen
anderen Aufenthaltsstatus haben als ein Asylbewerber,
der seine Herkunft verschleiert. Dazu, diese unterschiedlichen Migrationskanäle in ein Gesetz zu packen, wie es
der Antrag fordert, kann ich Ihnen als Juristin nur sagen,
dass dabei nichts anders als ein bürokratisches Mammutwerk herauskommt, das noch unübersichtlicher ist und
keinesfalls entbürokratisiert ist.
({3})
Lieber Rüdiger Veit, ich gebe dir an einer Stelle recht:
Ja, jedes Gesetz kann man verbessern. Es ist immer
wichtig, besser zu werden. Aber als Jurist zu glauben,
mit einem neuen Gesetz ein besseres Einwanderungsrecht zu schaffen bzw. für eine bessere Integration zu
sorgen, ist eine komplette Illusion und eine Verkennung
der tatsächlichen Lage. Vorhin wurde gefordert, die Bestimmungen des Einwanderungsrechts müssten auf ein
DIN-A4-Blatt passen. Dies ist nichts anderes als die damalige Forderung, die Steuererklärung müsse auf einem
Bierdeckel zu machen sein. Beides ist realitätsfern.
({4})
Der Antrag problematisiert auch teilweise Themen,
die bereits geregelt sind.
({5})
- An Ihrem Protest merke ich schon, dass ich richtig
liege. - Ausländische Studenten können nämlich schon
heute nach dem Studienabschluss in Deutschland unter
bestimmten Voraussetzungen bis zu 18 Monate nach Arbeit suchen. Für alle anderen gilt eine Frist von 12 Monaten.
Auch für Flüchtlinge haben wir im letzten Jahr den
Arbeitsmarktzugang verbessert. Integration findet auf
dem Arbeitsmarkt statt und nicht auf dem Arbeitsamt.
Natürlich ist es nicht schön, wenn in manchen Bereichen
Ausländer bei der Arbeitssuche benachteiligt werden.
Das darf nicht sein. Dafür gibt es das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz. Wenn auch das nicht reichen
sollte, ist hier Änderungsbedarf gegeben; aber deswegen
brauchen wir doch kein neues Einwanderungsgesetz, um
das es hier heute geht.
Es ist auch klar, dass wir langfristig einen Fachkräftemangel haben werden. Aber wir haben auch jetzt schon
grundsätzlich keinen flächendeckenden Mangel, sondern
wir haben Engpässe in einzelnen Bereichen. Wir haben
bereits eine Positivliste mit 70 Mangelberufen erstellt,
um die Anwerbung von Fachkräften für bestimmte Branchen zu erleichtern.
({6})
Oft, so wie auch heute, wird eben einmal so pauschal
behauptet, unser Zuwanderungsrecht sei zu kompliziert
und - jetzt kommt es - wir würden deshalb den globalen
Wettbewerb um die besten Köpfe verlieren. Die OECD
hat uns aber im Jahr 2013 bescheinigt, dass Deutschland
zu den OECD-Ländern mit den geringsten Hürden für
hochqualifizierte Zuwanderer gehört.
Dann höre ich heute wieder die Forderung nach dem
Punktesystem nach kanadischem Vorbild. Ich frage
mich, ob man sich damit allen Ernstes auseinandergesetzt hat. Die Grünen sprechen in ihrem Antrag gar
von einem „System der Kriterien-gesteuerten Arbeitsmigration“. Solche Wortkreationen tragen nicht dazu
bei, dass unser Zuwanderungsrecht verständlicher, unbürokratischer oder, wie Sie es auch noch fordern, humaner
wird. Auch das Punktesystem nach kanadischem Vorbild
tut das nicht. Es ist bürokratisch und unflexibel, und
nicht umsonst ist Kanada dabei, sein eigenes System zu
reformieren. Daran wollen wir uns doch nicht allen
Ernstes orientieren.
({7})
Wer in Deutschland über Einwanderung redet, der
kann die europäische Dimension nicht einfach ausblenden.
({8})
Europa taucht weder in Ihrem Antrag auf noch in der
Diskussion über das Einwanderungsrecht. Die deutsche
Politik hat die Pflicht, Fachkräfte zuerst in Deutschland,
dann in Europa und dann im Rest der Welt zu suchen.
({9})
Mit dieser Auffassung bin ich auch nicht alleine.
({10})
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat im Handelsblatt am 24. Oktober 2010 Folgendes gefordert - ich zitiere -:
Es reicht nicht, Kriterien für Einwanderung zu definieren, sondern zuerst müssen wir deutlich mehr für
Jugendliche ohne Berufsausbildung, ältere Arbeitnehmer und für die Vereinbarung von Familie und
Beruf tun. Vorher dürfen wir den scheinbar leichten
Weg zur Anwerbung von Fachkräften im Ausland
nicht begehen.
({11})
Dieser Aussage stimme ich auch heute noch zu.
Trotz Rekordbeschäftigung haben wir 3 Millionen
Arbeitslose, darunter viele gut ausgebildete Fachkräfte,
die sich seit langem vergeblich bewerben. 2013 haben
46 000 Schüler ohne Schulabschluss die Schule verlassen. Im letzten November meldete der Deutsche Gewerkschaftsbund, dass 300 000 Jugendliche keinen dauerhaften Ausbildungsplatz haben. Die Bundesagentur für
Arbeit spricht von über 20 000 Bewerbern ohne Ausbildungsplatz. Egal welche Statistik wir heranziehen:
Deutschland hat definitiv zu viel ungenutztes Potenzial.
Europa setzt noch einmal eins drauf. Wenn wir uns
die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Griechenland und
Frankreich anschauen, dann wird doch klar: Wir müssen
uns erst einmal in Europa umsehen. Eurozentrismus an
dieser Stelle, nämlich bei der Suche nach Fachkräften,
ist auch integrationspolitisch sinnvoll; denn ein Spanier
bringt nun einmal mehr kulturelle Gemeinsamkeiten mit
als beispielsweise ein Chinese.
Um Migration zu verbessern, braucht es also weder
neue Gesetze noch alte Gesetze mit einem neuen Etikett,
sondern wir müssen die geltenden Regelungen besser
umsetzen und für Verbesserungen sorgen. Wie wir noch
bessere Integration leisten, steht auf einem ganz anderen
Blatt Papier. Im Übrigen zeigt auch eine Analyse des
Bundeswirtschaftsministeriums vom April 2014, dass
das richtig ist. Unternehmen, Fachkräfte und Verwaltung
sagen, dass der rechtliche Rahmen zur Anwerbung von
Fachkräften positiv ist. Sie sehen Handlungsbedarf bei
der Umsetzung, in der Praxis und bei der Anerkennung
von beruflichen Qualifikationen und Bildungsabschlüssen. Hier müssen wir ansetzen, in der Praxis, und nicht
wieder mit einem neuen Gesetz.
({12})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit?
Aus meiner Sicht können wir den Antrag ablehnen,
nicht aber die Debatte über eine gute Zuwanderung. An
Sie, liebe Frau Göring-Eckardt, noch ein Schlusswort:
Bayern braucht von Ihnen keine guten Ratschläge. Bayern, seine Menschen und seine Politik stehen für eine
hervorragende Willkommenskultur.
Vielen Dank.
({0})
Danke, Frau Kollegin Lindholz. - Letzte Rednerin in
der Debatte: Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich nach der bisherigen Debatte etwas
Positives, etwas Lobendes über die Grünen und ihren
Antrag sagen sollte, dann kann ich das nicht für das tun,
was von ihnen bisher dargelegt wurde. Das Einzige, wofür ich ihnen danken kann, ist die Tatsache, dass sie es
geschafft haben, bereits so frühzeitig, nämlich schon
knapp 36 Stunden vor der von ihnen beantragten Debatte, einen Antragswortlaut vorzulegen. Doch dieses
Thema ist zu ernst für Ironie. Aber schon der Umstand
zeitlicher Hektik weist darauf hin, dass wir hier über einen unausgegorenen Schnellschuss debattieren.
({0})
Meine Bitte an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen: Formulieren Sie das nächste Mal bitte
einen Antrag, der etwas weniger vage ist, der Farbe bekennt, der seriös und solide ist.
({1})
Allerdings ahne ich durchaus, warum Sie so vage geblieben sind: Bei dem von Ihnen vorgeschlagenen Kriteriensystem handelt es sich nämlich um eine Parallele zum
kanadischen Modell, und das wird auch von Politikern,
die alles andere als links stehen, als Modell für Deutschland vorgeschlagen. Diese Tatsache, liebe Grüne, wollen
Sie natürlich lieber verschweigen.
Sie möchten also ein Kriteriensystem. Wer genügend
Kriterien für Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikation
und weitere Anforderungen erfüllt, soll ohne ein verbindliches Jobangebot ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen. Mehr als diese blumigen Schlagworte
konnten Sie jedoch nicht liefern.
Nun sage ich Ihnen, warum unser Land Ihr Modell
nicht braucht: Deutschland ist bei der Fachkräftezuwanderung sehr gut aufgestellt. Das geht nicht nur aus den
Zahlen des neuesten Migrationsberichts hervor, sondern
das zeigt sich auch ganz konkret in der Praxis vor Ort.
Zwei Beispiele aus meiner Heimat möchte ich nennen:
Dort wurde im Sommer vergangenen Jahres durch das
Landratsamt eine Beratungsstelle für ausländische Fachkräfte und interessierte Unternehmen eingerichtet, durch
die inzwischen zahlreiche Fachkräfte aus den verschiedensten Nationen beraten und erfolgreich an Firmen vor
Ort vermittelt werden konnten.
Eine andere Kommune in meiner Heimat plant derzeit
ein Aus- und Weiterbildungszentrum insbesondere für
ausländische Facharbeiter.
({2})
Das sind nur zwei Beispiele dafür, dass die Fachkräftezuwanderung mit den bestehenden Regelungen vor Ort
gut funktioniert, wenn wir Unternehmen und Fachkräfte
aktiv darüber informieren und wenn wir dafür werben.
Auch wenn Sie, liebe Grüne, den Begriff „Kanada“
nicht aussprechen wollen, so erlaube ich mir, die von Ihnen indirekt übernommenen Elemente des kanadischen
Modells mit Blick auf Deutschland zu betrachten.
Eins gleich vorweg: Wer Deutschland mit Kanada
vergleicht, kann genauso gut Äpfel mit Birnen vergleichen. Zum Beispiel hat Kanada kein so umfangreiches
Sozialsystem wie Deutschland, das für jeden Zuwanderer aufkommen müsste, der keinen Arbeitsplatz findet.
Bei uns ist deshalb die Arbeitszuwanderung aus gutem
Grund an ein verbindliches Jobangebot gebunden. In
Kanada gibt es, anders als bei uns, kein Grundrecht auf
Asyl, das jedem, der einreist und schutzbedürftig ist, ein
Aufenthaltsrecht garantiert.
Diese unterschiedliche Asylpraxis spielt gerade mit
Blick auf die gestiegene Flüchtlingszahl auch in der Zuwanderungsfrage eine große Rolle; denn häufig bleiben
viele der Flüchtlinge dauerhaft bei uns und müssen in
den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert werden,
und das machen wir in Deutschland wirklich gut. Als
Koalition haben wir allein im vergangenen Jahr gleich
mehrere Verbesserungen für Asylbewerber und Flüchtlinge, aber auch zur Entlastung unserer Kommunen verabschiedet. Kanada ist dagegen in Asylfragen sehr viel
restriktiver. Obwohl es dort nur einen Bruchteil der in
Deutschland gestellten Asylanträge gibt, wurde 2014 jeder zweite Antrag abgelehnt.
({3})
Weiter wird immer wieder behauptet, ein Punktesystem bei der Einwanderung - Sie bezeichnen das in
Ihrem Antrag als „Kriterien-gesteuertes Einwanderungsmodell“ - sei moderner, liberaler und verständlicher als
unsere bestehenden Zuwanderungsregeln. Seltsamerweise zählt aber gerade Deutschland seit 2013 laut
OECD zu den Ländern mit den günstigsten Zuwanderungsregelungen für Fachkräfte weltweit. Mir erscheint
daher die harsche Kritik, die derzeit an unserem Einwanderungsgesetz geübt wird, vollkommen überzogen. Im
Gegenteil: Unser System ist das modernere, das bedarfsgerechtere und das liberalere.
({4})
Die meisten unserer Zuwanderungsregeln für ausländische Fachkräfte haben - im Gegensatz zu Ländern mit
Kriteriensystem, wo zumeist pro Jahr immer nur eine begrenzte Anzahl an Visa für bestimmte Mangelberufe vergeben wird - nach oben keine zahlenmäßige Beschränkung. Das gilt sowohl für die Blaue Karte EU, für die
man nur einen Hochschulabschluss und ein verbindliches Jobangebot vorweisen muss, als auch für ausländische Fachkräfte mit Berufsabschlüssen, die auf der Liste
der 70 Mangelberufe stehen.
Hinzu kommt das Visum zur Arbeitsplatzsuche, mit
dem man sechs Monate lang vor Ort nach einem geeigneten Arbeitsplatz suchen kann.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Volker Beck?
Der Kollege hatte, glaube ich, heute schon genug Redezeit. Deswegen würde ich lieber in meiner Rede fortfahren.
({0})
Liberaler als mit einem solchen Visum kann in meinen Augen ein Zuwanderungssystem kaum sein. Denn
wer trotz ernsthafter Suche nach sechs Monaten in
Deutschland immer noch keinen Arbeitsplatz gefunden
hat, dem wird dies auch später nicht gelingen.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen,
insgesamt wäre ein Kriteriensystem im Vergleich zu unserem aktuellen Einwanderungsrecht ein klarer Rückschritt.
({2})
Nebenbei bemerkt hat sich auch das in diesem Zusammenhang vielgepriesene Kanada bereits vom klassischen Punktesystem verabschiedet. Denn viele Einwanderer, die darüber nach Kanada kamen, haben den
Einstieg in den Arbeitsmarkt nur weit unter ihrem Qualifikationsniveau geschafft. Deshalb ist mittlerweile auch
dort wie in Deutschland für immer mehr Berufe ein verbindliches Jobangebot notwendig.
Auch die übrigen Forderungen Ihres Antrags, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sind völlig
überflüssig. Denn wir haben beim Thema Familiennachzug, beim Staatsangehörigkeitsrecht, beim Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber und Flüchtlinge und
auch beim Ausbau der Integrationskurse bereits gut
funktionierende Lösungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt also genug
Gründe, weshalb wir in Deutschland an dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Grundsatz der bedarfsgerechten Zuwanderung festhalten sollten. Konkret heißt das:
Wir wollen Menschen nach Deutschland holen, die unsere Wirtschaft auch braucht. Was wir nicht wollen, ist
eine Zuwanderung auf Vorrat und in unser Sozialsystem.
({3})
Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass der
Kollege Tauber eine Debatte darüber angestoßen hat,
wie Zuwanderung nach Deutschland in Zukunft aussehen soll.
({4})
Sie können versichert sein, dass wir ihn heute nicht bewusst ausgesperrt haben.
({5})
Denn gerade in Zeiten der Globalisierung und eines
schnellen gesellschaftlichen Wandels, der viele Unsicherheiten mit sich bringt, erwarten die Bürgerinnen und
Bürger, dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen. Wir
werden in der Union und auch als Koalition diese Debatte ernsthaft führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das heißt nicht, dass wir hierüber einen Streit führen,
sondern wir diskutieren, und das ist in einer Demokratie
ja auch möglich.
({6})
So möchte ich mit den Worten des vor wenigen Tagen
verstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker
schließen, der bereits 1994 in der damaligen Zuwanderungsdebatte gesagt hat - ich zitiere -:
Wir brauchen neue Regelungen für Einwanderung
und Staatsangehörigkeit, aber natürlich nicht, um
unsere Tore für die Wanderer aus aller Welt unbegrenzt zu öffnen, sondern um die Zuwanderung gemäß den Interessen und Verpflichtungen unseres
Landes zu steuern. Dann wird die Einwanderung zu
einer sinnvollen Vorsorge für die Zukunft.
Meine Damen und Herren, mit den zahlreichen Reformen im Einwanderungsrecht der vergangenen Jahre haben wir Zuwanderungsregelungen ganz im Sinne von
Richard von Weizsäcker geschaffen. Wir sind bereit,
über weitere sinnvolle und pragmatische Vorschläge zu
diskutieren. Der vorliegende Antrag der Grünen beinhaltet solche Vorschläge jedoch nicht. Daher lehnen wir ihn
ab.
Vielen Dank.
({7})
Danke, Frau Kollegin Warken. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3915 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Vereinbarte Debatte
Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission 2015
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({0})
- Wenn Sie bitte entweder Platz nehmen oder den Raum
verlassen würden, könnten wir mit der Debatte beginnen.
Erster Redner in der Debatte: Norbert Spinrath für die
SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Kommissionspräsident
Juncker beschrieb in seinen politischen Leitlinien für die
neue Europäische Kommission seine Prioritäten mit folgenden Worten - ich zitiere -:
Wieder Wachstum zu schaffen und Menschen zurück in Arbeit zu bringen - das wird mein oberstes
Ziel sein.
Er sagte auch, er wolle das Konzept der Kommission für
eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion stützen und die soziale Dimension Europas nie aus
den Augen verlieren.
Das nun vorgelegte Programm dieser Kommission ist
sehr viel politischer als das ihrer Vorgänger. Es enthält
eine starke Konzentration auf die Kernpunkte Europas:
das Investitionspaket, die Energieunion, den Datenschutz, die Finanztransaktionsteuer, die europäische
Nachbarschaftspolitik, die digitale Agenda und den Bürokratieabbau.
Es überrascht nicht, dass dieses Programm sehr viel
programmatischer und politischer geworden ist als die
Programme der Vorgängerkommissionen. Es überrascht
nicht nach einem auch sehr politisch geführten Wahlkampf mit Spitzenkandidaten der beiden großen europäischen Parteifamilien.
Ich glaube, es ist richtig, sich aus einem Sammelsurium von üblicherweise 180 Maßnahmenpaketen auf die
Kernpunkte zu konzentrieren; das begrüße ich ausdrücklich.
({0})
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es
wichtige Themen, die derzeit die Menschen in Europa
bewegen, Themen, die sich unter den angekündigten
Projekten aber nur unzureichend wiederfinden oder noch
farb- oder konturlos bleiben, so der Kampf gegen die
Steuerhinterziehung und der Kampf gegen die Steuerflucht gerade von Reichen und Unternehmen.
Ganz wesentlich fehlt auf den ersten Blick der ausgeschriebene Begriff „soziales Europa“. Ich kann den Zusicherungen der Kommission nur glauben, dass dahinter
keine politische Grundausrichtung steht und sie es verstehen wird, die sozialen Aspekte an die Kernpunkte anzudocken.
Besondere Priorität bei der Ausrichtung des Arbeitsprogramms der Kommission muss deshalb darauf liegen,
das wachsende Ungleichgewicht in und zwischen den
Mitgliedstaaten zu beseitigen, die nach wie vor viel zu
hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Jugendlichen in
einigen Ländern Europas zu bekämpfen, das wachsende
Lohndumping zu verhindern und die Auswüchse prekärer Arbeit bis hin zum massiven Missbrauch von Arbeitnehmerrechten und zu kriminellen Machenschaften zum
Beispiel bei Entsendungen, bei Subunternehmen, bei gezielter Ausnutzung von Regelungslücken bei grenzüberschreitender Beschäftigung zu bekämpfen.
({1})
Zu den Auswüchsen prekärer Arbeit: Ich will nicht
akzeptieren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die
Maßeinheiten in Europa neu definiert werden und wie
zufällig ab dem 1. Januar - passend zur Einführung des
gesetzlichen Mindestlohns - die Stunde plötzlich 90 statt
60 Minuten hat, die Stunde plötzlich durch Stückzahlen
oder Quadratmeter ersetzt wird, der Taxifahrer plötzlich
nur noch für reine Fahrzeiten, nicht aber für Stand- und
Wartezeiten bezahlt wird. Wo bleibt, frage ich, liebe
Kolleginnen und Kollegen, hier der Aufstand der Anständigen, und damit meine ich, auch der Aufstand der
anständigen Arbeitgeber?
({2})
Dies passiert mitten in Deutschland. Deutschland ist
mitten in Europa. Auch deshalb brauchen wir ein soziales Europa. Und es irrten schon immer diejenigen, die
sagten: Sozial ist, was Arbeit schafft. - Es war schon immer richtig, dass sozial ist, was gute Arbeit schafft, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Selbstverständlich zählt zu einem sozialen Europa auch
die Gleichstellung von Frauen und Männern in der EU:
Frauenquote, Mutterschutzrichtlinie, Equal Pay. Geschlechtsspezifische Differenzen bei den Renten, Frauen,
die oft - und sehr viel öfter als Männer - in unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen, in Teilzeit- und Leiharbeitsverträgen sind - die Liste der strukturellen Geschlechterdiskriminierung ist lang.
({4})
Auf freiwilliger Basis hat das alles nicht funktioniert;
wir haben es ausprobiert. Auch hier, denke ich, ist die
Kommission aufgefordert, das auf europäischer Ebene
nachzuarbeiten.
({5})
Die Kommission muss bei jedem ihrer 23 Kernpunkte
die sozialen Aspekte als zentrales Element verstehen.
Das von Kommissionspräsident Juncker vorgestellte Investitionspaket soll private und staatliche Investitionen
bündeln, Wachstum und Beschäftigung nachhaltig ankurbeln. Daraus könnte ein immenser Beitrag zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit entstehen.
({6})
Aber selbst wenn es nicht gelingt, Herr Kollege, dann
bin ich schon froh darüber, dass Europa, Herr Juncker
und die Europäische Kommission nach den letzten Jahren verstanden haben, dass es zwingend notwendig ist,
neben einem Kurs der Sparpolitik, der Konsolidierung
der Haushalte endlich auch Investitionen aufzulegen, um
mit den Problemen umzugehen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Flüchtlingspolitik muss die EU neue Mittel und Wege finden. Auch
das gehört zu einem sozialen Europa. Darüber haben wir
vorhin diskutiert. Es ist nicht der Kern des Problems, nur
die Symptome zu diskutieren. Akute Hilfe ist notwendig,
so bei humanitären Katastrophen auf dem Mittelmeer.
Wir müssen insgesamt eine menschenwürdige europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik finden, die den humanitären Bedürfnissen und Grundrechten der flüchtenden
Menschen gerecht wird. Wir brauchen eine nachhaltige
und progressive Entwicklungspolitik, um die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern und
die Fluchtursachen zu beseitigen. Auch hier muss die
Kommission für eine echte gemeinsame Flüchtlingspolitik nacharbeiten.
({8})
Das zentrale Ziel der neuen Kommission muss darin
bestehen, das europäische Sozialmodell nachhaltig zu
etablieren und widerstandsfähiger zu machen. Sie muss
es als Modell etablieren, auf das man in der EU stolz
sein kann und mit dem man weltweit eine führende Rolle
einnehmen kann; denn eines haben die Krisen und
Entwicklungen in den letzten Jahren deutlich gezeigt:
Ein rein auf Wirtschaftsfragen reduziertes Europa zerstört das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das
Projekt EU.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, verbunden mit dem Dank für
Ihre Aufmerksamkeit erinnere ich an dieser Stelle an die
ursprüngliche Bedeutung der durch den ehemaligen
Kommissionspräsidenten Jacques Delors geprägten
Begrifflichkeit ESM. ESM - dafür haben wir heute andere Bezeichnungen - stand einmal für das europäische
Sozialmodell, mit dem Delors Europa bereits in den
90er-Jahren eine soziale Dimension verleihen wollte.
Aus der Vergangenheit lernend, um die Probleme der
Gegenwart zu lösen und die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen, hat die neue Kommission jetzt die
Chance, ein neues Europa der Bürgerinnen und Bürger,
ein soziales Europa, zu schaffen,
({9})
Danke, Herr Kollege Spinrath. - Nächster Redner in
der Debatte ist Alexander Ulrich für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Chance, in diesen Tagen, in denen die Medien viel
über die Auswirkungen einer sehr erfolgreichen Wahl in
Griechenland berichten, im Bundestag über Griechenland zu reden, sollten wir nicht an uns vorbeiziehen lassen. Herr Spinrath, wenn man über ein soziales Europa
reden will - Sie selbst sagen, dass das Arbeitsprogramm
der EU-Kommission noch zu wenig Inhalte für ein soziales Europa bietet -, dann ist das Eingeständnis notwendig, dass die EU-Kommission in den letzten Jahren
mit ihrer verheerenden Troika-Politik kräftig daran mitgearbeitet hat, dass das soziale Europa ein Stück weit
zerstört wurde.
({0})
Es muss klar sein: In Griechenland wurde eine Partei
gewählt, die im Prinzip das aufräumen muss, was die
korrupten Schwesterparteien von CDU/CSU und SPD in
den vergangenen Jahren angestellt haben.
({1})
Ihre korrupten Schwesterparteien haben sich Griechenland zur Beute gemacht. Jetzt muss Syriza versuchen,
das Land einigermaßen nach vorne zu bringen.
({2})
Dass die Gewerkschaftsspitzen in Deutschland und
viele Prominente ein Stück weiter sind als Sie, zeigt ein
aktueller Aufruf, in dem es heißt: Das, was in Griechenland passiert, ist tatsächlich eine Chance für ein demokratisches und soziales Europa. - Diese Chance sollte
nicht durch CDU/CSU und SPD bekämpft werden, sondern wir sollten die griechische Regierung bei diesem
Weg unterstützen, ein soziales Europa mitzugestalten.
({3})
Der EU-Parlamentspräsident Schulz, ein Sozialdemokrat, hat letzte Woche im Fernsehen gesagt, er habe keinen „Bock“ - das war sein wörtlicher Ausspruch -, über
eine notwendige Neuorientierung der Europapolitik mit
den Griechen zu reden. Die Gewerkschaftsspitzen in diesem Land sind hier ein Stück weiter.
Syriza tritt an, um die Grundlagen für ein anderes Europa zu stellen. Das, was Syriza vorschlägt, liebe Sozialdemokraten, ist eigentlich ursozialdemokratisch. Sie
sollten es unterstützen und nicht bekämpfen.
({4})
Die erste und wichtigste Voraussetzung für dieses andere Europa ist ein Ende des Kürzungswahns. Dieses
Ende wurde bereits in die Wege geleitet. Eine der ersten
Maßnahmen von Syriza war es, dass die Troika - hier ist
die EU-Kommission dabei - vor die Tür gesetzt wurde.
Damit uns klar wird, worum es geht:
({5})
Ein Viertel der Griechinnen und Griechen ist heute arbeitslos. 6 von 11 Millionen Griechen leben in Armut
oder sind von Armut bedroht. Das Ganze wurde ja gemacht, um der Schuldenkrise Herr zu werden. Die
Schulden in Griechenland sind aber von 146 Prozent auf
176 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen, trotz
dieser verheerenden Politik.
Die Politik der Troika, der EU-Kommission, angeordnet von Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist grandios
gescheitert. Nicht Griechenland ist „Geisterfahrer“ - wie
der Spiegel schreibt -; die deutsche Bundesregierung
war jahrelang Geisterfahrer in Europa.
({6})
Deshalb ist es jetzt zwingend notwendig, dass wir die
Chance ergreifen, die durch die Wahl in Griechenland
möglich ist. Denn nur so kriegen wir es hin, ein sozialeres Europa zu gestalten. Wer nur will, dass weiter gekürzt wird, der wird den Kopf dafür hinhalten müssen,
dass die Jugendarbeitslosigkeit, Herr Spinrath, nicht abgebaut wird.
Wir brauchen tatsächlich eine Schuldenkonferenz, so
wie sie 1953 Deutschland geholfen hat.
({7})
Wir brauchen einen fairen Ausgleich zwischen den Griechen sowie den anderen Schuldnerländern und den Gläubigern. Nur so ist eine Chance vorhanden. Gerade wir
Deutschen sollten dieser historischen Verantwortung gerecht werden. Wir hätten nie nach dem Zweiten Weltkrieg diese Chancen gehabt, wenn es nicht auch einen
Schuldenerlass für Deutschland gegeben hätte. Das Gleiche muss jetzt Griechenland zugutekommen.
({8})
EU-Kommissionspräsident Juncker hat jetzt den Juncker-Plan als das Projekt vorgeschlagen. Was wir zwingend und dringend brauchen, sind tatsächlich mehr öffentliche Investitionen, aber nicht das, was Juncker
vorschlägt: Er will aus Geldern in Höhe von 21 Milliarden Euro, die er irgendwie aus den verschiedenen EUTöpfen auftreibt, 315 Milliarden Euro machen. Das ist
Voodoo-Ökonomie. Das würde am Schluss nicht zu den
gewünschten Ergebnissen führen. Deshalb fordern wir
Linke, dass europaweit öffentliche Gelder in Höhe von
mindestens 500 Milliarden Euro in einen sozial-ökologischen Umbau investiert werden. Finanziert werden
könnte das tatsächlich über eine drastische Besteuerung
von Reichtum, Finanzgeschäften an den Börsen und Vermögen.
({9})
Was Sigmar Gabriel anscheinend auch unterstützt, ist,
dass der Juncker-Plan mit PPP-Projekten umgesetzt
wird. Bei PPP-Projekten ist es am Schluss so, dass die
Gewinne der Privatwirtschaft zufließen und die Risiken
der Steuerzahler zu tragen hat. Solche Programme lehnen wir Linke ab.
({10})
Wir wollen, dass Private haften, wenn sie falsche Geschäfte machen.
({11})
Deshalb brauchen wir ein Zukunftsinvestitionsprogramm mit öffentlichen Geldern.
({12})
Ganz zum Schluss - ich komme zum Ende, Frau Präsidentin -: Wenn die EU-Kommission in diesem Jahr
wirklich etwas Vernünftiges hinbekommen will, sollte
sie sofort die Verhandlungen über TTIP und CETA stoppen.
({13})
Wir brauchen keinen neuen Angriff auf Arbeitnehmerrechte, Sozialstandards und Verbraucherschutzstandards.
Wenn diese Abkommen umgesetzt werden, Herr
Spinrath, werden wir ein noch unsozialeres Europa bekommen. Aber leider reicht die SPD auch da die Hand.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Detlef Seif, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! „Ein neuer Start“ diese ambitionierte Überschrift trägt das Arbeitsprogramm der Kommission 2015. Die Kommission hat in
der Vergangenheit schon einiges auf den Weg gebracht,
um zu entbürokratisieren, zu verschlanken, Verfahren zu
vereinfachen. Ich nenne nur das REFIT-Programm. In
den vergangenen Jahren hat die Kommission erkannt: Es
gibt viel zu viele neue Initiativen. Deshalb wurde die
Zahl der Initiativen von 316 im Jahr 2010 auf 58 im Jahr
2013 reduziert.
Ein Riesenproblem, das auch von uns immer diskutiert wird, ist die Größe der Kommission: Wir haben
28 Kommissionsmitglieder. So viele Kompetenzen gibt
es gar nicht. Die Arbeitsprogramme der letzten Jahre haben gezeigt: Man arbeitet gegeneinander und nicht miteinander. Deshalb war es clever von Juncker, auf der
Grundlage des EU-Vertrags eine Neustrukturierung vorzunehmen, sieben Vizepräsidenten zu benennen, ihnen
jeweils ein Projektteam - man nennt das „Cluster“ - zuzuordnen und zukünftig neue Initiativen nur noch zuzulassen, wenn sie intern zwischen Kommissar und Vize
abgestimmt sind.
Das Arbeitsprogramm 2015 ist mit 23 neuen Initiativen weiter abgespeckt worden. Es ist sicherlich zu früh,
die Arbeit abschließend zu bewerten, aber eines kann
man sagen: Das, was die Juncker-Kommission mit den
Vorschlägen zur Organisationsstruktur und dem vorliegenden Arbeitsprogramm auf den Weg gebracht hat,
kann sich sehen lassen. Wenn Juncker und sein Team so
weitermachen, dann werden sie von Deutschland zu
100 Prozent unterstützt.
({0})
Auch inhaltlich ist der Schwerpunkt richtig gelegt - Herr
Kollege Spinrath hat es in seiner Rede angesprochen -:
Beschäftigung, Wachstum und Investitionen stehen ganz
oben auf der Agenda.
Der Juncker-Plan wird oft belächelt, auch teilweise in
unserem Hause: Wie will man - ist die Frage - aus
16 Milliarden Euro EU-Mittel und 5 Milliarden Euro
Mittel der Europäischen Investitionsbank mindestens
315 Milliarden Euro Investitionen generieren? Aber man
muss bedenken: Die Europäische Investitionsbank hat in
der Vergangenheit bewiesen, dass von ihr vergebene
Kredite teilweise das 25- oder 30-Fache an Investitionen
hebeln können. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir
zunächst abwarten sollten. Aber eines ist ganz wichtig:
Voraussetzung ist ein gutes Investitionsklima in Europa
insgesamt, insbesondere in den Mitgliedstaaten, die die
Darlehen beanspruchen möchten.
Herr Ulrich, damit bin ich bei Griechenland. Sie alle
kennen die griechische Sage von Sisyphos, dem König
von Korinth. Er war bei den Göttern in Ungnade gefallen, und es ist ihm nie gelungen, einen großen schweren
Stein den Berg hinauf zu hieven.
({1})
Nun komme ich zu Alexis Tsipras. Er traut den Menschen in seinem eigenen Land nicht die Schaffenskraft
zu, aus dieser Krise herauszukommen, und das ist bedauerlich. Griechenland war auf einem guten Weg. Die von
der Troika prognostizierten Entwicklungsdaten für Griechenland wurden übertroffen.
({2})
Um bei der Sage von Sisyphos zu bleiben: Tsipras und
Varoufakis, sein Finanzminister, sollten jetzt nicht von
oben auf den Stein springen, sondern sie sollten lieber
von unten nachdrücken, damit die Entwicklung in die
richtige Richtung geht.
({3})
Es ist schon eine bodenlose Dreistigkeit, Ursache und
Wirkung zu verwechseln. Wo kommt denn die Krise in
Griechenland her?
({4})
- Weder durch die Bankenrettung
({5})
noch durch die Unterstützungsleistungen der Mitgliedstaaten und auch nicht durch die aufgelegten Programme. Sie ist auf die letzten Jahrzehnte zurückzuführen.
Denken Sie sich die Programme, die aufgelegt wurden,
einmal weg. Was meinen Sie, was dann in Griechenland
jetzt los wäre? Dann würde nicht nur ein Viertel der Menschen in Armut leben, sondern ganz Griechenland würde
brachliegen.
({6})
Griechenland ist in Gefahr, dahin zu kommen. Wenn
die Politik nicht abgestimmt ist, wenn die Minister nicht
miteinander reden und jeder am Tag drei unterschiedliche Auffassungen hat: Wo soll denn das Vertrauen herkommen, um Investitionen zu tätigen? Aber genau die
sind wichtig.
({7})
Ich komme wieder zum Arbeitsprogramm 2015. Griechenland hat nur dann eine gute Zukunft, wenn die wirtschaftspolitische Philosophie, wie sie im Arbeitsprogramm 2015 verankert ist, auch umgesetzt wird. Dazu
gehören nun einmal die Strukturreformen. Dazu gehört
eine solide Haushaltspolitik. Natürlich müssen Investitionen hinzukommen. Deshalb sind Investitionsimpulse
das A und O, um Griechenland nach vorne zu bringen.
Leider ist Griechenland bei den Strukturreformen auf
halber Strecke stehengeblieben. Das brauchen Sie doch
keinem zu sagen. Es geht um effiziente Verwaltung, Bekämpfung der Korruption. Viele Grüße an Anel, den Koalitionspartner von Syriza! Sie reden hier so nett, aber es
ist eine rechtspopulistische Partei, korrupt bis ins Mark,
homophob und rassistisch.
({8})
- Ich wusste ja, dass Sie auf dem linken Auge blind sind,
aber mittlerweile sollten Sie Ihre Sehstärke auch auf der
rechten Seite überprüfen lassen.
({9})
Jetzt kommen wir zum entscheidenden Thema. Wichtig ist eine klare Orientierung. Ein Schuldenschnitt oder
eine ähnliche Maßnahme ist nicht erforderlich und rechtlich - Stichwort „Bail-out“ - wie politisch auch nicht
durchsetzbar. Jeder Verzicht zugunsten Griechenlands
- gehen Sie einmal von 50 Prozent aus - würde für
Deutschland jetzt und sofort einen Verlust von 40 Milliarden Euro bedeuten. Für das schwache Portugal - die
sind ja froh, wenn sie irgendwo noch einen Euro herbekommen - würde das einen Verlust von 3,7 Milliarden
Euro bedeuten. Und für Estland würde das einen Verlust
von 270 Millionen Euro bedeuten; überlegen Sie sich
das einmal. Das wäre die Belastung, wenn wir Griechenland großzügig einen Nachlass einräumten, der überhaupt nicht erforderlich ist. Eine Krise, die durch billiges
Geld produziert wurde, kann man nicht dadurch lösen,
dass man tonnenweise, unbegrenzt billiges Geld in die
Märkte pumpt, ohne das an wirtschaftspolitische Konditionen zu binden.
({10})
Meine Damen und Herren, mein Herz brennt für Europa, auch für Griechenland; aber die Griechen müssen
in die richtige Richtung gehen.
({11})
Von unserem Verhalten wird es abhängen, ob die Europäische Union eine Gemeinschaft mit festen, vorhersehbaren Regeln ist oder ob Begehrlichkeiten geweckt werden, die wir nicht mehr unter Kontrolle haben werden,
ob Beliebigkeit gilt und wir wieder eine Union werden
- eine solche Union waren wir einmal -, die sich durchwurschtelt, eine Muddling-through-Union. Das gilt es zu
vermeiden.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen erhält
jetzt das Wort Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission ist
mit „Ein neuer Start“ überschrieben. Ich kann jetzt nicht
auf alles eingehen, möchte aber sagen: Einiges, was der
Kollege Spinrath als positiv benannt hat, kann man
durchaus teilen; aber man muss deutlich hinzufügen: Bei
den Punkten des Arbeitsprogramms, die durchaus positiv sind, war es immer die Bundesregierung, die da auf
europäischer Ebene gebremst hat. Die Europäische
Kommission ist also deutlich weiter als diese Bundesregierung.
({0})
Von einem neuen Start war eben in der Rede des Kollegen Seif nicht viel zu merken. Auch das klang wieder
eher nach einem Bremsen. Tatsächlich ist aber eine andere Richtung notwendig.
Dabei ist es wichtig, die Probleme, die wir haben, zu
beschreiben: Wir haben nach wie vor eine ökonomische
Krise in Europa. Diese Krise hält an und ist keine reine
Staatsschuldenkrise, die durch billiges Geld verursacht
wurde; Ursache dieser Krise ist immer noch die Finanzkrise von 2008/2009. Außerdem ist, zumindest andeutungsweise, eine politische Krise zu erkennen: Die EU
hat Risse bekommen dadurch, dass viele Mitgliedstaaten
nur noch ihre nationalen Interessen verfolgen, allen voran diese Bundesregierung. Viele Bürgerinnen und
Bürger wenden sich leider ab, wählen nationale oder nationalistische Parteien, in manchen Ländern sogar faschistische Parteien. Der Zusammenhalt in Europa ist
gefährdet. Die Frage nach einem sozialen Europa - auch
da stimme ich dem Kollegen Spinrath voll zu - ist daher
tatsächlich eine Kernfrage. Sie wird in dem Arbeitsprogramm aber ein bisschen dünn beantwortet.
({1})
Wir müssen jetzt beide Probleme angehen. Dazu
brauchen wir eine Vision von Europa. Wo soll es eigentlich hingehen? „Neuer Start“ ist daher, glaube ich, die
richtige Überschrift für das Arbeitsprogramm. Für uns
ist wichtig, dass wir die Vision mit konkreten Schritten
verbinden, dass wir Ökologie, Ökonomie und Soziales
miteinander verbinden. Wir nennen das Ganze Grüner
New Deal. Das ist in der Tat das, was jetzt in Europa notwendig ist.
({2})
Zum Juncker-Plan. Der Juncker-Plan könnte tatsächlich eine Chance darstellen, aber nur unter folgenden Bedingungen: Es muss auch mehr öffentliche Investitionen
geben; die Investitionen müssen eine Richtung haben; es
müssen ökologische, soziale und vor allem in die Zukunft gerichtete Investitionen sein; und die Investitionen
müssen für Europa einen Mehrwert darstellen.
({3})
Eine weitere Bedingung ist, dass diese 21 Milliarden
Euro durch Gelder der Mitgliedstaaten aufgestockt werden. Die Möglichkeit dazu besteht. Die Bundesregierung
könnte da ein Vorbild sein: Wir schlagen vor, zusätzlich
12 Milliarden Euro in den Topf zu packen. Doch was
sagt die Bundesregierung? Wir geben 0 Euro zusätzlich
in diesen Topf. - So wird das nicht funktionieren.
({4})
- Stellen Sie eine Frage, dann kann ich darauf antworten.
Neben mehr Zukunftsinvestitionen brauchen wir aber
vor allen Dingen ein sozialeres Europa. Wir müssen endlich die soziale Schieflage beseitigen, die durch die Krisenpolitik entstanden ist. Wir brauchen eine stärkere Besteuerung der Reichen und Vermögenden; aber vor allen
Dingen müssen wir Maßnahmen gegen Armut ergreifen.
({5})
Strukturreformen kann es nämlich nur mit und nicht gegen die Menschen geben.
({6})
Strukturreformen müssen deshalb die soziale Sicherheit
stärken und dürfen sie nicht schwächen, so wie das in
Griechenland passiert ist.
Wir brauchen insgesamt mehr sichtbare Schritte für
ein sozialeres Europa. Die Bundesregierung muss sich
dafür einsetzen, dass in der EU eine Mindesteinkommensrichtlinie geschaffen wird, um flächendeckende
und angemessene Grundsicherungssysteme in allen EUStaaten sicherzustellen.
Die Bekämpfung der Armut und der Kampf gegen soziale Ausgrenzung müssen weiterhin zentrale Ziele der
EU sein. Im Moment gibt es auf EU-Ebene eine Debatte
darüber. Da wünsche mir die klare Stimme der Bundesregierung - bisher habe ich diese nicht gehört -, die sagt,
dass die Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung weiterhin Ziele auf EU-Ebene bleiben.
({7})
Angesichts der globalen Herausforderungen müssen
wir deutlicher machen, dass wir in Europa nur gemeinsam stark sind. Wir sitzen alle in einem Boot. Wenn es
irgendwo ein Leck gibt, sind wir alle betroffen. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass die zu beobachtenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
den Risse nicht zu einem Auseinanderbrechen der EU
führen. Ein soziales Europa ist der Kitt, der die EU zusammenhält.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Thomas Dörflinger.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man
wie ich das Vergnügen hat, über mehrere Jahre hinweg
die Berichterstattung zu einem bestimmten Thema zu
betreuen, dann schaut man sich in der Vorbereitung seiner Plenarrede natürlich an: Was haben wir denn letztes
Jahr zu diesem Thema erzählt?
({0})
Um zur Abwechslung einmal den Redner selbst zu zitieren: Da finden sich, bezogen auf das Arbeitsprogramm der Kommission 2014 und Vorjahre, Formulierungen wie: Da hat wohl jemand all das aufgeschrieben,
was einem zur Regulierung noch einfällt. Oder: Man gewinnt den Eindruck, da ist nicht für die nächsten zwölf
Monate, sondern für die nächsten zwölf Jahre geplant
worden, und das ist auch nur abarbeitbar unter der Voraussetzung, dass wir die Wochenenden und Feiertage
durcharbeiten und nächtens nur das Allernötigste schlafen. - Insofern ist der Untertitel „Ein neuer Start“ des
Arbeitsprogramms der Kommission 2015 unter JeanClaude Juncker durchaus berechtigt. Es hebt sich wohltuend von den Vorgängerentwürfen aus den Vorjahren
2014 und davor ab.
Das Programm ist teilweise, so kurz es auch gehalten
ist, erstaunlich konkret, etwa im Bereich Finanzen und
Steuern, Stichwort Finanztransaktionsteuer und die richtigen Schlüsse aus der Finanz- und Bankenkrise 2008 ff.
Es ist allerdings auch an einigen Stellen ein bisschen
schwammig. Beim Bereich „Integration und Migration“
etwa hätte man sich das an einigen Stellen etwas konkreter gewünscht. Das muss nicht zwangsläufig zu neuen
gesetzgeberischen Vorstößen führen - wir haben das
gestern im Ausschuss diskutiert -, aber man hätte verstärkt folgende Frage in den Blick nehmen sollen: Gibt
es bei schon bestehenden Regelungen - ich nenne als
Stichworte das Schengener Informationssystem und
Dublin - einen Optimierungsbedarf beim Vollzug? Das
wäre durchaus ein Thema, dem sich die Kommission in
den nächsten Monaten widmen könnte und sollte.
Wir kennen aus dem Deutschen Bundestag das Prinzip der Diskontinuität. Ins Deutsche übersetzt heißt das
einfach: Was bis zum Ende der Legislaturperiode nicht
abgearbeitet ist, klopfen wir in die Tonne. - Das hat sich
in den vielen Jahren, in denen es den Deutschen Bundestag gibt, als Arbeitsprinzip durchaus bewährt. Die Europäische Kommission ist noch nicht ganz so weit. Aber
ich will durchaus anerkennen, dass sich Jean-Claude
Juncker mit Blick auf das, was die Barroso-Kommission
übrig gelassen hat, wenigstens dem Vorhaben gestellt
hat, einen Strich zu ziehen und zu sagen: Einige Projekte
verfolgen wir weiter, und eine ganze Reihe von Projekten - über 80 an der Zahl - verfolgen wir nicht weiter,
weil sie uns aus den unterschiedlichsten Gründen nicht
sinnvoll erscheinen. - Das ist ein deutlicher Fortschritt
gegenüber dem, was in der Vergangenheit gemacht
wurde.
({1})
Von den Vorrednerinnen und Vorrednern ist verschiedentlich das Thema Entbürokratisierung angesprochen
worden. Nun hatten wir einen nicht unprominenten
Deutschen, Edmund Stoiber, der in diesem Sektor - und
das auch nicht ganz ohne Erfolg - unterwegs war.
({2})
Allerdings gehört zur Ehrlichkeit auch dazu, festzustellen, dass manches, was er sich zum Thema Entbürokratisierung vorgestellt hat, sich in der Praxis als nicht so einfach erwiesen hat.
({3})
Was ich Ihnen jetzt vortrage, fällt unter den Bereich
der Stilblüten - Zitat -:
Die Kommission wird ihr Instrumentarium für eine
bessere Rechtsetzung ({4}) verbessern und einen weiteren Katalog neuer Maßnahmen im Rahmen ihres
regulatorischen Eignungs- und Leistungsprogramms erarbeiten. Alle Organe müssen sich den
Grundsatz der besseren Rechtsetzung zu eigen machen, wenn wir den Gesetzgebungsprozess auf der
EU-Ebene effizienter gestalten wollen. Daher wird
die Kommission eine neue interinstitutionelle Vereinbarung über eine bessere Rechtsetzung vorschlagen.
Meine Damen und Herren, wer hat das begriffen?
({5})
Das Echo ist überschaubar. Ich habe nichts anderes erwartet. Darin verbirgt sich das Vorhaben, die Arbeit effizienter und unbürokratischer zu gestalten.
Ich sage nicht nur an die Adresse der Kommission,
sondern auch an die eigene Bundesregierung: Kinder,
macht es einfach einfacher. Wenn schon bei der Beschreibung des Vorhabens die Schwierigkeit darin liegt,
den Bürgerinnen und Bürgern das, was man vorhat, so
zu erklären, dass sie es auch verstehen, wird es unter
dem Strich etwas schwierig. Deswegen sage ich: Wenn
Entbürokratisierung, dann macht es wirklich einfacher,
und schreibt nicht so darüber, dass es niemand versteht!
({6})
Gibt es darüber hinaus eine Botschaft, die wir der Europäischen Kommission für die nächsten zwölf Monate
mitgeben möchten? Ich sage, ja. Meine persönliche Botschaft - sicherlich spreche ich hier auch im Namen meiner Fraktion - ist die folgende: Ich glaube, dass 2015
insbesondere bei einem Thema ein entscheidendes Jahr
für die Arbeit der Kommission wird, und das ist das
Thema Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es gibt aus dem
vorletzten Jahr eine schöne Übersicht der Europäischen
Kommission in Zusammenarbeit mit Eurostat darüber,
wer in den vergangenen über zehn Jahren die Vorgaben
des Stabilitätspaktes eingehalten hat und wer nicht. Mit
Verlaub, wir als Bundesrepublik Deutschland haben uns
in all den Jahren auch nicht mit Ruhm bekleckert. Das
muss man der Ehrlichkeit halber dazusagen.
({7})
Die Mehrzahl in dieser Übersicht ist orange und rot, die
Minderzahl ist grün markiert.
({8})
Das ist ein Zeichen dafür, dass wir, wenn wir Vertrauen in die Währung, in den Euro, dauerhaft erhalten
bzw. stärken wollen, die Stabilitätskriterien nicht als etwas betrachten dürfen, das irgendjemand auf ein Stück
Papier geschrieben hat und das der beliebigen Flexibilisierung unterliegt. Vielmehr müssen dann die Kriterien
etwas sein, das für die Zukunft gilt, und zwar egal, um
wen es geht. Ich sage das nicht nur mit Blick auf Griechenland, sondern auch mit Blick auf das eine oder andere Mitgliedsland der Europäischen Union,
({9})
mit denen wir über diese Frage im laufenden Jahr 2015
noch gelegentlich diskutieren müssen.
Es ist eine entscheidende Frage für den Erhalt und für
die Stärkung des Vertrauens in unsere Währung. Wenn
wir an dieser Stelle wackeln, dann werden wir am Ende
zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir nicht nur das
Vertrauen in die Währung nachhaltig beschädigt haben,
sondern dass wir auch einen nachhaltigen Beitrag dazu
geleistet haben, dass die Währung per se geschädigt ist.
Das kann in niemandes Interesse sein, weder in unserem
Interesse als Bundesrepublik Deutschland noch im Interesse der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Deswegen lautet meine herzliche Bitte sowohl an
die Europäische Kommission als auch an die Bundesregierung und das Hohe Haus, bei diesem Punkt in den
nächsten zwölf Monaten Sorgfalt walten zu lassen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank. - Für die Linke hat jetzt Andrej Hunko
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Seif!
Sie können Länder, die sich mitten in einer Depression befinden, nicht immer weiter ausquetschen.
({0})
Diese Worte von Präsident Obama - Sie stehen doch
sonst immer stramm, wenn er etwas sagt - sollten Sie
sich wirklich einmal zu Herzen nehmen.
({1})
Sie haben eben gesagt, das Problem in Griechenland
seien nicht die Programme, sondern es gebe nur innergriechische Probleme.
({2})
Wissen Sie noch, was das ist? Im Januar 2012 beschlossen wir im Bundestag in namentlicher Abstimmung das
zweite Griechenlandpaket. Ich will Ihnen einmal vorlesen, was darin steht:
Die Regierung führt die Umsetzung der 2010 eingeleiteten umfassenden Reform des Gesundheitssystems fort mit dem Ziel, die öffentlichen Gesundheitsausgaben … auf oder unter 6 Prozent des BIP
zu halten.
Was heißt das? Bei uns in Deutschland betragen die Gesundheitsausgaben 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Griechenland ist gezwungen worden, die Gesundheitsausgaben auf unter 6 Prozent zu senken. Es sind
jetzt nach Lancet 4,7 Prozent und nach Angaben der
griechischen Regierung nur noch 3,5 Prozent. Das heißt,
es ist ein katastrophales Programm. Über 30 Prozent haben keine Krankenversicherung mehr. Krankheiten sind
neu ausgebrochen. Das ist Ausquetschen. Das muss aufhören. Ich fordere die Bundesregierung auf, der neuen
griechischen Regierung eine Chance zu geben.
({3})
Ich möchte Sie jetzt etwas fragen, Herr Kollege
Hunko: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Sarrazin?
Bitte schön.
Herr Kollege Sarrazin.
Kollege Hunko, zunächst: Wir haben im Bundestag
nicht das Memorandum beschlossen.
({0})
Im Bundestag haben wir Einvernehmen hergestellt, die
Kredite auszuzahlen. Unserer Fraktion war es immer
sehr wichtig, zu betonen: Das Memorandum wurde von
der griechischen Politik beschlossen, und der Bundestag
gibt sein Einvernehmen dafür, dass die Kredite ausgezahlt werden können. Das heißt, hier zuzustimmen, ist
immer ein Akt der Solidarität mit Griechenland gewesen.
({1})
Hier abzulehnen, kann unterschiedlich interpretiert werden.
Zum Gesundheitssystem. Sie haben total recht, dass
das Gesundheitssystem in Griechenland in einer sehr
schlechten Lage ist und dass wir bereit sein müssen,
Geld auszugeben, um es zu verbessern. Ich glaube nur,
dass Sie in Ihren Redebeiträgen verpassen, zu erwähnen,
dass das Gesundheitssystem in Griechenland schon vor
der Krise in einer schlechten Lage war
({2})
- mit den pro Kopf höchsten Ausgaben in ganz Europa,
ohne dabei effizient zu sein oder dass Fakelaki abgestellt
worden wäre -,
({3})
dass das Gesundheitssystem durch die Krise erst recht in
eine schlimme Lage gekommen ist und dass man beides
machen muss: Geld dafür ausgeben, aber auch Strukturreformen angehen. Das fehlt mir in Ihren Debattenbeiträgen zum Gesundheitssystem.
In dem gleichen Programm ist festgeschrieben worden, dass eine Gesundheitsreform durchgeführt wird,
({4})
in deren Rahmen erstmals in der Geschichte Griechenlands eine Primärversorgung eingeführt werden soll. Ich
fände es toll, wenn wir gemeinsam dafür streiten würden, dass die Troika und die Bundesregierung Griechenland mehr Zeit lassen, diese Primärversorgung aufzubauen.
({5})
- Wissen Sie, Herr Kollege: Die Primärversorgung wird
im Rahmen der griechischen Gesundheitsreform auf den
Weg gebracht. Dass die griechische Regierung bisher
nicht genug gemacht hat, um die Gesundheitsreform anzugehen und endlich Hausärzte einzuführen, ist natürlich
ein Mangel. Deutschland und die Troika müssen mehr
darauf drängen, dass das geschieht. Aber man kann die
griechische Politik nicht aus der Verantwortung lassen.
({6})
Ich denke, es könnte eine große Chance sein, dass
Herr Tsipras das endlich angeht. Aber dann müssen Sie
Herrn Tsipras auch in die Pflicht nehmen.
({7})
Ich habe nicht die Hoffnung, dass Herr Kammenos auf
der Seite derjenigen stehen wird, die diese Reformen
wollen. - Das war eine Zwischenbemerkung; danke.
({8})
Jetzt hat überwiegend der Kollege Hunko das Wort.
({0})
Ich will auf den ersten Teil Ihrer Bemerkung eingehen, Herr Sarrazin, nämlich auf die Frage: Worüber haben wir damals eigentlich abgestimmt? Sie sagten, wir
hätten nur über Kredite abgestimmt und nicht über die
Memoranden bzw. die Programme.
({0})
Das ist falsch.
({1})
Die Kredite waren untrennbar verbunden mit den Memoranden - das haben wir auch damals gesagt -, die offensichtlich auch Sie ablehnen. Diese Memoranden
haben die Situation in Griechenland immer weiter verschlimmert und das Land in eine humanitäre Krise geführt.
({2})
Wenn Sie abgewartet hätten: Ich hätte auch noch etwas
dazu gesagt, welchen Anteil Griechenland selbst daran
hat.
Der Kollege Seif hat sich eben der griechischen Mythologie bedient und von Sisyphos gesprochen. Die Situation ist aber eine andere. Wir haben es in Griechenland mit einem Augiasstall zu tun,
({3})
mit einem Augiasstall, für den Ihre Schwesterparteien
Pasok und Nea Dimokratia verantwortlich sind. Wir sind
sehr wohl dafür, diesen Augiasstall aufzuräumen. Die
Rolle von Tsipras ist nicht die von Sisyphos, sondern die
von Herakles oder, wie er immer genannt wird, Herkules.
({4})
Dieser Augiasstall muss endlich ausgemistet werden.
Das muss in Griechenland passieren.
({5})
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem Investitionsplan von Juncker sagen. Immerhin tut Juncker so,
als ob erkannt wurde: Das Problem in der Euro-Zone ist
ein Investitionsproblem. Wir brauchen eigentlich öffentliche Investitionsprogramme. Aber das Programm, das
jetzt aufgelegt wurde - der Kollege hat es eben schon gesagt -, ist Voodoo-Ökonomie. Da werden 21 Milliarden
Euro öffentlicher Steuergelder zusammengeklaubt, dann
soll das Geld 15-fach gehebelt werden, und private Investitionen sollen damit induziert werden. Wenn Verluste gemacht werden, werden diese aus öffentlichen
Geldern bezahlt; es gibt also eine Risikoabsicherung.
Diese Politik der Sozialisierung von Verlusten und der
Privatisierung von Gewinnen lehnen wir ab.
({6})
Der Ausgang der Wahlen in Griechenland und die
Entwicklung in anderen südeuropäischen Ländern sind
ein demokratischer Aufschrei, der deutlich macht, dass
die bisherige Krisenpolitik in der Europäischen Union
gescheitert ist. Wir sollten diesen demokratischen Aufschrei ernst nehmen und nutzen, um zu dem zu kommen,
was Herr Spinrath eben gesagt hat: zu einem sozialen
Europa. Die Hände der griechischen Regierung sind ausgestreckt. Ich denke, wir sollten sie ergreifen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Bevor ich der Kollegin Groneberg das
Wort gebe, habe ich zwei Meldungen zu einer Kurzintervention. Als Erster hat sich der Kollege Weinberg gemeldet, danach der Kollege Stübgen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich fühle mich durch
die Ausführungen des Kollegen Sarrazin zur Situation
des Gesundheitswesens in Griechenland und die angeblichen Reformen doch etwas herausgefordert. In Griechenland wurden im Zuge der Troika-Politik etwa 3 000
Ärztinnen und Ärzte entlassen und Polikliniken geschlossen. Es gab keine Primärversorgung, sondern nur
eine sogenannte Notfallversorgung, die beispielsweise
noch nicht einmal onkologische Erkrankungen im Anfangsstadium abgedeckt hat, sondern nur im terminalen
Stadium, also im Endstadium.
({0})
Man muss sich das einmal vorstellen: Das bedeutet, erst
wenn Menschen im Sterben liegen, bekommen sie eine
Notfallversorgung. Über 30 Prozent der Menschen haben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung gehabt.
Wir haben die Gesundheitsversorgung in Griechenland
im Prinzip auf das Niveau eines Entwicklungslandes zurückgebracht. Das ist die reale Situation.
Das Reformprogramm, das dann unter Federführung
der Bundesregierung eingeführt worden ist, bestand im
Kern darin - das muss man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen -, in der Krankenhausfinanzierung die
Finanzierung über sogenannte DRG, also über Fallpauschalen, einzuführen. Das war im Wesentlichen nichts
anderes, als dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus in Deutschland einen Auftrag zuzuschieben,
was für die Gesundheitsversorgung, die Krankenhausversorgung in Griechenland überhaupt nichts gebracht
hat.
({1})
Vielen Dank. - Ich mache darauf aufmerksam, dass
nach unserer Geschäftsordnung die Zwischenbemerkungen kurz, bündig und präzise sein sollten.
({0})
Herr Kollege Weinberg, Sie haben den Kollegen
Sarrazin angesprochen. Das entspricht nicht ganz unserer Geschäftsordnung, weil der Kollege Sarrazin seinerseits auch nur eine Zwischenfrage gestellt hatte. Da Sie
die Kurzintervention nun aber einmal gemacht haben,
gebe ich dem Kollegen Sarrazin das Wort zur Erwiderung. Dann kommt anschließend der Kollege Stübgen. Bitte schön, Herr Sarrazin.
Herr Kollege, was ich sagen wollte, war, dass wir es
uns nicht zu einfach machen sollten. Wir sollten nicht so
tun, als seien die Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem in Griechenland alleine daran schuld, dass die Lage
dort so schlimm ist. Das alte System, das vergleichsweise teuer war, war auch nicht effizient. Die Troika hat
gemeinsam mit der griechischen Regierung erstmals dafür gesorgt, dass eine Primärversorgung eingeführt wird
- diese ist bis jetzt aber noch nicht in ausreichendem
Umfang eingeführt worden -, weil es teuer ist, immer
nur eine kostenlose Notfallversorgung im Krankenhaus
anzubieten, die noch dazu mit Fakelaki geregelt wurde.
Es ist billiger, wenn Menschen erst zum Hausarzt gehen,
gerade bei chronischen Erkrankungen oder wenn sie sich
in einem frühen Stadium einer Krankheit befinden. Sie
müssen doch erwähnen, dass es Sinn macht, weniger
Geld auszugeben und dafür das Gesundheitssystem, das
vorher wirklich korrupt war, das, wie Kollege Hunko gesagt hat, ein Augiusstall war, umzubauen.
Aus der Krankenversicherung in Griechenland ist
Geld herausgeholt worden ohne Ende. Ganz ehrlich: Wir
kennen so etwas auch aus Deutschland. Aber hier so zu
tun, als hätte man das nicht angehen müssen, das werfe
ich Ihnen vor. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie gesagt
haben, dass man mit Sparen aufhören solle.
({0})
Zu dem, was Sie zu den Krankenhäusern gesagt haben. Ich sage es mal ganz ehrlich: Der Vater einer Freundin von mir war Oberarzt an einem früher städtischen
Klinikum in Hamburg. Er musste in den 70er-Jahren in
die SPD eintreten, um Oberarzt werden zu können. - So
war das zum Teil auch in Griechenland. Lassen Sie uns
doch gemeinsam daran arbeiten, dass das Gesundheitssystem in Griechenland mit genügend Geld ausgestattet
ist. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es nicht dazu da
ist, parteipolitische Interessen zu bedienen. Ich habe
keine große Hoffnung, dass Ihr neuer Koalitionspartner
dafür steht.
({1})
Letzter Punkt. Ich glaube, wir müssen uns vor Augen
halten, dass die wirklich dramatische Lage im Gesundheitssystem in Griechenland nicht dadurch besser werden wird, dass wir jetzt weiter Druck hinsichtlich der Finanzierung ausüben. Die Ausgabenbegrenzung auf
6 Prozent sollte auf jeden Fall erreicht werden; das sehe
ich auch so. Aber lassen Sie uns das bitte zusammen formulieren, mit dem Anspruch auf Strukturreformen im
Gesundheitssystem. Lassen Sie die griechische Politik
nicht aus der Verantwortung, eine Gesundheitsreform
umzusetzen, die auch für mehr Effizienz sorgt.
Danke.
({2})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege
Stübgen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Zunächst noch kurz
zum Gesundheitssystem: Wenn Sie im letzten Jahrzehnt
nach Griechenland oder nach Zypern reisen wollten,
wurden Sie gewarnt, unter anderem vom Auswärtigen
Amt, im Falle einer Krankheit das staatliche Gesundheitssystem in Anspruch zu nehmen, weil die Gefährdung für Leib und Leben zu groß sei. Das war die Situation schon vor der Krise. Sie konnten sowohl in Zypern
- übrigens unter einem kommunistischen Präsidenten als auch in Griechenland in Privatkliniken sehr gute Gesundheitsleistungen bekommen, wenn Sie diese privat
bezahlt haben. Wenn Sie das Geld nicht hatten, wie die
Masse der Bevölkerung, sind Sie nicht versorgt worden.
({0})
Das sollte geändert werden. Das ist noch nicht ausreichend geändert worden, in der Tat. Aber dieser Ansatz
ist nicht falsch, sondern sehr richtig. Da müssen Sie die
ganze Wahrheit sagen.
Ich will noch kurz auf ein Thema von Herrn Hunko
eingehen, die sogenannte Voodoo-Ökonomie. Das ist ja
ein schöner Begriff für das Investitionspaket, bei dem
man davon ausgeht, dass es, wenn es funktioniert, zu einer 15-fachen Hebelwirkung kommen wird. Herr
Hunko, Sie sollten sich daran erinnern - wir haben das
im Ausschuss mehrfach diskutiert -: Die Europäische
Investitionsbank hat in den letzten vier Jahren eine 18fache Hebelwirkung bei den von ihr finanzierten Investitions- und Strukturprojekten erreicht. Es handelt sich
also nicht um Voodoo, sondern es ist nachgewiesen, dass
das geht. Sie wissen sehr genau - da sind wir uns ja,
denke ich, einig; Sie kritisieren es aber merkwürdigerweise -: Eines der Hauptprobleme der Krisenländer in
der Euro-Zone ist doch die Tatsache, dass dort kein
Wachstum stattfindet, dass nicht investiert wird, dass das
Bruttoinlandsprodukt nicht steigt.
({1})
Wenn es nicht steigt, haben Sie immer das Problem, dass
Sie bei den Ausgaben kürzen müssen. Wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt, können Sie auch mehr für soziale
Leistungen ausgeben.
({2})
Keiner kann Ihnen heute sagen - Herr Juncker nicht und
auch niemand von der Bundesregierung -, ob dieses
Investitionsprogramm so funktioniert, wie wir es uns
vorstellen. Aber dass wir versuchen, diese Not zu lindern, Europa voranzubringen und in erster Linie in den
Krisenländern mehr Wachstum, mehr Arbeit und mehr
Sozialausgaben zu generieren, müssten Sie eigentlich
unterstützen und mindestens loben, statt von VoodooÖkonomie zu faseln.
Danke.
({3})
Vielen Dank. - Das Wort zur Erwiderung hat jetzt der
Kollege Hunko.
Herr Kollege Stübgen, Sie haben zwei Punkte angesprochen: das griechische Gesundheitssystem und den
Investitionsplan von Herrn Juncker.
Zum griechischen Gesundheitssystem. Wir waren mit
dem Ausschuss in der letzten Legislatur zweimal in
Griechenland, das eine Mal mit Ihnen zusammen, das
andere Mal einige Mitglieder mit Herrn Krichbaum. Ich
habe für die zweite Reise dem Ausschuss vorgeschlagen,
dass wir uns dort das Gesundheitssystem anschauen,
dass wir Krankenhäuser besuchen. Leider war niemand
Ihrer Kollegen dazu bereit.
({0})
- Ich rede von den Regierungsfraktionen.
({1})
Ich musste mir im Rahmen dieser letzten Ausschussreise
alleine ein Krankenhaus in einem Stadtteil von Athen
anschauen. Dort herrschen wirklich Zustände - ich kann
das hier nicht weiter ausführen -, die dringend verändert
werden müssen
({2})
und die eben zum Teil auf diese Troika-Programme und
zum Teil auf innergriechische Probleme zurückgehen.
({3})
Ich schlage ganz konkret vor: Lassen Sie uns als Delegation des Ausschusses noch einmal gemeinsam nach
Griechenland fahren, um dort das Gesundheitssystem
anzuschauen, um uns damit zu konfrontieren,
({4})
wie es da aussieht, und dann auch hier qualifizierter diskutieren zu können.
({5})
Zum zweiten Punkt. Ich habe gesagt, ich begrüße es,
dass mindestens erkannt wird, dass wir einen Investitionsstau in der Euro-Zone haben. Wenn Sie aber selbst
sagen: „Ja, das könnte funktionieren“, dann ist mir das
zu wenig. Wir brauchen öffentliche Investitionsprogramme, die durch eine Vermögensabgabe und auch
durch eine Besteuerung der Reichen finanziert werden.
Geld ist in der Euro-Zone ausreichend vorhanden. Wir
brauchen diese Investitionsprogramme als echte öffentliche Investitionsprogramme und nicht im Rahmen dieser
komischen Konstruktion, wie sie gegenwärtig von Herrn
Juncker geplant ist.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Dann kommen wir jetzt wieder zu unserer offiziellen Rednerliste. Das Wort hat Gabriele
Groneberg, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dem
durchaus spannenden Thema jetzt wieder zurück zum
ambitionierten Arbeitsprogramm der EU-Kommission
und damit zu zwei gleichfalls spannenden Themen, nämlich zur geplanten Energieunion und zur digitalen Gesellschaft. Uns Sozialdemokraten ist in der Tat klar:
Auch da müssen die sozialen Komponenten besser beachtet werden. Das ist, ich sage einmal, verbesserungsbedürftig. Herr Dörflinger, Sie haben vollkommen recht:
Das Programm läuft in diesem Jahr nicht unter dem
Motto „Masse ist klasse“; man hat sich auf einige Punkte
beschränkt. Dadurch gibt es aber, denke ich, mehr Stoßwirkung in die richtige Richtung.
Zur geplanten Energieunion. Für Leute, die sich noch
nicht damit befasst haben: Es geht um die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes für Energieleistungen.
Dazu ist einiges zu sagen. Grund für die Eile bei der Beratung ist der Konflikt im Osten der Europäischen
Union. Der Gasstreit zwischen Russland und der
Ukraine ist nicht neu; den gab es schon vor einigen Jahren in extremer Form. Aber der seit Frühjahr letzten Jahres bestehende Konflikt zwischen den beiden Ländern
ufert jetzt aus. Wir sollten uns also damit befassen, dass
wir in Europa immer noch zu sehr von Erdöl- und Erdgaseinfuhren abhängig sind, und für die Zukunft eine
Regelung finden, das in den Griff zu bekommen. Der
Wunsch von Kommissionspräsident Juncker, unsere europäischen Ressourcen zu bündeln, unsere Infrastrukturen zu kombinieren und unsere Verhandlungsmacht gegenüber Drittländern zu stärken - das ist ganz wichtig -,
geht auf den Vorschlag von Polens ehemaligem Ministerpräsidenten Tusk zurück, die Energieabhängigkeit abzubauen und gleichzeitig unseren Energiemarkt für Länder außerhalb der EU offenzuhalten.
Fest steht jedenfalls: Es kann jederzeit in der EU
- und die ist sehr groß - zu einer Unterbrechung der
Energieversorgung kommen. Darüber hinaus können
sich mindestens 10 Prozent der Haushalte keine richtige
Heizung leisten. Im Übrigen wird immer noch viel zu
viel Energie verschwendet. Allein das zeigt die soziale
Komponente einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik auf. Energie bzw. Strom für jeden zu einem erschwinglichen Preis an jeden Ort zu bringen, sollte unser
Ziel sein. Das ist zugegebenermaßen ziemlich ambitioniert. Es wird schwierig sein, das zu erreichen. Die Energiepolitik ist immer auch mit einer funktionierenden Klimapolitik in Einklang zu bringen. Das ist die große
Herausforderung. 28 voneinander getrennte Energiepolitiken der Länder müssen unter einen Hut gebracht werden. Das allein in Deutschland zu organisieren, ist schon
schwierig. Ich verweise in dem Zusammenhang auf die
Widerspenstigkeit des bayerischen Ministerpräsidenten
Seehofer
({0})
in Bezug auf den Bau der für den Energietransport in
Deutschland notwendigen Stromleitungen. Das ist ein
schlechtes Beispiel. Davon abgesehen ist die Vernetzung
des europäischen Energiebinnenmarktes unbestritten ein
hehres Ziel. Wir müssen immer die Tatsache im Hinterkopf haben, dass wir es noch nicht einmal geschafft haben, einen gut funktionierenden Emissionshandel zu organisieren.
Die Beratungen über eine europäische Energieunion
nehmen nun Fahrt auf. Der gute Wille aller Beteiligten
wird notwendig sein, um kritische Probleme, wie zum
Beispiel die Wahl der Energiequellen der einzelnen Mitgliedstaaten, zu lösen. Wir sagen beispielsweise: Wir
wollen aus der Atomkraft raus. - Andere bauen Atomkraft aus. Mit Blick auf die Klimakonferenz in Paris
Ende 2015 hätten wir uns - das haben wir hier schon des
Öfteren gesagt - aus deutscher Sicht durchaus ambitioniertere Ziele für Klimapolitik im Arbeitsprogramm gewünscht.
Ich komme zu einem anderen spannenden Thema,
nämlich zum vernetzten digitalen Binnenmarkt. Die
digitale Gesellschaft ist nicht nur ein Schlagwort. Sie
bedeutet heutzutage Zugang zu sozialen Medien, zu
Information und Bildung. Sicherlich bedeutet dies in
Zukunft auch, dass zum Beispiel die altersgerechte Digitalisierung einer Wohnung einen längeren Verbleib in
den eigenen vier Wänden sichern kann. Digitalisierung
stellt für unsere Wirtschaft eine zwingend notwendige
Grundlage für internationalen Wettbewerb dar. Digitale
Infrastrukturen und Breitbandverbindungen müssen
grenzüberschreitend verfügbar sein. Unsere Wirtschaft
muss - das ist ganz klar - nicht für ein zweites Google
bereitstehen. Das Know-how aber, Datensicherheit und
Datensicherung zu entwickeln, kann durchaus zu einer
exponierten Stellung im Weltmarkt führen. Das Paket für
den digitalen Binnenmarkt ist daher eine sinnvolle Priorisierung im Arbeitsprogramm. Grenzüberschreitender
Zugang zu digitalen Diensten und gleiche Ausgangsbedingungen für über 500 Millionen Verbraucherinnen und
Verbraucher in der Europäischen Union, aber auch für
unsere Wirtschaft bzw. unsere Unternehmen, sind in einem gemeinsamen Europa einfach unerlässlich. So weit,
so gut.
Fest steht aber auch, dass die fortschreitende Digitalisierung untrennbar mit dem Schutz unserer Daten verbunden ist. Unser europäisches Datenschutzrecht von
1995 ist restlos überholt. Es befindet sich mindestens im
digitalen Mittelalter. Daher brauchen wir dringend eine
neue Datenschutzverordnung. Die Dominanz derjenigen
Unternehmen, die unsere Daten benutzen und zum Teil
vielleicht unrechtmäßig weitergeben, muss durch eine
vernünftige Grundverordnung gebändigt werden. Gerade nach den Anschlägen in Paris und angesichts der
aktuellen Entwicklung muss die EU auch Antworten auf
die terroristischen Herausforderungen geben, die bestehende Datenschutzrichtlinie überarbeiten und Konsequenzen aus der NSA-Affäre ziehen. Um geistiges Eigentum und technische Patente zu schützen, wird eine
Modernisierung des Urheberrechts ebenso unabdingbar
sein.
Die Schaffung eines digitalen europäischen Binnenmarktes bietet soziale Chancen und auch Herausforderungen. Das Potenzial des europäischen Arbeitsmarktes
und die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit können
in diesem Zusammenhang nicht einfach außer Acht gelassen werden. Die Medienkompetenz in allen Altersgruppen und in allen sozialen Schichten zu fördern, heißt
eben auch, die digitale Spaltung unserer Gesellschaft zu
verhindern. In diesem Sinne ist das Arbeitsprogramm
der Kommission sicherlich ein richtiger Schritt auf diesem Weg, und das 315-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm ist hier eine sehr gute Untermauerung.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Annalena
Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, dieser kleine Schlagabtausch hier
hat sehr deutlich gemacht, was Europa eben auch auszeichnet, nämlich, dass ein einfaches Bashing nicht simpel ist, weil das Mehrebenensystem verschiedene Verantwortungsträger hat. Hier macht nicht nur die böse EU
oder das böse Land Fehler, sondern das ist immer ein
Zusammenwirken. Mich irritiert deshalb sehr, dass Sie
von der CDU/CSU hier noch einmal deutlich gemacht
haben: Die letzte Kommission hat die ganzen Projekte
nicht hinbekommen. Jetzt soll sie mehr liefern. - Die
Kommission formuliert nur Arbeitsaufträge, auch in diesem Programm. Umgesetzt wird das dann von dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten. Das
heißt, alle Arbeitsaufträge, die in diesem Arbeitsprogramm stehen, richten sich vor allen Dingen an Sie als
Koalitionsfraktionen.
({0})
Wenn Herr Juncker mit dem Investitionsprogramm endlich ein großes Projekt in Europa angeht, kann man hier
nicht schwarz-weiß sagen: „Alles scheiße, wir wollen
das nicht so haben“, sondern muss konstruktiv daran arbeiten und sagen, wie man das eigentlich umsetzen will.
Hier stehen Sie in der Verantwortung.
({1})
- Ja, das kann man.
({2})
- Ich rede gerade; Sie können nachher gerne noch etwas
sagen.
({3})
Sie können dann auch nicht einfach sagen: Wir müssen mal gucken, was wir damit machen.
Sie haben versucht, Herrn Juncker gleich bei seinem
ersten großen Projekt ein Bein zu stellen. Als Erstes haben Sie eine Ramschliste nach Europa geschickt, um
dieses große Projekt anzugehen. Mittlerweile haben wir
Sie zum Glück überzeugt, dass das nicht sehr sinnvoll
war, und im Ausschuss wurde mehrfach betont - die
Liste ist jetzt vom Tisch -, dass das nur eine Idee war.
Ihre nächste Nebelkerze war - Herr Seif, Sie haben offensichtlich nicht verstanden, was das für eine Nebelkerze ist -, dass Sie verkündet haben, jetzt 8 Milliarden
Euro in dieses Investitionsprogramm zu stecken. Leider
stecken Sie dieses Geld aber nicht dort hinein, wo investiert werden müsste, nämlich in öffentliche große Projekte, sondern Sie entziehen Herrn Juncker einfach seine
Arbeitsgrundlage und sagen: Wir investieren nur in der
zweiten Stufe, um mit der KfW selber Rendite machen
zu können. Die Investitionen, die in anderen Ländern gebraucht werden, sind uns herzlich egal. - So funktioniert
das aber eben nicht. Wenn man fordert, dass Europa
Großes leistet, kann es nicht sein, dass die Großen keinen Beitrag dazu leisten.
({4})
Der zweite Punkt, bei dem Sie ganz stark in der Verantwortung stehen, sind die - Herr Dörflinger und Herr
Seif haben das hier sehr gelobt - REFIT-Vorschläge im
Arbeitsprogramm. Man will jetzt einzelne Projekte einfach
vom Tisch nehmen. Was wird vom Tisch genommen? Eine
der größten Errungenschaften Europas, nämlich das europäische Umweltschutzprogramm. Die Kommission hat
vorgeschlagen, dass das Maßnahmenpaket für saubere
Luft in Europa und das Paket zur Kreislaufwirtschaft
eingestellt werden sollen. Das ist nicht nur eine kleine
Aktion, sondern ein Angriff auf die Ziele der Europäischen Union, die gemäß Artikel 3 des Vertrages über die
Europäische Union für den Schutz der sauberen Umwelt
in Europa zu sorgen hat. Hier müssen Sie als Bundesregierung sagen: So geht das nicht!
({5})
Die Streichung dieser Punkte steht auch im Widerspruch zu dem von Ihnen vor zwei Jahren mit beschlossenen Umweltaktionsprogramm. Dieses Programm haben
Sie nicht nur aus nachhaltigen Gründen mit beschlossen,
sondern auch, um Investitionen in Europa anzuregen.
Diese beiden Pakete hätten zusammen 180 000 neue
Jobs in Europa gebracht, und es könnten 40 Milliarden
Euro gespart werden und in nachhaltige Projekte investiert werden. Das soll jetzt gekillt werden. Dafür kann
der Deutsche Bundestag doch nicht seine Zustimmung
geben.
({6})
Der dritte Punkt, bei dem die Bundesregierung aktiv
werden muss - Frau Groneberg hat es angesprochen;
aber es ist nicht allein Aufgabe der Europäischen Kommission, sondern der Rat spielt dabei eine entscheidende
Rolle -, betrifft den Emissionshandel, der ein entscheidendes Element Ihrer Klimaschutzmaßnahmen ist, und
die Energieunion. Bisher stehen Sie leider an der Außenlinie und warten ab, was in Europa so passieren soll. So
geht es nicht. Wenn wir nicht weiter auf Importe fossiler
Energien setzen wollen - die Importe fossiler Energien
nach Europa werden mit 400 Milliarden Euro jährlich
finanziert -, dann müssen wir als Deutscher Bundestag
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz klarmachen:
„Diese Energieunion kann es nur geben, wenn sie zu einer Klimaunion wird“, wie es einer der großen alten
Kommissare der Kommission ins Stammbuch geschrieben hat. Er hat zur Energieunion gesagt - ich zitiere -:
Es ist an der Zeit, den Enthusiasmus für eine Idee
wiederzufinden, die utopisch bleibt, aber verwirklicht werden kann. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren.
In diesem Sinne: Denken Sie groß, und denken Sie die
Energieunion als Klimaunion!
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock. Es wäre schön,
wenn wir in Zukunft auch in sprachlicher Hinsicht bei
den parlamentarischen Gepflogenheiten bleiben würden.
({0})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Christoph Bergner,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren als nationales Parlament den Arbeitsplan der
Europäischen Kommission. Kollege Spinrath hat die Debatte eröffnet und die Prioritäten und entsprechenden
Kernpunkte genannt, und Sie sind in der nachfolgenden
Debatte zu einer, wie zu erwarten war, unterschiedlichen
Bewertung gekommen.
Ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen anderen
Punkt lenken, der mir diesen Neuanfang der Kommission besonders wertvoll macht. Ich zitiere aus der Eröffnungsrede des neuen Kommissionspräsidenten im Juli:
Die Beziehungen zu den nationalen Parlamenten
sind für mich von großer Bedeutung, insbesondere
bei der Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips.
Ich werde erkunden, wie die Interaktion mit den nationalen Parlamenten als eine Möglichkeit zur Annäherung der Europäischen Union an ihre Bürgerinnen und Bürger verbessert werden kann.
Dieses Zitat ist mir nicht nur deshalb wichtig, weil
wir hier in einem nationalen Parlament diskutieren und
damit gewissermaßen auch eine besondere Ermunterung
durch den Kommissionspräsidenten erhalten, sondern
weil in diesem Zitat ein Problem der Europäischen Union
angesprochen ist, das wir nicht unterschätzen dürfen,
nämlich dass - im Umkehrschluss zu Junckers Zitat die Annäherung der Bürgerinnen und Bürger an die Europäische Union offenkundig verbesserungswürdig ist.
Wir sind in einer Situation, in der sich, wie in Demokratien nicht überraschend, in den unterschiedlichen
Ländern auch europafeindliche Parteien entwickeln.
Aber ich möchte nicht, dass mit Bürokratie, Bürgerferne
oder anderem diesen Parteien noch zusätzliche Argumente zuwachsen.
({0})
Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass wir uns die
Frage stellen, wie Bürgernähe auch auf europäischer
Ebene besser organisiert werden kann. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit das Buch „Europa neu erfinden“
unseres früheren Bundespräsidenten Roman Herzog gelesen, in dem er vor dem Überstaat Europa warnt, vor
der Gefahr, dass europäische Institutionen überstaatlichen Charakter erreichen und die Kontrolle durch den
Souverän nicht mehr vorhanden ist.
Ich finde, einer der großen Vorzüge dieses Arbeitsprogramms der Europäischen Kommission besteht darin,
dass es eine durchaus selbstkritische Analyse zum Ausgangspunkt genommen hat. Ich habe in dieser Hinsicht
viele Aussagen des Präsidenten Juncker sehr begrüßt.
Man hat eine Kommissionsstruktur geschaffen, die
schlanker und wechselseitig besser vernetzt ist; Herr Seif
hat das bereits entsprechend erläutert. Auch die Anonymisierung einzelner Kommissarentscheidungen wird
aufgehoben, indem gewissermaßen eine Diskontinuität
eingeführt wird. Das heißt, das gesamte Inventar, das
einmal geschaffen wurde, muss nicht ewig weitergeschleppt werden. Vielmehr ist man sehr sparsam, wenn
es um Rechtsetzungsinitiativen geht. Dieser Plan sieht
gerade 23 vor. Schließlich wird unter ausdrücklichem
Hinweis auf die Subsidiarität eine Konzentration auf
Kernziele vorgenommen.
Ich finde - deshalb habe ich das Zitat von Herrn
Juncker vorangestellt -, dass wir uns als nationales Parlament vornehmen sollten, zu prüfen, ob diese Vorsätze
durch die Politik erfüllt werden, ob beispielsweise die
Bürgernähe am Ende des Arbeitsplans tatsächlich zugenommen hat. Ich bin der Meinung, dass die Akzeptanz
unserer europäischen Institutionen in Zukunft wesentlich
von Bürgernähe abhängt. Wir sollten diese Herausforderung nicht unterschätzen und als nationales Parlament
die Kommission dabei unterstützen.
({1})
Nun ist über den Arbeitsplan der Kommission nicht
zu diskutieren, ohne auf die aktuellen Entwicklungen
einzugehen. Ich will zwei nennen.
Erstens. Das Jahr 2015 wartet mit besonderen Herausforderungen. Während wir die Ratifizierung der Assoziierungsverträge mit Georgien, Moldau und der Ukraine
beraten, ist einer unserer Vertragspartner, die Ukraine,
unmittelbares Opfer einer hybriden Kriegsführung Moskaus. Anliegen und Konzept der EU-Partnerschaftspolitik werden hier mit militärischen Mitteln infrage gestellt.
Wir sollten diese Herausforderung nicht unterschätzen.
({2})
Zweitens. Während wir als deutscher Haushaltsgesetzgeber heute Morgen über die Finanzaufsicht über
Versicherungen beraten haben, sind der deutsche und der
griechische Finanzminister zusammengetroffen und
konstituierte sich das neu gewählte Parlament in Athen.
Ich habe aus diesem Grund das Bedürfnis, hier in meiner
Rede Folgendes festzustellen: Ich respektiere die Entscheidung des griechischen Wählers und gratuliere parteiübergreifend den Kolleginnen und Kollegen, die ein
schwieriges Amt in Griechenland antreten. Aber ich
fühle mich vor dem Hintergrund mancher Debatte in den
letzten Tagen gedrängt, zu sagen: Auch die Parlamente
der Mitgliedstaaten - auch das deutsche Parlament sind demokratisch gewählt und demokratisch legitimiert.
({3})
- Ja, aber dann respektieren Sie bitte auch, dass viele
Entscheidungen, die nun als Diktat dargestellt und als
Bevormundung und Angriffe interpretiert werden,
({4})
von frei gewählten Mandatsträgern in Parlamenten getroffen wurden.
({5})
Ich lege großen Wert darauf, festzustellen, dass wir es
uns hier im deutschen Parlament mit den Entscheidungen betreffend die Griechenlandpakete - bis hin zu der
Entscheidung im Dezember letzten Jahres - nicht leicht
gemacht haben.
({6})
Die Opposition hat damals gesagt: Lasst sie nur Geld
ausgeben!
({7})
Widerspruch gab es aber auch in meiner Fraktion. Einige
meiner Kollegen waren der Auffassung, diese Haftung
könne dem deutschen Steuerzahler nicht zugemutet werden. Wir haben abgewogen, was möglich war, und haben
in Verantwortung und vor allem in Solidarität für Griechenland entschieden. Aber der Ton, der nun angeschlagen wird, ist in vielerlei Hinsicht nicht akzeptabel.
({8})
Wenn die These stimmt, dass zu einer Währungsunion auch immer eine politische Union gehört, dann ge8066
hört dazu, dass Parlamentsentscheidungen in gegenseitigem Respekt getroffen und berücksichtigt werden und
dass man in Wahlkämpfen nicht so tut, als ob alles vom
Himmel gefallen wäre.
Herzlichen Dank.
({9})
Das war jetzt ein wunderbares Schlusswort. Danke
schön. - Nächster Redner ist Joachim Poß für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich wollte Sie, Herr Kollege Bergner, noch kurz ergänzen. Ich glaube, dass sich jeder in der Politik, egal wo er
verortet ist, links, rechts oder in der Mitte, wo immer er
sich sieht, vor Hybris fürchten sollte. Auch für eine demokratisch gewählte griechische Regierung gilt: Mit
Hybris und der Attitüde „Wir wissen es alles besser, aber
wir übernehmen nicht die Verantwortung“ - die sich
durch die Entwicklung in Griechenland ergeben hat -,
mit Dilettantismus und Populismus kann man nicht erfolgreich sein.
({0})
Dann gibt es auch noch die Mischung von linkem und
rechtem Populismus. Diese Mischung ist für die weitere
Entwicklung in Europa hochgefährlich. Das will ich einmal deutlich sagen.
({1})
Das ist eine hochgefährliche Mischung. Sie verbündet
sich de facto mit der Partei von Le Pen und ähnlichen
Gruppierungen unter der Oberhoheit von Herrn Putin.
Das ist die Entwicklung, die wir derzeit hier erleben.
({2})
Nun zum Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie vorher noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Hunko?
Ja, natürlich.
Bitte schön, Herr Hunko.
Vielen Dank, Herr Kollege Poß. - Ist Ihnen bekannt,
dass die Regierung, die diese Programme vor der Wahl
2012 umgesetzt hatte, eine Regierung war, die sich aus
der griechischen Pasok, also Ihrer Schwesterpartei, aus
der Nea Dimokratia, der Schwesterpartei der Union, und
der wirklich rechtspopulistischen LAOS-Partei zusammensetzte? Mit letzterer Partei hat Ihre Schwesterpartei
eine Koalition gebildet. Damals habe ich überhaupt keinen Aufschrei über diese Regierung gehört, weil die Programme umgesetzt wurden. Jetzt regt man sich auf. Das
ist Doppelmoral. Ist Ihnen das bekannt? Können Sie
dazu etwas sagen? Das ist Hybris, Herr Poß.
({0})
Mir sind die Regierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte bekannt. Die griechischen Wählerinnen und
Wähler haben die beiden Parteien, die Sie jetzt genannt
haben, die konservative sowie die sozialdemokratische,
zu Recht abgewählt. Das darf aber nicht diejenigen, die
demokratisch gewählt wurden, dazu verleiten, in dem
Stil weiter fortzufahren, den sie jetzt an den Tag legen.
({0})
Im Interesse der griechischen Bevölkerung sollten sie einen anderen Ton und einen anderen Stil wählen. Sie sollten sich um die Probleme kümmern.
({1})
Denn das Kernproblem, lieber Kollege, ist doch, dass
in den letzten 40 Jahren die beiden politischen Parteien,
die Sie zu Recht genannt haben, in Verbindung mit den
Oligarchen, den Reichen und Mächtigen in Griechenland systematisch ihr eigenes Land ausgeplündert haben.
Das ist der Kern der Krise. Die Parteien haben verzichtet, die Reichen an der Finanzierung des Gemeinwesens
zu beteiligen. Das sollte die jetzige Regierung ändern,
({2})
sie sollte aber nicht solche Töne spucken, wie sie es in
den letzten Wochen und Tagen getan hat.
({3})
Ihr Verhalten bei den Paketen, über die wir hier abgestimmt haben, habe ich immer als jämmerlich empfunden. Sie haben sich der Verantwortung für die Existenz
der konkreten griechischen Menschen entzogen.
({4})
Wir haben die Verantwortung wahrgenommen, auch
wenn wir wissen, dass die ersten Rettungspakete wachstumsschädlich und sozial unausgewogenen waren.
({5})
Das ist unbestritten. Jedenfalls gilt das für die Pakete
2010 und 2011.
({6})
Inzwischen muss aber die Einsicht gewachsen sein, dass
zum Beispiel durch das Kommissionsarbeitsprogramm
und das Investitionspaket, das Juncker angestoßen hat,
die Chance besteht, aus dem Gegensatz - der ist ohnehin
künstlich - zwischen übertriebenem Sparen auf der einen Seite und Investieren und Strukturreformen auf der
anderen Seite auszubrechen. Was jedes europäische
Land braucht - das gilt auch für Deutschland -, ist ein
ausgewogener Mix von Investitionen und Strukturreformen. Auch in Deutschland brauchen wir dringend zusätzliche Investitionen.
({7})
Darum geht es jetzt.
({8})
Das ist der Schwerpunkt auch der neuen Präsidentschaft und der neuen Kommission. Alles das, was mit
der Sicherung von Arbeitsplätzen und mit der sozialen
Sicherheit zu tun hat, muss in den Mittelpunkt der europäischen Politik rücken. Die Menschen müssen spüren,
dass wir die wirtschaftliche und soziale Realität in Europa verbessern wollen. Das ist bisher nicht gelungen.
Das muss besser gelingen durch ein besseres Zusammenwirken der Kommission, der Mitgliedstaaten und
des Europäischen Parlaments.
({9})
Da müssen wir einen neuen Aufbruch organisieren. Von
ideologisch aufgeladenen Sündenbockdiskussionen, wie
sie von Ihnen betrieben werden, hat kein Mensch in
Griechenland konkret etwas; das nützt niemandem.
({10})
Gleichzeitig müssen wir - das betrifft mehr die Mitgliedstaaten - durch eine Besteuerung der Finanzmärkte
mit einer Finanztransaktionsteuer auf breiter Grundlage
die Lasten der Krise gerechter verteilen und zusätzlich
finanziellen Spielraum gewinnen. Schließlich müssen
wir schon in den nächsten Monaten sicherstellen - das
ist wiederum eine Aufgabe der Kommission -, dass das
skandalöse Steuerdumping multinationaler Konzerne
mit einem Schwerpunkt in den Beneluxländern ein Ende
nimmt.
Zu dieser Stunde wird im Europäischen Parlament beraten, wie die „Lux-Leaks-Affäre“ im Europäischen Parlament aufgearbeitet werden sollte. Falsche Rücksichtnahmen sollte es dabei auf keiner Seite geben.
({11})
Herr Juncker, Herr Dijsselbloem, Euro-Gruppen-Chef
und Finanzminister in den Niederlanden, und andere
Verantwortliche in den Mitgliedstaaten müssen daran
mitwirken, dass Großkonzerne in Europa zukünftig genauso wie kleine und mittlere Unternehmen besteuert
werden. Es darf kein Überbietungswettbewerb um die
höchsten Steuerrabatte zwischen europäischen Partnern
geduldet werden. Ein solcher Wettbewerb untergräbt die
Akzeptanz und fördert Nationalismus und Populismus.
Das muss verändert werden.
({12})
Da haben die Vorgängerkommission und auch Mitgliedstaaten manches Mal ein Auge zugedrückt.
({13})
Denn es war ja allgemein bekannt, was da lief; nur die
Dimension war nicht so bekannt und so transparent, wie
sie es in den letzten Wochen Gott sei Dank geworden ist.
Bei den drei von mir genannten Themen müssen wir
noch in diesem Jahr sichtbare Fortschritte erzielen. Nur
so können wir die Weiterentwicklung der europäischen
Idee gegen den Ansturm des nationalistischen rechten
und linken Populismus verteidigen. Dabei kommt es darauf an. Wer es mit Europa gut meint, kann es nicht mit
rechten oder linken Populisten halten, meine Damen und
Herren.
({14})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist jetzt die Kollegin Katrin Albsteiger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im letzten Jahr fanden die Europawahlen statt. Ich erinnere mich noch gut daran. Die öffentliche Debatte war
etwas einseitig: Auf der einen Seite standen die Medien.
Sie haben das Thema Europa von verschiedenen Seiten
sehr intensiv debattiert. Auf der anderen Seite stand die
Öffentlichkeit. - Na ja, da war die Debatte noch etwas
ausbaufähig.
Das beste Mittel gegen diese asymmetrische Debatte
kann nur sein, dass Europa näher zu den Menschen
kommt. Das geht nur über einen Weg: Die europäischen
Institutionen müssen deutlich machen, dass man den
Problemen, die innerhalb der Europäischen Union bestehen und denen die Menschen ausgesetzt sind, mit konkreten Verbesserungen tatsächlich begegnen kann.
Ein Blick in das Arbeitsprogramm 2015 zeigt deutlich: Es kann ein Aufbruchsignal sein. Zwei Punkte
möchte ich herausgreifen: Erstens. Die Kommission beschränkt sich jetzt erstmals - das steht dort schwarz auf
weiß - auf ihre Stärken. Sie wird dort aktiv, wo sie ihre
Stärken hat, wo sie wirklich etwas bewegen kann, wo sie
etwas viel besser kann als Einzelstaaten. Sie lässt die
Finger von den Punkten, wo sie nicht so gut ist. Sie überlässt es im Rahmen der Subsidiarität den Institutionen
vor Ort, Probleme zu lösen.
({0})
Zweitens. Die Kommission stellt den Menschen wieder in den Mittelpunkt. Sie setzt den Schwerpunkt ganz
klar auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in der
Europäischen Union. Das heißt in erster Linie, die Wirtschaft zu stärken und damit gleichzeitig die Arbeitslosigkeit abzubauen.
Europa hat das, wie wir alle wissen, dramatischerweise bitter nötig. Die Arbeitslosigkeit, auch die Jugendarbeitslosigkeit ist in manchen Ländern Europas erschreckend hoch. Sie liegt beispielsweise in Spanien oder in
Griechenland bei über 50 Prozent. Da wächst eine junge
Generation heran, die ohne Perspektive ist. Junge Menschen, die - wenn ich das so sagen darf - etwa in meinem Alter oder ein bisschen jünger als ich sind, haben
keine Perspektive; sie wissen nicht, wie es weitergeht.
Ich konnte mich davon selber überzeugen. Im Gespräch
mit diesen jungen Menschen wird schon deutlich - das
erfährt man, wenn man beispielsweise nach Griechenland reist -: Da leisten viele Einzelne Herausragendes,
um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Aber sie
können es manchmal nicht allein schaffen, sondern brauchen die Europäische Union, die ihnen Hilfestellung bietet, Hoffnung bietet und auch konkrete Perspektiven aufzeigt.
Diese Perspektiven und Hoffnungen verspricht, auf
dem Papier, auch das Arbeitsprogramm 2015. Wenn man
hineinschaut, dann sieht man, dass das Investitionsprogramm ein Teil des Ganzen ist. Aber als Bildungs- und
Forschungspolitikerin muss ich auf einen Malus hinweisen.
Mit dem neuen, weltweit größten Forschungsprogramm „Horizon 2020“ hat die Europäische Kommission ein sehr gutes Projekt gestartet. Darin stecken viele
Milliarden Euro, und es sind definitiv Investitionen in
die Zukunft. Aber leider muss in diesem Zusammenhang
gesagt werden, dass aus diesem Programm einige Milliarden Euro - 2,7, um genau zu sein - herausgezogen
und in das Investitionsprogramm geschoben werden;
faktisch wird gekürzt. Es muss uns allen doch klar sein:
Diese Milliarden, die herausgezogen werden, müssen
weiter für den Forschungsbereich reserviert bleiben. Es
ist an dieser Stelle ganz wesentlich, dass wir weiter in
die technologische Entwicklung investieren, dass wir
weiter in Wissenschaft und in Entwicklung investieren.
Das sind wesentliche Punkte. Es kann nicht immer nur
um Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen gehen; es muss
auch um Forschung gehen; denn das bringt uns weiter.
({1})
Für die Innovationsfähigkeit und für die Wettbewerbsfähigkeit Europas in der Welt ist das unumgänglich.
Trotz dieses Malusses - ich bin ja Optimistin - kann
man unter dem Strich sagen: Das Arbeitsprogramm als
Ganzes ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Die Schwerpunktsetzung ist ganz deutlich; eine klare Signalwirkung. Ich möchte an dieser Stelle auch jemandem danken, der zwar nicht der Kommission angehört,
aber trotzdem sehr großen Einfluss darauf genommen
hat, insbesondere darauf, dass sich die Europäische
Union jetzt auf das Wesentliche konzentriert, und das ist
der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber. Er
hat auch dafür gesorgt, dass die Handschrift der CSU in
dem Programm gewährleistet ist:
Erstens. Die Neustrukturierung der Kommission, die
Verschlankung der Arbeitsweise der Kommission - ein
Punkt aus unserem Programm für die Europawahl. Die
Konzentration auf die 23 Schwerpunktbereiche zeigt
deutlich, wie effizient die Kommission arbeiten kann,
wenn sie es denn will.
Zweitens. Mehr Mitsprache bei der Entstehung des
Programms - auch eine Forderung aus unserem Wahlkampf. Eine ganz klare Sache war dieses Mal bei der
Entstehung des Programms, dass die Mitgliedstaaten
und auch das Europäische Parlament mitgenommen
worden sind, dass das Programm mit ihnen abgestimmt
worden ist. Man hat endlich einmal im Vorfeld darüber
gesprochen, bevor es präsentiert wurde.
Drittens. Weniger Bürokratie - auch eine Forderung
aus dem Wahlkampf; ebenfalls umgesetzt. Im Übrigen
wurde schon im Vorfeld durch unseren Sonderberater für
Bürokratieabbau, Edmund Stoiber, Gutes geleistet. Er
hat in seiner Tätigkeit bis 2014 schon für Bürokratiekosteneinsparungen von über 33 Milliarden Euro gesorgt.
Meine Damen und Herren, der selbstgewählte Titel
des Arbeitsprogramms „Ein neuer Start“ ist ein guter Titel. Jetzt muss man dafür sorgen, dass es nicht bei der
Reklamewirkung bleibt, sondern dass sich in der konkreten Umsetzung in der Realität zeigt, wie gut dieses Programm sein kann.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b so-
wie Zusatzpunkt 1 auf:
21 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Stephan Kühn ({0}), Lisa Paus,
Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elektromobilität entschlossen fördern Chance für eine zukunftsfähige Mobilität
nutzen
Drucksache 18/3912
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
b) Beratung der Unterrichtung durch den Deutschen Ethikrat
Stellungnahme des Deutschen Ethikrates
Biosicherheit - Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft
Drucksache 18/1380
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz herstellen und Verhandlungen
über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über
den Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung
aufnehmen
Drucksache 18/3917
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe:
Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marco Wanderwitz, Ute Bertram, Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Welt neu denken - Der 100. Jahrestag der
Gründung des Bauhauses im Jahre 2019
Drucksachen 18/3727, 18/3911
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3911, den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3727 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkte 22 b bis 22 f. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 144 zu Petitionen
Drucksache 18/3844
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 145 zu Petitionen
Drucksache 18/3845
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 145 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 146 zu Petitionen
Drucksache 18/3846
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 147 zu Petitionen
Drucksache 18/3847
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 148 zu Petitionen
Drucksache 18/3848
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Teilumsetzung der Energieeffizienzrichtlinie und zur Verschiebung des Außer8070
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
krafttretens des § 47 g Absatz 2 des Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen
Drucksachen 18/3373, 18/3788
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Wirtschaft und Energie ({8})
Drucksache 18/3934
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Sind jetzt
alle da, die an der Debatte teilnehmen wollen?
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat
Dr. Nina Scheer, SPD-Fraktion.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute eine Teilumsetzung der europäischen Energieeffizienzrichtlinie. Es
geht darum, Energieauditpflichten für größere bzw.
Nicht-KMU, also nicht kleine und mittelständische Unternehmen, einzuführen.
Es ist wichtig, dass man, wenn man sich unsere Energieeffizienzziele vor Augen führt, dann auch Maßnahmen einführt, die den Unternehmen - sie sind hier angesprochen - verdeutlichen, wo sie stehen und welche
Maßnahmen ergriffen werden können, um Energie einzusparen. Anders ist es schwer, die Energieeffizienzziele
zu erreichen. Insofern ist es auch wichtig, dass wir feste,
klare Standards vorgeben. In der EU-Effizienzrichtlinie
ist mit dem Energieaudit nach der DIN EN 16247-1 auch
eine Mindestvorgabe zur Umsetzung vorgeschlagen.
Es ist auch Bestandteil des Gesetzes, dass solche
Nicht-KMU von der Energieauditpflicht befreit sein sollen, die weitergehende Maßnahmen ergreifen, also bereits Energiemanagementsysteme nach der ISO 50001
oder Umweltmanagementsysteme nach EMAS einführen. Das ist sinnvoll, weil man davon ausgehen kann,
dass das Audit ein zu Effizienzmaßnahmen hinführender
Schritt ist. Wenn Effizienzmaßnahmen in Form von
Energiemanagementsystemen oder Umweltmanagementsystemen nach EMAS eingeführt werden, ist also
davon auszugehen, dass das Audit damit schon umgesetzt ist.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es tatsächlich um eine Teilumsetzung geht. Wir haben mit dem
NAPE, dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz,
schon einige Sofortmaßnahmen auf den Weg gebracht.
Vonseiten des Ministeriums sind Programme zu Energieeffizienznetzwerken für Unternehmen und Kommunen
auf dem Weg gebracht worden. Es sind bessere Förderbedingungen für Mikro-KWK-Anlagen, ein Programm
zur Beratung von kleinen und mittelständischen Unternehmen und Kommunen zum Energieeinspar-Contracting umgesetzt worden. Das sind die ersten Schritte. Bei
dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich um einen weiteren Schritt, allerdings nur um eine Teilumsetzung der Energieeffizienzrichtline.
({0})
Wie schon angeklungen, werden mit diesem Gesetzentwurf Anreize geschaffen, um zu sehen, wo man im
Unternehmen steht. Alleine mit der besseren Information über die Energieverbräuche in den Unternehmen,
die damit einhergeht, ist zu erwarten, dass, unabhängig
von der Einführung von Energiemanagementsystemen,
weiterführende Schritte von selbst einsetzen werden.
Man kann erwarten, dass allein durch die Auditverpflichtungen Anreize gesetzt werden, weitere Umsetzungen vorzunehmen.
Zur Einordnung, weil die Kritik geäußert wurde, dass
mit dem Gesetz nur kleine und überschaubare Schritte
eingeleitet würden: Es wird prognostiziert, dass mit diesem Gesetz Einsparungen von 116 Petajoule umgesetzt
werden. Zur Orientierung: Das ist ungefähr eine Einsparleistung von 7 Prozent der anvisierten Energieeinsparziele. Das hört sich wenig an. Wir diskutieren zurzeit sehr viel über Energieeinsparmaßnahmen im
Bereich der energetischen Sanierung und im Bereich der
steuerlichen Förderung der energetischen Sanierung.
Auch dort sind es etwas über 7 Prozent der Einsparleistung. Es wird immer auf die Summe der Einsparmöglichkeiten ankommen. Insofern ist jeder einzelne Schritt,
auch die Einführung der Auditverpflichtung, ein wertvoller, wenn auch überschaubarer Schritt, der an dieser
Stelle nicht kleingeredet werden sollte.
({1})
Zum Verfahren muss man einige Punkte sagen. Es ist
sehr wichtig, dass dieses Gesetz schnell umgesetzt wird,
die Auditpflicht sehr schnell einsetzt. Wir sind etwas
knapp mit der Zeit. Am 5. Dezember muss es eingeführt
sein. Das heißt, die Unternehmen müssen bis dahin etwas umgesetzt haben. Deswegen ist es gut, wenn wir mit
diesem Gesetz schnell zum Abschluss kommen. Ich
möchte aber an dieser Stelle auch sagen, dass es Verzögerungen und Interventionen vonseiten des Koalitionspartners gab. Das sage ich mit einer bitteren Miene zum
Koalitionspartner. Wir haben jetzt ein schnelles Verfahren, das nötig ist. Insofern kann man darüber hinwegsehen, dass mit Blick auf die Umsetzungsfrist nicht alle
Vorschläge, die vonseiten der Opposition eingebracht
wurden, eingearbeitet werden konnten.
Einen weiteren Punkt möchte ich erwähnen, der bei
den parlamentarischen Verhandlungen zum Gesetzentwurf eine Rolle spielte. Es wurde versucht, eine Veränderung vorzunehmen, die als Verwässerung eingestuft
werden muss, wenn sie gekommen wäre. Ich bin froh darüber, dass wir uns nicht darauf verständigen konnten.
Es ist vom Koalitionspartner angemerkt worden, dass
man auch ein Managementsystem nach ISO 14001 als
Ausnahmetatbestand gelten lassen soll, einschließlich eines dann neu zu schaffenden Energieteils, denn nur dann
würde es den Anforderungen genügen. Sie wissen, der
Energieteil hätte neu erstellt werden müssen, es wäre zu
einer weiteren Verzögerung gekommen. Es hätte die Sache auch sehr intransparent gemacht. Man hätte damit
eher eine Schwächung von Qualitätsstandards zu befürchten. Ich bin froh, dass wir uns letztendlich darauf
einigen konnten, diese Aufweichung nicht aufzunehmen.
({2})
Der Normenkontrollrat hat eine gleichlautende Einschätzung abgegeben. Auch er hat sich mit diesem Vorschlag, die ISO 14001 als mögliche weitere Ausnahme
zu den Auditpflichten zuzulassen, explizit auseinandergesetzt. Er hat das abgelehnt.
Ich möchte des Weiteren die Ausnahmetatbestände
überhaupt ansprechen. Wenn es um die Einführung von
Energieeffizienzmaßnahmen, aber auch um hinführende
Maßnahmen wie die Einführung von Auditpflichten
geht, wird häufig gesagt, dass sie eine Belastung für die
Industrie seien. Das wird breit diskutiert. Überall wird
eingeflochten, wir seien in unserem Industrieland
schnell die Notleidenden, wenn die Energiekosten steigen und steigen. Ich möchte gerne auf dieses Argument
eingehen, weil es immer so unreflektiert angeführt wird.
Wenn man einmal genauer hinschaut und nicht nur den
Vergleich der Energiekosten zwischen den Ländern in
den Blick nimmt - da sind wir im internationalen Vergleich nun tatsächlich nicht gerade auf dem untersten
Level -, sondern über den Tellerrand hinausschaut und
sich auf die Energiestückkosten konzentriert, also darauf, welche Energiekosten in den einzelnen Produkten
stecken, dann sieht man, dass wir da ganz gut aufgestellt
sind.
Das heißt, wir werden unterm Strich nicht durch Maßnahmen geschädigt, die in puncto Energieeinsparung etwas
drücken und treiben. Ganz im Gegenteil: Die Unternehmen
werden damit konditioniert, sich etwas im technologischen
Bereich, im Energieeinsparbereich auszudenken, initiativ
zu werden und damit bei Zukunftstechnologien die Nase
vorn zu haben; denn auch Energieeffizienztechnologien
zählen zu den Zukunftstechnologien im weitesten Sinne.
Insofern verschaffen wir uns mit solchen Maßnahmen,
langfristig gesehen, sogar einen Wettbewerbsvorteil. Denn
der Energiestückkostenvergleich bedeutet im internationalen Maßstab nachweisbar, dass es Anreize gibt, Einsparungen vorzunehmen, die uns langfristig unempfindlicher
gegenüber steigenden Energiekosten und einer unüberschaubaren, unprognostizierbaren Energiekostenentwicklung machen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({3})
Dann möchte ich kurz auf zwei Punkte eingehen, die
wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens zu behandeln hatten. Zum einen ging es darum - das wurde
vonseiten der Unternehmen teilweise in nachvollziehbarer Form vorgebracht -: Wie weit ist es vielleicht doch
eine zu große Belastung für die Unternehmen, auch dann
Energieaudits durchzuführen, wenn es sehr vergleichbare Standorte gibt, also man wirklich ganz klar sagen
kann: „Hier macht es Sinn, Cluster zu bilden“, damit
man nicht an jedem einzelnen Standort einen Audit vornehmen muss, was ja auch mit Kosten verbunden ist? Insofern haben wir uns darauf verständigt, dass solche
Multi-Site-Verfahren zur Anwendung kommen, wenn es
für sinnvoll erachtet wird, weil es ohne Einbußen bei der
Qualität der Auditierung selbst möglich ist. Hier gilt es,
die Verhältnismäßigkeit und Repräsentativität bei der
Umsetzung durch das Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle, BAFA, prüfen zu lassen.
Zur Umsetzungsfrist möchte ich kurz sagen - ich
habe es am Anfang schon erwähnt -: Wir haben eine
knappe Umsetzungsfrist, die am 5. Dezember ausläuft.
Wir sollten bedenken, was ich am Anfang meiner Rede
gesagt habe: Wenn Unternehmen über die Auditverpflichtung hinausgehen, mehr machen, Energiemanagementsysteme einführen, ehrgeizig sind, deshalb etwas
mehr Zeit brauchen, aber schon erste nachweisbare Umsetzungsschritte machen, dann sollen sie nicht benachteiligt werden. Auch darauf sollte bei der Umsetzung des
Gesetzes geachtet werden. Wir haben vereinbart - das ist
Bestandteil unserer Änderungen -, dass die Unternehmen dadurch, dass sie mehr machen, keine Nachteile erleiden sollen.
Jetzt ist meine Zeit schon um. Ich hätte sonst noch
kurz zwei Punkte aus dem Entschließungsantrag der
Grünen angesprochen. Dafür fehlt mir nun die Zeit.
({4})
- Ja, ich hatte elf Minuten Redezeit, aber es ist so. - Ich
mache also an dieser Stelle einen Punkt.
Ich denke, wir werden mit diesem Gesetz einen guten
Schritt nach vorne machen, auch wenn es hier um eine
überschaubare Materie geht. Die Einführung des Auditsystems ist aber ein wichtiger, wertvoller Schritt.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Eva Bulling-Schröter ist die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir hoffen jetzt, dass das Teilgesetz, das wir heute erneut debattieren, nicht beispielgebend für die Gesetze
und Verordnungen ist, die in diesem Jahr im Bereich
Energieeffizienz - da muss ja noch etwas kommen - zu
erwarten sind. Wir sagen Ihnen: Dieses Teilgesetz ist
Stückwerk.
({0})
Es ist der erste konkrete Aufschlag, den die Bundesregierung nach dem 3. Dezember vergangenen Jahres
macht. Sie wollte sich mit dem Aktionsplan Klimaschutz
und dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz in der
Öffentlichkeit als Klimaretterin in Szene setzen. Das Ergebnis ist eine harte Landung auf dem Boden der Tatsachen. Es ist wirklich nur ein müder Abklatsch von den
Sonntagsreden zur Energieeffizienz und zu den Energieeffizienzzielen, eine kraftlose und mutlose Minimallösung.
({1})
Ich frage Sie von der Bundesregierung: Wo ist denn
nun der Wille, den schlafenden Riesen namens Energieeffizienz zu wecken? Haben Sie insgeheim schon aufgegeben? Denken Sie, mit einer solchen Zaghaftigkeit
kann man einen Riesen wecken? Ich erwarte da mehr
Schwung und Begeisterung.
({2})
Ich erinnere noch einmal daran, dass vonseiten der
EU bereits ein Klageverfahren zur Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie anhängig ist - viele von den Zuhörerinnen und Zuhörern wissen das nicht -, weil die Umsetzung bereits im Juni vergangenen Jahres hätte passiert
sein müssen. Ich halte es für einen peinlichen Vorgang,
wenn in einer sogenannten Teilumsetzung die Energieaudits für größere Unternehmen in Gesetzesform gegossen werden, damit wenigstens eine von der EU vorgegebene Frist - sie endet im Dezember 2015 - eingehalten
werden kann.
Der Gesetzentwurf zur Teilumsetzung fällt wenig ambitioniert aus. Er erfüllt eins zu eins die Vorgaben der
EU; nicht weniger, aber auch nicht mehr. Man könnte
auch sagen: Die Bundesregierung macht Dienst nach
Vorschrift.
({3})
Für ein Land, das sich innerhalb der EU gerne immer
wieder in Bezug auf Energie- und Klimaziele wie ein
Musterschüler benimmt, ist diese Leistung - in Noten
ausgedrückt - gerade einmal ausreichend, also eine Vier.
({4})
Wir erwarten von der Bundesregierung aber kein Stückwerk, sondern wir erwarten, dass sie glaubhaften Willen
und echten Ehrgeiz zeigt, um die Energiesparziele bis
2020 wirklich zu erreichen. Mit Dienst nach Vorschrift
wird das nicht gelingen.
({5})
Da die Bundesregierung dieses Thema verschleppt
hat, ergibt sich für die circa 50 000 betroffenen Unternehmen nun ein praktisches Problem: Sie müssen ganz
schnell handeln, um bis zum 5. Dezember 2015 ein
Energieaudit durchzuführen oder zumindest zu beginnen. In den nächsten Wochen und Monaten wird dann
ein Run auf die begrenzte Zahl von Auditoren und Ingenieurbüros einsetzen. Viele von ihnen wissen nicht einmal, dass sie spätestens nach zehn Monaten eine Zertifizierung durchlaufen müssen. Das ist ein Problem.
Wir wissen aber, dass nicht nur in den großen Unternehmen Potenziale schlummern, die durch die Umsetzung freigesetzt werden können. Das gilt ebenso für die
mittleren und kleinen Unternehmen, die die Masse der
Unternehmen in Deutschland bilden. Gerade diejenigen
Betriebe, die von Energievergünstigungen profitieren,
zum Beispiel bei der EEG-Umlage oder beim Spitzenausgleich, sind weniger motiviert, Energie einzusparen.
Deshalb sollten sie grundsätzlich zu Energiemanagementsystemen und zu Einsparmaßnahmen verpflichtet
werden.
({6})
Dann kommen wir zu der eigentlich interessanten
Frage: Wie wird gewährleistet, dass die Einsparmaßnahmen auch umgesetzt werden? Keines der auditierten Unternehmen ist an irgendwelche Energiesparmaßnahmen
gebunden. Die Ergebnisse der Audits brauchen nicht
umgesetzt zu werden, es gibt nur eine Dokumentationspflicht. Würde die Bundesregierung hingegen die Klimaschutzlücke und ihre eigenen Einsparziele ernst nehmen, dann wäre sie ambitionierter vorgegangen.
Reden wir über die Sachverständigen, die in der Anhörung festgestellt haben, dass Audits nur ein erster
Schritt sind. Es müsste eigentlich darum gehen, Energiemanagementsysteme bei den Unternehmen einzuführen,
weil diese wesentlich erfolgversprechender sind. Also
tun Sie es doch!
({7})
Sollen wir nun ein Loblied auf die Bundesregierung
singen,
({8})
weil sie zwei Jahre nach Inkrafttreten der EU-Energieeffizienzrichtlinie endlich ein ausreichendes Ergebnis abgeliefert hat?
({9})
Wir sagen: Nein! Auch wenn es Ihnen nicht passt: Das
ist eher ein jämmerliches Bild. Wir hätten wirklich mehr
erwartet.
({10})
Danke schön. - Nächste Rednerin ist Dr. Herlind
Gundelach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kollegin von der Fraktion Die Linke hat versucht,
hier den Eindruck zu erwecken, dass das Thema Energieeffizienz in diesem Haus nicht bekannt ist
({0})
und auch in der Bundesrepublik Deutschland und der
Wirtschaft nicht.
({1})
Dazu muss ich sagen: Ich glaube, dem ist nicht so. Die
Industrie hat - so ehrlich sollten wir sein - schon lange
vor uns verstanden, wie wichtig Energieeffizienz ist.
({2})
Deswegen propagiert sie dieses Thema schon seit langer
Zeit und macht auch schon eine ganze Menge.
Viele Unternehmen in Deutschland, vor allen Dingen
die Unternehmen, die stromintensiv produzieren, sind
weltweit Vorreiter, wenn es um energieeffiziente Lösungskonzepte und Produktionsweisen geht. Dafür gibt
es auch hinlänglich Belege. Die Gründe dafür sind denkbar einfach: Das Eigeninteresse der Firmen und der
Markt steuern die Unternehmen fast zwangsläufig in
diese Richtung.
({3})
Es gibt Firmen, die schon sehr früh auf innovative Technik gesetzt haben, auch aus Überzeugung. So können wir
heute feststellen, dass die energieintensiven Industrieunternehmen in Deutschland bereits jetzt die Effizienzstandardziele von 2050 erreichen.
({4})
Nur so haben wir es in der Bundesrepublik Deutschland geschafft, das Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch abzukoppeln. Das ist uns übrigens schon im
letzten Jahrhundert - jetzt darf man das ja sagen - gelungen. In den letzten Jahren haben das Gewerbe, der Handel und die Industrie jährlich durchschnittlich 10 Prozent
Energie einsparen können. Das ist meines Erachtens
überaus erfreulich. Dennoch gibt es selbstverständlich
noch immer erhebliche ungenutzte Potenziale. Genau
hier setzen die europäische Effizienzrichtlinie und der
im Dezember letzten Jahres verabschiedete Nationale
Aktionsplan Energieeffizienz an.
Ich denke, wir sind uns darüber im Klaren, dass, wenn
man bereits energieeffiziente Lösungen nutzt, es nicht so
ganz einfach ist, sich zu steigern, als wenn man bei null
anfängt. Es bedarf daher einer ganz genauen Analyse,
welche Hemmnisse und Barrieren bestehen. Die Rahmenbedingungen in Deutschland sind, insgesamt betrachtet, gut. Man muss vor allem aufpassen, dass man
die erzielten Erfolge nicht durch neue Regelungen zunichtemacht. Augenmaß ist hier ganz besonders wichtig.
Die Vergangenheit hat eines ganz klar gezeigt: Bei
den Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz
muss man auch auf die Wirtschaftlichkeit achten. Diese
Maßgabe ist für uns, die CDU/CSU-Fraktion, nicht verhandelbar. Deshalb haben wir darauf auch bei der Ausarbeitung des heute zu verabschiedenden Gesetzentwurfs
unser Augenmerk gelegt. Die Koalitionsfraktionen flankieren den Gesetzentwurf durch einen gemeinsamen
Entschließungsantrag und einen Änderungsantrag.
Ich glaube, ich brauche nicht konkret darauf einzugehen, was mit diesem Gesetz geregelt werden soll. Start
soll - die Kollegin Scheer hat das hier schon gesagt - im
Dezember dieses Jahres sein. Das stellt für die Unternehmen die erste Hürde dar. Da wir aus den unterschiedlichsten Gründen hinsichtlich der Umsetzung der EED
- das muss man zugeben - ein wenig der Zeit hinterherhinken, ist jetzt natürlich auch die Umsetzungsfrist für
die Unternehmen etwas kurz. Darauf haben wir reagiert;
das werde ich gleich noch erläutern.
Die Anhörung in der vergangenen Woche hat gezeigt,
dass es auch an weiteren Punkten der Klarstellung bedarf. Worum geht es dabei? Wie schon erwähnt, werden
Nicht-KMU, ausgehend von einer eigenständigen EUDefinition von KMU, verpflichtet, ein Energieaudit
durchzuführen. Konkret sind nach EU-Definition kleine
und mittelständische Unternehmen, die, die weniger als
250 Beschäftigte haben, maximal 50 Millionen Euro
Umsatzerlös oder maximal 43 Millionen Euro Bilanzsumme. Unsere Nachbarn in Frankreich haben eine eigenständige Definition gewählt und diese ins Gesetz geschrieben. Das dient der Reduzierung der Zahl der in
Frankreich betroffenen Unternehmen. Nach unserer Auffassung ist dies nicht europarechtskonform. Deswegen
haben wir uns für eine klassische Eins-zu-eins-Umsetzung entschieden, was wir im Übrigen auch in vielen anderen Fällen machen.
Auf der Grundlage des Gesetzes müssen in Deutschland jetzt circa 50 000 Unternehmen Energieaudits
durchführen. Im Rahmen eines Energieaudits werden anhand anerkannter Standards die Verbräuche eines Unternehmens festgestellt und Handlungsempfehlungen für
Einsparungen verfasst. Schätzungen zufolge können Energieaudits Energieeinsparpotenziale von bis zu 20 Prozent
aufzeigen. Man muss aber beachten, wie ich schon ausgeführt habe, dass viele der betroffenen Unternehmen
aus Eigeninteresse bereits höchst energieeffizient arbeiten. Überdies werden im Rahmen eines Audits - da
stimme ich Ihnen zu, Frau Bulling-Schröter - nur die
Verbräuche festgestellt. Damit wird noch nichts eingespart. Man sollte daher nicht zu hohe Erwartungen an die
Auditpflicht haben.
Grundsätzlich sind Audits ein wichtiger Schritt in die
richtige Richtung. Denn auf der Grundlage dieser anerkannten Standards verbessern wir die Datenlage erheblich und erlangen nunmehr vor allen Dingen eine genaue
Erkenntnis über die spezifischen Energieverbräuche der
einzelnen Unternehmen. Daraus wiederum lassen sich
wichtige Schlüsse ziehen.
Audits sind ein guter Zwischenschritt für die Erreichung unserer Effizienzziele. In der Regel - das hat die
Vergangenheit auch gezeigt - sind sie ein Ansporn für
Unternehmen, die noch nicht gehobenen Potenziale auch
tatsächlich zu nutzen, wie uns die Implementierung von
EMAS schon vor vielen Jahren eindrucksvoll bewiesen
hat.
Audits führen, wie gesagt, nicht zwangsläufig zu Einsparungen. Um aus der Einführung von verpflichtenden
Energieaudits einen möglichst hohen Nutzen zur Steigerung der Energieeffizienz zu ziehen, ist es von Bedeutung, dass wir kein Kapital unnötig binden. Folglich ist
es richtig, den bürokratischen Aufwand so gering wie
möglich zu halten. Darüber hinaus sollten nicht zielführende Maßnahmen tunlichst vermieden werden. Denn es
ist ganz einfach: Geld, das für den bürokratischen Aufwand ausgegeben wird, ist in der Regel nicht mehr da,
um es in die Energieeffizienzsteigerung zu investieren.
({5})
Genau an diesem Gedanken setzen unser Entschließungs- und unser Änderungsantrag an. Wir möchten damit erreichen, dass im Vollzug die Hauptzielrichtung
nicht außer Acht gelassen wird. So fordern wir, dass es
für Unternehmen mit einer Filialstruktur, sofern diese
gleichartige Standorte haben, möglich sein muss, die Erkenntnisse aus den Untersuchungen zu übertragen und
die notwendigen Daten im Rahmen eines Multi-SiteVerfahrens zu erfassen. Ich glaube, das bedeutet für viele
dieser Betriebe eine Erleichterung.
Ebenso erachten wir es beim Vollzug für sinnvoll,
Amortisationszeiten mit Lebenszykluskostenanalysen
gleichzusetzen, sofern die Erstellung von Lebenszykluskostenanalysen einen nicht vertretbaren Mehraufwand
bedeutet.
Genauso wichtig ist es uns, dass qualifiziertes Personal in den Unternehmen auch weiterhin Audits durchführen kann. Denn hier muss eine praxisgerechte Lösung
gefunden werden, da auch sonst unnötige Kosten verursacht werden.
Ich habe bereits erwähnt, dass wir ein wenig in Verzug sind. Deswegen sprechen wir uns dafür aus, dass im
Vollzug darauf geachtet wird, dass Unternehmen, die
umfassende Energiemanagementsysteme als Antwort
auf die Auditpflicht einführen wollen - Freu Scheer hat
darauf schon hingewiesen - und damit sogar noch einen
Schritt weiter gehen, als durch die Richtlinie von ihnen
gefordert, nicht für die Verzögerung durch uns bestraft
werden.
Aber auch diejenigen, die nur das geforderte Audit
durchführen, sollen, sofern sie nachweisen können, dass
die Verzögerung nicht durch Eigenverschulden herbeigeführt wurde, nicht mit Pönalen belegt werden, wie sie die
EED im Übrigen vorsieht. Ich denke, das sind praktikable Vorschläge, die wir gemacht haben, die auch das
Bundeswirtschaftsministerium - so hat man uns zugesagt - im Rahmen des Vollzugs berücksichtigen wird.
({6})
Energieeffizienz ist zweifellos eine Chance. An diesem Gedanken sollten wir festhalten. Deswegen hoffe
und setze ich darauf, dass wir im Rahmen der Umsetzung des NAPE und der vielen Maßnahmen und Regelungen, die noch vor uns stehen, weiterhin konstruktiv
zusammenarbeiten.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Julia
Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Zum vorliegenden Gesetzentwurf
hatten wir letzte Woche eine sehr interessante Expertenanhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Dabei haben wir, so finde ich, sehr wertvolle Hinweise bekommen, wie das Gesetz noch effektiver werden könnte.
Wir Grüne haben zahlreiche dieser Punkte, die von den
Experten an uns herangetragen wurden, in unserem Antrag aufgegriffen. Wir fordern, die Umsetzung von Artikel 8 der Energieeffizienzrichtlinie jetzt endlich dafür zu
nutzen, in der Energieeffizienzpolitik einen entscheidenden Schritt voranzukommen und mehr als nur das Allernötigste zu tun.
({0})
Schade, dass die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aus der SPD- und Unionsfraktion dem jetzt nicht folgen. Ich dachte eigentlich, es wäre auch bei Ihnen Konsens, dass wir die hohen Energieeinsparpotenziale in den
Unternehmen heben wollen. Sie verpassen damit zum
wiederholten Male die Chance, den selbstgesteckten
Zielen der Bundesregierung zum Energiesparen etwas
näher zu kommen, wenigstens bis zum Jahr 2020.
({1})
- Ich glaube eben nicht, dass Sie das schaffen. Ich will es
einmal so sagen: Es wäre nicht so tragisch, wenn es nur
darum ginge, ob Sie im Jahr 2020 in Ihrem Monitoringbericht zur Energiewende, wenn Ihre Energiesparziele
evaluiert worden sind, ein paar Häkchen machen können
oder nicht. Um diese Häkchen geht es mir ja überhaupt
nicht. Das ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr um die
Frage, ob Sie den Klimaschutz ernst nehmen. Wenn das
so ist, dann müssen Sie auch danach handeln, und das
heißt: keine ambitionslosen Minimallösungen beim
Energiesparen, sondern schlüssige und zukunftsorientierte Energieeffizienzpolitik.
({2})
Sie lassen aber die Gelegenheit wie auch schon letztes
Jahr verstreichen, als Sie den Bundeshaushalt nicht mit
den ausreichenden Mitteln für die Energieeffizienz ausgestattet haben. Es bleibt weiterhin unklar, wann Sie die
Maßnahmen aus dem NAPE, aus dem Nationalen AkDr. Julia Verlinden
tionsplan Energieeffizienz, die haushaltsrelevant sind,
überhaupt umsetzen können. Sie schieben die Energieeffizienz auf die lange Bank, übrigens genau wie die dringend notwendige Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes.
({3})
Ich sage Ihnen: So kann das nicht weitergehen. Übrigens, den Zeitdruck, den Frau Gundelach eben angesprochen hat - sie sagte, dass wir ein wenig in Verzug sind
und viele Unternehmen jetzt unter Zeitdruck sind, weil
sie ihre Pflichten natürlich rechtzeitig erfüllen wollen
und sollen -, haben natürlich Sie zu verantworten; denn
die Bundesregierung hätte die Umsetzung der Richtlinie
schon viel früher vornehmen können.
({4})
Unser Entschließungsantrag, den wir zu dieser Gesetzesnovelle gestellt haben, enthält die richtigen Antworten, um die Energieeffizienzziele zu erreichen. Wir merken ja, dass Energieeffizienzmaßnahmen oft nicht von
allein passieren, selbst wenn sie sich rechnen; das ist ja
das Problem. Es gibt zwar - das wurde schon angesprochen - viele Unternehmen, die sehr konsequent an dem
Thema dran sind, die bereits große Energieeffizienzsprünge geschafft haben, die ein Energiemanagementsystem eingeführt haben, denen das Thema wichtig ist,
die es als Zukunftsaufgabe und auch als betriebswirtschaftliche Notwendigkeit erkannt haben, aber es gibt
eben auch Betriebe - dazu gehören vor allen Dingen
viele kleine und mittlere Betriebe -, denen es an Informationen fehlt, denen Personal und Ressourcen fehlen,
um sich darum zu kümmern. Genau da hilft gute Beratung.
Was spricht also eigentlich dagegen, auch diese kleinen und mittleren Unternehmen in die Auditpflicht
einzubeziehen, insbesondere wenn sie einen hohen Energiekostenanteil haben? Es ist doch gerade für die energieintensiven Unternehmen wichtig, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch einen effizienteren Umgang mit Energie
zu verbessern. Hier machten sich jede Analyse und Beratung bezahlt.
({5})
Energieaudits, die den Energieverbrauch in einem
Unternehmen untersuchen, sind ein erster Schritt - das
ist klar -, um Energieeffizienzpotenziale zu identifizieren. Aber noch viel besser wäre es doch, wenn ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess eingeführt würde,
wenn wir den Unternehmen vorgeben, dass sie Einsparmaßnahmen, die wirtschaftlich sinnvoll sind, auch tatsächlich umsetzen. Genau darum geht es doch. Was
nutzt es uns, wenn die Unternehmen durch ein verpflichtendes Audit herausfinden, welche Potenziale zum Energiesparen geeignet sind, aber diese Maßnahmen dann
nicht angepackt werden? Energiemanagementsysteme,
bei denen es genau darum geht - denn sie beinhalten genau diesen fortdauernden Prozess -, wären deutlich
nachhaltiger und konsequenter.
({6})
Überhaupt: Wir wollen keine Energieverschwendung
belohnen. Wenn Unternehmen Vergünstigungen und
Ausnahmen in Anspruch nehmen, zum Beispiel die Besondere Ausgleichsregelung beim EEG oder den Spitzenausgleich bei der Energiesteuer, dann können wir ja
wohl von diesen Unternehmen auch erwarten, dass sie
zunächst sämtliche existierenden Effizienzpotenziale
nutzen, anstatt sich darauf auszuruhen, dass andere für
sie mitzahlen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von der Union, ich fordere sie auf: Tun Sie mehr als nur
das Allernötigste, zu dem Sie laut EU-Richtlinie verpflichtet sind. Frau Bulling-Schröter hatte eben so schön
gesagt: Dienst nach Vorschrift. Das reicht nicht. Lösen
Sie Ihre Versprechen ein. Machen Sie endlich Nägel mit
Köpfen in der Effizienzpolitik.
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Hansjörg Durz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am
3. Dezember 2014 hat das Kabinett den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen und damit nicht
nur Energieeffizienz und Energieeinsparungen sehr viel
stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, sondern
eben auch eine umfassende Strategie für diese zweite
Säule der Energiewende, die Energieeffizienz, vorgelegt.
Beim NAPE war es erklärtes Ziel der Unionsfraktion,
die Potenziale von Energieeffizienz und -einsparungen
eben nicht durch Zwang, sondern durch Information und
starke Anreize zu heben, um somit über Eigenverantwortlichkeit und Wirtschaftlichkeit Investitionen auszulösen. Folgerichtig sind im NAPE nur wenige Maßnahmen enthalten, die in Form ordnungsrechtlicher
Vorgaben umgesetzt werden. Über eine dieser Maßnahmen diskutieren wir heute: Artikel 8 der EU-Energieeffizienzrichtlinie sieht die Einführung verpflichtender
Energieaudits für Unternehmen des industriellen Sektors
und des Gewerbes vor. Wir setzen heute diese obligatorische Vorgabe durch eine Erweiterung des Energiedienstleistungsgesetzes in nationales Recht um. Was auf den
NAPE insgesamt zutrifft, gilt für die Umsetzung der
Energieeffizienzrichtlinie im Speziellen: Wir wollen
diese möglichst unbürokratisch, sachgerecht und zielorientiert durchführen.
({0})
Um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit am
Standort Deutschland aufrechterhalten zu können, opti8076
mieren insbesondere energieintensive Unternehmen seit
Jahrzehnten kontinuierlich und selbstständig ihre Energieeffizienz. Deutschland ist Weltmeister bei der Energieeffizienz. Dennoch bestehen in allen Bereichen immer noch erhebliche Einsparpotenziale. Audits sind
geeignet, Energieeinsparpotenziale zu erschließen. Deswegen fügen wir mit dem heutigen Gesetz einen weiteren Baustein zur Verbesserung der Energieeffizienz in
Deutschland ein.
({1})
Ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass es mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf gelungen ist, sich eng
an den Vorgaben der Richtlinie zu orientieren. Eine Einszu-eins-Umsetzung europäischer Vorgaben wird von
uns, der Politik, immer wieder und regelmäßig gefordert.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein gutes Beispiel,
wie dies gelingen kann.
Ich möchte anhand von drei Punkten verdeutlichen,
weshalb diese enge Orientierung an der EU-Richtlinie
sinnvoll und richtig ist:
Der erste Punkt betrifft die verpflichteten Unternehmen. Die Richtlinie sieht vor, dass alle nach der Definition der EU nicht als KMU geltenden Unternehmen
- wie bereits erwähnt, sind dies Unternehmen, die mehr
als 250 Mitarbeiter haben und einen Jahresumsatz von
mehr als 50 Millionen Euro oder eine Bilanzsumme größer als 43 Millionen Euro aufweisen - oder solche, die
als verbundene Unternehmen gelten, der Auditierungspflicht unterworfen sind. Damit sind in Deutschland insgesamt 50 000 Unternehmen betroffen. Nun gibt es von
der Opposition die Forderung, über den Wortlaut der
EU-Energieeffizienzrichtlinie hinauszugehen, nämlich
die Verpflichtung auf kleine und mittlere energieintensive Unternehmen auszudehnen. Meine Damen und Herren, das ist einer der Punkte, in denen sich unsere Auffassungen - bei aller Einigkeit über die Bedeutung und
den Nutzen von Energieeffizienz - grundsätzlich unterscheiden.
({2})
Die Ausdehnung auf KMU geht nicht nur über die
Energieeffizienzrichtlinie hinaus, sondern ist auch nicht
sinnvoll. Denn durch das Gesetz entsteht ein nicht zu
unterschätzender Erfüllungsaufwand. Zusätzliche Bürokratie wollen wir nur dort aufbauen, wo sie zwingend erforderlich ist. Außerdem ist der Vorschlag, innerhalb des
in Deutschland austarierten Systems, in dem KMU
durch Anreize stimuliert werden sollen, freiwillig in
Energiemanagementsysteme zu investieren, auch unter
beihilferechtlichen Aspekten abzulehnen.
Für die Union steht insbesondere im Bereich der
KMU nicht der Zwang im Vordergrund, sondern die
Freiwilligkeit. Wir wollen Unternehmen durch wettbewerbliche Anreize auf ihrem Weg zu mehr Energieeffizienz begleiten. Hier nennt der NAPE eine Reihe von
Maßnahmen wie etwa zinsgünstige Darlehen, Ausfallbürgschaften für Contracting-Finanzierungen oder die
Weiterentwicklung der Energieberatung Mittelstand.
Das ist übrigens, wie in jüngster Zeit berichtet wurde,
ein Modell, das sehr gut läuft, auch aufgrund einer neuen
Orientierung im Rahmen dieses Projektes. Auch die äußerst positive Resonanz, mit der die Energieeffizienznetzwerke von der Wirtschaft aufgenommen werden, bestätigt diesen Weg.
Der zweite Punkt betrifft die Anforderungen, die zur
Erfüllung der Richtlinie an den Prozess des Audits gestellt werden. Auch hier übernehmen wir eins zu eins die
Vorgaben des Artikels 8 - das ist bereits erwähnt worden -,
dass auch Umwelt- und Energiemanagementsysteme
entsprechend anerkannt werden.
Ein dritter Punkt betrifft die Umsetzungsfristen; auch
diese sind schon genannt worden. Die Richtlinie sieht
eine Umsetzung bis zum 5. Dezember 2015 vor. Dieses
Datum findet sich auch im Gesetzentwurf wieder. Abweichend hat die Koalition aber beschlossen, dass einem
Unternehmen dann mehr Zeit für die Umsetzung gewährt wird, falls es sich dazu entschließt, anstelle des geforderten Audits gleich mehr umzusetzen. Wir wollen
eben diejenigen nicht bestrafen, die im Sinne der Effizienz über das geforderte Mindestmaß hinausgehen.
Auch das verstehen wir unter sachgerechter Umsetzung.
({3})
Das Ministerium hat einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Den Koalitionsfraktionen ist es im parlamentarischen Verfahren zudem gelungen, wichtige Punkte zu ergänzen, die den Unternehmen bei der Einführung helfen.
Darüber hinaus haben Union und SPD durch einen Entschließungsantrag Hinweise gegeben, den Vollzug mit
möglichst geringen bürokratischen Lasten einhergehen
zu lassen. Dies betrifft etwa die Zulassung sogenannter
Multi-Site-Verfahren oder die Möglichkeit, dass qualifizierte Auditoren auch aus dem eigenen Unternehmen
kommen und damit firmeneigene Kompetenz genutzt
wird. Auch hier haben wir darauf geachtet, dass den Unternehmen keine unnötigen zusätzlichen Kosten entstehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem
vorliegenden Gesetz schaffen wir für die Unternehmen
Rechtssicherheit und Klarheit, stellen aber auch einen
hohen Qualitätsstandard der Audits sicher. Mit einem
Energieaudit ist - das ist auch mehrfach angeklungen noch keinerlei Energie eingespart. Voraussetzung für
die Einsparung ist aber die Kenntnis der vorhandenen
Potenziale. Ich bin überzeugt, dass die Wirtschaft diese
Potenziale nutzen wird, womit wir unseren Energieeinsparzielen auch ein ganzes Stück näher kommen werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Teilumsetzung der Energieeffizienzrichtlinie und zur
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Verschiebung des Außerkrafttretens des § 47 g Absatz 2
des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3934, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksachen 18/3373 und 18/3788 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3934 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Wer enthält sich? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3937. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktio-
nen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einstieg in die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer Freie Berufe in die Gewerbesteuerpflicht einbeziehen
Drucksache 18/3838
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gemeindewirtschaftsteuer einführen - Kommunalfinanzen stärken
Drucksachen 18/1094, 18/2929
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Susanna
Karawanskij, Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Für mich ist es immer wieder erschreckend, wie viele Koalitionäre immer wieder die
Wichtigkeit der Kommunen betonen, das allerdings
nicht in praktische Politik umsetzen, sondern es bei Worten belassen. Da hilft es auch nicht, wie wir es in der Debatte zur Finanzierung der Flüchtlingsunterbringung vor
zwei Wochen hier im Deutschen Bundestag gehört haben, aufzuzählen, was Sie alles für Gesetze auf den Weg
gebracht haben. Entscheidend ist, was am Ende herauskommt, was tatsächlich bei den Kommunen ankommt.
({0})
Es bleibt bei dem Fakt, dass die Schere zwischen armen und reichen Kommunen weiter auseinanderdriftet.
Die armen Kommunen kriechen dabei finanziell so auf
dem Zahnfleisch, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr
auf die Beine kommen. Da hilft auch kein Verweis darauf, dass die Ausreißer ein paar schlecht wirtschaftende
Kommunen in NRW sind, die über ihre Verhältnisse gelebt haben.
({1})
Die Schuldenhöhe der kommunalen Kernhaushalte liegt
laut dem Gemeindefinanzbericht 2014 des Deutschen
Städtetages bei etwa 130 Milliarden Euro. Das ist wahrlich kein Pappenstiel.
({2})
An dieser Stelle ist nun wirklich die Politik gefragt,
nachhaltige Lösungen zu finden. Sie mögen zwar schon
ein paar Gesetze auf den Weg gebracht haben, aber das
ändert nichts daran, dass Sie bislang versagt haben, die
Kommunen nachhaltig und vor allem dauerhaft zu stärken. Dazu muss man nicht nur die Ausgabenseite betrachten, sondern auch die Einnahmeseite.
({3})
Über die Ausgabenseite haben wir hier im Plenum bereits gesprochen. Wir als Linke haben dabei deutlich gemacht, dass die Kommunen insbesondere bei den Sozialausgaben entlastet werden müssen, und das nicht nur
kleckerweise, sondern indem der Bund auch tatsächlich
Verantwortung und die entsprechenden Kosten vollständig übernimmt, allen voran die Kosten der Unterkunft,
die KdU, aber auch die Kosten der Leistungen für Asylbewerber und beim BAföG. Dann wäre auch genug Geld
in den Kassen, um beispielsweise die Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylsuchenden menschenwürdig und
sozial integrativ zu gestalten.
({4})
Vor allen Dingen bedarf es im gesamten Ausgabenbereich der strikten Einhaltung des Konnexitätsprinzips.
Das heißt: Wenn der Bund den Kommunen neue Aufgaben überträgt oder zusätzliche Leistungen aufbürdet,
muss er auch für die Finanzierung geradestehen. Die
Kommunen sind eben nicht nur reine Erfüllungsgehilfen
des Bundes ohne Mitspracherechte. Es muss gelten: Wer
bestellt, muss auch zahlen. Die Kommunen brauchen
hier konkrete Mitspracherechte und Mitwirkungsrechte.
({5})
Der vorliegende Antrag der Linken setzt genau auf
der anderen Seite des Spektrums an, nämlich die Einnahmeseite der Kommunen gezielt zu stärken. Konkret soll
die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer
weiterentwickelt werden. So wollen wir für stabile Einnahmen der Kommunen durch eine originäre Kommunalsteuer sorgen, die dann eben auch entsprechenden
konjunkturellen Schwankungen trotzen kann und neue
Handlungsspielräume für die Kommunen schafft.
({6})
Das ist zweifelsohne bitter nötig. Mit einer Gemeindewirtschaftsteuer wird die Last der Gewerbesteuer auf
mehr Schultern verteilt. Das ist gerecht, weil alle unternehmerisch Tätigen mit der Absicht, Gewinn zu erzielen, einbezogen werden.
({7})
Das betrifft auch die Freiberufler. Es gab ja dazu auch
schon einige Reaktionen. Meines Erachtens sind diese
fehl am Platze; denn wir fordern ja gleichzeitig einen
Freibetrag in Höhe von 30 000 Euro für Freiberufler,
({8})
Existenzgründer und Kleinunternehmer, der dann entsprechend vom Gewerbeertrag abgezogen wird. Für
Freiberufler, die dennoch der Gewerbesteuer unterliegen, bleibt immer noch die Möglichkeit, Gewerbesteuerzahlungen mit der Einkommensteuer zu verrechnen.
Ich möchte einfach an dieser Stelle das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das DIW, zitieren. Dieses hat vor einigen Jahren festgestellt:
Würde man bei einer Einbeziehung der freien Berufe … in die Gewerbesteuer die derzeitige Gewerbesteueranrechnung auch für diese Einkünfte gewähren,
würde - wie schon bei den derzeit gewerbesteuerpflichtigen Personenunternehmen - ein Großteil der
höheren Gewerbesteuerbelastung nicht bei den Steuerpflichtigen belastungswirksam werden.
Freiberufler nehmen die kommunale Infrastruktur in
Anspruch. Folglich können sie auch einen entsprechenden Anteil leisten. Im Übrigen kommt es nach unserem
Modell - das muss an dieser Stelle ganz klar gesagt werden - in den meisten Fällen jedoch nicht zu Mehrbelastungen.
({9})
Ich bin froh darüber, dass die Abgeordneten aus allen
Fraktionen, was diesen Punkt angeht, wohlwollende Bereitschaft zu Gesprächen im Unterausschuss Kommunales signalisiert haben. Ich möchte Sie an dieser Stelle
noch einmal auffordern: Setzen Sie sich in Ihren Fraktionen ein Stückchen weit durch. Packen wir es gemeinsam
an.
Mit der Gemeindewirtschaftsteuer soll auch die Bemessungsgrundlage verbreitert werden. Schuldzinsen
sind von nun an hinzuzurechnen. Mieten und Pachten
müssen ebenfalls in voller Höhe berücksichtigt werden.
Damit eine Kleinrechnung von Gewinnen unterbunden
wird, müssen Gewinne und Verluste in der Entstehungsperiode zeitnah geltend gemacht werden. Das hat noch
einen schönen Nebeneffekt: Steuerschlupflöcher für Unternehmen werden so geschlossen.
({10})
Dem können Sie sich nicht ernsthaft verweigern,
meine Damen und Herren. Wir berücksichtigen die sozialen und wirtschaftlichen Belange von Freiberuflern,
Kleinunternehmern und Existenzgründern und verstetigen dabei die finanziellen Grundlagen unserer Städte
und Gemeinden und sorgen für eine gerechtere Besteuerung.
Neben der Aufforderung, hier im Bundestag weiterhin über einen solidarischen Länderfinanzausgleich zu
diskutieren - er betrifft nämlich auch die Kommunen -,
möchte ich Ihnen Folgendes ans Herz legen: Wenn Sie
sich für die Menschen in den Kommunen einsetzen wollen, stimmen Sie unseren Anträgen zu.
Danke.
({11})
Das Wort hat der Kollege Philipp Graf Lerchenfeld
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Karawanskij, ich
habe mich gerade erkundigt. Anscheinend haben Sie das
Wohlwollen, das Ihnen gegenüber gezeigt wurde, mit
dem vermeintlichen Wohlwollen Ihrem Antrag gegenüber verwechselt. Er wurde im Unterausschuss eindeutig
abgelehnt.
({0})
Beziehen Sie es insofern nicht auf sich selber, dass der
Antrag abgelehnt worden ist.
Es wundert mich, mit welcher Regelmäßigkeit von
Ihnen immer wieder der gleiche Antrag gestellt wird.
({1})
Man könnte sich als Redner das Ganze heute sehr
leicht machen und einfach darauf verweisen, dass
schon alles - nur noch nicht von uns heute hier - gesagt worden ist. Ich glaube aber, wir sollten uns doch
noch einmal ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen.
Ich möchte versuchen, Ihnen noch einmal die Argumente darzustellen, die gegen diese Steuer sprechen;
denn letztlich hoffe ich, dass Sie nach dem alten Satz
„Repetitio est mater studiorum“ ein bisschen lernfähig
sind.
({2})
- Das hoffe ich. Sie haben es aber anscheinend nicht verinnerlicht.
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass für die
Kommunen zuallererst die Länder verantwortlich sind.
Der Bund ist für die Kommunen nicht verantwortlich.
Sie haben teilweise richtig dargestellt, dass den Kommunen durch entsprechende Gesetze Leistungen auferlegt
wurden, die vom Bund nicht ausreichend bezahlt wurden. Dazu kann man heute sagen, dass diese Fehler der
Vergangenheit behoben worden sind. Mit der Übernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung haben wir allein eine Entlastung von 4,5 Milliarden Euro im Jahr geschaffen.
({3})
Im Zeitraum 2012 bis 2016 beläuft sich dabei die Entlastung der Kommunen auf über 20 Milliarden Euro. Im
Jahr 2014 wurde die letzte Stufe der Anhebung der Bundesbeteiligung von 75 auf 100 Prozent durchgezogen.
Das wiederum führt zu einer weiteren zusätzlichen Entlastung der Kommunen von 1,6 Milliarden Euro jährlich.
({4})
Sie haben vielleicht auch noch vergessen, dass wir im
letzten Jahr einige enorme zusätzliche Leistungen für die
Kommunen beschlossen haben: 1 Milliarde Euro jährlich zur Unterstützung im Rahmen der Eingliederungshilfe, und zwar über die Übernahme der Kosten der Unterbringung bzw. über einen erhöhten Anteil an der
Umsatzsteuer. In unserem Koalitionsvertrag steht, dass
wir selbstverständlich bis zum Ende dieser Legislaturperiode die Kommunen noch einmal um weitere 5 Milliarden Euro entlasten werden. An diese Zusage halten wir
uns; das werden wir durchführen. Die Kommunen wissen eben, dass sie mit uns einen verlässlichen Partner an
ihrer Seite haben.
({5})
Dass wir den Kommunen darüber hinaus mit den Investitionsprogrammen „Kinderbetreuungsfinanzierung“
enorme zusätzliche Entlastungen sozusagen geschenkt
haben, brauche ich hier, glaube ich, nicht weiter zu erwähnen. In diesem Jahr - darauf sind Sie vorhin eingegangen - werden die Kommunen und Länder weiter entlastet, und zwar bei den Kosten für Asylbewerber. Der
Bund wird sich im Jahr 2015 mit 500 Millionen Euro an
diesen Kosten beteiligen und im kommenden Jahr, wenn
weiterhin Bedarf besteht, mit weiteren 500 Millionen
Euro. Den Kommunen sind in der letzten Zeit also
enorme Mittel zugeflossen. Die Bundesregierung und
das Parlament tun hier das Ihrige.
Woran liegt es denn, dass manche Kommunen tatsächlich eine so schlechte Finanzlage haben? Das liegt
doch nicht daran, dass die Gewerbesteuer zu niedrig ist.
Die Gewerbesteuer ist seit 2009 immer kontinuierlich
angestiegen und hat im Jahr 2014 mit 33 Milliarden
Euro einen neuen Höchststand erreicht.
({6})
Damit lag sie um fast 9 Milliarden Euro höher als im
Jahr 2009 und doppelt so hoch wie im Jahr 2003. Seit
2012 weisen die Kommunen in Deutschland einen positiven Finanzierungssaldo von 1 Milliarde Euro und mehr
aus.
({7})
- Das ist der Durchschnitt.
Es gibt sehr unterschiedliche Kommunen.
({8})
Es gibt Kommunen, die gut regiert werden, und es gibt
Kommunen, die schlecht regiert werden.
({9})
Das wird an den unterschiedlichen Kassenkrediten sehr
deutlich. Mich erstaunt es überhaupt nicht, dass sich die
Hälfte aller Kommunen mit einer finanziellen Notlage in
einem einzigen Bundesland befindet, nämlich in Nordrhein-Westfalen.
({10})
Anscheinend wirtschaften die Kommunen in diesem
Land genauso schlecht wie die dortige Landesregierung,
die nicht haushalten kann, sondern ständig neue Schulden aufhäuft.
({11})
Diese Schuldenpolitik auf Landes- und kommunaler
Ebene ist unverantwortlich - gerade gegenüber der
nächsten Generation.
({12})
Wenn ich beispielsweise lesen muss, dass sich das
Land Nordrhein-Westfalen nur zu etwa 20 Prozent an
den Kosten der Kommunen für Asylbewerber beteiligt,
während Hessen bis zu 75 Prozent der Kosten erstattet,
wird deutlich, woher die Schieflage kommt. Wenn Gelder, die der Bund für die Kommunen vorgesehen hat, zur
Konsolidierung der Länderhaushalte verwendet werden
oder manche Länder auf Kosten der Kommunen beim
kommunalen Finanzausgleich sparen, ist die unterschiedliche Entwicklung der Kassenkredite kein Wunder. Nordrhein-Westfalen vernachlässigt seine Verant8080
wortung für die eigenen Kommunen tatsächlich
vollständig.
Ihrem Antrag, aus der Gewerbesteuer eine Gemeindewirtschaftsteuer zu machen, können wir natürlich nicht
folgen. Das würde zu Steuererhöhungen und zu einem
neuen Bürokratieaufwand für Freiberufler führen. Haben
Sie sich außerdem einmal die Auswirkungen auf den
Bundeshaushalt und auf die Landeshaushalte ausgerechnet? Es gibt Berechnungen, wonach genau die Sache, die
Sie einführen wollen, zu einer Mindereinnahme von bis
zu 5 Milliarden Euro beim Bund und bei den Ländern
führen würde. Das wären 5 Milliarden Euro mehr bei
den Kommunen, also genau der Betrag, den wir den
Kommunen bis zum Ende der Legislaturperiode von unserer Seite aus sowieso erstatten werden. Sie wollen die
Steuereinnahmen der Kommunen erhöhen und die Steuereinnahmen von Bund und Ländern reduzieren.
Letztlich stellt sich für mich auch die Frage, ob tatsächlich noch eine Gewerbesteuer in der jetzigen Form
notwendig wäre, wenn es eine einheitliche Gemeindewirtschaftsteuer geben würde. Für mich stellt es sich damit so dar: Wenn alle einbezogen werden, können wir
doch gleich einen Zuschlag zur Einkommensteuer oder
zur Umsatzsteuer beschließen,
({13})
was darauf hinausläuft, dass das Ganze genau so, wie Sie
es wollen, funktioniert und die Gewerbesteuer damit abgeschafft wird.
({14})
Man muss sich natürlich auch darüber klar sein, dass
die Infrastruktur von den Freiberuflern wirklich nicht so
belastet wird, wie das bei großen gewerblichen Unternehmen der Fall ist. Mit den bei uns geltenden Freibeträgen sind die kleinen Gewerbetreibenden, die die Infrastruktur genauso wenig belasten, entsprechend entlastet
worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Politik würde
zu massiven Steuererhöhungen für einzelne Branchen
und Unternehmen führen.
({15})
Darauf werden die nächsten Redner sicherlich noch näher eingehen. Wir jedenfalls werden Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Die Kollegin Britta Haßelmann hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Besucherinnen und Besucher! Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auch auf der Regierungsbank! Herr
Lerchenfeld, zum Ersten bin ich froh, dass es weder der
Union noch der FDP in ihrer Koalition in der letzten Legislaturperiode gelungen ist, die Gewerbesteuer abzuschaffen.
({0})
Sie sind mit diesem Projekt gnadenlos gescheitert, und
aus der großen Gemeindefinanzreform kam letzten Endes ein sehr kleines Ergebnis heraus. Denn landauf,
landab sind viele Bundesländer und die Bundestagsfraktionen der Grünen, SPD und Linken Ihren Vorschlägen
nicht gefolgt. Ich wünsche Ihnen frohe Verrichtung und
viel Energie, das Projekt noch einmal anzugehen. Es
wird aber sicherlich wieder scheitern.
({1})
Zum Zweiten erachte ich die Analyse, die Herr
Lerchenfeld gerade zum Besten gegeben hat, als maximal unterkomplex. Intellektuell unterfordert sie mich.
({2})
Gut und schlecht regierte Kommunen: Ist die Welt so
einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen? Ist sie nicht, in
keinem einzigen Bundesland. Denn auch in Deutschland
gibt es mittlerweile in jedem Bundesland - selbst in meiner wunderschönen Heimat Nordrhein-Westfalen - arme
und reiche Kommunen.
Die Welt, die Sie nach Ihren Vorstellungen zementieren wollen, reicht allenfalls für Ihre Analyse aus, aber sie
hält einer nüchternen Betrachtung in keiner Weise stand.
Ich hoffe, dass es anderswo mehr Vernunft gibt. Denn
wenn man von dieser Analyse darauf schließt, was wir
als Bundestag zu tun haben, dann werden wir scheitern,
und die Kommunen werden leider im Regen stehen bleiben.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht heute um den Antrag der Linken zur Gemeindewirtschaftsteuer. Darauf
möchte ich kurz eingehen. Meine Fraktion hat sich immer wieder für den Erhalt der Gewerbesteuer und die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage eingesetzt. Ich
bin froh, dass in vielen Verbänden, Industrieverbänden
wie Kreishandwerkerschaften, eine viel größere Offenheit und Diskussionsbereitschaft gegenüber der Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer und gegenüber der Aufhebung einer starren Trennung, die wir
über Jahrzehnte vollzogen haben, entstanden ist. Auch
wir wollen die Gewerbesteuer zu einer kommunalen
Wirtschaftsteuer weiterentwickeln und die Bemessungsgrundlage verbreitern.
Wir unterscheiden uns aber in einem Punkt ganz erheblich von Ihren Vorstellungen, und zwar bei der Gewerbesteuerumlage. Ich habe immer wieder betont, dass
Sie die Gewerbesteuerumlage ausklammern sollten.
Denn dabei geht es um ein ganz komplexes Geflecht einer Einigung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Änderungen würden Auswirkungen auf andere Steuerarten nach sich ziehen, die ich für hochproblematisch
halte und die letzten Endes den Kommunen nicht helfen
würden.
({4})
Deshalb werden wir Ihrem Antrag heute nicht folgen.
Denn Sie beantragen die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage. Ich mahne aber immer wieder zur Vorsicht bei diesem Thema. Denn das berührt viele andere
Steuerbereiche und bringt das gesamte Gefüge der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen durcheinander. Aus diesem Grund ist eine Änderung
in diesem Bereich leider nicht so einfach.
({5})
Deshalb können wir Ihrem Antrag in dem Punkt nicht
folgen.
Wir müssen auch dringend einige andere Themen diskutieren, die die Kommunen sehr intensiv berühren. Ein
Thema ist die Zukunft der Regionalisierungsmittel. Wo
stehen wir heute? Wir haben zum Beispiel massive
Schwierigkeiten, was die „Baustellen“ in den Kommunen und die hohen Investitionen angeht, die wir tätigen
müssen. Dafür braucht es Planungssicherheit, eine klare
Struktur und eine klare Zusage von uns als Bundestag,
dass wir diese Aufgabe anerkennen. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern die Kommunen hinsichtlich
der Fortsetzung und Dynamisierung der Regionalisierungsmittel unterstützen.
({6})
Dritter Punkt, die Bund-Länder-Kommunen-Finanzbeziehungen. Hier wird es ganz entscheidend darauf ankommen, ob wir die Kommunen im Blick behalten.
Wenn wir über die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen reden, haben wir über viele einzelne
Facetten zu diskutieren, die wichtig sind, wenn es darum
geht, wie wir als Bund gemeinsam mit den Ländern die
Kommunen unterstützen können.
Das Vierte und Letzte, das ich ansprechen will, sind
die sozialen Kosten. Jeder weiß, dass die Steigerung der
sozialen Kosten erheblich ist. 2017 werden die Aufwendungen zur Deckung der sozialen Kosten bei 54 Milliarden Euro liegen. Hierbei handelt es sich um Pflichtaufgaben und nicht um Aufgaben, die sich die Kommunen
selbst gegeben haben und bei denen sie Gestaltungsspielraum haben. Deshalb sollten Sie, meine Damen und
Herren von der Koalition, schon vor 2018 - dann besteht
diese Regierung nicht mehr - Ihre Zusage einlösen, die
Kommunen wie versprochen um 5 Milliarden Euro zu
entlasten. Ein Blick in den Haushalt zeigt aber, dass Sie
diese Entlastung bei den sozialen Kosten erst für 2018
vorsehen. Das ist falsch. Sie haben den Kommunen und
den Ländern etwas anderes versprochen. Deshalb besteht hier dringender Handlungsbedarf.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Karawanskij, Sie haben recht: Es ist das Verdienst der Linken, dass wir hier regelmäßig über die Situation der Kommunen reden. Aber es ist das Verdienst
dieser Koalition, dass wir nicht nur reden, sondern im
Sinne der Kommunen auch ganz konkret handeln. Das
ist einer der zentralen Unterschiede.
({0})
Ich muss nicht alles wiederholen, was Herr
Lerchenfeld gesagt hat: angefangen bei der Übernahme
der Kosten der Grundsicherung, der Übergangsmilliarde,
über die Kitaförderung, die Städtebauförderung, die
zweimal 500 Millionen Euro für die Flüchtlingsunterbringung bis hin zur Infrastrukturförderung. Obwohl wir
eine gute Zwischenbilanz vorzuweisen haben, ignorieren
wir - Frau Haßelmann hat auf die Soziallasten hingewiesen - die schwierigen Probleme der Kommunen nicht.
Wir werden darüber mit den 48 Oberbürgermeistern,
Bürgermeistern und Stadtkämmerern, die demnächst als
Vertreter des Bündnisses „Für die Würde unserer Städte“
nach Berlin kommen, sehr offensiv sprechen; darin bin
ich mir ziemlich sicher.
Der Antrag der Linken auf Einführung einer Gemeindewirtschaftsteuer orientiert sich am sogenannten
Kommunalmodell, das eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage und die Ausweitung des Kreises der
Steuerpflichtigen vorsieht; darüber kann man reden. Darauf komme ich gleich zurück. Aber abzulehnen ist auf
jeden Fall der Vorschlag - das hat Frau Haßelmann
schon gesagt -, die Gewerbesteuer faktisch zu einer reinen Kommunalsteuer zu machen. Sie wollen die sofortige Abschaffung der anteiligen Beteiligung des Bundes
sowie - abgestuft bis 2019 - der Länder an der Gewerbesteuerumlage. Das ist völlig unverständlich, weil Sie auf
diese Art und Weise ein flexibles Instrument des Finanzausgleichs vollständig aus den Händen geben. Dieses Instrument dient unter anderem dazu, die Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse zu steuern.
({1})
Sie erhöhen die kommunale Abhängigkeit von der
Gewerbesteuer. Die Konjunkturabhängigkeit der Kommunen wird dadurch erhöht. Sie fördern Gewerbesteu8082
erdumping. Monheim lässt grüßen! Wollen Sie das eigentlich alles? Sie schwächen zudem im Kern das
Interesse des Bundes am Erhalt der Gewerbesteuer. Wollen Sie das?
Interessant ist, dass für Sie die Bedeutung der Gewerbesteuerumlage für die kommunale Beteiligung an der
Finanzierung der deutschen Einheit überhaupt kein
Thema ist. Die Kommunen sind aber über die Gewerbesteuerumlage an der Mitfinanzierung der deutschen Einheit beteiligt. Soll die Hilfe für die ostdeutschen Kommunen sofort entfallen? Das ist eine rhetorische Frage;
denn ich weiß, dass das nicht Ihre Absicht ist. Aber dazu
gibt es kein Wort in Ihrem Antrag. Wir erwarten von Ihnen zwar kein geschlossenes Konzept, aber wenigstens
den Hinweis, dass Ihnen das Problem bewusst ist, und
einen Vorschlag, aus dem hervorgeht, wie eine Kompensation zum Beispiel für die Länder aussehen soll. Was
Sie machen, ist nicht seriös.
Übrigens, Herr Lerchenfeld, bei aller Sympathie, die
ich für Sie hege, ist das, was Sie machen, auch nicht seriös. Denn die Variante in Nordrhein-Westfalen, die Herr
Rüttgers gewählt hat, nämlich ein Einheitslastenabrechnungsgesetz zu machen, war verfassungswidrig und
hätte die Kommunen im Zeitraum von 2007 bis 2019 mit
1 Milliarde Euro belastet. Das hat die rot-grüne Landesregierung geändert. Das hat zusammen mit dem Stärkungspakt in Höhe von 5,85 Milliarden Euro dazu geführt, dass von 138 Kommunen - insgesamt sind es
400 -, die im Jahre 2010, am Ende der schwarz-gelben
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, einen Nothaushalt hatten, jetzt nur noch 4 einen Nothaushalt haben. Mit anderen Worten: Die Hinterlassenschaft ist
nicht gut, Herr Brinkhaus, und auch Sie wissen das.
({2})
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu dem zweiten
Antrag machen, in dem gefordert wird, die freien Berufe
in die Gewerbesteuer aufzunehmen, ohne ihre Steuerbelastung zu erhöhen; denn Gewerbesteuerzahlungen sollen mit der Einkommensteuerschuld verrechnet werden
können. Das Konzept ist keine Idee der Linken. Es ist in
den Kommunen parteipolitisch unumstritten. Das weiß
jeder, der sich mit den kommunalen Spitzenverbänden
unterhält. Wir sagen Ihnen eine konstruktive Beratung
zu. Schön ist auch der Hinweis von Frau Haßelmann,
dass die Akzeptanz wächst.
Aber bedenken Sie eines: Wir haben den Erhalt der
Gewerbesteuer im Koalitionsvertrag gesichert, und wir
haben ihren Schutz vor Aushöhlung im Koalitionsvertrag gesichert. Das steht für uns im Vordergrund. Damit
sichern wir die wichtigste Einnahmequelle der Kommunen, geben Planungssicherheit, und wir stabilisieren die
kommunale Finanzierungsbasis, weil angesichts der guten Konjunktur die Gewerbesteuer ein hohes Niveau hat.
Das ist sehr wichtig.
Wer glaubt, dass deswegen bei der Gewerbesteuer
Ruhe im Karton sei, der irrt sich gewaltig. Ich will aus
dem Bericht zu Ihrem heutigen Antrag zitieren - den haben Sie als Berichterstatter gemeinsam erstellt -, und
zwar zu Ihrer Absicht, die freien Berufe in die Gewerbesteuer einzubeziehen. Dazu sagt die CDU/CSU, was
Herr Lerchenfeld eben bestätigt hat:
… in diesem Fall könnte man einfacher kommunale
Zuschläge zur Einkommensteuer erheben, womit
das Ziel einer Verstetigung der Einnahmen besser
erreicht werden könnte.
Während sich die SPD um den Erhalt und die Stabilisierung der Gewerbesteuer bemüht, liefern Sie unbeabsichtigt - das will ich einmal unterstellen - Munition zur
Abschaffung der Gewerbesteuer. Wollen Sie das eigentlich?
Ich will eine weitere wichtige Baustelle in diesem Zusammenhang benennen. Als Ergebnis der Arbeit der
letzten Großen Koalition hat es eine Unternehmensteuerreform gegeben, die dem Ansinnen der Linken, nämlich
einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer, durchaus entsprochen hat. Gegen die Durchsetzung des Prinzips der Finanzierungsneutralität wird
derzeit allerdings vor allem von der Tourismuswirtschaft
heftig gearbeitet. Wie so oft werden kleine Unternehmen, die aufgrund ihrer Rechtsform gar nicht betroffen
sind, von großen Unternehmen in Anspruch genommen.
Wenn man die Steuerlast der großen Unternehmen im
Vergleich zu manchen Managergehältern betrachtet,
wenn man sieht, dass Vorstandschefs einzelner Unternehmen mehrere Millionen Euro im Jahr verdienen und
ein Kovorstandschef laut FAZ 45 000 Euro am Tag bekommt, dann bin ich der Auffassung, dass die Hinzurechnung bei der Gewerbesteuer keine wirtschaftliche
Gefährdung des Tourismus ist. Das zu sagen, bin ich an
dieser Stelle schuldig.
({3})
Wir befürchten ähnlich wie die kommunalen Spitzenverbände, dass ein Abrücken von den Hinzurechnungen,
auch wenn es nur im Bereich des Tourismus passieren
würde, ein Dammbruch wäre. Aber genau das befürwortete in einer Anhörung des Tourismusausschusses auch
die Vertreterin der Linken seinerzeit. Deshalb ist meine
Bitte: Halten Sie auch im Konkreten Kurs, nicht nur im
Abstrakten.
Wir und auch die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion werden jedenfalls weiter an der Gewerbesteuer festhalten und vor allem dafür sorgen, dass
eine gute wirtschaftliche Entwicklung die hohen Einnahmen aus der Gewerbesteuer auch in Zukunft sichert.
Herr Kollege Daldrup, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt langsam auf Kosten Ihres
Kollegen Junge reden?
Ich bin schon fertig. - Ich habe nichts dagegen, wenn
Sie weiterhin Ihre Anträge zur kommunalen Finanzsituation stellen. Das gibt uns die Gelegenheit, über unser
Handeln zu reden.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin
Margaret Horb das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Mannheimer Soulsängerin Joy Fleming hat in ihrem
Lied Ich sing ferʼs Finanzamt gesungen - keine Angst,
ich singe nicht; ich zitiere nur -:
Früher, da hewwe se brutal die Zehnte oigetriwwe,
90 Prozent sind übrisch gebliwwe. Des ware noch
Zeiten. Heut ist das alles umgekehrt. Ma wird heut
scho beinah g’stroft, wenn ma schafft, statt dass ma
schloft.
({0})
Inhaltlich würde ich mich den Ausführungen von
Frau Fleming nicht ohne Weiteres anschließen. Früher
war nicht immer alles besser, und ganz so leistungsfeindlich ist unser Steuerrecht auch nicht.
Aber nun ist die Linke angetreten, um diesen Albtraum von Joy Fleming Wirklichkeit werden zu lassen.
Wenn es nach Ihnen geht, dann singen die Künstler in
unserem Land wohl wirklich bald für das Finanzamt;
denn Sie wollen ja, dass Freiberufler künftig Gewerbesteuer zahlen. Aber Freiberufler, das sind ja nicht nur
Künstler, Ärzte und Anwälte, sondern auch Hebammen,
Tagesmütter und Krankengymnasten. Sollen die jetzt
alle eine Gewerbesteuererklärung abgeben, mit Aufschlüsselung der Mieten, Pachten und Leasingraten, nur
um am Ende festzustellen, dass sie sowieso unter dem
Freibetrag liegen und sich den ganzen Krempel hätten
sparen können? Ist Ihnen eigentlich klar, was für ein Bürokratiemonster Sie da aus Ihrer Mottenkiste gezogen
haben?
({1})
Aber das ist ja nicht Ihre Mottenkiste; das ist Ihre
Schatzkiste. Denn Sie legen uns einen inhaltsgleichen
Antrag nun zum zweiten Mal innerhalb von neun Monaten vor. Eine Schatzkiste wie diese möchte ich nicht haben. Ich bin im Finanzausschuss, weil ich Steuerbürokratie abbauen und nicht aufbauen möchte.
({2})
Das werden wir auch tun, beispielsweise mit dem Verfahrensmodernisierungsgesetz, das wir dieses Jahr einbringen werden.
Wenn es in diesem Hohen Hause künftig um den Ärztemangel auf dem Land, um die Belastung der freiberuflichen Hebammen oder um zu viel Bürokratie im Gesundheitsbereich geht, dann braucht sich die Linke nicht
mehr zu Wort zu melden; denn Sie, die Linke, sind diejenigen, die diese Menschen mit zusätzlicher Bürokratie
belasten wollen.
({3})
Die Einbeziehung von freien Berufen in die Gewerbesteuer begründen Sie ja damit, dass die Freiberufler die
kommunale Infrastruktur genauso in Anspruch nehmen
wie Gewerbebetriebe. Das ist falsch! Kleine Unternehmen, die noch am ehesten mit Freiberuflern vergleichbar
wären, sind über die Freibeträge sowieso von der Gewerbesteuer befreit. Große Betriebe aber nehmen die
kommunale Infrastruktur sehr wohl deutlich mehr in Anspruch als freie Berufe, etwa bei der Ausweisung von
Gewerbegebieten, bei Abwasser, Energie oder Straßen.
Deshalb sind die freien Berufe zu Recht von der Gewerbesteuer ausgenommen. Dieser Meinung bin nicht nur
ich, sondern ist auch das Bundesverfassungsgericht.
Aber nicht nur die Freiberufler, sondern auch alle
anderen Unternehmer wollen Sie, liebe Kollegen der
Linken, kräftig zur Kasse bitten; denn die Hinzurechnungsbesteuerung soll ja erhöht werden. Diese Besteuerung ist jetzt schon hochproblematisch. Denn eine
Besteuerung von Mieten für Geschäftsräume, von kreditfinanzierten Investitionen oder von geleasten Fahrzeugen ist unabhängig vom Ertrag. Besonders in wirtschaftlich schweren Zeiten kommt es hier ganz schnell
zu einer Belastung der Substanz eines Unternehmens.
Bisher gibt es hier noch Grenzen. Leasingraten für
Maschinen werden zum Beispiel zu 20 Prozent in die
Bemessungsgrundlage eingerechnet. Aber auch hier
schlägt die Linke voll zu. Denn Sie, die Linken, wollen
hoch auf 100 Prozent. Besonders in Krisenzeiten würde
das die Existenz von Unternehmen und von Arbeitsplätzen gefährden.
({4})
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie
gehen an die Substanz der Unternehmen, und wir setzen
auf Leistungsfähigkeit. Wir vertrauen unseren Unternehmern - Unternehmern, die hier in Deutschland Steuern
zahlen
({5})
und die sich auch sozial vor Ort engagieren.
In meinem Heimatland, Baden-Württemberg, denke
ich hier beispielshaft an Welt- und Familienunternehmen
wie Würth in Künzelsau oder SAP in Walldorf, die unter
anderem über die Gewerbesteuer sehr wohl zum Wohlstand ihrer Gemeinden und ihrer Region beitragen, die
vor allem Arbeitsplätze schaffen und sichern und die
sich darüber hinaus in ihren Stiftungen massiv für Menschen, für Kultur und für Sport engagieren. Aber ich
denke genauso an die kleinen Mittelständler in meiner
Heimatstadt Osterburken, die sich in Schulpartnerschaften mit dem Ganztagsgymnasium, der Realschule sowie
der Grund- und Hauptschule engagieren.
({6})
Genau für diese Leute haben Sie in Ihren Anträgen ein
dickes Steuererhöhungspaket geschnürt.
Aber während für Sie die Unternehmer die Packesel
und die Kamele in Ihrer Steuererhöhungskarawane sind,
sind sie für uns die Zugmaschinen, die unsere Wirtschaft
ziehen und die Verantwortung für unsere Gesellschaft
übernehmen.
({7})
Und deshalb gilt nach wie vor unsere Zusage: Keine
Steuererhöhungen!
Angeblich wollen Sie mit Ihren Anträgen die Kommunen entlasten. Kollege Lerchenfeld hat das Notwendige dazu gesagt.
({8})
Ich möchte deshalb nur einige Aspekte hervorheben:
Natürlich ist es ein Problem, dass die Gewerbesteuereinnahmen massiv einbrechen, sobald die Konjunktur
nachlässt. Und es ist auch ein Problem, dass die Kommunen so stark von dieser Steuer abhängig sind. Aber
Sie lösen das Problem doch nicht, indem Sie die Gewerbesteuerbemessungsgrundlage vergrößern und den Personenkreis um die freien Berufe erweitern.
({9})
Der viel bessere Weg ist, die Kommunen auf der Ausgabenseite zu entlasten und endlich das Prinzip „Wer bestellt, der bezahlt“ zur Geltung zu bringen.
({10})
Genau das haben wir in der letzten Wahlperiode getan, und das tun wir auch jetzt: Wir haben den Kommunen die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung abgenommen.
({11})
Dazu kommt eine Entlastung bei den Kosten der Unterkunft. Wir beteiligen uns massiv am Betreuungsausbau
für die unter Dreijährigen. Der nächste Schritt wird sein,
die Kommunen bei der Eingliederungshilfe zu entlasten.
Es waren Wolfgang Schäuble, Angela Merkel und die
CDU/CSU, die das größte kommunale Entlastungsprogramm in der Geschichte unseres Landes durchgeführt
haben.
({12})
Und wir können das, ohne Kommunen und Wirtschaft
gegeneinander auszuspielen.
Zum Schluss noch ein kleiner Literaturtipp für alle. In
der aktuellen Ausgabe der Politischen Vierteljahresschrift ist ein Artikel zu den Ursachen kommunaler
Haushaltsdefizite erschienen. Ergebnis: Kommunen mit
einem CDU-Bürgermeister oder einer CDU-Bürgermeisterin machen weniger Schulden
({13})
und erwirtschaften höhere Überschüsse als die Kommunen, die nicht unionsgeführt sind.
({14})
- Zuhören! - Was lernen wir daraus? Hören Sie zu!
({15})
Kollegin Horb, das müssen Sie jetzt dem Selbststudium der Kolleginnen und Kollegen überlassen.
Da die hier dazwischenschwätzen, mache ich das
noch fertig.
({0})
Sie alle lernen daraus, wir lernen daraus: Die beste
Garantie für solide Kommunalfinanzen ist und bleibt:
CDU/CSU wählen!
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Frank Junge für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
mir nicht träumen lassen, dass wir eine so muntere und
teilweise auch so kontroverse Debatte führen. Schon gar
nicht hätte ich mir träumen lassen, dass von unserem
Koalitionspartner an so vielen Stellen Punkte vorgetragen werden, die uns doch die Fragezeichen in die Augen
treiben.
({0})
Trotzdem möchte ich ganz zu Beginn sagen, Frau
Karawanskij: Anträge werden nicht besser, je öfter man
sie stellt.
({1})
Das, was wir heute debattieren, haben wir hier im
Plenum und auch im Finanzausschuss schon mehrfach
miteinander erörtert. Wir haben das nicht nur in dieser
Wahlperiode getan, sondern auch schon in der davor.
Jedes Mal haben wir Ihnen gegenüber zum Ausdruck
gebracht, warum Ihre Forderungen so nicht gehen. Die
Argumente, die wir heute hier dagegen vorgetragen haben, sind die gleichen, die wir Ihnen schon mehrfach
vorgetragen haben. Ich komme also auch nicht umhin,
mich an einigen Stellen zu wiederholen, um deutlich zu
machen, warum wir gegen Ihre zwei Anträge sind.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
aber eines noch einmal vorausschicken: Der SPD ist die
Gewerbesteuer wichtig. Das war so, und das bleibt so.
({3})
Aus diesem Grund hat sich die SPD-Fraktion sehr stark
für die Gewerbesteuersicherung eingesetzt.
Mit der Unternehmensteuerreform 2008 haben wir
nicht nur Maßnahmen getroffen, um die Regelungen
dazu zu vereinfachen. Wir haben außerdem die Bemessungsgrenze für die Gewerbesteuer durch die gewerbesteuerliche Hinzurechnung unglaublich erweitert.
({4})
Davon profitieren die Kommunen heute noch; denn sie
haben gegenwärtig - das ist auch auf diese Unternehmensteuerreform zurückzuführen - Einnahmen aus der
Gewerbesteuer, die so hoch sind wie noch nie. Der Deutsche Städtetag schätzt, dass es 2014 34 Milliarden Euro
sind, und das ist einfach ein Fakt.
({5})
Damit ist das Aufkommen der Gewerbesteuer - einer
Steuer, die für die Kommunen sehr wichtig ist - seitdem
nicht nur gewachsen, sondern sie ist auch planungssicherer und konjunkturunabhängiger geworden. Auch das ist
ein Aspekt, der den Kommunen zugutekommt, weil sie
das unglaublich brauchen.
Einer Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, Frau
Karawanskij, erteilen wir eine ganz klare Absage.
({6})
Es ist hier schon an sehr vielen Stellen zum Ausdruck
gekommen, trotzdem will ich es noch einmal mit meinen
Worten sagen: Das, was Sie da fordern, geht ganz klar in
die völlig falsche Richtung; denn mit der Abschaffung
würden die finanzstärkeren Kommunen einseitig begünstigt und die finanzschwächeren benachteiligt werden. Damit hätten genau die das Nachsehen, denen es
heute schon am schlechtesten geht. Das kann nicht im
Interesse dieses Hauses sein.
({7})
Zu „schlechter Letzt“ würden - das wurde hier auch
schon gesagt - die Bund-Länder-Finanzbeziehungen in
Schieflage geraten, weil nämlich Gelder fehlen, die in
die Haushalte der Länder fließen. Damit wäre das
Gleichgewicht gefährdet, das zwischen diesen Ebenen
durch den Finanzausgleich hergestellt wird.
({8})
Aus ebendiesen Gründen - das sagte ich schon - lehnen wir Ihre Anträge ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss aber noch Folgendes sagen: Vor dem
Hintergrund der wirklich dramatischen Finanzsituation
unserer Kommunen hat diese Bundesregierung gehandelt. Es ist hier schon genannt worden: Die milliardenschweren Entlastungsmaßnahmen werden ihre Wirkung
entfalten. Sie werden dazu beitragen, dass es auch den
Kommunen vor Ort besser geht.
Dennoch darf nicht darüber hinweggetäuscht werden,
dass die - in hohem Maße auch unverschuldet zustandegekommene - Finanzsituation der Kommunen immer
noch bedrohliche Züge trägt, und da müssen wir etwas
tun. Ich freue mich an dieser Stelle wirklich sehr, dass
wir uns in diesem Punkt offensichtlich alle einig sind
und hier gemeinsam ansetzen. Ich bin aber der Auffassung, dass wir nicht in der Form ansetzen können, dass
wir hier Aufgüsse von Anträgen diskutieren, die wir
schon mehrere Male im Plenum debattiert haben. Ich
denke vielmehr, dass wir bei der Entlastung der Kommunen ansetzen müssen.
Vor dem Hintergrund dessen, dass wir hier über die
exorbitant gestiegenen Sozialausgaben reden, müssen
wir auch darüber reden, wie wir an dieser Stelle weitere
Entlastungsmaßnahmen ergreifen können. Ich sage das
auch mit Blick darauf, dass wir im Rahmen der desolaten Infrastruktur der Kommunen vor Ort darüber reden
müssen, wie wir die Kommunen entlasten und ihnen unter die Arme greifen können.
Außerdem - das sage ich zum Schluss - steht die
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen bevor. Ich bin davon überzeugt, dass wir die richtigen
Instrumente haben, um die Sorgen und Nöte der Kommunen einfließen zu lassen. Ich bitte zum Abschluss Sie
alle, sich an dieser Debatte konstruktiv zu beteiligen.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3838 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gemeindewirtschaftsteuer einführen - Kommunalfinanzen stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/2929, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/1094 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Militärmission
der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte ({0}) auf Grundlage des Ersuchens der malischen Regierung sowie der Beschlüsse 2013/
34/GASP und 2013/87/GASP des Rates der
Europäischen Union ({1}) vom 17. Januar
2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbindung mit den Resolutionen 2071 ({2}), 2085
({3}), 2100 ({4}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie 2164 ({5}) vom
25. Juni 2014
Drucksache 18/3836
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte Sie, die notwendigen Umgruppierungen in
den Fraktionen möglichst zügig vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister Michael Roth.
({7})
Schönen guten Tag, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erinnern Sie sich noch an die schrecklichen Ereignisse vor gut zwei Jahren? Islamistische Gruppen aus
dem Norden Malis waren damals auf dem Vormarsch
nach Süden, in Richtung der Hauptstadt Bamako. Es ist
nur dem entschlossenen Eingreifen der Franzosen zu
verdanken, dass die Terroristen damals aufgehalten wurden. Niemand will sich ausmalen, was in dieser Region
sonst geschehen wäre.
Vieles hat sich in den vergangenen zwei Jahren verbessert. Mit den Parlamentswahlen im Herbst 2013 erfolgte die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung
nach dem Militärputsch des Jahres 2012. Es finden derzeit wieder politische Verhandlungen statt - zwischen
den Rebellengruppen und der malischen Regierung, unter der Vermittlung Algeriens. Wir unterstützen diese
Bemühungen ausdrücklich und blicken hoffnungsvoll
auf erste Fortschritte.
Doch bis zu einer politischen Lösung ist es noch ein
langer und steiniger Weg; denn die Sicherheitslage vor
allem im Norden Malis bleibt unbeständig. Terroristische Anschläge auf die malische Armee und die VN-Stabilisierungsmission MINUSMA erschüttern das Land.
Noch immer verbreiten Terrorbanden Angst und Schrecken unter den Menschen in Teilen des Nordens.
Deutschland will Mali auf dem Weg zu nachhaltiger
politischer Stabilisierung deshalb weiterhin unterstützen. Wir wollen helfen, weil wir das Leid der Menschen
in diesem Konflikt beenden wollen. Sie brauchen Hoffnung und Perspektive für ein Leben in einem sicheren
und stabilen Land. Derzeit sind 80 000 Menschen aus
ihren Heimatorten vertrieben worden. Mehr als
140 000 Menschen sind in die Nachbarländer geflohen.
Rund 2,8 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht.
Wir wollen helfen, weil die Sicherheitslage in der Sahelregion auch Rückwirkungen auf Europa hat. Wir wollen
verhindern, dass sich aus der Krisenregion Drogen- und
Waffenhandel, Menschenschmuggel und Terrorismus bis
nach Europa ausbreiten können.
Deutschlands Unterstützung beruht auf zwei Säulen:
zum einen auf unserem außen- und sicherheitspolitischen Engagement und zum anderen auf einer Fülle von
Projekten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit.
Wir haben im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
in den vergangenen beiden Jahren 120 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt. Wir haben uns in Projekten der
Dezentralisierung und der nachhaltigen Landwirtschaft
engagiert. Wir wollen damit die akute Lebenssituation
der Menschen verbessern. Wir wollen den Menschen
Mut machen und ihnen Wege aufzeigen, wie sie eine
bessere und sichere Zukunft in ihrem Land eigenverantwortlich gestalten können. Damit Flüchtlinge in den
Norden Malis zurückkehren können, unterstützt
Deutschland zudem das malische Ministerium für Versöhnung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Voraussetzung dafür, dass unsere Hilfe fruchtet. Das ist
Sicherheit. Deshalb unterstützt die internationale Gemeinschaft die malische Regierung mit der VN-Mission MINUSMA bei der Wiederherstellung der staatlichen Autorität im ganzen Land. Das Ziel der
Ausbildungsmission EUTM Mali und der zivilen EUMission EUCAP Sahel Mali ist es, langfristig funktionierende malische Sicherheitsstrukturen aufzubauen,
damit Mali künftig wieder in der Lage ist, selbst für
Stabilität und Sicherheit im Land zu sorgen. Es geht
hier sozusagen um Hilfe zur Selbsthilfe.
Ja, ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das alles ist ein mühsamer Prozess, der nicht sofort in jeder
Hinsicht Erfolge zeigt. Die bewaffneten Auseinandersetzungen im Norden des Landes nehmen zurzeit wieder
zu. Die VN-Mission MINUSMA versucht, in einem
schwierigen Umfeld zu schlichten, sieht sich aber von
beiden Seiten dem Vorwurf einseitiger Parteinahme ausgesetzt. Daran erkennen wir, wie schwierig die Lage immer noch ist.
Unser Ausbildungsengagement mit EUTM Mali hat
aber klare Erfolge vorzuweisen, an die wir jetzt anknüpfen wollen. Wir haben inzwischen fünf Gefechtsverbände mit insgesamt mehr als 3 000 malischen Soldaten
ausgebildet. Ein sechster Gefechtsverband durchläuft
derzeit die Ausbildung, und zwei weitere sollen noch
folgen. Darüber hinaus berät EUTM Mali das malische
Verteidigungsministerium bei der Reform der Streitkräfte. Auch das ist ein nicht einfaches Unterfangen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir wollen dieses wichtige Engagement weiter ausbauen - mit der Übernahme der Führung von EUTM
Mali ab August 2015. Wir sind auf diese Aufgabe gut
vorbereitet: Deutschland verfügt in Mali über jahrelange
Erfahrung. Mali ist einer der Schwerpunkte unseres Engagements auf dem afrikanischen Kontinent. Um unserer Verantwortung für Frieden und Sicherheit gerecht zu
werden, wollen wir die Personalobergrenze von 250 auf
350 Soldatinnen und Soldaten anheben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser umfassendes Engagement in Mali fördert Frieden, Sicherheit und Stabilität für die Menschen in Mali, aber auch
für uns in Europa. Deshalb bitte ich Sie im Namen der
Bundesregierung um Ihre Unterstützung.
({0})
Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren einen Bundeswehreinsatz, der laut Bundesregierung „einen Schwerpunkt des deutschen sicherheitspolitischen Engagements in Afrika“ bildet. Es geht um
die Verlängerung des Mandats für die deutsche Beteiligung an EUTM Mali, der europäischen Trainingsmission für das malische Militär. Staatsminister Roth hat es
erwähnt: Es geht auch darum, das Truppenkontingent
von 250 auf 350 Soldaten anwachsen zu lassen und ab
August 2015 die Missionsleitung zu übernehmen.
Deutschland reitet sich damit weiter in den Konflikt in
Mali hinein, und das ist verantwortungslos.
({0})
Bei diesem Konflikt stehen auf der einen Seite der
malische Staat und die ausländischen Truppen und auf
der anderen Seite verschiedene Rebellen- und Terrororganisationen. Deutschland hat sich mit seinem
Mali-Einsatz bedingungslos an die Seite der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich gestellt. Wir Linke haben schon im Januar 2013, als Frankreich in Mali interveniert hat, kritisiert, dass es bei diesem Einsatz - anders als
uns glauben gemacht werden soll - nicht um Menschenrechte, nicht um die Zivilbevölkerung geht, sondern um
geostrategische Interessen und um den Zugriff auf die vielen Rohstoffe Malis wie Gold und Uran. Nach allem, was
wir bis heute in Mali erleben, war und ist diese Kritik richtig.
({1})
Es wird immer behauptet, Ziel des internationalen Engagements sei es, die volle staatliche Souveränität Malis
wiederherzustellen. Dass das nicht stimmt, zeigt das Beispiel der nordmalischen Stadt Kidal. Sie wurde 2012 von
MNLA-Rebellen, einer Tuareg-Gruppe, die für die Unabhängigkeit Nordmalis kämpft, blutig eingenommen.
Anfang 2013 eroberten französische Soldaten die inzwischen von islamistischen Rebellengruppen besetzte
Stadt. Die MNLA war vorher schon militärisch geschlagen. Und wer regiert heute in der Region? Nicht etwa
der malische Staat, sondern wieder die MNLA. Frankreich hat dafür gesorgt, dass sie wieder nach Kidal zurückkommen konnte. Und warum ist das so? Nun, die
Franzosen kämpfen gemeinsam mit der MNLA gegen
die Islamisten, sind also Verbündete. Zum anderen sind
sie Frankreichs Verhandlungspartner im Hinblick auf die
Ausbeutung der Rohstoffe im Norden Malis. Nebenbei
betreiben sie schon lange ein Büro in Frankreich. Man
kennt sich.
Bringen wir es auf den Punkt: Deutschland bildet malische Soldaten aus. Sie werden in den Kampf gegen die
MNLA geschickt. Die MNLA wiederum ist der Freund
des deutschen EU-Partners Frankreich. Das ist doch
Wahnsinn! Das kann nicht funktionieren.
({2})
Dass die malische Souveränität den ausländischen
Militärkräften egal ist, zeigen zwei weitere Aspekte. Das
ist zum einen das durchgedrückte Militärabkommen
zwischen Frankreich und Mali. Frankreich darf nun eigenständige Militäroperationen auf malischem Hoheitsgebiet durchführen. Die Kosten für Schäden muss Mali
alleine tragen. Das erinnert an einen Kolonialvertrag.
Zum anderen wollte die malische Regierung unvorteilhafte Verträge mit internationalen Bergbaukonzernen,
auch europäischen, prüfen und neu ausschreiben. Die
EU machte ordentlich Druck, und schon war das vom
Tisch. So geht man nicht mit Ländern um, die man als
Partner auf Augenhöhe bezeichnet.
({3})
Die Ausbildungsmission ist ein Fehler; denn sie setzt
darauf, dass mehr Soldaten, die mehr Krieg führen können, Frieden bringen. Aber das schaffen ja nicht einmal
die rund 12 000 Soldaten des UN-Einsatzes MINUSMA
und die 3 000 französischen Soldaten. Vielmehr ist die
Lage im Norden Malis noch unsicherer geworden; der
Staatsminister hat es eben erwähnt. Die malischen Soldaten, die für den Krieg ausgebildet werden, werden als
Kanonenfutter benutzt. Als diese letztes Jahr versucht
haben, Kidal von der MNLA zurückzuerobern, sind 50
von ihnen gestorben; das war ein absolutes Desaster.
Wenn hier überhaupt eine Strategie verfolgt wird, dann
wohl eher die, deutsche Soldaten für künftige AfrikaEinsätze fit zu machen.
Übrigens bestätigen auch die jüngsten Entwicklungen
die Kritik an den ausländischen Kräften in Mali. Vor
etwa einer Woche griffen regierungsnahe Milizen den
Rebellenstützpunkt in Tabankort an. Daraufhin wollte
man gegen den Willen der Menschen vor Ort eine von
der UN-Mission MINUSMA kontrollierte Pufferzone
etablieren. Das ist ein weiterer Akt, der als Schritt zur
De-facto-Spaltung des Landes gesehen wird. Es kam zu
Protesten gegen MINUSMA, bei denen mehrere Menschen starben. Es besteht der Verdacht, dass MINUSMA
für die Toten verantwortlich ist. Das ist doch unfassbar!
Ist das der Frieden, den Sie militärisch nach Mali tragen
wollen?
({4})
Es gab und gibt Möglichkeiten, diesen Konflikt auf
dem Weg des Dialogs zu lösen; die malische Zivilgesellschaft fordert das seit langem ein. Es liegen zahlreiche
Indizien vor, dass dies bis heute insbesondere durch
Frankreich verhindert wurde. Die Probleme Malis werden sich nur lösen lassen, wenn es Gerechtigkeit bei der
Vermögensverteilung gibt. Der Goldabbau boomt, und
bald vielleicht auch der Uranabbau. Die Menschen haben aber nichts davon; sie leben in bitterer Armut.
EUTM Mali ist sicherlich kein Beitrag zum Frieden.
Deshalb wird die Linke den Einsatz ablehnen.
({5})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Roth hat in seinen Ausführungen völlig zu
Recht ausdrücklich darauf hingewiesen, welche dramatische humanitäre Lage vor rund zwei Jahren in Mali bestanden hat, die Auslöser des internationalen Engagements, auch des militärischen Engagements dort war.
Ich will daran erinnern, dass das Bundeskabinett im
vergangenen Jahr neue Leitlinien für seine Afrika-Politik beschlossen hat. Im Zentrum dieser Afrika-Politik
steht die Unterstützung unserer afrikanischen Partner.
Wir wollen die AU, die Regionalorganisationen und die
Staaten Afrikas auf ihrem Weg zur Übernahme von mehr
Eigenverantwortung für Sicherheit und Frieden begleiten und unterstützen. Mehr afrikanische Eigenverantwortung, also die Hilfe zur Selbsthilfe, die Ertüchtigung
unserer afrikanischen Partner - das ist der Schwerpunkt
unseres sicherheitspolitischen Engagements. Darum
geht es. Da sind wir auf dem richtigen Weg.
({0})
Bei der eigenverantwortlichen Bewältigung von
Herausforderungen wurden in den vergangenen Jahren - bei allen Rückschlägen, die es gegeben hat ohne Zweifel auch sichtbare Fortschritte erzielt.
Gleichzeitig ist aufgrund der fortbestehenden Konflikte und Herausforderungen die internationale Gemeinschaft weiterhin für die Unterstützung der afrikanischen Staaten unerlässlich.
Das Engagement im Rahmen der EU, um die Fähigkeiten unserer afrikanischen Partner zu stärken, ist, ohne
Frage, eine langfristige Aufgabe. Dieser Verantwortung
wird sich Deutschland auch weiterhin stellen. Mali ist
vor diesem Hintergrund ein Schwerpunkt unseres sicherheitspolitischen Engagements in Afrika - und das in voller Übereinstimmung mit unseren französischen Freunden und unseren internationalen Partnern.
Im Rahmen unserer im letzten Jahr formulierten Absicht, unser Engagement in Afrika insgesamt zu steigern,
werden wir unsere Anstrengungen im Zuge der militärischen Ausbildungsmission der Europäischen Union in
Mali über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte hinaus in der Tat ausweiten.
Deutschland wird im August dieses Jahres, zunächst bis
zum derzeitigen voraussichtlichen Ende des EU-Mandatszeitraums im Mai 2016, die Führung von EUTM
Mali übernehmen. Wir harmonisieren dann auch den
Zeitraum für das Mandat bis zum Mai 2016.
Die geplante Gestellung des Missionskommandeurs
von EUTM Mali unterstreicht die herausgehobene Rolle,
die unser Land im Rahmen der internationalen Bemühungen zur Stabilisierung Malis gegenüber der malischen Bevölkerung spielt. Neben der Ausbildung und
Beratung der malischen Streitkräfte - auch darauf hat
Kollege Roth zu Recht hingewiesen - ist die Leitung der
zivilen GSVP-Mission EUCAP Sahel Mali durch
Deutschland ein sichtbares Zeichen für unser umfassendes Handeln in dieser Schwerpunktregion in Afrika. Unser Beitrag wird über EUTM Mali und EUCAP Sahel
Mali hinaus durch unsere Beteiligung an der VN-geführten Stabilisierungsmission in Mali, MINUSMA, ergänzt.
Abgerundet wird unser Engagement - ich will es nur
kurz erwähnen - durch die Ausstattungshilfe der Bundesregierung und eine damit verbundene Beratergruppe
der Bundeswehr. Ein entsprechendes Rahmenabkommen
mit der malischen Regierung ist im Dezember vergangenen Jahres unterzeichnet worden.
Das breit aufgestellte Engagement Deutschlands - sicherheitspolitisch, auch mit militärischen Maßnahmen,
aber eben auch in entwicklungspolitischer Hinsicht zeigt das mehrdimensionale Handeln unseres Landes,
das in Absprache und in Abstimmung mit internationalen Akteuren und unseren Partnern vor Ort erfolgt. In
diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir seit März 2013 schrittweise die Entwicklungszusammenarbeit wieder aufgenommen haben
und damit einen strukturellen, langfristigen Ansatz zur
Stabilisierung des Landes verfolgen. Damit Mali eine
friedliche und stabile Zukunft hat, wird es weiterhin darauf ankommen, zum einen den Aussöhnungsprozess
zwischen den Konfliktparteien zu fördern, zum anderen
aber auch darauf, die staatliche Integrität derart zu festigen, dass alle malischen Bevölkerungsgruppen am politischen Prozess partizipieren. Mit der Beratung und Unterstützung des malischen Versöhnungsministeriums aus
Mitteln der Krisenprävention tragen wir auch hierzu bei.
Wir wollen diesen inklusiven politischen Prozess. Er
kann nur langfristig und nachhaltig zu einer Stabilisierung führen, wenn sich die Sicherheitslage, auch die militärische Sicherheitslage, verbessert. Es nützt nichts, die
Augen vor dem Problem und den militärischen Herausforderungen zu verschließen. Wir brauchen ein sicheres,
ein stabiles Umfeld, damit unsere langfristigen Maßnahmen für Stabilisierung und Wiederaufbau auch greifen
können. Deswegen ist es wichtig, dass diese verschiedeParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
nen Komponenten unserer Politik ineinandergreifen. Im
Rahmen der internationalen Politik die Augen vor dieser
Notwendigkeit zu verschließen, wäre unverantwortlich.
({1})
Im Wesenskern bleibt das vorliegende Mandat bei
dem, was wir im Einklang mit unseren Partnern für den
zweiten Mandatszeitraum bereits im letzten Jahr vereinbart und in das Mandat eingebracht haben. Das deutsche
Einsatzkontingent führt im multinationalen Rahmen von
EUTM Mali Ausbildungsunterstützung und fachliche
Beratung durch. Zusätzlich sollen die Führungsstäbe der
malischen Streitkräfte befähigt werden, ihre Führungsaufgaben in allen Bereichen, insbesondere im Bereich
Personalwesen und Logistik, wahrzunehmen.
Falls dieses Hohe Haus dem zustimmt, worum die
Bundesregierung Sie bittet, wird die Mandatsobergrenze
von 250 auf 350 deutsche Soldatinnen und Soldaten angehoben, um den erwähnten, geänderten Rahmenbedingungen, mit der Übernahme der Führungsverantwortung, auch gerecht zu werden, um mögliche Vakanzen zu
füllen und die notwendige Flexibilität zu erhalten.
Die Menschen in Mali verknüpfen mit unserem fortdauernden Engagement in ihrem Land hohe Erwartungen. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten in Mali einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes. Sie
sind in unserem Auftrag dort und in der gemeinsamen
Hoffnung, dass die Situation in dem Land besser wird,
dass der Hunger bekämpft werden kann, dass es wirtschaftlich und sozial für die Menschen in Mali aufwärtsgeht. Dass dieser Weg fortgesetzt werden kann, ist unser
Ziel. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen die
Unterstützung dieses Hohen Hauses, um die ich Sie alle
bitten möchte.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Agnieszka Brugger für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts vieler Krisen auf der ganzen Welt ist Mali in den
letzten Monaten aus den Schlagzeilen verschwunden.
Doch wer glaubt, dass das bedeutet, dass die Situation in
Mali ruhig und stabil ist, der unterliegt einem Trugschluss. Denn wer genau hinschaut, sieht, dass sich die
Sicherheitslage in den vergangenen Monaten zugespitzt
hat und dass die Situation insgesamt höchst fragil bleibt.
Gerade im Norden von Mali nimmt die Zahl der Anschläge durch terroristische und dschihadistische Gruppen zu. Insbesondere die Friedensmission der Vereinten
Nationen, MINUSMA, und ihre Angehörigen sind immer wieder Ziel dieser tödlichen Attacken.
Zum ersten Mal seit 2012 verschlechtert sich damit
die Sicherheitslage. 2012 war es den französischen Truppen und der VN-Friedensmission gelungen, nicht nur
den Vormarsch einer Allianz aus islamistischen Organisationen und den Tuareg-Rebellen zu stoppen und zurückzudrängen, sondern auch im ganzen Land ein Mindestmaß an Sicherheit und Stabilität zu garantieren. Die
malische Armee selbst war dazu nicht in der Lage. Deshalb hat die Europäische Union eine Ausbildungsmission auf den Weg gebracht. Gemeinsam mit der zivilen
GSVP-Mission ist sie damit auch ein Pilotprojekt für
eine verstärkte europäische Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich und damit natürlich auch ein Zeichen über
Mali hinaus.
Ziel dieser Missionen ist es, Sicherheitsstrukturen zu
schaffen, in die alle malischen Gruppen eingebunden
werden, und dafür Sorge zu tragen, dass sie einer klaren
demokratischen Kontrolle unterliegen und dass am Ende
Sicherheitskräfte da sind, die die Zivilbevölkerung
schützen können und vor der die Bürgerinnen und Bürger Malis, egal welche Hautfarbe sie haben, keine Angst
haben müssen. Diese Mission ist grundsätzlich ein richtiger Baustein. Wir haben sie als Grüne in den vergangenen Jahren unterstützt und ihr immer zugestimmt. Ich
empfehle meiner Fraktion, diesem Mandat auch dieses
Mal zuzustimmen.
({0})
Die Bundesregierung kündigt nun an, dass man mit
dem neuen Mandat mehr Verantwortung übernehmen
will, dass die Mandatsobergrenze auf 350 Soldatinnen
und Soldaten angehoben werden soll und Deutschland in
Zukunft den Missionskommandeur stellen will. Mehr
Verantwortung von deutscher Seite kann man aber nicht
nur darauf beschränken. Ich muss schon sagen, Herr
Staatsminister Roth und Herr Staatssekretär Brauksiepe,
ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihren Reden auch
einen kritischen Blick auf das, was bisher passiert ist, gewagt hätten und dass Sie bereit wären, aus dem, was wir
dort gesehen haben, Lehren für die Zukunft ziehen, um
das Engagement noch nachhaltiger zu gestalten.
({1})
In Deutschland ist kaum wahrgenommen worden,
was sich im letzten Jahr in Kidal an dramatischen Ereignissen abgespielt hat. Diese sind in Mali aber noch nicht
vergessen, sondern sie wirken nach. Dort hat die malische Armee eine Offensive gegen die Rebellen durchführen wollen. Sie ist aufgrund des eigenen dilettantischen Vorgehens einmal mehr geschlagen worden. An
dieser Auseinandersetzung waren auch Gefechtsverbände beteiligt, die durch EUTM Mali ausgebildet worden waren. Wenn die Europäische Union die malischen
Streitkräfte unterstützt, dann hat man auch eine Mitverantwortung dafür, was diese dann im Anschluss tun.
({2})
Deshalb muss man aus den Vorfällen in Kidal lernen.
Die Bundesregierung muss sich hier stärker einbringen
und engagieren. Teilweise sind ja auch schon Konsequenzen gezogen worden. Um mehr Nachhaltigkeit zu
gewährleisten, werden bereits ausgebildete Verbände ein
Wiederholungstraining durchlaufen. Ich glaube aber,
dass man auch noch an anderen Schrauben nachbessern
muss.
Fast zeitgleich zu den Vorfällen waren wir mit einer
Delegation aus dem Bundestag - Herr Staatssekretär
Grübel hatte uns mitgenommen - in Mali. Wir hatten
zeitnah die Gelegenheit, auch mit der Führung von
EUTM über dieses Debakel in Kidal zu sprechen. Ich
fand es sehr bezeichnend, was der damalige EUTMKommandeur gesagt hat. Er hat betont, dass die malische Armee gar nicht in der Lage ist, den Norden langfristig zurückzuerobern. Es sei auch gar nicht das Ziel
dieser Mission, dafür zu sorgen, dass die malische Armee die bewaffneten Gruppen im Norden besiegt. Nein,
vielmehr müssten beide Seiten begreifen, dass sie sich
nicht militärisch schlagen können, sondern dass sie sich
politisch einigen und versöhnen müssen. Ich finde, mit
dieser Analyse hat er völlig recht.
Wenn die Bundesregierung hier mehr Verantwortung
übernehmen will, dann muss sie diesen Friedensprozess
stärker verfolgen und unterstützen. Ich möchte mich im
Namen meiner Fraktion bei allen Menschen bedanken,
egal ob sie Uniform tragen oder nicht, die sich für Frieden und Sicherheit in Mali engagieren.
({3})
Aber um es ganz klar zu sagen: Sowohl die Ausbildungsmission als auch die Reform des Sicherheitssektors und die zahlreichen Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit können für sich alleine kein Erfolg sein,
wenn sie nicht in eine politische Gesamtstrategie eingebettet sind. Die große Hoffnung hinsichtlich der Stabilisierung der politischen Lage in Mali, die nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch bestand, ist
mittlerweile ziemlich getrübt. Die Lage ist eben nicht
wirklich stabil, wie man an zahlreichen Korruptionsfällen, Ministerrücktritten und Kabinettsumbildungen sehen kann.
Meine Damen und Herren, mit besonders großer
Sorge erfüllt mich der stockende Friedensprozess in
Mali. Denn sowohl die malische Regierung als auch die
Rebellengruppen scheinen diesen Prozess immer wieder
zwar rhetorisch zu unterstützen; praktisch ist man aber in
den letzten Jahren kaum bzw. viel zu wenig vorangekommen. Hier müssen sich die Europäische Union und
gerade Deutschland in Anbetracht des Rufes, den wir in
Mali genießen, stärker engagieren. Wir müssen alle Akteure in die Pflicht nehmen, diesen Friedensprozess ernst
zu nehmen und endlich zu einer Einigung zu kommen.
Kollegin Brugger, achten Sie bitte auf die Zeit.
Denn nur wenn man die Konfliktursachen politisch
bearbeitet und wenn es gelingt, funktionierende dezentrale staatliche Strukturen zu etablieren, eine gerechte
Verteilung von Ressourcen sicherzustellen und vor allem
die innermalische Aussöhnung zu garantieren, kann
diese Ausbildungsmission ein Erfolg sein, und nur dann
kann eine Grundlage für mehr Frieden und die Chance
auf dauerhafte Stabilität in Mali gewährleistet werden.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Vöpel das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es geht heute nicht nur um eine Verlängerung
der deutschen Beteiligung an der europäischen Ausbildungs- und Trainingsmission in Mali, sondern die Bundesregierung beabsichtigt auch, in den kommenden Monaten in Mali ein Ausrufezeichen im Hinblick auf ihr
sicherheitspolitisches Engagement in Afrika zu setzen.
Mit der beantragten Anhebung der Mandatsobergrenze
auf 350 Soldatinnen und Soldaten soll der personelle Einsatz deutlich verstärkt werden. Ab August dieses Jahres
wird Deutschland auch die Führungsverantwortung für
diese militärische GSVP-Mission übernehmen. Berücksichtigt man noch den deutschen Beitrag zur zivilen
GSVP-Mission EUCAP Sahel Mali und die deutsche Beteiligung an der MINUSMA-Operation der Vereinten Nationen, wird klar: Mali entwickelt sich zum aktuellen
Schwerpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
auf dem afrikanischen Kontinent.
EUTM Mali ist Europas Beitrag zu einer grundlegenden Reform des malischen Militärs, und dies mit einer
sehr breiten europäischen Beteiligung; 23 Mitgliedstaaten nehmen teil. Durch die intensive und wiederholte
Ausbildung von Offizieren und Mannschaften soll die
malische Armee zunächst in die Lage versetzt werden, in
absehbarer Zeit wieder weitgehend selbstständig die Sicherheit und die staatliche Ordnung in Mali zu gewährleisten. Die Mission ist aber auch als echte Hilfe zur
Selbsthilfe angelegt. Mit der intensiven Schulung und
den jetzt verstärkten Anstrengungen bei der Ausbildung
der Ausbilder verbindet sich die begründete Hoffnung,
dass bis zum Ende des Mandatierungszeitraums im Mai
2016 der weitere Aufbau der malischen Streitkräfte in eigener Regie erfolgen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheitslage
im Süden Malis scheint im Moment halbwegs stabil zu
sein; meine Vorredner sind hierauf bereits eingegangen.
Aber im Norden des Landes kann man von Stabilität leider nicht reden. Die jüngsten Vorkommnisse in Gao haben dies deutlich gemacht.
Nach den Krisenjahren 2012 und 2013 wurde 2014
von vielen als das entscheidende Jahr im Hinblick auf
die Rückkehr zu Frieden und Stabilität betrachtet. Die
Bilanz des Jahres 2014 ist aus meiner Sicht allerdings
eher ernüchternd. Zwar gelang es, Friedensverhandlungen in Algier aufzunehmen; ihr Abschluss steht aber
noch aus. Korruptionsskandale haben das Vertrauen der
Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft in
die malische Regierung erschüttert. Die Sicherheitslage
in den nördlichen Landesteilen hat sich deutlich verschlechtert. Armut und die enorme soziale Kluft im
Land wurden nicht verringert, und nach über einem Jahr
im Amt sehen sich der Staatspräsident und fast die gesamte Regierung einem massiven Vertrauensverlust gegenüber.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gute und sinnvolle Ausbildungsmission EUTM Mali, die auch in der
malischen Bevölkerung eine sehr hohe Zustimmung genießt, kann nur dann zu einer nachhaltigen Stabilisierung
Malis beitragen, wenn es auch in den anderen Bereichen
zu deutlichen Fortschritten kommt. Der ganzheitliche
Ansatz muss mit aller Kraft weiterverfolgt und erfolgreich umgesetzt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich würdige es ausdrücklich, dass Redezeit eingespart
wurde, auch wenn diese Zeit nicht auf die anderen Fraktionen übertragbar ist.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tatsächlich sind die massiven Probleme von Mali durch
die vielen dramatischen Krisenherde in der Welt in den
Hintergrund gerückt. Das bedeutet aber keineswegs,
dass alles in Ordnung wäre - leider.
Es begann ja Ende 2012, als Mali vor einer menschlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Katastrophe
stand. Es drohten dauerhafte Unterdrückung und Unterwerfung durch Terroristen. Die Zerstörung des kulturellen Erbes - ich will das hier auch einmal sagen, weil es
noch nicht erwähnt wurde - war ebenfalls ein Drama,
etwa in Timbuktu. Es gab von allen Seiten schwerste
Menschrechtsverletzungen, insbesondere im Norden des
Landes. Hinrichtungen, Auspeitschungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung.
Nun sage ich Ihnen eines, Herr Kollege Movassat:
Keine Hinrichtung, keine Verstümmelung, keine Vergewaltigung werden Sie verhindern durch eine Umverteilung von Vermögen! Das kann nur ein langfristiger Prozess schaffen. Es ist deshalb falsch, hier zu meinen,
damit löste man die Probleme dieses Landes.
({0})
Anfang 2013 hat die malische Regierung um Hilfe
gebeten, und zwar noch bevor die Hauptstadt durch islamistische Terroristen überrannt und eingenommen werden konnte. Dieser Bitte wurde durch ein energisches
Eingreifen französischer Truppen entsprochen. Ich sage
hier ausdrücklich Danke an die französischen Truppen,
die diesem schrecklichen Treiben ein Ende gesetzt haben.
({1})
Damals wie heute sind sich die Regierung und weite
Teile der Opposition, ausgenommen die Linke, einig,
dass eine Unterstützung auch durch deutsche Soldaten
richtig und wichtig ist. Damals hat übrigens - auch das
habe ich mit Schmunzeln festgestellt - Ihre Kollegin
Jutta Krellmann zunächst dafürgestimmt, hat allerdings
diese Zustimmung später widerrufen. So ganz sicher
sind Sie sich offenbar auch nicht.
Die Unterstützung ist wichtig, weil auch unsere Sicherheitsinteressen berührt sind. Regelmäßig hören und
lesen wir von neuen dramatischen Flüchtlingsströmen.
Diese kommen über das Mittelmeer nach Italien oder in
die spanische Exklave Melilla. Noch immer befinden
sich - darauf ist ja hingewiesen worden - 220 000 Menschen auf der Flucht, davon 140 000 als Vertriebene in
den umliegenden Staaten, und knapp 3 Millionen, nämlich 2,8 Millionen Menschen - 20 Prozent der gesamten
Einwohnerzahl - sind von Hunger bedroht. Das kann
uns hier nicht egal sein.
({2})
Wir müssen den Menschen eine Perspektive in der eigenen Heimat mit dem Ziel bieten, befriedete Regionen
zu schaffen. Wir müssen für Sicherheit und die Möglichkeit einer staatlichen Ordnung sorgen. Und wir müssen
die Menschen unterstützen, dass sie ihre Heimat nach
der Zerstörung wieder aufbauen können. Das gilt aber
nicht nur für das eigene Dach über dem Kopf, sondern
auch für die kulturelle Zerstörung, die stattgefunden hat.
2006 war Timbuktu Hauptstadt der islamischen Kultur.
Ein großer Teil der kulturellen Geschichte des Landes
und damit auch der Geschichte des Islams sind unter
Schutt und Asche begraben, begraben in gesprengten,
eingestürzten und schwer beschädigten Gebäuden.
In den vergangen zwei Jahren wurde zwar nicht alles,
aber einiges erreicht: Die Lage im Land hat sich verbessert, und zwar im Vergleich zum Beginn der Mission. Es
wurde darauf hingewiesen, dass 2013 auch Parlamentswahlen stattgefunden haben. Dennoch ist diese Arbeit
noch nicht abgeschlossen. Gerade jetzt dürfen wir nicht
den Fehler machen und die immer noch sehr fragilen
Strukturen - Frau Brugger hat darauf hingewiesen - sich
selbst überlassen. Wir haben uns engagiert und müssen
dieses Engagement mit Verantwortung zu Ende bringen.
Ab August stellen wir den Kommandeur der Mission.
Wir sorgen maßgeblich für eine sanitätsdienstliche Versorgung; auch das ist wichtig. Wir beteiligen uns mit
Soldaten und Polizisten an der UN-Mission. Viele malische Ministerien werden direkt von der Bundesregierung
unterstützt. Es gibt darüber hinaus viele schützenswerte
kleinere Projekte in Mali, die gefördert werden müssen.
Dies alles beruht übrigens auf einem guten Zusammen8092
spiel von Entwicklungs-, Sicherheits- und Außenpolitik.
Das gehört nämlich zusammen. Dennoch: Die Bedrohungslage wird noch als erheblich bis hoch eingestuft.
Daher ist es auch weiterhin nötig, dass wir mit unseren
Soldaten vor Ort sind und Hilfe zur Selbsthilfe leisten.
Zwei Ausbildungsrunden sind abgeschlossen, eine weitere sieht nun die vertiefende Ausbildung an den Heimatstandorten vor.
Kollegin Motschmann, Sie können gern noch sechs
Minuten weiterreden, aber das trifft dann Ihren Kollegen
Brandl.
Das will ich nicht. Ich bin auch am Ende meiner
Rede. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und
möchte am Ende noch den Soldatinnen und Soldaten
danken, die vor Ort diesen schweren Dienst tun.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl spricht zum Schluss
dieser Debatte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Motschmann. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bis 2012
galt Mali als Musterbeispiel für Demokratie in Afrika.
Deswegen ist es besonders bitter, anzusehen, wie das
Land heute um seine Existenz kämpft. Nach dem Sturm
der Tuareg 2012, dem Militärputsch, ist zwar jetzt zumindest auf dem Papier die verfassungsgemäße Ordnung
wiederhergestellt - es gab Wahlen; es gab Erfolge bei
der Korruptionsbekämpfung -, aber die Zukunft Malis
wird sich daran entscheiden, ob es erstens gelingt, eine
Aussöhnung zwischen den verschiedenen Ethnien herzustellen - während wir tagen, laufen in Algier gerade Gespräche, in die wir große Hoffnungen setzen -, und ob es
zweitens gelingt, ein Staatswesen aufzubauen, das Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und territoriale Integrität
für Mali bietet, das die verschiedenen Ethnien am politischen Prozess beteiligt und das alle Bürgerinnen und
Bürger am Wohlstand und der sozialen Entwicklung teilhaben lässt. Das wird ein langer Weg.
Ich kann Ihnen von einem persönlichen Erlebnis erzählen: Ich war 2013 mit dem damaligen Verteidigungsminister de Maizière in Mali. Wir hatten ein langes Gespräch mit Tuareg. Erstens waren sich diese schon
untereinander gar nicht einig. Zweitens haben sie in der
Stunde, während der wir zusammensaßen, eine Vielzahl
an Problemen aufgezählt: von Problemen mit Wasser,
mit Weideland über Konflikte zwischen sesshaften und
nicht sesshaften Gruppen bis hin zu Rache, Hass und
Gewalt, die entstanden sind in einem Konflikt, in dem
Mord und Gewalttaten nicht gesühnt und nicht rechtsstaatlich verfolgt worden sind. Nach dem Gespräch war
ich ziemlich desillusioniert. Es wird sicher Jahre dauern,
bis es gelingt, den Versöhnungsprozess mit auf den Weg
zu bringen.
Es hilft nichts: Wir haben gemeinsam ein Interesse
daran, dass Mali wieder stabil wird. Kein Interesse haben wir an einem instabilen Mali, aus dem Terrorismus,
organisierte Kriminalität und Instabilität in die Region
und die Welt exportiert werden.
Mali ist neben dem Horn von Afrika ein Schwerpunkt
der deutschen Hilfe in Afrika. Wir sind vielfach engagiert.
Zum Beispiel sind wir in der Entwicklungszusammenarbeit stark engagiert. Dabei geht es um Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung, Landwirtschaft sowie Aufbau von dezentralen Strukturen.
Die Rebellen in Mali stellen im Moment die Forderung, dass der Norden mehr Autonomie erhält. Wenn das
funktionieren soll, müssen die Kommunen im Norden
auch in die Lage versetzt werden, selbstständig für Daseinsvorsorge zu sorgen und die staatlichen Aufgaben,
die sie zu erledigen haben, wahrnehmen zu können. Dabei unterstützen wir das Land.
Wir sind engagiert bei MINUSMA, der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen, bei EUCAP Sahel
Mali, dem Aufbau der Polizeikräfte. Wir stellen mit
Dr. Conze im Moment den Leiter. Wir sind weiterhin
auch bei EUTM Mail engagiert, der Ausbildungsmission
der EU für die dortigen Streitkräfte. Um dieses Mandat
geht es heute. Wir werden das in den kommenden Wochen auch in den Ausschüssen beraten.
Als wir 2013 mit dem Mandat angefangen haben
- ich erinnere mich noch gut daran -, war im Prinzip
niemand da, den wir ausbilden konnten. Die malischen
Streitkräfte waren am Boden. Es war niemand da, der in
irgendeiner Form zum Beispiel etwas sichern konnte,
geschweige denn Grenzen.
Wir haben mit der Ausbildung schon erste Erfolge erzielt. Es ist mehrfach angesprochen worden: Mittlerweile befindet sich der sechste Gefechtsverband in der
Ausbildung. Jeder Gefechtsverband umfasst zwischen
600 und 700 Soldaten. Das heißt, wir haben bereits etwa
4 000 Soldaten ausgebildet. Zwei von den Verbänden haben bereits eine Wiederholung durchlaufen. Das ist jetzt
noch nicht viel, aber besser als nichts.
Natürlich sind die, die wir ausbilden, noch keine vollausgebildeten Soldaten in unserem Sinne. Es handelt
sich um eine Ausbildung, die acht bis zehn Wochen dauert. Die Soldaten lernen dort Grundlagen in Logistik und
Infanterie, aber auch im Bereich der Menschenrechte.
Wir müssen diese Ausbildung weiter durchführen und
brauchen einen langen Atem. Darauf ist unser Engagement in Afrika ausgelegt.
Ich möchte an dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Helfern danken, die für uns
in Afrika - speziell in Mali - unter sehr schwierigen Bedingungen Verantwortung übernehmen. Denken Sie nur
an Ebola, das jetzt Gott sei Dank an Mali vorbeigegangen ist. Sie übernehmen die Verantwortung, von der wir
heute hier sprechen. Ich wünsche ihnen alles Gute und
kann für meine Fraktion bereits ankündigen, dass wir
dem Mandat zustimmen werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3836 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe auf die Zusatzpunkte 2 und 3:
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag in die Entscheidung über die neue schnelle NATO-Eingreiftruppe einbeziehen
Drucksache 18/3922
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Alexander S. Neu, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Demilitarisierung statt Eskalation - Keine
NATO-Eingreiftruppe im Osten Europas
Drucksache 18/3913
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass die NATO über ihre Einsatzbereitschaft berät und
Strukturen verändern möchte, ist vor dem Hintergrund
der Sicherheitsbedenken östlicher Partnerstaaten - angesichts der Situation in der Ukraine - und auch südlicher
Partnerstaaten - angesichts der Lage im Mittelmeerraum
und im Nahen Osten - ganz nachvollziehbar. Dass die
Bundesregierung diese Diskussion im NATO-Rat bisher
völlig am Deutschen Bundestag vorbei geführt hat und
wir erst am Wochenende der Presse entnehmen mussten,
dass heute in Brüssel wichtige konkrete Entscheidungen
dazu fallen - bzw. gerade gefallen sind -, ohne dass bis
gestern auch nur ein Ausschuss genau informiert wurde,
ist dagegen überhaupt nicht nachvollziehbar.
({0})
Hätte meine Fraktion den Bericht gestern im Verteidigungsausschuss nicht kurzfristig beantragt, dann wäre
gar nichts erfolgt. Dieser Umgang mit dem Parlament ist
politisch schlechter Stil.
({1})
Man fragt sich schon, warum es um diese neuen Einsatzmodalitäten der NATO Response Forces so viel Leisetreterei gibt.
Wir wissen alle, dass in der NATO heftige Diskussionen über eine neue Stationierung größerer Truppenverbände in östlichen Partnerstaaten und die Vereinbarkeit
solcher Schritte mit der NATO-Russland-Grundakte
stattgefunden haben. Die NATO hat hier sehr verantwortlich und klug gehandelt und auf so etwas mit der
klaren Aussage verzichtet, dass die NATO-RusslandGrundakte nicht faktisch aufgekündigt werden soll.
Wenn jetzt das Zusammenziehen und die temporäre
Verlegung größerer Verbände im Rahmen einer schnellen Eingreiftruppe theoretisch im ganzen NATO-Gebiet
ermöglicht werden, dann wirft das die politische Frage
auf, ob das damit durch die Hintertür zurückgenommen
wird. Außerdem wirft die Tatsache, dass hier über Zeiträume von weniger als 48 Stunden geredet wird, die
Frage nach der politischen Kontrolle der militärischen
Abläufe auf. Wir wissen alle, dass Truppenverlegungen
und große Manöver eine enorme politische Bedeutung
bekommen und eine politische Dynamik der Eskalation
auslösen können, also eine hochpolitische Angelegenheit sind. Wir haben eine Parlamentsarmee. Deshalb gehört die Diskussion solcher Konzepte in den Bundestag,
bevor darüber in Brüssel beschlossen wird.
({2})
In der Presse kursieren teilweise beunruhigende Spekulationen über diese neue Very High Readiness Joint
Task Force - kurz: VJTF. Das ist das Resultat der ganzen
Geheimniskrämerei der Bundesregierung. Deswegen
frage ich die Bundesregierung und natürlich auch die
Regierungskoalition:
Wann wird das Konzept für die VJTF innerhalb der
NATO endgültig verabschiedet, und wie wollen Sie den
Deutschen Bundestag im Vorfeld einbinden? Oder war
es das heute etwa schon? Wie können Sie ausschließen,
dass durch ein Zusammenziehen militärischer Verbände
im Osten des NATO-Gebietes zum Zweck der schnelleren Reaktionsfähigkeit - durch die Entscheidung des
SACEUR, also des NATO-Oberbefehlshabers - eine
Truppenstationierung stattfindet, die nicht im Einklang
mit der NATO-Russland-Grundakte steht, und dass die
politische Kontrolle den militärischen Abläufen hinterherhinkt? Wann und unter welchen Bedingungen halten
Sie den Einsatz der VJTF in anderen Regionen als im
östlichen NATO-Gebiet - zum Beispiel im Mittelmeerraum - für möglich und geboten? Gibt es dazu schon
Überlegungen oder gar Planungen?
Gerade in der letzten Woche haben wir hier im Bundestag wieder über das Mandat für die Stationierung von
Patriot-Abwehrraketen innerhalb des NATO-Gebietes
- in der östlichen Türkei - diskutiert und abgestimmt.
Wir haben also NATO Response Forces de facto an die
südöstliche Grenze innerhalb der NATO verlegt. Die
Bundesregierung und alle Fraktionen waren und sind
sich bisher einig, dass dafür aufgrund der internationalen
politischen Rahmenbedingungen außerhalb des NATOGebietes ein Mandat des Bundestages politisch erforderlich ist. Die Parlamentsbeteiligung bei Bundeswehreinsätzen ist eben nicht nur eine rein rechtliche Frage,
sondern auch eine politische Frage der Gefahrenanalyse.
Dieser Konsens unseres Parlamentes darf nicht durch
neue Einsatzmodalitäten für neue schnelle Eingreiftruppen der NATO ausgehebelt werden.
({3})
Deswegen sind eine umfassende Information und eine
intensive Diskussion im Deutschen Bundestag sowie gegebenenfalls auch eine Beschlussfassung vor den Entscheidungen der NATO hierzu zentral. Wir fordern Sie
auf, das sicherzustellen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann
durchaus verstehen, dass der Kollege Schmidt und auch
die Opposition ein Informationsinteresse haben. Aber
ich kann nicht verstehen, dass in diesem Hause die
schnelle Eingreiftruppe als etwas Neues bezeichnet
wird.
Genau vor einem Jahr, am 4. und 5. Februar 2014, hat
die Krim ihre Zugehörigkeit zur Ukraine verloren. Seither wird der Osten der Ukraine zunehmend destabilisiert. Nach OSZE-Angaben sind innerhalb der Ukraine
1 Million Menschen auf der Flucht und insgesamt 5 Millionen Menschen betroffen.
Die NATO hat vor fünf Monaten, also rund ein halbes
Jahr nach der Destabilisierung der Krim und der
Ukraine, erstmals reagiert. Aber warum ist es nichts
Neues? Es sind drei Organisationen, die im Wesentlichen auf europäischem Boden für Sicherheit sorgen: Die
OSZE verfolgt die Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens - leider verfolgt sie sie mehr, als sie durchzusetzen -; die Europäische Union orchestriert die Sanktionen, und die NATO hat - das sage ich an dieser Stelle
ganz bewusst - in allererster Linie ein Zeichen der Rückversicherung in die eigenen Reihen zu geben. Es gibt
nämlich NATO-Staaten, die verunsichert sind, wie die
baltischen Staaten, die nicht wissen, was die eigentliche
Absicht hinter dem russischen Vorgehen ist.
Insofern möchte ich eine Lanze für die Bundesregierung brechen, die gerade bei den Verhandlungen in
Wales auf den Tag genau vor fünf Monaten durchgesetzt
hat, dass es nicht zu einer permanenten Stationierung
kommt und die NATO-Russland-Grundakte nicht außer
Kraft gesetzt wird.
({0})
Mit Blick auf die schnelle Eingreiftruppe der NATO
müssen wir uns auch in diesem Parlament ehrlich machen, was die Ausstattung unseres Militärs angeht. Die
NATO hat bereits 2002 die schnelle Eingreiftruppe beschlossen. Im Jahr 2007, also nach fünf Jahren des Aufbaus, wurde sie für einsatzfähig erklärt. Im Jahr 2008
kam es zur Finanzkrise.
Das, was wir jetzt erleben, ist, dass die NATO einen
Schritt zurückgeht: Von den 25 000 Soldaten, die für die
schnelle Eingreiftruppe, die NATO Response Force, vorgesehen waren, sind jetzt gerade einmal 5 000 für
schnell multinational einsatzfähig erklärt worden. Das
ist ein Fünftel des vorgesehenen Umfangs. Ich möchte
damit deutlich machen: Es ist viel weniger.
Das Einzige, was man anders gemacht hat, ist, dass
diese Eingreiftruppe besonders gut ausgestattet wird.
Aber es ist im deutschen Interesse, sie nicht permanent
jenseits von Oder und Neiße zu stationieren.
Für uns Deutsche kommt hinzu, dass wir zurzeit nach
zweijähriger Vorbereitungszeit in Münster die gesamte
NATO-Eingreiftruppe kommandieren, und zwar für ein
Jahr. Es fällt auch in dieses Jahr unserer Verantwortung,
dass wir mithelfen, das Hauptquartier für diese schnelle
Eingreiftruppe in Stettin zu befähigen. Worauf kommt es
dabei an? Es kommt darauf an, innerhalb weniger Stunden einsatzbereit zu sein. Das heißt, diejenigen Soldatinnen und Soldaten, die dort eingesetzt sind, können nicht
ohne Weiteres in Urlaub gehen. Sie sind binnen 48 Stunden in einer Alarmierungskette aufzurufen. Aber bis es
zu Verlegungen kommt, vergehen zwei oder drei Tage.
Das bedeutet: Es ist nichts anderes als das, was es bisher schon gab. Auch der Parlamentsvorbehalt ist in keiner Weise beeinträchtigt.
Lassen Sie mich noch ein paar sicherheitspolitische
Punkte ansprechen. Es ist in unserem deutschen Interesse, dass wir den Zusammenhalt in der NATO bewahren und dass wir weder eine NATO der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bekommen noch eine NATO,
die in Sorge oder gar in Angst und Schrecken ist, noch
eine NATO, die sich zurücklehnt. Deshalb soll diese Eingreiftruppe multinational sein; denn sie soll übergreifend
Solidarität zeigen.
Des Weiteren passt sie sich an aktuelle Verfahren und
sicherheitspolitische Herausforderungen an. Es ist unklar, Herr Kollege Schmidt, wo sie eingesetzt wird. Es
ist aber klar, dass sie für die baltischen Staaten wie auch
für Polen, Rumänien und Bulgarien ein Zeichen der
Rückversicherung ist.
Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte:
Es ist wichtig, dass wir als Bundestag gegenüber unserer
Bevölkerung deutlich machen, was für eine Form von
Sicherheitspolitik wir anstreben. Wir wollen doch auf
Russland gerade nicht militärisch reagieren. Wir weichen den militärischen Herausforderungen in unserem
Luftraum, aber auch anderen Grenzverletzungen aus.
Wir antworten nicht militärisch, sondern asymmetrisch
mit Sanktionen. Wir versuchen, die OSZE wiederzubeleben. Wir versuchen, die NATO als ein Instrument zu begreifen, das in erster Linie ein Zeichen nach innen gibt.
Es gibt natürlich Kräfte innerhalb der NATO, die etwas anderes wollen. Da ist deutsche Sicherheitspolitik
gefordert. Vor einem Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die am kommenden Wochenende erneut stattfindet, haben der Bundespräsident, die Verteidigungsministerin und der Außenminister unisono klargemacht,
dass wir Verantwortung übernehmen müssen. Verantwortung bedeutet nicht Aufrüstung, sondern bedeutet,
mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, sorgsam
umzugehen und auf diplomatischem Parkett, bei Verhandlungen sowie in den Bereichen der Sanktionen und
der militärischen Rückversicherung handlungsfähig zu
sein.
({1})
Wer das angreift wie die Kollegen der Linken, der gefährdet unsere Sicherheit.
Ich bin dankbar, Herr Kollege Schmidt, für Ihre
behutsamen Fragen. Ich hoffe, dass ich zur Aufklärung
beigetragen habe. Meine Fraktion jedenfalls unterstützt
eine behutsame Vorgehensweise. Wir wollen weiterhin,
dass unser Land in der Lage ist, Frieden zu schaffen
durch einen orchestrierten Einsatz unterschiedlicher Organisationen. Wir wollen uns nicht ausschließlich militärisch orientieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege
Dr. Alexander Neu das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Kiesewetter, das war eine tolle Märchenstunde, die Sie uns gerade bereitet haben.
({0})
- Als Märchen. - Fakt ist doch, dass wir uns derzeit einer wachsenden militärischen Gefährdung in Europa
ausgesetzt sehen, wie es seit Mitte der 80er-Jahre nicht
mehr der Fall war. Russland und der Westen gießen
wechselseitig Öl ins Feuer, sowohl mit verschärfter politischer Rhetorik als auch mit militärischen Maßnahmen,
natürlich immer nur als Reaktion auf das Verhalten der
jeweils anderen Seite, also nur als Verteidigung. So
lautet die Rechtfertigung jeder Seite. Die jeweils andere
Seite sieht das jedoch anders, nämlich als eine Provokation und als einen aggressiven Schritt. Damit verhält
es sich, als ob zwei Züge auf einem Gleis aufeinander
zurasten und jede Seite beschleunigte mit dem Hinweis,
dass auch die andere Seite beschleunigt. Das Thema der
Entschleunigung spielt keine Rolle mehr. So entstehen
Kriege. Die Gefahr eines Flächenbrandes in Europa
wächst derzeit, auch durch das Mittun von NATO-Staaten.
({1})
Der Aufbau und die Verlegung der sogenannten
NATO-Speerspitze und deren Vorhut unter maßgeblicher
deutscher Verantwortung und Beteiligung tragen zu dieser wachsenden Kriegsgefahr bei. Es mag für Polen und
die baltischen Staaten beruhigend sein, wenn die NATO
ihre Präsenz auf deren Territorien temporär - vielleicht
auch nichttemporär - ausweitet. Aber mehr militärische
Präsenz der NATO im Baltikum, in Polen oder auf dem
östlichen Balkan stellt keinen realen Sicherheitszugewinn dar, im Gegenteil.
({2})
Russland seinerseits versteht genau das als eine weitere
Provokation, auf die es reagieren müsse; so lautet die
Interpretation in Russland. Das darf man nicht beiseiteschieben. Es geht um Wahrnehmung und Empathie von
Wahrnehmung.
({3})
Die baltischen Staaten, Polen und andere osteuropäische
Staaten müssen lernen und akzeptieren, dass europäische
Sicherheit und ihre Sicherheit ohne oder gegen Russland
nicht möglich sind.
({4})
Das Gleiche gilt natürlich für Russland. Mehr militärische Präsenz russischer Truppen an der Westgrenze
schafft nicht mehr Sicherheit für Russland.
Kommen wir auf den Konflikt als solchen zurück. Die
Ursache des zugespitzten Konflikts zwischen dem
Westen und Russland ist nicht die Ukraine. Der UkraineKonflikt ist lediglich der Siedepunkt, an dem Russland
aus seiner Sicht die Reißleine zu ziehen gedenkt. Die Ursache ist die Expansionspolitik von NATO und EU im
Kontext eines geostrategischen und geoökonomischen
Machtkampfs um Einflusszonen im postsowjetischen
Gebiet.
({5})
Es gibt eine andere Überlegung seit Anfang der 90erJahre, die eines gemeinsamen europäischen Hauses, die
völlig verworfen wurde, Kollege. Darüber können wir
gerne noch einmal reden. Sie wissen, dass selbst die SPD
Anfang der 90er-Jahre damit geliebäugelt hat. Aber das
hat irgendwann keine Rolle mehr gespielt. Es ging nur
noch um NATO-Osterweiterung und EU-Osterweiterung.
({6})
Statt eines gemeinsamen europäischen Hauses von
Lissabon bis Wladiwostok, was von der UdSSR unter
Gorbatschow seinerzeit vorgeschlagen wurde, geht es
um Einflusszonen wie im 19. und 20. Jahrhundert. Man
hat offensichtlich auch im Westen nicht aus der Geschichte gelernt.
({7})
Allein der Georgien-Krieg 2008 hätte ein Warnsignal
gegen die westliche Expansionspolitik nach Osten sein
müssen, war es aber nicht. Der Versuch Moskaus 2008,
mit dem Vorschlag einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur Stabilität in Europa, insbesondere in
Osteuropa, zu erreichen, wurde in den westlichen Hauptstädten nicht einmal debattiert.
({8})
- Das war ein Resultat, Kollege. - Stattdessen gibt es
Druck auf osteuropäische Staaten, die eventuell weniger
Interesse haben, der EU beizutreten, siehe die Regierung
in Kiew 2013, als sie die Assoziierungsvereinbarung
noch nicht unterzeichnen wollte, wohlgemerkt: noch
nicht unterzeichnen wollte. Als sie das letztendlich verweigerte, gab es eine massive Einmischung von EUStaaten in die inneren Angelegenheiten eines sogenannten souveränen Staates, und es gab eine definitive Unterstützung der Demos auf dem Maidan durch europäische
Staaten und europäische Politiker, sogar finanzielle und
technische Unterstützung des Maidan bis hin zur Unterstützung des Putsches gegen eine gewählte ukrainische
Regierung.
All diese völkerrechtswidrigen Interventionen sind
eine Selbstverständlichkeit und gehören zum Instrumentenkoffer westlicher Außen- und Sicherheitspolitik. Von
Souveränität ist keine Rede mehr, nicht wenn es um andere Staaten geht. Souveränität darf lediglich der Westen
für sich beanspruchen.
Auf russischer Seite wird ebenfalls ein Konfrontationskurs gefahren. Stichworte: Krim, Unterstützung der
Aufständischen im Osten der Ukraine. Auch das ist nicht
zu tolerieren, auch das weisen wir als Linke zurück.
({9})
Nun vernehmen wir seit einigen Tagen zunehmend
Diskussionen über eventuelle Waffenlieferungen der
USA an die Ukraine. Einmal ja, einmal nein, es gibt verschiedene Stimmen, auch in unserem Hause gibt es verschiedene Stimmen.
({10})
- Bei Russland ist es vielleicht einfacher. - Dennoch
wird auch in unserem Hause darüber diskutiert, womit
eine neue Eskalationsstufe beschritten werden würde,
würde man dem nachgeben. Wenn Frau Merkel in den
nächsten Tagen nach Washington fliegt, erwarten die
Menschen in diesem Land, dass Frau Merkel Tacheles
gegenüber Obama redet und klarmacht, dass Waffenlieferungen an die Ukraine tabu sind.
({11})
Deutschland muss Vorreiter sein, indem es sich gegen
alle Eskalationsschritte wehrt und sich diesen entgegenstellt. Dazu gehört auch der Verzicht auf die Teilnahme
an der NATO-Speerspitze und dem sogenannten Voraustrupp.
({12})
Es wird höchste Zeit, dass Europa erwachsen und
souverän wird. Das heißt, Europa muss die europäische
Sicherheit unter Beteiligung Russlands selbst gestalten.
Eine europäische Sicherheit darf kein geopolitisches
Sandkastenspielchen einer außereuropäischen Macht
bleiben.
({13})
- Ich weiß, dass Sie das nicht verstehen; das kann ich
mir vorstellen. - Die Alternative zur bisherigen Sackgassenpolitik der NATO und zur EU-Osterweiterung führt
nämlich weiter. Das System gegenseitiger kollektiver Sicherheit unter Einschluss Russlands ist eine gangbare
Option von Europa und für Europa.
Die Linke wird den Antrag der Grünen nicht ablehnen, aber nicht deshalb, weil wir alle Positionen teilen.
Im Gegenteil: Der Antrag streift nur das eigentliche Problem. Man hat bei den Grünen hin und wieder den Eindruck, dass sie gar nicht so sehr gegen die Konfrontationspolitik sind, sondern dass sie in der Opposition nur
mitentscheiden möchten. Das greift definitiv zu kurz.
({14})
Kollege Neu, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende. - Die Linke wird sich dem
Grünen-Antrag nicht widersetzen. Wir werden uns enthalten und bringen einen eigenen Antrag ein.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Niels
Annen das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin, vielen Dank. - Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Neu, Sie haben hier davon
gesprochen, über Fakten reden zu wollen, und Sie haben
die verschärfte Rhetorik beklagt. Ich will Ihnen einmal
vorlesen, was Ihre Kollegin Christine Buchholz heute in
einer Pressemitteilung zu dieser Debatte geschrieben
hat. Sie hat nämlich geschrieben, Deutschland solle über
das Bündnis, also die NATO, durch diese neue Taskforce
strategisch auf einen möglichen - ich zitiere sie - „Landkrieg gegen Russland orientiert“ werden. Lieber Kollege
Neu, wenn irgendjemand hier in diesem Hause die Rhetorik verschärft, dann ist es ja wohl Ihre Fraktion. Ich
finde das wirklich unangemessen.
({0})
Ich will auch aus Ihrem Antrag zitieren.
({1})
Da steht, es sei „ein gefährlicher Schritt, der entscheidend zur Dynamik der Feindseligkeiten im Verhältnis
zwischen Russland und der NATO beiträgt“. Wenn man
so etwas liest, wenn man Ihren Reden zuhört, dann hat
man manchmal den Eindruck, Sie läsen hier das Manuskript eines Nachrichtensprechers von Russia Today ab.
Wir führen hier wirklich keine konstruktive Debatte.
({2})
Sie sind überhaupt nicht darauf eingegangen, dass
heute die Nachricht verbreitet worden ist, dass sich die
Bundeskanzlerin unseres Landes mit dem französischen
Präsidenten auf einer Reise befindet, um in Kiew und in
Moskau über eine Lösung dieser Krise zu reden. Das
hätten Sie zumindest einmal erwähnen können.
Ihr Problem in dieser Debatte ist doch, dass Sie - das
ist nicht ganz ungefährlich - Ursache und Wirkung verwechseln. Dann kommt man zu falschen Schlussfolgerungen, Herr Kollege Neu.
({3})
Deswegen ist es vielleicht hilfreich, sich an dem zu
orientieren, was die NATO eigentlich beschlossen hat.
Der Kollege Kiesewetter hat das hier sehr gut zusammengefasst. Der NATO-Gipfel in Wales musste auf eine
neue sicherheitspolitische Situation reagieren. Die erste
Feststellung, die man hier doch machen muss, ist: Es
war ja nicht die NATO, die die Grundlage der Kooperation aufgekündigt hat, die diese Krise ausgelöst hat, sondern es war Russland mit seinem Verhalten:
({4})
mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, mit
der fortgesetzten Unterstützung der militärischen Operation durch die sogenannten Separatisten in der Ostukraine.
Ich will noch zu etwas anderem, was in diesen Debatten eine Rolle gespielt hat, etwas sagen. Es war ja nicht
so, dass sich alle in der NATO von Anfang an auf eine
Strategie verständigt haben. Es gab auch innerhalb der
NATO Kräfte, die auf eine aggressive, ja, zum Teil auch
militärische Antwort gedrungen haben. Wir haben diesem Druck eben nicht nachgegeben.
Es war doch der Außenminister, Frank-Walter
Steinmeier, der in Wales und in der Vorbereitung von
Wales dafür gesorgt hat, dass wir eine ausgewogene, balancierte Antwort erhalten haben: auf der einen Seite
- auch das gehört dazu, Herr Kollege Neu - eine Verstärkung der kollektiven Verteidigungsbemühungen über
den sogenannten Readiness Action Plan und auf der anderen Seite eine Bekräftigung des regelbasierten europäischen Systems der Sicherheitsarchitektur, die wir gemeinsam aufgebaut haben, inklusive der NATORussland-Grundakte von 1997, die der eine oder andere
Bündnispartner durchaus zur Disposition stellen wollte.
Gleichzeitig hat dieser Gipfel deutlich gemacht - auch
darüber haben Sie nicht geredet -: Es wird für diesen
Konflikt keine militärische Lösung geben. Auch das
hätte man einmal erwähnen können.
Auch weil wir hier eine Debatte darüber führen, dass
aus den Vereinigten Staaten Vorschläge kamen, Waffen
zu liefern, will ich noch einmal sagen: Meine Fraktion
hat hier eine ganz klare Haltung: Wir sind gegen Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung,
({5})
auch weil sie zu einer Verschärfung des Konfliktes beitragen würden und weil sie dazu beitragen würden, dass
wir möglicherweise noch mehr als die geschätzt schon
5 000 Toten in diesem Konflikt zu beklagen hätten. Außerdem wäre die Umsetzung dieses Vorschlages eine
Gefahr für das wichtigste Gut, das wir in der letzten Zeit
erreicht haben, nämlich die Übereinstimmung innerhalb
der NATO, innerhalb der Europäischen Union und mit
den Partnern in Washington.
Wahr ist aber auch - ich finde, auch das muss man
einmal sagen -: Dass wir diese Debatte führen, hängt
doch auch damit zusammen, dass man sich an Verabredungen nicht gehalten hat, dass Mariupol beschossen
worden ist, dass es weiterhin militärische Operationen
gibt.
({6})
Deswegen bin ich über diese Debatte zwar nicht erfreut;
aber ich bin auch nicht überrascht. Ich finde es bedauerlich, dass die morgen beginnende Münchner Sicherheitskonferenz durch Äußerungen ihres Vorsitzenden über
Waffenlieferungen belastet worden ist.
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zur
NATO. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise mussten wir uns - ich habe es gesagt - auf eine neue Situation
einstellen. Es sind vernünftige Beschlüsse gefasst wor8098
den. Die sogenannten Reassurance-Maßnahmen sind
doch eine Antwort auf etwas, was man nicht einfach
wegdiskutieren kann.
Ich will auch eingestehen: Ich freue mich nicht über
jede Äußerung, die ich im Baltikum höre; ich bin auch
nicht mit jeder Äußerung einverstanden. Aber wenn wir
ein Bündnis sind, das etwas auf sich hält, dann müssen
wir doch dafür sorgen, dass wir die Sorgen und Nöte
ernst nehmen. Deswegen gehört beides dazu. Die Reassurance-Maßnahmen - Air Policing im Baltikum, Patrouillenfahrten in den baltischen Raum, AWACS-Flüge
und jetzt die Very High Readiness Joint Task Force sind sozusagen ein Teil des Pakets, zu dem auch die Gesprächsbereitschaft mit Russland, die Dialogformate, die
wir entwickelt haben, und die beständigen diplomatischen Initiativen unseres Außenministers und der Bundeskanzlerin gehören. Das gehört zusammen.
Ich will am Schluss noch sagen: Herr Kollege
Schmidt, ich finde, Sie haben hier wichtige Fragen gestellt. Wir diskutieren gerade über diese grundsätzlichen
Fragen. Die nächste Sitzung der Parlamentsbeteiligungskommission ist am 25. Februar. Ich würde mich freuen,
wenn Sie sich daran beteiligen würden. Dann können
wir in Ruhe miteinander auch über diese Fragen sprechen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Der Kollege Wilfried Lorenz hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wovon reden wir heute? Wir
reden von der Glaubwürdigkeit der Nordatlantischen Allianz, und wir reden von Deeskalation durch Prävention.
Beim NATO-Gipfel in Wales wurde die schnelle Eingreiftruppe Very High Readiness Joint Task Force, die
sogenannte Speerspitze, beschlossen. Damit setzen die
NATO-Mitgliedstaaten ein deutliches Zeichen der Entschlossenheit, Standhaftigkeit und Einigkeit. Dieses Zeichen geht erstens an sechs Staaten an der Ostgrenze Europas - Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und
Bulgarien - und zweitens an die russische Führung.
Auch Deutschland setzt ein klares Zeichen: Wir stehen zu unserer Verantwortung in der NATO - nicht nur
als militärisches Bündnis, sondern auch als politische
Wertegemeinschaft -, und wir machen unsere sicherheits- und verteidigungspolitischen Hausaufgaben.
Meine Damen und Herren, Deeskalation durch Bereitstellung eines militärischen Kontingents, das in drei
bis fünf Tagen einsatzbereit ist, also viel schneller einsatzbereit ist als die Immediate Response Force: „Wie
geht das?“, werden Sie sich fragen.
({0})
Ich bin sicher: Wer glaubwürdig verhandeln will, muss
ein ernst zu nehmendes Potenzial - politisches, wirtschaftliches und, wo notwendig, auch militärisches vorweisen können. Genau dieses Potenzial ist ein erprobtes, wirksames und glaubwürdiges Mittel zur Verhinderung von kriegerischen Auseinandersetzungen. Gerade Deutschland hat vor dem Fall des Eisernen
Vorhangs von der Präsenz und Glaubwürdigkeit der
NATO profitiert und danach von einem Europa in Frieden und Freiheit.
Meine Damen und Herren, zur Glaubwürdigkeit gehört zudem eine angemessene Reaktion auf Lageänderungen. Die NATO hat schnell mit einem außerordentlich schnellen Instrument reagiert. Die Beschlüsse von
Wales sind - inhaltlich wie auch in der zeitlichen Taktung - die richtige Antwort auf die Vorstellung Russlands, ein Land könne nach Belieben vorgeben, wie
Grenzen im 21. Jahrhundert verändert werden.
Die aktuelle Lage deckt sich nicht eins zu eins mit der
Ost-West-Auseinandersetzung im Kalten Krieg. Seither
haben sich friedliche Revolutionen vollzogen. Ehemalige Blockstaaten sind unabhängig geworden. Andererseits ist Russland wieder eine Bedrohung - ich formuliere das auch bewusst so -,
({1})
eine Bedrohung des internationalen Rechts und der Souveränität freier Staaten, um diese Frage klar und deutlich
zu beantworten, Herr Neu.
({2})
Ansonsten möchte ich auf Ihre Märchenstunde nun wirklich nicht weiter eingehen.
({3})
Belege dafür - ich liefere sie - sind unter anderem die
jüngsten Geländegewinne der moskautreuen Rebellen
über die in Minsk festgelegten Grenzen hinaus. Sie wissen, da hat Russland zugestimmt. Das sollten Sie eigentlich auch einmal klar und deutlich sagen. Ohne militärische Unterstützung Russlands wäre dies nicht möglich
gewesen. Dies bestätigt, dass hier ein Machtanspruch
mit Waffengewalt durchgesetzt wird, und das zeigt den
fehlenden Willen zur Kooperation. Das muss man hier,
glaube ich, einmal in aller Deutlichkeit formulieren.
Meine Damen und Herren, nach der Annexion der
Krim und den sich ständig steigernden militärischen Provokationen an der Grenze der NATO durch die russische
Führung ist der Gedanke der Bündnisverteidigung im
Rahmen der NATO wieder stärker in den Vordergrund
gerückt. Unsere eigene Landesverteidigung ist darin eingebunden. Als einzelner Staat, aber auch im Verbund mit
unseren Bündnispartnern zeigen wir mit VJTF unsere
Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit. Wir zeigen,
dass wir für den Artikel-5-Fall in der NATO fest zusammenstehen. Das bedeutet: Die NATO ist glaubwürdig in
Wort und Tat. Das, meine Damen und Herren, ist die
beste Prävention, der beste Schutz vor territorialen Begehrlichkeiten im Osten Europas.
({4})
- Lieber Herr Gehrcke, ich will jetzt nicht auf Ihr Studium in Moskau zurückkommen.
({5})
Aber ich würde jetzt sehr gern einmal auf die Geschichte zurückgreifen. Wir werden gleich dazu kommen, was die NATO damals mit ihrer Standhaftigkeit erreicht hat, nämlich den Fall der eisernen Grenzen,
({6})
die Möglichkeit des Zusammenschlusses von Europa
und das, was Sie nun ganz bestimmt nicht hören wollen,
nämlich Frieden und Freiheit in vielen ehemaligen Vasallenstaaten der alten Sowjetunion.
({7})
Diese Menschen sind froh und dankbar, dass sie in Frieden und Freiheit leben, und dafür wird die NATO auch
weiter eintreten.
({8})
Meine Damen und Herren, gleichzeitig setzen wir
aber auf Vernunft und Einsicht des Kremls, auf Einsicht
in das Recht frei entscheidender und souveräner Staaten,
auf die Einsicht schließlich, dass die internationale Staatengemeinschaft militärisch erzwungene Grenzverschiebungen - wie in den letzten Jahrhunderten - nicht zu
dulden bereit ist.
({9})
Es ist oft formuliert worden, und ich will es hier auch
tun: Das Recht des Stärkeren darf nicht wieder die
Stärke des Rechts beugen.
({10})
- Herr Dr. Neu, wir können uns vielleicht einmal zu einem vernünftigen Gespräch zusammensetzen, nur fehlt
mir im Moment dazu leider ein bisschen die Hoffnung.
({11})
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat
der russischen Führung ein klares Zeichen gesandt. Sie
hat die Bereitschaft zu Gesprächen über eine Zusammenarbeit des europäischen mit dem euroasiatischen
Wirtschaftsraum signalisiert - das, was Herr Putin schon
einmal angesprochen hat -, also von Wladiwostok bis
Lissabon. Wie Sie vorhin gehört haben, sind die führenden politischen Kräfte bereit und auf dem Wege, in der
Ukraine darüber zu sprechen, wie die sehr kritisch gewordene Lage dort zu entkrampfen ist.
In der jüngeren Geschichte wurde schon einmal bewiesen - jetzt komme ich zu Herrn Gehrcke -, dass die
Stärke der Menschen mit dem Streben nach Frieden,
Freiheit und Menschenrechten Systeme zum Einsturz
bringen kann. Und schon einmal waren Standhaftigkeit
und Entschlossenheit der NATO von Erfolg gekrönt: Der
Eiserne Vorhang fiel, und es entstand ein Europa in Frieden und Freiheit.
Herr Kollege Lorenz, darf ich Sie an die vereinbarte
Redezeit erinnern?
Danke. - Aus der Geschichte darf, soll und muss man
lernen. Ich will jetzt nicht auf die VJTF eingehen, dazu
ist schon ausgiebig gesprochen worden. Ich möchte nur
zusammenfassen: Wir, Deutschland, tragen unseren Teil
der Verantwortung in der NATO und stärken das gemeinsame Vorhaben. Entscheidend ist - das ist auch
mein Schlusswort -: Die Allianz - und mit ihr Deutschland - ist bereit und fähig, allen Verpflichtungen des
NATO-Bündnisses gerecht zu werden. Dazu senden wir
hier und heute aus diesem Haus ein klares Signal.
Ich bedanke mich.
({0})
Jetzt hat der Kollege Gehrcke für eine Kurzintervention das Wort.
Ich möchte dem Kollegen Lorenz eine Antwort nicht
schuldig bleiben. Wenn Sie meine Erfahrungen zur
Grundlage nehmen: Ich habe immer auf die Stärke der
Menschen gebaut, auch dann, wenn sie eine andere Position hatten als ich. Ich war immer ein Freund von Wandel durch Annäherung. Ich habe ihn mir anders vorgestellt, aber man muss doch zugeben, dass ausschließlich
Entspannungspolitik, die Bereitschaft, selbst abzurüsten
- rhetorisch, politisch -, in Europa Veränderungen gebracht hat.
Ich möchte nicht, dass wir in den Kalten Krieg zurückfallen. Das würde ich unerträglich finden. Dazu gehört auch, gegenüber Russland in einer anderen Sprache
zu sprechen, sich in einem anderen Verständnis zu nähern und zu argumentieren. Wenn man die Interessen
auch der anderen Seite nicht in Rechnung stellt, wird
man immer gegen die Wand laufen.
({0})
Ich finde, wir sollten hier endlich begreifen, auch russische Interessen in Rechnung zu stellen. Man muss ihnen nicht nachgeben, man muss sie nicht tolerieren, man
muss sie in Rechnung stellen. Die Erfahrung Russlands
nach der Vereinigung war, dass das, was besprochen und
vereinbart war - die NATO wird nicht gen Osten ausgeweitet -, schändlich gebrochen worden ist.
({1})
Das hat in Russland das Gefühl hervorgebracht: Wir
werden pausenlos reingelegt. Wir werden betrogen und
reingelegt.
({2})
Mit einem solchen Gefühl kann man Fragen nicht beantworten. Sie müssen die Frage beantworten: Müssen
wir nicht Interesse an einem starken Russland, einem
starken Präsidenten haben, gerade wenn man Irrationalitäten vermeiden will? Ich möchte, dass mit einem starken Russland vernünftige Vereinbarungen für Europa
getroffen werden. Man kann Truppen reduzieren, abrüsten, auch einseitig abrüsten. Warum überlegen Sie nicht,
wie man aus dieser furchtbaren Krise in der Ukraine herauskommt? Es mag sein, dass ein eingefrorener Kompromiss, eine eingefrorene Situation etwas Schlechtes
ist. Das ist aber allemal besser als eine heiße Lösung.
Deswegen bin ich dafür, dass der Konflikt in der Ukraine
eingefroren wird.
({3})
Das geht nur, wenn die NATO nicht weiter zuspitzt,
wenn man auf Russland zugeht. Das müsste man erreichen.
Zu meinem Aufenthalt in Moskau, meinem Studium.
Man ist nicht dümmer geworden. Das ist auch nicht
schlecht. Man hat die Mentalität der Menschen in einem
anderen Land ein bisschen kennengelernt. Diese Erfahrung geht vielen hier im Hause ab. Ich fordere Sie auf:
Versuchen Sie auch ein bisschen, Russland zu studieren.
Sie müssen nicht in Russland studieren. Versuchen Sie,
zu begreifen, was dort geschieht, damit wir eine klügere
und bessere Politik machen. Das wollte ich Ihnen noch
sagen.
Herzlichen Dank.
({4})
Herr Kollege Lorenz, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern.
Herr Präsident! Herr Kollege Gehrcke, natürlich kann
man überall studieren. Man kann überall lernen. Sie haben gelernt. Das haben Sie mit Ihrer Rede gerade deutlich gemacht.
Ich möchte aber noch einmal drei Punkte ansprechen.
Ich habe eine klare, deutliche Sprache. Die ist auch
notwendig, wenn man miteinander verhandeln und sprechen will; denn nichts ist schlimmer als Missverständnisse. Da werden Sie mir zumindest recht geben.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen: Im letzten Jahrhundert hat uns Appeasement wirklich nicht geholfen, um das klar und deutlich zu formulieren.
({0})
Eine abschließende Bemerkung. Sie haben ganz klar
vom eingefrorenen Konflikt, vom „frozen conflict“ in
der Ukraine gesprochen. Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar, weil Sie damit aus Ihrer Sicht noch einmal das Ziel
von Putin klar definiert haben.
Danke.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Hellmich,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in Münster
studiert. Dort war es auch sehr schön.
({0})
Im Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften
spielte die Militärgeschichte eine nicht unwesentliche
Rolle. Im Kontext von militärhistorischen Studien über
die Ursache von Kriegen sollten wir uns sehr differenziert darüber unterhalten, wer an welcher Stelle im historischen Kontext mit welchen Maßnahmen dazu beigetragen hat, dass Kriege ausgebrochen sind. Ich glaube, wir
kommen hier zu einem sehr unterschiedlichen Ergebnis.
Die NATO hat auf ihrem Gipfel in Wales angesichts
der historischen Lage, in der sich Europa und die Welt
befanden, genau die richtigen und angemessenen Beschlüsse gefasst, um den Mitgliedstaaten der NATO die
Sicherheit zu geben, die sie angesichts der Aggression,
wie wir sie im Osten erleben, brauchen.
({1})
Der Readiness Action Plan mit dem Ziel der Steigerung der Reaktionsschnelligkeit der NATO und alle
Maßnahmen, die dadurch entstanden sind, sind eine
Ausfüllung dieser Beschlüsse von Wales. Sie dienen der
Festigung der Sicherheit im Bündnis und des Bündnisses. Wir machen klar: Die Beistandsverpflichtung von
Artikel 5 des NATO-Vertrages gilt. Die Vereinbarungen
der NATO füllen dies mit den angemessenen Instrumenten aus. Deutschland leistet mit seinem Beitrag zum
Multinationalen Korps Nordost in Stettin, auch auf
Wunsch der Polen, einen wichtigen Beitrag zum Readiness Action Plan. Das ist für die Nachbarn im Osten unser sichtbarer Beitrag zu ihrer Sicherheit.
Dass Deutschland in diesem Jahr die Führung bei der
Realisierung der NATO-Speerspitze übernimmt - der
Stab des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster
und das Panzergrenadierbataillon aus dem sächsischen
Marienberg werden die Speerspitze füllen -, passt genau
in den Rahmen, den wir an der Stelle setzen, um mehr
Sicherheit für die Mitglieder der NATO zu schaffen.
Deutschland wird sich auch an dem Aufbau logistischer
Stützpunkte in sechs Staaten an der Ostflanke der NATO
beteiligen, um das Rotationsprinzip realisieren zu können und unsere Fähigkeiten einzubringen - auch eine angemessene und richtige Reaktion.
Diese Maßnahmen der NATO sind rein defensiv; sie
bedrohen keinen Staat.
({2})
Sie machen aber auch deutlich, dass es die NATO mit
der Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten ernst meint und sie
auch Ernst macht. Das hat natürlich mit dem Verhalten
Russlands in der Ukraine zu tun. Wir fordern Russland
weiterhin auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Denn wir wissen: Militärisch ist der Konflikt nicht
zu lösen, durch keine Seite. Es ist deshalb nur zu wünschen, dass Präsident Hollande und unsere Kanzlerin bei
ihrem gemeinsamen Besuch in Kiew und Moskau Erfolg
haben.
Russland führt in der Ukraine einen Krieg mit eigenen Soldatinnen und Soldaten. Dass in Russland Müttervereine gebildet werden, die sich um die Familien der
gefallenen russischen Soldaten kümmern, ist eigentlich
ein sichtbarer Beleg dafür, wie sehr Russland mit eigenen Kräften in den Konflikt in der Ukraine verstrickt ist.
Weil an anderer Stelle so getan wird, als ob da nur mit
Wattebäuschchen geschmissen würde, müssen wir uns
über die Situation klar werden, in der wir uns befinden:
Russische Flugzeuge üben den Anflug auf das NATOTerritorium und auch auf Nicht-NATO-Staaten, um die
Reaktionsfähigkeit zu testen. Transponder werden abgestellt; die drohenden Folgen werden bewusst in Kauf genommen sowie der zivile Luftverkehr in Gefahr gebracht. Mobile atomare Mittelstreckenraketen vom Typ
SS-26 werden ohne eine Ankündigung gegenüber den
Partnern, wie sie eigentlich nötig wäre, über die Ostsee
nach Kaliningrad verbracht. Russland testet neue
Marschflugkörper - gegen jede Vereinbarung, gegen internationale Abrüstungsverträge wie den INF-Vertrag.
({3})
Zu guter Letzt wird Bosnien und Herzegowina der Gashahn zugedreht, damit keine Munitionslieferungen an
die ukrainische Regierung mehr erfolgen. - Man muss
sich all das einmal vor Augen führen, damit man sieht,
mit welchen Instrumenten an der Stelle gearbeitet wird.
Ist das nur Drohung? Ja, was ist das, was an der Stelle
gemacht wird? Mit den Begriffen „druschba“ und „mir“,
die auch ich bei vielen Besuchen in Russland und in der
Sowjetunion, in Aserbaidschan gelernt und auch gelebt
habe, hat all das, was da passiert, nichts zu tun.
({4})
Es handelt sich um das Ausdehnen eines Machtbereiches.
Wir haben gestern im Verteidigungsausschuss über
die Situation gesprochen. Es wurde uns vom GI erklärt,
welche Maßnahmen ergriffen werden. Ich verstehe das
Anliegen der Grünen, mit großer Vorsicht an diese Fragen heranzugehen. Das tun wir auch in jeder Diskussion.
Aber, Herr Schmidt, vor jedem Treffen der NATO-Verteidigungsminister gibt es eine vorbereitende Diskussion
im Verteidigungsausschuss, nicht nur auf Ihre Initiative
hin.
({5})
Anders verhält es sich leider mit dem Antrag der Linken. Ein Satz sei zitiert - leider -:
Die baltischen Staaten fühlen sich bedroht, aber
auch Russland fürchtet um seine Sicherheit und
seine Rolle in der Welt …
Das sagt alles. Sie legitimieren die Aggression Russlands gegen die Ukraine.
Herr Kollege Hellmich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Brugger?
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Hellmich, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. Es ist durchaus üblich, dass wir
im Verteidigungsausschuss vor jedem NATO-Verteidigungsministertreffen unterrichtet werden. In der Regel
gibt es immer einen schriftlichen Bericht. Aber Ihnen
dürfte ja auch nicht entgangen sein, dass er ausgerechnet
bei der letzten Sitzung gefehlt hat.
({0})
Es gab nur einen Bericht zum EU-Verteidigungsministertreffen. Wir haben dann am Montag, als wir die Presseberichterstattung gesehen haben, beantragt, dass die
Bundesregierung Stellung dazu nimmt, bevor irgendwelche Festlegungen in der NATO getroffen werden. Dass
es uns skeptisch macht, dass ausgerechnet jetzt der Bericht ausnahmsweise nicht vorher vorliegt, ist ja wohl
durchaus berechtigt.
({1})
Frau Kollegin, da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht.
Deshalb sage ich ja: Ich verstehe, dass Sie da mit Vorsicht herangehen. Die differenzierte Weise der Behandlung
der Tagesordnungspunkte - einerseits mit Vorlage, andererseits ohne Vorlage, nur mit mündlichem Bericht - haben
wir selbstverständlich auch bemerkt. Dennoch hätte es aber
die Diskussion und die Informationen in der Sitzung gestern auf jeden Fall gegeben; so ist das nicht.
({0})
Von daher: Ihre Vorsicht verstehe ich, aber es hätte die
Informationen auch so gegeben.
Ich fahre mit meiner Rede fort. Sie nehmen den Bruch
des KSZE-Vertrages mit dem lapidaren Hinweis auf die
Rolle Russlands in der Welt in Kauf. Das verdeutlicht
nur den tiefen Graben, den es - ich glaube, das kann ich
so sagen - zwischen Ihnen und dem Rest des Parlamentes gibt. Die Position einer Äquidistanz - wenn man es
so nennen will - teilen wir nicht.
Wir werden beide Anträge ablehnen. Bei allem Verständnis: Der Antrag der Grünen hat sich nach den Informationen, die wir in der gestrigen Sitzung erhalten haben, erledigt. Zum Antrag der Linken habe ich gerade
das Nötige gesagt. Man kann ihm auf gar keinen Fall zustimmen. Wir lehnen ihn deutlich ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Herr Kollege Neu, Sie haben sich gemeldet, nachdem
die Redezeit schon abgelaufen ist. Ich vermute, dass Sie
eine Kurzintervention machen wollen? - Dann erteile
ich Ihnen dazu das Wort.
Herr Kollege Hellmich, die Passage in unserem Antrag zur Rolle Russlands in der Welt hätten wir uns gar
nicht getraut zu schreiben, wenn es nicht eine Erklärung
von 60 Prominenten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft gegeben hätte, die genau das eingefordert haben.
Wir haben also ideell das übernommen, was in dieser Erklärung gefordert wurde. Diese Menschen, die aus Ihren
Reihen kommen, nicht aus unseren - darunter sind definitiv keine Linken -, haben eine ganz vernünftige Position dargelegt. Im Übrigen haben wir mit unserer Position zwar nicht die Mehrheit im Parlament, aber die
Mehrheit in der Bevölkerung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Herr Kollege Hellmich, Sie haben die Gelegenheit,
darauf zu erwidern. Wollen Sie diese wahrnehmen?
Herr Präsident, ich nehme die Gelegenheit gerne
wahr; denn Gespräche mit Unternehmen über die Frage
„Wie gehen wir mit der Situation um?“ haben nicht nur
die von Ihnen Genannten geführt. In den einzelnen
Wahlkreisen gibt es viele, die in dieser Situation sehen,
welche Probleme das für die einzelnen Unternehmen mit
sich bringt. Ich kann diese Bedenken verstehen. Ich kann
aber jedem einzelnen Unternehmen nur sagen - ich habe
das jedes Mal getan -, dass die Interessen eines Unternehmens nicht dazu herhalten können, dass der KSZEVertrag, dass die Souveränitätsrechte anderer Staaten
und Länder mit brutaler Gewalt gebrochen werden. Das
müssen auch Unternehmen in diesem unserem Lande
schlichtweg akzeptieren; ganz egal, wie viele einen Aufruf unterschreiben. Bei dieser Position bleibe ich auch.
Ich würde die Unternehmen bitten, doch ihren Beitrag
dazu zu leisten - im Dialog und in Gesprächen mit den
beteiligten Staaten, auch im Dialog mit Russland -, dass
das Töten und Morden im Osten der Ukraine beendet
wird. Das wäre ein guter Beitrag, um die Situation zu
verbessern.
({0})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen eben keine Eskalation - etwa durch die
Aufkündigung der NATO-Russland-Akte -, sondern wir
wollen eine schnelle Umsetzung der Maßnahmen, die im
November in Wales zum Schutz unseres Bündnisses beschlossen worden sind. Wichtigstes Element - das steht
heute im Fokus - ist die schnelle Eingreiftruppe. Das
Konzept wird heute von den NATO-Verteidigungsministern beraten. Uns liegen heute zwei Anträge vor, die von
den entsprechenden Fraktionen bereits vorgestellt wurden.
Ich kann nur sagen: Den Antrag der Linken finde ich
völlig absurd und fernab jeglicher Realität.
({0})
Sie setzen die Lage der großen Militärmacht Russland
mit der Lage der kleinen baltischen Staaten gleich, die
sich nicht selbst schützen können. Das Baltikum beschreiben Sie als Boden der ehemaligen Sowjetunion,
({1})
den deutsche Soldaten nicht betreten sollten. Was wollen
Sie damit eigentlich zum Ausdruck bringen?
({2})
Dass der Kreml hier noch irgendwelche Gebietsansprüche hat? Oder sind wir uns zumindest an dieser Stelle einig, dass Litauen, Lettland und Estland drei souveräne
und selbstbestimmte Demokratien sind?
({3})
In Ihrer Beschreibung der Situation in der Ostukraine
gibt es nur die Hardliner in Kiew, Donezk und Luhansk,
die eine militärische Lösung anstreben und eskalierend
wirken.
({4})
Über die zweifelhafte - das zumindest könnte man sagen Rolle der Politik Putins und des Kremls verlieren Sie kein
Wort. Sie wollen oder können offensichtlich nicht differenzieren.
({5})
Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Überdenken Sie Ihre
Rolle als Sprachrohr für Putins rückwärtsgewandtes
Großmachtstreben.
({6})
Wir wissen doch alle, dass die massive Offensive der
Separatisten in der Ukraine nur mithilfe Moskaus überhaupt möglich ist. Das führt zu einer Eskalation, und
nicht die Ertüchtigung einer zahlenmäßig kleinen Eingreiftruppe der NATO.
Der Antrag der Grünen bietet immerhin eine sachliche Lagebeschreibung. Ich finde es positiv, dass Sie das
Konzept an sich offenbar nicht infrage stellen und über
Bündnistreue sprechen. Negativ finde ich die Forderung,
keine abschließende Entscheidung zu treffen. Das verzögert unnötig. Ihr Argument, dass wir Gefahr laufen, die
Parlamentsrechte zu umgehen, kann ich nicht nachvollziehen; dabei würden wir als CDU/CSU-Fraktion im
Übrigen auch nicht mitmachen. Wir können doch nicht
die Manövertätigkeit der NATO von 28 Parlamenten beraten und entscheiden lassen. Das würde uns doch völlig
unglaubwürdig machen.
Diese Debatte über die Aufstellung einer schnellen
Speerspitze, bei der wir eine führende Rolle übernehmen
sollen, zeigt: Das, was auf der Sicherheitskonferenz
2014 in der Theorie vorgedacht wurde, wird jetzt Realität.
({7})
Schneller als gedacht muss Deutschland mehr Verantwortung übernehmen, mehr Engagement zeigen, nicht
nur bei den Auslandseinsätzen, sondern auch bei der
Bündnisverteidigung. Die Teilnahme an der Speerspitze
bedeutet mehr Übungen, erhöhte Alarmbereitschaft und
Durchhaltefähigkeit. Mehr Übungen verbrauchen mehr
Material. Alles kostet mehr Geld. Die Praxis zeigt: Es
fehlt oft an den notwendigen Mitteln für solche Manöver.
Der NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat bei der
CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth Anfang dieses
Jahres gesagt: Mehr Führung bedeutet auch mehr Führung im Bereich Haushalt. Mehr Aufgaben können nicht
mit weniger Mitteln und weniger Geld geleistet werden.
Es sind mehr Investitionen in die äußere Sicherheit nötig. - Ich bin da ganz seiner Meinung. Deutschland muss
sich der Realität stellen. Nach zahlreichen Minderausgaben in den letzten Jahren braucht die Bundeswehr mehr
Mittel für gestiegene Anforderungen.
({8})
Ich fordere eine Investitionswende.
({9})
Um unsere Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit zu sichern, brauchen wir dringend zusätzliche Mittel von
rund 10 Milliarden Euro bis zum Jahr 2021.
({10})
Die für die nächsten Jahre bereits vorgesehenen minimalen Haushaltssteigerungen reichen nicht aus. Die vorhersehbaren Entwicklungen bei den Kosten für Sold, Mieten, Pensionen etc. fressen den minimalen Aufwuchs
bereits auf. Wir brauchen aber einen realen Aufwuchs,
wir brauchen tatsächlich mehr Geld im System. Eine
gute Versorgung der Pensionäre ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Eine angemessene Vergütung der Aktiven,
ordentliche Kasernen und geregelte Arbeitszeiten im
Grundbetrieb sind richtig und wichtig.
Herr Kollege Hahn, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Neu?
Er kann danach gerne intervenieren. Ich werde meine
Rede jetzt hier zu Ende bringen.
({0})
Diese Mittel stellen wir auch bereit. Das hilft uns aber
nicht direkt bei der Verteidigung unseres Landes und unserer Partner. Wir dürfen nicht riskieren, dass das militärische Kerngeschäft weiter leidet. Es muss genug Geld
für Investitionen in die Infrastruktur, für Ausbildung, für
Materialerhalt und für Ausrüstung vorhanden sein. Nötig
ist zusätzliches Geld, das den Wehretat real erhöht, damit unser Beitrag, zum Beispiel bei der neuen schnellen
NATO-Eingreiftruppe, auch wirklich geleistet werden
kann.
Herzlichen Dank.
({1})
Herr Kollege Neu, jetzt haben Sie nochmals die Möglichkeit zu einer Kurzintervention. Ich erteile Ihnen das
Wort.
Herr Kollege Hahn, Sie haben vollmundig die Aufrüstung gefordert. Sie haben auch von mehr Geld gesprochen. Wo soll das angesichts der schwarzen Null
denn herkommen? Wo soll eingespart werden? Bei der
Bildung, der Gesundheit oder beim Bereich Soziales?
Sagen Sie einmal: Wo soll gespart werden?
Herr Kollege Hahn, Sie haben die Möglichkeit, darauf einzugehen.
Herr Kollege Neu, dank der Koalition von SPD, CDU
und CSU
({0})
läuft es wirtschaftlich in unserem Land sehr, sehr gut.
Wir sind sehr erfolgreich. Wir können, wie in den letzten
Jahren auch, steigende Einnahmen verzeichnen. Diese
überplanmäßigen Mittel beispielsweise können wir dafür
zur Verfügung stellen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/3922 mit dem Titel „Den Deutschen Bundestag in die
Entscheidung über die neue schnelle NATO-Eingreiftruppe einbeziehen“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3913 mit dem
Titel „Demilitarisierung statt Eskalation - Keine NATOEingreiftruppe im Osten Europas“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt gegen diesen Antrag? - Wer
enthält sich? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
({0})
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Baukulturbericht 2014/15 der Bundesstiftung
Baukultur und Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksache 18/3020
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe
keinerlei Einwände dagegen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Barbara Hendricks.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten in der letzten Zeit - das freut mich durchaus schon mehrere Male Gelegenheit, über das
Bauen in Deutschland zu sprechen. Anlass waren zum
Beispiel die Fragen, wie wir mehr bezahlbaren Wohnungsneubau in den Ballungsräumen schaffen oder wie
wir mehr Unterkünfte für die zunehmende Zahl von
Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten in unseren
Städten bereitstellen können.
Auch die Energiewende hat das Thema Bauen beeinflusst. Energieeffiziente Neubauten, zum Beispiel Plusenergiehäuser, und energetisch hochwertig sanierte Bestandsbauten tragen, wie wir wissen, mit dazu bei, dass
Deutschland seine Klimaschutzziele wird erreichen können. Deshalb spielt der Baubereich im Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 neben der Energieerzeugung
eine ganz wesentliche Rolle.
Das alles zeigt: Bauen ist wieder „in“. Es wird darüber gesprochen. Daher wird Bauen in den öffentlichen
Debatten völlig zu Recht stärker beachtet. Das freut
mich sehr. Das ist, wie ich finde, eine sehr gute und eine
richtige Entwicklung. Eines wird dabei immer wieder
klar: Neben sozialen, ökologischen und ökonomischen
Bezügen dürfen wir die Baukultur keineswegs vernachlässigen. Sie hat immer auch eine emotionale und ästhetische Dimension.
({0})
Unsere gebaute Umwelt hat einen großen Einfluss auf
uns. Gebäude stiften Identität. Die Qualität von Gebäuden beeinflusst natürlich unsere gesamte Lebensqualität.
Die Süddeutsche Zeitung hat dazu geschrieben:
Nur Häuser und Städte, die geliebt und geachtet
werden, sind auf Dauer auch … nachhaltig.
Wenn wir wollen, dass Häuser und Städte geliebt und geachtet werden, dann brauchen wir verlässliche Rahmenbedingungen für unsere Baukultur.
Der Baukulturbericht 2014/15 zeigt unmissverständlich auf, dass wir den Herausforderungen planerisch und
baulich begegnen müssen, aber auch begegnen können.
Wenn wir zum Beispiel unsere Ziele beim Wohnungsneubau verfolgen, dann ist es eben gerade nicht egal,
welche bauliche Qualität dabei erreicht wird. Wir brauchen funktional und sozial gemischte Stadtquartiere, die
sich durch eine ressourcenschonende Siedlungsweise
auszeichnen. Wenn wir solche Quartiere gezielt stärken,
trägt das zur Reduzierung der Zersiedelung und des Flächenverbrauchs bei; natürlich ist es auch ressourcenschonend.
({1})
Die öffentliche Hand muss natürlich auch hier Vorbild
sein. Sie kann mit ihren Projekten zur Unverwechselbarkeit der Städte beitragen und damit lokal und auch natioBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
nal Identität stiften. Baukultur ist eine Investition in die
Lebensräume der Zukunft. Deshalb ist es richtig, dass
die Bundesstiftung versucht, soziale Entwicklungen, den
regional unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturwandel, die Anforderungen von Klimawandel und Energiewende und die Möglichkeiten neuer Technologien in
die Baukultur zu integrieren.
({2})
Das Gesetz zur Errichtung einer „Bundesstiftung
Baukultur“ wurde 2006 fraktionsübergreifend vom
Deutschen Bundestag verabschiedet. Seitdem verfügen
wir über eine unabhängige Institution, die sich kritisch
und konstruktiv für Baukultur einsetzt und den Dialog
über Baukultur auf Bundesebene organisiert; insofern
war diese Entscheidung im Jahre 2006 klug und weitsichtig. Darüber hinaus trägt die Stiftung dazu bei, die
Qualitätsnachfrage im Planungs- und Bauwesen national
und international zu stärken. Mit Blick auf die Bedeutung des Bausektors für die wirtschaftliche Entwicklung
kann die Arbeit der Bundesstiftung nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Für uns als Bundesregierung hat
die Arbeit der Stiftung daher einen hohen fachpolitischen Stellenwert.
({3})
Wenn wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, einen
breiten gesellschaftlichen Dialog über baukulturelle Fragen fördern wollen, dann haben wir dafür mit der Bundesstiftung Baukultur einen wichtigen Partner. Diesen
Partner wollen wir weiter stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Bericht zur Lage der Baukultur in Deutschland ist ein wichtiges Instrument. Er versteht sich als Grundlage für den
Dialog über „gute Wege für ein Mehr an Baukultur in
Deutschland“. Der Bericht gibt am Schluss konkrete
Handlungsempfehlungen in Richtung der verschiedenen
Zielgruppen. So empfiehlt er privaten und öffentlichen
Bauherren, Projekte eben nicht ausschließlich unter
kurzfristigen renditeorientierten Aspekten zu entwickeln. Baukultur wirkt sich langfristig positiv auf die
Lebenszykluskosten und den Marktwert von Immobilien
aus und sorgt für eine größere Zufriedenheit der Nutzerinnen und Nutzer. Dieser langfristige Mehrwert durch
Baukultur sollte durchaus stärkere Beachtung finden.
({4})
Bund, Länder und Kommunen werden von der Stiftung
ermutigt, ihre Vorbildrolle bei eigenen Bauvorhaben
wahrzunehmen und verstärkt Gestaltungswettbewerbe
durchzuführen. Das ist selbstverständlich nicht zuletzt
ein Appell an den Bund als Bauherrn.
({5})
Insbesondere im Bereich der Verkehrsbauten und Infrastrukturmaßnahmen, die einen großen Teil unserer Umwelt prägen, sieht die Stiftung einen großen gestalterischen Bedarf. Ein ganz wesentlicher Aspekt bleibt die
Vermittlung baukultureller Werte, das Werben um Verständnis und Akzeptanz für die Qualität der gebauten
Umwelt.
({6})
Hier sind natürlich Schulen und Universitäten, aber auch
die Kammern und Verbände gefragt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir in
Deutschland wieder mehr bauen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, oder umbauen und sanieren, um Energie einzusparen, dann sollte das Thema Baukultur unser
ständiger Begleiter sein. Die Bundesstiftung arbeitet daran, das baukulturelle Klima in der Bundesrepublik weiter zu fördern. Deshalb sollten die Bundesregierung und
der Bundestag - auch ihn bitte ich darum - die Stiftung
weiterhin tatkräftig unterstützen.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Heidrun Bluhm.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Baukultur ist nicht das Sahnehäubchen auf dem sonst
eher technischen oder kaufmännischen Prozess des Bauens, Baukultur ist auch nicht der Schnörkel an der Fassade, sondern sie ist, zumindest nach meinem Verständnis, die planvoll gebaute Umwelt für das kulturvolle
Miteinander-Leben in der Gesellschaft.
({0})
Das ist auch das Credo des Baukulturberichtes 2014/
2015 mit dem Titel „Fokus Stadt“.
Baukultur sollte demnach eine Grundlage jeglicher
Planung in der Quartiers-, Stadt- und Regionalentwicklung jeder Gemeinde sein. Sie ist im wahrsten Sinne des
Wortes lebenswichtig. Ob aber die Bundesregierung den
Baukulturbericht so verstanden hat und ob sie ihn ernst
nimmt, ist angesichts ihrer äußerst schwachen Stellungnahme - das gilt zumindest für die, die sie schriftlich
formuliert hat - zu bezweifeln. Schon allein der Umfang
dieser Stellungnahme - er beträgt etwas mehr als eine
Seite - sagt etwas über den Stellenwert aus, den die Bundesregierung ihrer eigenen Stiftung beimisst. Auch wenn
Frau Hendricks eben in ihrer Rede versucht hat, einen
anderen Eindruck zu vermitteln, geht natürlich das in die
Annalen ein, was schriftlich von Ihnen vorgelegt wurde.
Aber noch mehr als der kärgliche Umfang sagt der Inhalt dieser Stellungnahme aus, nämlich: nice to have,
({1})
also: Nett, dass wir die Stiftung haben, schön, dass sie
arbeitet, ein toller Bericht, den sie vorgelegt hat, ja, das
begrüßen wir. - Aber das war’s, mehr steht nicht drin.
Ich wüsste aber schon ganz gern von der Bundesregie8106
rung, wie sie über das Begrüßen hinaus den Inhalt des
Baukulturberichts selbst nutzt und wie sie die vielfältigen Hinweise und Vorschläge ihrer eigenen Stiftung in
die selbst formulierte Stadtentwicklungspolitik der
nächsten Jahre einzubinden gedenkt. Genau darum muss
es uns in der Debatte gehen. Das erfordert, dass die
Ministerin hier klar bekennt, was geht und was noch anders gemacht werden muss.
Bauen selbst ist eine kulturhistorische Leistung, weil
von der Qualität des Bauens die Qualität des Lebens für
Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte geprägt ist. Es geht
nicht nur um Häuser, Plätze oder Straßen, sondern auch
darum, wie sich die Menschen in ihrer Stadt bewegen
können, wie sie sich ihre Stadt zu eigen machen können,
wie sie individuell und gemeinschaftlich in ihren Städten
leben können und sich damit auch entfalten können. So
könnten wir die Kultur des Bauens über die Unkultur der
Standortvermarktung heben. Ich denke, auch darüber
sollten wir reden.
({2})
Wenn das nicht gelingt, haben wir in den Innenstädten
bald nur noch glitzernde Shoppingcenter und Bürotürme
oder langweilige Regierungsviertel, in denen kein
Mensch mehr wohnt. Aber das Gegenteil davon - das
macht der Baukulturbericht zu Recht deutlich - ist für
uns erforderlich und wichtig: Unsere Städte müssen sozial und funktional gemischte Quartiere sein.
Statt, wie die Bundesregierung es tut, die Vorlage des
Baukulturberichts einfach nur zu begrüßen, sollte sie den
Inhalt zum Anlass nehmen, kritisch Bilanz zu ziehen und
neue baupolitische Aufgaben zu formulieren. Das hat
Frau Hendricks heute aber versäumt.
({3})
Seit 2012 gibt es zum Beispiel das Gesetz zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts.
Ich wüsste schon gern von Frau Hendricks, wie dieses
Gesetz auf lebendige, sozial und funktional gemischte
Innenstädte seit 2012 gewirkt hat, wo es Probleme gibt,
worüber wir reden müssen, was angepasst oder evaluiert
werden muss. Was die Fortentwicklung des Städtebaurechts angeht, hat die neue Bundesregierung aus meiner
Sicht bisher lediglich ein Gesetz verabschiedet, nämlich
ein Gesetz zur Vereinfachung der Unterbringung von
Flüchtlingen in Gewerbegebieten. Das war allerdings
keine Kulturleistung.
({4})
Der Baukulturbericht weist mit seinen Forderungen in
eine ganz andere Richtung, und zwar mit vollem Recht
- ich zitiere -:
… die Zuwanderungsraten … nehmen … wieder
zu. Im Jahr 2012 konnten über eine Million Zuzüge
festgestellt werden.
Weiter heißt es:
Integration und Inklusion dieser Menschen und ein
produktives Miteinander sind eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe. Die baukulturellen
Potenziale sind allerdings bislang kaum diskutiert.
Also diskutieren wir sie doch! Aber dazu gab es von der
Regierung bisher keine Ankündigung. Das Abschieben
von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Gewerbegebiete, in denen sonst niemand leben darf und auch nicht
leben will, ist die Verhinderung von Integration, also das
Gegenteil von dem, was der Bericht uns aufgibt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was die eigenen
baukulturellen Gestaltungsmöglichkeiten betrifft,
schreibt der Baukulturbericht der Bundesregierung zum
Beispiel auch ins Stammbuch:
Die Privatisierungswelle von öffentlichen Wohnungsbeständen …
- führt prinzipiell zu einem Verlust an sozialen und baukulturellen Steuerungsmöglichkeiten … Damit verbunden ist eine Bedeutungsverschiebung der Wohnungsbestände hin zu einer stärker kurz- und
mittelfristigen Renditeerwartung. Baukulturelle
Ziele treten dem gegenüber häufig zurück und die
internationalisierten Wohnungsanbieter sind nur
schwer für lokale Ziele der Stadt- und Quartiersentwicklung erreichbar.
Was der Baukulturbericht uns allen also aufgibt, insbesondere Ihnen in der Regierung, ist: Sie vergehen sich
mit Ihrer Privatisierungspolitik nicht nur an den sozialen
Interessen von Mieterinnen und Mietern, sondern verscherbeln gleichzeitig einen Teil unseres gemeinsamen
kulturellen Erbes und damit auch die Zukunft unserer
Städte. Baukultur und rein marktwirtschaftliche Grundstücksverwertung zum Höchstgebot - das geht, wie ich
finde, nicht zusammen.
({6})
Sie müssen - und auch das sagt Ihnen der Baukulturbericht
Frau Kollegin Bluhm, denken auch Sie an die vereinbarte Redezeit!
- ich bin fertig - grundlegend etwas an den Prioritäten verändern.
Ich danke Ihnen, aber vor allem denjenigen, die sehr
aktiv im Prozess der Baukultur mitgearbeitet haben und
auch weiter mitarbeiten werden. Ich freue mich auf die
Zusammenarbeit auch in Zukunft.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Volkmar Vogel,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Baukultur ist das Thema, der Baukulturbericht 2014/15
die Grundlage unserer heutigen Debatte. Lassen Sie
mich gleich zu Anfang allen Danke sagen, die an der Erarbeitung dieses Berichtes beteiligt waren. Ich finde,
diese gute Leistung verdient unseren gemeinsamen
Dank.
({0})
Insbesondere danken möchte ich auch unserer Bundesstiftung Baukultur, die maßgeblich die Themen des Berichts vorgegeben und hier eine sehr gute Arbeit abgeliefert hat.
({1})
Für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir die Baukultur von Anfang an, seit dem Jahre 2006 und davor,
hochhalten und stärken. Eine starke Bundesstiftung Baukultur ist Ausdruck dessen. Dies ist auch Teil dessen,
was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben: Wir wollen einen breiten Dialog im baukulturellen Bereich unterstützen, und wir wollen unsere Stiftung stärken.
({2})
Es ist nicht selbstverständlich, dass im Haushalt dafür
1,3 Millionen Euro zur Verfügung stehen und dass wir
auch in diesem Jahr weitere 100 000 Euro dafür bereitstellen. Das ist gut angelegtes Geld, auch mit Blick auf
den Förderverein, der der Bundesstiftung Baukultur zur
Seite gestellt ist. Ich denke, die positive Entwicklung,
was die Mitgliedschaften im Förderverein angeht, ist ein
Zeichen, dass wir auf einem guten Weg sind, dass Architekten, Verbände und Bauunternehmer bzw. Bauunternehmen bereit sind, sich hier zu engagieren, sich für die
Belange der Baukultur einzusetzen und sie auch finanziell zu unterstützen. Das entlastet am Ende des Tages
auch ein Stück weit unseren Haushalt und hilft, die Arbeit weiter zu verstetigen.
({3})
Das ist gut angelegtes Geld für die Baukultur; denn
die Baukultur ist Teil unserer Kultur, seit Jahrhunderten,
seit Jahrtausenden und - aus der heutigen Zeit betrachtet auch für die nächsten hundert und tausend Jahre. Die
Baukultur wird oftmals unterschätzt und leider oft auch
wirtschaftlichen Erwägungen geopfert. Aber sie ist natürlich Teil unserer Lebensqualität. Sie fördert das soziale Empfinden genauso wie den Zusammenhalt einer
Gemeinschaft.
Ich möchte als Beispiel dafür, wie Baukultur gut gelingt, den Bauhaus-Stil anführen. Wir haben hierzu in
der letzten Sitzungswoche eine sehr gute Debatte mit guten Beiträgen von Kollegen aller Fraktionen geführt.
Beim Bauhaus merkt man sehr deutlich, dass die Fusion
von Kunst und Technik gelungen ist, dass Baukultur und
Design auf der einen Seite und Kosten auf der anderen
Seite kein Gegensatz sein müssen. Nein, im Gegenteil:
Mit guten Ideen kann man auch kostengünstig bauen.
Die Baukultur schafft auch ein Klima des besseren
Gemeinschaftsgefühls. Sie stärkt die Identität mit bestimmten Vorhaben. Wir haben oftmals Probleme, wenn
es darum geht, für Großprojekte Akzeptanz unter den
betroffenen Bürgern zu schaffen. Wenn wir im Vorfeld
mit Modellen zur Umsetzung von baukulturellen Aspekten die Betroffenen mehr einbeziehen, dann haben wir
auch mehr Identität, mehr Verständnis für das Vorhaben
in allen Phasen der Umsetzung.
({4})
Vieles ist in dem Bericht sehr gut analysiert und umgesetzt. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der
vorliegende Bericht als Maßstab und auch als Fahrplan
dient für Architekten, Planer, aber natürlich auch Bauherren und Investoren. Er setzt Maßstäbe in der nationalen und auch in der internationalen Diskussion. Das ist
gut so. Auch dafür vielen Dank!
({5})
Mit den Themenschwerpunkten „Wohnen und gemischte Quartiere“, „Öffentlicher Raum und Infrastruktur“ sowie „Planungskultur und Prozessqualität“ hat die
Bundesstiftung Baukultur den Finger zu Recht auf die
Wunde gelegt; denn das sind die Themen, die uns aktuell
im Baubereich auf den Nägeln brennen.
Wohnungsneubau und Wohnungsumbau sind ebenso
wie die Stärkung der Quartiere Themen, wenn es darum
geht, den Flächenverbrauch zu reduzieren. Dazu werden
neue Planungsansätze benötigt. Das können wir in dem
Bereich auf Grundlage dieser Untersuchung mit der
Baukultur sehr gut bewerkstelligen.
Öffentlicher Lebensraum heißt auch Grün in der
Stadt. Grün in der Stadt ist ein Thema, dessen wir uns
besonders annehmen wollen. Ebenso wollen wir uns der
notwendigen Sanierung von Infrastruktur im Bereich der
Brücken und Straßen annehmen. Es gibt jetzt Chancen,
auch hier baukulturelle Aspekte mit den notwendigen
Erfordernissen zu verzahnen bzw. diese einzubeziehen.
({6})
Ich finde die Idee, die diesem Bericht innewohnt, sehr
gut, wenn es um die Anwendung der HOAI geht. Es gibt
in der HOAI die Leistungsphasen 1 bis 9. Es ist gut,
wenn man hier zumindest gedanklich eine Planungsphase 0 voranstellt, in der man das Vorhaben insbesondere unter baukulturellen Gesichtspunkten auf den Prüfstand stellt. Im Vorfeld sollte eine breite Diskussion dazu
geführt werden. Das sollte dann in den anderen Phasen
verwirklicht werden. Genauso sinnvoll ist es, dass man
an die Leistungsphase 9 gedanklich eine Leistungs8108
Volkmar Vogel ({7})
phase 10 hängt, während der man überprüft, ob dies am
Ende des Tages gelungen ist und wie es gelingen kann,
das zu verstetigen bzw. für die gesamte Lebensphase des
Objektes umzusetzen.
({8})
Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Er ist auch sehr augenscheinlich. Man kann ihn gut vermitteln. Auch dient
er dazu, die Breitenwirkung dieses Berichtes zu verstärken, weil natürlich die Mitwirkung aller Akteure gefragt
ist. Es ist keine Aufgabe von Architekten allein, sondern
bedarf der Mitwirkung aller Beteiligten im Baubereich.
Dazu gehören insbesondere die Investoren.
Wichtig ist die Vorbildwirkung, mit der wir als Bund
beginnen müssen. Es ist daher gut und richtig, dass wir
unsere Bundesstiftung Baukultur mehr als bisher auch in
die Entwicklung und die Untersuchungen bundeseigener
Bauten einbeziehen wollen, damit die Hinweise und Erkenntnisse, die innerhalb der Stiftung vorliegen, für die
Umsetzung der Bundesbauten besser genutzt werden
können.
Wir werden in den nächsten Monaten eine angeregte
Diskussion zu den Inhalten dieses Bauberichtes führen.
Ich kann aber - einige von Ihnen im Saal waren heute
bei der Sitzung des Stiftungsrates mit dabei - sagen: Der
Baubericht für die Jahre 2016 und 2017 ist in Vorbereitung. Ich bin auf die Themen gespannt, die dort bearbeitet werden. Das zeugt davon, dass unsere Bundesstiftung
Baukultur auf einem guten Weg ist. Wir werden sie weiterhin unterstützen und stärken; denn sie ist heute und in
der Zukunft ein wichtiges Element für die Baukultur in
unserem Land.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat kann man der Stiftung Baukultur ein Kompliment machen. Es ist ein umfassender, aber auch fokussierter Bericht geschaffen worden, der deutlich macht,
dass „Bauen und Baukultur“ kein Luxusthema ist, sondern ein Thema, welches ganz zentral für unseren Lebensraum ist. Das gilt für die Zeit, die wir dort, wo wir
leben und arbeiten, verbringen. Ganz entscheidend ist
das im Hinblick auf Fragen, wie sich unsere Gesellschaft
weiterentwickelt.
Der Bericht schafft es aber auch, die Herausforderungen zu formulieren. Dabei geht es beispielsweise um die
Wohnungsknappheit bzw. die Knappheit von bezahlbarem und angemessenem Wohnraum, der flächenschonend in gemischten Quartieren geschaffen werden muss.
Er stellt die Fragen und formuliert die Herausforderung,
dass das erreicht werden muss. Auch stellt er die Fragen
des Klimaschutzes, weil klar ist: Ohne energetische
Gebäudesanierung bzw. ohne einen CO2-freien Gebäudebestand werden wir am Ende die Ziele des Klimaschutzes nicht erreichen können. Wir müssen uns auch
- das fokussiert der Bericht ebenso - über die Klimaanpassung unterhalten. Was ist hier zu regeln?
In dem Bericht werden auch Fragen zum demografischen Wandel aufgeworfen: Was bedeutet der demografische Wandel? Was heißt das für eine älter werdende
Gesellschaft? Was heißt das für das Bauen? Welche andere Bedeutung hat die Baupolitik in schrumpfenden Regionen im Vergleich zu wachsenden Regionen?
In dem Bericht geht es auch um die ganz große
Herausforderung der Investitionen in Infrastruktur. Der
Investitionsstau in den Kommunen beträgt 128 Milliarden Euro. Wir haben Bröselbrücken und Schimmelschulen. Auch das wird in diesem Baukulturbericht benannt,
und es wird gefordert, dass hier Antworten gefunden
werden müssen.
Nicht zuletzt wird in diesem Bericht auch die Frage
nach der Lebensqualität aufgeworfen. Das ist kein Luxusthema; denn schlechte Baukultur und ein schlechtes
Bauumfeld machen die Menschen krank. Wir müssen
die Menschen an den Planungs- und Entwicklungsprozessen beteiligen; sie müssen sich hier einbringen
können. Auch in diesem Zusammenhang fokussiert der
Bericht viele Fragen, und er liefert Analysen und Handlungsempfehlungen.
Ich kann der Stiftung nur noch einmal für das danken,
was sie uns hiermit vorgelegt hat.
({0})
Ganz im Gegensatz dazu steht aber die Stellungnahme der Bundesregierung. Ich muss hier offen sagen:
Als ich die dürren eineinhalb Seiten gelesen habe, habe
ich angesichts des guten Berichtes nicht gewusst, ob ich
lachen oder weinen soll. Am Ende der Stellungnahme
steht der Satz: Wir danken der Stiftung Baukultur und
begrüßen den Bericht. - Frau Hendricks, Sie hätten auch
gleich schreiben können: Wir haben einen schönen Aktenordner; wir machen zwei Löcher in diesen Bericht,
und dann stellen wir ihn ins Archiv. - Es ist für eine
Bundesregierung armselig, wenn sie nicht einmal in der
Lage ist, Handlungsleitlinien, die sie aus diesem Bericht
ableitet, in ihrer Stellungnahme zu formulieren. Das geht
nicht; das ist nicht in Ordnung.
({1})
Frau Hendricks, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:
Auch das, was ich gerade hier von Ihnen gehört habe, hat
mich nicht unbedingt begeistert. Sie haben keine großen
Maßnahmen angekündigt und sind am Ende über eine
nette Analyse nicht hinausgegangen. Was die Bundesregierung in diesem Bereich tun will, habe ich bisher
nicht gehört - von Ihnen nicht und auch in den anderen
Redebeiträgen nicht. Wenn Sie das trotz eines solchen
Berichtes an dieser Stelle nicht formulieren können,
dann ist das am Ende ein Stück weit eine Bankrotterklärung in der Baupolitik.
({2})
Ich will Ihnen drei ganz konkrete Dinge dazu sagen:
Erstens geht es mir um die Mietpreisbremse; darüber haben wir in der letzten Woche schon diskutiert. Ich höre
aus der Presse, die Einführung der Mietpreisbremse soll
bis nach der Sommerpause verschoben werden, weil die
Union sich nicht darauf verständigen kann, obwohl es
hier einen politischen Konsens gibt. Das ist eine ganz
zentrale Frage für die gemischten Quartiere, wie es auch
im Bericht formuliert wird. Wenn wir es nicht schaffen,
bezahlbaren Wohnraum zu erhalten, dann werden wir
auch die in dem Baukulturbericht formulierten Ziele für
sozial gemischte Quartiere nicht erreichen. Wir brauchen
eine Mietpreisbremse. Sie müssen endlich aufhören, hier
zu blockieren, und an dieser Stelle liefern.
({3})
Zweitens geht es mir um die energetische Quartierssanierung; auch das wird im Bericht formuliert. Es ist ganz
wichtig, dass wir bei der Gebäudesanierung vorankommen. Ich muss feststellen: Sie haben die Mittel dafür
noch unter das schwarz-gelbe Niveau gekürzt, auf
50 Millionen Euro. Am Ende werden nur Konzepte gefördert. Für die Umsetzung fehlt dann das Geld. In Berlin sind zum Beispiel von fünf Konzepten vier in der
Schublade gelandet. Wenn Sie das unter Baukultur und
energetischer Quartierssanierung verstehen, dann ist das
einfach zu wenig.
Drittens. Der allergrößte Skandal - last, not least - ist
für mich das Auftreten des Bundes als Immobilieneigentümer. Jeder Bürgermeister und jeder kommunale Stadtoder Gemeinderat kann ein Lied davon singen: Wenn
man mit der BImA bzw. mit dem Bund als Immobilieneigentümer zu tun hat, dann geht es null um Baukultur
und Stadtentwicklung, sondern nur um die Rendite der
Immobilien des Bundes. Der Bund tritt als Immobilienspekulant auf. Wenn Sie das nicht ändern, dann machen
Sie alle schönen Berichte und Forderungen der Bundesstiftung Baukultur zur Makulatur. Handeln Sie endlich
bei Ihren eigenen Immobilien! Da gibt es genug zu tun.
({4})
Meine Damen und Herren, ein guter Bericht zur Baukultur trifft auf eine schlechte oder, besser gesagt, gar
nicht vorhandene Politik der Bundesregierung.
Herr Kollege Krischer, ich darf auch Sie an die Redezeit erinnern, die kein ungefährer Richtwert ist, sondern
eine präzise Vereinbarung.
({0})
Ich komme sofort zum Ende. - Aber vielleicht geben
dieser Bericht und auch die zukünftigen Berichte Anlass
zur Hoffnung auf eine seriöse, vernünftige und zielgerichtete Baupolitik der Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Ulrich Hampel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute den Baukulturbericht 2014/2015. Dieser
ist nach den beiden ersten Statusberichten aus den Jahren
2001 und 2005 der dritte Bericht zur Lage der Baukultur
und der erste unter der Federführung der Bundesstiftung
Baukultur.
Mit dem Baukulturbericht erhalten die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag Anregungen und
Handlungsempfehlungen für die Förderung der Baukultur in Deutschland. Dass das Thema einen hohen Stellenwert innerhalb der Großen Koalition genießt, zeigt
bereits der Koalitionsvertrag. Die SPD hat darin mit ihren beiden Koalitionspartnern vereinbart, einen breiten
gesellschaftlichen Dialog zu baukulturellen Fragen zu
fördern und die Bundesstiftung Baukultur als hierfür
wichtigen Partner zu stärken.
Mit dem aktuellen Haushalt der Bundesstiftung Baukultur, der um 100 000 Euro erhöht wurde, setzen wir
diese Koalitionsvereinbarung ein Stück weiter um.
({0})
Mit diesen zusätzlichen Mitteln kann sich die Stiftung in
die projektbezogene baukulturelle Diskussion über ausgewählte Baumaßnahmen des Bundes künftig stärker
einbringen.
Der uns vorliegende Baukulturbericht widmet sich
den gebauten Lebensräumen der Zukunft unter dem
Fokus Stadt mit drei thematischen Programmschwerpunkten: „Wohnen und gemischte Quartiere“, „Öffentlicher Raum und Infrastruktur“ und „Planungskultur
und Prozessqualität“. Weiterhin formuliert der Bericht
konkrete Handlungsempfehlungen an die einzelnen
Akteure der Baukultur wie die öffentliche Hand, private
Bauherren, Kammern und Verbände. Bundesministerin
Hendricks ist in ihrer Rede bereits detailliert auf die
Handlungsempfehlungen eingegangen.
Welche aktuellen Herausforderungen sieht nun der
Bericht für die Baukultur? Da sind die Globalisierung,
der demografische Wandel, die Energiewende und technische und soziale Innovationen zu nennen. Aus meiner
Sicht stellt hierbei insbesondere der demografische Wandel, der sich in vielen Bereichen baulich und räumlich
auswirkt und weiter auswirken wird, eine enorme Herausforderung dar.
Die immer älter werdende Gesellschaft macht den
barrierefreien Aus- und Umbau des Bestandes immer
drängender. Der Bericht weist darauf hin, dass nur 1 Prozent des deutschen Wohnungsbestandes derzeit barrierefrei ist. Der Bedarf liegt aber um ein Vielfaches höher.
({1})
Auch im öffentlichen Raum besteht dringender Handlungsbedarf. Der Bericht zeigt auf, dass Bund und Länder das Problem erkannt haben und mit verschiedenen
Maßnahmen, sei es durch die Förderung der barrierefreien Anpassung von öffentlichen Gebäuden oder durch
spezielle KfW-Programme, daran arbeiten, diese Lücke
zu schließen. Uns allen ist aber klar, dass es noch großer
Anstrengungen bedarf, ausreichend barrierefreien
Wohnraum zu schaffen.
({2})
Abschließend möchte ich feststellen, dass der Baukulturbericht 2014/15 ein wichtiger Beitrag ist, die baukulturelle Situation in Deutschland zu erfassen, und er ist
eine sehr gute Grundlage für die vor uns liegenden
politischen Debatten auf diesem Gebiet. Ich danke allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesstiftung
Baukultur und allen darüber hinaus Beteiligten für den
fundierten Baukulturbericht, und ich freue mich auf die
weiterhin gute Zusammenarbeit.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein herzliches Glückauf.
({3})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Kai Wegner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Koalition macht sich stark für lebenswerte Städte und für lebendige Stadtquartiere, in denen die Menschen nicht nebeneinander, sondern gerne auch miteinander leben. Um
dieses Ziel zu erreichen, gewinnt die Baukultur - das,
finde ich, wird in dem Bericht noch einmal deutlich zunehmend an Bedeutung. Wenn ich von Baukultur
spreche, dann meine ich natürlich nicht ausschließlich
den ästhetischen Aspekt der Architektur. Bei Baukultur
geht es um die Qualität der bebauten Umwelt insgesamt.
Es geht um Gebäude, Anlagen der Infrastruktur, ihre
Einordnung in das Landschafts- und Siedlungsgebiet
und in den öffentlichen Raum. Baukultur umfasst damit
Architektur und Ingenieurbaukunst, Stadt- und Regionalplanung, Denkmalschutz und Landschaftsarchitektur.
Ich begrüße ausdrücklich, dass wir heute die Debatte
über den Baukulturbericht führen; denn ich glaube, dass
es wichtig ist, dass auch wir hier im Deutschen Bundestag einen Beitrag dazu leisten, für gute Bau- und Planungsleistungen zu sensibilisieren und das Bewusstsein
für die Baukultur bei Bauschaffenden, aber auch bei den
Bürgerinnen und Bürgern weiter zu stärken.
({0})
Die Zahlen verdeutlichen die wachsende Bedeutung
von Fragen des guten Planens und Bauens für ein gutes
Zusammenleben der Menschen. In den nächsten fünf
Jahren werden wir in den wachsenden Städten Deutschlands vermutlich rund 1 Million neue Wohnungen
bauen. Bis zum Jahr 2025 könnte die Zahl auf mehr als
3 Millionen steigen. Herr Krischer, da Sie einmal mehr
die Mietpreisbremse angesprochen haben - das höre ich
mittlerweile in jeder Debatte -, kann ich nur sagen:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die
Mietpreisbremse wird kommen.
({1})
Machen Sie sich da keine Sorgen. Was Sie in Ihrer Regierungstätigkeit nicht geschafft haben, werden wir machen. Aber wir werden es vernünftig machen. Wir brauchen ein Maßnahmenpaket. Wir brauchen - das haben
Sie selber angesprochen - mehr bezahlbaren Wohnraum.
Mit Verlaub, Herr Krischer, die Mietpreisbremse schafft
keine einzige neue, bezahlbare Wohnung. Wir müssen
mehr bauen. Deshalb brauchen wir ein Maßnahmenpaket für bezahlbares Wohnen in den Städten und Gemeinden in unserem Land.
({2})
Die Herausforderung, vor der wir zusätzlich stehen,
ist, attraktive, lebendige und sozial stabile Wohnquartiere zu erhalten und zu schaffen. Dies wird in der Tat
nur gelingen, indem wir ein Zusammenspiel von Bestandsgebäuden und ergänzender Neubebauung haben.
Gerade in Zeiten des ökonomischen, ökologischen und
demografischen Wandels brauchen wir im Baubereich
nachhaltige Lösungen. Wir brauchen wohlgestaltete Lebensräume, die die Lebensqualität in unseren Städten
verbessern, die Identifikation mit dem Stadtteil, in dem
man lebt, schaffen und die Bereitschaft der Bürgerinnen
und Bürger zur Mitgestaltung ihrer Wohnquartiere erhöhen.
Für mich ist eine zentrale Lehre aus dem Baukulturbericht, dass wir noch stärker auf ein Nebeneinander von
Arbeiten, Wohnen, Versorgung, Freizeitgestaltung, öffentlichen Freiräumen und Grün setzen sollten. Es geht also
um die verstärkte Förderung von sozial und funktional
durchmischten Stadtquartieren. Gemischte Stadtquartiere sind ein Garant für Lebensqualität und Wohnzufriedenheit, für Standortbindung und Identitätsbildung. Sie
reduzieren den Flächenverbrauch, ermöglichen eine
Stadt der kurzen Wege und sind deshalb besonders geeignet für die Integration von älteren und pflegebedürftigen Menschen, aber auch von jungen Familien.
Es ist die gelebte Vielfalt, die die Quartiere stark und
attraktiv machen. Klar ist auch: Gelebte Vielfalt gehört
zur Lebensrealität in den Städten. Aber sie braucht ein
starkes, klares Fundament. Es darf in unseren Städten
und Quartieren keine Angsträume geben,
({3})
die man nach Einbruch der Dunkelheit besser meidet.
Man muss sich in allen Bereichen, in denen man wohnt,
wohlfühlen und sicher sein. Hier kann die Baukultur viel
zum Besseren beitragen.
({4})
Pflanzen, Wege, Stadtmöbel und insbesondere das Licht
prägen den Charakter des öffentlichen Raums. Es mag
sich wie eine Kleinigkeit anhören, aber schon ein zusätzlicher Laternenmast kann dazu beitragen, das subjektive
Sicherheitsgefühl der Menschen in den Stadtquartieren
deutlich zu erhöhen.
({5})
Es muss also darum gehen, durch gezielte bauliche
Maßnahmen das Wohnumfeld aufzuwerten. Investitionen in die Baukultur sind so gesehen auch Investitionen
in mehr Sicherheit und mehr Sauberkeit. Die Menschen
in unserem Land müssen sich an allen Orten in unseren
Städten geschützt fühlen und wohlfühlen.
({6})
Wenn das Schlagwort „Baukultur“ fällt, denken viele
vor allem an den Schutz erhaltenswerter Bausubstanz.
Aber gerade aufgrund des technischen Fortschritts hat
Baukultur mittlerweile auch eine moderne, in die Zukunft gerichtete Dimension. So wird es verstärkt darum
gehen, bereits vorhandene Infrastruktur in neuer Weise
zu vernetzen, aber auch innovative Techniken und Produkte in das städtische Alltagsleben zu integrieren.
Architekten und Ingenieure entwickeln schon heute
neuartige Lösungen in Bereichen wie Klimaschutz und
Energie, Mobilität, Verwaltung und Gesundheit. Wenn
es gelingt, die Strukturen in der bebauten Umwelt kreativer, sauberer, gesünder und gleichzeitig effizienter zu
gestalten, bedeutet das einen enormen Gewinn an Lebensqualität für die Menschen in unseren Städten.
({7})
In diesem Zusammenhang tun wir gut daran, die Güte,
die Nachhaltigkeit, die Innovationskraft und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Architektur- und Ingenieurwesens in Deutschland besonders herauszustellen.
({8})
Die Förderung der Baukultur ist und bleibt eine gesellschaftliche und politische Daueraufgabe; denn Baukultur ist auf den ständigen Dialog zwischen Experten,
Bürgern, Wirtschaft und natürlich auch der Politik angewiesen. Diese Dialogbereitschaft unter allen Beteiligten
werden wir auch in Zukunft fördern, genauso wie wir es
im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
({9})
Wir werden dabei klarmachen, dass alle Akteure gemeinsam eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung
haben.
An dieser Stelle, liebe Frau Bundesministerin, danke
ich ausdrücklich der Bundesregierung dafür, dass sie ihre
Verantwortung für die Förderung der Baukultur auch in
vielerlei anderer Hinsicht wahrnimmt, nämlich als Bauherr, als Gesetzgeber im Bauplanungsrecht, aber natürlich auch über die Städtebauförderung. Dafür möchte ich
Ihnen, Frau Hendricks, ganz herzlich danken, und ich
sage Ihnen auch weiterhin die Unterstützung unserer
Fraktion zu.
({10})
In diesem Zusammenhang freue ich mich natürlich
ganz besonders für die Städtebauförderung, wenn ich
sage, dass wir in diesem Haushaltsjahr einen Schwerpunkt nicht auf Grüne in den Städten, Herr Krischer,
sondern auf Grün in der Stadt legen.
({11})
Das finde ich ganz hervorragend; denn das braucht die
Stadt für mehr Lebensqualität.
({12})
Die Koalition wird weiterhin dafür sorgen, dass baukulturelle Fragestellungen auf der Agenda bleiben. Wir
wollen, dass sich die Menschen in ihrem Wohnumfeld
wohlfühlen können. Deshalb begreifen wir Baukultur als
eine Investition in eine lebenswerte Zukunft in unseren
Städten und Gemeinden.
Herzlichen Dank und einen schönen Abend noch.
({13})
Damit schließe ich die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3020 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzielle Anerkennung von NS-Unrecht für
sowjetische Kriegsgefangene
Drucksache 18/3316
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Claudia Roth ({3}), Marieluise
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Johannes Singhammer
Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und
Gewährung eines symbolischen finanziellen
Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe
Drucksache 18/2694
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({5})
Innenausschuss ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Es erhebt
sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jan Korte für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor kurzem haben wir hier der 6 Millionen
Opfer der Schoah gedacht, des Zivilisationsbruches
Auschwitz. Dieses Gedenken kam nicht einfach so, sondern auch das musste erkämpft werden, etwa durch
Menschen wie Fritz Bauer. Das darf nie vergessen werden.
Heute geht es um eine de facto vergessene Opfergruppe: Es geht um 6 Millionen sowjetische Kriegsgefangene. Von diesen 6 Millionen starben 3,3 Millionen
unter der Verantwortung der Wehrmacht durch Hunger,
Krankheiten, Kälte, Zwangsarbeit oder massenweise Erschießung. Aus Anlass des 70. Jahrestages gilt es im Übrigen auch und in besonderer Weise, den 27 Millionen
toten Menschen der Sowjetunion, übrigens mit und ohne
Uniform, im Allgemeinen und den 3,3 Millionen toten
sowjetischen Kriegsgefangenen im Speziellen zu danken
und ihre Opfer für die Befreiung Europas zu würdigen.
({0})
Der Vernichtungskrieg Nazideutschlands gegen die
Sowjetunion wurde durch die verbrecherischen Kommissarbefehle, durch die Richtlinien des OKW von Anfang an in einer so bestialischen Art und Weise geführt
wie noch kein Krieg zuvor auf der Welt. Daher wurde in
dieser Logik im Vernichtungskrieg gegen den jüdischen
Bolschewismus, wie es hieß, auch den sowjetischen
Kriegsgefangenen ihr international geschützter Status
verwehrt. Kurz, alle völkerrechtlichen und vor allem zivilisatorischen Mindeststandards, die sich die Völker der
Erde gegeben haben, wurden durch die deutsche Kriegsführung suspendiert.
70 Jahre danach ist es nun an der Zeit, dieser vergessenen Opfergruppe zu gedenken und den gerade einmal
noch rund 4 000 Überlebenden zumindest eine kleine
Entschädigung zukommen zulassen. Wann, wenn nicht
jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen?
({1})
Es stellt sich natürlich die Frage: Warum eigentlich
erst jetzt? Es gibt natürlich historische und politische
Gründe, warum den sowjetischen Kriegsgefangenen ihre
Würde nicht gegeben wurde, warum sie nicht entschädigt wurden. Es gab zum einen in der alten Bundesrepublik einen quasi staatsreligiösen Antikommunismus, in
dessen Klima der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geradezu als legitim in weiten Teilen der Gesellschaft angesehen wurde. Es waren natürlich die Legende
und die Lüge von der sauberen Wehrmacht, die dieses
Gedenken verhinderte. Im Übrigen gab es vor 20 Jahren
- auch das ist gerade ein Jubiläum - die wichtige, für unsere Gesellschaft notwendige Wehrmachtsausstellung.
Auch daran sollten wir heute erinnern. Ihren Machern
sollten wir für diesen großen Akt der Aufklärung noch
einmal danken.
({2})
Nachkriegsdeutschland war logischerweise und bekanntermaßen - das ist eigentlich unumstritten - geprägt
von der Abwehr der Schuld und der „Unfähigkeit zu
trauern“, wie es die Mitscherlichs dargelegt haben. Ein
weiterer Grund, warum dieser Opfergruppe auch in Osteuropa und in der Sowjetunion nicht gedacht wurde,
war, dass sie unter Stalin als Verräter und Kollaborateure
gegolten haben; auch deswegen ist diese Opfergruppe so
in Vergessenheit geraten.
Heute ist es nunmehr an der Zeit, eine Entschädigung
auf den Weg zu bringen und in der Diskussion um das
Ganze insgesamt über ein Konzept für die NS-Opfer in
Osteuropa nachzudenken, also zu überlegen, wie wir ihrer besser und angemessener gedenken können. Versuchen wir nach so vielen Jahren wenigstens, ein winzig
kleines Stück der von Ralph Giordano treffend als
„zweite Schuld“ charakterisierten Politik Nachkriegsdeutschlands abzutragen: Entschädigen wir die noch wenigen lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Es sind
wirklich nicht mehr viele. Im Übrigen haben wir kaum
noch Zeit dafür. Wir müssen uns beeilen. Deswegen bitte
ich um Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträgen.
Vielen Dank.
({3})
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Erika
Steinbach.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die sowjetischen Kriegsgefangenen im Nationalsozialismus waren eine besonders bedauernswerte Gruppe;
das will ich hier ausdrücklich konzedieren. Bereits zu
Beginn des Krieges mit der Sowjetunion im Jahre 1941
gerieten Millionen Rotarmisten in deutsche Kriegsgefangenschaft, darunter auch der Stalin-Sohn Major Jakob
Dschugaschwili. Die am 16. Juni 1941 erlassenen Bestimmungen über das Kriegsgefangenenwesen im Fall
Barbarossa des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht verweigerten den Sowjetsoldaten - da haben Sie
völlig recht - jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafte Soldaten nach dem Genfer Abkommen, und das
war völkerrechtswidrig.
An Epidemien und Hunger starben Hunderttausende
schon im Herbst 1941. Während des Krieges gerieten
insgesamt - über die Zahlen streiten sich die Gelehrten 5 Millionen, 6 Millionen Männer und Frauen der sowjetischen Streitkräfte, so vermutet man, in Gefangenschaft.
Davon starben rund 2,5 Millionen. 900 000 erlebten das
Kriegsende als Zwangsarbeiter in Deutschland. Andere
konnten fliehen oder waren aus unterschiedlichsten
Gründen entlassen worden - Weißrussen zum Beispiel
und Ukrainer wurden zum Teil entlassen -, oder sie fielen noch vor Kriegsende der Roten Armee in die Hände
- anders kann man es nicht bezeichnen, weil es ihnen
dort nicht gutging -; die Zahlen variieren insgesamt sehr
stark.
Die russischen Kriegsgefangenen hatten ein doppelt
schweres Schicksal, vor allen Dingen deshalb, weil die
Sowjetunion selber Hass und Verachtung gegen ihre in
Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten schürte. Die
Sowjetunion hat als einziger Staat der Welt ihre in Gefangenschaft geratenen Soldaten als Schwerverbrecher
klassifiziert. Im berüchtigten Befehl Nr. 270 von 1941
erklärte Stalin sie zu Vaterlandsverrätern. Das schuf ein
Klima unglaublicher Angst unter den betroffenen
Kriegsgefangenen, die unter dem Nationalsozialismus
eingesperrt waren. Auch die Familienangehörigen dieser
sogenannten Verräter wurden verhaftet und in Lager gebracht, selbst die Schwiegertochter von Stalin, die Frau
des Gefangenen Dschugaschwili.
1 Million der später befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen hatten Zwangsarbeit in Arbeitsbataillonen und
Lagern der Sowjetunion zu leisten. 1,2 Millionen ehemalige sowjetische Kriegsgefangene wurden als politische
Häftlinge dem NKWD überstellt. 123 000 ehemalige
sowjetische kriegsgefangene Offiziere kamen in Strafbataillone. 1 Million weitere sowjetische Militärangehörige wurden von Militärtribunalen verurteilt, davon
160 000 zum Tod durch Erschießen.
Erst 1955 verkündete das Präsidium des Obersten
Sowjets eine Amnestie für alle Sowjetbürger, die sich
zwischen 1941 und 1945 hatten gefangen nehmen
lassen.
Nach umfangreichen Reparationsentnahmen aus der
sowjetischen Besatzungszone seinerzeit hat die ehemalige Sowjetunion durch eine Regierungserklärung 1953
gegenüber Deutschland ausdrücklich erklärt, auf weitere
Reparationen zu verzichten.
1993 wurden dann zugunsten von Opfern des Nationalsozialismus mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion - der Republik Weißrussland, der Russischen
Föderation und der Ukraine - Verträge geschlossen.
Deutschland stellte dabei den Stiftungen in Minsk, in
Moskau und in Kiew 1 Milliarde D-Mark zur Verfügung.
Die Mittel waren für sowjetische Bürger bestimmt, die
durch nationalsozialistische Verfolgung schwere Gesundheitsschäden erlitten hatten und sich in einer wirtschaftlichen Notlage befanden. Die Kriterien dafür haben die jeweiligen dortigen Stiftungen oder dortigen
Regierungen selber festgelegt. Deutschland hatte auf die
Mittelvergabe keinerlei Einfluss. Die Verteilung geschah
eigenverantwortlich seitens der Empfängerstaaten.
Bei den internationalen Verhandlungen zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ unter Beteiligung der Nachfolgestaaten der
Sowjetunion bestand Einigkeit, vormalige Kriegsgefangene von den Leistungen der Stiftung ausdrücklich
auszunehmen. Nach Beendigung des Auszahlungsprogramms der Stiftung wurden durch einen Beschluss
des Kuratoriums und der Rechtsaufsicht Restmittel für
humanitäre Maßnahmen zugunsten von NS-Opfern bereitgestellt. Die Programme beinhalteten verschiedene
Dinge: Kuraufenthalte, Augenoperationen, medizinische
Hilfe unterschiedlichster Art. Diese Hilfen standen auch
den sowjetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung.
({0})
Unterschiedlich haben die verschiedenen Länder diese
Möglichkeiten ausgeschöpft.
Im Rahmen weiterer Programme der Stiftung wurden
aus Mitteln des Fonds einzelne Projekte bewilligt, die
eine Würdigung des Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangen zum Gegenstand hatten, wie Begegnungsprogramme mit Menschen, mit Zeitzeugen.
Frau Kollegin Steinbach, darf ich Sie an die Redezeit
erinnern?
Ich bedanke mich, Herr Präsident. - Was aber bis
heute überfällig ist, ist eine Entschädigung der ehemaligen Kriegsgefangenen der Sowjetunion durch das eigene
Land selber. Sie wurden stigmatisiert, sie wurden entrechtet, sie wurden umgebracht, in Lager verschleppt.
Russland hätte, anstatt die Ukraine zu überfallen, lieber
seine noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen entschädigen sollen. Das wäre eine humane Geste gewesen,
meine Damen und Herren.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letzten Worte der Kollegin Steinbach fand ich beschämend
für unser Haus, und ich möchte mich bei den Völkern
Volker Beck ({0})
der ehemaligen Sowjetunion ausdrücklich für diese
Worte entschuldigen.
({1})
Wir haben letzte Woche gemeinsam im Bundestag
- ein Kollege und ich auch gemeinsam mit dem Bundespräsidenten in Auschwitz - des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz gedacht. Wir werden am 8. Mai
dieses Jahres auch des 70. Jahrestages der Befreiung Europas aus den Fängen des nationalsozialistischen Terrors
gedenken. Dabei gilt es Dank zu sagen den Soldatinnen
und Soldaten der ehemaligen Westalliierten und den Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee. Diese haben es
ermöglicht - gerade die Rote Armee hat den höchsten
Blutzoll dafür gezahlt -, dass Hitlerdeutschland niedergerungen wurde. Dafür schulden wir Dank.
({2})
Meine Damen und Herren, ich will das Schicksal eines Menschen schildern, um das ein bisschen greifbar zu
machen. Iwan Dmitrijewitsch Solonowitsch wurde im
November 1940 zur Roten Armee eingezogen, 19 Jahre
alt. Er wurde zunächst eingesetzt, konnte sich dann beim
Überfall auf die Sowjetunion dem deutschen Angriff
entziehen, wurde neun Monate später an der Front auf
der Krim von der deutschen Armee eingekesselt und in
ein Kriegsgefangenenlager in Hagen verschleppt. Er berichtet: Die Menschen waren dünn und entkräftet, mit
weißen Gesichtern. Täglich gab es Tote. Das Essen war
kalorienarm, sehr bescheiden. Es wurden ein bisschen
Rüben geschnitten, dazu Wasser; das war’s. Die Gefangenen wurden geschlagen mit einem Gummistock oder
mit einem Eisenstab.
Der Kollege Korte hat es angesprochen: Durch Sonderbefehle war das Genfer Konventionsrecht für sowjetische Kriegsgefangene ausdrücklich außer Kraft gesetzt.
Das hatte ganz konkrete Bedeutung. Während die Sterbequote bei westalliierten Kriegsgefangenen bei 3,5 Prozent lag, lag sie bei den sowjetischen Kriegsgefangenen
bei 50 Prozent. Das zeigt - dazu kann man auch jede
Menge schriftliche Quellen anführen -: Die Behandlung
der sowjetischen Kriegsgefangenen war Teil des nationalsozialistischen rassistischen Vernichtungskampfes
gegen die slawischen Völker im Osten. Der Krieg und
die Behandlung der Kriegsgefangenen hatte das Ziel der
Dezimierung dieser Völker. Das war ein Vernichtungswunsch, ein Vernichtungswille, und das ist klassisches
nationalsozialistisches Unrecht.
Das muss der Deutsche Bundestag endlich anerkennen.
({3})
Kollegen von der SPD, da dürfen Sie klatschen. Den Antrag, den wir gestellt haben, haben wir in der letzten
Wahlperiode gemeinsam eingebracht. Bloß wegen der
Rede von Frau Steinbach müssen Sie sich nicht fürchten,
zu dem Richtigen Ja zu sagen.
({4})
Ich möchte Sie auch ausdrücklich auffordern - denn
es geht hier nicht um Parteipolitik -,
({5})
dass wir das dieses Jahr, im 70. Jahr, über die Bühne
bringen, gemeinsam, würdig und historisch angemessen.
Lassen Sie uns zwischen den vier Fraktionen über diese
Fragen offen miteinander reden. Es geht nicht primär um
Geld, Frau Steinbach, sondern es geht um eine Geste der
Versöhnung, es geht vor allen Dingen um das Anerkennen des Unrechts, das diesen Menschen zugefügt wurde.
Sie haben die Geschichte der Verfolgung geschildert.
Das war im Wesentlichen alles richtig.
({6})
Das begründet die Aussage des Bundestages: Das war
nationalsozialistisches Unrecht, und das erkennen wir
jetzt an.
Es ist richtig, erst 1995 hat übrigens Russland diese
Menschen rehabilitiert.
({7})
Das war für diese Menschen viel wichtiger als ein paar
Cent. Ehre und Würde am Ende eines Lebens lassen sich
nicht mit Geld erkaufen. Wir sollten meines Erachtens
eine Geste finden. Es geht nicht um das Geld. Es geht
darum, den Menschen die Hand zu reichen.
({8})
Gerade in der jetzigen außenpolitischen Situation,
finde ich, wäre es klug, zu sagen: Wir kritisieren Putin
für das völkerrechtswidrige Vorgehen in der Ukraine,
aber wir reichen den Völkern der ehemaligen Sowjetunion, und zwar gleichermaßen den Russen, den Ukrainern, den Weißrussen, den Kasachen und den ehemaligen asiatischen Republiken der Sowjetunion, die Hand
mit der Bitte um Entschuldigung und um Versöhnung.
({9})
Das könnten wir jetzt tun. Dann ist klar: Wir kritisieren
Putin, aber wir wollen Frieden zwischen den Völkern in
Europa, und wir wissen um die Verantwortung für die
deutsche Vergangenheit im 20. Jahrhundert.
({10})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Matthias Schmidt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich, dass ich zu Beginn meiner
Rede feststellen kann, dass wir uns in der Analyse des
nationalsozialistischen Unrechts über alle Fraktionen
hinweg einig sind. Herr Kollege Beck, wenn Sie das anmahnen, dann brauchen wir keine Ermahnungen, wann
und warum wir klatschen sollen oder warum nicht. Sie
haben völlig recht. Wir haben gemeinsam einen Antrag
gestellt. Darauf werde ich gleich näher eingehen.
In der letzten Woche haben wir an dieser Stelle den
70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers
Auschwitz begangen und an das Leid der Millionen
Opfer erinnert. Das ist richtig und notwendig. Mit dem
Erinnern legen wir hier im Bundestag ein Bekenntnis
darüber ab, dass wir uns der aus der Geschichte erwachsenen Verantwortung für die Gegenwart bewusst sind.
Bundespräsident Gauck - auch das ist mehrfach erwähnt
worden - hat in einer würdigen Ansprache, wie ich
finde, einen gelungenen Bogen aus der Vergangenheit in
die Gegenwart und in die Zukunft geschlagen. Es ist immer das Ziel in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dass es uns gelingt, den Bogen aus der
Vergangenheit zu schlagen.
Ich selbst bin Jahrgang 1963, also ungefähr 18 Jahre
nach Kriegsende geboren. Die Verantwortung meiner
Generation ist es, zu erinnern und die Erinnerung zu bewahren. Ich glaube, dass meine Generation - hier im
Parlament sitzen auch viele Vertreter - dies ganz angemessen macht. Mich selbst hat in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein Satz immer besonders beschäftigt. Er steht am Ende der Ausstellung
im ehemaligen Konzentrationslager Dachau. Dort steht:
Diejenigen, die dies nicht wahrhaben wollen, sind dazu
verdammt, es noch mal zu erleben. - Das hat mich in
meiner Erinnerung immer geleitet.
70 Jahre nach Kriegsende ist Erinnerung oftmals das
Einzige, was bleibt. Es gibt allerdings auch noch Fälle,
in denen eine Form der Wiedergutmachung infrage
kommt. Eine Opfergruppe - alle Redner haben es beschrieben -, die in der Zeit des Nationalsozialismus und
auch danach viel Leid erfahren hat, ist die der sowjetischen Kriegsgefangenen. Ihnen sind die vorliegenden
Anträge der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen gewidmet. Worum es geht, ist auch
beschrieben worden. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 gerieten rund 6 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Mehr
als 2 Millionen - Kollege Korte, Sie sprachen von 3 Millionen; die Zahlen differieren - starben direkt an den
Folgen von Hunger, Kälte und Misshandlung. Gut
600 000 wurden nach Deutschland deportiert und in
Zwangsarbeiterlager gesteckt. In diesen Zwangsarbeiterlagern mussten sie unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten. Sie hatten wenig Freizeit, niedrige
Löhne; und wenn ich sage, sie hatten einen minimalen
Arbeitsschutz, dann ist das weit übertrieben.
Wer sich damit beschäftigen möchte, der kann nicht
weit von hier - nicht viel mehr als 10 Kilometer -, in
meinem Wahlkreis in Schöneweide, das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit besuchen. Das Lager in
Schöneweide war eines von 3 000 in Berlin. Ich wiederhole die Zahl: Es war eines von 3 000 Zwangsarbeiterlagern allein in Berlin. Sie können sich dort eine authentische Ausstellung ansehen. Sie sehen die originalen
Baracken. Sie können Biografien nachhören und nachlesen. Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr ist geöffnet,
und der Eintritt ist frei.
Das Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen - das
haben die Vorredner richtig beschrieben - ging weiter.
Denn auch nach ihrer Heimkehr wurden sie oft als Kollaborateure beschimpft oder sogar wieder inhaftiert.
Zu den Anträgen der Linken und der Grünen. Beide
Anträge eint, dass eine außergesetzliche Regelung angestrebt wird, die über die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ abgewickelt werden soll. Die Anträge unterscheiden sich in den Summen: Die Linken
schlagen eine Summe von 7 670 Euro vor, die Grünen
eine Summe von 2 500 Euro. Beide berufen sich dabei
auf das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Das Stiftungsgesetz
selbst schließt übrigens ausdrücklich die Kriegsgefangenen aus. Deswegen schlagen Sie die außergesetzliche
Regelung vor.
Am Antrag der Grünen gefällt mir, dass sie darin fordern, die Erinnerungskultur zu intensivieren und dies
über die Gedenkstättenkonzeption des Bundes sicherzustellen. Ich finde, das ist ein wichtiger Aspekt, den wir
nicht vergessen sollten.
Sie alle haben auch über die Größe der Gruppe der
Opfer gesprochen, die noch am Leben sind. Die Zahlen
basieren immer nur auf Schätzungen. Ich habe mit dem
Verein Kontakte-Kontakty und auch mit der Stiftung
EVZ telefoniert. Beide sagen übereinstimmend: Es geht
um nur noch 2 000 zu Begünstigende. Die Zahl wird also
kleiner. Man kann hinzufügen: Sie wird täglich kleiner.
Beide Antragsteller wollen die Geldsumme nur als
symbolische Anerkennung verstanden wissen. Das ist
sehr verständlich, denn - da sind wir uns sicherlich einig
- es gibt keine Summe, die so bemessen wäre, dass sie
das Leid tatsächlich aufwiegen könnte.
({0})
Für die Intention beider Anträge habe ich großes Verständnis. Es ist auch das Recht der Opposition, immer
wieder genau die Themen aufzugreifen, bei denen die
Regierung noch nicht tätig geworden ist oder bei denen
Handlungsbedarf gesehen wird. Das ist recht und billig;
es gehört zum parlamentarischen Verfahren dazu. Es ist
allerdings die Pflicht der Regierungsfraktionen, dann
auch abgewogene Entscheidungen einzufordern.
Herr Kollege Beck hat darauf hingewiesen: Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam einen Antrag gestellt.
({1})
Matthias Schmidt ({2})
Sie haben diesen jetzt noch einmal wortgleich eingereicht. Sie haben nicht einmal die Zahl der noch lebenden Opfer, die Zahl von 4 000, hinterfragt, was möglich
gewesen wäre. Insgesamt ist das natürlich ein Antrag,
den wir noch immer gut finden. Er ist von der damaligen
Koalition, von Schwarz-Gelb, abgelehnt worden. Die
Begründung dafür war, dass eine isolierte Lösung für
ehemalige sowjetische Kriegsgefangene nicht möglich
wäre und eine internationale, umfassende Lösung anzustreben wäre.
({3})
Man muss den Argumenten nicht unbedingt folgen,
aber man muss sich ernsthaft damit auseinandersetzen.
Genau das sollten wir hier tun. Denn es geht letztendlich
nur um eine symbolische Anerkennung. Sie wäre ein
wichtiges Zeichen auch der Versöhnung. Deswegen appelliere ich an die Vertreterinnen und Vertreter aller
Fraktionen, dass wir uns noch einmal zusammensetzen
und schauen, ob wir nicht eine gemeinsame, parteiübergreifende Lösung finden, möglicherweise eine Lösung,
die in den beiden Anträgen nicht genannt wird - ein Härtefallfonds könnte infrage kommen -; denn das wäre
dem Thema sehr angemessen.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. André Berghegger, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Debatte zu diesem Thema führen wir in diesem Haus in unregelmäßiger Regelmäßigkeit, und das ist auch richtig
so.
Bei der Vorbereitung auf diese Debatte habe ich gemerkt, wie schwierig es insgesamt ist, dieses Thema in
Worte zu fassen. Wir spüren auch bei dieser Debatte,
welche Emotionen mit diesem Thema verbunden sind.
Unser früherer Bundespräsident Richard von
Weizsäcker hat in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gesagt:
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was
damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für
das, was in der Geschichte daraus wird.
Ich denke, dass in der Aufarbeitung und Verarbeitung
dieses dunklen Kapitels unserer Geschichte bisher sehr
viel geschehen ist.
({0})
Das im Zweiten Weltkrieg begangene Unrecht können
wir nicht in Worte fassen. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft; insbesondere die Verbrechen, die in deutschem
Namen begangen worden sind. Die menschenunwürdige
Behandlung von Kriegsgefangenen war dabei nur eine
von zahllosen Menschenrechtsverletzungen, die sich die
Kriegsgegner gegenseitig zugefügt haben.
Im Bewusstsein ihrer Verantwortung haben sich bisher alle Bundesregierungen nach Kräften für Wiedergutmachung und Versöhnung eingesetzt. Deutschland ist
dabei immer bemüht gewesen, keine einseitigen Lösungen zu schaffen, sondern sich immer im Dialog mit den
betroffenen Staaten zu bewegen. Das gilt auch für die
Anerkennung des Unrechtes, das Kriegsgefangene erlitten haben.
Es ist vorhin schon erwähnt worden, aber ich möchte
es gerne noch einmal ausführen: Nach allgemeinem Völkerrecht wird ein Ausgleich für Kriegsgefangenschaft
ausschließlich durch Reparationsvereinbarungen zwischen den betroffenen Staaten geregelt. Das gilt weltweit
ohne Abstufung nach der Behandlung der Gefangenen.
Es erfolgten umfangreichere Reparationsentnahmen aus
der sowjetischen Besatzungszone. 1953 hat die ehemalige Sowjetunion in einer Regierungserklärung ausdrücklich auf weitere Reparationszahlungen gegenüber
Deutschland verzichtet. Dieser Verzicht gilt natürlich
auch für die völkerrechtlichen Rechtsnachfolger. Keiner
dieser Staaten hat bis heute weitere Ansprüche gegen die
Bundesrepublik Deutschland gestellt.
Der abschließende Charakter wurde noch einmal im
Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 bestätigt. Alle Beteiligten
haben zugestimmt, dass es keine weiteren vertraglichen
Regelungen über rechtliche Fragen bezüglich des Zweiten Weltkrieges geben wird, einschließlich der Reparationsfrage. Die Bundesrepublik Deutschland hat jedoch
freiwillig erhebliche Beträge als humanitäre Geste zur
Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts geleistet.
An dieser Stelle komme auf meine Vorredner zurück:
Für ehemalige sowjetische Bürger, welche nach der Verfolgung schwere Gesundheitsschäden erlitten hatten und
sich in einer wirtschaftlich schweren Lage befunden haben, wurden Beiträge geleistet. In Kooperation mit
Weißrussland, Russland und der Ukraine wurden 1993
Stiftungen in Minsk, Moskau und Kiew gegründet.
Diese wurden mit 1 Milliarde D-Mark ausgestattet. Die
Verteilung der Gelder erfolgte ausschließlich durch die
Stiftungen bzw. die Regierungen vor Ort.
Im Jahre 2000 wurde die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ von der Bundesregierung und
der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft ins Leben gerufen. Durch sie wurden ehemalige Zwangsarbeiter des NS-Regimes entschädigt. Die Stiftung wurde mit
10 Milliarden D-Mark ausgestattet. Das bisherige
Rechtsverständnis wurde auch hier bestätigt. Es war
Konsens zwischen allen Beteiligten, Rechtsfolgen aus
der Kriegsgefangenschaft grundsätzlich auszuschließen;
Ausnahme: Kriegsgefangene, die in Konzentrationslagern waren.
Nach Beendigung des Auszahlungsprogramms dieser
Stiftung wurden Restmittel in Höhe von 40 Millionen
Euro für weitere humanitäre Maßnahmen zugunsten von
NS-Opfern im weitesten Sinne bereitgestellt. Diese Programme standen auch ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen offen. Die Partnerorganisationen in Weißrussland, Russland und der Ukraine haben diese
Möglichkeit unterschiedlich genutzt.
Fest steht: Das den Betroffenen zugefügte Leid kann
niemals durch finanzielle Leistungen geheilt werden.
Fest steht aber auch, dass die Bundesrepublik Deutschland sämtliche völkerrechtliche Vorgaben eingehalten
hat. Die Beispiele zeigen, dass über viele Jahrzehnte umfangreiche Zahlungen geleistet wurden. In den meisten
Fällen waren es die Staaten in der Rechtsnachfolge der
Sowjetunion, die diese Zahlungen angemessen verteilt
haben. Deshalb müssen wir die hier vorliegenden Anträge leider ablehnen.
Schließen möchte ich mit folgendem Gedanken: Die
Jüngeren trifft keine Schuld an den Verbrechen während
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Sinne
einer persönlichen Vorwerfbarkeit, aber wir alle haben
die Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht, nirgendwo.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
({1})
Der Kollege Volker Beck hat um eine Kurzintervention gebeten. Dazu erteile ich ihm das Wort.
Ich wollte dazu Stellung nehmen, dass die Koalition
beantragt, die Anträge federführend an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Es fällt auf, dass hier im Hohen Hause - zu Recht - nur Innenausschussmitglieder
gesprochen haben. Das hat auch Tradition. Der Innenausschuss hat sich seit Bestehen des Deutschen Bundestages mit den Fragen der Anerkennung von NS-Unrecht,
der Rehabilitierung und der Entschädigung beschäftigt:
vom Bundesentschädigungsgesetz über die Rehabilitierung der Zwangssterilisierten, der Euthanasiegeschädigten, der Homosexuellen bis zur Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“, die Frau Steinbach vorhin
erwähnt hat. All das wurde im Innenausschuss abgehandelt. Warum dieser Antrag jetzt in den Haushaltsausschuss gehen soll, erschließt sich mir nicht und vermutlich, abgesehen von den Geschäftsführern der
Koalitionsfraktionen, auch sonst niemandem hier im
Saal. Die Leute, die sich mit diesen Fragen beschäftigen
- von Frau Steinbach bis Jan Korte -, sind alles Innenausschussmitglieder. Deshalb beantragen wir Federführung beim Innenausschuss.
({0})
Das Einzige, was man wegen der außenpolitischen Aspekte alternativ machen könnte, wäre, den Auswärtigen
Ausschuss damit zu betrauen. Wegen 5 Millionen Euro das wurde gerade von den Rednern der Koalitionsfraktionen vorgerechnet - den Haushaltsausschuss zu bemühen, ist lächerlich. Außerdem geht das an dem Kern dieses moralischen, ethischen und historischen Anliegens
vorbei.
Geben Sie sich einen Ruck und lassen Sie uns das
würdig gemeinsam beraten.
({1})
Herr Kollege Dr. Berghegger, möchten Sie als letzter
Redner darauf eingehen? - Der Kollege Straubinger
wird das tun.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass die ganze Problematik in der Diskussion
verdeutlicht worden ist. Herr Kollege Beck, ich würde
den Haushaltsausschussmitgliedern nicht unterstellen,
dass sie sich der Problematik nicht bewusst sind
({0})
und das Thema nicht angemessen und gut behandeln
können. Wir in der Koalition sind uns einig, dass diese
Anträge, da sie Forderungen enthalten, die finanzielle
Auswirkungen haben, federführend im Haushaltsausschuss diskutiert werden sollten. Deshalb plädieren wir
für Federführung beim Haushaltsausschuss.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache zu diesem
Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3316 und 18/2694 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 18/2694, Tagesordnungspunkt 11 b, soll zusätzlich an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Die Federführung ist jeweils
strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen Federführung jeweils beim Haushaltsausschuss.
Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
wünschen Federführung jeweils beim Innenausschuss.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, Federführung jeweils beim Innenausschuss. Wer für diese Überweisungsvorschläge
stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind diese Überweisungsvorschläge abgelehnt mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen bei einer Enthaltung aus der SPD.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich lasse nun abstimmen über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung jeweils beim Haushaltsausschuss. Wer für diese
Überweisungsvorschläge stimmt, Federführung beim
Haushaltsausschuss, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind
diese Überweisungsvorschläge angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Ablehnung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und
bei einer Enthaltung aus der Fraktion der SPD.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus nach dem
Erneuerbare-Energien-Gesetz und zur Änderung anderer Verordnungen
Drucksachen 18/3416, 18/3482 Nr. 2, 18/3935
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist diese Redezeit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Johann Saathoff von den Sozialdemokraten.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Den Titel unserer heutigen Debatte muss man
sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen: Verordnung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus nach dem Erneuerbare-EnergienGesetz und zur Änderung anderer Verordnungen. Ich
weiß nicht, ob auf Anhieb jeder weiß, worüber wir heute
debattieren wollen.
({0})
Inhalt dieser Verordnung ist eigentlich, dass wir Transparenz wollen. Der Titel ist zugegebenermaßen ziemlich
sperrig ausgefallen. Dabei haben wir noch Glück gehabt.
Denn Begriffe wie Ausführungsverordnung und Anlagenregisterverordnung sind nicht enthalten. Aber die
Debatte im Plenum wird uns sicher helfen, den Menschen draußen zu erklären, was wir wollen, und das
möglichst mit den Worten, die sie verstehen. Prooten,
watt kloar is und watt wohr is, soll unsere ostfriesische
Devise heute sein.
({1})
In der Grundsatzdebatte zur EEG-Umlagepflicht haben wir uns beim letzten Mal schon mit der Frage beschäftigt. Bei der EEG-Änderung haben wir durchaus
über die Eigenstromversorgung und über die Sinnhaftigkeit dieser Eigenstromversorgung in der EEG-Umlagepflicht debattiert. Die Netzbetreiber sollen die EEG-Umlage erheben. Aber ich möchte an dieser Stelle
klarstellen, dass nicht jeder Besitzer einer Solaranlage
auf seinem Einfamilienhaus von der EEG-Umlage betroffen ist. Denn in diesem Fall gilt die Untergrenze von
10 kW. Das heißt, es ist so, dass die allermeisten Besitzer
von PV-Anlagen auf ihren Wohndächern nicht davon betroffen sein können; denn nur ganz wenige Anlagen haben eine Leistung von über 10 kW. Außerdem gilt die
Verordnung erst ab dem 1. August 2014. Bestandsanlagen sind davon also völlig ausgenommen.
({2})
Die Verordnung hat bei dem einen oder anderen den
Anschein erweckt, dass ihre Umsetzung einen bürokratischen Aufwand darstellen würde. Hier lohnt sich genaueres Hinsehen. Bislang hätten nämlich die Übertragungsnetzbetreiber die Aufgabe erfüllen müssen, und
das hätte einen deutlichen Mehraufwand bedeutet. Denn
die Übertragungsnetzbetreiber haben die Daten nicht.
Vielmehr verfügen die Verteilnetzbetreiber über die entsprechenden Daten, wo im Netz die regenerativen Anlagen sind. Die Anlagen sind bei den Verteilnetzbetreibern
am Netz angeschlossen, und die Verteilnetzbetreiber
zahlen den Anlagebetreibern Einspeisevergütung. Es ist
also folgerichtig, dass die Verteilnetzbetreiber die Umlage erheben und nicht die Übertragungsnetzbetreiber.
Es ist auch nicht so, dass die Verteilnetzbetreiber dadurch einen Nachteil hätten; denn sie bekommen eine
volle Kostenerstattung sowohl für die laufenden Kosten,
was das Personal betrifft, als auch für investive Kosten
wie Computer und Software.
Auch für die Anlagenbetreiber ist diese Verordnung
ein Vorteil; denn sie haben einen einheitlichen Ansprechpartner. Würden wir das nicht so regeln, müssten
sie bei der EEG-Umlage mit den Übertragungsnetzbetreibern reden, während sie bei der Einspeisevergütung
mit den Verteilnetzbetreibern zu sprechen hätten.
Wir haben im Ausschuss, meine Damen und Herren,
kritische Worte dazu gehört, dass in § 8 der Ausgleichsmechanismusverordnung der Begriff des ordentlichen
und gewissenhaften Kaufmanns steht. Ich will hiermit
klarstellen, dass das keine Unterstellung an alle Netzbetreiber ist, keine ordentlichen und gewissenhaften Kaufmänner zu sein. Aber dieser Begriff tauchte leider schon
in § 2 der Verordnung auf, als es um die Übertragungsnetzbetreiber ging. Jetzt steht er auch in § 8 im Hinblick
auf die Versorgungsnetzbetreiber. Würden wir das nicht
so regeln, dann könnte der eine oder andere spitzfindige
Jurist auf die Idee kommen, wir hätten uns etwas dabei
gedacht, das bei den Übertragungsnetzbetreibern deutlich zu machen, bei den Versorgungsnetzbetreibern aber
nicht. Das wollen wir nicht. Deswegen schaffen wir hier
Klarheit.
({3})
Ich bin froh darüber, dass wir für die Versorgungsnetzbetreiber keinen zusätzlichen Anreiz, diese Verordnung einzuhalten, geschaffen haben. Das war ursprüngJohann Saathoff
lich einmal angedacht. Wir haben das in der Debatte im
Vorfelde abwenden können. Das wäre ungefähr so, als
würde ein Fußgänger eine Prämie dafür bekommen, dass
er die Regel, bei Rot stehen zu bleiben, einhält. Das wäre
ein Systembruch im deutschen Recht, den wir mit dieser
Verordnung nicht begehen wollen.
Die Verordnung liefert zusätzliche Informationen für
die Verbraucher, aber auch für die Wirtschaft, zum
Beispiel zur Verteilung der EEG-Umlage auf die verschiedenen Verbrauchergruppen und zur Verteilung der
EEG-Umlage auf Neu- und Altanlagen. Warum ist das
wichtig? Weil die Argumente der Gegner der Energiewende in der Regel lauteten: Das führt zu einer Kostenexplosion; die Kosten der erneuerbaren Energien werden
sich linear nach oben entwickeln. - Der Großteil der
Kosten der EEG-Umlage, die wir im Moment haben,
stammt allerdings von Altanlagen. Die Produktion von
Strom aus Erneuerbare-Energie-Anlagen neuerer Art ist
heute wesentlich günstiger, als es früher der Fall war,
und die Kostenkurve hat sich abgeflacht.
({4})
Ich bin auch froh darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in Zukunft auf die Bandbreite hinsichtlich der Prognose der EEG-Umlage verzichten wollen.
Bei der Bandbreite kam es in der Vergangenheit zu einer
enormen Streuung. Der Zweck, nämlich die Aussagefähigkeit der Bandbreite, war aufgrund der großen Amplitude nicht mehr erfüllt. Obwohl sie so groß gestreut hat,
kam es dann noch vor, dass das tatsächliche Ergebnis der
EEG-Umlage über der Streuung lag, also nicht einmal
die Streuung getroffen hat. Sie machte einfach keinen
Sinn mehr.
Deswegen ist es gut, dass wir alternativ, um eine Planungsperspektive für die Industrie und die Wirtschaft,
aber auch für die Verbraucher zu schaffen, dem Bundeswirtschaftsministerium, der Bundesnetzagentur und den
Übertragungsnetzbetreibern im Hinblick auf die Prognose, wohin sich die EEG-Umlage entwickelt, einen
Auftrag erteilen. Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Ziel dieser Verordnung. Ich denke, sie ergibt sich
folgerichtig aus der EEG-Gesetzgebung. Deswegen sollten die Fraktionen, die das EEG so mittragen, ihr zustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Belastung des Eigenverbrauchs von Erneuerbare-Energie-Anlagen mit der EEG-Umlage ist immer noch höchst
umstritten. Ich möchte jetzt und hier nicht wieder die
Debatte über Pro und Kontra führen. Aber auffällig ist
schon, dass Industrie und Kohleverstromung bei der Umlage auf den Eigenverbrauch geschont werden, während
die Betreiber von größeren Solaranlagen oder Windkrafträdern nun zahlen müssen.
Zur Erinnerung: Sie, die SPD, wollten die EEG-Umlage im Jahre 2014 ursprünglich auch auf die Bestandsanlagen, die sich selbst versorgen, ausweiten. Damit
wären auch bisherige Kohlekraftwerke und Braunkohletagebaue umlagepflichtig geworden. Sie konnten sich
gegenüber der CDU/CSU in diesem Punkt aber nicht
durchsetzen.
Nach wie vor ist auch der Kraftwerkseigenverbrauch
nicht umlagepflichtig. Davon profitieren besonders die
emissionsintensiven und ineffizienten Braunkohlekraftwerke, die bei der Erzeugung von Strom aus Braunkohle
einen hohen Stromverbrauch haben. Vorteile aus dem Eigenverbrauch haben zu 90 Prozent fossile Anlagen.
Neue Ökostrom- und KWK-Anlagen hingegen werden
zur Kasse gebeten. Ich finde, das ist eine skandalöse
Schieflage zugunsten der überkommenen Energiewirtschaft.
({0})
Aber dieses Problem gehen Sie und die Bundesregierung
nicht systematisch an, und schon gar nicht dort, wo es
momentan die meisten dieser Ausfälle gibt, nämlich bei
der fossilen Erzeugung.
Wir reden heute aber über eine kleine Detailregelung,
die sich aus der EEG-Reform von 2014 ergibt. Es geht
darum, wer die Umlage, die für Eigenverbrauch seit dem
1. August 2014 anfällt, letztlich eintreiben soll. Die
vorliegende Änderung der Ausgleichsmechanismusverordnung regelt, dass künftig nicht mehr die Übertragungsnetzbetreiber die EEG-Umlage auf Eigenstrom
einsammeln, sondern die Verteilnetzbetreiber. Wir sprechen von erwarteten insgesamt knapp 6 Millionen Euro
für 2015. Jetzt sagen Sie, der Vorteil bestehe darin, dass
Verteilnetzbetreiber „näher an den Kunden“ dran seien.
Die Verteilnetzbetreiber selbst lehnen die ihnen zugedachte neue Aufgabe ab. Die Zuständigkeit solle vollständig bei den Übertragungsnetzbetreibern bleiben. Das
ist das, was sie gerne möchten. Mit der neuen Regelung
hingegen müssten sich statt der bisher 4 Abteilungen der
großen Übertragungsnetzbetreiber dann insgesamt über
800 Unternehmen mit der Abrechnung von Eigenverbrauch auseinandersetzen. Genau darüber reden wir: Das
machen dann nicht mehr 4, sondern 800, auch die kleinen Netzbetreiber mit wenig Personal. Diese müssten
ihre IT umstellen, die notwendigen Prozesse in Gang
bringen und die gesamte Abwicklung bestreiten. Am
Ende landet dieses Geld wie auch die „normale“ EEGUmlage ohnehin beim Übertragungsnetzbetreiber.
Aus den Reihen der Bundesregierung hieß es am
Mittwoch im Ausschuss lapidar, es gebe keinen Zuwachs an Bürokratie - das haben wir vorher auch schon
einmal gehört -, sondern sogar einen Bürokratieabbau,
da die Verteilnetzbetreiber sowieso in Kontakt mit den
Kunden vor Ort stünden.
800 statt 4 - das scheint uns wenig überzeugend. Darum lehnen wir die Verordnung ab.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nachdem die Kollegin
Bulling-Schröter einen Großteil ihrer Rede damit verbracht hat, Regelungen der EEG-Reform von 2014 anzureißen und zu beschreiben, will ich auch noch einmal
darauf eingehen und vielleicht den Grund für die
EEG-Reform von 2014 schildern und auch, was unsere
Hauptintention für die jetzige Verordnung war. Wir wollten zwei Dinge mit der EEG-Reform von 2014 klären.
Erstens wollten wir eine konsequente Kostensenkung
voranbringen. Wir haben versucht, die EEG-Vergütungen in allen Bereichen Stück für Stück zu senken. Wir
haben es dadurch erstmals in der Geschichte des EEG
geschafft, dass die Umlage nicht automatisch weiter gestiegen ist, sondern um 0,07 Cent gesunken ist. Wir haben damit den Trend umgekehrt. Diese EEG-Reform
war somit sinnvoll für die Wirtschaft und für Privatverbraucher, weil das EEG günstiger wurde für die Menschen.
Ein wichtiger Punkt dabei war, den Eigenstromverbrauch einzubinden. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich war
ebenfalls sehr skeptisch, was das angeht. Aber wenn
man sich einmal vor Augen führt - die Zahlen liegen ja
auf dem Tisch -, dass ansonsten bis zum Jahr 2020
3 Milliarden Euro für den EEG-Topf verloren gegangen
wären, damit also der Solidargemeinschaft entzogen
worden wären, ist klar, dass es zu einer riesigen Belastung für den Privatverbraucher als auch für die Wirtschaft und Mittelstand geführt hätte, wenn wir das nicht
gemacht hätten. Deshalb mussten wir das Thema anpacken und dafür sorgen, dass es nicht immer mehr Möglichkeiten zur Flucht aus dem EEG gibt. Das war ein
wichtiger Punkt. Deshalb haben wir das gemacht. Somit
wird bei der EEG-Umlage auch der Eigenstromverbrauch einbezogen, nicht zu 100 oder 80 Prozent, sondern zu Beginn nur zu 30 oder 35 Prozent, aufwachsend
auf 40 Prozent. Eigenstromerzeugung ist damit immer
noch günstiger, als sie vor drei oder vier Jahren war. Das
war also eine Reform, die die Weichen richtig gestellt
hat und die auch dazu geführt hat, dass die finanziellen
Belastungen durch das EEG geringer wurden.
({0})
Der zweite Punkt ist der Systemwechsel, den wir mit
dem EEG eingeleitet haben. Wir haben gesagt, wir wollen Stück für Stück für mehr Markt und Wettbewerb im
EEG sorgen. Stichworte hierfür sind „Ausschreibungsmodell“ und „Direktvermarktung“. Auch da gehen wir
jetzt konsequent vor und versuchen, diese Elemente in
das EEG einzubauen, um dafür zu sorgen, dass das EEG
weiterhin wettbewerbsfähig ist und auch zu einem Exportschlager werden kann.
({1})
Wir wollen ja, dass die erneuerbaren Energien am Markt
standhalten können, marktfähig und wettbewerbsfähig
sind.
({2})
Dann wird auch die Energiewende zu einem Erfolgsmodell, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa
und auf der Welt. - Das war der zweite Punkt, den wir
eingebaut haben und der jetzt ebenfalls Stück für Stück
umgesetzt wird.
({3})
In Bezug auf die Verordnung, die wir heute vorlegen
- der Kollege Saathoff hat ja schon die Hauptelemente
beschrieben -, will ich noch einmal sagen, wie wichtig
uns das Thema Transparenz war. Wir haben es jetzt geschafft, dass wir innerhalb des Mechanismus auch die
Übertragungsnetzbetreiber dazu anhalten, dass sie transparenter darstellen, wohin die EEG-Gelder fließen und
woher sie kommen. Ich glaube, auch das wird dazu beitragen, dass die Diskussionen um das EEG etwas besser
verlaufen, dass wir das Vertrauen in das EEG stärken
({4})
und dass man beispielsweise vor dem Hintergrund der
immer wieder von den Grünen vorgebrachten Behauptungen, die Industrie zahle nichts, einmal sieht, dass die
Industrie mit einem Drittel der kompletten EEG-Umlage
einen Hauptteil zahlt, damit diese Energiewende gelingt.
({5})
Das wird dazu beitragen, dass die EEG-Diskussionen in
den nächsten Jahren vernünftiger und zielorientierter
verlaufen.
Der dritte Punkt - auch darauf sind die Kollegen vor
mir schon eingegangen - ist das Thema Prognose hinsichtlich der EEG-Umlage. Die mittelfristige Prognose
in dem Entschließungsantrag, der jetzt ebenfalls dem
Haus vorliegt, zu thematisieren, war wichtig. Wir wollen, dass zukünftig eine mittelfristige Prognose erstellt
wird, damit man schon im Herbst sehen kann, wohin die
Reise in den nächsten zwei Jahren geht. Man sollte
schon berechnen können, wie hoch die EEG-Umlage im
darauffolgenden Jahr voraussichtlich ausfallen wird,
auch wenn das einen größeren Aufwand bedeutet und
die Prognose etwas ungenau ist. Aber damit hat man
schon einen gewissen Hinweis, wohin die Reise geht.
Wir als Politik können dann darauf reagieren und entsprechend steuernd einwirken. Auch das war ein Punkt,
den in den Entschließungsantrag aufzunehmen uns wichtig war.
Ich glaube, beide Elemente sind richtig und notwendig. Mit der Ausgleichsmechanismusverordnung stellen
wir die richtigen Weichen. Mit dem Entschließungsantrag, der jetzt ebenfalls vorliegt, machen wir die
Verordnung noch schlüssiger. Insofern bitte ich Sie um
Zustimmung für beides.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Novelle der Ausgleichsmechanismusverordnung wurde in erster Linie nötig - es
wurde schon gesagt -, um die von Ihnen, sehr geehrte
Damen und Herren von der Regierungskoalition, erfundene Sonnensteuer, also die EEG-Umlage auf den Eigenverbrauch, einzuziehen.
({0})
- Ist doch so.
({1})
Werfen wir doch einmal einen Blick darauf, was Ihre
Sonnensteuer für den Ausbau der Photovoltaik bedeutet:
Seit Inkrafttreten der EEG-Novelle im August letzten
Jahres ist der Ausbau von Sonnenstrom massiv eingebrochen.
({2})
Rechnet man die fünf Monate von August bis Dezember
2014 auf ein Jahr hoch, dann kommen wir auf einen
Ausbau von gerade noch knapp 1 300 Megawatt. Das
entspricht nur der Hälfte des von Ihnen sowieso schon zu
niedrig angesetzten sogenannten Ausbaukorridors.
({3})
Die Photovoltaik kommt unter die Räder, und das haben
Sie zu verantworten.
({4})
Die deutsche Solarindustrie wurde ja schon weitgehend unter der Vorgängerregierung plattgemacht, aber
die restlichen Betriebe stehen spätestens jetzt mit dem
Rücken an der Wand. Der Wechselrichterhersteller SMA
muss 1 600 weitere Stellen abbauen. Das liegt nicht nur
daran, dass der Heimatmarkt wegfällt; aber das ist ein
entscheidendes Problem. Q-Cells streicht in Bitterfeld
sogar zwei Drittel der verbliebenen Stellen und wird in
Zukunft nur noch Forschung und Entwicklung in
Deutschland betreiben.
({5})
Die Reaktion der Bundesregierung auf diese wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen? Na ja. Die Kanzlerin spricht beim Neujahrsempfang des Bundesverbands Erneuerbare Energien von
einer sogenannten Atempause beim Photovoltaikausbau.
Frau Merkel, ich finde, das ist eine äußerst zynische
Aussage gegenüber den Menschen, die hier ihren Arbeitsplatz verlieren.
({6})
Diese verheerende Solarenergiepolitik von SchwarzGelb wird jetzt von der Großen Koalition nicht besser
gemacht. Es gibt kein Konzept. Geben Sie doch einfach
zu, dass Ihnen die Photovoltaik vollkommen egal ist.
({7})
Kommen wir zur Windenergie. Sie sagen ja immer:
Dafür haben wir im letzten Jahr mehr beim Ausbau der
Windenergie geschafft. - Toller Ausgleich! Wir haben
letztes Jahr zwar einen Ausbaurekord bei der Windkraft
an Land gesehen, aber das nehmen Sie von der Union Herr Fuchs hat das letzte Woche hier im Plenum gesagt natürlich sofort zum Anlass, auf die Bremse zu treten.
Dabei ignorieren Sie, dass dieser Ausbaurekord aus
dem letzten Jahr nichts mit einer zukunftsfähigen Energiepolitik, sondern mit Ihrer verkorksten EEG-Novelle
zu tun hat. Denn wir erleben jetzt bei der Windenergie
den gleichen Ausverkaufseffekt, wie wir ihn damals
schon bei der Photovoltaik hatten. Der jetzige Rekord
bei der Windenergie kam nur zustande, weil die Anlagebetreiber fürchten müssen, dass mit den angekündigten
Ausschreibungen ab 2017 gar nichts mehr läuft.
Herr Fuchs - leider ist er heute nicht anwesend und
kann daher auf die Debatte keinen Einfluss nehmen sollte uns zudem einmal erklären, wie die Bundesregierung ihr eigenes Ausbauziel für erneuerbare Energie eigentlich erreichen will, wenn die Biogasbranche und die
Photovoltaik schon jetzt platt sind und der Windenergieausbau auch noch zurückgefahren werden soll. Ich verstehe langsam gar nicht mehr, was Sie da machen.
Ich komme zur vorliegenden Novelle der Ausgleichsmechanismusverordnung: Dass Ihre Sonnensteuer nicht
wirklich geliebt wird, haben Sie daran merken können,
dass eigentlich niemand diese EEG-Umlage auf den Eigenverbrauch einsammeln wollte. Da hat es nicht einmal
geholfen, dass die Bundesregierung angekündigt hat,
dass die Anschlussnetzbetreiber 5 Prozent der eingezogenen Umlage behalten könnten. Immerhin haben Sie
diesen Mitnahmeeffekt noch kurzfristig gestrichen. Das
macht das Ansinnen der Verordnung trotzdem keinen
Deut besser.
({8})
Meine Damen und Herren, wir fordern Sie auf, dieser
Novelle der Verordnung nicht zuzustimmen. Stattdessen
wollen wir, dass Sie die Sonnensteuer wieder abschaffen. Außerdem fordern wir Sie auf, endlich einmal ein
Konzept vorzulegen, das der Photovoltaik in Deutschland wieder auf die Beine hilft. Nur durch einen zügigen
Ausbau aller erneuerbaren Energien werden wir die
Energiewende schaffen und damit die Klimaschutzziele
erreichen können.
({9})
Der Kollege Andreas Lenz hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ausgleichsmechanismusverordnung regelt die Ausgestaltung der Förderung von Strom aus erneuerbaren
Energien. Sie legt fest, wie die Übertragungsnetzbetreiber EEG-Strom an der Strombörse vermarkten müssen.
Außerdem legt sie fest, welche Vorgaben bei der Berechnung und Veröffentlichung der EEG-Umlage beachtet
werden müssen.
Es bedarf jetzt infolge der EEG-Reform vom letzten
Jahr einiger Anpassungen. Diese dienen einer höheren
Transparenz sowie der Bündelung einzelner Vorschriften. Außerdem geht es darum, die anteilige Erhebung der
EEG-Umlage auf die Eigenversorgung effizient auszugestalten. Wir schaffen so vor allem auch Investitionssicherheit für neue Anlagen, die der Eigenversorgung
dienen.
Frau Verlinden, wenn Sie sich die Zahlen des Ausbaus bei der Photovoltaik für 2010 und 2011 anschauen,
dann sehen Sie, dass diese Übertreibungen wesentlich
dazu beigetragen haben, dass wir die sinnvollen
Maßnahmen in der EEG-Novelle 2014 festschreiben
mussten.
Vielleicht ist an dieser Stelle eine Frage angebracht:
Wissen Sie, wie viele Windräder im letzten Jahr in
Baden-Württemberg unter der grün-roten Regierung gebaut wurden?
({0})
Ich bitte Sie, sich diese Zahlen bzw. diese Statistik zu
Gemüte zu führen.
({1})
In Bayern wurden 2014 über 200 Windräder gebaut. Das
ist ein Rekordwert.
({2})
Bisher sollten die Übertragungsnetzbetreiber die
EEG-Umlage auf den Eigenverbrauch erheben. Das ändert sich. Künftig werden das die Verteilnetzbetreiber
machen. Herr Saathoff hat ausgeführt, warum das Sinn
macht. Auch die Verbraucherzentralen, Frau BullingSchröter, sagen, dass das der richtige Weg ist.
Die Kosten, die den Verteilnetzbetreibern durch ihre
neue Pflicht entstehen, können diese wie bisher im Zuge
der Anreizregulierung geltend machen. Im ursprünglichen Verordnungsentwurf war vorgesehen, dass 5 Prozent der Einnahmen als zusätzliche Aufwandsentschädigung von den Verteilnetzbetreibern einbehalten werden
dürfen. Die Koalitionsfraktionen sind sich einig, diese 5Prozent-Regelung zu streichen. Es macht keinen Sinn,
für die Erfüllung gesetzlicher Pflichten Prämien zu bezahlen.
Es wird in diesem Zusammenhang immer das Ampelbeispiel angeführt. Ein anderes Beispiel ist, dass man das
Bundesverdienstkreuz nicht für die normale Pflichterfüllung am Arbeitsplatz erhalten kann. Das steht in den
Richtlinien des Bundespräsidialamtes. Genauso wenig
macht es Sinn, die Verteilnetzbetreiber für die Erfüllung
ihrer gesetzlichen Pflicht zusätzlich finanziell zu belohnen.
({3})
Durch die Novellierung der Ausgleichsmechanismusverordnung schaffen wir außerdem mehr Transparenz.
So werden die Kosten der EEG-Umlage getrennt nach
Alt- und Neuanlagen ausgewiesen. Außerdem wird es
zukünftig eine Aufstellung der Kostenbelastung durch
das EEG bezogen auf Verbraucher geben. So wird noch
transparenter, welcher Sektor welchen Anteil an der
EEG-Umlage zahlt. Die Aufteilung erfolgt in die Sektoren „Haushalte“, „Industrie“, „Gewerbe, Handel und
Dienstleistungen“ und „Öffentliche Hand“. Um an dieser
Stelle einmal mehr auch zur Entmystifizierung beizutragen: Die Sektoren „Industrie“ und „Gewerbe, Handel
und Dienstleistungen“ bezahlen schon jetzt über die
Hälfte der EEG-Umlage.
({4})
- Das stimmt natürlich.
({5})
Auf eine Prognose der Bandbreite der EEG-Umlage
für das übernächste Jahr wird zukünftig verzichtet. Der
vorhergesagte Wert der EEG-Umlage wich in der Vergangenheit oft deutlich vom tatsächlichen ab. Wir sind
uns als Koalitionsfraktionen einig, dass eine valide Prognose über die zu erwartende Höhe der EEG-Umlage
wichtig ist. Deshalb fordern wir die Bundesregierung in
einem Entschließungsantrag auf, zeitnah einen Vorschlag dafür zu machen, wie die mittelfristige Entwicklung der EEG-Umlage angemessen vorhergesagt werden
kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die EEGUmlage ist erstmals seit Bestehen des EEG rückläufig.
Sie ist in 2015 auf 6,17 Cent pro Kilowattstunde gesunken. Millionen Haushalte profitieren erstmals seit
14 Jahren von sinkenden Strompreisen. Das von uns novellierte EEG wird zu einer weiteren Stabilisierung des
Preisniveaus beitragen.
({6})
Ebenso wichtig ist es, dass wir für den Industriestandort Deutschland einen verlässlichen Rahmen geschaffen
haben. Wir haben die besondere Ausgleichsregelung für
energieintensive Unternehmen europarechtskonform
ausgestaltet. So schaffen wir Rechtssicherheit und eine
Perspektive für die energieintensive Industrie in
Deutschland.
Wir müssen jetzt die Integration der erneuerbaren
Energien weiter vorantreiben. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir zukünftig die Systemdienlichkeit noch stärker berücksichtigen. Die Diskussion
über das zukünftige Strommarktdesign muss zielgerichtet verlaufen. Marktwirtschaftliche Ansätze zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, also des Spitzenausgleichs, dürfen kein Tabu darstellen. Auch auf
europäischer Ebene müssen wir weitere Fortschritte erzielen. Das Stichwort heißt „Connecting Europe“.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Energiewende ist ohne Zweifel eine Generationenaufgabe. Die
Novelle der Ausgleichsmechanismusverordnung ist ein
sinnvoller Beitrag zum Gelingen. Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung
der Bundesregierung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus nach dem ErneuerbareEnergien-Gesetz und zur Änderung anderer Verordnungen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3935, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 18/3416
mit der vom Ausschuss beschlossenen Maßgabe zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3935 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Beate WalterRosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maritime Ausbildung in Kooperation mit den
Küstenländern neu ausrichten
Drucksachen 18/2748, 18/3895
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Werner Kammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem
heute vorliegenden Antrag wollen unsere Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen den maritimen Standort
Deutschland retten. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel.
({0})
Den Grünen ist bekannt, dass ich ein bekennender
Freund ihrer Fraktion bin und von daher ihre Anträge
sehr sorgfältig lese. Ich habe auch diesen Antrag sehr
sorgfältig gelesen und muss mir nun die Frage stellen:
Wer rettet uns eigentlich vor den Anträgen der Grünen?
({1})
Denn ich habe darin nichts gefunden, was uns noch bewegen könnte.
({2})
Statt diesen Antrag zu verfassen, liebe Frau Kollegin
Wilms, hätten Sie besser einige Briefe an Ihre Gesinnungsgenossen verfasst, die in Bremen, Niedersachsen
und Schleswig-Holstein Regierungsverantwortung tragen. Denn maritime Ausbildung ist in erster Linie Ländersache. Sie wissen selber sehr genau, wie peinlich genau die Bundesländer auf ihre Zuständigkeit achten.
({3})
- Es kommt gleich noch schlimmer für Sie. ({4})
Ihr Engagement wäre auf dieser Ebene sicherlich hilfreicher gewesen.
Aber sei es drum: Schauen wir uns Ihren Antrag einmal an. Schon Ihre Zustandsbeschreibung ist falsch.
Zwar hat die Zahl der Studierenden und Auszubildenden
in maritimen Berufen gegenüber den Boomjahren in der
Tat deutlich abgenommen. Aber Sie wissen doch genau,
dass sich die Situation im letzten Jahr stabilisiert hat. Es
gibt wieder immerhin 3 Prozent mehr Neueinsteiger;
ihre Zahl ist von 426 auf 441 gestiegen. Die Situation ist
keinesfalls rosig, aber auch nicht so schwarz, wie Sie es
uns glauben machen. Das liegt insbesondere an der guten Arbeit der Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland,
die wir in der vergangenen Legislaturperiode gegen alle
Widerstände - auch der Grünen - eingerichtet haben.
Nun zu Ihren Forderungen: Der Bund soll ein maritimes Ausbildungskonzept erarbeiten und dafür Sorge tragen, dass Ausbildungs- und Studiengänge überprüft und
überarbeitet werden. Wie wir alle wissen, ist das Länderhoheit. In der Bringschuld ist daher nicht der Bund, sondern es sind die fünf Küstenländer. Ich möchte in diesem
Zusammenhang eines anmerken: Die maritime Ausbildung in Deutschland ist sehr gut und weltweit anerkannt.
Das hat uns sogar der Verband Deutscher Reeder vor einigen Tagen bestätigt.
Außerdem soll der Bund sich nach Ihren Vorstellungen für mehr Praktikumsstellen einsetzen und diese über
die Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland auch noch
fördern. Ich denke, hier ist die Schifffahrtsbranche in
erster Linie selbst gefordert. Schließlich geht es um ihr
zukünftiges Fachpersonal.
In Ihrem Antrag sprechen Sie auch die Schifffahrtsbeihilfen des Bundes an. Ich denke, dass der Bund seiner
Pflicht zur Förderung der Seeschifffahrt durch die Tonnagesteuer, den Lohnsteuereinbehalt, die Zuschüsse zu
den Lohnnebenkosten und die Ausbildungsplatzförderung auf jeden Fall gerecht wird. Optimierungen sind
trotzdem nicht ausgeschlossen.
({5})
Das ist Ihnen bekannt. Beispielsweise wird die Stiftung
ab diesem Jahr erstmals auch Fortbildungsmaßnahmen
von nautischem und technischem Seepersonal fördern.
Bleiben noch Ihre Forderungen zur Behebung des
Nachwuchsmangels bei den Lotsen und zur Modernisierung der Flaggenstaatsverwaltung. Das Bundesverkehrsministerium ist in beiden Fragen bereits tätig geworden.
Auch da wärmen Sie nur das auf, woran dank Staatssekretär Ferlemann schon lange im Ministerium gearbeitet
wird.
({6})
Brauchbare neue Ideen, die dem Schifffahrtsstandort
Deutschland weiterhelfen, beinhaltet Ihr Antrag leider
nicht.
Meine Damen und Herren, das Problem ist auch ein
anderes: Wir haben es nicht mit einer Ausbildungskrise,
sondern mit einer Krise der Seeschifffahrt im Allgemeinen zu tun. Der Arbeitsmarkt für deutsche Seeleute ist
sehr schwierig. Deshalb hat das Interesse der Auszubildenden an dieser Branche abgenommen. Wir müssen die
Beschäftigung deutscher Seeleute wieder attraktiv machen.
({7})
Änderungen an der Ausbildung helfen dabei wenig, Frau
Wilms. Derzeit laufen Gespräche im maritimen Bündnis
darüber, wie wir die deutsche Flagge wieder attraktiv gestalten können; denn nur so schaffen wir wieder einen
funktionierenden Markt für deutsches Seepersonal. Bis
zur Nationalen Maritimen Konferenz in Bremerhaven
werden wir ein geeignetes Konzept vorlegen.
Uns unterscheidet einiges von Ihnen. Während Sie
von Parteitag zu Parteitag arbeiten,
({8})
arbeiten die Bundesregierung und die CDU/CSU-Fraktion ständig an der Lösung von Problemen. Gerade die
maritime Wirtschaft liegt uns am Herzen. Sie können sicher sein, dass wir mit einer besseren Ausbildungsförderung insgesamt den maritimen Standort Deutschland
stärken.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat befinden sich die maritime Wirtschaft und damit auch die maritime Ausbildung in schwerer See. Sie
haben gesagt, die jungen Leute interessierten sich nicht
mehr für die Ausbildungsberufe, weil sie nicht genau
wissen, ob sie einen Ausbildungsplatz bekommen und
ob sie dann, wenn sie ihre Ausbildung erfolgreich absolviert haben, einen Arbeitsplatz bekommen. Das motiviert keinen jungen Menschen zu Beginn seines Berufslebens, zu sagen: Ja, ich will diesen Job machen.
Wir müssen die Ausbildung bei den Seeberufen wieder attraktiv machen. Das heißt, wir müssen den jungen
Leuten beweisen, dass es möglich ist, beispielsweise
während des Studiums zeitnah einen Praktikumsplatz zu
bekommen. Uns schreiben junge Leute, die in der AusHerbert Behrens
bildung an der Hochschule Wismar sind, dass sie einem
Praktikumsplatz quasi hinterherschreiben müssen, um
einen der begehrten Plätze zu bekommen. Die Nautiker,
die ein Praktikum nachweisen müssen, und die anderen,
die während ihres Studiums ein Praktikumssemester machen wollen, müssen sich teilweise monatelang um einen Platz bewerben und verlieren dabei entweder die
Lust an ihrer Ausbildung oder lassen sich beim Studium
zurückfallen, weil sie wissen, dass sie den nächsten
Praktikumsplatz erst in ferner Zukunft bekommen werden. Eine solche Erfahrung sollten junge Leute zu Beginn ihrer Ausbildung nicht machen. Sie brauchen eine
Perspektive, wenn es um einen vernünftigen Arbeitsplatz geht. Das sind wir ihnen schuldig.
({0})
Damit sind wir am entscheidenden Punkt. Die Reeder
kommen ihrer Verpflichtung nicht nach.
({1})
Das von Ihnen erwähnte maritime Bündnis enthält das,
was die Reeder liefern wollten und sollten, wenn sie
weiterhin öffentliche Förderung haben wollen. Die Reeder haben sich verpflichtet, wieder Schiffe unter deutsche Flagge zu nehmen, damit sie jungen Leuten und ausgebildeten Seefahrern Jobs bieten können.
500 Schiffe seien nötig, sagt die Gewerkschaft Verdi,
um dem gesamten nautischen Ausbildungsbedarf gerecht
zu werden. 500 Schiffe, das sind 100 weniger, als die Reeder zu Beginn des maritimen Bündnisses zugesagt haben.
600 von 3 000 Schiffen wollten sie unter deutscher
Flagge fahren lassen, um jungen Leuten und ausgebildeten Seefahrern Perspektiven zu bieten.
Das maritime Bündnis, 2003 geschmiedet, bedeutet,
dass wir als Bund weitgehend auf Steuereinnahmen verzichten, damit die Reeder im Gegenzug bereit sind,
Schiffe unter deutscher Flagge fahren zu lassen. Die
Reeder sind dieser Verpflichtung nicht nachgekommen.
Wie mir berichtet wurde, sind es heutzutage 183 Schiffe,
die unter deutscher Flagge fahren. Das sind viel zu wenige, um die Ausbildungsplatzkatastrophe zu verhindern. Da müssen wir ansetzen.
Der Antrag der Grünen wird aber der Situation nicht
gerecht. Wir sind das Bündnis eingegangen in der Annahme, dass alle drei Seiten - Gewerkschaft, Bund und
Reeder - ihren Verpflichtungen nachkommen. Wenn es
erneut Gespräche im maritimen Bündnis gibt, dann ist
der Bund gefordert, die Reeder auf ihre Selbstverpflichtung hinzuweisen. Sie müssen ihren Versprechen nachkommen. Ohne Leistung gibt es keine Gegenleistung.
Das ist doch in der Wirtschaft üblich. Das müssen die
Reeder erkennen. An diesem Punkt muss angesetzt werden. Es sollte nicht - wie im Antrag der Grünen - der
Versuch unternommen werden, die Ausbildung anders
zu regeln. Die Reeder sind am Zug.
({2})
Die Kollegin Dr. Birgit Malecha-Nissen hat für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Tagen habe ich die Geschichte eines Schiffsmechanikers gehört: 80 Bewerbungen und keine Aussicht auf
Anstellung. Wohin mit seinen Fähigkeiten, seiner Erfahrung, seiner Energie, wenn es keinen adäquaten Arbeitsplatz gibt? Dieses Beispiel zeigt deutlich, in welchem
Dilemma deutsche Seeleute angesichts ihrer Arbeitssituation stecken.
Es ist wichtig und richtig, auf die Probleme bei Ausbildung und Beschäftigung in der Seefahrt hinzuweisen.
Ja, wir müssen dringend einem drohenden Verlust des
maritimen Know-hows entgegenwirken. Schifffahrt und
maritime Wirtschaft gehören zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in unserem Land und haben Deutschlands führende Position im Exportbereich gestärkt. Damit liefern sie einen wichtigen Beitrag zu Wachstum und
Beschäftigung in unserem ganzen Land. Doch auch die
maritime Wirtschaft, die zudem wie kaum ein anderer
Sektor im globalen Wettbewerb steht, hat die Folgen der
Finanzkrise zu spüren bekommen. Deshalb haben wir im
Koalitionsvertrag klar formuliert: Wir werden die maritime Wirtschaft stärken.
({0})
Die Arbeitssituation in der deutschen Seeschifffahrt
ist in Seenot geraten. Gute Arbeit und gute Ausbildung
gehören jedoch zusammen. Die maritime Ausbildung in
Deutschland wurde in den letzten zwei Jahren neu strukturiert. Im September 2013 ist die Verordnung über die
Berufsausbildung der Schiffsmechaniker in Kraft getreten. Gleichzeitig wurde auf der Kultusministerkonferenz
der länderübergreifende Lehrplan der Küstenländer
Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein für den Ausbildungsberuf Schiffsmechaniker verabschiedet. Ebenso wurde 2014 die neue
Seeleute-Befähigungsverordnung erlassen. Auch dies
geschah in enger Abstimmung mit den Küstenländern.
Mit diesen neuen Verordnungen wurde die maritime
Ausbildung an die international geltenden Vorschriften
angepasst.
Kein Schiff kann den Nord-Ostsee-Kanal oder den
Hamburger Hafen ohne Lotsen befahren. Vor dem Hintergrund der bestehenden Personalknappheit, besonders
bei den Kanallotsen, wurde bereits 2008 ein verkürzter
Zugangsweg zum Beruf entwickelt, und zwar in Zusammenarbeit mit der Bundeslotsenkammer und der Lotsenbrüderschaft des Nord-Ostsee-Kanals. Der neue Ausbildungsweg für die Kanallotsenanwärter reduziert die
Seefahrtzeiten von 48 auf 24 Monate. Bisher sind circa
40 Anwärter diesen Ausbildungsweg mit großem Erfolg
gegangen.
Deshalb ist die gemeinsame Arbeitsgruppe des Verkehrsministeriums und der Bundeslotsenkammer wichtig. Hier werden grundsätzlich die Zugangsvoraussetzungen für alle Seelotsen auf den Prüfstand gestellt. Es
bleibt allerdings festzuhalten, dass wir dazu auch das
Engagement der Reeder brauchen.
Wir brauchen also keine neue Ausrichtung der maritimen Ausbildung. Wir bilden bereits hervorragende
Fachkräfte aus. Das Potenzial ist da. Was wir brauchen,
das sind Arbeitsplätze. Die Absolventen der Hochschulen müssen Anstellungsplätze finden, um die international vorgeschriebene Seefahrtzeit und somit auch ihre
Ausbildung abzuschließen. Wir müssen dafür sorgen,
dass die weitere Ausflaggung deutscher Schiffe verhindert wird, damit genügend Arbeitsplätze zur Verfügung
stehen.
({1})
Fuhren im Jahr 2000 noch rund 700 Schiffe unter
deutscher Flagge, hat sich die Zahl heute halbiert. Dem
steht insgesamt eine deutsche Handelsflotte mit rund
3 500 Schiffen gegenüber. Um den Schifffahrtsstandort
Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken,
hat der Bund in den vergangenen Jahren wichtige Weichen gestellt. Es wurden bereits die Tonnagesteuer, der
Lohnsteuereinbehalt, die Fördermittel zur Senkung der
Lohnnebenkosten, die Ausbildungsförderung und die
Schiffsbesetzungsverordnung genannt. Leider konnten
diese Maßnahmen den bisherigen Trend zu weiterer
Ausflaggung nicht aufhalten. So werden wir in Zukunft
genau prüfen müssen, wo wir verbessern und nachbessern müssen.
Lassen Sie mich das an den Beispielen des Lohnsteuereinbehaltes und der Ausbildungsförderung näher ausführen. Die Einführung des Lohnsteuereinbehaltes von
40 Prozent führt bereits zu einer Reduzierung der Personalkosten. Das ist erst einmal gut. Hier muss jedoch weitergedacht werden, und das wird auch diskutiert. Ein
möglicher Weg wäre, den Lohnsteuereinbehalt auf
100 Prozent zu erhöhen, wie das übrigens auch in anderen europäischen Ländern passiert. Dazu haben jedoch
die Bundesländer ein Mitspracherecht. Aber um es ganz
klar zu sagen: Unser Ziel ist, den Verlust von Arbeitsplätzen zu stoppen. Deshalb müsste eine Änderung mit
einer klaren, verbindlichen Zusage, zum Beispiel für tarifliche Arbeitsverträge, gekoppelt werden.
({2})
Bei der Ausbildungsförderung zeigen auch die deutschen Reeder ihre Verantwortung für die maritime Ausbildung. Dazu wurde im Jahre 2012 die Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland gegründet. 2014 wurden über
20 Millionen Euro für die finanzielle Unterstützung der
Berufsausbildung ausgezahlt.
Wie finanziert sich die Stiftung? Das Flaggenrechtsgesetz - ein schwieriges Wort; auch das Gesetz ist ziemlich
umfangreich - verpflichtet die Schifffahrtsunternehmen
bei geplanter Ausflaggung, entweder auf dem jeweiligen
Schiff auszubilden oder alternativ die Ausbildungsverpflichtung finanziell zu kompensieren und dann in die
Stiftung einzuzahlen. Die Höhe des Betrages richtet sich
nach der Schiffsgröße und liegt zwischen 2 000 und
16 000 Euro - ein doch relativ kleiner Betrag, gemessen
an dem, was ein Ausbildungsplatz kosten würde.
Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestag
über die Erfahrungen mit der Stiftung und den Ausflaggungsgenehmigungen bis Ende 2016 berichten. Ich
persönlich wünsche mir den Bericht noch bis zur Nationalen Maritimen Konferenz im Herbst, um hier gegebenenfalls regulativ nachbessern zu können.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, es ist viel für die maritime Ausbildung auf
den Weg gebracht. Das Maritime Bündnis für Ausbildung und Beschäftigung zwischen Bundesregierung,
Küstenländern, Reedern und Gewerkschaften leistet gute
Arbeit. Allerdings zeigt die Arbeitssituation in dieser
Branche: Ausruhen ist nicht. Wir brauchen dringend ein
Umsteuern aus der Sackgasse. Der Verlust von Arbeitsplätzen muss gestoppt werden.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt
leider keine Problemlösung auf. Mit Praktika und einer
Neuausrichtung der maritimen Ausbildung schaffen wir
eben keine regulären Arbeitsplätze. Deshalb ist uns als
SPD-Fraktion dieser Antrag zu kurz gegriffen. Was wir
brauchen, sind die Sicherung der Arbeitsplätze und damit die Sicherung unseres maritimen Know-hows. Für
uns gehören gute Ausbildung und gute Arbeit zusammen.
({3})
Unsere jungen Frauen und Männer haben das Recht auf
einen erfolgreichen Start ins Berufsleben.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es sind durchaus auch Gäste da, wenn auch nur in geringer Anzahl. Es ist schön, dass sie sich mit solch einem
Thema beschäftigen. Vom Kollegen Kammer bin ich ja
schon so richtig abgewatscht worden, als ob ich nicht
wüsste, was da los ist.
Die Situation in der Branche ist absolut katastrophal.
({0})
Kollege Behrens sprach von 183 Handelsschiffen unter
deutscher Flagge im sogenannten Monitoring-Bestand;
nach meinem heutigen Kenntnisstand sind es nur noch
170 Schiffe. Es geht also abwärts. Wenn wir nicht unmittelbar handeln, gibt es keine deutsch beflaggten Handelsschiffe mehr - außer unseren Behördenschiffen; die
werden natürlich deutsch beflaggt bleiben. Wenn alle
restlichen Handelsschiffe nicht mehr unter deutscher
Flagge fahren, brauchen wir uns um deutsche AusbilDr. Valerie Wilms
dung und Ähnliches nicht mehr zu kümmern. Ist das
etwa Ihre Absicht? Diesen Verdacht habe ich so ein bisschen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir so weitermachen wie bisher, dann ist die deutsche Flagge weg,
dann ist auch das deutsche Ausbildungssystem weg, und
dann brauchen wir uns um das Ganze eigentlich nicht
mehr zu kümmern. Lotsen holen wir dann von den Philippinen. Auch dort bekommt man nämlich eine gute
Ausbildung. Übrigens waren früher Europäer auf den
Philippinen und anderswo in Asien als Lotsen unterwegs. Das kann ja auch einmal umgekehrt sein, wenn es
so gewünscht ist. Das Ausbluten des deutschen Seeschiffsregisters ist wirklich dem fehlenden Reformwillen
dieser und der Vorgängerregierung geschuldet.
Dass es aber auch anders geht, das zeigen uns unsere
Nachbarn in Europa. Hierzulande werden die frischen
Absolventen erst gar nicht eingestellt. Die Ausbildung
ist nämlich an Praxiserfahrung auf hoher See geknüpft.
Wenn man diese Erfahrung nicht macht, kann man seine
Ausbildung nicht abschließen. Das heißt, das Patent, das
man für eine gewisse Zeit besaß, verfällt, da man es
nicht ausfahren kann. Da Praktikantenplätze an Bord
fehlen, ist die Anzahl der Studienanfänger im Fach Nautik auf rund ein Dutzend pro Standort und Semester gesunken. Das sind harte Fakten, die mir am 23. Januar
2015 in Bremen noch einmal bestätigt wurden. Herr
Kammer, ich weiß nicht, in welcher Welt Sie leben, woher Sie diese Daten haben. Vielleicht ist der Sprechzettel
aus dem Ministerium nicht immer optimal.
({2})
Der Nachwuchs bricht weg und damit auch das nautische Know-how in Deutschland. Hier besteht also wirklich dringender Handlungsbedarf. Darum haben wir diesen Antrag eingebracht.
Die Wirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen,
muss wirklich mehr Verantwortung für den maritimen
Standort übernehmen. Das bedeutet: mehr Engagement
für eine bedarfsorientierte Ausbildung.
({3})
Was können funktionierende Lösungen sein? Bestimmt nicht die derzeitige Nummer mit der „Stiftung
Schifffahrtsstandort Deutschland“! Denn Praktikantenplätze an Bord, die wir dringend benötigen, werden darüber nicht gefördert, und zwar deshalb, weil sie von den
Reedern auch gar nicht so richtig gewünscht werden.
Nötig ist eine unmittelbare Verantwortung der Arbeitgeber - das sind die Reeder - für die Ausbildung, auch an
den Hochschulen.
Die Wirtschaft an Land macht uns das vor. Sie stellt
junge Menschen ein und ermöglicht ihnen während der
Arbeitszeit ein Studium. Nur mit diesem dualen Studium, also mit der direkten Verantwortungsübernahme
durch die Reeder, kommen wir aus der Ausbildungskrise
in der Nautik und bekommen dann auch vernünftig und
gut ausgebildete Nautiker.
Bisher, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den
Regierungsfraktionen, habe ich hier noch keinen Änderungswillen von Ihnen gesehen - Kollege Ferlemann blättert in der Fachzeitschrift -,
({4})
keine Vorschläge dazu, wie Sie die maritime Ausbildung
erfolgreich neu ausrichten wollen. Fehlanzeige! Da
kommt nichts!
Es trifft sich in regelmäßigen Abständen die maritime
Branche mit Vertretern der Politik zur Maritimen Konferenz, um sogenannte weise Beschlüsse zu fassen. Wenn
Sie wollen, dass diese Veranstaltung nicht endgültig zur
Lachnummer wird, müssen Sie jetzt handeln; ansonsten
verkommt sie zu einem Kaffeekränzchen. Das haben wir
ja schon einmal gehabt: Da gab es ein Kaffeekränzchen
mit einer besseren Campingausrüstung in einem neu geschaffenen Hafen.
Bringen Sie die Bündnispartner Bund, Länder, Reeder
und Arbeitnehmervertreter an einen Tisch, und stellen
Sie die maritime Ausbildung auf neue Beine!
Kollegin Wilms, Sie müssen bitte einen Punkt setzen.
Frau Präsidentin, ich bin knapp am Ende.
Im Oktober dieses Jahres wird in Bremerhaven die
nächste Maritime Konferenz stattfinden. Ich vermisse
hier unseren maritimen Koordinator. Wo steckt der?
Nicht vorhanden! Das ist die Aussage, die wir eigentlich
nicht gebrauchen können. Kümmern Sie sich wirklich
ernsthaft um die maritime Branche, und unterstützen Sie
unseren Antrag mit der praktischen Umsetzung! Damit
würden Sie der Branche wirklich etwas Gutes tun.
Danke.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin
Alexandra Dinges-Dierig.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wilms, meinen
Sie wirklich - ich war jetzt doch etwas überrascht; ich
war auf eine völlig andere Rede von Ihnen vorbereitet;
wir kennen uns ja nun ein bisschen -, dass Sie mit Ihrem
Antrag, mit Ihrer Forderung nach einer Evaluierung der
Ausbildungs- und Studiengänge - das alles gibt und gab
es schon - und mit der Forderung nach Anpassung des
Seelotsgesetzes die Anzahl der Schiffe, die unter deutscher Flagge fahren, erhöhen? Ich glaube, das ist wirklich zu kurz gesprungen.
Deshalb möchte ich jetzt an dieser Stelle einmal einen
kleinen Schwenk in die Geschichte machen. Einige von
Ihnen wissen: Ich komme aus dem schönen Lübeck. Bei
„Lübeck“ klingelt es vielleicht auch, und man denkt an
Schifffahrt und Maritimes.
({0})
Lübeck, auch genannt „Königin der Hanse“, ist untrennbar mit dem Aufstieg des deutschen Handels und der
deutschen Seefahrt verbunden. Daran sollten wir uns immer erinnern. Auf Kooperation ehrbarer Kaufleute zum
Wohle der Städte fußend, ist diese Hanse - das meine ich
ganz bewusst - bis heute ein Vorbild für die maritime
Wirtschaft.
Ein Merkmal damals war die Verflechtung der unterschiedlichen maritimen Kompetenzen in den damaligen
Hansestädten - wohlgemerkt: bis zu 200 -: Kaufleute,
Seefahrer, Schiffbauer, sie alle waren auf engem Raum
mit ihrem städtischen Heimatstandort verbunden. Sie
waren gemeinsam aktiv unterwegs, um sich den Herausforderungen von außen, die sich im Zuge der Zeit immer
wieder geändert haben, zu stellen. Das sind Herausforderungen, die vielleicht schon ein bisschen in die heutige
Zeit reichten. Auch damals haben sie sich nämlich zusammengetan und gesagt: Wie können wir uns gegenüber der wachsenden Konkurrenz aus anderen Staaten
aufstellen? Und sie organisierten auch damals schon die
Ausbildung ihres Nachwuchses.
Ich denke, meine Damen und Herren, dass die Schifffahrt damals und heute so international aufgestellt war
und ist wie kaum eine andere Branche. Aber es gibt ein
ganz entscheidendes Kennzeichen, wenn wir über Ausbildung nachdenken, nämlich: In keiner anderen Branche orientieren sich die Berufe so stark an internationalen Standards und an einem internationalen Regelwerk
wie in der maritimen Branche. Wohlgemerkt: In einem
internationalen Regelwerk sind auch die Ziele der Ausbildung festgelegt. Dadurch entsteht ein völlig anderer
Einfluss auf den internationalen Wettbewerb selber, dem
wir uns stellen müssen; wir haben heute Abend schon einiges darüber gehört.
Ich gebe auch gerne zu, liebe Frau Wilms: Die Zukunft sieht im Moment, was die maritime Wirtschaft und
den Nachwuchs angeht, nicht so ganz leicht aus.
({1})
Der Nachwuchsmangel ist spürbar und vor allem auch
für die Zukunft absehbar, wenn wir nicht etwas tun. Wer
ist „wir“? Genau darum geht es. Ihr Antrag - das sagte
ich zu Beginn - greift zu kurz. Die Lösung des Problems
finde ich nicht in Ihrem Antrag.
({2})
Anstatt ganz klar einen Kurs zu markieren, vertun Sie
sich in einem Klein-Klein oder in Punkten, die bereits
abgearbeitet sind,
({3})
wie wir eben von der Kollegin
({4})
bezüglich der Überarbeitung bei den Schiffsmechanikern gehört haben. Sie sprechen von einem bedarfsorientierten maritimen Ausbildungskonzept. Das ist Ihr Text.
({5})
Aber Sie sagen nicht dazu, wie Sie das verstehen. Was
ich vermisse, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen: Wo bleibt denn Ihr Bekenntnis zur Zukunftsperspektive der deutschen maritimen Wirtschaft?
({6})
Wo ist sie im Bereich der Technologie, im systemischen
Bereich, aber auch im personellen Bereich? Die Sache
ist eben komplizierter, als Sie uns mit Ihrem Antrag suggerieren wollen.
Der Bund hat einige Vorleistungen erbracht; sie wurden genannt. Wir unterstützen die Ausbildung im maritimen Bereich. Aber ich muss an dieser Stelle sagen: Gute
Ausbildung, berufliche Perspektiven können wir nicht
allein mit Geld kaufen. So funktioniert es nicht. Der
Schlüssel ist, diese Herausforderungen, vor denen wir in
der maritimen Wirtschaft stehen, wirklich zunächst einmal zu identifizieren, um dann alle zusammen in ein
Boot zu holen
({7})
und gemeinsam zu überlegen, wie wir das maritime
Know-how Deutschlands sichern können.
({8})
Das schließt die Länder genauso ein - wir haben es
gehört - wie auch Hochschulen und andere Ausbildungsstätten sowie die Reeder und auch uns als Bund.
Deshalb, meine Damen und Herren: In meinen Augen
werden wir weder mit neuen Vorschriften noch mit
neuen zentralen Vorgaben die Zukunft unseres maritimen Ausbildungsstandorts Deutschland entscheidend
beeinflussen oder gar sichern.
({9})
Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Die maritime Wirtschaft ist eine Zukunftsbranche und
für Deutschland als Exportnation unverzichtbar.
({10})
Unser Ziel muss es deshalb sein, dass wir alle gemeinsam daran arbeiten, unsere jahrhundertealte maritime
Wirtschaft in dieser sich verändernden globalen Welt in
ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Nur dann, wenn uns das gelingt, werden wir auch
morgen noch Ausbildungsplätze und Auszubildende,
Studienplätze und Studierende in der maritimen Wirtschaft haben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Maritime Ausbildung in Kooperation mit den Küs-
tenländern neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3895,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2748 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 b und 9 a auf:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Dr. Axel Troost, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein internationales Staateninsolvenzverfahren
Drucksache 18/3743
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Gerhard Schick, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Resolution der Vereinten Nationen für ein
multilaterales Rahmenwerk zur Restrukturierung von Staatsschulden umsetzen - Jetzt
aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten Nationen mitgestalten
Drucksache 18/3916
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn Unternehmen oder Privatleute pleite sind, greift
ein Insolvenzverfahren. Das schützt Schuldner davor,
Gläubigern rechtlos ausgesetzt zu sein. Für Staaten, die
überschuldet sind, gibt es das nicht. Sie sind dem Wohlwollen der Gläubiger - das sind insbesondere andere
Staaten, Banken und Hedgefonds - ausgeliefert. Da
Gläubiger meist auf unbedingte Rückzahlung pochen,
muss der Schuldnerstaat meist Kürzungen vornehmen.
Lehrer werden entlassen, Sozialleistungen gestrichen,
Kranke nicht behandelt. Die Folgen treffen immer die
ärmsten Menschen. Damit das nicht so weitergeht, brauchen wir endlich ein gerechtes Insolvenzverfahren für
Staaten.
({0})
Das sehen auch die Vereinten Nationen so. Letztes
Jahr beschlossen sie auf Antrag Boliviens und vieler anderer Länder des Südens, ein Verfahren zur Staateninsolvenz zu schaffen. Deutschland gehörte zu den elf Staaten, die mit Nein stimmten. Ich habe dafür kein
Verständnis,
({1})
vor allem, weil Deutschland wegen des Zweiten Weltkrieges selbst erhebliche Schulden hatte und das Wirtschaftswunder nur dank der Streichung dieser Schulden
1953 durch die internationale Gemeinschaft möglich
war. Deutschland hat sich international mit seinem Nein
ins Abseits gestellt. Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, um das zu korrigieren.
({2})
Bisher verfolgt die Bundesregierung die Linie: Wer
Schulden hat, soll tun, was man ihm sagt. Er hat keine
Rechte. - Menschen machen das nicht ewig mit.
Schauen wir nach Griechenland.
({3})
Nachdem die Diktate der Gläubiger die Bevölkerung in
Armut gestürzt haben, haben sie eine neue Politik gewählt. Sie wollen, wie es der neue Ministerpräsident ausdrückt, auf ihren Füßen gehen und nicht auf den Knien
rutschen.
({4})
Was Griechenland erlebt, kennen viele Länder des
Südens von den desaströsen Strukturanpassungsprogrammen der 80er- und 90er-Jahre:
({5})
Schuldenpolitik als Machtpolitik, als Politik, um Länder
gefügig zu machen.
({6})
Weil Staaten massiv kürzen müssen, um die Kredite
zu bedienen, gibt es auch keine Investitionen, kein
Wachstum. Dadurch wachsen die Schulden erst recht.
Wieder Griechenland als Beispiel: Vor dem EU-Kürzungsdiktat betrug die Staatsschuldenquote 110 Prozent,
heute 170 Prozent.
In dieser Woche starten bei der UN die Verhandlungen zur Ausgestaltung des Staatsinsolvenzverfahrens.
Dorthin gehören die Verhandlungen. Dort haben die
Schuldner, insbesondere die Entwicklungsländer, eine
Stimme. In den von Gläubigern dominierten Organisationen, wie dem Internationalen Währungsfonds, hatten
sie die nie ausreichend.
({7})
Nun gibt es die Chance auf ein gerechtes Verfahren,
das nicht von den Gläubigern diktiert wird, wenn Staaten
überschuldet sind. Dann werden hoffentlich alle Gläubiger bei einer Staatsinsolvenz verbindlich einbezogen
sein, damit es nicht noch einmal so läuft wie in Argentinien. Dort gab es 2001 eine Staatspleite, danach ein
Umschuldungsverfahren. Viele Gläubiger machten mit,
einige Hedgefonds aber nicht. Die haben Argentinien
verklagt, um aus der Zockerei mit Staatsanleihen wahnwitzige 1 600 Prozent Rendite zu erzielen. Mit solcher
Gier muss Schluss sein.
({8})
Oft wird eingeworfen: Wer Schulden macht, ist selbst
schuld und muss sie zurückzahlen. Aber auch für Privatleute und Firmen gibt es dank des Insolvenzrechts Grenzen. Zum anderen sind viele Schulden der Länder des
Südens illegitime Schulden; denn diese Kredite waren
nicht immer verantwortungsvoll. Oft standen eigene
wirtschaftliche und geostrategische Interessen der Gläubiger im Vordergrund. Norwegen hat dies erkannt und
hat als illegitim eingestufte Schulden erlassen. Das muss
Deutschland auch tun.
({9})
In diesem Jahr der Entwicklung sollten wir in der
Lage sein, das Mindeste zu schaffen: den Teufelskreis
aus Schulden, Erpressbarkeit, sozialer und wirtschaftlicher Talfahrt und neuen Schulden, dem viele Länder des
Südens ausgesetzt sind, zu durchbrechen.
Vor allem die Griechenland-Debatte zeigt, warum wir
ein Staatsinsolvenzverfahren brauchen. Denn will eine
Regierung erst mal die schlimmste Not der Menschen
lindern, wird ihr gesagt, erst seien die Schulden zu bedienen. Aber der Schutz des Lebens muss Vorrang vor
Profiten haben, und dafür kann ein Insolvenzverfahren
sorgen.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Brauchen wir ein Staateninsolvenzverfahren?
Spontan würde man vielleicht Ja sagen, aber bei genauerem Hinsehen, insbesondere nach dem, was wir gerade
gehört haben, kommen doch wesentliche Zweifel und
Fragen auf. Auf vier Fragestellungen möchte ich eingehen. Erstens: Ist der Begriff „Insolvenz“ überhaupt geeignet? Zweitens: Was soll das Ziel einer Staateninsolvenz sein?
({0})
Drittens: Wie steht es um das Prinzip „Haftung und Verantwortung“? Viertens: Welche Instrumente haben wir
denn heute, und wie kann man sie erfolgreich anwenden?
Ist der Begriff „Staateninsolvenz“ überhaupt geeignet? Sie haben das Beispiel eines Unternehmens gebracht. Wie funktioniert es da? Nach unserem Recht
stellt ein Gericht bei der Insolvenzeröffnung einen Insolvenzverwalter. Er ist geschäftskundig, er ist unabhängig,
und seine juristischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten
entsprechen seiner Aufgabe. Seine Aufgabe ist es, die
Insolvenzmasse in Besitz zu nehmen, die Masse zu verwerten und den Erlös an die Gläubiger zu verteilen. Im
Falle eines Staates - das schlagen Sie doch vor - würde
ein solcher Insolvenzverwalter natürlich jegliche staatliche Souveränität der Organe aufheben müssen, weil er
sonst gar nicht seiner Aufgabe nachkommen kann.
({1})
Für mich ist an dieser Stelle schon klar, dass eine solche
Lösung daher undenkbar ist. Sie widerspricht - ich
denke, das geht den meisten von uns so - meinem demokratischen Verständnis von der Souveränität eines Staates vollständig.
Dann gibt es noch weitere Fragen: Was ist eigentlich
mit der Insolvenzmasse? Ist das staatliche Vermögen
komplett der Insolvenzmasse zuzurechnen? Wann tritt
solch eine Insolvenz tatsächlich ein? Was ist die Rangfolge der Gläubiger? Es gibt noch viele weitere Fragen,
die jedenfalls mich zu dem Schluss kommen lassen: Ein
solches Verfahren ist nicht geeignet, und der Begriff
„Staateninsolvenz“ schon gar nicht.
({2})
Kollege Murmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Movassat?
Bitte schön. Er hatte zwar gerade schon die Gelegenheit, alles zu erklären, aber gut.
Herr Kollege Dr. Murmann, danke für die Zulassung
der Frage. - Ja, ich hatte die Gelegenheit, meine Rede zu
halten; aber ich war nicht darauf gefasst, dass Sie so derart an dem vorbeireden, was ich hier gesagt habe.
({0})
Das ist das Problem bei der Geschichte.
Erstens. Der Begriff des Staateninsolvenzverfahrens
meint ja nicht, dass man eins zu eins das tut, was man
bei Firmen tut; das ist doch klar. Deswegen wird das
doch gerade bei der UN verhandelt.
({1})
Es geht bei unserem Antrag um die Frage, wie sich
Deutschland in diesen Prozess und diese Verhandlungen
einbringt.
Zweitens. Sie haben darauf verwiesen, dass ein solches Verfahren nicht im Interesse der Staaten sei. Die
Staaten, die den Antrag bei der UN eingebracht haben,
sind Länder, die von Überschuldung betroffen waren
oder sind. Das heißt, es ist das Interesse genau dieser
Staaten, dass es ein geregeltes Verfahren gibt, damit sie
eben nicht der Willkür der Gläubiger ausgeliefert sind.
Darum geht es bei dieser Frage. Es wäre interessant,
wenn Sie dazu etwas sagen würden.
({2})
Ich weiß nicht, inwieweit Sie diese UN-Resolution
gelesen haben. Jedenfalls taucht das Wort „Insolvenz“ da
nirgendwo auf. Es geht um „multilateral legal framework for sovereign debt restructuring processes“. Das ist
etwas anderes als ein Insolvenzverfahren.
({0})
Ich werde vielleicht gleich noch darauf eingehen. - Sie
können sich ruhig wieder setzen. Ich versuche jetzt, das
in 3 Minuten und 14 Sekunden abzuarbeiten, damit wir
alle irgendwann nach Hause kommen.
({1})
Das, was Sie meinen, ist kein Staateninsolvenzverfahren, sondern ein Schuldenschnitt; das möchten Sie. Sie
treibt die Frage um: Wie kann sich ein Staat möglichst
leicht seiner Schulden entledigen,
({2})
um dann möglichst so weiterzumachen wie bisher? Das
wäre natürlich schön. Dann könnte man sich als Regierungschef einfach unbegrenzt verschulden, Wohltaten an
das Volk verteilen,
({3})
und wenn es nicht mehr weitergeht, dann haften die anderen.
In Ihrem Antrag kommt sogar der Begriff der „illegitimen“ Schulden vor, nach dem Motto: Die Geldgeber
haben ja sowieso schon gewusst, dass die Rechnung
nicht aufgeht,
({4})
und deshalb sind die Schulden sowieso illegitim. Ich
finde, ein solches Ansinnen, ehrlich gesagt, unanständig
und unehrenhaft.
({5})
Kollege Murmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Kekeritz?
Er hat gleich die Möglichkeit, seine Rede zu halten.
Insofern würde ich sagen: Wir fahren jetzt fort. Notfalls
können Sie noch einmal dazwischengehen.
({0})
Es mag Zufall sein, dass Sie diesen Punkt just in einer
Woche auf die Agenda gesetzt haben, in der eine linksrevolutionäre Regierung durch Europa reist und uns allen weismachen will, dass ein Schuldenschnitt die Lösung sei.
({1})
- Sie hatten doch schon die Möglichkeit, zu reden. Jetzt
seien Sie doch einmal still und lassen es über sich ergehen, so wie wir alle Ihre Rede über uns ergehen lassen
mussten.
({2})
Ich kann Ihnen sagen: Ein solcher Schuldenschnitt ist
nicht die Lösung für die griechischen Probleme. Sie wissen genauso gut wie wir: Wir haben die Tilgung auf nach
2020 verschoben. Insofern wird ein Schuldenschnitt das
Problem nicht lösen. Einen Schuldenschnitt wird es mit
uns nicht geben;
({3})
denn Vereinbarungen sind einzuhalten. Europa basiert
auf Recht und Gesetz und auch auf Verlässlichkeit. Darum muss es gehen.
({4})
Ich stehe hier als Unternehmer.
({5})
- Ja, ich bin Unternehmer in der Politik. - Mein Leitgedanke ist: Investitionen zahlen sich dadurch aus, dass sie
einen Ertrag bringen; alles andere sind Ausgaben und
eben keine Investitionen. Grundsätzlich gilt für Unternehmer das Prinzip von Haftung und Verantwortung. Ich
als Unternehmer hafte für meine Entscheidungen und für
meine Investitionen. Das muss natürlich auch für Staaten
gelten. Das Prinzip von Haftung und Verantwortung
muss durch Recht und Gesetz geschützt werden.
({6})
So ähnlich wird auch die Diskussion bei der UN gewesen sein. Deswegen haben sich 41 Länder enthalten.
11 Länder haben dagegen gestimmt - gucken Sie sich
einmal an, wer das war -: zum Beispiel Amerika, Großbritannien und Deutschland, aber auch Italien, und die
werden sich das gut überlegt haben.
Das bringt mich zur letzten Frage: Welche Instrumente haben wir heute? Wir haben den IWF und die
Weltbank, die gute Verfahren entwickelt haben, um Lösungen zu erarbeiten. Sie werden mir sicher zustimmen,
dass solche Verfahren auch nachhaltig sein müssen. Und
was heißt nachhaltig? Die Verwaltung und die Struktur
insgesamt müssen verbessert werden, und die Ausgaben
und Einnahmen müssen sich decken; sonst wird eine Restrukturierung auch nicht nachhaltig sein.
Sie haben Argentinien angesprochen. Argentinien hat
sich dem Verfahren entzogen und steht nun wieder vor
einer Pleite. Andere Länder wie Irland, Spanien und Portugal, die diesen Weg beschritten haben, sind durchaus
erfolgreich.
Griechenland muss nun seinen Weg selbst wählen.
Wir werden uns gerne die Vorschläge anhören. Aber am
Ende sind wir dem Wähler in Deutschland verpflichtet,
der jeden Monat pünktlich seine Steuern zahlt.
({7})
Daran werden wir uns orientieren,
({8})
Und schon deswegen müssen wir Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Murmann, das war alles sehr interessant. Warum
hat eigentlich - diese Frage hätte ich Ihnen gerne gestellt - die Bundesregierung Bolivien erst neulich einen
Nachlass von 387 Millionen Euro gewährt?
Verschuldung und Überschuldung gehören zur Geschichte der Menschen und der Völker, und daran wird
sich auch nichts ändern. Deswegen beschäftigten sich
schon die Bibel, der Koran und die Thora mit dieser
Thematik. Vor 250 Jahren - man höre und staune - hat
Adam Smith deutlich zum Thema Staatsverschuldung in
einem durchaus fortschrittlichen Sinne Stellung bezogen.
Zwischen 1980 und 2005 gab es an die 160 Staatspleiten auf diesem Globus. Lassen Sie mich drei Punkte
nennen, die im Zusammenhang mit diesen Pleiten deutlich wurden: Staatsinsolvenzen kommen immer häufiger
und in immer kürzeren Zeitabständen vor, sie nehmen an
Intensität zu, und immer mehr Länder sind davon bedroht.
Es ist eine Tatsache, dass Schuldenerlasse heutzutage
zum Alltag gehören.
({0})
Die Mechanismen eines Schuldenerlasses haben allerdings enorme Schwächen, da sie allzu oft einem knallharten politischen Machtspiel geschuldet sind.
({1})
Um diese Schwächen abzubauen, tagt seit Dienstag ein
Komitee der Vereinten Nationen. Es ist absolut erbärmUwe Kekeritz
lich, dass ausgerechnet die Bundesregierung durch eine
von insgesamt elf Neinstimmen versucht hat, dieses Komitee zu verhindern.
({2})
Völlig unverantwortlich ist es, dass Deutschland sich
aufgrund einer Weisung des Finanzministers weigert, an
diesem Komitee mitzuarbeiten.
({3})
Der Boykotteur Schäuble, nicht von Weisheit getragen,
will den Prozess torpedieren. Warum? Das ist klar: Ein
international legitimiertes und nach festen Regeln durchgeführtes Umschuldungsverfahren reduziert den westlichen Einfluss und damit auch die Möglichkeit, geopolitische und ökonomische Ziele zu verfolgen.
Herr Murmann, Sie haben den IWF angesprochen.
Was macht denn der IWF? Sie sind schlicht nicht informiert. Der IWF weigert sich, diesen Prozess zu führen,
und zwar, weil er weiß, dass er in der Vergangenheit
ganz viele Fehler gemacht hat.
({4})
„Too late, too little“ war das Motto seiner Entschuldungspolitik. Um diese zu legitimieren, wurde die mögliche wirtschaftliche Erholung betroffener Länder viel zu
optimistisch eingeschätzt und die Rückzahlungskapazitäten der Länder hoffnungslos und ungeachtet aller
Realitäten überschätzt. Das führte immer - ich betone:
immer - zu einer Verschlechterung der Lage.
({5})
Sie tun ja gerade so, als hätten solche Entschuldungsprogramme tatsächlich Erfolg gehabt. Es gibt eines, und das
ist das Programm zur Entschuldung der Bundesrepublik
Deutschland von 1953.
({6})
Wir brauchen doch nur nach Europa zu schauen: Die
vermeintlichen Hilfsmaßnahmen führten zu einer dramatischen Verschlechterung der Verschuldungsquoten.
Ganz nebenbei, als hätte man sich das überhaupt nicht
vorstellen können, wurden die Sozialsysteme schwer geschädigt. Damit hat man auch die Entwicklungschancen
dieser Länder erheblich verschlechtert.
({7})
Global hat die Staatsverschuldung in den letzten sieben Jahren - man höre und staune - trotz dieser vielen
Maßnahmen um 75 Prozent zugenommen, mit verheerenden Folgen für viele Entwicklungsländer. Zwei Drittel der als arm eingestuften Länder müssten in den
nächsten zehn Jahren den größten Teil ihrer Staatseinnahmen für Schuldentilgung verwenden. Jeder von uns
weiß: Das geht überhaupt nicht. Die Destabilisierung der
Länder durch das Zerschlagen von Sozialsystemen, wie
rudimentär sie auch immer sein mögen, ist für die Gläubigerländer die teuerste Methode, die Kredite nicht wiederzubekommen.
({8})
So wird die Entwicklungspolitik konterkariert. So wird
Entwicklung verhindert. Wer diese Fakten ignoriert, der
will einfach keine Entwicklung haben, der hält auch
nichts vom SDG-Prozess - falls Sie wissen, was das ist -,
({9})
der uns auch verpflichtet, für faire Entwicklungschancen
zu sorgen.
Frau Präsidentin, ich möchte noch einen Kommentar
zu Niema Movassats Ausführungen über die deutsche
Entschuldung 1953 abgeben: Die Ausführungen waren
richtig, aber das war nur die halbe Wahrheit. Wir müssen
uns die Situation von 1953 vergegenwärtigen: Das war
acht Jahre nach dem Krieg, der 60 Millionen Tote und
zig völlig zerstörte Länder hervorgebracht hatte. Damals
hat man nicht nur eine 50-prozentige Reduzierung vorgenommen, sondern man hat sich auch darauf geeinigt,
dass Deutschland seine Schulden nur aus den Exportüberschüssen finanzieren muss. Man hat damals ganz
bewusst gesagt: Eine gute soziale Situation ist die
Voraussetzung dafür, dass sich das Land positiv entwickelt und einen Beitrag zur Schuldentilgung leisten
kann. Genau vor diesem Hintergrund finde ich ganz
viele Kommentare zur griechischen Politik einfach schäbig.
({10})
Der Kollege Manfred Zöllmer hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat hat das Thema Staatsverschuldung nichts von
seiner Bedeutung verloren.
({0})
- Ganz ruhig bleiben. Auf Ihre Argumente gehe ich
gleich noch ein. - In der Tat ist es wichtig, darüber zu
diskutieren, wie wir in Zukunft mit Staatsverschuldung
und übermäßiger Staatsverschuldung umgehen wollen.
Das haben wir im Deutschen Bundestag in der letzten
Legislaturperiode getan - da ging es im Wesentlichen
um die Situation in Europa -, und wir werden jetzt über
die aktuelle Situation diskutieren.
Wir haben gehört: Anlass für diese Debatte war eine
Vollversammlung der Vereinten Nationen. Sie hat sich
mit großer Mehrheit einer Resolution der G 77 und Argentiniens angeschlossen. Deutschland und eine Reihe
weiterer Staaten haben diese Resolution abgelehnt.
({1})
Die Frage ist, warum. Ich werde diese Frage beantworten. Die vorliegende Resolution bezieht sich auf die Entwicklung in Argentinien im letzten Jahr. Argentinien war
sozusagen der Zündmechanismus. Argentinien hatte ein
Problem. Es war von einem amerikanischen Gericht zur
Zahlung von 1,3 Milliarden Dollar an einen Hedgefonds
verurteilt worden. Dieser Hedgefonds hatte argentinische Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt zu günstigen Konditionen aufgekauft
({2})
und vor einem amerikanischen Gericht dann erstritten,
zum vollen Wert entschädigt zu werden. Nur - das muss
man fairerweise sagen -: Argentinien hat diese Bonds zu
amerikanischem Recht ausgegeben.
Nun wollte Argentinien, lanciert über den G-77-Vorsitz, mithilfe einer Resolution der Generalversammlung
der VN die Erarbeitung einer Konvention zur Staateninsolvenz erzwingen. Das heißt, es ging um ein spezifisches argentinisches Problem.
({3})
Jetzt muss man eines ganz klar wissen, Herr Kekeritz:
Bereits im Vorfeld der Diskussion bei den Vereinten
Nationen hat es massive inhaltliche und prozedurale Bedenken gegeben. Man muss einfach einmal zur Kenntnis
nehmen, dass zwischen markigen verbalen Sprüchen, die
wir hier heute zur Genüge gehört haben,
({4})
und der Realität häufig Welten liegen. Das sehen Sie am
Beispiel der griechischen Regierung. Man muss sich ja
nur einmal ansehen, was da in wenigen Tagen an Unsinn
verbreitet worden und an Positionswechseln erfolgt ist.
({5})
- Ausatmen, dann machen wir weiter.
Ich will auf die Probleme hinweisen. Es gibt ja die bestehenden Verhandlungsstränge zum IWF und zum Pariser Club und deren Arbeit bezogen auf die Entschuldung
von Staaten. Es gibt massive rechtliche Probleme. Zum
Beispiel stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit parlamentarischen Budgetrechten um? Deutschland hat sich
sehr intensiv für eine sinnvolle Regelung zur Staatsinsolvenz eingesetzt, aber Argentinien war nicht bereit, einen
ergebnisoffenen Prozess mitzutragen. Argentinien war
nicht bereit, den üblichen konsensorientierten Weg zu
gehen. Ausgehandelte Kompromisspapiere zur Festlegung der Verhandlungsmodalitäten wurden von Argentinien zurückgezogen,
({6})
und der ursprüngliche Entwurf wurde dann wieder zur
Abstimmung gestellt.
Lieber Herr Kekeritz, das, was Deutschland dann gemacht hat, ist nicht erbärmlich. Vielmehr haben wir uns
gegen dieses Verfahren gewehrt, und zwar völlig zu
Recht.
({7})
Im Ergebnis gab es eine gemeinsame europäische Haltung gegenüber der mangelnden Kompromissbereitschaft von Argentinien.
({8})
Ich beschäftige mich im Deutschen Bundestag seit
langer Zeit sehr intensiv mit Lateinamerika und weiß,
dass argentinische Politik für einen europäischen Politiker nicht immer nachvollziehbar ist.
({9})
Aktuelle Ereignisse in Argentinien zeigen das sehr deutlich. Wir haben das sehr bedauert, weil es um ein wichtiges Thema geht. Das Verhalten von Argentinien hat
leider nicht dazu beigetragen, dieses Thema zu versachlichen und einer Lösung näherzubringen.
Deutschland konnte der Resolution aus inhaltlichen
und prozeduralen Bedenken nicht zustimmen. Das, was
in dieser Resolution steht, ist in dieser Form rechtlich,
politisch und praktisch nicht realisierbar. Wir halten es
für nicht akzeptabel, dass die vorhandenen Gremien, die
sich mit diesen Themen beschäftigen - das sind der Pariser Club und der IWF -,
({10})
nun aus diesem Verfahren ausgegrenzt werden sollen.
Der Pariser Club trat erstmals 1956 zusammen, als es
um die Bewältigung der Auslandsverschuldung von
- Sie erraten es - Argentinien ging. Der Pariser Club
vermittelt zwischen Geberländern und Schuldnerländern. Dieses Vorgehen war in vielen Ländern sehr erfolgreich, zum Beispiel bei der Umsetzung der Kölner
Schuldeninitiative - im Übrigen damals von Rot-Grün
initiiert - zugunsten der sogenannten Heavily Indebted
Poor Countries, also der hochverschuldeten armen Länder. Insgesamt wurden dort Schulden in Höhe von
43 Milliarden Dollar erlassen. Es ist natürlich das Geld
des Steuerzahlers gewesen, das hier eingesetzt wurde,
Geld des Steuerzahlers, mit dem wir in der Tat sehr sorgfältig umgehen müssen.
Kollege Zöllmer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Movassat?
Ja, kein Problem.
Danke, Herr Kollege. - Ich will nur eine Frage stellen. Sie haben gerade den Pariser Club erwähnt und gesagt, diese Debatte gehöre in den Pariser Club und nicht
in die UN. Auf welcher völkerrechtlichen Grundlage
steht denn der Pariser Club?
({0})
Ja, jetzt machen wir ein Quiz. - Der Pariser Club ist
ein informelles Gremium; das wissen Sie.
({0})
Aber ich frage Sie: Wenn man informell sehr erfolgreich
arbeitet, wo, bitte schön, ist denn das Problem?
({1})
Man hat dort sehr erfolgreich gearbeitet; darauf möchte
ich hinweisen.
({2})
Kollege Zöllmer, ich habe die Uhr noch immer angehalten. Allerdings wäre die Frage oder Bemerkung des
Kollegen Kekeritz dann auch die letzte, die ich zulasse,
falls Sie sie zulassen.
Wir befinden uns ja in einem Dialogprozess. Das sollten wir also machen.
({0})
Mein Problem ist ein ganz anderes: Es gibt hier einen
UN-Prozess. Soll das heißen, dass diese Bundesregierung einen UN-Prozess, wenn er ihr nicht passt, in
Zukunft boykottiert? Wie stellen Sie sich eigentlich die
Zukunft einer gemeinsamen globalen Struktur vor, wenn
Sie im Prinzip sagen: „Ich nehme mir die Sonderrechte
heraus; alles, was mir nicht passt, boykottiere ich einfach“?
({0})
Ich muss Ihnen sagen: Ein solches Rechtsverständnis
bzw. ein solcher Unsinn wäre Ihnen in Ihrer Zeit als Oppositionsmitglied nicht in den Sinn gekommen.
({1})
Wissen Sie: Ich kann etwas nur dann boykottieren,
wenn es an einem bestimmten Ort stattfindet,
({0})
von einem Prozedere begleitet wird, das ergebnisorientiert ist,
({1})
und in einem Konsensprinzip alle Seiten und all diejenigen, die damit zu tun haben, berücksichtigt. Das ist hier
nicht der Fall. Ich habe Ihnen eben gesagt, wie agiert
worden ist.
({2})
- Jetzt sind Sie nicht dran.
({3})
- Ja, es ist nicht nur Deutschland. Herr Kekeritz, Sie haben mich gefragt, und ich versuche, Ihnen zu antworten;
Entschuldigung.
({4})
Stellen Sie sich einmal die Frage, warum nicht nur
Deutschland nicht an den Verhandlungen, die jetzt stattfinden, teilnimmt, sondern warum es auch die gesamte
EU nicht tut.
({5})
Weil alle Länder gesagt haben: Wir lassen uns nicht am
Nasenring durch die Manege ziehen; es ist nicht möglich, dieses komplexe Problem in wenigen Verhandlungsrunden zu lösen. - Da ich sehr viel mit Finanzmarktregulierung zu tun habe, kann ich Ihnen bestätigen:
Dieser Prozess funktioniert in dieser Form nicht. Er
muss über die Institutionen, die sich bisher mit diesen
Problemen beschäftigt haben, geführt werden; das ist unsere Linie.
({6})
- Weil sie die Ahnung und die Kompetenz haben.
({7})
- Ja, so ist es; in der Tat.
({8})
Eine Laienspieltruppe, die sich zufällig zusammensetzt,
kann da keine vernünftigen Ergebnisse hinbekommen.
({9})
Ich will darauf hinweisen: Auch der IWF hat sich intensiv mit diesem Problem beschäftigt, und er hat Vorschläge gemacht, wie man mit diesem Thema umgehen
sollte. Er hat gesagt: Wir wollen in Anleihen sogenannte
Collective Action Clauses festschreiben, die im Falle
einer drohenden Zahlungsunfähigkeit eine Schuldenrestrukturierung erlauben würden. - Es geht dabei um einen geregelten Prozess der Schuldenrestrukturierung,
bei dem es klare Anleihebedingungen gibt, die im Krisenfall von den Gläubigern akzeptiert werden müssen.
Das ist ein Verfahren, das wir auch in Europa anwenden;
({10})
wir haben da also auch eigene Vorstellungen.
({11})
Dieses Verfahren müsste auch von Hedgefonds akzeptiert werden. Das heißt, es gibt Institutionen, die sich mit
diesem Thema beschäftigen und konkrete Vorschläge
gemacht haben. Diese Vorschläge müssen weiterentwickelt werden. Das ist die deutsche Position. In dieser
Richtung sollten wir weiterdiskutieren.
({12})
Die grundsätzliche Frage bleibt, wie das Verhältnis
von Gläubigern und Schuldnern im Falle von Zahlungsschwierigkeiten ausgestaltet werden soll. Unserer Meinung nach brauchen wir einen fairen und transparenten
Prozess, der auch die Gläubiger mit einbezieht. Daran
müssen wir weiterarbeiten, und daran wollen wir weiterarbeiten. Im Rahmen der Vereinten Nationen ist genau
dieser Weg nicht beschritten worden. Deshalb haben wir
das damals abgelehnt.
Vielen Dank.
({13})
Der Kollege Professor Dr. Heribert Hirte aus der
CDU/CSU-Fraktion ist der letzte Redner in dieser Debatte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Guten Abend! Ich war erst einmal baff, als ich den Antrag gelesen habe. Insolvenzen sind purer Kapitalismus,
und Staatsinsolvenzen zu regeln und abzuwickeln, ist sozusagen Kapitalismus im Quadrat. Da dachte ich: Jetzt
werden die Linken eine marktwirtschaftliche Partei. Das
kann doch eigentlich nicht sein.
({0})
Dann fängt man an, ein bisschen genauer nachzudenken,
und stellt fest - ({1})
- Sie können sich gleich auch noch mit hundert Zwischenfragen melden, dann sind wir morgen früh noch
dabei;
({2})
Sie haben ja schon genug geredet. - Dann schaut man es
sich genauer an und fragt sich, worum es eigentlich geht.
Bei Staatsinsolvenzen, die es natürlich gibt, geht es - das
wurde schon völlig zu Recht gesagt - vor allen Dingen
um die Frage, wie wir sie regeln und welche Anpassungen wir da vornehmen.
({3})
- Ja, genau, Herr Kollege. Und da sagen Sie mir, wir sollen zu den Vereinten Nationen gehen. „Nein!“, sage ich,
„dahin wollen wir nicht gehen.“
({4})
Wir wollen deshalb nicht dahin gehen, weil die Vereinten Nationen ausschließlich politische Überlegungen anstellen, wenn es um Entscheidungen über Staatsinsolvenzen geht
({5})
Das ist so ähnlich, als würden wir die Kompetenzen in
Sachen Geldpolitik statt auf die Europäische Zentralbank gleich auf die Europäische Kommission übertragen. Das wollen wir nicht.
({6})
Deshalb ist es richtig, wenn wir die Zuständigkeit für
diese Fragen bei IWF, Weltbank und Pariser Club belassen.
({7})
Denn entgegen dem, was Sie gesagt haben, geht es bei
Insolvenzverfahren nicht - Sie haben „ausschließlich“
gesagt - um den Schutz von insolventen Staaten vor
Schuldnern. Nein, es geht um die Durchsetzung von Forderungen gegen diese Staaten. Das ist das, was wir sicherstellen wollen, und daran halten wir auch nachdrücklich fest.
({8})
Jetzt, liebe Kollegen, eine Zwischenbemerkung: Sie
haben dann gesagt, dass diese Verfahren in die Hände
von Schiedsgerichten gelegt werden sollen und dort die
Zahlungsunfähigkeit geprüft werden soll. Da war ich
doch etwas überrascht
({9})
- das steht in einem der Anträge drin -; denn wir haben
vor kaum mehr als zwei Wochen hier darüber gesprochen, dass solche supranationalen Schiedsgerichte abgeschafft werden sollen. Hier steht das Gegenteil drin.
({10})
Das zeigt nur: Das eine oder das andere ist nicht in Ordnung.
({11})
Aber lassen Sie uns zur Sache zurückkommen: Bei einem Insolvenzverfahren über Staaten geht es natürlich
nicht darum, dass ein Insolvenzverwalter irgendwie die
Akropolis verwertet und dann anschließend irgendwohin
verlagert. Darum geht es nicht. Deshalb ist schon die Begriffsbildung falsch. Ein Kollege, Christoph Paulus, hat
es einmal sehr schön gesagt: Es geht um „Resolvenzverfahren“, darum, dass Staaten wieder Schuldentragfähigkeit entwickeln können, sollen und müssen. Das ist ein
durchaus richtiger Ansatz.
Aber was ist der entscheidende Punkt bei diesem Verfahren? Es geht darum, zu sehen, dass die Gläubiger in
einer solchen Situation gleichbehandelt werden. Und dafür - der Kollege Zöllmer hat es schon gesagt - haben
wir Instrumente, nämlich die sogenannten Collective
Action Clauses. Diese Collective Action Clauses haben
wir gerade auf europäischer Ebene auf der Grundlage
des ESM-Vertrages in der letzten Legislaturperiode auch
bei uns in Deutschland mittelbar eingeführt und umgesetzt. Da muss man nur die Frage stellen - diese Frage
ist in der Tat legitim -, ob von diesen Klauseln, von diesen Bestimmungen auch alle Gläubiger erfasst sind.
Wenn es da Löcher gibt, muss darüber - ({12})
- Das ist eines der Probleme, in der Tat: Altschulden
sind nicht erfasst. Das andere Problem, was es geben
kann, ist, dass möglicherweise Rechtswahlklauseln - das
haben Sie genannt - nicht betroffen sind. Darüber kann
man nachdenken, und darüber muss man nachdenken.
Aber das sind Sachfragen, die wir zu diskutieren haben.
Diese haben allerdings mit der Frage der Verortung bei
den Vereinten Nationen - das ist ja das, was Sie in erster
Linie wollen; deshalb werden wir Ihren Antrag auch ablehnen - nichts zu tun.
Dann kommt noch etwas: Sie suggerieren so ein bisschen, mit einer Insolvenz seien die Schulden weg; sie
würden sich sozusagen in Luft auflösen. Nein! Die Gläubiger haben die entsprechenden Verluste zu tragen. Die
Gläubiger hier in Deutschland müssen die Forderungen
abschreiben, auch der Staat muss sie abschreiben. Das
bedeutet, der deutsche Steuerzahler trägt das, und wir im
Deutschen Bundestag müssen entsprechend daran mitwirken. Das sagen Sie nicht. Das gehört aber dazu.
({13})
Ich komme zum letzten Punkt: Griechenland - es
wurde ja schon oft erwähnt - ist letztlich pleite. Es ist
vornehm damit ausgedrückt worden, dass es umgeschuldet worden ist. Aber eines ist klar: Es werden im Augenblick kaum Schulden zurückgezahlt, es werden nicht
einmal Zinsen gezahlt. Wenn Sie jetzt in diesem Zusammenhang gegenüber Ihren Parteifreunden von Umschuldung und Insolvenzverfahren reden, geht es doch nur darum, zu ermöglichen, dass neue Schulden gemacht
werden. Dazu sage ich: Das lehnen wir ab.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3743 und 18/3916 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführungen sind jedoch strittig. Die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung jeweils
beim Finanzausschuss. Die Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung jeweils beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung jeweils beim Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer
stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Überweisungsvorschläge sind durch die Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Federführung jeweils beim Finanzausschuss. Wer stimmt
für diese Überweisungsvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Überweisungsvorschläge
sind angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Februar 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.