Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Es gibt keine weiteren Veränderungen der gestern modifizierten Tagesordnung, sodass wir gleich mit dem Tagesordnungspunkt 16 sowie
dem Zusatzpunkt 7 beginnen können:
16 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der
Bundeswehr ({0})
Drucksache 18/3697
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, Doris
Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Gerechtigkeit bei der Entschädigung
von Einsatzunfällen
Drucksachen 18/2874, 18/3126
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin der Verteidigung, Ursula
von der Leyen.
({3})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Wer heute einen Computer kaufen will, der recherchiert erst einmal im Internet und schaut im Vergleich zu anderen Computern, was er kostet, was er leisten kann, und vor allem, wie andere die Leistung des
Computers bewerten. Das heißt, niemand kauft mehr die
sprichwörtliche Katze im Sack. Genauso ist das heute
auch auf dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich irgendwo
bewerben will, geht niemand mehr zum „Arbeitgeber im
Sack“. Vielmehr schauen die jungen Leute ganz genau,
wohin sie gehen und wie vor allem andere das bewerten.
Umfragen zufolge schaut jeder Dritte im Internet, wie
Arbeitgeber bewertet werden, was sie bieten, was sie
können, ob es sich lohnt, sich dort zu bewerben, und wie
andere über den jeweiligen Arbeitgeber sprechen. Wir
haben uns deshalb einmal angeschaut, wie die Bundeswehr bei einem Jobzufriedenheitsbarometer abschneidet.
Da stehen dann zum Beispiel als Pros: „Gutes Gehalt
- Gute Ausbildung - Gutes Essen“, und als Kontras: „Zu
kleine Betten - Standortwechsel sehr schwer“. Dieses
kleine Beispiel macht sehr deutlich, wie vollständig sich
der Arbeitsmarkt inzwischen gedreht hat. Die jungen
Menschen stehen nicht mehr Schlange nach offenen
Ausbildungsstellen. Vielmehr sitzen wir, die Bundeswehr, buchstäblich mitten im Schaufenster neben vielen
anderen Arbeitgebern und werden ganz kritisch beäugt.
Der Arbeitsmarkt hat sich inzwischen so gedreht, dass
es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland
noch nie so viele offene Stellen in deutschen Betrieben
gegeben hat. Offene Stellen heißt: Man kann sie nicht
mehr besetzen, weil man keine qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber findet. - Wenn man sich die Berufe, die offene Stellen bieten, anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich genau um die Berufsfelder handelt, in
denen auch wir händeringend suchen: Logistik, Technik,
Ingenieur- und Gesundheitswesen.
Schauen wir uns auch einmal an, was die Betriebe den
Bewerbern auf dem Arbeitsmarkt alles anbieten. Die Betriebe bieten den Azubis Begrüßungsgeld, Auslandsaufenthalte und teilweise schon einen Dienstwagen, um zur
Arbeit zu kommen. Arbeitgeber konkurrieren um die
klügsten, um die geschicktesten Schulabgänger, und wir
sind mittendrin und müssen uns dem auch stellen. Wir
haben keine Wehrpflicht mehr. Die Jahrgänge werden
kleiner. Das heißt, wir müssen uns bei einer schrumpfenden Rekrutierungsbasis gegen eine wachsende Konkurrenz behaupten, und das bei einer veränderten,
schwierigeren sicherheitspolitischen Lage, die wachsende
Herausforderungen an uns stellt.
Meine Damen und Herren, wenn wir eine starke, eine
einsatzfähige, eine flexible Bundeswehr haben wollen,
dann kommen wir gar nicht mehr darum herum, uns um
die Attraktivität der Bundeswehr zu kümmern.
({0})
Vor diesem Lagebild müssen wir uns zentrale Fragen
stellen.
Die erste ist: Sind wir präsent genug bei den jungen
Leuten, die sich potenziell für einen Arbeitgeber entscheiden? Genau hier ist der Anfang der Agenda Attraktivität. Wir sind im letzten Jahr neue Wege gegangen,
wir sind ungewöhnliche Wege gegangen. Wir haben uns
deutlich geöffnet, wir sind in Medien hereingegangen,
die typischerweise nicht über die Vielfalt und die Ausprägung der Bundeswehr berichten. Das geht nicht ohne
Schrammen ab. Da gibt es auch schon einmal Hohn und
Spott. Aber die Bundeswehr ist sichtbarer geworden.
Wenn man sich die Liste der Top-100-Arbeitgeber im
IT-Sektor anschaut, dann stellt man fest, dass die Bundeswehr zum allerersten Mal in dieser Liste vertreten ist,
und zwar im guten Mittelfeld. Nur damit man weiß, wer
ganz oben ist: Das sind Google, SAP und BMW. Mit denen konkurrieren wir.
Bei Schülerinnen und Schülern ist die Bundeswehr im
letzten Jahr auf Platz 2 der interessantesten und beliebtesten Arbeitgeber aufgestiegen, bei denen man sich
potenziell bewirbt. Warum sind die Schülerinnen und
Schüler so wichtig? Wir wissen, dass die Jahrgänge
schrumpfen. Bald werden wir 600 000 junge Menschen
in den Jahrgängen der Abschlussklassen haben. Wir
brauchen 60 000 Bewerbungen, um genügend junge
Leute zu rekrutieren, und zwar nicht nur in der Masse,
sondern auch in der Qualität. Das heißt, es ist nötig, dass
sich 10 Prozent eines Jahrgangs potenziell bei uns bewerben. Kein anderes Unternehmen in Deutschland hat
so hohe Ansprüche.
Konkret zeigt sich, dass wir sichtbarer geworden sind:
Die Bewerberzahlen sind so hoch wie seit Jahren nicht.
Das ist gut. Wir haben rund 11 000 freiwillig Wehrdienstleistende. Das ist mit der höchste Stand seit dem
Aussetzen der Wehrpflicht - und das bei einer Erwerbsquote, die noch nie so hoch war wie jetzt. Was mich persönlich besonders freut: Noch nie haben sich so viele
junge Frauen bei der Bundeswehr beworben. Das zeigt,
meine Damen und Herren: Wir wagen diese Öffnung,
wir sind andere Wege gegangen, wir haben die Informationskampagne breit angelegt; und die ist richtig, sie
zahlt sich aus.
({1})
Die zweite Frage: Holen wir die jungen Menschen,
wenn sie dann zu uns kommen, in ein modernes Arbeitsumfeld? Meine Antwort ist: Das ist das Ziel, aber es ist
auch ein langer Weg dorthin. Genau dafür haben wir die
Agenda Attraktivität auf den Weg gebracht. Da geht es
um selbstbestimmtes Arbeiten, flexible Dienstzeiten, es
geht natürlich um den Verdienst, um soziale Absicherung, Karriereaussichten, familienfreundliches Klima
usw. usf. In allen diesen Feldern müssen wir besser werden.
Ich will damit sagen: Mit der Agenda und dem Artikelgesetz sind wir gewiss kein Trendsetter in Deutschland, sondern wir gehen jetzt ganz viele Dinge an, die eigentlich woanders schon Selbstverständlichkeiten sind.
Mit dem Artikelgesetz garantieren wir zum Beispiel unseren Soldatinnen und Soldaten hier in Deutschland zum
ersten Mal seit Bestehen der Bundeswehr eine geregelte
Dienstzeit im regulären Betrieb. Ich halte das für eine
Selbstverständlichkeit.
Ich bekomme ganz oft zu hören: Ja, aber das ist kein
Beruf wie jeder andere. - Natürlich ist Soldat oder Soldatin zu sein kein Beruf wie jeder andere; denn diese
Menschen sind bereit, im Ernstfall im Auslandseinsatz
ihr Leben für Freiheit und Demokratie einzusetzen, weil
die Parlamentsarmee diesen Auftrag bekommen hat. Ist
das denn ein Grund, weil sie mehr einzusetzen bereit
sind als jeder andere und das eben kein Beruf wie jeder
andere ist, sie hier zu Hause schlechter zu behandeln als
andere? Nein, im Gegenteil, wir müssen sie besser behandeln, und deshalb ist es jetzt auch allerhöchste Zeit,
aufzuholen.
({2})
Mit dem Artikelgesetz erhöhen wir zum ersten Mal
seit der Wiedervereinigung Zulagen für soldatenspezifische Tätigkeiten. Diese Zulagen sind berechtigt. Ich
spreche von U-Boot-Fahrern, ich spreche von Minentauchern, ich spreche von Kampfmittelräumern. Das sind
Menschen, die mit großer Expertise, mit großem Fingerspitzengefühl einen hochriskanten Job ausüben. Das
muss bezahlt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Wir verbessern die soziale Absicherung der Soldatinnen und Soldaten durch eine verbesserte Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wir überholen da nicht alle anderen; wir holen da gerade einmal
auf.
Auch unterhalb der Gesetzesschwelle modernisieren
wir; Stichworte sind: Onlinebewerbungsmöglichkeiten
- ich habe eben vom Verhalten junger Menschen erzählt -, Ausbau der Kinderbetreuung, freie Kommunikation im Einsatz, betriebliches Gesundheitsmanagement.
Meine Damen und Herren, wir tun das nicht, weil wir
Altruisten sind, weil wir Gutmenschen sind, sondern wir
tun das, weil wir unseren Soldatinnen und Soldaten
enorm viel abverlangen. Wir wollen die besten; wir
brauchen die besten. Also müssen wir auch die besten
Arbeitsbedingungen bieten.
({4})
Zu den Unterkünften. Ich gebe unserem Wehrbeauftragten recht: Wir haben gute Unterkünfte - gar keine
Frage -; es gibt aber auch Unterkünfte, die einfach marode sind. Da geht es zunächst einmal um Geld. In den
nächsten drei Jahren investieren wir auf der Grundlage
eines Sofortprogramms 750 Millionen Euro in die Sanierung von Unterkünften. Die ersten Arbeiten konnten in
den letzten Monaten bereits erledigt werden. Als wir die
Analyse der Unterkünfte gemacht haben, haben wir
3 100 Sofortmaßnahmen identifiziert, also Maßnahmen
dort, wo es allerhöchste Zeit ist. Davon sind 800 inzwischen abgeschlossen.
Neben Geld geht es in diesem Zusammenhang auch
um Geschwindigkeit. Alle hier im Raum wissen, wie zäh
und mühsam es bisweilen ist, Geld, das wir haben, auf
die Straße bzw. in die Gebäude zu bringen, sodass ein
Bau oder eine Sanierung tatsächlich beginnen und auch
abgeschlossen werden kann. Das heißt, es geht um die
Verfahren. Wir haben die Verfahren durchforstet. Man
kann nicht alles beschleunigen - das weiß ich auch -;
aber man kann manches beschleunigen.
Wir werden uns jetzt mit den anderen Beteiligten zusammensetzen, nicht nur mit denen auf Bundes-, sondern vor allem mit denen auf Landesebene. Ich kann
nämlich nicht verstehen, dass die Dinge so langsam vorangehen. Es haben alle etwas davon, wenn es schneller
geht: Es haben nicht nur die Soldatinnen und Soldaten in
ihren Unterkünften etwas davon, wenn dieses Geld jetzt
tatsächlich eingesetzt wird, das heißt, wenn saniert wird,
sondern auch die lokalen Baufirmen und Handwerksunternehmen. Es sollte also im gemeinsamen Interesse von
uns und den Ländern liegen, dass die Verfahren schneller
umgesetzt werden.
({5})
Ich möchte unserem Wehrbeauftragten an dieser
Stelle noch einmal ausdrücklich für seine konstruktiven
Hinweise in diesem „Jahr der Wahrheit“, wie er es in seinem Jahresbericht 2014 nannte, danken. Mein Dank gilt
auch dem Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant Wüstner. Denn sein ständiger
kritischer Blick und der seines Verbandes helfen uns,
Schwachstellen offenzulegen. Das ist ein Ansporn, tiefer
zu bohren, Lösungen zu finden und aus der Truppe ganz
viel darüber zu erfahren, wie die Dinge tatsächlich stehen.
Da wir bei den Bruchstellen sind: Natürlich sind nicht
nur die Arbeitsbedingungen wichtig, sondern auch die
Ausstattung ist wichtig. Wir haben im Herbst die
Agenda Rüstung auf den Weg gebracht. Das ist ein
Thema für eine andere Debatte. Ich will dazu nur so viel
sagen: Wir haben erhebliche Probleme, wir haben viele
Schwierigkeiten offengelegt, auch und gerade bei uns.
Dass wir die Ursachen kennen, heißt aber noch lange
nicht, dass alle Fehler der Vergangenheit damit abgestellt sind. Vor uns liegt noch eine lange Buckelpiste.
Aber wir wissen, was zu machen ist, wo wir besser werden müssen, und vor allen Dingen, dass wir mit der Industrie mehr Tacheles reden müssen, was Lieferungen
angeht.
({6})
Meine Damen und Herren, ohne moderne Ausrüstung
ist die Bundeswehr weder attraktiv noch einsatzfähig.
Das heißt, es geht bei Attraktivität und Ausrüstung nicht
um ein Entweder-oder, sondern es geht um ein Sowohlals-auch, und das wollen wir auf den Weg bringen.
({7})
Wenn wir das Artikelgesetz in Kraft gesetzt haben, ist
die erste wichtige Etappe geschafft. Wir feiern in diesem
Jahr 60 Jahre Bundeswehr. Wenn man einmal zurückschaut, dann sieht man, dass es viele Abschnitte mit spezifischen Schwierigkeiten, Herausforderungen und Besonderheiten gab: die Zeit des Aufbaus, den Kalten
Krieg, die Wiedervereinigung, internationale Einsätze
- ich erinnere zum Beispiel an unsere Erfahrungen in
Afghanistan -, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Neuausrichtung. In jeder Phase haben wir gelernt; in jeder
Phase sind wir weitergekommen.
Wichtig ist, dass wir, wenn wir jetzt die nächsten
Schritte gehen, uns nicht nur über die ersten zarten
Pflänzchen des Erfolges, wenn ich das einmal so nennen
darf, freuen und die Hände in den Schoß legen, wenn das
Artikelgesetz in Kraft ist. Denn Attraktivität ist keine
Einmalaktion, sondern bedeutet tägliche Arbeit. Wir alle
wissen, dass sich die Attraktivität eines Arbeitsplatzes
auch, aber nicht nur durch Paragrafen und Finanzen steigern lässt; sie muss auch gelebt werden.
Damit will ich sagen: Vor uns liegt kein Sprint, sondern vor uns liegt ein ziemlicher Marathon. Dieser Lauf
erfordert Hinsehen, Prüfen, Handeln, Tempo vor allem;
und dafür, meine Damen und Herren, ist insbesondere
auch die Unterstützung des Parlaments wichtig. Ich
konnte mir dieser immer gewiss sein. Ich weiß, dass die
Bundeswehr sich dieser auch in den vergangenen 60 Jahren gewiss sein konnte. Ich bitte um Ihre Unterstützung
auch in diesem Falle.
Vielen Dank.
({8})
Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will mit dem vorliegenden Gesetz die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber steigern;
({0})
denn der Dienst ist mehr als unattraktiv, und die Neubewerberquoten bei der Bundeswehr fallen seit Jahren. Der
Grund dafür liegt aber nicht in erster Linie am Zustand
der Kasernen oder an zu kleinen Betten oder an der
wachsenden Konkurrenz am Arbeitsmarkt; das Kernproblem liegt in der ganzen Ausrichtung der Truppe.
({1})
Die Bundesregierung weitet die Auslandseinsätze immer weiter aus. Gerade gestern haben wir Soldaten an einen neuen Kriegsschauplatz geschickt, nämlich in den
Irak. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt solche Einsätze ab. Und ich sage Ihnen: völlig zu Recht.
({2})
Bevor Sie überlegen, wie die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber sein könnte, sollten Sie sich fragen: Wofür haben über 50 deutsche Soldaten im Kampfeinsatz in
Afghanistan ihr Leben verloren? Wie viele Afghanen
wurden durch den Einsatz der Bundeswehr getötet?
Denn das sind die Fragen, die junge Frauen und Männer
und ihre Familien umtreiben, wenn sie über ihre Perspektiven und auch über die Rekrutierungsversuche der
Bundeswehr reden. Deshalb gehen so wenig junge Leute
zur Bundeswehr. Und ich sage Ihnen: Das ist auch gut
so.
({3})
Für die Linke geht es nicht darum, die Bundeswehr in
ihrer jetzigen Ausrichtung attraktiver zu machen; uns
geht es auch in dieser Diskussion darum, die Belastung
für die Soldatenfamilien zu senken. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Die Umgestaltung der Bundeswehr zu
einer Armee im globalen Dauereinsatz wird auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten und ihrer Familien
ausgetragen. Mit diesem Gesetz, Frau von der Leyen,
wollen Sie jetzt einen Widerspruch überbrücken, der
nicht zu überbrücken ist.
({4})
Auch wenn wir die Absicht hinter dem Gesetz ablehnen, heißt das nicht, dass wir uns gegen jede einzelne
Maßnahme stellen. Schauen wir uns die Beispiele genauer an:
Die Arbeitszeit. Bisher war die Arbeitszeit für Soldaten gesetzlich nicht geregelt und der Willkür der Vorgesetzten unterworfen.
({5})
Nun soll sie geregelt werden, und das ist eine seit Jahrzehnten überfällige Beendigung eines arbeitsrechtlichen
Niemandslandes. Allerdings: Mit dem neuen Gesetz
wird eine Lücke gelassen, die den Vorgesetzten weiterhin zu viele Spielräume lässt. Beispielsweise gibt es
Ausnahmeregelungen, soweit es die Besonderheiten des
Dienstes erfordern. Wir denken, dass das zu viele Spielräume sind, die dann wieder dazu führen, dass die Arbeitszeit willkürlich ausgedehnt wird. Im Übrigen gilt
die 41-Stunden-Woche nach der Gesetzesvorlage nicht
für Soldaten im Auslandseinsatz, auf See oder in Manövern, sondern nur im Grundbetrieb in Deutschland. In
Sanitätseinrichtungen der Bundeswehr soll weiterhin sogar bis zu 54 Stunden in der Woche gearbeitet werden.
Das sind keine attraktiven Arbeitszeiten.
({6})
Sie wollen den Eindruck erwecken, die Bundeswehr
würde auch auf die Familien und den Einzelnen Rücksicht nehmen. Das gilt allerdings nur so lange, wie die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst nicht im Widerspruch zur Verwendung im Ausland steht.
Auch die Teilzeitmöglichkeiten, die für die Berufssoldaten jetzt diskutiert werden, bestehen nur, wenn ein
Kind oder ein pflegebedürftiger Angehöriger tatsächlich
zu Hause betreut wird - dies auch nur nach einer Dienstzeit von vier Jahren und auch nur, soweit dienstliche
Gründe nicht entgegenstehen. Und: Sie gelten mithin
nicht für Soldaten im Auslandseinsatz. Tatsächlich lehnt
es das Ministerium bis heute ab, alleinerziehende Väter
und Mütter von Kindern unter drei Jahren von diesen
Einsätzen auszunehmen. Das zeigt doch, wie weit es mit
der Familienfreundlichkeit her ist.
Frau von der Leyen, Sie wollen jetzt mit Lockprämien
und Zulagen Anreize schaffen, dass junge Menschen in
die Bundeswehr kommen. Sie haben eben noch einmal
sehr plastisch gesagt, was für ein Druck da auf Ihnen lastet. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Auch bei dieser Absicht, zum Beispiel die Stellen- oder Erschwerniszulagen
zu erhöhen, sehen wir ganz genau, wo der Hase eigentlich längs läuft. Seit 1990 wurden die Zulagen etwa für
Feldwebel nicht mehr erhöht. Sie sollen nun um 80 Euro
angehoben werden, doch die Kommandosoldaten im
Einsatz sollen eine Sonderzulage von 900 Euro bekommen.
({7})
Ich sage Ihnen: Die Linke ist dagegen, dass Einheiten
wie das Kommando Spezialkräfte, die in Afghanistan einen geheimen Krieg an der Seite der US-Armee führen,
belohnt werden. Sie müssen aufgelöst werden.
({8})
Richtig ist: Soldatinnen und Soldaten leiden unter
denselben sozialen Problemen wie viele Beschäftigte in
den zivilen Bereichen. So führt die verbreitete Einstellung von Soldaten auf Zeit zu enormen Problemen. Was
machen diese Zeitsoldaten nach zwölf Jahren? Wie ist
das mit der Altersabsicherung? Das ist übrigens ein Problem, das Millionen von Familien in Deutschland haben,
die durch die Einführung grundlos befristeter Arbeitsverträge und die Absenkung des Rentenniveaus in soziale Unsicherheit gestürzt werden.
Bei den Soldaten fällt Ihnen nun auf, dass die Altersbezüge in den nächsten Jahren nicht ausreichend sein
werden. Das ist erfreulich, weil es einen gewissen Erkenntnisgewinn darstellt. Aber Sie wollen jetzt mit dem
Gesetz für Soldaten Sonderbemessungsgrenzen zur Erhöhung von Rentenansprüchen einführen, von denen im
Übrigen vor allen Dingen die hohen Besoldungsgruppen
profitieren werden. Die Linke bleibt bei ihrer Forderung,
die Beitragsbemessungsgrenzen für alle Beschäftigten in
einer solchen Art und Weise anzuheben, damit alle Beschäftigten und Soldaten eine armutssichere Rente erhalten.
({9})
Ich fasse zusammen: Es mag Sie wundern, aber wir
sind nicht dagegen, dass die Einkommenssituation und
die soziale Absicherung für die niedrigen und mittleren
Dienstgrade in der Bundeswehr verbessert werden. Aber
- Frau von der Leyen hat dies ja eben noch einmal sehr
deutlich gemacht - das Gesetz fügt sich in eine ganze
Reihe von Maßnahmen des sogenannten Attraktivitätsprogramms ein. Und dieses ganze Programm zielt darauf
ab, mehr junge Menschen in die Einsätze der Bundeswehr zu locken. Diese Absicht lehnen wir ab.
Frau von der Leyen, machen Sie den Leuten nichts
vor! Es geht nicht darum, ihnen eine persönliche Lebensperspektive zu schaffen, sondern es geht darum, die
Bundeswehr als Armee im Einsatz handlungsfähig zu
machen. Wir werden diesen Weg nicht mitgehen.
({10})
Rainer Arnold erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur
ein Satz zu den Linken - es sitzen ja auch Soldaten hier
im Saal -: Würden Sie und Ihre Fraktionsspitze den Soldaten einfach mal sorgfältiger zuhören, dann würden Sie
merken, was Sie hier für falsche Thesen aufstellen und
wie sehr Sie insgesamt mit Ihrer Sichtweise im Abseits
sind.
({0})
Nun zum Thema selbst: Die Bundeswehr war in den
letzten Monaten häufig in den Schlagzeilen. Das war
nicht immer erfreulich; wir wissen das. Es ging vorwiegend um fluguntaugliche Hubschrauber, Panzer, die die
Anforderungen nicht erfüllen, defekte Schiffe, Flieger,
die nicht geliefert werden, und um vieles andere mehr.
({1})
Natürlich sind diese Themen wichtig, auch für uns im
Verteidigungsausschuss, und natürlich ist es für junge
Menschen unter der Überschrift „Attraktivität“ wichtig,
modernes Gerät zu haben, funktionierende Computer
überall, wo sie sind, und Zugang zum Internet auch auf
dem Schiff. Manchmal hatte ich aber den Eindruck, viele
glauben, diese technologischen Herausforderungen sind
das Allerwichtigste. Nein, das Allerwichtigste bei den
Streitkräften sind die Menschen. Es ist die größte Herausforderung, in den nächsten Jahren nicht nur genügend Menschen zu finden, sondern die richtigen jungen
Leute für die Streitkräfte zu finden. Das wird aus drei
Gründen bei der Bundeswehr besonders schwer.
Der erste ist klar: Mit der Abschaffung der Wehrpflicht haben wir eine neue Herausforderung. Die Bundeswehr selbst muss stärker werden als in der Vergangenheit.
Zweitens. Die demografische Entwicklung ist eindeutig. Der Kampf um die qualifizierten jungen Leute wird
auch im öffentlichen Dienst schwieriger werden. In zehn
Jahren werden doppelt so viele Erwerbstätige aus dem
Berufsleben ausscheiden, wie junge nachkommen.
Der dritte Punkt ist die größte Herausforderung. Der
Soldatenberuf ist sehr viel anspruchsvoller geworden,
als dies vor 20 oder 30 Jahren der Fall war.
Mir hat der Verteidigungsminister eines großen Bündnispartners einmal gesagt: Herr Arnold, wissen Sie, wir
brauchen Kluge, wir brauchen aber auch Doofe. Das ist
ein nahezu wörtliches Zitat. Ich bin erschrocken. Er lag
so etwas von falsch. Wir brauchen ausschließlich kluge,
qualifizierte junge Leute, weil die Herausforderungen
auch für den Mannschaftssoldaten, für den Infanteristen
anders sind als für den Panzergrenadier vor 20 Jahren.
Der Beruf ist komplex, auch in Bezug auf die technologische Logistikkette. Junge Leute müssen im Einsatz
kämpfen können. Sie müssen polizeiähnlich arbeiten
können. Sie müssen Rechtskenntnisse haben. Sie müssen
Sprachkompetenz haben. Sie müssen interkulturelle
Kompetenz haben. Dies erwarten wir von 22-jährigen
Frauen und Männern. Ich stelle mir einmal vor, wie eine
Ausschreibung mit diesem Profil in der Wirtschaft aussehen würde. Dort stünde dann: vom Meister an aufwärts. Entsprechend müsste auch die Bezahlung sein.
Darüber hinaus müssen sie noch Auftragstaktik beherrschen und die Prinzipien der Inneren Führung vorleben
und mitgestalten.
Anders als in Firmen kann man bei der Bundeswehr
angesichts der Demografie die Produktivität nicht einfach steigern. Die Zahl der Soldaten und Zivilbeschäftigten bewegt sich eher an der unteren Grenze. Es gibt im
Augenblick viele Bereiche, bei denen es hinten und
vorne fehlt, auch an Personal. Das führt dann zur Belastung einzelner und senkt die Attraktivität.
Die vorliegende Reform ist ein ganz wichtiger Schritt.
Die Frau Ministerin hat gesagt, dass das nicht alles ist.
Am allerwichtigsten ist eigentlich Planbarkeit im Soldatenberuf. Das sagen uns viele Soldaten. Daran gilt es sicherlich auch noch zu arbeiten.
Es wurde viel über Unterkünfte gesprochen. Das gehört natürlich dazu. Ich erinnere daran, dass die Koalitionsfraktionen im Zuge der Haushaltsberatungen einen
Antrag eingebracht haben. Wir fänden es gut, wenn Sie
ihn jetzt umsetzten. Wir freuen uns auf den Bericht, wie
es jetzt konkret weitergeht.
Diese Attraktivitätsagenda ist aber in der Tat ein sehr
großer Schritt, einer der größten in der Zeit, seit ich im
Parlament bin. Es zeigt sich auch an dieser Stelle: Es ist
einfach gut, wenn Sozialdemokraten mit in Regierungsverantwortung sind.
({2})
- Ja, ja, ja. - Denn vieles von dem, was jetzt getan wird,
entspricht jahrelangen Forderungen. Wenn wir es jetzt in
der Koalition mit der CDU/CSU schaffen, diese gemeinsam umzusetzen, dann ist das sehr vernünftig.
({3})
Wir haben dies ja im Koalitionsvertrag fixiert. Es ist einfach so. Ich kann es noch vertiefen, lieber Karl, da du
jetzt ein bisschen schmunzelst. Das Motto „Gute Arbeit
unserer Partei in dieser Regierungskoalition“ endet für
Sozialdemokraten eben nicht am Kasernentor.
({4})
„Gute Arbeit“ gilt auch für Soldaten.
({5})
Es ist ein ganz besonderer Verdienst der Ministerin,
dass sie bei den Beratungen in den letzten Monaten manchen Knoten durchschlagen hat und Dinge erreicht hat,
die ihre Vorgänger noch als undenkbar abqualifiziert haben. Das ist Ihr Verdienst. Darüber sind wir froh. In diesem Bereich haben Sie auch unsere volle Unterstützung.
Dazu gehört insbesondere, dass Schluss gemacht wird
mit Überstunden ohne Achtsamkeit; 58 Stunden im
Durchschnitt beim Heer. Ein Unternehmen, das von
58 Arbeitsstunden in der Woche ausgeht, muss sich
überlegen, was schiefläuft. Deshalb ist eine gesetzliche
Arbeitszeitregelung so wichtig. Das ist für uns einer der
wichtigsten Punkte.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. Wir erhöhen jetzt
4 Stellen- und 16 Erschwerniszulagen. Ganz wichtig ist,
dass die Kompaniefeldwebel dabei sind. Sie prägen das
Image der Truppe nach innen und nach außen. Sie bekommen zukünftig um 40 Prozent höhere Zulagen.
Wir müssen aber auch aufpassen, dass uns dieses Zulagenwesen nicht entgleitet. Deshalb freuen wir uns,
Frau Ministerin, dass Sie den Vorschlag aufnehmen wollen, eine Kommission einzusetzen, die den Wildwuchs
im Zulagenwesen durchforstet und bis zum Ende der
Legislaturperiode einen Vorschlag macht, wie man Gehaltsstrukturen im öffentlichen Dienst gerade im technischen Bereich so gestalten kann, dass sie wettbewerbsfähig sind. Vielleicht ist das auch ein Zeichen für andere
Ressorts in der öffentlichen Verwaltung. Wir sind sehr
froh darüber und halten dies für notwendig und gut.
Zulagen haben dort einen Sinn, wo es gilt, wirkliche
Nachteile auszugleichen. Fallschirmspringer oder Taucher
müssen mehr für ihre privaten Versicherungen bezahlen.
Deshalb sind dort Zulagen auf lange Sicht erforderlich.
Aber Zulagen als Heftpflaster, weil das Gehaltsgefüge
nicht mehr stimmt, können auf Dauer nicht zukunftsfähig sein.
({6})
Wichtig ist auch: Die Bundeswehr muss ihr eigener
Werbeträger werden. Natürlich muss es uns ein Stück
weit Sorgen machen, wenn in einer Umfrage 90 Prozent
der Soldaten sagen, sie würden ihren Kindern nicht empfehlen, diesen Beruf zu wählen. Deshalb ist dieses Attraktivitätsprogramm aus vielfacher Hinsicht so wichtig.
Es ist vor allen Dingen auch ein neuer Schritt. Die Maßnahmen in den letzten Jahren waren in erster Linie darauf ausgelegt, neues Personal zu rekrutieren und anzuwerben; manchmal auch mit Farbprospekten, die die
Wirklichkeit nicht so sehr abgebildet haben. Wenn 30 bis
40 Prozent der Rekruten in den ersten drei Monaten wieder gehen, dann sehe ich die Verantwortung in erster Linie nicht bei den jungen Menschen, sondern bei unserer
Rekrutierungsorganisation, die dafür sorgen muss, dass
die jungen Menschen mit einem realistischen Bild in die
Streitkräfte eintreten.
Neu an diesem Attraktivitätsprogramm ist - und das
ist unglaublich wichtig, weil die Bundeswehr selbst der
Werbeträger sein muss -, dass zum ersten Mal zusätzlich
in den bereits vorhandenen Personalkörper investiert
wird. Darüber sind wir ebenso sehr froh.
Es wird oft gesagt: Der Soldatenberuf ist etwas Besonderes, und deshalb muss man Attraktivität in diesem
Bereich anders definieren. Solide Bezahlung und faire
Bedingungen sind die eine Seite - sie sind wichtig -,
aber die Soldaten brauchen auch die Wertschätzung und
die Anerkennung des Parlaments und unserer Gesellschaft insgesamt.
({7})
Den Auslandsverwendungszuschlag in Höhe von
110 Euro pro Tag bekommen die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz für das Risiko, verwundet oder gar getötet
zu werden. Wir dürfen nicht vergessen: Sie gehen in den
Einsatz für unser aller Sicherheit, für unsere Interessen.
Das ist das Besondere.
Soldaten sind nicht nur Fachkräfte für Gewaltanwendung. Vielmehr brauchen Soldaten im Einsatz ganz besondere Tugenden. Es reicht nicht aus, gut ausgebildet
und klug zu sein, sondern sie brauchen auch ein eigenständiges politisches Urteilsvermögen, um zu wissen,
warum sie im Einsatz sind und was sie leisten sollen. Sie
müssen charakterstark, als Person gefestigt sein, sonst
können sie solche schwierigen Einsätzen nicht leisten.
Nur solche Menschen werden in Krisensituationen dem
hohen Druck standhalten und physisch und psychisch in
schwierigen Einsätzen bestehen. Das Attraktivitätsprogramm ist ein großer Schritt; denn es geht nicht nur darum, genügend Soldaten zu finden, sondern auch darum,
die richtigen zu finden.
Nichts ist so gut, als dass es nicht auch verbessert
werden könnte. Wir sehen uns als Parlamentarier in der
Pflicht, im Zuge der Beratungen an der einen oder andeRainer Arnold
ren Stelle nachzuarbeiten. Ich bin dankbar, dass sich die
beiden Berichterstatter, die Kollegin Noll von der CDU/
CSU und Fritz Felgentreu von der SPD, in die komplizierten Details hineinknien und zum Beispiel die im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen in Bezug auf
Nachversicherung und die faire Behandlung von Zeitsoldaten, wenn es um die Altersversorgung geht, nacharbeiten werden.
Herzlichen Dank für das Programm insgesamt. Mein
Dank gilt den beiden Berichterstattern für ihr besonderes
Engagement und Ihnen für die Geduld bei meiner Rede.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Doris Wagner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zufall oder Planung? Auf jeden Fall
passt es gut, dass wir das Artikelgesetz in erster Lesung
just in der Sitzungswoche beraten, in der wir auch den
neuen Wehrbericht erhielten.
Sie, Frau Ministerin, möchten die Bundeswehr zum
attraktivsten Arbeitgeber Deutschlands machen. Die
Frage ist: Erreichen Sie dieses Ziel mit dem vorliegenden Gesetzentwurf? Ich glaube, dass das nur die ersten
Schritte des Marathons sind, den Sie ansprachen; denn
der vorliegende Gesetzentwurf trägt nicht ausreichend
dazu bei, die Probleme der Bundeswehr wirklich zu lösen.
Die Bundesregierung macht hier in erster Linie den
Versuch, den Soldatinnen und Soldaten ihre bitteren Arbeitsbedingungen mit finanziellen Entschädigungen zu
versüßen. Ich bin mir sicher, dass Sie damit das eigentliche Ziel, nämlich Frauen und Männer für eine Tätigkeit
in den Streitkräften zu gewinnen, nicht erreichen werden.
Frau Ministerin, es ist ein Fehler, dass sie fast ausschließlich auf die finanzielle Besserstellung der Soldatinnen und Soldaten setzen; auch Kollege Arnold hat
diese Besserstellung erwähnt. Künftig soll es mehr
Wehrsold geben - schön! -, neue Zulagen werden eingeführt - auch schön! -, und geschiedene Berufssoldatinnen und -soldaten dürfen sich darüber freuen, dass
mögliche Rentenabzüge im Rahmen des Versorgungsausgleichs künftig vom Steuerzahler übernommen werden. 14 Millionen Euro kostet diese Sonderregelung
jährlich.
Das ganze Konzept zur Attraktivitätssteigerung der
Bundeswehr ist finanziell jedoch absolut auf Kante genäht. Wäre das Geld nicht viel besser an anderer Stelle
angelegt? Denn - und das ist doch noch wichtiger - derartige Geldgeschenke sind nicht geeignet, die Zufriedenheit der Soldatinnen und Soldaten dauerhaft zu steigern
oder neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Bundeswehr zu gewinnen.
Die Soldatinnen und Soldaten, insbesondere in den
unteren Dienstgraden, verdienen schon heute überdurchschnittlich gut, und sie müssen keine Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung zahlen. Das Zentrum für
Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hat aktuell eine Studie durchgeführt: Mehr als die
Hälfte der befragten Bundeswehrangehörigen geben an,
mit ihrem Einkommen durchaus zufrieden zu sein. Was
sich die Bundeswehrfamilien wünschen, ist doch nicht,
dass der Staat die finanziellen Folgen einer Ehescheidung trägt. Was sich die Soldatinnen und Soldaten wünschen, ist, dass es gar nicht erst zu einer solchen Scheidung kommt.
({0})
Ihre Ansätze, Frau Ministerin, sind ja nicht ganz
falsch. Aber schauen wir doch einmal ein bisschen genauer hin:
Mit Ihrem Gesetzentwurf weiten Sie die Möglichkeiten zur Teilzeitbeschäftigung deutlich aus; das begrüße
ich ausdrücklich. Aber machen die neuen Regelungen
die Arbeitszeiten der Soldatinnen und Soldaten tatsächlich flexibler, machen sie sie familienfreundlicher? Ich
habe da noch Zweifel. So können etwa Führungskräfte
nach dem Gesetzentwurf nur dann in Teilzeit gehen,
wenn sie die Arbeitszeit im Block reduzieren. Aber was
hilft mir denn ein ganz und gar arbeitsfreier Freitag,
wenn von Montag bis Donnerstag in der Kinderbetreuung eine Lücke klafft? Was hilft mir der gesetzliche Anspruch auf eine kürzere Wochenarbeitszeit, wenn die
Personaldecke am Standort derart dünn ist, dass ich mit
meinem Antrag auf Teilzeitarbeit zwangsläufig den Zorn
meiner Kolleginnen und Kollegen heraufbeschwöre?
Was hilft mir die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten,
wenn ich dann mit aller Wahrscheinlichkeit meinen
Dienstposten verlieren werde und mir an einem anderen
Ort eine neue Kita oder eine neue Tagesbetreuung suchen muss?
Sie sehen, meine Damen und Herren, mit einem gesetzlichen Anspruch auf Teilzeit alleine ist es nicht getan. Entscheidend ist doch, ob der Anspruch vor Ort
auch umgesetzt werden kann. Deshalb appelliere ich an
Sie, Frau Ministerin: Sorgen Sie bitte dafür, dass die Soldatinnen und Soldaten wirklich das Teilzeitmodell wählen können, das ihren familiären und persönlichen Bedürfnissen am besten entspricht, und sorgen Sie bitte
dafür, dass der Dienstposten auch bei einer Arbeitszeitreduzierung erhalten bleibt.
({1})
Mein zweites Beispiel ist die Pflegezeit. Um Menschen als Mitarbeiter zu gewinnen, reicht es nicht, über
moderne Konzepte zu sprechen. Zwar taucht der Begriff
der pflegebedürftigen Angehörigen schon heute in den
einschlägigen Vorschriften zur Teilzeitarbeit in der Bundeswehr auf. Tatsächlich sind die Soldatinnen und Soldaten von den Leistungen des Pflegezeitgesetzes aber
ausgeschlossen. Warum?, frage ich Sie. Ich kann keinen
sachlichen Grund für diese Schlechterstellung der Bundeswehrangehörigen erkennen. Der Bedarf ist doch vorhanden: Schon jetzt pflegen 12 Prozent der über 46-jäh7902
rigen Soldatinnen und Soldaten persönlich einen
Angehörigen. Unsere Gesellschaft altert rasant; das wissen wir alle. Angesichts dessen ist es doch wesentlich, in
welchem Maße ein Arbeitgeber bereit ist, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Pflege von Angehörigen zu unterstützen. Deshalb, Frau Ministerin, bitte ich
Sie: Öffnen Sie das Pflegezeitgesetz auch für Soldatinnen und Soldaten! Geben Sie ihnen die Unterstützung,
die sie diesbezüglich brauchen!
({2})
Ich möchte noch ein letztes Beispiel anführen, das
zeigt, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf den eigentlichen
Herausforderungen ausweichen. Frau Ministerin, Sie
selbst führen die Demografie gerne und oft im Munde,
meist im Zusammenhang mit der wachsenden Konkurrenz um gutqualifizierte Arbeitskräfte. Was Sie hingegen
höchst selten erwähnen und was ich auch in Ihrem Gesetzentwurf vermisse, ist Folgendes: Genau wie all die
zivilen Unternehmen muss sich auch die Bundeswehr
allmählich etwas einfallen lassen, um das vorhandene
gute Personal möglichst lange zu halten. Die Bundeswehr war in den letzten Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, Personal abzubauen; aber jetzt muss sie sich
von dieser Grundhaltung dringend verabschieden. Die
Streitkräfte können es sich immer weniger leisten, gute,
selbst ausgebildete Mitarbeiter massenhaft aufs Abstellgleis zu schieben, nur weil diese ein bestimmtes Alter erreicht haben. Es wird auf absehbare Zeit keine Nachwuchsschwemme mehr geben. Deshalb sollten Sie das
Personal, das Sie haben, besser und länger einsetzen.
Investieren Sie doch in Maßnahmen, damit Ihnen Ihre
Belegschaft möglichst lange und fit erhalten bleibt. Warum etwa werden Unteroffiziere automatisch mit 54 Jahren in den Ruhestand versetzt? Sollte das nicht nur dann
passieren, wenn sie aufgrund ihrer individuellen Verwendung tatsächlich besonderen Belastungen ausgesetzt
sind? Ich finde, wer länger im Dienst bleiben will, sollte
auch eine realistische Chance dazu bekommen.
Ich glaube, die Bundeswehr sollte grundsätzlich stärker als bisher versuchen, ehemalige Soldaten in zivilen
Funktionen weiterzubeschäftigen. Die Bundeswehr
muss auch deutlich flexibler werden, was die Möglichkeit zum Laufbahnwechsel angeht. Schließlich muss die
Bundeswehr viel mehr in die physische und psychische
Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren. Was wir dringend brauchen, sind Phantasie,
Reformbereitschaft und vorausschauende Investitionen,
um Soldatinnen und Soldaten deutlich länger zu halten
als bisher.
Frau Ministerin, werte Kolleginnen und Kollegen, es
gibt jede Menge Baustellen, an denen diese Regierung
ansetzen könnte, um die Bundeswehr zu einem moderneren, familienfreundlicheren und attraktiveren Arbeitgeber zu machen. Leider hat sich das Bundesverteidigungsministerium in diesem Artikelgesetz dafür
entschieden, den derzeitigen und künftigen Soldatinnen
und Soldaten den Dienst in der Bundeswehr vor allem
durch finanzielle Anreize schmackhaft zu machen.
Ich finde diesen Weg falsch. Er führt nicht zu nachhaltigen Verbesserungen. Deshalb wird dieses Gesetz
sein Ziel verfehlen. Das ist sehr bedauerlich. Das ist besonders bedauerlich für diejenigen, die den Personalmangel in der Bundeswehr verwalten müssen, und vor
allem für die Soldatinnen und Soldaten; denn sie sind es,
die auch weiterhin unter den Arbeitsbedingungen in der
Bundeswehr zu leiden haben.
({3})
Wer seine Familie nur selten sieht, wer seine Eltern in
den letzten Lebensmonaten kaum begleiten kann, wer
sich mit Mitte 50, geschieden und ohne erfüllende Tätigkeit, aussortiert fühlt, dem helfen leider auch die großzügigsten Geldgeschenke nichts.
Vielen Dank.
({4})
Henning Otte ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute geht es
um einen sehr wichtigen Gesetzentwurf: um den Entwurf eines Gesetzes zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr. Es war für die Union ein
ganz besonders wichtiger Punkt, dies in den Koalitionsvertrag einzubringen und nun auch umzusetzen. Wir stehen immer an der Seite unserer Soldatinnen und Soldaten. Wir danken unserem Koalitionspartner dafür, dass er
uns bei dieser Arbeit unterstützt.
({0})
Es geht darum, die Vereinbarkeit von Dienst und Familie zu stärken. Den Kabinettsentwurf könnte man am
heutigen Zeugnistag mit einem glatten „sehr gut“ bewerten.
({1})
Denn die wichtigen Dinge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der sozialen Absicherung und auch der
Vergütung sind dort abgebildet. Das ist wichtig für die
Soldatinnen und Soldaten im Grundbetrieb, im Friedensbetrieb, aber auch im Einsatz. Es ist klar festzustellen,
dass es für diesen Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Dienst und Familie, sehr geehrte Frau Ministerin von der Leyen, durchaus nützlich
ist, dass Sie Ihre Erfahrungen als Familienministerin, als
Arbeitsministerin und jetzt als Verteidigungsministerin
hier sozusagen zusammenfassen. Dadurch ist ein Entwurf für die bessere Vereinbarkeit von Dienst und Familie entstanden, der für unsere Soldatinnen und Soldaten
gut ist. Deswegen sage ich an dieser Stelle ein herzliches
Dankeschön.
({2})
Ich sage auch einen Dank an die mitberatenden
Ministerien, insbesondere an das Innenministerium. Wir
befinden uns in einem sehr konstruktiven und engen
Austausch über die Verbesserung der Situation.
Ja, es geht vor allem darum, die guten Kräfte in der
Bundeswehr zu halten. Wir brauchen motivierte Kräfte
und müssen auch weiterhin gute Kräfte mit verschiedenen Fähigkeiten und Talenten für verschiedene Fachrichtungen gewinnen. Hier müssen wir als großer Arbeitgeber mit 250 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
militärische wie zivile Kräfte, für uns werben. Wir müssen attraktiv sein und uns dem Wettbewerb stellen. Das
Prädikat „Attraktiver Arbeitgeber“ wird nicht durch
Handauflegen erzielt, sondern durch die Umsetzung klarer Attraktivitätsvorteile. Die Freiwilligenarmee Bundeswehr soll im Vergleich zur privaten Wirtschaft standhalten.
Wenn ich hier im Deutschen Bundestag mit Schulklassen diskutiere und frage, wer welche Vorstellungen
im Leben hat und wie sich die Schüler beruflich entwickeln wollen, dann gibt es auch immer wieder Schülerinnen und Schüler, die sich für die Bundeswehr interessieren. Aber wir müssen die Vorteile, die die Bundeswehr
als Arbeitgeber mit sich bringt, noch weiter herausstellen. Dazu ist dieser Gesetzentwurf wichtig. Wir müssen
das Berufsfeld nachhaltiger und attraktiver gestalten.
Das wird mit dieser Attraktivitätsoffensive getan. Deswegen ist es wichtig, dass wir deutlich machen: Der Beruf eines Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Daher
ist es auch gut, dass es besondere Regelungen im Vergleich zum Beamtenrecht gibt, die die besonderen Erschwernisse und Herausforderungen des Soldatenberufes abbilden. Das gilt für den Grundbetrieb, aber eben
auch für den Einsatz. Allein in Afghanistan waren für einen erfolgreichen Einsatz für Frieden, Stabilität, Sicherheit und Entwicklung über 100 000 Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands in Uniform im Einsatz. Dafür meinen ganz herzlichen Dank!
({3})
Es ist Ausdruck der Fürsorge für eine Parlamentsarmee, dass wir uns mit diesem Gesetzentwurf im Rahmen
der parlamentarischen Beratungen inhaltlich vertieft auseinandersetzen. Es wird hierzu am 23. Februar dieses
Jahres eine Anhörung geben, in der wir über die einzelnen Punkte miteinander sprechen wollen.
Es liegt ein Antrag der Fraktion der Grünen vor, in
dem es um den Stichtag geht. Ich kann nur sagen: Wer
ihn genau liest, stellt fest, dass die darin formulierten
Forderungen längst aufgegriffen worden sind. Deswegen, glaube ich, ist dieser Antrag überflüssig. Ich möchte
dennoch, wenn auch in einem späten Stadium, nochmals
die Einladung an Sie aussprechen, sich an der Arbeit der
Kommission zur Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen zu beteiligen. Es ist schade, dass Sie dort nicht
mitgemacht haben. Das wäre, glaube ich, ein gutes Signal gewesen.
Meine Damen und Herren, Attraktivität hat auch etwas mit dem Wohnumfeld zu tun. Deswegen war es
wichtig, dass wir auf Anregung des Jahresberichts des
Wehrbeauftragten in dieser Woche auch über die Kasernen gesprochen haben. Es ist gut, dass die Verteidigungsministerin dieses Thema sofort aufgegriffen und
gesagt hat: Das ist für die Soldatinnen und Soldaten
wichtig. - Deswegen hat sie 750 Millionen Euro in Aussicht gestellt, um die Situation zu verbessern. In Zeiten
des Einsatzes in Afghanistan mussten wir Schwerpunkte
bei der Ausrüstung setzen. Aber jetzt ist es an der Zeit,
wieder zu investieren, auch in das Wohnumfeld, also vor
allem in die Kasernen, die noch nicht den Standard haben, den wir uns wünschen.
Attraktivität, Ausbildung und Ausrüstung sind drei
ganz wesentliche Faktoren für einen erfolgreichen
Dienst. Es ist eine gute Maßnahme, dass genau dieses
Thema im Rahmen der KPMG-Studie aufgegriffen wird.
Die Ausrüstung muss zielgerichtet zum vereinbarten
Preis und zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert werden.
Die Soldaten müssen sich, wenn sie in einen Einsatz entsandt werden, darauf verlassen können, dass sie ihre
Ausrüstung bekommen.
Wir haben am Beispiel des A400M mit Schrecken
festgestellt, dass sich die Industrie nicht an die Zusagen,
von denen wir dachten, sie seien verbindlich, gehalten
hat. Durch so etwas geht Vertrauen verloren. Wir müssen
uns schon die Frage stellen, ob nationale Interessen im
Rahmen der Zusammenarbeit mit einem europäischen
Konsortialpartner vielleicht nicht in der Form berücksichtigt werden, wie wir uns das in Deutschland und als
deutsches Parlament vorstellen. Die Verantwortung für
unsere Soldatinnen und Soldaten und für ihre Ausrüstung tragen in allererster Linie wir als Parlamentarier,
aber auch die Industrie. Die Soldatinnen und Soldaten
brauchen die Ausrüstungsgegenstände. Ich kann nur hoffen, dass die Zusagen seitens der Industrie auf diesem
Gebiet in Zukunft verbindlicher eingehalten werden;
denn Verlässlichkeit darf keine Einbahnstraße sein.
Attraktivität, Ausrüstung und Ausbildung sind - ich
habe es gesagt - wichtig für die Zufriedenheit im Grundbetrieb, aber auch notwendig für die erfolgreiche Arbeit
im Einsatz, beschlossen durch unser Parlament.
Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht:
Wir stellen uns einer Verantwortungskultur. Wir haben
auch deutlich gemacht, dass die Attraktivitätsoffensive
im Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr von besonderer Bedeutung ist. Das Personal ist das höchste
Gut. Der Mensch steht im Mittelpunkt, auch bei der
Bundeswehr. 22 konkrete Maßnahmen werden im Gesetzentwurf aufgeführt. Dabei geht es zum Beispiel um
Zulagen und um die Verbesserung der Nachversicherung. Ziel ist es, die Planbarkeit des Dienstes zu erhöhen. Wir werden jede einzelne Maßnahme bewerten.
Insgesamt wird dafür in den nächsten vier Jahren
circa 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Das ist
eine Anerkennung für den Dienst für unser Land. Das ist
auch ein richtiger Weg zur Steigerung der Attraktivität.
„Wir. Dienen. Deutschland.“ lautet die Aussage im Hinblick auf den Dienst in der Bundeswehr. Die Soldatinnen
und Soldaten leisten einen Beitrag zu Sicherheit und Sta7904
bilität in unserem Land und zu Frieden und Sicherheit
auf unserer Erde.
Dafür brauchen wir einen attraktiven Arbeitgeber.
Dafür brauchen wir motivierte Soldatinnen und Soldaten. Dafür brauchen wir eine gute, zukunftsfähige Perspektive und vor allem die Rückendeckung der Bürgerinnen und Bürger und auch die Rückendeckung dieses
Parlaments. Deswegen bitten wir als Union um die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, Sie haben im Frühjahr letzten Jahres
eine Attraktivitätsoffensive angekündigt und das Ziel
formuliert, dass die Bundeswehr der attraktivste Arbeitgeber im Lande werden soll. Heute liegt uns ein Gesetzentwurf vor, durch den über zehn Gesetze und Verordnungen geändert werden sollen, Kostenpunkt: zwischen
250 und 300 Millionen Euro im Jahr im Durchschnitt,
also die nächsten vier Jahre ungefähr 1 Milliarde Euro.
Im Kern geht es - das ist hier schon gesagt worden - um
Arbeitsbedingungen, höhere Vergütung bzw. Erschwerniszuschläge, soziale Absicherung.
All das - Frau Ministerin, Sie haben das selber gesagt - sind allerdings Dinge, bei denen sich in den letzten Jahren etwas angestaut hat und jetzt notwendigerweise Abhilfe geschaffen werden muss. Sie haben selber
gesagt, Sie arbeiten sich auf Normalmaß vor. Die letzte
Wehrsolderhöhung zum Beispiel gab es im Jahr 2008,
damals um 2 Euro. Dieses Mal soll es wieder eine
Wehrsolderhöhung geben, wieder um 2 Euro - pro Tag
im Übrigen; das muss man dazusagen. Ich bin mir nicht
sicher, ob das dazu beiträgt, die Bundeswehr attraktiver
zu machen.
Auf die wirklich aktuellen Probleme gehen Sie nicht
ein; die sind aber im Bericht des Wehrbeauftragten, der
diese Woche vorgestellt wurde, klar benannt. Manches
wurde hier angesprochen, ich möchte noch einmal einige
Punkte herausgreifen:
Erstens. Die Bundeswehr hat massive Ausrüstungsprobleme, insbesondere was Großgeräte wie das Transportflugzeug A400M und den Hubschrauber NH90 betrifft.
({0})
Es wird alles zu spät geliefert, es wird alles viel teurer
als vereinbart wurde, und die Fähigkeiten, die bestellt
wurden, sind in der Lieferung nicht enthalten. Hinzu
kommen massive Fehler im Normalbetrieb. Sie hatten
vorhin davon gesprochen, dass die Bürgerinnen und
Bürger, wenn sie heute einen Computer bestellen, nicht
mehr die Katze im Sack kaufen - die Bundeswehr kauft
immer noch die Katze im Sack.
({1})
Das Transportflugzeug A400M zum Beispiel - ein
Exemplar ist geliefert; wann die nächsten kommen, weiß
niemand - kann weder Personal noch Material aus der
Luft absetzen, er kann auch nicht in die sogenannten heißen Zonen, also in Kampfgebiete, fliegen,
({2})
weil er über Selbstverteidigungsfähigkeiten erst 2016/17
verfügen wird.
Der Transporthubschrauber NH90 rostet, es gibt
Rauchentwicklung im Cockpit und er hat Triebwerksprobleme, was schon zum Absturz einer Maschine geführt hat. Ich habe mich im Zusammenhang mit den Erschwerniszuschlägen gefragt, ob diese Mängel vielleicht
der Grund sind, warum Hubschrauberpiloten 210 Euro
mehr bekommen als Fallschirmjäger. Fakt ist: Die Nachrüstung dieser Hubschrauber - das wurde diese Woche
im Verteidigungsausschuss mitgeteilt - übernimmt natürlich nicht die Industrie, sondern auch das muss wieder
vom Steuerzahler bezahlt werden, obwohl in der Industrie bei der Konstruktion geschlampt wurde.
Selbst bei Standardausrüstungsgegenständen wie dem
G36 gibt es Probleme; da warten wir noch auf einen Bericht, in dem geklärt wird, warum dieses Standardgewehr, wenn es heiß ist, nicht mehr zuverlässig trifft.
({3})
Auf der anderen Seite ist das Personal völlig überlastet: Die Regelung, dass nach einer Auslandsverwendung
von 4 Monaten eine Pause von 20 Monaten folgen soll,
kann bei vielen Soldatinnen und Soldaten nicht eingehalten werden.
Auf die maroden Kasernen ist hier auch schon eingegangen worden: 38 Prozent der Unterkünfte haben größere Mängel, 269 Gebäude sind eigentlich nicht nutzbar,
aber trotzdem bewohnt. Es wird von Rost- und Schimmelbefall, von nicht funktionierenden Heizkörpern, von
Kloakengeruch berichtet.
Fakt ist: Sie haben diese Zustände erkannt und gesagt:
Es werden neue Mittel bereitgestellt. Aber wenn solche
Zustände herrschen, dann ist es völlig unbegreiflich, warum man nicht auch ohne Mittel notwendige Maßnahmen ergreift, zum Beispiel indem man sagt: Sanierte
Kasernen werden nicht geschlossen - wenn Kasernen
geschlossen werden müssen, dann kann man auch die
maroden Kasernen schließen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, was in der
Öffentlichkeit derzeit das Bild der Bundeswehr bestimmt: eine ziemlich desolate Truppe. Diese Truppe
wird auch nicht attraktiver, wenn man 2 Euro mehr Sold
am Tag zahlt.
({4})
Ihr Ziel ist - so wurde das formuliert -: Jeder Soldat soll
in der Kaserne ein Einzelzimmer mit Bad bekommen, es
soll eine ordentliche soziale Absicherung und Aufstiegschancen geben, Familie und Dienst sollen miteinander
vereinbar sein, zum Beispiel durch Teilzeitarbeit usw.
usf.
Das sind aber nur die Rahmenbedingungen für einen
attraktiven Arbeitsplatz. Entscheidend ist ja letztlich, ob
auch die Aufgabe attraktiv ist. Darüber, Frau Ministerin,
haben Sie hier aber überhaupt nicht gesprochen.
({5})
Ich kann mir zumindest vorstellen, dass die Soldatinnen und Soldaten, die an dem Einsatz zur Vernichtung
der syrischen Chemiewaffen beteiligt gewesen sind, in
dieser Aufgabe einen gewissen Sinn gesehen haben und
auch davon überzeugt gewesen sind, dass das richtig ist.
({6})
Bei den gestern hier im Bundestag beschlossenen
Einsätzen zum Irak und zur Türkei bin ich mir da aber
nicht mehr so sicher; denn im Kern sieht die ganze Sache doch so aus: Wir schicken Ausbilder in den Irak, die
die Kurdinnen und Kurden befähigen sollen, nachdem
die Waffen geliefert wurden, sich gegen die Islamisten
und gegen den „Islamischen Staat“ zu verteidigen. Auf
der anderen Seite schickt der NATO-Partner Türkei logistisches Material und Waffenlieferungen genau an
diese Islamisten, die mit unserer Unterstützung bekämpft werden sollen. Wir aber schicken Soldatinnen
und Soldaten in die Türkei, die die Türkei vor den Folgen der Situation bewahren sollen, die sie dort schafft.
Ich glaube schon, dass vor diesem Hintergrund bei einigen Soldatinnen und Soldaten die Frage nach dem
Sinn dieser Einsätze aufkommt. Wenn eine Aufgabe aber
als sinnlos empfunden wird, dann ist sie auch nicht mehr
attraktiv. Sie hätten meines Erachtens der Attraktivität
der Bundeswehr einen viel größeren Gefallen getan,
wenn gestern der Einsatz in der Türkei nicht verlängert
worden wäre.
({7})
Das Hauptziel, die Bundeswehr zu einem der attraktivsten Arbeitgeber zu machen, werden Sie damit nicht
erreichen. Das Hauptziel muss darin bestehen, die Aufgabe der Bundeswehr zu verändern.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Felgentreu hat nun für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Programmatische Äußerungen zur Attraktivität des Dienstes in
der Bundeswehr sind so alt wie die Truppe selbst. Ich
denke da an Sätze, wie ich sie als aktiver Soldat vor
25 Jahren in der Truppe öfter gehört habe, zum Beispiel
den Klassiker „Klagt nicht! Kämpft!“ oder auch solche
Sätze wie „Ein Offizier beschwert sich nicht!“
({0})
oder so etwas wie „Schreiben Sie doch einen Brief: Lieber Herr Wehrbeauftragter...“
Zusammengefasst wurde das alles in einem durchaus
ernstgemeinten Grundsatz, dem ich seine allgemeine
Berechtigung auch gar nicht absprechen will: „Der Soldat ist immer im Dienst.“ „Der Soldat ist immer im
Dienst“ - das galt für eine Bundeswehr, die als große
Wehrpflichtigenarmee mit hoher Bereitschaft in der Zeit
der Blockkonfrontation oft eher damit Probleme hatte,
ihre vielen Soldaten sinnvoll zu beschäftigen, als mit der
Frage, woher sie gute Leute bekommen sollte. Denn unter den vielen fanden sich fast immer genug, die feststellten, dass ihnen der Soldatenberuf liegt, und aus deren Reihen kommen die erfahrenen Offiziere und
Unteroffiziere der Generation um die 50, die heute in
vorderster Verantwortung stehen.
Die Zeiten und die Bundeswehr haben sich aber
gründlich geändert. Sie war damals eine große Armee,
sie hatte den Auftrag, einen mächtigen Gegner abzuschrecken und so den Frieden in Europa zu sichern,
schlimmstenfalls das Land zu verteidigen. Daraus ist
heute eine für ein 80-Millionen-Volk in der Mitte Europas wirklich sagenhaft schlanke, kleine Truppe geworden. Heute konzentriert sich die Bundeswehr vor allem
auf ihre Fähigkeit, gemeinsam mit Partnernationen internationale Einsätze durchzuführen.
Die Wehrpflicht, die das deutsche Militär seit den Befreiungskriegen geprägt hatte, ist praktisch abgeschafft.
Schon die beiden ersten Worte des alten Grundsatzes
„Der Soldat ist immer im Dienst“ passen nicht mehr.
Heute muss es heißen: „Der Soldat und die Soldatin …“
Aber bisher haben wir als Gesellschaft, als Gesetzgeber, als Dienstherr aus diesen Veränderungen weder
mental noch in der Ausgestaltung die notwendigen Konsequenzen gezogen, damit diese veränderte Armee in einer veränderten Welt ihren Auftrag auf Dauer zuverlässig erfüllen kann.
Wir haben eine Freiwilligenarmee. Das bedeutet - ich
habe jetzt einfach einmal den Mut zur Banalität -: Wir
brauchen Freiwillige. Die Freiwilligen stehen aber nicht
allein vor unseren Karrierecentern Schlange.
({1})
Es gibt sicherlich junge Leute, die auch aus patriotischer
Gesinnung und aus hoher Identifikation mit der Bundesrepublik Deutschland wenigstens eine Zeit lang Soldaten
werden wollen. Aber es sind wohl kaum genug; und in
einer Zeit, in der die Bevölkerung kontinuierlich
schrumpft, werden es Jahr für Jahr weniger.
Das bedeutet, die Bundeswehr muss als Arbeitgeberin
in Zukunft mit anderen Bereichen des öffentlichen
Dienstes und mit der freien Wirtschaft um kluge Köpfe
und starke Arme konkurrieren. Dafür muss sie etwas anzubieten haben; etwas anzubieten, das hinreichend viele
junge Leute jedes Jahr wieder davon überzeugt, sich als
Soldat oder als Soldatin zu verpflichten.
Deswegen rede ich heute einmal - anders als der Kollege Leutert eben - über den eingebrachten Gesetzentwurf der Bundesregierung; er ist ein wichtiger Baustein
für den Aufbau einer modernen und attraktiven Freiwilligenarmee.
({2})
Er ist ein Ergebnis des Nachdenkens, des Hinhörens bezogen auf die Bedürfnisse der Menschen - nicht nur der
Soldatinnen und Soldaten, sondern auch ihres familiären
Umfeldes, ihrer Angehörigen - und der Gespräche mit
den Fachleuten und Organisationen, wie dem BundeswehrVerband oder dem Reservistenverband.
Nun ist ja so ein dienstrechtliches Artikelgesetz eine
wirklich hocherotische Angelegenheit, die gerade von
den Gemeinden sicherlich mit glühenden Ohren gelesen
wird: reich an scheinbar zusammenhanglosen Einzelbestimmungen und Querverweisen und verfasst in
schönstem Juristendeutsch, das gerne zugunsten der
Eindeutigkeit auch mal auf Verständlichkeit verzichtet.
Die Leitgedanken des Entwurfs sind klar und für alle
nachvollziehbar: Es geht zum einen um die Vereinbarkeit von Familie und Dienst und zum anderen um soziale
Sicherheit für die Soldatinnen und Soldaten.
Meine Damen und Herren, vor allem der erste Punkt
ist eine kleine Revolution. Die Koalition wird mit diesem Gesetz zum ersten Mal die 41-Stunden-Woche für
Soldatinnen und Soldaten festschreiben.
({3})
Hier ist der falsche Ort, um auf Details einzelner Ausnahmen und Streitfragen einzugehen.
({4})
Entscheidend ist das klare Bekenntnis der Bundesregierung und des Gesetzgebers, dass wir die 41-StundenWoche als den militärischen Normalfall durchsetzen
wollen.
Das wird den Truppendienst verändern. Das bedeutet
nichts anderes, als dass die Bundeswehr ihren alten
Grundsatz an den veränderten militärischen Alltag anpasst. Der Soldat und die Soldatin sind in Zukunft eben
nicht immer im Dienst. Im Einsatz, wo unsere Soldatinnen und Soldaten das tun, wofür sie ausgebildet worden
sind, wo sie sich schnell und aktiv auf eine veränderte
Lage einzustellen haben, sind sie selbstverständlich immer im Dienst, auch dann, wenn sie schlafen. Aber an
Standorten, wo die Voraussetzungen für erfolgreiche
Einsätze geschaffen werden, haben sie einen Anspruch
auf geregelte Arbeitszeiten und planbare Freizeit.
({5})
Gleichzeitig verbessern wir die Möglichkeit, in Teilzeit zu gehen, um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu betreuen. Die Soldatinnen und Soldaten sollen
dabei in Zukunft nicht schlechtergestellt sein als Beamte. Uns allen muss klar sein - das ist heute ja auch
schon problematisiert worden -, dass das eine für die
Personalplanung denkbar unbequeme Lösung ist. Wer
zwölf Jahre in Teilzeit geht, fällt zwölf Jahre lang für
den Einsatz aus und muss dort durch andere ersetzt werden. Es ist aber die richtige, die für die Soldatinnen und
Soldaten wichtige Lösung, die es ihnen leichter macht,
Ja zur Familie und Ja zum Dienst, zum Beruf, zu sagen.
Meine Damen und Herren, knapp 70 Prozent unserer
Dienstleistenden sind Soldaten auf Zeit. Für diese Männer und Frauen werden Rentenbeiträge für den Zeitraum
nachträglich eingezahlt, in dem sie als Beamte auf Zeit
keine Beiträge geleistet haben. Bei dieser Nachversicherung sind Soldatinnen und Soldaten bisher schlechtergestellt als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die zusätzlich zu ihrer Rente eine
Zusatzversorgung des Bundes und der Länder bekommen. Wir werden hier Gerechtigkeit schaffen.
Der Gesetzentwurf sieht vor, bei der Berechnung der
Nachversicherung nicht nur von 100 Prozent, sondern
von 115 Prozent der Soldatenbezüge auszugehen. Die
SPD-Fraktion hat diese Zahlen einmal geprüft. Nach unserer Berechnung reichen 15 Prozent noch nicht aus, um
die Soldatinnen und Soldaten wirklich gleichzustellen.
Wir halten 21 Prozent für notwendig und angemessen.
Über die Höhe der Anhebung der Berechnungsgrundlage
werden wir im Ausschuss und bei der geplanten Anhörung deshalb noch einmal miteinander reden müssen.
({6})
- Ja, das machen wir.
Es ist eine Besonderheit der Bundeswehr, dass viele
Berufssoldatinnen und Berufssoldaten schon mit 53 Jahren, also relativ jung, in Pension gehen. Das liegt daran,
dass viele Verwendungen einfach körperliche Anforderungen stellen, die der menschliche Körper ab einem bestimmten Alter nicht mehr erfüllen kann. Eine ausreichende Zahl von Anschlussverwendungen kann es aber
nicht geben. Deshalb entlassen wir diese Soldatinnen
und Soldaten qua Gesetz in einen frühen Ruhestand.
Nun handelt es sich bei den Betroffenen in der Masse
um Unteroffiziere und die unteren Offiziersränge, die
alle eine relativ niedrige Pension beziehen. Also gerade
in einem Alter, in dem die Kinder ins Studium gehen, in
dem das Haus oft noch gar nicht abbezahlt ist, müssen
sie auf einmal mit 70 Prozent des bisherigen Einkommens auskommen. Wenn sie sich deshalb in einem zivilen Beruf etwas dazuverdienen, wird dieses Einkommen
ab einer bestimmten Höhe von der Pension abgezogen.
Bei ehemaligen NVA-Soldaten, die in die Bundeswehr
übernommen worden sind, ist das sogar alles oberhalb
von 450 Euro.
Das ist ungerecht, weil sich die Betroffenen gar nicht
dafür entscheiden können, länger zu dienen und auf
diese Weise mehr zu verdienen. Sie müssen die Bundeswehr verlassen und sind damit schlechtergestellt als andere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die erst jenseits der 60 in den Ruhestand gehen.
Wir wollen deshalb die Obergrenze für zusätzlich verdientes Geld mindestens bis zu dem Alter aufheben, in
dem auch Bundespolizisten in den Ruhestand entlassen
werden. Bei den untersten Dienstgraden der Bundespolizei liegt dieses Alter bei knapp 61 Jahren. Das Alter
steigt allmählich, und auch in der Bundeswehr wird das
Alter entsprechend angepasst. Aber an dieser Zeitgrenze
wollen wir uns für die Begrenzung der Zuverdienstmöglichkeiten orientieren.
Noch härter wirkt sich der frühe Ruhestand bisher bei
Geschiedenen aus. Sie teilen sich ihren Pensionsanspruch mit dem geschiedenen Partner. Mit anderen Worten: Ihre Pension wird gekürzt. Um wie viel, legt das Familiengericht bei der Scheidung fest. Das bedeutet,
Soldatinnen und Soldaten, die das von uns gemachte
Dienstrecht in einen frühen Ruhestand zwingt, haben
nicht nur früher ein niedrigeres Einkommen. Wenn sie
geschieden sind, müssen sie auch acht bis zwölf Jahre
länger als andere die Kürzung ihrer Versorgung hinnehmen.
Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, erleben
leider überdurchschnittlich oft das Scheitern ihrer Ehe,
auch weil ihr Beruf durch seine Dienstzeiten, durch die
Auslandseinsätze und die vielen Versetzungen das Familienleben bisher stark belastet hat. Es ist deshalb gerecht,
auch den Versorgungsausgleich, oder auf Deutsch: die
Kürzung der Pension, mindestens bis zu dem Zeitpunkt
hinauszuschieben, zu dem das gleiche Schicksal auch
unsere Polizistinnen und Polizisten ereilt.
Sie können nun fragen: Was haben Versorgungsregelungen für Ruheständler mit der Attraktivität der Bundeswehr beim Berufseinstieg zu tun? Fragen 19-Jährige
wirklich danach, wie sie versorgt sind, wenn ihre Ehe
scheitern sollte? Nein, meine Damen und Herren, das tun
sie wahrscheinlich nicht. Aber die Unzufriedenheit der
Älteren über die mangelnde Fürsorge bekommen sie
sehr schnell mit. Wenn wir Soldaten auf Zeit als Berufssoldaten gewinnen wollen, dann tun wir gut daran, auch
die Älteren gerecht und angemessen zu versorgen.
({7})
In jedem Fall ist unser Weg in eine moderne und attraktive Bundeswehr mit diesem Gesetz nicht zu Ende.
Am Standort und im Einsatz können wir an vielen Stellen mehr für die Zufriedenheit der Soldatinnen und Soldaten tun - mein Kollege Thomas Hitschler wird darauf
gleich noch eingehen -: durch Gesetzgebung und Finanzierung, aber auch dadurch, wie der rechtliche Rahmen
mit Leben erfüllt wird. Jeder Kommandeur sollte den
Ehrgeiz haben, dass die Bundeswehr immer die attraktivste Arbeitgeberin an seinem Standort ist.
Die Anforderungen an Soldatinnen und Soldaten sind
hoch, und sie werden hoch bleiben; das ist auch richtig
so.
Herr Kollege, könnten Sie mit diesem wunderschönen
Gedanken Ihre Rede allmählich beenden?
Letzter Satz. - Wenn es uns gelingt, Jahr für Jahr eine
ausreichende Zahl tüchtiger junger Leute für den anspruchsvollen Dienst in einer modernen und attraktiven
Bundeswehr zu gewinnen, dann ist mir um die Zukunft
unserer Freiwilligenarmee und auch um die Sicherheit
unseres Landes nicht bange. - Herr Präsident, ich danke
für Ihre Geduld.
Vielen Dank.
({0})
Geht doch.
({0})
Nun hat die Kollegin Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hochglanzbroschüre ist längst verteilt, der Showroom an der
Berliner Friedrichstraße ist eingerichtet und mehr oder
weniger gut besucht.
({0})
Die Pressekonferenzen und auch zahlreiche Interviews
sind gegeben. Nun, Frau Ministerin, erreicht das Artikelgesetz, das Kernstück Ihrer Attraktivitätsoffensive, endlich nach langem Warten den Bundestag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Ende der
Wehrpflicht, aber auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels kann es uns nicht egal sein, wer sich
mit welcher Motivation und mit welcher Qualifikation
für den Dienst bei der Bundeswehr entscheidet, und deshalb ist das Thema Attraktivität auch so wichtig. Ebenso
wie ich wissen viele Kolleginnen und Kollegen aus direkten Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten,
dass die Attraktivität und insbesondere die Vereinbarkeit
von Familie und Dienst von zentraler Bedeutung sind
und dass es eine große Unzufriedenheit gibt, weil die
Bundeswehr in diesem Bereich der Gesellschaft und
dem Standard, der dort herrscht, an vielen Stellen hinterherhinkt.
Wir Grünen haben jahrelang Verbesserungen gefordert, und auch jetzt müssen wir an einigen Details der
Regelungen im Gesetzentwurf Kritik üben. An manchen
Stellen ist mehr möglich. Aber es gibt eine Kritik, mit
der wir uns nicht gemein machen wollen. Damit meine
ich den Unmut, den einige ältere Herren mit Bundeswehrhintergrund in den letzten Monaten geäußert haben,
die offensichtlich meinen, dass eine Scheidung automatisch zu einer Bundeswehrlaufbahn dazugehört und es
sich dabei nur um ein weinerliches Wellness-Wohl7908
fühlthema handelt. Diese Herren haben von der Lebensrealität junger Menschen und auch von der Lebensrealität der Soldatinnen und Soldaten keine Ahnung.
({1})
Auch wenn mit dem Attraktivitätssteigerungsgesetz
an einigen Schrauben gedreht wird, können Sie das
Thema nicht von Ihrer To-do-Liste streichen, Frau
Ministerin. Nicht nur aus den vielen Rückmeldungen,
die wir als Abgeordnete von Bundeswehrangehörigen
erhalten, sondern auch aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen und Umfragen wissen wir, dass
die Stimmung in der Bundeswehr schlecht ist, wenn es
um die Bundeswehrreform und ihre Umsetzung geht.
Das fängt nicht erst bei den Beschaffungsdesastern und
den Problemen beim Altgerät an; es setzt sich mit maroden Stuben und unnötigen Versetzungen fort und hört
auch nicht bei der extremen Einsatzbelastung von Soldatinnen und Soldaten mit bestimmten Fähigkeiten auf, bei
denen die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht eingehalten werden. Davon zeichnet der Bericht des Wehrbeauftragten aus der letzten Woche ein ziemlich drastisches
Bild, und er äußert auch deutliche Kritik an der Neuausrichtung der Bundeswehr.
Diese Probleme sind nicht alle vom Himmel gefallen,
und die Reform hat dabei versagt, sie zu lösen. Sie hat
sogar im Endeffekt dazu beigetragen, sie noch zu verstärken. Statt zukunftsfähige Strukturen zu schaffen,
wurde einfach alles abgeschmolzen. Das hat dann die
Überbelastung der Soldatinnen und Soldaten zur Folge.
Das hat zur Folge, dass Gerät nur noch in unzureichender Quantität und mangelhafter Qualität zur Verfügung
steht und langfristig in vielen Bereichen die Durchhaltefähigkeit infrage gestellt wird. Von der Finanzierbarkeit
will ich gar nicht sprechen.
Insofern muss man feststellen: Das Prinzip „Breite
vor Tiefe“, auf dem die ganze Bundeswehrreform beruht, hat versagt.
({2})
An der Stelle frage ich mich, wo die angekündigte Evaluation der Bundeswehrreform bleibt, gerade weil man
so viele Probleme erkennen könnte.
Sie müssen also umdenken und umsteuern. Sie müssen sich in Abstimmung mit den europäischen Partnern
auf bestimmte Fähigkeiten konzentrieren. Denn wenn
Sie es mit dem Thema Attraktivität ernst meinen, dann
darf man die überfälligen Kurskorrekturen nicht länger
auf die lange Bank schieben.
Meine Damen und Herren, wie die Soldatinnen und
Soldaten die Bundeswehr und ihren Dienst dort wahrnehmen, hat auch mit einem anderen Thema zu tun: mit
der Fürsorge, also mit dem Umgang mit den Soldatinnen
und Soldaten, die der Bundestag mit seiner Mehrheit in
einen gefährlichen Auslandseinsatz entsendet hat und
die verwundet oder an der Seele geschädigt zurückgekehrt sind. Damit komme ich wieder zu den konkreten
Regelungen im Artikelgesetz. Denn bisher sind die Entschädigungszahlungen für diejenigen, die einen Einsatzunfall nach dem Jahr 2002 erlitten haben, höher als für
diejenigen, die Vergleichbares vorher erlebt haben. Das
ist Willkür und auch ungerechte Ungleichbehandlung.
({3})
Wir Grünen fordern in unserem Antrag, über den
nachher abgestimmt wird, diesen Stichtag aufzuheben
und dieses Problem komplett zu beseitigen. Denn die uneingeschränkte Fürsorgepflicht des Dienstherrn muss
unabhängig vom Status der Soldatinnen und Soldaten
und von irgendeinem willkürlich gewählten Stichtag gelten.
Das Artikelgesetz sieht in diesem Punkt eine Änderung vor: Der Stichtag wird auf den 1. Juli 1992 zurückdatiert. Damit wird auch der Kreis der Betroffenen, die
diese Ungerechtigkeit erleben, verkleinert. Aber auch Ihr
neuer Stichtag war sehr willkürlich gewählt. Wir haben
Sie nicht nur bei der ersten Beratung unseres Antrages
darauf hingewiesen, dass es auch vor diesem Zeitpunkt
Soldaten im Auslandseinsatz gab, zum Beispiel im Rahmen der UN-Mission in Kambodscha, sondern wir haben es auch im Ausschuss diskutiert und entsprechend
nachgefragt. Das Ministerium hat beteuert, es gebe keine
Fälle.
Deshalb freue ich mich, dass Sie - wenn ich den Kollege Otte richtig verstanden habe - diese Anregung aufgegriffen haben, auch wenn Sie sicherlich gleich wieder
gegen unseren Antrag stimmen werden, und den Stichtag jetzt wenigstens noch weiter zurückdatieren wollen,
damit diese Ungerechtigkeit endgültig beseitigt wird.
({4})
Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, nicht nur von mir, sondern auch von der
Kollegin Wagner wurden viele der Schrauben angesprochen, an denen man noch drehen muss, wenn man es mit
dem Thema Attraktivität ernst meint. Wir hoffen, dass
Sie sich im Rahmen der Beratungen auch an anderen
Stellen für die guten Anregungen aus der Opposition offen zeigen. Denn, Frau von der Leyen, wenn Sie es mit
der Attraktivitätsoffensive ernst meinen, dann müssen
Sie erkennen, dass es noch einige Baustellen gibt, und
zwar nicht nur im Rahmen des Artikelgesetzes, sondern
insbesondere auch darüber hinaus.
Vielen Dank.
({5})
Michaela Noll ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn ich meinen
Blick nach oben richte, sehe ich Herrn Wüstner und
Herrn Schönmeyer vom BundeswehrVerband. Ich möchte
Ihnen sagen: Vielen Dank für Ihre Anregungen! Vieles
von dem, was wir hier heute diskutieren, war Gegenstand des Dialogs zwischen Ihnen und uns.
Ich weiß, dass Sie circa 200 000 Mitglieder haben.
Ich befürchte aber, dass nicht alle heute vor dem Fernseher sitzen und diese Debatte verfolgen. Deswegen würde
ich Sie bitten, das, was Sie heute aus dieser Debatte mitnehmen, an die Soldatinnen und Soldaten vor Ort weiterzutragen, damit diese wissen: Es ist ein sehr guter Tag
für die Soldatinnen und Soldaten.
Auf der Besuchertribüne sehe ich eine gemischte Altersgruppe. Vielleicht gelingt es uns, den einen oder anderen anzuregen, darüber nachzudenken, dass die Bundeswehr wirklich attraktiv ist. Ich werde mich an dieser
Stelle redlich darum bemühen.
({0})
Dass heute ein guter Tag für die Soldatinnen und
Soldaten ist, haben wir eben gehört. Die Attraktivitätsoffensive teilt sich auf in zwei Teile: die „Agenda Attraktivität“ und das Artikelgesetz. Das eine betrifft die
Sichtweise nach innen, also diejenigen, die wir anwerben wollen, und das andere betrifft diejenigen, die bereits in der Bundeswehr sind. Dafür ist es verdammt
noch mal auch Zeit!
Insbesondere durch die Neustrukturierung der Bundeswehr hat sich das Leben vieler Soldaten massiv geändert. Wenn wir wollen, dass die Neuausrichtung ein Erfolg wird, dann müssen wir diejenigen mitnehmen, die
es tatsächlich tangiert, und das sind die Soldaten.
In Gesprächen ist mir bewusst geworden: Viele Soldaten „schwimmen“. Sie sagen: Es muss sich alles noch
einspielen. Vieles ist noch unklar. - Deswegen ist jetzt
der richtige Moment für die Attraktivitätsoffensive. Sie
stellt den Menschen in den Mittelpunkt und bewirkt konkrete Verbesserungen.
Das Vertrauen in die Bundeswehr als Arbeitgeber ist
an der einen oder anderen Stelle ein bisschen verloren
gegangen. Ich bin sicher, dass dies die Chance ist, dieses
Vertrauen zurückzugewinnen.
Ich möchte an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an unsere Verteidigungsministerin richten. Sie haben eine ehrliche Analyse gemacht und aufgeführt, wo
Handlungsbedarf besteht.
({1})
Ich möchte etwas erwähnen, was den Soldaten, aber
nicht all denjenigen, die hier im Saal sind, vertraut ist:
Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu
zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Das ist der Diensteid, den die Berufssoldatinnen und -soldaten und die Soldaten auf Zeit leisten. Ich habe ihn bewusst wiedergegeben, um zu transportieren, über was
und über wen wir hier wirklich sprechen. Es geht um die
Menschen, die bereit sind, im schlimmsten Fall ihr Leben für uns, für unsere Sicherheit und für unsere Freiheit
einzusetzen.
Ich mache einmal einen kleinen Abstecher. Ich war
diese Woche Montag im „Wald der Erinnerung“; General Fritz hat mich durchgeführt. In diesem Wald sieht
man an den Stelen und Bäumen die Namen der gefallenen und gestorbenen Soldaten. Ich denke, diese Gedenkstätte ist ein deutliches Zeichen gegen das Vergessen. Er
ist auf Wunsch der Hinterbliebenen entstanden. Es ist ein
Ort der Stille und der Trauer. Deswegen sage ich: Soldat
ist kein Beruf wie jeder andere. Denn die Soldatinnen
und Soldaten sind bereit, alles zu geben.
Dass Freiheit und Sicherheit nicht mehr selbstverständlich sind, haben jetzt und heute, glaube ich, alle begriffen. Die weltweite Sicherheitslage hat sich komplett
verändert. Überall in der Welt gibt es Krisen und Instabilität. Es gibt Auseinandersetzungen, zum Beispiel in der
Ukraine oder in Form des Vormarsches des IS und der
Anschläge in Paris. Freiheit und Frieden sind keine
Selbstverständlichkeit mehr.
Die Generation, die heute hier oben und unten im Saal
sitzt, ist die Generation, die letztendlich noch nie einen
Krieg erlebt hat. Wir kennen ihn nur aus den Erzählungen unserer Eltern und unserer Großeltern. Deswegen
sage ich: Sicherheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir
müssen Geld für die Bundeswehr in die Hand nehmen;
denn die Ansprüche an die Bundeswehr und an ihr Personal werden weiter zunehmen. Rund 120 Millionen
Euro zusätzlich werden allein im Jahr 2015 zur Verfügung gestellt. Das ist ein Anfang.
Viele haben genauso wie Herr Leutert die mangelhafte Ausrüstung angesprochen. Natürlich ist das ein
Problem; die KPMG-Studie hat das gezeigt. Aber wir
haben dieses Problem erkannt und arbeiten an einer Lösung. Gute Ausrüstung ist wichtig und für viele Soldaten
sogar überlebenswichtig. Attraktiv ist sicherlich all das,
was die Arbeit sicherer macht. Aber wir müssen auch die
Gesamtheit der Soldaten im Blick haben und darauf achten, dass sie einsatzfähig und motiviert sind, die Arbeit
gut und gewissenhaft zu erledigen.
Der Kollege Fritz Felgentreu hat eben darauf hingewiesen, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Freiwilligenarmee handelt. Das heißt, niemand muss mehr
Dienst tun. Oft wird gesagt, dass die Bundeswehr die
Besten haben will. Ich will diesen Bogen weiter spannen. Ich möchte gerne auch diejenigen für die Bundeswehr gewinnen, die sozial kompetent, teamfähig und
verantwortungsvoll sind; gerade angesichts vieler komplexer Tätigkeiten bei der Bundeswehr.
({2})
Wir brauchen qualifizierte Leute, die mit komplizierter
Technik umgehen können. Damit stehen wir in Konkurrenz zu vielen Großunternehmen. Die Wirtschaft und das
Handwerk suchen händeringend Leute. Der vieldiskutierte Fachkräftemangel macht auch vor der Bundeswehr
nicht halt. Ich habe an der Schule meines Sohnes erlebt,
dass die Unternehmen durch gezielte Kooperation mit
der Schule die Schüler, die als Leistungskurs Informatik
belegt haben oder gute Noten in naturwissenschaftlichen
Fächern haben, mit attraktiven Angeboten regelrecht abfischen. Wenn die Bundeswehr hier nicht mit dem Rücken zur Wand stehen will, muss sie sich warm anziehen
und sich bewegen. Die entsprechenden Maßnahmen
dazu haben Sie mit der Attraktivitätsoffensive auf den
Weg gebracht. Danke, Frau Ministerin.
({3})
An den Berufsberatungstagen stehen die jungen Leute
Schlange am sogenannten Karrierebus. Aber wir müssen
auch erreichen, dass sie bei der Bundeswehr bleiben. Sie
bleiben dann, wenn die Bundeswehr attraktiv ist. Darum
müssen wir uns kümmern. Wir verlangen viel von den
Soldaten. Daher verlange ich, dass die Soldaten die bestmöglichen Rahmenbedingungen bekommen. Dafür werden wir mit dem nun zur Beratung anstehenden Gesetz
sorgen.
In der Presse ist oft von maroden Unterkünften und
Überbelegungen die Rede. Ist das attraktiv für junge
Leute? Ich glaube, eher weniger. Deswegen war es richtig, dass Sie, Frau Ministerin, gesagt haben: Wir nehmen
nun Geld in die Hand. - Von den insgesamt 3 000 Unterkünften werden erst einmal 500 geschlossen. 800 Sofortmaßnahmen sind bereits abgeschlossen. Das heißt, es
geht aufwärts. Das gigantische Schiff Bundeswehr in der
Fläche zu bewegen, ist sicherlich kein einfacher Job.
Aber ich bin sicher, dass Sie, Frau Ministerin, das schaffen werden. Sie haben gesagt, dass Sie mit Hochdruck
daran arbeiten, und auf Ihre Aussage ist Verlass.
({4})
Ist es attraktiv, jedes Wochenende Hunderte Kilometer zu pendeln und in der Regel fernab von der Familie
zu leben? Nein, das ist es nicht. Ist es attraktiv, die Freizeit nicht mehr richtig planen zu können? Nein, das ist es
nicht. Laut der 2013 veröffentlichten Studie über die Attraktivität der Mannschaftslaufbahnen lehnen viele junge
Leute unregelmäßige Arbeitszeiten ab und möchten
mehr Zeit für die Familie haben. Mit den 29 untergesetzlichen Maßnahmen der „Agenda Attraktivität“, die dazu
dienen, Verlässlichkeit und Planbarkeit für die Soldaten
zu schaffen, und den im Artikelgesetz aufgeführten
22 Maßnahmen wird es uns gelingen, mehr Nachwuchs
für die Bundeswehr zu rekrutieren.
Wie ich sehe, habe ich mich zeitlich verkalkuliert.
Deshalb muss ich meinen Redebeitrag radikal kürzen.
Nur noch so viel: Es gibt etwas, was nur die Bundeswehr
lebt. Das ist Kameradschaft. Das finden Sie in kaum einem anderen Unternehmen. Als ich im Mai letzten Jahres in Masar-i-Scharif war, habe ich mit den Soldaten
und vor allem mit den Soldatinnen gesprochen. Eine
Soldatin hat mir auf meine Frage, warum sie bei der
Bundeswehr sei, geantwortet: „Kameradschaft im Einsatz so wie hier finden Sie nirgendwo anders!“ Hier ist
die Bundeswehr einmalig.
Vielen Dank.
({5})
Ein ermutigendes Beispiel dafür, dass ein Debattenbeitrag auch durch radikale Kürzung des Manuskripts
nicht an Wirkung verlieren muss.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hitschler für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die öffentliche Aufmerksamkeit für sicherheits- und verteidigungspolitische Themen hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Die dramatischen
Veränderungen im Weltgeschehen und die Frage nach
unserer eigenen Rolle und Verantwortung auf der einen
Seite sowie der Zustand der Ausrüstung unserer Truppe
auf der anderen Seite haben für viel Aufsehen gesorgt.
Die Vielzahl der Bilder und Karikaturen mit sicherheitspolitischen Themen in unseren Zeitungen ist ein Indikator für die gesteigerte Aufmerksamkeit. Das wurde
mir gerade in dieser Woche bei der Veranstaltung „Rückblende 2014“ in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz
deutlich vor Augen geführt. In einer zentral platzierten
Karikatur hüpft beispielsweise ein junger Soldat händeklatschend durch eine Waldorfkaserne und freut sich darüber, dass dort gesungen, geklatscht und gebastelt wird.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Reformpädagogischen Ansätzen stehe ich prinzipiell offen und positiv
gegenüber, aber Karikaturen überspitzen natürlich. Gerade in diesen Tagen muss man unterstreichen: Das dürfen, müssen und sollen sie auch. Das Bild der Waldorfkaserne spiegelt aber auch wider, wie überspitzt und
manchmal auch etwas schief die Debatte über die Attraktivität der Bundeswehr in der Öffentlichkeit geführt
wird. Die etwas abschätzig gemeinte Vokabel der Wohlfühltruppe ist von der Waldorfkaserne so weit nicht entfernt. Sie unterstreicht das bei vielen noch vorherrschende Bild: Der Soldat wärmt sich am Eisblock.
Damit verbunden ist die Unterstellung, die Attraktivität der Bundeswehr sei ein weiches Thema und in der
harten Welt der Verteidigungspolitik damit eher unwichtig. Das Gegenteil ist der Fall. Wir können den alten und
neuen Herausforderungen der Sicherheitspolitik nur begegnen, wenn wir unsere Truppe bestmöglich aufstellen.
Angesichts des demografischen Wandels, des Fachkräftemangels und der starken Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist es absolut essenziell, dass die Bundeswehr als
attraktiver und moderner Arbeitgeber wahrgenommen
wird.
({0})
Die Attraktivitätsoffensive ist für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr von enormer Bedeutung. Das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz, über das wir
heute beraten, ist ein zentraler und auch ein wichtiger
Baustein in dieser Offensive, aber auch nicht der letzte
und einzige. Die Verbesserungen im Zulagewesen und
bei der Besoldung, bei den Dienstzeitregelungen und im
Versorgungsrecht sind absolut zu begrüßen. Das wurde
heute eigentlich von allen verdeutlicht. Aber die Attraktivität hört da noch lange nicht auf.
Wir haben in den letzten Monaten auch einiges von
Flachbildschirmen, W-LAN und Kühlschränken gehört.
Von einigen „Eisblockwärmern“ wurden diese Vorschläge zwar belächelt, dennoch sind auch das sinnvolle
Maßnahmen, wenn wir im Konkurrenzkampf um die
besten Köpfe bestehen wollen. Aber eines muss man
hier auch unterstreichen: Das alles ist nichts wert, wenn
einem gleichzeitig die Bude unter den Füßen wegschimmelt.
Im Jahresbericht des Wehrbeauftragten nimmt der Zustand vieler Kasernen erneut eine zentrale Stelle ein.
Kein Wunder; denn fast die Hälfte der Unterkünfte gilt
als marode. Beinahe jede zehnte Kaserne gilt als unbewohnbar. Meinen herzlichen Dank für diesen schonungslosen Bericht, lieber Herr Königshaus, er hilft auch
uns in der Politik sehr weiter.
({1})
Wenn es schon am Fundament bröckelt, dann muss
man deutlich mehr für die Attraktivität machen, als nur
die Fassaden zu streichen. Gerade in Westdeutschland
schieben wir einen enormen Sanierungsstau vor uns her.
Das konnte ich bei meiner Sommertour selbst an vielen
Bundeswehrstandorten beobachten. Ein konkretes Beispiel bildet dabei die General-Sponeck-Kaserne in Germersheim, eine Kaserne mit den besten Voraussetzungen
dafür, ein Paradebeispiel für eine attraktive Bundeswehr
zu sein - und das nicht nur, weil sie im schönsten Wahlkreis der Republik liegt.
({2})
- Zustimmung vom Kollegen Lindner, vollkommen zu
Recht.
Die General-Sponeck-Kaserne beherbergt das mittlerweile einzige Ausbildungsbataillon unserer Luftwaffe
und gilt als deren Visitenkarte; denn dort werden die Soldatinnen und Soldaten der Luftwaffe auf Auslandseinsätze vorbereitet. Eine tolle Truppe und ein motivierter
Kommandeur leisten vor Ort eine Spitzenarbeit. Aber
auch dieses Aushängeschild hat mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie viele andere Kasernen auch: marode Gebäude, Baumängel und enorme Verzögerungen
bei den Sanierungsmaßnahmen.
Um den einfachen Antworten gleich einmal eines entgegenzuhalten: Am Geld allein liegt das nicht. 61 Millionen Euro an Bundesmitteln stehen für die Baumaßnahmen bereit, weitere 4 Millionen Euro für kleinere
Baumaßnahmen. Aber die Umsetzung geht nur schleppend voran. Woran liegt das? Für den Neubau müssen
einige Gebäude abgerissen werden. Dort waren aber bis
vor kurzem noch Soldatinnen und Soldaten untergebracht. Der Bau eines Wohngebäudes, das übergangsweise als Ausweichquartier dienen sollte, hat sich jedoch
massiv verzögert und konnte erst jetzt, nach fast fünf
Jahren Bauzeit, übergeben werden. Fünf Jahre, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
Gleich zwei Baufirmen sind in dieser Zeit bankrottgegangen. Alle Folgeprojekte haben sich entsprechend mit
verzögert und aufgestaut. Wie auch bei den vielen Mängeln in der Rüstung lässt sich also auch hier feststellen:
Es fehlt nicht unbedingt am Geld, sondern an verlässlicher Planung und gutem Management. Wer genau wann
wo was verbockt hat, halte ich dabei erst einmal für
zweitrangig. Die Truppe interessiert sich nämlich nicht
dafür, wer gerade wem den Schwarzen Peter zusteckt.
Sie wollen, dass ihre maroden Kasernen endlich saniert
werden.
({3})
Auf unsere Initiative hin haben wir deshalb im letzten
Haushalt beschlossen, dass das Verteidigungsministerium dem Parlament jährlich Fortschrittsberichte über
die Sanierung der einzelnen Liegenschaften zu übersenden hat. Darauf werden wir jetzt auch pochen.
({4})
Wir brauchen nämlich keinen blinden Aktionismus,
sondern verlässliche Analysen als Grundlage einer besseren Planung. Wir brauchen mehr Transparenz, aber
auch Planungssicherheit. Dazu ist eine engere Abstimmung mit den zuständigen Baubehörden der Bundesländer nötig. Darüber hinaus braucht es weitere konkrete
Maßnahmen. Ein zentrales Projektcontrolling soll Risikomanagement, Terminplanung und Kostenkontrolle
vereinen. Die einzelnen Verfahren sollten transparenter
und einfacher gemacht werden. Ich meine, Bürokratieabbau könnte gerade in diesem Bereich einiges erleichtern.
Mir leuchtet beispielsweise nicht ein, warum Kleinstaufträge nicht auch unkompliziert von der Truppe vor
Ort bearbeitet werden können. Gerade die kleinen und
kleinsten Aufträge müssen besser gebündelt werden, damit es an zentralen Stellen der Planungsverfahren nicht
zu Verstopfungen kommt.
Punktuell sind auch personelle Verstärkungen zu prüfen. Das gilt sowohl für die Landesbaubehörden als auch
im militärischen Infrastrukturbereich auf Bundesebene.
Der in der letzten Legislaturperiode beschlossene Abbau
von Personal im Zuge der Neuausrichtung machte sich
gerade im Sanierungsstau bemerkbar, und darunter leiden am Ende alle.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle unsere Aufforderung aus dem Haushaltsantrag an das Ministerium erneuern: Erhöhen Sie die Stehzeiten für die Infrastrukturoffiziere vor Ort. Denn nur, wo eine echte Baubegleitung
der Maßnahmen möglich ist, kann am Ende auch effektiv gebaut werden.
({5})
Wir brauchen gleichzeitig in den zentralen Bereichen
zusätzliches Personal für die Infrastrukturbearbeitung;
denn nur so kann der unsägliche Sanierungsstau abgebaut und aufgelöst werden. „Überbelegung von Stuben,
Rost- und Schimmelbefall, Kloakengeruch und im
Winter defekte Heizkörper in Sanitärbereichen“, diese
Punkte bezeichnet der Jahresbericht 2014 des Wehrbeauftragten als exemplarisch für die vernachlässigte Infrastruktur. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gleicht
kein noch so großer Flachbildschirm aus.
Wenn wir also über die Attraktivität der Bundeswehr
sprechen, dann sind wir mit dem heutigen Gesetz noch
lange nicht am Ziel. Es ist noch ein langer Weg, ein Weg,
den wir aber gehen müssen. Wir schicken unsere Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze, bei denen
sie nicht weniger riskieren als ihr Leben. Es liegt in
unserer Verantwortung, dass sie ordentlich vorbereitet,
ausgerüstet und versorgt werden. Es liegt in unserer Verantwortung, dass sie hier bei uns in ordentlichen und
modernen Unterkünften untergebracht werden. Wenn
wir diese Verantwortung nicht ernst nehmen, müssen wir
über mehr Verantwortung in der Welt gar nicht erst reden.
Sei es bei der Ausrüstung, sei es bei den Kasernen, sei
es bei den Themen, die wir nun mit dem Attraktivitätsgesetz konkret anpacken - ich ermutige uns alle: Lassen
wir uns nicht von etwas Spott und Häme über Wohlfühltruppen und Waldorfkasernen davon abbringen. Denn
dafür ist dieses Thema viel zu wichtig.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Julia Obermeier für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder andere. Der Dienst in den Streitkräften ist fordernd, außergewöhnlich und manchmal lebensgefährlich. Ob Piloten
von Kampfjets, U-Boot-Fahrer, Scharfschützen, Instandsetzungsfeldwebel, Flugzeugmechaniker oder Sanitäter,
alle Angehörigen der Bundeswehr haben den Auftrag,
uns und unser Land zu verteidigen. Diese für die äußere
Sicherheit unseres Staates wesentliche Aufgabe legen
wir Tag für Tag in ihre Hände.
Ich habe die Bundeswehr bei vielen Truppenbesuchen
erlebt. Vor allem im Ausland wurde mir deutlich vor Augen geführt, welch herausragende Leistungen unsere
Frauen und Männer in Uniform bei der Erfüllung ihres
Dienstes erbringen.
Die Attraktivität dieses einzigartigen Berufs fußt gleichermaßen auf zwei Säulen:
Die erste Säule sind gutes Gerät, Material und Ausrüstung. Auch wenn die Industrie nicht immer liefert:
Unser Anspruch ist und bleibt bestes und modernstes
Gerät für unsere Bundeswehr. Deshalb streben wir auch
eine moderate Erhöhung des Wehretats und die richtige
Balance zwischen investiven Ausgaben und Betriebskosten an.
Damit eine Mission erfüllt werden kann, braucht man
aber mehr als das richtige Gerät; es kommt vor allem auf
die Menschen an. Damit kommen wir zur zweiten Säule,
zu den attraktiven Arbeitsbedingungen. Genau hier setzt
die Attraktivitätsoffensive unserer Ministerin an. Diese
Initiative kommt zum rechten Zeitpunkt: 2015 wird die
Umsetzung der Bundeswehrreform für die Truppe immer greifbarer. Der erste Schritt der Offensive war die
Agenda „Bundeswehr in Führung - Aktiv. Attraktiv. Anders.“ mit wichtigen Maßnahmen wie modernen Arbeitszeitmodellen, Angeboten zur Kinderbetreuung und
modernen Unterkünften.
Das Gesetzesvorhaben, über das wir heute beraten,
stellt den zweiten Schritt der Attraktivitätsoffensive dar
und umfasst die Teilbereiche: bessere Arbeitsbedingungen, attraktive Vergütung und bessere soziale Absicherung der Angehörigen der Bundeswehr. Zu den insgesamt
22 Maßnahmen gehören zum Beispiel eine Erhöhung
des Wehrsolds, eine deutliche Steigerung bei Zulagen für
besonders fordernde Aufgaben oder neue Teilzeitbeschäftigungsmodelle, um die Vereinbarkeit von Dienst
und Familie zu verbessern.
Wir brauchen dieses Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz, damit einer der größten öffentlichen Arbeitgeber Deutschlands auch künftig seinen hohen Personalbedarf
decken kann. Wie der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes, André Wüstner, richtig festgestellt hat, ist
der Gesetzentwurf zentral, um qualifizierten Nachwuchs
für die Truppe zu gewinnen. An dieser Stelle möchte ich
dem BundeswehrVerband noch einmal herzlich für seinen vielfältigen Einsatz für die Soldatinnen und Soldaten
danken.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf lässt keinen Zweifel:
Wir befinden uns hier auf dem richtigen Weg, auch wenn
noch nicht alles erreicht ist, was im Koalitionsvertrag
steht. Wir werden uns auf alle Fälle auch weiterhin für
eine Steigerung der Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr einsetzen. Aus zahlreichen Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten weiß ich um Wünsche nach weiteren Verbesserungen beim Versorgungsausgleich oder
bei der nachträglichen Versicherung von Soldaten auf
Zeit.
Ich hoffe, dass wir in den nun beginnenden parlamentarischen Beratungen noch die eine oder andere Verbesserung umsetzen können, zum Beispiel im Bereich des
Berufsförderungsdienstes oder bei der Stichtagsregelung
für die Entschädigung bei Einsatzunfällen. Konkret
würde ich mir hier eine Rückdatierung auf 1991 wünschen, sodass auch der Einsatz in Kambodscha abgedeckt ist.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind mit einem
hohen Risiko für unsere Soldatinnen und Soldaten behaftet. Deshalb setzen wir uns besonders für eine weitere
Verbesserung der Versorgung von Einsatzgeschädigten
und Hinterbliebenen ein, auch wenn die Fälle möglicherweise weit in der Vergangenheit liegen.
Die Würdigung der Arbeit unserer Soldatinnen und
Soldaten liegt mir ganz besonders am Herzen. Sie nehmen für unser Land eine schwere Belastung auf sich. Ihr
Einsatz für unser Vaterland verdient unser aller Anerkennung und unser aller Respekt.
({1})
Wir Parlamentarier - insbesondere spreche ich hier für
meine CDU/CSU-Fraktion - stehen an der Seite unserer
Streitkräfte.
({2})
Das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz ist
ein wichtiger Beitrag, um diese Leistung der Soldatinnen
und Soldaten anzuerkennen. Ich danke unserer Verteidigungsministerin für diese wichtige Initiative und freue
mich auf die weiteren parlamentarischen Beratungen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Oswin Veith, auch für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten auf der Besuchertribüne! Zum Schluss der Debatte will ich noch einmal daran erinnern: Vor knapp sechs Monaten haben Sie,
Frau Bundesministerin von der Leyen, Ihren Anspruch
formuliert, die Bundeswehr zu einem der attraktivsten
Arbeitgeber in Deutschland zu machen. Von vielen
damals belächelt, lassen Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf im Rekordtempo Taten folgen. Das ist vorbildlich und zeigt den hohen Stellenwert und die Wertschätzung der Leistungen unserer Soldatinnen und
Soldaten, und das begrüße ich und begrüßt meine Fraktion außerordentlich.
({0})
Wenn es denn richtig ist, dass wir eine zukunftssichere
Bundeswehr mit leistungsfähigen, loyalen und hochmotivierten Soldaten wollen, dann ist Ihre Initiative,
Frau Ministerin, genau die richtige zur richtigen Zeit.
Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem Bundesminister des Innern und seinem ganzen Hause, das in
engem Schulterschluss den Gesetzentwurf mit ausgearbeitet hat. In der Tat ist so sehr schnell ein großer Wurf
gelungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Attraktivität darf in
Zeiten des demografischen Wandels keine leere Worthülse sein. Das gilt für den Soldatenberuf ebenso wie für
das Beamtentum und den öffentlichen Dienst insgesamt.
Attraktivität ist konkret, und sie ist auch messbar. Sie
zeigt sich zum Beispiel in Bewerberzahlen oder dem
Image eines Arbeitgebers.
Die Opposition hat heute viel zu diesem Thema gesagt und dabei vieles unnötig schlechtgeredet. Ich will
diesen Worten Zahlen entgegensetzen: Polizei und Bundeswehr sind im aktuellen Schülerbarometer die beliebtesten Arbeitgeber. Bemerkenswert ist dabei, dass die
Bundeswehr bei dieser repräsentativen Umfrage besonders in der Gunst der Mädchen zugelegt hat. Klasse, sage
ich da nur. Darüber hinaus konnte am Anfang dieser Woche ein neuer Rekord mit 11 000 freiwillig Wehrdienstleistenden verzeichnet werden; ein Spitzenwert. Ich
finde, das sind alles erfreuliche Entwicklungen, die zeigen, dass die Richtung stimmt. Das sollte auch die Opposition zur Kenntnis nehmen.
Liebe Opposition, das heißt auch, dass es sich dabei
eben nicht um Zufälle handelt. Vielmehr ist es das Ergebnis der unter Bundesminister de Maizière begonnenen Maßnahmen, die nun von unserer amtierenden
Verteidigungsministerin konkretisiert und intensiviert
werden.
({1})
Viele Details sind bereits von meinen Vorrednern erwähnt worden. Ich möchte im Wesentlichen drei Verbesserungen ansprechen, die ich gerade für die Zeit- und
Berufssoldaten für besonders wichtig erachte. Erstens.
Eine gesetzliche Arbeitszeitregelung klingt für viele Arbeitnehmer selbstverständlich. Für Bundeswehrsoldaten
gibt es sie nicht; noch nicht; denn nun soll sie im Grundbetrieb eingeführt werden. Das klingt zunächst einmal
nicht spektakulär, jedoch verbessert es die Planbarkeit
des Dienstes und trägt damit zur besseren Vereinbarkeit
von Dienst und Privatleben bei.
Zweitens. Auch die Aufhebung der Hinzuverdienstgrenzen ist eine wichtige Maßnahme. Auf Wunsch des
eigenen Dienstherren werden Berufssoldaten im Schnitt
fast acht Jahre früher als Beamte in den Ruhestand versetzt. Das wirkt sich auch auf ihre Versorgungsbezüge
aus. Dabei haben die Soldaten aufgrund der besonderen
Altersgrenzen keine Möglichkeit, ihre Versorgungssituation durch längeres Dienen zu verbessern. Der Gesetzentwurf trägt dem Rechnung und streicht die bestehenden Grenzen für Hinzuverdienst, der in dieser Phase
privatwirtschaftlich erzielt wird. Wir befördern damit
den Leistungswillen und stärken die Möglichkeiten der
Altersversorgung für unsere Berufssoldaten - eine wichtige und richtige Botschaft, wie ich finde.
Drittens. Durch die speziellen Altersgrenzen für Berufssoldatinnen und -soldaten greift im Falle einer Scheidung der Anspruch auf einen Teil der Pension wesentlich
früher als bei den Beamten. Es ist daher richtig, auch beim
Versorgungsausgleich die Altersgrenze auf 61 Jahre anzuheben. Das ist eine Angleichung, die ein Stück mehr Gerechtigkeit bedeutet.
An den von mir vorgebrachten Beispielen wird deutlich: Wir reden hier nicht über Geschenke an die Soldatinnen und Soldaten, sondern über sinnvolle Anpassungen an die Regelungen der übrigen Bundesbeamten und
des öffentlichen Dienstes.
({2})
Daher darf der vorliegende Gesetzentwurf auch nicht als
Zurücksetzung der Beamten missinterpretiert werden;
denn viele der Änderungen zielen auf eine Angleichung
der Rechtslage der Soldaten an Standards, die für unsere
Beamten schon länger gelten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Staatssekretär Gerd Hoofe hat in einem Interview gesagt
- auch die Frau Bundesministerin hat dies heute hier angesprochen -, dass die Attraktivitätsagenda mehr ein
Marathon denn ein Sprint sei. Recht hat er. Und trotzdem
haben die zur Debatte stehenden Maßnahmen eines gemeinsam: Sie können schnell Wirkung entfalten. Ich
freue mich daher, dass wir bereits jetzt einen wichtigen
Baustein zur Attraktivitätssteigerung des Dienstes in der
Bundeswehr beraten können. Für mich ist das jetzt schon
ein gelungenes Werk.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/3697 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall, dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Unter dem Zusatzpunkt 7 kommen wir zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs-
ausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Mehr Gerechtigkeit bei der Ent-
schädigung von Einsatzunfällen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/3126, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/2874 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Antrag-
steller bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst
Drucksache 18/3784
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Bundesgleichstellungsgesetz
({1})
Drucksache 17/4307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Gremienbericht der Bundesregierung
zum Bundesgremienbesetzungsgesetz
({3})
Drucksache 17/4308 ({4})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache wiederum 96 Minuten vorgesehen. Das ist offenkundig unstreitig. Also verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Manuela Schwesig.
({6})
Aber Herr Lammert ist da. Das ist doch auch toll. Ein
Präsident, der zuhört.
({0})
Er ist gelegentlich schon einmal hier. Ich bedanke
mich ausdrücklich für die freundliche Erwähnung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete!
Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
So steht es im Grundgesetz, Artikel 3 Absatz 2 Satz 1.
Die Lebenswirklichkeit sieht anders aus. Frauen haben
im letzten Jahrzehnt den Arbeitsmarkt erobert, aber sie
bekommen immer noch weniger Lohn für die gleiche
Arbeit. Sie kommen trotz bester Ausbildung weniger in
Führungsetagen an. Sie tragen immer noch die Last für
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das muss sich
ändern.
({0})
Im letzten Jahr haben wir drei Gesetze auf den Weg
gebracht, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
für Männer und Frauen zu verbessern. In diesem Jahr beschäftigen wir uns mit den Themen: Beseitigung von
Lohnungerechtigkeit und mehr Frauen in Führungspositionen.
Gut die Hälfte der jungen Menschen, die die Schule
mit der allgemeinen Hochschulreife abschließen, sind
Mädchen. Gut die Hälfte der jungen Menschen, die einen Hochschulabschluss machen, sind Frauen. Im Bildungssystem sind Männer und Frauen auf den ersten
Blick gleichberechtigt: dem Ergebnis nach. Aber nicht in
der Arbeitswelt. Der Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten der 200 größten Unternehmen in Deutschland beträgt 18 Prozent, in den Vorständen nur 5 Prozent. Das
sind die aktuellen Zahlen aus dem Managerinnen-Barometer des DIW.
In Artikel 3 unseres Grundgesetzes heißt es weiter:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
In dieser Verantwortung stehen wir, sehr geehrte Damen
und Herren. Wir müssen dafür sorgen, dass die im
Grundgesetz formulierte Gleichberechtigung von Frauen
und Männern auch tatsächlich in der Lebenswirklichkeit
vorhanden ist.
({1})
In dieser Verantwortung legen der Bundesjustizminister Heiko Maas und ich Ihnen heute einen Gesetzentwurf
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen vor. Dieser Gesetzentwurf
verpflichtet mehr als 100 Unternehmen zu einer festen
Geschlechterquote. Über 3 000 Unternehmen müssen
sich verbindliche Zielvorgaben geben und damit ihre
Unternehmenskultur und die Chancen von Frauen in den
Mittelpunkt rücken.
Darüber hinaus wird dieses Gesetz einen Kulturwandel in der Arbeitswelt einleiten. Wenn es an der Spitze
eines Unternehmens oder an der Spitze der öffentlichen
Verwaltung keine Gleichberechtigung gibt, wer glaubt
dann, dass es im Rest des Unternehmens oder der Verwaltung Gleichberechtigung gibt? Sobald es aber mehr
Frauen in Führungspositionen gibt, werden gleiche
Chancen in Unternehmen und Verwaltungen selbstverständlicher.
Es war immer so, dass sich Frauen Gleichberechtigung hart erkämpfen mussten. Es ist heute immer noch
so. Es ist ein Kampf um Macht, Geld und Einfluss. Das
gibt niemand freiwillig ab.
Schauen wir auf ein Unternehmen der DAX-Gruppe.
Es ist in der Gesundheitswirtschaft tätig und hat im letzten Geschäftsbericht einen Jahresumsatz von 20 Milliarden Euro angegeben. Auf die Anteilseigner entfiel ein
Konzernergebnis von gut 1 Milliarde Euro. Erwirtschaftet wurde dieses Ergebnis von 178 000 Beschäftigten
weltweit, davon 54 000 in Deutschland. Zwei Drittel davon sind Frauen. Das Unternehmen bekennt sich im Lagebericht zur Förderung der Frauen, aber im Vorstand
arbeitet keine einzige Frau; auch im Aufsichtsrat: keine
einzige Frau!
({2})
Obwohl Frauen dieses brillante Ergebnis erarbeitet,
diese Umsätze erwirtschaftet und diese Gewinne erzielt
haben, sind sie nicht dort vertreten, wo über Arbeits- und
Lohnbedingungen entschieden wird. Das ist ungerecht!
Das muss sich ändern!
({3})
Ende November hat eine Frau auf Facebook Folgendes gepostet: „Der Denkfehler der Quoten-Gegner besteht darin, dass sie annehmen, ohne Regelung würden
sich die Qualifiziertesten durchsetzen. Egal ob Mann
oder Frau.“ Das ist auch das Argument des eben beschriebenen Unternehmens, warum es keine Frauenquote will. Die Frau auf Facebook schreibt weiter: „In
der idealen Welt wäre das auch so, aber nachgewiesenermaßen ist das nicht der Fall. Solange die Welt nicht ideal
ist, hilft die Quote.“ Ich finde, die Frau hat recht.
({4})
Solange Gleichberechtigung nicht verwirklicht ist, brauchen wir Gesetze, die sie voranbringen.
Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von
Männern und Frauen an Führungspositionen ist auch ein
Innovationsgesetz. Wer auch heute noch davon spricht,
dass wir damit die Wirtschaft belasten, der sollte sich die
Studien von Unternehmensberatungen angucken, zum
Beispiel die von McKinsey oder dem Karlsruher Institut
für Technologie. Beide sind sich einig: Unternehmen mit
gemischten Führungsteams sind erfolgreicher. Eine
Schweizer Bank hat errechnet, dass sich die Aktienkurse
von Unternehmen mit Frauen im Aufsichtsrat zwischen
2005 und 2011 um 26 Prozent besser entwickelt haben.
Anders gesagt - hier zitiere ich gerne eine Abgeordnete
der CSU, die ihre Zustimmung zur Quote anlässlich der
Berliner Erklärung so begründet hat -: „Manchmal muss
man die Leute zu ihrem Glück zwingen.“
({5})
Die Situation in der Privatwirtschaft unterscheidet
sich nicht groß vom öffentlichen Dienst. Ja, wir haben
im öffentlichen Bereich mehr Frauen in Führungspositionen; das ist angesichts der Zahlen der Wirtschaft aber
nicht wirklich schwierig. Deshalb muss sich auch hier
etwas ändern. Wir werden die Vorschriften, die für die
Wirtschaft gelten, eins zu eins im öffentlichen Bereich
umsetzen. Das, was wir der Wirtschaft vorgeben, müssen wir auch selbst einhalten.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, 1982 war ich sechs Jahre alt und dieses Gebäude
lag für mich hinter einer scheinbar unüberwindbaren
Mauer. Ich wusste damals nichts von meinem Glück,
dass ich ein solches Gesetz einmal durchkämpfen darf.
Ich wusste auch nichts von dem Glück, dass ich einen
toughen Mann, und zwar unseren Justizminister, an der
Seite haben würde, der mir dabei hilft.
1982 hat die damalige Bundesministerin für Jugend,
Familie und Gesundheit, Antje Huber, in Bonn eine
Sachverständigenanhörung zur Situation von Frauen in
der Arbeitswelt organisiert. Diskutiert wurde unter anderem, ob eine Quotierung helfen würde. Seitdem ist viel
passiert: Die Mauer ist niedergerissen worden. Aber die
Teilhabe von Frauen in Führungspositionen hat sich
nicht wirklich verbessert.
Jetzt kommt Bewegung rein. Allein die Diskussion
über den Gesetzentwurf hat dazu geführt, dass sich die
Unternehmen darüber Gedanken machen, wo die Hemmnisse in der Arbeitswelt liegen. Sie fragen sich: Was können wir dafür tun, dass die qualifizierten Frauen, die wir
haben, auch tatsächlich in den Führungsetagen ankommen? - Wer Sorge hat, dass wir diese Frauen nicht
haben, dem sage ich: Es geht ganz konkret um 174 Führungspositionen in Unternehmen. Wir haben 40 Millionen Frauen in Deutschland, und man darf sich auch international umschauen. Ich glaube, das wird zu schaffen
sein.
({7})
Der Kulturwandel, den dieses Gesetz befördern wird,
geht weit über den Geltungsbereich des Gesetzes hinaus.
Das zeigt zum Beispiel der Deutsche Caritasverband, der
nicht direkt von diesem Gesetz betroffen ist, der aber für
sich selbst feststellt: 80 Prozent der Beschäftigten bei
der Caritas sind Frauen - klar, da wird die soziale Arbeit
gemacht; von der Kita bis zum Pflegeheim: Wer macht
den Job? Die Frauen ({8}) -, aber nur 20 Prozent sind in
den Führungsetagen vertreten. Dort, wo über Arbeitsund Lohnbedingungen entschieden wird, sind wenig
Frauen vertreten, obwohl sie die Arbeit machen; genau
wie in der Wirtschaft. Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes sagt dazu: Das muss sich ändern; wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen. - Sie sehen
also: Dieses Gesetz wirkt, bevor es da ist; dieses Gesetz
bewirkt einen Kulturwandel, weit über die Grenzen des
Gesetzes hinaus.
({9})
Ich möchte mich ganz herzlich bei den Frauen und
den Männern bedanken, die über alle Fraktionsgrenzen
hinweg in der letzten Legislaturperiode die Berliner Erklärung formuliert haben. Sie haben sich aufeinander zubewegt und gesagt: Wir wollen etwas bewegen für die
Frauen. - Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, ist von
diesem Geist getragen. Wir haben verschiedene Positionen zusammengebracht, um etwas für die Frauen, für die
Gleichberechtigung in unserem Land zu tun. Ich hoffe,
dass wir in diesem Geist die parlamentarischen Beratungen durchführen werden. Es wurde viele Jahre darüber
diskutiert. Seit 30 Jahren wurde viel gestritten. Jetzt
müssen wir uns auf den Weg machen. Ich freue mich auf
die parlamentarischen Beratungen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Über ein Jahr wird nun schon lauthals und öffentlich über die Frauenquote für die Privatwirtschaft
diskutiert. Es wurde zäh verhandelt, und es gab sage und
schreibe sechs verschiedene Referentenentwürfe. Die
Wirtschaftsvertreter warnten vor unzumutbaren Belastungen für die deutsche Wirtschaft, und Herr Kauder, der
Fraktionschef der CDU/CSU-Fraktion, machte sich auch
noch einen Namen als Obermacho des Deutschen Bundestages, als er Frau Schwesig als weinerlich beschimpfte; dabei hatte Herr Kauder - ich sehe ihn gerade
nicht - wirklich harte Konkurrenz.
({0})
Warum das ganze Geschrei? Warum, um im Bild von
Herrn Kauder zu bleiben, die ganze Heulerei? Ich könnte
auch fragen: Wovor eigentlich die ganze Angst? Ja, es
geht um schätzungsweise 180 Frauen, die von dieser festen Quote profitieren sollen. Sie hören richtig: Es geht
um gerade einmal 180 Frauen in 108 Unternehmen. Wegen dieser kleinen Zahl von Frauen gehen die Union und
die deutsche Wirtschaft seit Monaten auf die Barrikaden.
Ich finde, das ist ein völlig lächerlicher Vorgang.
({1})
Was Sie hier heute vorlegen, Frau Schwesig, das ist
leider keine effektive Frauenquote. Das ist maximal ein
kleines Frauenquötchen, über das sich die Aufregung
und der Widerstand gar nicht gelohnt haben. Mal abgesehen davon, dass diese Frauenquote gar nicht für alle
Unternehmen gelten soll, legen Sie nicht eine Quote von
50 Prozent fest, sondern von gerade einmal 30 Prozent.
Sie soll auch nicht für die Vorstände gelten, sondern lediglich für die Aufsichtsräte. Eine 30-Prozent-Quote, das
ist maximal eine Herausforderung für die CDU/CSUFraktion, die hier im Haus mit 25 Prozent die geringste
Frauenquote hat; aber an diesem niedrigen Niveau dürfen wir uns doch nun wirklich nicht messen lassen.
({2})
Deswegen ist jede Selbstbeweihräucherung bei diesem
Gesetzentwurf völlig fehl angebracht. Das ist kein großer Durchbruch für die Frauen. Das ist bestenfalls ein
Stillstand. Dieser ganze Vorgang belegt für mich, ehrlich
gesagt, nur, dass die Männerbündelei in Deutschlands
Vorstandsetagen und auch in der CDU/CSU-Fraktion
leider immer noch ziemlich gut funktioniert. Das müssen
wir endlich einmal ändern.
({3})
Was soll denn in den anderen 3 500 Unternehmen
passieren? Ja, sie sollen sich Zielgrößen geben, die sie
selbst definieren. Was passiert eigentlich, wenn sie sie
nicht einhalten? Oh, dann passiert gar nichts. Das ist
doch im Kern nichts anderes als eine freiwillige Selbstverpflichtung, die schon in der Vergangenheit nichts,
aber auch gar nichts gebracht hat. Wir können das nicht
akzeptieren.
({4})
Selbst die kleinen Fortschritte, die wir für Frauen in
der Privatwirtschaft erreichen, erkaufen wir uns mit Verschlechterungen für Frauen im öffentlichen Dienst. Hier
gilt jetzt eine 50-Prozent-Quote. Das Problem ist ja nicht
die Quote, sondern die schlechte Umsetzung in der Praxis. Anstatt sich zu überlegen, wie wir das ändern können, wie wir das verbessern können - dazu gibt es kluge
Vorschläge -, hängen Sie einfach die Latte niedriger.
Statt einer Quote von 50 Prozent soll jetzt eine Quote
von nur noch 30 Prozent gelten, um sie in ein paar Jahren wieder auf 45 Prozent anzuheben. Da lobt man sich
eigentlich Frau Merkel, die vor 20 Jahren die 50-Prozent-Quote eingeführt hat. Jetzt wollen wir es wieder abschwächen. Das ist doch völlig absurd. Ich finde, hier
könnte die Kanzlerin ein Machtwort sprechen.
({5})
In der Kritik steht ja auch das Bundesgleichstellungsgesetz, das jetzt - ich finde, ohne Not - in einem Aufwasch mit geändert werden soll, übrigens zum Schlechteren. Bislang galt das Prinzip der Frauenförderung, jetzt
soll es geschlechtsneutral gestaltet werden. Das soll sicherlich schön modern daherkommen: Man ist jetzt nicht
für mehr Frauen, sondern vielleicht für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Man ist vielleicht zur Einschätzung gekommen, dass Feminismus out ist, und hat einen neuen
Begriff erfunden: die Geschlechteransprache. Was sich
für mich wie eine Wortneuschöpfung aus einem Satiremagazin anhört, soll jetzt offiziell in einem Gesetz des
Deutschen Bundestages enthalten sein. Das kann ich einfach nicht glauben.
Wissen Sie: Mehr männliche Grundschullehrer, mehr
Kitaerzieher, das fände ich wirklich richtig gut. Das Problem ist aber nicht, dass Männer bei der Einstellung diskriminiert werden, das Problem ist doch, dass dieser Beruf für Männer offenbar viel zu wenig attraktiv ist.
Deswegen sagen wir als Linke: Verbessern Sie endlich
die Bezahlung in diesen Berufen - dann werden diese
Berufe vielleicht auch für Männer attraktiver -, aber lassen Sie die Finger von der Frauenquote.
({6})
Die Aufstiegschancen für Grundschullehrer sind übrigens ziemlich gut. Denn in den Schulleitungen sind
Männer ja deutlich überrepräsentiert.
Wir fragen uns nach der Notwendigkeit dieser Neuregelung: Frauenquote weg, dafür aber die Geschlechteransprache einführen. Das ist doch wirklich eine Verkennung der Tatsache, dass Frauen in unserer Gesellschaft
immer noch strukturell benachteiligt werden: 20 Prozent
verbeamtete Staatssekretärinnen in den Bundesministerien, 23 Prozent Abteilungsleiterinnen, nur jede fünfte
Professur ist mit einer Frau besetzt. Da fragt Kristin
Rose-Möhring, die Gleichstellungsbeauftragte in Ihrem
Ministerium, Frau Schwesig, völlig zu Recht in einem
Schreiben an uns: Es erschließt sich nicht, warum ein
grundsätzlich gutes Gesetz einem schlechteren weichen
soll. - Mir erschließt es sich auch nicht.
({7})
Um zum Abschluss den Blick von den Führungsetagen wegzulenken, schauen wir uns einmal an, wie es bei
den normalen Beschäftigten aussieht. Seit vielen Jahren
und noch immer verdienen Frauen für die gleiche Arbeit
im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Damit liegt
Deutschland im europäischen Vergleich auf dem drittletzten Platz. Ich finde, in Sachen Gleichstellung ist
Deutschland ein Entwicklungsland. Es wird höchste
Zeit, dass wir das ändern. Mit diesem Gesetzentwurf
wird es nicht gelingen.
({8})
Wir könnten es in diesem Hohen Hause ändern. Die
SPD hat mehr gewollt. Die Grünen wollen mehr. Wir als
Linke wollen sowieso mehr.
({9})
Ich hoffe, ehrlich gesagt, auf ein paar mutige Frauen in
der CDU/CSU-Fraktion. Machen Sie mit! Helfen Sie
uns, diesen Murks zu verändern und zu verbessern, damit am Ende doch noch ein gutes Gesetz dabei herauskommt. Die Frauen in diesem Land hätten es verdient.
Vielen Dank.
({10})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Marcus
Weinberg.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ja, das kennen wir von den Linken: mehr,
mehr, mehr.
({0})
Marcus Weinberg ({1})
Man fragt sich nur, woher. Diese Frage sollten Sie auch
mal beantworten.
({2})
Ich will am Anfang ein Thema aufgreifen, das die
Ministerin skizziert hat: die Idealwelt. Ich mache kein
Geheimnis daraus - ich glaube, das gilt für viele Kolleginnen und Kollegen hier -: Von unserer Überzeugung
her wäre es natürlich das Beste, wir müssten diese Diskussion gar nicht führen,
({3})
weil wir eine Gesellschaft hätten, in der das Geschlecht,
die Herkunft, Frau Künast, und andere Dinge keine
Rolle spielen, eine Gesellschaft, in der das Individuum
mit seinen Kompetenzen, mit seinen Fähigkeiten das
Entscheidende ist
({4})
und in der auch bei der Auswahl in Gesellschaft, Politik
und Wirtschaft nur diese Eigenschaften zählen und nicht
das Geschlecht. Es wird das Ziel des Kulturwandels sein,
den wir herbeiführen wollen, dass wir diese Diskussion
in 10, 15 Jahren nicht mehr führen müssen, weil wir mit
Blick auf die Führungspositionen in der Wirtschaft und
anderswo eine Situation erreicht haben werden, in der
wir strukturell bedingte Benachteiligungen nicht mehr
erleben.
Das Grundgesetz gibt uns eine klare Anweisung. Es
ist unser Auftrag, Artikel 3 des Grundgesetzes Rechnung
zu tragen. Das heißt, der Staat bzw. die Politik hat den
Auftrag, die Gleichberechtigung und ihre Durchsetzung
zu fördern und insbesondere Benachteiligungen zu beseitigen. Dieser Gedanke muss uns in den nächsten Jahren leiten, wenn es um die Individualität des Menschen
und um die Beantwortung der Geschlechterfrage geht.
Dazu zwei Vorbemerkungen:
Erstens. Diese Diskussion führen wir seit vielen Jahren. Es war übrigens die Union, die diese Diskussion
2005 noch einmal angeschoben hat,
({5})
zunächst einmal in dem klaren Verständnis, dass es immer darum gehen muss, dieses Thema gemeinsam mit
den betroffenen Akteuren anzugehen: im Rahmen von
Freiwilligkeit, Appellen und Aufforderungen.
({6})
- Frau Künast, das Prinzip des Dazwischenquatschens
mag bei Ihnen Gültigkeit haben. Wir aber denken, man
sollte erst einmal zuhören, bevor man sich äußert. Daran
sollten auch Sie sich halten.
({7})
Frau Lay, Sie haben zwei Aspekte, die ich gerne aufgreifen möchte, angesprochen. Sie haben die Anzahl der
Abteilungsleiterinnen erwähnt. Da stimme ich Ihnen zu:
Das ist nicht in Ordnung. Sie haben die Anzahl von
Frauen in der mittleren Führungsebene angesprochen,
auch und gerade im Apparat der Verwaltung. Es stimmt:
Da gibt es zu wenige Frauen. Aber ich sage Ihnen auch
eines: 40 Prozent der Regierung - ich verweise nur auf
die Kanzlerin und die Ministerinnen - sind weiblich.
Das heißt, diese Regierung setzt das, was sie fordert, bereits um, und das ist auch gut so.
({8})
Frau Lay, Sie haben uns wieder einmal vorgeworfen
- das sage ich ganz deutlich, weil das Schimpfen auf die
Union nicht nur bei Frau Künast Konjunktur hat -, dass
wir Frauen nicht fördern. Ich will nur daran erinnern:
Die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wird von der CDU gestellt, die erste Verteidigungsministerin der Bundesrepublik Deutschland wird von der
CDU gestellt, und die Landesgruppe der ach so konservativen CSU wird von einer Frau geführt. Darauf sind
wir stolz. Ich glaube, da sind wir auch Vorbild.
({9})
- Frau Künast, es geht auch um Haltung und Stil in diesem Haus.
({10})
In einer neueren Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kam man zu dem Ergebnis
- die Ministerin hat das angesprochen -, dass nach vielen Jahren der Appelle und der Freiwilligkeit in den
200 größten deutschen Unternehmen die Vorstände gerade einmal zu 5 Prozent und die Aufsichtsräte nur zu
18 Prozent mit Frauen besetzt sind. Offensichtlich gilt
für die Politik ebenso wie für die Wirtschaft, dass Frauen
in Toppositionen nicht genauso gut sein müssen wie
Männer, sondern dass sie wesentlich besser sein müssen.
Das entspricht nicht dem Grundgesetz. Dieses Problem
müssen wir angehen. Diese gläserne Decke müssen wir
endlich durchbrechen.
({11})
An zwei Dingen kann das nicht liegen. Das kann erstens nicht an den Kompetenzen und an der Bildung liegen. Denn wir wissen, dass die Frauen in den letzten
Jahren gerade im Bildungs- und im Hochschulbereich
nicht nur aufgeholt, sondern die Männer in weiten Teilen
sogar überholt haben. Wir werden uns mit Blick auf das
Schulsystem mehr Gedanken darüber machen müssen,
wie wir uns um Jungen, die abgehängt sind, kümmern
können.
Wenn Frauenmangel gerade in MINT-Berufen der
Grund dafür wäre, dass in den obersten Etagen von
MINT-Unternehmen keine Frauen vertreten sind, dann
müssten ja wenigstens in den Vorständen und Aufsichtsräten anderer Unternehmen wie Banken oder Versicherungen mehr Frauen vertreten sein. Tatsache ist aber,
dass die Posten in den Chefetagen zu 95 Prozent von
Männern besetzt werden. Wenn man sich die Aufsichtsräte sogenannter MINT-Unternehmen anschaut, dann
stellt man fest, dass die Anzahl der Männer, die eine naturwissenschaftliche Ausbildung haben, sehr überschaubar ist. Es sind auch hier in erster Linie Juristen und
Kaufleute, die diese Positionen besetzen. Was nicht gegen Männer spricht, darf auch nicht als Argument gegen
Frauen missbraucht werden; ich glaube, dieser Grundsatz muss gelten.
Zweitens - auch dies wurde von der Ministerin bereits angesprochen - kann man das Erklärungsmuster
bzw. die Behauptung, dass Frauen aufgrund ihrer familiären Verpflichtungen nicht in Führungspositionen kommen können, relativ schnell empirisch widerlegen. Allein die Tatsache, dass weder Frauen mit Kindern noch
Frauen ohne Kinder in relevanter Zahl in Aufsichtsräten
oder Vorständen vertreten sind, zeigt: An Kindern und
an Zeiten der Kindererziehung kann es nicht liegen.
Schon in den ersten Berufsjahren, in denen viele Beschäftigte noch keine Familie gegründet haben, werden
Männer schneller befördert als Frauen. Nach einer Untersuchung des Hochschul-Informations-Systems HIS
steigen 40 Prozent der Männer, aber nur 24 Prozent der
Frauen schon in den ersten fünf Jahren nach ihrem Universitätsabschluss auf. Fazit: Es gibt keine Benachteiligung, die individuell zu erklären ist. Es gibt aber ein Erklärungsmuster, das auf strukturelle Defizite verweist.
Hier muss die Politik ansetzen. Wir sagen: Nach der Zeit
der Appelle, der Freiwilligkeit und der Flexi-Quote müssen wir nun einen Schritt weiter gehen. Wir nutzen die
Quote, um sie irgendwann überflüssig zu machen.
Worum geht es uns? Ich möchte eines noch einmal
klarstellen: Es geht uns nicht darum, dass schlechter
qualifizierte Frauen gut qualifizierten Männern vorgezogen werden sollten, sondern es geht uns darum, dass
gute, geeignete Frauen die gleichen Chancen bekommen; das ist das Mindeste, was wir garantieren müssen.
({12})
Dafür müssen gute Frauen aber erst einmal sichtbar werden, sie müssen in der Hierarchie von Unternehmen
nach oben kommen, sie müssen ermutigt und aufgefordert werden. Genau diesen Kulturwandel soll der vorliegende Gesetzentwurf bewirken.
Bei „Mehr Frauen in Führungspositionen“ geht es
nicht nur um die Umsetzung des Auftrages des Grundgesetzes und um Gerechtigkeit, sondern auch um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen selbst. Es hat sich
nämlich gezeigt - Studien haben das festgestellt -, dass
gemischte Teams - mit Männern und Frauen - ein höheres Potenzial an Kreativität haben, dass sie erfolgreicher
sind, Unternehmen eher zum Erfolg führen als ausschließlich mit Personen ein und desselben Geschlechts
besetzte Teams.
Wir müssen uns vor Augen führen - auch vor dem
Hintergrund des Fachkräftemangels -, dass es angesichts
der immer besseren, bereits heute exzellenten Ausbildung, Qualifikation von Frauen eine nahezu unglaubliche Ressourcenverschwendung ist, wenn topausgebildete Frauen, die für den Arbeitsmarkt bereitstehen, nicht
auch Topverantwortung übernehmen können; das widerspricht doch allen Grundsätzen guten Unternehmertums.
Da müssen wir rangehen!
Mehr als dreizehn Jahre haben wir darüber diskutiert.
Es gab immer wieder Appelle an die Wirtschaft, auf freiwilliger Basis Frauen zu fördern. Ich glaube, die jetzt
vorliegenden Maßnahmen im Bereich der Privatwirtschaft sind gut und richtig, wobei wir aber auch immer
eines feststellen: Wir werden darauf achten, dass wir
beim Thema Bürokratie nicht das Kind mit dem Bade
ausschütten. Wir sagen ganz klar: Es muss für die Wirtschaft auch machbar und vertretbar sein. Bei der festen
Quote geht es um börsennotierte und mitstimmungspflichtige Unternehmen und bei der flexiblen Zielquote
um börsennotierte oder mitstimmungspflichtige Unternehmen, also um Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern. Ich glaube, dass die gefundenen Regelungen für
diese Unternehmen machbar und tragbar sind, zumal
- das wurde im Koalitionsvertrag beschrieben - Unternehmen in dem Lagebericht nach dem HGB sowieso angeben müssen, wie sie es mit der Frauenförderung halten. In diesem Teil sind wir mit dem Koalitionspartner
einig.
Marcus Weinberg ({13})
Aber - auch das muss eine Zielfunktion sein - Frauenförderung betrifft nicht nur die Privatwirtschaft. Was
wir der Privatwirtschaft vorschreiben wollen, müssen
wir in der öffentlichen Verwaltung selbst erfüllen; sonst
werden wir unglaubwürdig, sonst nimmt man unsere
Ziele nicht ernst. Das heißt, es gibt noch den öffentlichrechtlichen Teil, einmal im Hinblick auf das Bundesgremienbesetzungsgesetz und einmal im Hinblick auf das
Bundesgleichstellungsgesetz. Da sehen wir in der Union
bei der konkreten Ausformulierung noch Bedarf, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, in den schönen
Farben Schwarz-Rot sozusagen, genauer darüber nachzudenken, ob das, was im momentanen Entwurf für das
Bundesgleichstellungsgesetz steht, das Richtige ist; denn
Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes fordert die Beseitigung von Nachteilen für ein Geschlecht. Wenn Frauen
benachteiligt werden, ist Frauenförderung also verfassungsrechtlich gefordert und gerechtfertigt.
Gleiches gilt übrigens auch für Männer, wenn sie in
gewissen Bereichen, nämlich auf Leitungsebene, unterrepräsentiert sind. Dies ist uns eine Verpflichtung.
Der Entwurf des Bundesgleichstellungsgesetzes sieht
für die Bundesverwaltung aber das Ziel der Parität nicht
nur auf Leitungsebene vor, sondern auf allen Ebenen. Da
müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen, wie das in
der Umsetzung funktionieren soll. Parität in der Leitungsebene heißt: Nachteile müssen abgebaut werden.
Aber es kann nicht das Ziel sein, vom Grundsatz der Parität auf allen Ebenen auszugehen. Mit Verlaub, der Sinn
von Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes ist unseres Erachtens die Beseitigung bestehender Nachteile.
Wir halten den Gesetzentwurf, der vorliegt, für richtig. Wir werden nach den Anhörungen in den Ausschüssen die letzten Debatten mit dem Koalitionspartner führen. Wir bleiben hinsichtlich der gesetzlichen Vorgaben
für die Privatwirtschaft insgesamt maßvoll, verlassen
uns aber nicht mehr nur auf reine Freiwilligkeit; nach
vielen Jahren ist diese Zeit jetzt vorbei. Wir sorgen dafür, dass die Bundesgremien und die Bundesverwaltung
mit gutem Beispiel vorangehen; denn diese Regelung ist
tatsächlich an der Zeit.
Ich schließe mit dem, was ich am Anfang gesagt
habe: Es ist unser Idealbild, dass wir über Quoten, Quoren und Sonstiges in dieser Gesellschaft nicht mehr reden müssen, weil alle verstanden haben, dass weder das
Geschlecht noch die Herkunft noch die Rasse, sondern
nur das Individuum zählt. Wenn wir das erreicht haben,
ist das Ziel dieses Gesetzes erfüllt.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Dörner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben in den vergangenen Jahren
hier im Bundestag häufig über die Quote diskutiert, aber
heute sprechen wir erstmals über einen Gesetzentwurf,
der aller Voraussicht nach nicht nur beschlossen werden
wird, sondern auch in Kraft treten wird. Deshalb, finde
ich, ist heute die richtige Gelegenheit, Danke zu sagen
all denen, die jahrelang dafür geackert haben, dass eine
gesetzliche Quote für die Aufsichtsräte jetzt tatsächlich
in greifbarer Nähe ist.
({0})
Das sind allen voran die Frauen von FidAR, aus dem
Verband deutscher Unternehmerinnen, vom Juristinnenbund, von den Business and Professional Women, den
Landfrauen, aber auch von vielen anderen Frauenorganisationen, die jahrelang gesagt haben: Es muss Schluss
damit sein, die Potenziale von Frauen zu vergeuden.
Selbstverpflichtungen nutzen uns nichts; wir brauchen
eine gesetzliche Quote, um die männlichen Monokulturen in den Unternehmen zu knacken. - Ich finde, dieses
jahrelange Engagement hat den Applaus des gesamten
Hauses verdient.
({1})
Ich will mich auch bei meinen jetzigen und auch ehemaligen Kolleginnen hier aus dem Bundestag bedanken.
Von meiner Fraktion will ich dabei insbesondere Ekin
Deligöz und Renate Künast nennen, die gemeinsam mit
den Frauen aus den Verbänden mit der Berliner Erklärung dem Thema Quote so richtigen Drive eingehaucht
haben, weil sie gezeigt haben, dass das Thema nicht das
Thema einer Partei oder einer Fraktion ist, sondern dass
man gewinnen kann, wenn Frauen an einem Strang ziehen.
({2})
Mein Dank gilt auch den Journalistinnen und Journalisten, die 2012 mit ihrem Aufruf „Pro Quote“ deutlich
gemacht haben, dass es auch bei der sogenannten vierten
Gewalt Nachholbedarf beim Thema Gleichstellung gibt;
er gilt auch den klugen Männern, die schon lange wissen, dass Führungsfrauen den Unternehmen guttun, und
die deshalb die Frauen in ihrem Kampf für die Quote unterstützt haben.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir ernten heute
die Früchte jahrelanger Arbeit, und ich möchte an die
Adresse aller, die gesät, begossen, gehegt und gepflegt
haben, sagen: Danke für dieses Wahnsinnsengagement!
({4})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eine 30-ProzentQuote für die Aufsichtsräte, da haben wir durchaus einen
anständigen Spatz in der Hand. Aber Sie wissen, wir
Grünen wollen mehr. Unser Gesetzentwurf fordert eine
Quote von 40 Prozent ein. 40 Prozent wären weiß Gott
keine Taube auf dem Dach, sondern das ist das gute
Recht der Frauen.
({5})
Aber ich will mich bei den 30 Prozent nicht aufhalten.
Schon in der Berliner Erklärung hat es geheißen: 30 Prozent können ein erster Schritt sein.
Was mich aber an dem Regierungsentwurf wirklich
stört und was leider zeigt, dass Frau Schwesig doch auf
einer Schnecke reitet, ist, dass die 30-Prozent-Quote gerade einmal für mickrige 108 Unternehmen gelten soll.
Die Quote nur für börsennotierte und mitbestimmte Unternehmen, das ist uns Grünen definitiv zu wenig.
({6})
Wer wirklich will, dass sich für die Frauen etwas ändert
und dass die Quote ausstrahlt, der muss die rund 3 500 börsennotierten oder mitbestimmungspflichtigen Unternehmen mit ins Boot holen. Das wollen wir.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will aber auch
einen Blick auf das Bundesgremienbesetzungsgesetz
werfen, also auf die Führungspositionen in den öffentlichen Unternehmen. Da klingen mir noch die vielen Reden von Frau Schwesig im Ohr nach dem Motto: Die öffentlichen Unternehmen müssen mit gutem Beispiel
vorangehen. - Wie sieht es denn bei den öffentlichen
Unternehmen aus? Da gibt es schon seit 1994 - eingeführt von der damaligen Frauenministerin Angela
Merkel - eine ganz klare Regelung: Vorstände, Beiräte,
Verwaltungs- und Aufsichtsräte müssen paritätisch besetzt sein. Das ist also quasi eine 50-Prozent-Quote. Umgesetzt ist die nicht. Die Nichteinhaltung hat keinerlei
Konsequenzen - eben mit der Folge, dass der Frauenanteil in den Aufsichtsgremien gerade einmal bei 25 Prozent liegt. Klar ist: Hier muss sich etwas ändern.
Nun passiert aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf etwas ziemlich Absonderliches. Es werden nämlich
nicht etwa Maßnahmen implementiert, um eine paritätische Besetzung zu gewährleisten und damit das bestehende Gesetz wirklich einzuhalten, nein, die geforderte
Quote wird zunächst auf 30 Prozent abgesenkt und damit einfach - salopp gesagt - der Realität angepasst. Von
einer Vorreiterrolle kann hier tatsächlich keine Rede
sein.
({7})
Was das Thema Vorbild angeht, erlaube ich mir einen
kleinen Exkurs. Wie sieht es denn mit der Bundesregierung aus?
({8})
Ich habe im vergangenen Herbst abgefragt, wie die Führungsjobs in den Ministerien seit der Bundestagswahl
vergeben wurden. Die Antwort: Gerade einmal ein Viertel aller Führungsjobs ging an Frauen, und bei den neu
eingestellten beamteten Staatssekretären sind es gerade
einmal 3 von 18.
Liebe Bundesregierung, ich finde das wirklich peinlich. Wer Frauen in Führungspositionen fördern will, der
muss sich auch an die eigene Nase fassen.
({9})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, so schön es ist,
endlich eine gesetzliche Quote zu bekommen, so schade
ist es, dass der vorliegende Gesetzentwurf eine ganze
Reihe Pferdefüße hat. Dazu gehören auch die Änderungen am Bundesgleichstellungsgesetz, über die die
Gleichstellungsbeauftragten sagen: Lieber keine Änderung als die jetzt geplanten Verschlimmbesserungen. Das sehen wir Grünen auch so.
({10})
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das wird mit diesem Gesetzentwurf sehr deutlich. Wir werden die Diskussion dazu in den kommenden Wochen vertiefen, und
ich freue mich auf die Beratungen.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich über die
schöne Debattenzeit, die wir dieses Mal haben. Weder
als Rechtspolitiker noch als Frauenpolitiker sind wir es
gewöhnt, hier am Freitagmorgen zur besten Sendezeit zu
debattieren.
Ich freue mich auch über die Reihenfolge der Themen. Beim ersten Tagesordnungspunkt haben wir heute
über die Personalpolitik der Bundeswehr gesprochen,
und jetzt sprechen wir über Frauenförderung mit Blick
auf Führungspositionen. Früher hätte man gedacht: Größer kann der Gegensatz gar nicht sein: zuerst die Männerdomäne, dann die Frauenpolitik. Heute reicht ein
Blick ins Ministerium, in die Truppe und auf das, was
sich das Ministerium vornimmt, damit die Bundeswehr
weiterhin attraktiv ist, um zu wissen, dass auch hier eine
andere Zeit angebrochen ist und dass beides zusammenhängt, dass nämlich Frauen auch Führungspositionen in
vermeintlichen Männerdomänen einnehmen können.
Das ist ein gutes Zeichen auch für das Thema, das wir
jetzt debattieren.
({0})
Es geht um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen
und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst. Es ist gut, dass beides
in einem Atemzug genannt wird. Der Privatwirtschaft
wird vorgegeben, wie sie zu handeln hat. Mit dem, was
ihrer unmittelbaren Einflussnahme unterliegt, müssen
der öffentliche Dienst und die Politik der Privatwirtschaft das vorleben. Für die Privatwirtschaft geht es dabei vor allem um die Geschlechterquote. Herzstück ist
die Regelung, dass wir für die Zukunft einen Mindestanteil von 30 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten der
größten Unternehmen in Deutschland vorschreiben werden.
Heute setzen wir eine lange Debatte fort; wir haben
sie schon mehrfach geführt. Ich selber habe auch schon
oft dazu gesprochen, und ich hätte eigentlich nur eine
frühere Rede wieder hervorziehen müssen, um sie hier
zu halten; denn vieles ist genauso aktuell und wahr wie
in den vergangenen Jahren. Ich glaube, wenn man sich
die Debattenbeiträge hier angehört hat, dann wird klar,
dass wir uns in dieser Analyse einig sind.
Es ist aber eben nicht nur ein bloßes Déjà-vu, sondern
jetzt liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor.
Das ist der ganz entscheidende Unterschied; denn dieser
Gesetzentwurf, der heute hier vorgelegt wird, hat wirklich sehr gute Aussichten, in Deutschland Realität und
geltendes Recht zu werden und die Wirklichkeit zu verändern.
({1})
Meine Kollegin Katja Dörner hat den vielen Verbänden und den Protagonistinnen, die das in den vergangenen Jahren mitbewirkt haben, schon gedankt. Eine Person ist aber vergessen worden; diese möchte ich hier
noch einmal ausdrücklich nennen: Unsere frühere Kollegin Rita Pawelski hat sich in dieser Diskussion wirklich
verdient gemacht und immer wieder dafür gesorgt, dass
das Thema auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das ist,
denke ich, einen Applaus wert.
({2})
Falls du uns zuguckst: Viele Grüße von dieser Stelle aus,
Rita.
Der Gesetzentwurf hat auch deshalb gute Chancen,
Realität zu werden, weil wir es mit wirklich ausgewogenen Regelungen zu tun haben, die wir schon im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Sie werden die Wirkung
haben, in dem Bereich, für den sie formuliert worden
sind, etwas zu verändern - aber auch weit darüber hinaus. Sie haben eine Ausstrahlungskraft in die gesamte
Wirtschaft und auch in die Gesellschaft hinein. Das ist
ein Feld mit sehr hoher symbolischer Bedeutung für
Frauen und Mädchen, und das wird auch darüber hinaus
wirken. Auf der anderen Seite werden wir mit dieser Regelung nicht übers Ziel hinausschießen, sonst wäre sie
ein unverhältnismäßiger Eingriff und damit auch verfassungswidrig. Das schließen wir mit dieser Regelung, die
wir heute beraten, aus.
Mit dieser Regelung werden Frauen mehr gerechte
Chancen eingeräumt, aber es werden auch nicht zu hohe
Hürden errichtet, die dann wieder nur die Akzeptanz behindern würden und in Einzelfällen ein Scheitern provozieren könnten. Das würde uns allen auf die Füße fallen.
Man kann hier fast von einem Meilenstein sprechen,
etwa in einer Reihe mit der Einführung des Wahlrechts
für Frauen, mit Artikel 3 des Grundgesetzes und vielen
anderen Gesetzen, die in diesem Zusammenhang verändert worden sind. In ein paar Jahren werden wir uns im
Rückblick fragen: Wo war eigentlich das Problem?
Wieso haben wir das nicht schon längst gemacht?
({3})
- Genau. - Was hat uns davon abgehalten, das früher zu
machen?
Vor allem aber ist diese Regelung aus meiner Sicht in
einem Punkt mit diesen Meilensteinen gleichzusetzen:
Neu ist nämlich, dass wir den Verfassungsauftrag aus
Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes „Der Staat fördert
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin“ zum ersten Mal explizit auch
in der Privatwirtschaft umsetzen. Im öffentlichen Dienst
haben wir längst die positive Gleichstellung. In der Privatwirtschaft ist es neu, dass nicht nur gesetzliche Hürden abgebaut werden, sondern dass wir mittels einer gesetzlichen Regelung hindernde faktische Strukturen
abbauen, dass wir die Closed Shops in den Führungsgremien endlich öffnen, sodass das Prinzip der Bestenauslese endlich Platz greifen kann.
Es geht hier nicht nur um Gleichberechtigung, sondern es geht auch darum, dass die Wirtschaft von mehr
Frauen in Führungspositionen profitiert. Es ist ein Vorteil für die Wirtschaft selbst, wenn unterschiedliche Lebenserfahrungen eingebracht werden, wenn nicht alle
den gleichen Hintergrund, die gleiche Meinung und die
gleiche Denke haben.
Ein gutes und aktuelles Beispiel - leider nicht aus
Deutschland, sondern aus den Vereinigten Staaten - ist
Mary Barra. Sie ist die erste Frau an der Spitze eines Automobilkonzerns, bei General Motors. Eine ihrer ersten
Maßnahmen war es, sich eines technischen Problems anzunehmen, das bei General Motors zehn Jahre lang unter
der Decke gehalten worden war. Es geht um defekte
Zündschlösser, die teilweise von alleine in die Aus-Position springen, was auch schon zu Unfällen geführt hat.
Man hat das immer unter der Decke gehalten, statt das
Problem offensiv anzugehen.
Mary Barra hatte den Mut, dieses Problem transparent
zu machen und es offensiv anzugehen. Sie hat die Autos
in die Werkstatt zurückrufen lassen. Sie hat dazu gestanden und sich entschuldigt. Sie hat es damit geschafft,
Vertrauen für ihren Konzern zurückzugewinnen. Dieses
Verhalten hat dem Konzern nicht geschadet. Ganz im
Gegenteil: Die Absatzzahlen sind sogar in die Höhe gegangen. Sie ist an das Problem anders herangegangen,
als es vorher mit den etablierten Führungsstrukturen
möglich war.
({4})
- Ich denke, das ist einen Applaus wert.
Die nackten Zahlen sind hier schon mehrfach genannt
worden. Das DIW hat uns gerade rechtzeitig zu dieser
Debatte frische Zahlen geliefert. Nur 5 Prozent in den
Vorständen der 200 größten Unternehmen sind Frauen,
also 95 Prozent Männer. In den Aufsichtsräten ist das
Verhältnis 18 Prozent Frauen zu 82 Prozent Männern.
Das Verhältnis ist in der Bundesverwaltung tendenziell
besser, aber auch noch nicht wirklich überzeugend. In
den obersten Bundesbehörden sind 27 Prozent Frauen in
Führungspositionen, im nachgeordneten Bereich 21 Prozent. Also ist das Verhältnis Pi mal Daumen ein Viertel
zu drei Viertel.
Die Erklärungsversuche dafür sind heute genauso unzureichend, wie sie es auch in den vergangenen Jahren
waren. Es wird immer wieder gesagt: Frauen sind in den
MINT-Berufen nicht so stark vertreten. - Frauen sind
aber genauso stark in den Berufen vertreten, auf die es
letztendlich zumeist ankommt: in den juristischen Ausbildungsgängen und in den wirtschaftlichen Ausbildungsgängen, BWL und VWL. Diese Ausbildungsgänge
vor allem haben diejenigen durchlaufen, die in den Aufsichtsgremien sitzen. Hier gibt es keinen Grund, zu sagen, dass Frauen weniger qualifiziert seien.
Aber eines ist auch klar: Was wir hier verbindlich vorschreiben, ist schon ein Eingriff in die Eigentumsposition der Anteilseigner. Sie müssen sich demnächst bei
Ihrer Personalauswahl auf die verbindliche Berücksichtigung beider Geschlechter einlassen. Wenn Sie das nicht
tun, dann ist die quotenwidrige Besetzung nichtig; dann
bleibt der Stuhl leer. Das ist zwar eine gravierende
Folge, aber anders geht es nicht. Das, was wir ins Gesetzblatt bringen, ist notwendig.
Was den zeitlichen Ablauf angeht, sind seit der freiwilligen Vereinbarung der Wirtschaft mit Kanzler
Schröder bis heute 14 Jahre vergangen. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes im nächsten Jahr werden es 15 Jahre
sein. Viele werden erst im Jahr 2018 einen neuen Aufsichtsrat wählen. Wer es bis dahin nicht geschafft hat,
genügend Frauen für seine Führungspositionen zu finden, der muss die Schuld eher bei sich selber suchen als
in einer gesetzlichen Regelung.
({5})
Wir haben auch immer gesagt, dass 30 Prozent reichen, um die Strukturen aufzubrechen. Wir wünschen
uns - und es wird nach meiner Auffassung sicherlich
dazu kommen -, dass noch deutlich mehr Frauen in Führungspositionen kommen. Aber 30 Prozent reichen, um
die Hindernisse abzubauen. Alles andere können wir
dann dem Talent der qualifizierten Frauen überlassen.
Dann wird sich alles von alleine ergeben. Zugleich bedeutet die 30-Prozent-Regelung definitiv keine Überforderung der Unternehmen. Es geht um wenige Hunderte
Frauen. Insofern wird es kein Problem sein, in Deutschland oder darüber hinaus entsprechende qualifizierte und
motivierte Frauen zu finden.
Die weitere Regelung für die sonstigen börsennotierten und mitbestimmungspflichtigen Unternehmen
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, denken Sie bitte
an die vereinbarte Redezeit.
- das tue ich - wird auch diese nicht überfordern. Wir
erwarten allerdings, dass diese Unternehmen ihre Pflichten sehr ernst nehmen und eine entsprechende Motivation an den Tag legen, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bekommen, und werden das, soweit sie das
transparent machen müssen, sehr aufmerksam verfolgen.
Ich freue mich auf unsere weiteren Beratungen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann für die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden heute wieder einmal über die
gleichberechtige Teilhabe von Frauen und Männern in
der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst. Meine Damen und Herren, wie lange wollen wir noch darüber reden? Es sind schon Jahrzehnte, und im Wesentlichen
werden die Frauen immer wieder auf die Zukunft vertröstet. Das darf doch nicht wahr sein. Wir müssen endlich einmal zu Potte kommen. Wie lange soll das noch
gehen?
({0})
Ich bitte die Herren in diesem Hause, einen Moment zu
überlegen, ob sie sich eine solche Benachteiligung über
so eine Ewigkeit hätten bieten lassen. Ich glaube, nicht.
({1})
Ich bin es auch leid, immer und immer wieder klarzumachen, dass Frauen genauso an Führungspositionen teilhaben wollen wie Männer, am Arbeitsmarkt und an der
Gesellschaft. Ich denke, das ist wichtig und richtig. Deshalb sagen wir als Linke: Wir brauchen eine Frauenquote von 50 Prozent, und zwar im gesamten öffentlichen Dienst und in der gesamten Wirtschaft.
({2})
Wir Frauen stellen 51 Prozent der Bevölkerung; aber wir
sind bescheiden und fordern nur eine Quote von 50 Prozent.
Wir sagen zugleich: Die Gleichstellung der Geschlechter braucht mehr als eine Quote. Es muss darum
gehen, die systematische Benachteiligung der Frauen in
Sabine Zimmermann ({3})
allen Bereichen der Arbeitswelt und der Gesellschaft abzubauen. Antworten dazu sucht man bei der Regierung
vergeblich; denn ihr Gesetzentwurf trifft so wenige
Frauen. Deshalb frage ich mich: Was tun Sie für die
Frauen in Pflegeberufen, die Erzieherinnen, Krankenschwestern und die anderen Frauen, die in der Arbeitswelt unterwegs sind? Ihr Gesetzentwurf ist nichts anderes als ein Schaufensterentwurf.
({4})
Das Traurige ist: Selbst die Quote bekommt diese Regierung nicht hin. Zu Recht hagelt es breite Kritik: von
den Gleichstellungsbeauftragten über den Deutschen
Gewerkschaftsbund bis zur Vereinigung der deutschen
Juristinnen. Die Ziele für die Privatwirtschaft sind mehr
als bescheiden. Eine feste Quote von 30 Prozent soll es
nur für die Aufsichtsräte von etwa 100 Großunternehmen geben. Für den Rest der 3 500 börsennotierten oder
mitbestimmungspflichtigen Unternehmen sind es nur
Glaubensregelungen. Glauben Sie daran, dass diese Unternehmen einmal die Frauenquote einführen werden?
Ich glaube es nicht. Im öffentlichen Dienst des Bundes
wird sogar ein Schritt zurück gemacht. Die Quote soll
hier nur noch für wenige Aufsichtsgremien gelten.
Aber damit nicht genug. Die Regierung will es politisch besonders korrekt machen. Sie will beide Geschlechter ansprechen und in Berufen mit einem geringen Anteil von Männern diese fördern. Hier wird die
Frauenquote auf den Kopf gestellt. Nur weil Männer in
einem Bereich unterrepräsentiert sind, sind sie noch
lange nicht diskriminiert. In der Grundschule zum Beispiel sind die Lehrenden in der Mehrheit Frauen; trotzdem treffen wir oft auf Schulleiter, nicht auf Schulleiterinnen. Meine Damen und Herren von der Großen
Koalition, Sie betreiben eine Politik aus dem Elfenbeinturm. Sie nehmen die wirklich wichtigen gesellschaftlichen Themen nicht ernst und auch nicht zur Kenntnis;
Sie verdrängen sie anscheinend. Wenn die Bundesregierung mehr Männer in typisch weibliche Berufsbilder
bringen will, muss sie dafür sorgen, dass dort die Arbeitsbedingungen und die Löhne verbessert werden.
({5})
Hier denke ich an die Gastronomie, an den Handel und
an weite Teile des Sozial- und Gesundheitswesens. Das
wäre für die Frauen dort ein großer Schritt vorwärts und
würde die Berufe auch für Männer attraktiver machen.
Das bringt mich zum zweiten Punkt. Anders als die
Bundesregierung sagen wir: Zur Gleichstellung gehört
mehr als nur die Frauenquote. Warum wird zum Beispiel
die Arbeit einer ausgebildeten Erzieherin schlechter bezahlt als die Arbeit einer Fachkraft in der Automobilindustrie? Sind Erziehung und Bildung unserer Kinder weniger wert als das Bauen von Autos? Gibt es dazu
Initiativen der Regierung? Fehlanzeige!
Wir wissen: Frauen sind fast doppelt so stark von
Niedriglöhnen betroffen wie Männer. Nun gibt es endlich einen Mindestlohn, auch wenn er sehr mager ist.
Aber die Koalition arbeitet daran, diesen noch weiter
auszuhöhlen. Die Union will die Umsetzung des Mindestlohns bei den Minijobs einschränken, wohl wissend,
dass mehrheitlich Frauen in Minijobs arbeiten und Anzeigen vorliegen, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt schon, in diesem Monat, um ihren Mindestlohn geprellt werden. Gleichstellungspolitik sieht anders
aus. Ich frage Sie wirklich, Frau Ministerin Schwesig:
Wo bleibt hier Ihr Anspruch als Vorkämpferin für die
Rechte der Frauen? Ich kann nichts erkennen.
Es wurde heute schon mehrfach gesagt: Wir haben
eine Frau als Kanzlerin. Ich frage Sie: Ist es in ihrer Regierungszeit für Millionen Frauen einfacher geworden,
Arbeit und Familie zu vereinbaren?
({6})
Stecken weniger Frauen in der Minijobfalle? Sind frauentypische Berufe aufgewertet worden? Ich denke da vor
allen Dingen an die Pflege- und Sozialberufe. Die Antwort lautet: nein.
({7})
Es ist offensichtlich: Von dieser Regierung sind keine
Initiativen für mehr Gleichstellung zu erwarten. Deshalb
steht die Linke gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi
an der Seite der Beschäftigten in sozialen Berufen. Denn
das, was hier überwiegend Frauen leisten, ist harte Arbeit und richtig wichtig, richtig gut und richtig was wert.
Wer dafür kämpft und streikt, tut tausendmal mehr für
die Gleichberechtigung als die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf.
({8})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Dr. Carola
Reimann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ob ein Mann mir seinen Platz in der Straßenbahn
anbietet, das ist mir egal, er soll mir einen Platz in
seinem Aufsichtsrat anbieten.
({0})
Mit diesem Appell hat die erste Präsidentin des heutigen
Verbandes deutscher Unternehmerinnen die gleiche Teilhabe von Frauen in Führungspositionen eingefordert. Sie
heißt Käte Ahlmann, und das war vor mehr als 50 Jahren.
Seitdem hat sich unsere Welt spürbar verändert. Menschen sind zum Mond geflogen. Die Berliner Mauer ist
eingerissen, und das Internet hat unser Leben erheblich
verändert. Unverändert ist, dass Frauen in den Chefetagen deutscher Unternehmen eine sehr seltene Spezies
sind, und das, obwohl Frauen selbst durch beste Studienabschlüsse und enorme Leistungsbereitschaft auf sich
aufmerksam gemacht haben, und das, obwohl Studien
belegen - das ist schon angeklungen -, dass gemischte
Teams besser sind, und das, obwohl die Politik seit nahezu 14 Jahren den Unternehmen die Chance eingeräumt
hat, mit freiwilligen Selbstverpflichtungen selber für
faire Chancen für Frauen zu sorgen.
Bis heute herrscht in den Führungszirkeln renommierter deutscher Unternehmen eine männliche Monokultur, mit fatalen Auswirkungen. Wenn Frauen es bis
nach ganz oben schaffen, sind sie nach wie vor mit Vorurteilen, Ressentiments und Hürden konfrontiert, die allein für Frauen gelten. Das beginnt beim firmeneigenen
Fahrer, der die Vorstandsfrau nicht fährt, weil er sich
nicht vorstellen kann, dass eine Frau im Vorstand ist. Da
sind vor allem die vielen Führungsfrauen, die im krassen
Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen ihre steile Karriere mit dem Verzicht auf Mann und Kinder bezahlen.
Mit all diesen Relikten aus den 50er-Jahren räumen
wir nun auf. Mit dem Gesetz von Manuela Schwesig und
Heiko Maas werden Frauen zu dem, was sie nach ihrer
Eignung und nach ihrer Qualifikation längst sein sollten:
eine Selbstverständlichkeit in Toppositionen.
({1})
Mit dem Gesetz machen wir den Weg frei für einen Modernisierungsschub bei Volkswagen, Thyssen und Co.
Das ist auch gut so, auch für die Unternehmen selbst;
denn all das Gerede von Frauen als Belastung ist auf empörende und beleidigende Art und Weise unverschämt,
aber auch dumm. Von der gesetzlichen Verpflichtung,
Frauen bei der Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständen in verstärktem Maße zu berücksichtigen, werden
zuallererst die Unternehmen selbst profitieren. Die Unternehmen werden ihre Nachwuchs- und Führungskräfte
künftig aus allen Talenten auswählen können und nicht
mehr nur aus einer Hälfte. Sie werden sich bemühen, für
Frauen und auch für viele moderne Männer attraktiver
zu werden, indem sie verstärkt familientaugliche Arrangements und Karrierewege anbieten. Die Unternehmen
werden dabei feststellen, dass die Arbeitsproduktivität
wächst, dass sie sich im Wettbewerb um die so begehrten Fachkräfte besser behaupten können und dass sie
durch Produkt- und Prozessinnovationen noch stärker
und konkurrenzfähiger werden.
({2})
Darum geht es aber heute in erster Linie nicht. Dass
die Quote auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht Sinn
macht, ist schön. Entscheidend ist allerdings, dass sie für
mehr Gerechtigkeit sorgt. Für Frauen stehen die Wege in
höchste Positionen jetzt deutlich weiter offen. Damit erfüllen wir ein Versprechen unseres Grundgesetzes ein
wenig mehr, nämlich das Versprechen, dass Chancen
nicht nach dem Geschlecht verteilt werden, das Versprechen unseres Grundgesetzes, dass alle Menschen unabhängig davon, ob sie als Frauen oder Männer geboren
werden, in unserem Land aus dem gleichen Pool von Lebensmöglichkeiten wählen können.
Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen und Männern an Führungspositionen ist nicht irgendein Gesetz. Es stellt eine historische Zäsur dar. Geschafft haben das die Parteien nicht allein, erst recht
nicht eine einzelne Partei. Geholfen haben dabei Frauen
und Männer aus allen politischen Lagern. Geholfen haben Frauen und Männer aus unzähligen Verbänden und
Gewerkschaften; die Kollegin hat sie vorhin genannt.
Geholfen haben aber auch Tausende Bürgerinnen und
Bürger aus der Zivilgesellschaft.
({3})
Nur im gemeinsamen Schulterschluss und deshalb, weil
wir uns trotz parteipolitischer Unterschiede nicht haben
auseinanderdividieren lassen, wurde es ermöglicht, dass
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen Gesetzesrang bekommt. Dafür danke ich allen.
({4})
Diese Solidarität hat sich bewährt. Vielleicht ist das
ein gutes Politikmodell, das wir fortsetzen sollten; denn
bei der Gleichstellung von Frauen und Männern bleibt
auch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes noch viel auf der
politischen Agenda.
Danke fürs Zuhören.
({5})
Vielen Dank, insbesondere auch für die präzise Einhaltung der Redezeit.
Jetzt erteile ich der Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschenkt
worden ist uns Frauen nichts. Das knüpft vielleicht gut
an die Rede von Carola Reimann an, die am Ende über
die Solidarität geredet hat. Es waren am Ende immer die
Frauen, die ihre Rechte und ihre Möglichkeiten in dieser
Gesellschaft selbst erkämpft haben.
Wenn beim Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz 1949 erarbeitet hat, nicht eine Frau, nämlich
Elisabeth Selbert, die Bereitschaft gehabt hätte, allen anderen Herren auf die Nerven zu gehen, hätten wir die
Gleichstellung im Grundgesetz nie gehabt. Uns hätte ein
Ausgangspunkt gefehlt.
({0})
Wir haben viele Frauen gehabt, Abgeordnete, aber
auch Juristinnen, ob Anwältinnen oder Richterinnen, die
in den Jahren danach zum Beispiel für eine Familienrechtsreform gekämpft haben, die, man glaube es kaum,
erst Ende der 70er-Jahre kam. Diese große Familienrechtsreform hat in der alten Bundesrepublik überhaupt
erst den Mann als Haushaltsvorstand und das Recht des
Mannes, den Arbeitsvertrag der Frau kündigen zu können, abgeschafft. Das muss man bzw. frau sich einmal
überlegen. Das war hart erkämpft, weil es in der juristischen Szene viele Frauen gab, die gesagt haben: Wir machen das gemeinsam und bleiben dran.
Oder denken Sie an das Thema der häuslichen Gewalt. Wie oft wurde in dieser Gesellschaft über Gewalt
geredet. Wie oft haben sich Männer über die Frauen lustig gemacht, die gesagt haben, dass 60 Prozent der Gewaltdelikte, also die Mehrheit, im häuslichen Nahbereich ausgeübt werden und nicht irgendwo. Sie haben
dafür gesorgt, dass Frauenhäuser und Frauenprojekte
finanziert werden und die Polizei entsprechend ausgebildet wird und diese diesbezüglich Schwerpunkte bildet.
Welche Mühen hat es gekostet, den § 218 in der jetzigen Fassung hinzubekommen! Das ging auch nur, weil
sich Frauen innerhalb und außerhalb des Parlaments
zusammengetan und gesagt haben: Mein Bauch gehört
mir. - Welche Mühen hat es gekostet, ein Gleichstellungsgesetz hinzubekommen! Auch das wurde von
Frauen erkämpft.
Und heute, nach all den jetzt benannten und vielfältigen anderen strukturellen Benachteiligungen bis hin zur
mangelnden Entgeltgleichheit, reden wir über ein Quotengesetz. Oder besser: Heute haben wir zwei. Ich bin
natürlich realistisch und weiß, dass das der Großen Koalition, das 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten vorsieht,
das für circa 100 Betriebe gilt, ein wenig mehr Chancen
hat, durchzukommen, als das der Grünen mit 40 Prozent
Frauen in Aufsichtsräten für 3 000 Betriebe.
({1})
Aber ich kann damit leben, weil ich mittlerweile gelernt
habe, dass man Politik auch über Umwege machen
muss. Insofern finde ich diesen Teil schon einmal gut.
Ich wundere mich, wie sich in dieser Debatte jetzt alle
loben. Herr Weinberg, es stimmt: Die erste Kanzlerin
kommt aus den Reihen der CDU.
({2})
Aber, Herr Weinberg und alle die, die jetzt klatschen:
Wenn später Leute Bücher schreiben, dann werden sie
auch schreiben, wie sie es wurde. Sie wurde es nicht,
weil Herr Weinberg Mut hatte und gesagt hat: Es soll
einmal eine Frau werden. - Vielmehr wurde sie es, weil
es einfach keinen Mann in der Führungsetage gab, der
nicht mit dem Spendenskandal der CDU belastet war.
({3})
Ich gebe zu: Wenn ich auch bei weitem nicht immer
mit ihr einer Meinung bin, so ist sie doch ein Rollenvorbild für viele Frauen, und sie ist eine starke Kanzlerin,
was in den heutigen Tagen in Europa nicht unwichtig ist.
Aber neun Jahre Merkel hieß auch, dass Merkel sich nie
für die Gleichstellung der Frauen eingesetzt hat. Es gibt
die eine oder andere Rede in dieser Richtung. Aber ich
will an der Stelle sagen: Es waren die Frauen selbst, die
das erkämpft haben.
({4})
Auch wenn andere es schon gelobt haben, so will ich es
doch noch einmal sagen: Hier in diesem Haus und draußen war es FidAR, Frauen in die Aufsichtsräte, mit
Monika Schulz-Strelow und Jutta von Falkenhausen, es
war der Deutsche Juristinnenbund mit Ramona Pisal an
der Spitze,
({5})
Business and Professional Women, auch die Landfrauen,
die in ihrer Szene wissen, wie es mit der Männerherrschaft ist, und viele andere.
Was mich eigentlich fasziniert, ist, dass dieser Monat
schon historisch ist, selbst wenn nur eine kleine Quote
beschlossen wird und bei der Gleichstellung eine Verschlechterung eintritt. Denn wir haben den Blick geschärft und eine gewisse Ermutigung in dieser Gesellschaft geschaffen. Die Frauen schauen überall hin. Als
das ARD-Studio nach Berlin umzog - ich weiß nicht genau, wann das war -, war ich dort zu Gast. Ich war entgeistert; denn dort waren nur Intendanten, nur Männer.
Nachdem fünf, sechs oder sieben Männer geredet hatten,
dachte ich: Jetzt kommt Musik, und dann spricht vielleicht eine Frau. Nein! Dann spielte eine Gruppe, die die
Comedian Harmonists imitiert hat; auch diese Gruppe
bestand nur aus Männern. All das hat sich geändert. Zum
Erfolg von Initiativen wie „Pro Quote“ und „Pro Quote
Medizin“ haben auch wir beigetragen. Mittlerweile sind
immer mehr Frauen in Aufsichtsräten vertreten, und darüber hinaus gibt es Ermutigung in anderen Bereichen.
({6})
Zur Liste derer, die für mehr Frauen in Führungspositionen eingetreten sind, gehört natürlich auch Manuela
Schwesig; sie war in der letzten Legislaturperiode noch
nicht hier. Wir alle wissen spätestens seit einer Äußerung
von Herrn Kauder, dass sie erfolgreich darin ist, sich
durchzusetzen. Glückwunsch!
({7})
Der Dinosaurier des Tages heißt Kramer und ist Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Er hat gerade erst gesagt, die Quote müsse
entbürokratisiert werden. Ich bin bereit, über alles zu
diskutieren. Man lernt ja, dass man offen sein muss. Ich
bin allerdings gespannt, wie er mir erklärt, inwiefern bei
dem Auftrag eines Vorstandsvorsitzenden „Suchen Sie
mir jemanden für den Aufsichtsrat!“ eine Entbürokratisierung nötig ist. Mir erschließt sich das noch nicht.
({8})
Wir sind wieder einmal einen Schritt weiter. Ich
denke, wir werden einen Dominoeffekt auslösen und für
eine Ermutigung sorgen, die Kultur zu ändern. Die gute
Botschaft, meine Damen und Herren, insbesondere
meine Damen, ist: Solidarität innerhalb und außerhalb
des Bundestages hat sich gelohnt. Wir sollten uns das für
die Zukunft bewahren; denn wir haben mit dem Kampf
um die Gleichstellung erst angefangen. Wenn wir dieses
Gesetz verabschiedet haben, könnten wir zum Beispiel
bei der Entgeltgleichheit weitermachen.
({9})
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Gudrun
Zollner.
({0})
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen, im Sprachgebrauch
kurz: Frauenquote, haben wir in den letzten Monaten immer wieder kontrovers diskutiert, und wir debattieren
auch heute wieder darüber. Die Gleichberechtigung ist
zwar im Grundgesetz verankert; aber in der Realität ist
sie immer noch nicht angekommen.
Wir sind uns einig, dass Frauen in Führungspositionen unserem Land guttäten.
({0})
Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Spitzenpositionen werden überwiegend von Männern besetzt.
Immer wieder ist in der Diskussion von Quotengegnern
zu hören: Niemand sollte allein wegen seines Geschlechts in ein Gremium berufen werden. - Was heißt
das dann konkret im Umkehrschluss? Frauen, die bei
den nächsten Wahlen in einen Vorstand berufen werden,
sind nicht qualifiziert genug?
Dazu darf ich nochmals in Erinnerung bringen:
Frauen haben in Deutschland die Männer im Hinblick
auf die Schulbildung inzwischen überholt. Frauen haben
heutzutage meist höhere und bessere Bildungsabschlüsse
als Männer. Die Zahl der qualifizierten und topausgebildeten Frauen war noch nie so hoch wie heute.
({1})
Dennoch bleiben weibliche Führungskräfte in den deutschen Unternehmen die Ausnahme. Die Selbstverpflichtung der Wirtschaft aus dem Jahr 2001 hat in keinster
Weise den gewünschten Erfolg gebracht. Hierzu möchte
ich den Soziologen Ulrich Beck zitieren: Männer zeigen,
„verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre“.
({2})
14 Jahre hatten die Unternehmen Zeit, eine konsequente Nachwuchsförderung in ihren Unternehmen zu
etablieren. Der Bund und die Länder haben ihre Zeit genutzt und die notwendigen und geforderten Rahmenbedingungen wie Krippenausbau auf den Weg gebracht. In
den Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmen
betrug der Anteil von Frauen in den Topetagen Ende vergangenen Jahres laut dem Managerinnen-Barometer
2015 gerade einmal 5 Prozent. Was bei den meisten Mittelständlern und kleineren Familienbetrieben selbstverständlich ist, sollte auch bei unseren größeren Unternehmen und Konzernen möglich sein. Als gutes Beispiel
möchte ich hier die Deutsche Telekom nennen, die bereits 2010 eine 30-Prozent-Quote in ihrem Unternehmen
beschlossen hat.
Dass auch in der Bundesverwaltung noch Handlungsbedarf besteht, zeigen die aktuellen Berichte zum
Bundesgleichstellungsgesetz und zum Bundesgremienbesetzungsgesetz. Zwar sind Frauen bezogen auf den untersuchten Zeitraum besser in den Leitungsfunktionen
im gesamten Bundesdienst vertreten; aber besonders in
den obersten Bundesbehörden immer noch unterrepräsentiert. Der Bericht zum Bundesgleichstellungsgesetz
kommt zu dem Schluss, dass auch in den Behörden
- ähnlich wie wir es von der Privatwirtschaft immer wieder hören - gläserne Decken bestehen. Wenn man die
Besetzung der Bundesgremien betrachtet, wird deutlich,
dass nur jedes vierte Mitglied weiblich ist. Rund 9 Prozent der Gremien sind ausschließlich männlich besetzt.
In den Gremien des Bundes sind Frauen seit 1997 kontinuierlich besser vertreten. Allerdings ist mit einem Anteil von 25 Prozent eine gleichberechtigte Teilhabe nach
wie vor nicht gegeben.
Das heißt: Trotz einiger positiver Trends in der Wirtschaft wie im Bundesdienst sind die Ziele der Gleichstellung noch lange nicht erreicht.
Wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, stellt sich
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen bei Führungspositionen nicht von selbst ein. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb vereinbart, dass wir jetzt handeln werden, um den Anteil zu erhöhen. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen, die ab dem Jahr
2016 neu besetzt werden, eine Geschlechterquote von
mindestens 30 Prozent aufweisen sollen. Betroffen sind
davon rund 108 Unternehmen und circa 170 Frauen. Ich
bin mir sicher, dass unter den etwa 40 Millionen Frauen,
die wir in Deutschland haben, diese 170 Managerinnen
gefunden werden.
({3})
Unternehmen, die börsennotiert sind oder der Mitbestimmung unterliegen, werden verpflichtet, verbindliche
Zielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils im Auf7928
sichtsrat, im Vorstand und in den beiden obersten Führungsebenen festzulegen. Die betroffenen 3 500 Firmen
sollen einen größtmöglichen Handlungsspielraum erhalten. Durch die Veröffentlichungspflicht wird der Ansporn zu hohen Flexi-Quoten groß genug sein.
Was wir von der Wirtschaft einfordern, sollte aber
auch für den Bund gelten. Deshalb werden wir das Bundesgremienbesetzungsgesetz und das Bundesgleichstellungsgesetz novellieren. Für Aufsichtsgremien, in denen
der Bund mindestens drei Sitze besetzen kann, soll ab
dem Jahr 2016 die feste Quote in Höhe von 30 Prozent
für alle Neubesetzungen gelten. Ab dem Jahr 2018 ist
das Ziel, diesen Anteil auf 50 Prozent zu erhöhen. Bei
den wesentlichen Gremien wird das Ziel verankert, eine
paritätische Vertretung von Frauen und Männern zu
schaffen.
Mit der Novellierung des Bundesgleichstellungsgesetzes wollen wir Frauen aufgrund der immer noch existierenden strukturellen Benachteiligungen verstärkt fördern. Deshalb sollen die Dienststellen des Bundes
künftig verpflichtet werden, sich besonders für jede einzelne Führungsebene konkrete Zielvorgaben für die Erhöhung des Frauenanteils zu setzen.
Wir wollen mit der Novelle außerdem einen Gleichstellungsindex einführen und damit eine Vorgabe aus
dem Koalitionsvertrag umsetzen. Der Index zeigt beispielsweise auf, wie hoch der Frauen- und Männeranteil
im höheren Dienst ist und wie stark Frauen auf den einzelnen Führungsebenen vertreten sind.
Ziel unseres Gesetzes ist es, mehr Frauen in leitende
Positionen in der Wirtschaft sowie in der Bundesverwaltung zu bringen. Damit soll das verfassungsrechtlich
verankerte Grundrecht auf gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen und Männern auch für den Bereich der Führungspositionen erfüllt werden. Mehr weibliche Führungskräfte bieten außerdem die Möglichkeit, die Frauenförderung im Mittelbau und auf den unteren Ebenen
der Unternehmen und der Bundesverwaltung konsequent
voranzubringen. Damit soll sichergestellt werden, dass
es künftig genügend weibliche Nachwuchskräfte gibt.
Zusammenfassend ist uns für die weitere Beratung
wichtig, dass das Gesetz verfassungs- und europarechtskonform ist und die Interessen der Wirtschaft beinhaltet,
ohne dass das Ziel des Gesetzes infrage gestellt wird.
({4})
Das bedeutet auch, dass wir darauf achten müssen,
Rechtssicherheit zu schaffen und die Bürokratie auf das
wirklich Notwendige zu beschränken.
Das Gesetz allein wird aber kein Allheilmittel sein.
Auch wird der Prozess, Frauen bessere Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten, nicht von heute auf morgen gelingen. Die Quotenregelung ist nur einer von mehreren
Bausteinen. Es müssen auch die Rahmenbedingungen
weiter vorangetrieben werden. Ich sehe das Gesetz als
Türöffner für die Frauen. Es geht nicht darum, qualifizierte Männer zu ersetzen, sondern qualifizierten Frauen
Karrierechancen zu ermöglichen,
({5})
denn 75 Prozent aller Frauen sehen sich im Beruf benachteiligt. Das muss sich ändern.
Wenn mehr Frauen in Führungspositionen Verantwortung übernehmen, wird dies auch Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. Sobald weibliche Führungskräfte
zum Alltag gehören, erfüllen sie auch eine bisher nicht
vorhandene Vorbildfunktion für zukünftige Generationen und ermutigen Frauen zu höheren Zielen. Ich freue
mich auf die Zeit, wenn die Quotenregelung überflüssig
und eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungspositionen selbstverständlich ist.
Vielen Dank.
({6})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! 96 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland beenden wir mit dem Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft
und im öffentlichen Dienst der Bundesregierung eine
jahrzehntelange Auseinandersetzung darüber, wie wir
Artikel 3 Grundgesetz zum Durchbruch verhelfen können. Ja, wir beenden quasi einen Kulturkampf.
Vor fast genau 96 Jahren, am 19. Februar 1919, sagte
die von mir geschätzte Marie Juchacz, nachdem sie in
die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde und
als erste Parlamentarierin nach Einführung des Frauenwahlrechts sprechen durfte - ich zitiere sie -:
Es ist das erste Mal, daß … die Frau als freie und
gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und
ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv,
daß es die Revolution gewesen ist, die auch in
Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.
({0})
Meine Damen und Herren, heute machen wir in
Deutschland keine Revolution, sondern nur ein Gesetz
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen, aber es ist bitter notwendig.
Noch nie hatten wir in Deutschland eine so gut ausgebildete Frauengeneration. Ob an Schulen oder Universitäten, die Spitzenleistungen werden doch längst auch von
Frauen erbracht. Sie stellen 50,7 Prozent der Hochschulabsolventen und machen im Schnitt bessere Examina.
Ich bin überzeugt, die Frauenquote wird zu einem Kulturwandel führen. Sie bedeutet nicht nur einen Meilenstein der Frauenrechte, sondern ist auch das bessere und
das beste Mittel gegen Fachkräftemangel.
({1})
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft wird von
der Frauenquote profitieren; eben durch die faire Teilhabe von Frauen und Männern. Die Gleichberechtigung
von Frauen kommt ohne Zweifel in vielen Bereichen voran: Im Bundestag hier bei uns mit 36,5 Prozent Frauenanteil, in der Bundesregierung mit 37,5 Prozent, in der
Rechtsanwaltschaft mit 33 Prozent und in der Richterschaft mit 40 Prozent. Nur in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft kommen die Frauen zu kurz. Bei den
DAX-Vorständen sind die Zahlen sogar leicht rückläufig, wir haben es schon mehrfach gehört. In keiner anderen Wirtschaftsnation dieser Welt gibt es so wenig
Frauen in Führungspositionen wie bei uns, und das werden wir ändern, meine Damen und Herren.
({2})
Zur Wahrheit gehört auch: Freiwillige Maßnahmen
der Unternehmen haben nichts gebracht. Der Deutsche
Corporate Governance Kodex mahnt schon seit fünf Jahren zu mehr Vielfalt bei der Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständen. Genützt hat es nichts. Die Zeit der
Appelle ist vorbei.
({3})
Wir nehmen den Auftrag des Grundgesetzes zur
Gleichstellung ernst. Seit 1994 steht im Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 unseres Grundgesetzes - ich zitiere -:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Genau das tun wir jetzt.
({4})
Dafür haben wir zwei Instrumente in unseren Gesetzentwurf eingebaut: erstens eine fixe Geschlechterquote
von 30 Prozent für Aufsichtsräte der größten Unternehmen in Deutschland. Deutschland verfügt über so viele
hochqualifizierte und unter Einsatz von Steuergeldern
optimal ausgebildete Frauen wie noch nie. Wir wissen,
dass eine stärkere Beteiligung von Frauen in der Wirtschaft auf allen Ebenen langfristig sowieso kommen
muss. Das ist schon eine Konsequenz der demografischen Entwicklung. Deutschland kann sich seinen Wohlstand nur bewahren, wenn wir die Produktivität weiter
erhöhen und die demografische Lücke schließen. Die
Quote beschleunigt diesen Prozess. In ein paar Jahren
wird sie selbstverständlich sein. Die Wirtschaft wird sich
fragen, wie so lange auf diese wertvolle Personalressource eigentlich verzichtet werden konnte. Ich glaube
auch, die erregten Diskussionen über die Quote der letzten Jahre werden uns im Rückblick nahezu unverständlich erscheinen.
({5})
An der Quote kommt auch niemand vorbei, und zwar
ohne Ausnahme. Zur Erfüllung der Quote in den Großunternehmen werden circa 174 Frauen benötigt, und
zwar gestreckt über mehrere Jahre. Es bleibt ein Rätsel,
wie behauptet werden kann, dass diese Aufsichtsratsposten unbesetzt bleiben würden. Ich prophezeie Ihnen hier
und heute: Am Ende wird kein einziger Sitz in einem
deutschen Aufsichtsrat unbesetzt bleiben.
({6})
Zweitens. In Zukunft haben Unternehmen, die börsennotiert oder mitbestimmt sind, die Pflicht, sich eine
klare Zielgröße zu setzen, wie viele Frauen künftig in
Vorstand, Aufsichtsrat und Management arbeiten. Auch
hier ist gesetzlicher Druck notwendig. Selbstverpflichtungen und Empfehlungen des Deutschen Corporate
Governance Kodex haben keine Wirkung gezeigt. Durch
die vorgesehenen Berichtspflichten wird auch die Öffentlichkeit sehen können, wie sich die Gremien und
Führungsebenen zusammensetzen und wie ernst es die
Unternehmen mit der Förderung von Frauen meinen. An
dieser Stelle will ich ausdrücklich sagen: Die Öffentlichkeit ist ein scharfes Schwert der Kontrolle. Wir werden
alle darauf schauen, wie sich der Anteil der Frauen in
den Führungsebenen dieser Unternehmen entwickelt hat.
Es geht dabei um Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. In der Summe werden es
circa 3 500 Unternehmen sein, die sich diese Zielgrößen
setzen müssen. Zur Erreichung der Zielgrößen haben die
Unternehmen auch Fristen festzulegen, welche maximal
fünf Jahre betragen dürfen. Über die Zielgrößen, Fristen
und deren Erreichung müssen sie öffentlich berichten.
Meine Damen und Herren, Frauen sind ein Gewinn
für die Wirtschaft. Deutschlands Unternehmen schaden
sich selbst, wenn sie dieses Potenzial nicht nutzen. Wir
beklagen einen Fachkräftemangel und lassen das enorme
Potenzial der Frauen ungenutzt. Ich meine, das passt
nicht zusammen. Genau deswegen brauchen wir die
Frauenquote; denn sie sorgt nicht nur für mehr Gleichberechtigung, sondern sie wird auch der Wirtschaft neue
Impulse geben, von denen wir alle profitieren.
In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktive
Beratung in den Ausschüssen, und am Ende freue ich
mich über Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Professor Heribert Hirte ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer! Vor allen Dingen: Liebe Schülerinnen
und liebe Schüler! Der hier vorgelegte Gesetzentwurf ist
ein richtiges Signal, das zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in Führungspositionen beiträgt; denn in deutschen Aufsichtsräten und Vorständen sind zu wenige Frauen vertreten. Es ist richtig,
wenn wir gemeinsam daran arbeiten, dies zu verbessern.
Aber es ist auch nur ein Signal. Das erklärt auch, warum
das Gesetzesvorhaben in Teilen meiner Fraktion durchaus auch kritisch gesehen wird.
Denn wenn wir eine Quote einführen, durch die eine
kleine dreistellige Zahl von Frauen in Führungspositionen gelangen wird, blenden wir einen großen Teil der
Schwierigkeiten aus, die gerade Frauen auf dem Weg
dorthin zu gewärtigen haben. Das betrifft, was im momentanen Gesetzestext noch nicht so richtig zum Ausdruck kommt, vor allen Dingen Frauen mit Kindern.
Empirische Studien belegen, dass gerade solche Frauen
- aber eben nur solche - mit teilweise erheblichen Einkommens- und Karrierenachteilen zu rechnen haben.
Kinderbetreuung in den Zeiten, in denen sie für die Tätigkeit als Vorstand oder Aufsichtsrat erforderlich ist, ist
unverändert nicht leicht zu organisieren, schon gar nicht
legal. Deshalb ist es nachdrücklich zu begrüßen, dass vor
allen Dingen große Unternehmen diese Aufgabe selbst
übernehmen. Das erklärt dann vielleicht auch, warum
bei kleinen und mittelständischen Unternehmen SDAX, MDAX usw. - der Frauenanteil in Führungspositionen nicht ganz so groß ist wie bei den ganz großen Unternehmen.
Wenn der entsprechend größere Aufwand für die Kinderbetreuung dann auch steuerlich nur begrenzt geltend
gemacht werden kann, „rechnet“ sich für viele rational
denkende Eltern der Aufwand einer doppelten Karriere
mit Kindern nicht. Ich bin deshalb auf den Fortgang einiger finanzgerichtlicher Prozesse gespannt, in denen Eltern diese Abzugsbeschränkungen zu Fall bringen wollen. Wenn zudem gerade Kindergärten „mit besonderer
Liebe“ bestreikt werden, konterkariert auch dies die Bereitschaft von Müttern - übrigens auch von Vätern - zur
Übernahme von Führungspositionen.
Es ist - anders ausgedrückt - noch deutlich mehr zu
tun, und dies an anderer Stelle, um die Familienkompatibilität von Führungspositionen herzustellen. Andererseits: Ein bisschen Sog von oben schadet eben auch
nicht.
({0})
Kommen wir zu einem zweiten Punkt. Frau Ministerin, Sie begründen die Quotenvorgaben damit, dass die
Zahl qualifizierter Frauen in den letzten Jahren stetig zugenommen habe. Das ist richtig, aber unvollständig;
denn im Aufsichtsrat - Gleiches gilt für die Führungsebenen darunter - gilt es, ganz unterschiedliche Fähigkeiten und Profile zusammenzuführen, wie etwa die
Kenntnis bestimmter Branchen, ausländischer Märkte
oder von Organisationsfragen einschließlich der Datenverarbeitung.
Der Aufsichtsrat ist eine Fußballmannschaft und kein
Elferrat. Deshalb kommt es schon sehr darauf an, ob
man sich gerade für Bilanzrecht oder Steuerrecht interessiert oder - wie die Tochter unserer rechtspolitischen
Sprecherin - für Maschinenbau, das sie nämlich studiert.
Wir brauchen Stürmerinnen, Mittelfeldspielerinnen und
Verteidigerinnen mit jeweils unterschiedlichen Qualifikationen. Ich würde mir wünschen, wenn sich mehr
Frauen für diese wirtschaftsnahen Detailqualifikationen
über die schlichte Wahl des Studienfaches hinaus interessieren würden; aber die Realität sah - jedenfalls bis
vor kurzem - noch ganz anders aus.
Ich erinnere mich noch sehr genau an die Diskussionen in der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des Deutschen Juristentages vor zwei Jahren - im Übrigen auch
vor einem Jahr -, bei denen der Frauenanteil bei 10 Prozent lag, und das, obwohl sich Frauen wie Männer gleichermaßen hätten anmelden können. Es waren - aus
welchen Gründen auch immer - nicht mehr Frauen da.
Deshalb ist ein Kulturwandel, Frau Ministerin, schon
wichtig und richtig, aber der Kulturwandel muss an verschiedenen Stellen ansetzen.
({1})
- Sie waren auch nicht in der wirtschaftsrechtlichen Abteilung; aber dies nur am Rande.
({2})
- Frau Künast, ich sage das ganz deutlich. Die Männer
machen ja da mit, aber es ist ein bisschen komplizierter,
als nur eine Quote von oben zu verordnen.
Das bringt mich zurück zu der Frage nach den Gründen. Denn es stößt natürlich - ich meine, zu Recht - auf
Unverständnis, dass vor allen Dingen die Wirtschaft für
diese Lage verantwortlich gemacht wird. Es ist aus meiner Sicht auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas,
das Wirtschaft und Unternehmertum grundsätzlich kritisch gegenübersteht, wenn Menschen sich gegen eine
Tätigkeit in der Wirtschaft entscheiden. Wer wie die
Linken und die Grünen freien Handel - ich sage nur
„TTIP“ - ablehnt, darf sich nicht wundern, wenn Menschen keine Lust haben, in ebendiesen Handelsunternehmen zu arbeiten. Diesen Zusammenhang sollte man
nicht vergessen.
({3})
- Ja, Sie reden auch im Rechtsausschuss ununterbrochen; ich kenne das schon.
Umgekehrt gilt: Es ist gut, richtig und wichtig, wenn
sich auch Frauen - ich sage es noch einmal - für wirtschaftsnahe Berufe entscheiden, die dann vermehrt auch
eine Übernahme von Führungsverantwortung ermöglichen; aber das sollte dann doch freiwillig geschehen.
Diese Lage - die unterschiedlichen Anforderungsprofile - wirkt sich umso stärker aus, je kleiner ein Aufsichtsrat oder ein sonstiges Führungsgremium ist; denn
hier kann eine fehlende Expertise bei einer Person nicht
einfach durch einen Kollegen kompensiert werden. Das
gilt gleichermaßen für Frauen und für Männer.
({4})
Aber die Beschränkung der Auswahlfreiheit durch eine
Genderquote wiegt bei solchen kleinen Unternehmen
deutlich stärker. Deshalb wird zu Recht die Frage aufgeworfen, ob der Entwurf nicht gerade in diesem Zusammenhang in seiner Ausgestaltung verfassungsrechtlich
bedenklich ist.
({5})
Richtig ist genau vor diesem Hintergrund, dass die Möglichkeit der Gesamterfüllung vorgesehen wird, dass also
die beiden Quoten zusammengerechnet werden. Darüber
hinaus müsste man meines Erachtens über die Berücksichtigung weiterer branchenspezifischer Besonderheiten nachdenken.
({6})
Mit großer Akribie hat die Bundesregierung den mit
dem Gesetzesvorhaben verbundenen Erfüllungsaufwand berechnet: 257 000 Euro kostet das pro Jahr. Überraschend ist dabei, dass für Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder ein Stundensatz von 47,30 Euro pro
Stunde zugrunde gelegt wird - vor Steuern. Das ist etwas
mehr als der Mindestlohn. Ich selbst würde mich nicht
trauen, einer Frau eine Tätigkeit in einem Aufsichtsrat
oder einem Vorstand zu diesen offenbar von Ihnen als
angemessen angesehenen Sätzen anzubieten. Der Nationale Normenkontrollrat hat das zu Recht richtiggerückt.
Zu Recht - damit bin ich bei meinem letzten Punkt sind die Quotenvorgaben, oder besser: die Signalwirkungen des Gesetzes, auch auf den öffentlichen Dienst erstreckt worden. Es wurde zu Recht kritisiert, dass der
Staat der Privatwirtschaft keine Vorgaben machen sollte,
die er selbst nicht beachtet. Aber: Dort führt die Unterschreitung der vorgegebenen Quote lediglich zu einer
Begründungspflicht, während sie in der Privatwirtschaft
zur Nichtigkeit der Wahl und zum Verlust der Aufsichtsratsmehrheit führt. Angesichts der verfassungsrechtlichen Positionen ist das eine vielleicht nicht ganz zu
rechtfertigende Differenzierung.
Möglicherweise zum Ausgleich soll der bürokratische
Überwachungsaufwand dramatisch nach oben gefahren
werden: Insgesamt circa 100 neue Stellen für Gleichstellungsbeauftragte, Stellvertreter und Mitarbeiter in der
Bundesverwaltung und noch einige weitere personalintensive Maßnahmen werden einen Kostenaufwand von
20 Millionen Euro pro Jahr auslösen. Wenn es vorne im
Gesetzentwurf heißt, das alles sei haushaltsneutral, dann
fragt man sich natürlich, wie das geschehen soll.
({7})
Es kann doch nur so laufen, dass zunächst umgesetzt
wird, die Verwaltung verschlechtert wird und im nächsten Jahr die entsprechenden Haushaltsforderungen kommen. Da kann ich nur sagen: Das kennen wir von anderen Stellen. - Wir wollen schon eine Quote - das sage
ich ganz deutlich -, aber wir wollen keine Gleichstellungsüberwachungspolizei; denn eine „Glüpo“ habe ich
im Koalitionsvertrag nicht gefunden.
({8})
Lassen Sie uns das deshalb in den Beratungen in den
nächsten Wochen korrigieren. Ich bin zuversichtlich,
dass das gelingt.
Vielen Dank.
({9})
Für die SPD hat jetzt das Wort die Kollegin Christina
Jantz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Professor
Hirte, eingangs möchte ich mich insbesondere im Namen meiner Fraktion, aber, wie ich denke, auch im
Namen vieler anderer Kolleginnen hier im Plenarsaal dagegen verwehren, Gleichstellungsbeauftragte als Bürokratieaufbau zu bezeichnen.
({0})
Ich muss Ihnen nicht sagen - das ist in vielen Reden
schon angeklungen -, welch große Beiträge Frauen bislang für unsere Gesellschaft geleistet haben und dass sie
diese selbstverständlich auch zukünftig leisten werden.
Dennoch, der freie Zugang zu gut bezahlten Berufen und
Positionen ist für Frauen heutzutage aber nicht nur eine
Frage der Gerechtigkeit. Er hat auch gesellschaftspolitische Auswirkungen auf viele unserer Lebensbereiche.
Es wurde schon oft betont und nachgewiesen, dass
Frauen in Spitzenpositionen - auch das klang heute
schon an - die Unternehmen maßgeblich voranbringen,
({1})
ganz egal ob in der freien Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst. In vielen Ländern hat sich diese Einstellung
bereits manifestiert, und sie wird dort entsprechend auch
gelebt. In Deutschland - Christian Lange hat es gesagt brauchen wir uns gar nicht zu verstecken. Denn auch bei
uns gilt: Die Grundlage haben wir. Qualifizierte, hochkompetente Frauen gibt es genug. In Deutschland absolvieren mehr Frauen als Männer ein Hochschulstudium,
und das mit sehr guten Ergebnissen.
({2})
Sie streben zunehmend insbesondere in die stark boomenden Branchen. Frauen wollen vorankommen, sich
einbringen und entscheiden. Sie wollen von der zweiten
und dritten Reihe nach vorne treten und ihr Können beweisen. Doch der Alltag zeigt uns nach wie vor:
Deutschland lässt sie nicht. Wir sind trauriges Schlusslicht. Denn in keiner anderen Wirtschaftsnation - auch
das hatte Christian Lange vorhin angesprochen - gibt es
im Vergleich weniger Unternehmen mit mindestens einer Frau in einer Spitzenposition als bei uns. Lediglich
in jedem dritten Unternehmen lassen sich Frauen an der
Spitze finden. Während andere Länder gezielt unsere
weiblichen Fach- und Führungskräfte abwerben und uns
viele Staaten überholen, prallen die Frauen bei uns in
Deutschland immer noch viel zu häufig an die - bildlich
gesprochen - gläserne Decke. Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir es
endlich schaffen, zumindest einen Teil dieser Decke brüchig zu machen.
({3})
Dafür danke ich insbesondere unseren SPD-Ministern
Manuela Schwesig und Heiko Maas. Sie haben einen besonnenen, guten Gesetzentwurf ausgearbeitet, der für
eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Führungspositionen sorgen soll. Die Weichen
werden nun endlich richtig gestellt.
({4})
Damit setzen wir nicht nur den Koalitionsvertrag und
unsere Ziele, insbesondere unsere lang erkämpften Forderungen um, sondern wir lenken auch Artikel 3 Absatz 2
unseres Grundgesetzes in gesetzlich untermauerte Bahnen. Nun wird es Rechtsfolgen, also Konsequenzen, geben, sollte die Geschlechterquote nicht eingehalten werden. Der sogenannte leere Stuhl droht. Zum ersten Mal
in der deutschen Geschichte wird es eine Geschlechterquote von mindestens 30 Prozent in Aufsichtsräten geben. Ich möchte betonen: So sieht nicht nur aktive, praxisorientierte Frauen- und Rechtspolitik aus, sondern so
sieht auch eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik aus.
({5})
Seien wir doch ehrlich: Eigentlich ist es schon ein
bisschen kurios, Unternehmen zu ihrem Glück zwingen
zu müssen. Denn die zahlreichen Studien, die uns alle
vorliegen, belegen doch immer wieder: Vielfalt in Unternehmen bringt Fortschritt und spült auch Geld in die
Kassen. Gleichzeitig mussten wir erkennen, dass der Appell an die Unternehmen, freiwillig zu handeln, kläglich
gescheitert ist. Würden wir es nämlich gänzlich unseren
Unternehmen überlassen, die Gleichstellung voranzutreiben, würde es noch Jahrzehnte benötigen, nein - was
sage ich? -, an die 150 Jahre dauern, bis wir eine 30-Prozent-Quote hätten, wenn wir mit dem bestehenden
Tempo fortfahren würden.
Sie sehen, meine Damen und Herren, Handlungsbedarf ist unverkennbar gegeben. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf schaffen wir den notwendigen motivierenden Druck, stärken natürlich die Frauen, stärken die
wirtschaftliche Entwicklung und stärken insgesamt unsere Gesellschaft. Packen wir es also endlich an!
Vielen Dank.
({6})
Als Nächstes hat das Wort der Kollege Oswin Veith
für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 66 Jahren garantiert unser Grundgesetz in
Artikel 3 die gleichberechtigte Teilhabe von Männern
und Frauen. Um das zu erreichen, haben wir in den letzten Jahren bereits vieles auf den Weg gebracht. Mit der
Privatwirtschaft haben wir freiwillige Selbstverpflichtungen vereinbart und für den öffentlichen Dienst das
Bundesgremienbesetzungsgesetz und auch das Bundesgleichstellungsgesetz verabschiedet.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun eine Quotenregelung zur Verbesserung der Chancengleichheit für
Frauen und Männer bei der Besetzung von Führungspositionen vor. Für börsennotierte Unternehmen, die der
paritätischen Mitbestimmung unterliegen, gilt damit zukünftig für ihre Aufsichtsräte eine Geschlechterquote
von mindestens 30 Prozent. Zudem wird es verbindliche
Zielvereinbarungen für börsennotierte und mitbestimmungspflichtige Unternehmen geben. Ich bedaure es
ausdrücklich, dass es nicht gelungen ist, gemeinsam mit
der Privatwirtschaft dieses freiwillige Ziel zu erreichen.
Weil wir als Bund mit gutem Beispiel vorangehen
wollen, wird es für den öffentlichen Dienst vergleichbare
Regelungen geben. Die Bundesverwaltung wird künftig
verpflichtet, sich für jede Führungsebene konkrete Zielvereinbarungen zur Erhöhung des Frauen- bzw. Männeranteils zu setzen. Darüber hinaus soll bei der Besetzung
von Aufsichtsgremien, bei denen der Bund mitbestimmen kann, ab 2016 eine Quote von 30 Prozent gelten,
mit dem Ziel, diese Vorgabe ab dem Jahre 2018 auf
50 Prozent zu erhöhen. Im Koalitionsvertrag haben wir
uns auf eine gezielte Gleichstellungspolitik auf Ebene
des Bundes geeinigt. Wir wollen den Anteil der Frauen
in Führungspositionen erhöhen und Entgeltungleichheiten beseitigen. Dafür stehen wir als Union.
({0})
Für die Bundesverwaltung haben wir daher im Koalitionsvertrag eine proaktive Umsetzung des Bundesgleichstellungs- und Bundesgremienbesetzungsgesetzes
gefordert. Mit den Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst geht der vorliegende Gesetzentwurf aber
klar über die Vorgaben unseres Koalitionsvertrages hinaus. So enthält der Gesetzentwurf aus dem Familienministerium für die Geschlechterquote bei der Besetzung
von Aufsichtsgremien im Einflussbereich des Bundes
weder Öffnungs- noch Härtefallklauseln. Als Konsequenz muss bei einer Gremienbesetzung durch den Bund
streng auf diese Quote geachtet werden, losgelöst von
der jeweiligen persönlichen und fachlichen Eignung und
Qualifikation der potenziellen Gremienmitglieder. Das
kann nicht gutgehen. Auch fehlt es in dem Gesetzentwurf an einer Möglichkeit zur Abweichung von der
Quotenregelung in den Fällen, in denen eine funktionsbezogene Besetzung der Gremien erfolgt. Vor allem vor
dem Hintergrund, dass wir im öffentlichen Dienst bereits
über einen sehr hohen Standard verfügen, erscheinen mir
diese starren Quoten für zu weitgehend.
Lassen Sie mich die aktuelle Situation kurz aufzeigen.
Der Frauenanteil an Führungspositionen in den obersten
Bundesbehörden im Jahre 2012 betrug rund 30 Prozent.
Der Frauenanteil an Gremienmitgliedern im Einflussbereich des Bundes stieg von 1997 bis 2013 von 12,4 auf
25,7 Prozent. Das sind gute Zahlen, wie ich meine. Wir
liegen damit weit vor der Wirtschaft. Auch das gilt es angemessen zu berücksichtigen.
Das sagt auch vieles über den öffentlichen Dienst als
Arbeitgeber:
Erstens. Er ist auf einem sehr guten Weg, um die
Chancengleichheit für beide Geschlechter zu verbessern.
Auch deshalb ist der öffentliche Dienst ein attraktiver
Arbeitgeber.
Zweitens. Im Vergleich zur Privatwirtschaft arbeitet
der öffentliche Dienst konsequent an der Verbesserung
der Vereinbarkeit von Beruf, Pflege und Familie. Diese
Problematik ist erkannt. Wir haben in der letzten Legislaturperiode gemeinsam zum Beispiel mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz darauf reagiert. Damit haben wir
viele positive Maßnahmen zur Verbesserung der Familienfreundlichkeit auf den Weg gebracht, zum Beispiel
den Personalgewinnungszuschlag, Kinderbetreuungsund Pflegezeiten, die Anerkennung von Erfahrungszeiten, Wehrdienst- und Freiwilligendienstzeiten oder die
Einführung einer Verpflichtungsprämie für polizeiliche
Auslandsverwendungen. Ferner wurde die Übertragung
ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht
auf Lebenspartnerschaften beschlossen, und der Eintritt
in den Ruhestand wurde insgesamt flexibler ausgestaltet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen ist ein wichtiges Anliegen. Wir als Union bekennen uns klar zu diesem Ziel. Nicht zuletzt durch die
von der Union beschlossenen Maßnahmen ist der öffentliche Dienst hier bereits Vorreiter in unserer Gesellschaft. Wenn es denn richtig ist, wie es in Artikel 3 Absatz 2 unseres Grundgesetzes heißt: „Der Staat fördert
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin“, dann ist der vorliegende Gesetzentwurf der Familienministerin ein weiterer Schritt
auf einem richtigen Weg. Dennoch müssen wir im weiteren Beratungsverfahren noch den einen oder anderen
Stein beiseiteräumen, damit alles rund wird. Darauf
freue ich mich.
Vielen Dank.
({1})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Metin Hakverdi, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich - nicht im Sinne von heute, sondern im Sinne
von: nach so vielen Jahren des Debattierens, der getroffenen Selbstverpflichtung durch Wirtschaft und Politik,
der politischen Auseinandersetzung - hat sich die Einsicht durchgesetzt: Eine gerechte Gesellschaft, bei der
alle - Frauen und Männer gleichermaßen - in Wirtschaft
und Verwaltung Aufstiegschancen haben und Führungspositionen besetzen können, ist ohne eine gesetzlich verbindliche Quote offensichtlich nicht zu erreichen: Obwohl Frauen heute besser qualifiziert sind als Männer,
obwohl Frauen über 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen, liegt der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der
160 größten deutschen Unternehmen unter 20 Prozent,
bei den Vorständen sogar unter 6 Prozent.
Der eine oder andere, die eine oder andere findet einen Eingriff des Gesetzgebers unangemessen. Denen
sage ich: Gesetzgeberisches Handeln ist immer dort erforderlich, wo die gesellschaftlichen Mechanismen nicht
in der Lage sind, eine offensichtliche Ungerechtigkeit zu
überwinden. In diesem Fall muss der Gesetzgeber handeln: Männlich dominierte Strukturen lösen sich offensichtlich nicht freiwillig auf; das ist die Erkenntnis der
letzten Jahre. Deshalb lasse ich weder das Argument unnötiger Bürokratie noch das eines unzulässigen Eingriffs
in die unternehmerische Freiheit gelten.
({0})
Den anderen geht der Gesetzentwurf nicht weit genug. Denen sage ich: Dieser Gesetzentwurf - die Kollegin Künast hat auch das Wort „historisch“ benutzt - ist
eine historische Zäsur. Eine verbindliche Quote für Aufsichtsräte wird nunmehr gesetzlich festgeschrieben. Außerdem werden Aufsichtsräte verpflichtet, Zielgrößen
für die Vorstände zu beschließen; die Vorstände wiederum müssen Zielgrößen für die beiden Führungsebenen
unterhalb des Vorstandes festlegen. Für diese Zielgrößen
sind Fristen festzulegen und in Lageberichten zu veröffentlichen.
Das schafft Transparenz und Öffentlichkeit. Ich bin
überzeugt, dass diese Transparenz und Öffentlichkeit
eine ganz besondere Dynamik auslösen können: Ich
kann mir vorstellen, dass sich Organisationen allein zu
dem Zweck gründen, die einzelnen Unternehmen auf
diesen Aspekt hin zu überwachen. Ich kann mir vorstellen, dass solche Organisationen Ungerechtigkeiten in
einzelnen Unternehmen öffentlich machen und anprangern. Diese Unternehmen müssten dann der Öffentlichkeit erklären, warum der Frauenanteil in ihren Führungsebenen nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht.
Genügt - das ist auch an die Opposition heute gerichtet dieser öffentliche Druck nicht, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dann wird der Gesetzgeber wieder in der
Pflicht sein. Es ist ungerecht und unserem Gemeinwesen
unwürdig, dass Frauen in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft derzeit so stark diskriminiert sind.
Einigen - auch heute hier in diesem Haus - reicht
diese Feststellung nicht als Grund dafür, Unternehmen in
Deutschland zu mehr Gleichberechtigung zu verpflichten. Diese weise ich auf die vielen internationalen Studien hin, die alle ein Ergebnis haben: Unternehmen mit
einem höheren Frauenanteil in Führungsgremien haben
mehr Erfolg. - Deshalb ist es mir unverständlich, warum
die Unternehmerverbände jetzt nicht die Fahnenträger
dieser Gesetzesinitiative sind. Mit diesem Gesetz sorgen
wir nämlich nicht nur für mehr Gerechtigkeit in unserer
Gesellschaft, mit diesem Gesetz tun wir auch etwas für
den Wirtschaftsstandort Deutschland: Wir machen den
Wirtschaftsstandort Deutschland leistungsfähiger. Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz brechen wir
Strukturen auf, die bisher die wirtschaftliche Prosperität
in unserem Land behindert haben. Wir beseitigen ein
Marktversagen. Die nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutschland braucht dieses Gesetz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache zu
diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3784, 18/4307 und 18/4308
({0}) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, dass sich kein Widerspruch erhebt, Sie also alle damit einverstanden sind.
Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Hans-Christian Ströbele, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bericht über das Inhaftierungs- und Verhörprogramm der CIA vollständig und ungeschwärzt übermitteln
Drucksache 18/3558
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein ernstes Thema. Es geht um einen Antrag, bei dem meines Erachtens eigentlich niemand in diesem Haus dagegen sein
kann.
({0})
Ich denke, alle können unterschreiben und sagen:
Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter. Niemand
darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Wir alle wollen doch wohl, dass Folter abgestellt wird
und Foltervorwürfe rechtsstaatlich aufgeklärt werden.
({1})
Eigentlich haben wir bei diesem Thema doch alle die
gleiche Meinung, zum Beispiel gerade gestern bezüglich
des Bloggers in Saudi-Arabien. Der Kollege Tom
Koenigs, der zum Beispiel dazu geredet hat, sitzt jetzt
auch hier. Logisch. Aber wenn das so ist, meine Damen
und Herren, muss doch der Deutsche Bundestag jetzt gemeinsam begrüßen, dass - erstens - der Geheimdienstausschuss des US-Senats unter Leitung von Dianne
Feinstein diese Aufklärung über das Inhaftierungs- und
Verhörprogramm der CIA, über Jahre mühevoll betrieben hat, und müsste - zweitens - logischerweise dann
auch zustimmen, wenn wir heute beschließen wollen:
Wir ersuchen die zuständigen Stellen in den USA, uns
den vollständigen Bericht von 6 000 Seiten ungeschwärzt zu übermitteln. Das alles gehört logisch zusammen, meine Damen und Herren.
({2})
Wir kennen ja nun alle die Zusammenfassung, die
mittlerweile auf Deutsch - auf meinem Tisch liegt sie erschienen ist, 500 Seiten.
({3})
Aber der Bericht hat eben 6 000 Seiten. Selbst bei dieser
Zusammenstellung auf 500 Seiten - wenn man sie liest kann man verzweifeln. Es ist unglaublich, dass so etwas
in den USA geschehen ist, dass sich dieses politische
System, vermeintlich um Freiheit zu verteidigen, dahin
versteigen kann:
Waterboarding. - Ich kann mir gar nicht vorstellen,
wie sich ein Mensch physisch und psychisch dabei fühlt.
Man ist dann doch zerstört, im wahrsten Sinne des Wortes zerstört - schon nach dem ersten Mal. Hier war es
mindestens 18-mal.
Entzug von Schlaf. - Meine Damen und Herren, das
ist mit einem Land, dessen Verfassung anfängt mit „We
the People“, eigentlich gar nicht vereinbar.
Ich meine, was jetzt nicht passieren darf, ist, dass
nach diesem Bericht die Straflosigkeit folgt, meine Damen und Herren.
({4})
Es gibt viele Staaten auf der Welt, in denen Folter an
der Tagesordnung ist: Saudi-Arabien - davon haben wir
gestern geredet -, Syrien, Iran, auch Russland, meine
Damen und Herren. Aber von der US-Justiz erwarte ich,
dass sie hier wirklich aufarbeitet und es nicht mit der
Veröffentlichung des Berichts oder des Teilberichts bewenden lässt. Die USA haben sich doch eigentlich völker- und menschenrechtlichen Standards verpflichtet,
wenn sie auch nicht alles unterschrieben haben, zum
Beispiel bei dem Internationalen Strafgerichtshof.
Klar ist aber auch: Auch wenn die US-Justiz untätig
bleibt und Obama schon gesagt hat: „Wir reagieren da
nicht mit strafrechtlichen Maßnahmen“, kann das für uns
nicht heißen, dass wir, die wir sagen, Folter ist verboten
- einen anderen Weg gibt es nicht; wir haben es im Fall
des Polizisten Daschner richterlich bestätigt bekommen -, meinen: Das gilt jetzt für uns auch. Nein, das
Strafrecht hat ein Weltrechtsprinzip: Folter ist verboten was nichts anderes heißt, als dass jedes Land Folter, wo
auf dieser Welt und an wem auch immer sie verübt wird,
bei sich selbst einem Strafverfahren unterziehen kann.
({5})
Deshalb sage ich: Das Ganze muss Folgen haben. Die
deutsche Justiz muss doch zumindest in der Lage sein,
Taten mit Bezug zu Deutschland zu verfolgen, zum Beispiel bei Entführungen, die über unser Territorium erfolgt sind, bei denen deutsche Behörden beteiligt waren
- etwa bei der Ermittlung persönlicher Daten oder von
Aufenthaltsorten - oder wo die Opfer deutsche Staatsangehörige waren.
Stellen Sie sich jetzt einmal vor, jemand, dem das
passiert wäre, hieße Fritz Müller oder Meier. Wäre dann
der Aufschrei eigentlich größer gewesen, als wenn man
einen ganz anderen Namen gehabt hätte, zum Beispiel
Murat Kurnaz oder Khaled el-Masri? Überlegen Sie einmal - der Untersuchungsausschuss hat das ja gezeigt -,
ein deutscher Bürger aus Bremen wird in Mazedonien
festgenommen, nach Afghanistan verschleppt, gefoltert
- wir haben es gesehen; selbst in diesem Bericht steht
das -, misshandelt, erniedrigt und geschlagen. Ihm werden Drogen verabreicht und verschiedene rektale Einläufe verpasst. Wenn wir nicht einmal in der Lage sind,
bei solchen Straftaten und einer solchen Folter gegenüber deutschen Staatsangehörigen zu sagen: „So nicht“,
dann frage ich: Wo denn dann?
({6})
Ich sage das auch für den Deutschen Khaled el-Masri,
der von der CIA eben auch gefoltert wurde. In München
war man mutig, und es gibt dort Haftbefehle. Aber wo
funktioniert denn der deutsche Rechtsstaat, wenn diese
Haftbefehle gegen CIA-Agenten von der Regierung
nicht einmal an die USA weitergeleitet werden? Hier
geht es doch auch um die eigene Würde und die Glaubwürdigkeit, dass wir wirklich einen Rechtsstaat vertreten. Denken Sie allein auch an die Entführten, die nach
der Folter in ihren Zellen von Geheimdienstmitarbeitern
vernommen wurden, wodurch diese quasi die Früchte
des verbotenen Baumes geerntet haben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns nicht an einem System Straflosigkeit beteiligen dürfen.
({7})
Wie betreiben wir eigentlich - das sehen wir in diesen
Tagen - Terrorismusbekämpfung? Wie können wir bei
all der Strafverfolgung und all den Maßnahmen, die wir
hier in dieser Zeit strittig diskutieren, jungen Männern
und Frauen sagen: „Schließt euch nicht den Dschihadisten an, habt Respekt vor anderen Menschen, tötet nicht
andere, geht nicht diesen Weg“, und wie können wir ihnen eigentlich in die Augen schauen? Sie sehen uns an
und sagen: Gleiches Recht für alle!
Ich will diese Taten gar nicht voll gleichstellen, aber
wenn etwas eine Straftat ist, dann ist etwas eine Straftat,
und der deutsche Rechtsstaat und der Deutsche Bundestag sind nur glaubwürdig, wenn sie ohne Ansehen der
Person und ohne Ansehen der Staaten sagen: Solche
Straftaten werden von uns verfolgt. - Darum geht es.
({8})
Frau Kollegin Künast, ich darf Sie um Ihren letzten
Satz bitten.
Ja, ich komme zum Schluss. - Meine Damen und
Herren, wenn wir bei der Prävention und Bekämpfung
von Folter erfolgreich sein wollen, dann muss der Deutsche Bundestag diesen Bericht - 6 000 Seiten, ungeschwärzt - fordern. Ich meine, wenn wir in unserem
Rechtsstaat wirklich gegen Folter kämpfen wollen, dann
müssen wir die Frage nach diesem Bericht immer wieder
stellen. Wir werden nie aufhören, nach diesem Bericht
zu fragen - bis wir ihn haben.
({0})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank
Heinrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 17. Dezember 2014 haben wir an dieser
Stelle über die Foltermethoden der CIA debattiert und
waren uns über die Parteigrenzen hinweg einig - das
wurde von Frau Künast in ihrer Rede gerade auch gesagt -, diese grausamen Praktiken zu verurteilen. Ich selber habe zu Beginn meiner Rede damals gesagt:
„Schämt euch, Freunde in den USA …!“
Wir haben von sogenannten erweiterten Verhörtechniken gehört. Das ist eine grobe Verharmlosung von Folter.
Frank Heinrich ({0})
Lassen Sie mich einige der gravierendsten Verstöße einfach einmal ins Gedächtnis rufen: Verhaftungen auf Verdacht ohne jede Anklage, Abschottung von der Außenwelt in Geheimgefängnissen, Drohungen gegen die
Familie, zum Beispiel die Drohung, die Mutter zu vergewaltigen, Eintauchen in eine Tonne mit Eiswasser,
Schlafentzug über drei Tage. Man könnte das noch weiter fortsetzen.
Der Bundesregierung lag bisher nur ein Teil des
6 000-seitigen Berichts vor, der von Frau Feinstein so
toll und mit großer Ausdauer vorbereitet wurde, 500 Seiten, und diese sind an vielen Stellen geschwärzt. Man
bekommt Angst, wenn man sich vorstellt, was auf den
restlichen Seiten oder unter diesen geschwärzten Stellen
des Berichts noch verborgen sein könnte.
Wir verlangen von den Freunden in den USA eine
vollständige Aufklärung. Insofern stimme ich dem Anliegen des Antrags zu.
Am gleichen Tag, als die Debatte im Dezember stattfand, wurde der Rechtsausschuss durch Generalbundesanwalt Harald Range informiert. Er hat an die USA den
Antrag gestellt, der Bundesregierung den kompletten
und ungeschwärzten Bericht zu liefern. Der Antrag, über
den wir heute debattieren, übrigens mit dem gleichen
Datum wie damals versehen, erübrigt sich deswegen
({1})
und wirkt schon auf eine gewisse Weise wie ein Schaufensterantrag.
({2})
Zudem müssen Sie doch wissen, dass nicht nur wir alleine, sondern auch die anderen Staaten der EU - das
wird im nächsten Monat im Europäischen Parlament der
Fall sein - darüber debattieren. Trotzdem gibt es - das
habe ich im Eingang gesagt - Elemente in Ihrem Antrag,
die wir als CDU vollständig mittragen.
Die erneute inhaltliche Debatte, auch angesichts der
Geschehnisse seit Dezember, ist sinnvoll. Deshalb
möchte ich den ersten Absatz Ihres Antrags vorlesen:
Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter. Niemand
darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden ...
Danach werden mehrere Paragrafen dazu angeführt.
Dieser Forderung können wir absolut, unmissverständlich und vollumfänglich zustimmen.
Gestern haben wir hier an der gleichen Stelle, wie Sie
gerade gesagt haben, über den Blogger Raif Badawi aus
Saudi-Arabien debattiert. Er wurde vor zwei Jahren wegen Beleidigung des Islams verhaftet, im November
letzten Jahres zu zehn Jahren Haft, einer Geldstrafe und
1 000 Peitschenhieben verurteilt, was durch die Medien
ging. Die ersten 50 Schläge sind ihm verabreicht worden
oder wurden, wie man dort wahrscheinlich sagt, vollstreckt. Daraufhin hatte er so starke Verletzungen, dass
ihm, auch aufgrund des politischen Drucks, bisher keine
weiteren Schläge verabreicht wurden.
Saudi-Arabien hat das Attentat in Paris als „feigen
Terrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“ - so viel zur einen Seite der öffentlichen Wahrnehmung. Nur zwei Tage später hat Saudi-Arabien den
Blogger in Dschidda öffentlich auspeitschen lassen. Ich
suche immer noch denjenigen, der das versteht.
Die Bundesrepublik und die gesamte westliche Welt
haben gegen diese Form der Folter ihre Stimme erhoben mit Erfolg. Eine weitere Bestrafung wurde - das habe
ich eben gesagt - vorerst ausgesetzt. Damit wir aber unsere Stimme gegen jede Form von Menschenrechtsverletzung, gegen Einschränkungen von Meinungsfreiheit,
Pressefreiheit, Religionsfreiheit, gegen Diskriminierung
von Minderheiten, gegen unfaire Gerichtsverfahren und
gegen Folter glaubwürdig erheben können, müssen wir
auch vor der eigenen Haustür kehren.
Die USA sind unsere Freunde. Diese Freundschaft
darf nicht dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit der
Weltgemeinschaft beeinträchtigt und beschädigt wird.
Dafür müssen die Daten vollständig und ungeschwärzt
vorliegen. Der Generalbundesanwalt geht an dieser
Stelle den richtigen Weg. Natürlich müssen wir zusichern, was unter Punkt IV in Ihrem Antrag steht:
Der Deutsche Bundestag versichert, dass er etwaige
Maßgaben der Vereinigten Staaten zur Geheimhaltung beachten wird und den Bericht - wenn von den
USA gewünscht - nur in seiner Geheimschutzstelle
zugängig machen wird.
Es ist das Wesen eines demokratischen Rechtsstaates,
vollumfänglich aufzuklären und juristische Konsequenzen zu ziehen. Nur so gewinnt Politik an Glaubwürdigkeit, möglicherweise auch Glaubwürdigkeit bei den politikverdrossenen Bürgern zurück, die in unserem Land
auf die Straße gehen.
({3})
Das gilt auch nicht minder für die Glaubwürdigkeit
bei Konflikten zwischen Staaten. So hat Deutschland unter anderem eine Vermittlerrolle zwischen den widerstreitenden Kräften in der Ukraine übernommen. Wir haben eine führende Rolle in der wirtschaftlichen und
demokratischen Stabilisierung innerhalb der EU und vieler anderer Länder. Wir tun das in enger Verbundenheit
mit den Partnern, auch mit den USA. Um dieser Glaubwürdigkeit willen brauchen wir einen Zugang zum vollständigen Bericht.
({4})
Wohin politische Geheimniskrämerei im Zeitalter von
Wikileaks führen kann, hat uns der Fall Snowden ziemlich deutlich vor Augen geführt. In diesen Tagen wird
immer wieder das christlich-jüdische Abendland und
Menschenbild beschworen. Lassen Sie mich an dieser
Stelle als Christ ein Stück aus der Bibel zitieren, in der
Frank Heinrich ({5})
genau davon die Rede ist, als Jesus sagt: „... die Wahrheit wird euch frei machen“. - Das galt damals, und das
gilt heute, auch und gerade in einem Land und für ein
Land, das die Freiheit für einen seiner größten Werte
hält, die USA.
Wir fordern Offenlegung. Gerechtigkeit beginnt mit
dem Aufdecken der Wahrheit. Wenn es der Bericht nötig
macht, unterstützen wir den Generalbundesanwalt darin,
Ermittlungen aufzunehmen: zum Schutz der Menschenrechte.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke wird sich natürlich keinem Antrag entgegenstellen, dessen erster Satz lautet: „Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter.“
({0})
Ich sage ganz klar: Auch ein vermeintlich noch so guter Zweck heiligt nicht alle Mittel, auch nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika.
({1})
Geheimgefängnisse in aller Welt, Guantánamo, wo Menschen zum Teil seit über einem Jahrzehnt ohne jedes Gerichtsverfahren inhaftiert sind, und dann auch noch die
Anwendung schlimmster Foltermethoden bei Gefangenen: Das sind konkrete Beispiele, die von meinen Vorrednern schon genannt wurden. Für all das gibt es nicht
die geringste Rechtfertigung.
Mein Kollege Stefan Liebich hat das in der Dezemberdebatte als Verbrechen im Staatsauftrag bezeichnet. Ich stimme ihm darin ausdrücklich zu und hätte mir
eine solche klare Aussage im Übrigen auch im Antragstext von Bündnis 90/Die Grünen gewünscht.
Überhaupt ist der Antrag eher freundlich formuliert.
Aber ob das ausreicht, die Koalition zur Zustimmung zu
bewegen, vermag ich nach den Ausführungen von Herrn
Heinrich nicht ganz nachzuvollziehen. Sie haben nicht
gesagt, was Sie wollen. Sie haben das Anliegen unterstützt. Dann sagen Sie doch klipp und klar: Auch die Koalition wird zustimmen. - Das wäre eine klare Aussage.
Diese habe ich von Ihnen leider nicht gehört.
({2})
Dabei sollte doch das Grundanliegen des Antrags, nämlich die Aufforderung an die US-Behörden, den Bericht
des US-Senats über das Inhaftierungs- und Verhörprogramm an den Bundestag zu übermitteln, eigentlich von
allen Fraktionen dieses Hauses mitgetragen werden können.
Für meine Fraktion, die Linke, will ich noch einmal
betonen, wie froh wir sind, dass es diesen Bericht überhaupt gibt und die stattgefundenen Misshandlungen dadurch bekannt geworden sind und dass er zumindest in
Teilen veröffentlicht wurde und nicht komplett in der
Versenkung verschwunden ist, wie es Teile der US-Regierung und nicht wenige Senatoren gern gesehen hätten.
Dass es dazu nicht gekommen ist, haben wir vor allem dem jahrelangen Engagement der Senatorin Dianne
Feinstein zu verdanken, die kurz vor Ablauf ihrer Amtszeit als Vorsitzende des Geheimdienstausschusses die
Veröffentlichung dieses Berichtes trotz erheblicher Widerstände durchsetzte. Das sollten wir auch in der heutigen Debatte noch einmal ausdrücklich würdigen.
({3})
Punkt III des Antrags der Grünen beinhaltet das Ersuchen, dem Bundestag den Bericht vollständig und ungeschwärzt zu übermitteln. Auch diese Forderung findet
unsere Zustimmung. Denn bislang sind - das ist gesagt
worden - lediglich knapp 500 Seiten übermittelt worden
und öffentlich zugänglich, während der offizielle Bericht
mehr als 6 000 Seiten umfassen soll. Man braucht daher
kein Prophet zu sein, um davon auszugehen, dass die
schlimmsten Verbrechen bislang nicht einmal ansatzweise bekannt geworden sind. Auch um Unterstützungshandlungen und Straftaten, die von deutschem Boden
ausgegangen sind, umfassend aufklären und strafrechtlich verfolgen zu können, brauchen wir die ungeschwärzte Fassung.
({4})
Wenn ich an die umfänglichen Schwärzungen denke,
dann habe ich gleich wieder die Akten aus dem NSAUntersuchungsausschuss vor Augen, in dem auch sehr
wichtige und für die Aufklärung zentrale Passagen unleserlich gemacht worden sind. Es scheint bei Regierungen offenkundig Methode zu sein, Dinge verheimlichen
oder verbergen zu wollen, die Missstände, kompromittierende Sachverhalte, Rechtsverstöße oder gar Straftaten aufdecken könnten. Doch damit darf sich ein Parlament nicht abspeisen lassen, sondern es muss immer
wieder seiner Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive
umfassend nachkommen. Das gilt im Übrigen sowohl
für die Koalitionsfraktionen wie für die Opposition, auch
wenn das offenbar noch nicht alle Kollegen von Union
und SPD verinnerlicht haben.
Doch zurück zum vorliegenden Antrag. In der Begründung wird unter anderem auf den Fall des deutschen
Staatsbürgers el-Masri hingewiesen, der im Bundestag
schon häufiger diskutiert wurde. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass es in dem Gesamtbericht noch
weitere Bezüge zu Deutschland geben wird. Für mich als
Abgeordneten aus Sachsen ist beispielsweise interessant,
welche Rolle der Flughafen Leipzig/Halle beim Transport rechtswidrig festgenommener oder verschleppter
Menschen in die USA gespielt hat und ob dies mit Einwilligung deutscher Behörden geschah.
Das und vieles andere bedarf einer Klärung. Der Antrag kann dazu einen Beitrag leisten. Deshalb werden
wir ihm zustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner
für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben uns vor wenigen Wochen hier im
Deutschen Bundestag mit dem gleichen Thema befasst,
mit dem Bericht des US-Senats zu den Folterpraktiken
des amerikanischen Geheimdienstes CIA.
„Folter“ ist in der Tat - da gebe ich allen Vorrednern
recht - der treffende Begriff; denn um nichts anderes
handelt es sich hier bei den von der CIA als verschärfte
Verhörmethoden bezeichneten Praktiken. Ich betone
ebenfalls noch einmal: Diese Folterpraxis der CIA ist
grauenhaft und vollkommen inakzeptabel. Dass es Folter
gab, wissen wir seit der Veröffentlichung der Kurzfassung des Berichts des US-Senats im Dezember 2014.
Der vollständige Bericht umfasst - das wurde bereits
mehrfach gesagt - 6 000 Seiten. Der veröffentlichte Bericht umfasst rund 500 Seiten, die teilweise geschwärzt
sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bereits die
Lektüre der Kurzfassung versetzt mich in tiefe Bestürzung aufgrund der Deutlichkeit und des Ausmaßes der
Menschenrechtsverstöße, aber vor allem wegen des berechnenden Vorgehens der amerikanischen Sicherheitsbehörden, indem sie versuchten, ihre Verbrechen zu
rechtfertigen, ja sogar mit geltendem Recht in Einklang zu
bringen. Besonders deutlich wurde dies beim sogenannten
Waterboarding - es wurde bereits angesprochen -, einer
Foltermethode, bei der ein Tuch über Mund und Nase
gelegt wird und das Opfer durch ständige Wasserzufuhr
an den Rand des Ertrinkens gebracht wird, einer Foltermethode, die in aller Regel keine körperlichen, aber unsagbare psychische Schäden verursacht.
Im Juli 2002 wurde diese Foltermethode durch den
obersten Rechtsberater der US-Regierung zunächst als
zulässige Foltermethode vermieden, aber nur wenige
Tage später durch Vorspiegelung falscher Tatsachen
durch die CIA letztendlich doch zugelassen. Allein
schon dieses Beispiel dokumentiert, wie sehr sich der Sicherheitsapparat der USA nach dem Anschlag auf das
World Trade Center im Jahr 2001 im Kampf gegen den
Terrorismus sozusagen verselbstständigt hat. Bisher
hatte ich dies in Demokratien und erst recht in den USA
für unmöglich gehalten.
Die Täter, die in das Folterprogramm des amerikanischen Geheimdienstes eingebunden waren, müssen juristisch verfolgt werden. Das gilt natürlich auch für jene,
die die politische Verantwortung für dieses Folterprogramm tragen. Die USA haben sowohl den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte als auch
die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet und ratifiziert und 1994 in nationales Recht umgesetzt. Damit ist
der rechtliche Rahmen geschaffen für strafrechtliche
Verfolgung von Folter in den USA. Eine Verfolgung der
Straftaten ist sogar zwingend geboten.
Frau Kollegin Glöckner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Danke, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. Vielleicht zunächst eine kleine Korrektur. Wir wissen
nicht erst seit dem Folterbericht von dieser Folter, sondern spätestens seit sich ein Untersuchungsausschuss des
Deutschen Bundestages in den Jahren nach 2004 intensiv mit den Foltermethoden und auch mit dem Fall elMasri und dem Fall Kurnaz beschäftigt hat. Wir haben
also schon genügend Zeit gehabt. Aber das ist nicht
meine Frage.
Sie fordern völlig zu Recht, dass das juristische Konsequenzen haben muss, dass nur, wenn dies tatsächlich
juristisch geahndet wird, wir Hoffnung haben können,
dass das so schnell nicht wieder passiert. Der Bundesjustizminister hat das ja auch schon gefordert. Leider ist er
heute nicht hier.
Ich frage Sie und frage den Bundesjustizminister:
Was tun Sie dafür, dass, wenn die USA in den USA das
nicht verfolgen, dann deutsche Behörden, insbesondere
der Generalbundesanwalt, tätig werden, um diese Strafverfolgung einzuleiten? Da die USA inzwischen Straffreiheit beschlossen haben - Herr Obama hat Straffreiheit für seinen Vorgänger und alle, die damit zu tun
hatten, erklärt -, bleibt nichts anderes übrig, als dass
diese Taten außerhalb der USA vor Gericht gebracht
werden. Der Generalbundesanwalt hat - so die Auskunft
auf eine Frage von mir vom 23. Dezember, also kurz vor
Weihnachten - geantwortet, er prüfe noch.
Ich frage Sie: Warum erteilt der Bundesjustizminister
dem Generalbundesanwalt nicht die Anweisung, endlich
Ermittlungen insbesondere gegen die von der US-Presse
so genannte Folterlady bzw. Folterkönigin der USA einzuleiten, die im Bericht erwähnt wird und die beispielsweise im Fall el-Masri Verschleppung und Folter ausdrücklich angeordnet haben soll? Das ist mir ein großes
Rätsel. Alle Reden, in denen gesagt wird, dass hier eine
Strafverfolgung stattfinden muss und dass das nicht
straffrei bleiben darf, sind wohlfeil, solange man selbst
nicht alles tut, um die Strafverfolgung sicherzustellen.
Meine Frage an Sie lautet: Was tun Sie, was tut Ihr JusHans-Christian Ströbele
tizminister dafür, dass endlich die Strafverfolgung beginnt?
({0})
Danke, Herr Ströbele. - Ich vertrete die Auffassung
- das entspricht vielleicht nicht ganz Ihrer Auffassung -,
dass es Sache des Generalbundesanwaltes ist, hier tätig
zu werden. Ich gebe Ihnen insoweit recht, als dass dieses
Parlament bestimmte Aufgaben hat - wenn Sie gestatten, werde ich in meinen weiteren Ausführungen darauf
noch zu sprechen kommen -, die aber nicht so aussehen,
wie Sie sich das vorstellen. Wir können nicht von hier
aus ermitteln. Das ist Sache der Jurisdiktion und nicht
Sache des Parlaments. Ich vertrete hier eine andere Auffassung als Sie.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, Präsident Obama hat auf einer Pressekonferenz im Juni 2014 die durch den Senatsbericht aufgedeckten Folterungen bestätigt. Dieser Bestätigung muss
eine juristische Aufarbeitung folgen. Ich halte das deshalb für so wichtig, weil hiervon die Glaubwürdigkeit
der USA, aber auch der gesamten Weltgemeinschaft abhängt. Wir wollen uns auch künftig international glaubhaft für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen.
Deshalb dürfen erst recht Menschenrechtsverletzungen
innerhalb unserer eigenen Wertegemeinschaft nicht ungestraft bleiben. Gerade wenn es um so elementare Menschenrechte wie Menschenwürde, Leben, körperliche
Unversehrtheit geht, dürfen wir nicht mit zweierlei Maß
messen.
Wir als Parlamentarier wie auch die Bundesregierung
müssen den USA deutlich machen, dass wir Menschenrechtsverletzungen in keinem Fall hinnehmen. Sehr geehrte Frau Künast, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
das ist unsere Aufgabe. Darauf müssen wir hier hinwirken. Insofern bin ich für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ganz dankbar.
({1})
Er gibt uns Gelegenheit, dies heute noch einmal klar
zum Ausdruck zu bringen.
({2})
Doch auch hierbei gilt es, Maß zu halten.
({3})
Es hilft meiner Meinung nach in der Sache nicht weiter,
wenn wir Forderungen aufstellen, die den Aufklärungsprozess insgesamt gesehen nicht unterstützen.
({4})
Der Aufklärungsbericht des US-Senats hat in der
amerikanischen Öffentlichkeit eine große Debatte ausgelöst. Nicht nur bei uns, sondern auch in ganz Amerika
wurde der Ruf nach einer Strafverfolgung laut. Ramstein, der größte amerikanische Luftwaffenstützpunkt
außerhalb der USA, liegt zufällig in meinem Wahlkreis,
und ich kenne viele Menschen, die dort arbeiten und mir
berichtet haben, wie betroffen die ganze Affäre die Amerikaner selbst macht. Als ich in der letzten Woche auf
der Air Base beim Neujahrsempfang zu Besuch war,
habe ich nichts anderes gehört.
Amerika ist ein Land, das über alle erforderlichen Instrumentarien und Institutionen verfügt,
({5})
die sicherstellen, dass die berechtigten Rufe der Amerikaner nach Aufklärung realisiert werden können. Dieses
Anliegen gilt es zu unterstützen, meine Damen und Herren.
({6})
Inwiefern eine Überweisung des ungekürzten Berichts
des US-Senats an den Deutschen Bundestag, wie es im
Antrag gefordert wird, bei diesem Anliegen helfen soll,
erschließt sich mir nicht.
Wir alle wollen die Aufklärung der Foltervorwürfe;
das steht außer Frage.
({7})
Wir als SPD-Fraktion haben dies wiederholt betont und
gefordert. Aber ich betone es noch einmal: Nur eine juristische Aufklärung führt zu diesem Ziel. Sie muss im
Vordergrund stehen und nicht die politische Debatte;
diese muss es zugegebenermaßen auch geben, aber mit
Blick in die Zukunft. Dabei müssen wir uns die Frage
stellen, wie so etwas künftig vermieden werden kann.
({8})
Die vollständige Berichtsveröffentlichung würde international eine mediale und politische Debatte auslösen.
Dies gilt im besonderen Maße für alle Personennamen,
die in unterschiedlichsten Zusammenhängen diskutiert
und möglicherweise verurteilt würden.
({9})
Nach meiner Auffassung käme das einer außergerichtlichen Vorverurteilung gleich,
({10})
die gerade wir in der westlichen Wertegemeinschaft
nicht unterstützen können.
Zudem stellt sich die Frage, wie realistisch die Forderung nach einer vollständigen Veröffentlichung des Senatsberichts wirklich ist. Der Weg bis zur heutigen Aufklärung der Vorwürfe war sehr steinig. Das zeigt sich
daran, dass zwischen dem ersten Vorlegen des Gesamtberichts und der ersten Veröffentlichung der Kurzfassung
immerhin zwei Jahre harter innenpolitischer Auseinandersetzungen lagen. Am Ende fanden die Konfliktparteien in Amerika den Kompromiss, dass eine Zusammenfassung veröffentlicht werden sollte, bei der mit
Blick auf die nationale Sicherheit jene Namen und Stellen geschwärzt wurden, die auf die Identität der Täter
hinweisen könnten. Diese Verhandlungsergebnisse sollten wir nicht einfach ignorieren, meine Damen und Herren.
Die amerikanische Regierung hat bereits mehrfach
klargestellt, dass sie aus Gründen der nationalen Sicherheit der Herausgabe des vollständigen Berichts eben
nicht zustimmen wird. Vor diesem Hintergrund wäre im
günstigsten Fall mit einer Übergabe unter Geheimhaltungspflicht zu rechnen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Liebich?
Ja.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,
Frau Kollegin. - Das Bild, das Sie hier von den Vereinigten Staaten zeichnen, scheint mir doch etwas vereinfacht zu sein. Es ist nämlich nicht so, dass dort massenweise der Ruf nach Strafverfolgung erschallt, und es ist
auch nicht so, dass es einen politischen Kompromiss gegeben hat. Vielmehr haben die Demokraten im Kongress
gegen den massiven Widerstand der Republikaner
durchgesetzt, dass es diesen Bericht überhaupt gibt. Bis
auf wenige Ausnahmen kämpfen die Republikaner bis
heute dagegen, dass er überhaupt veröffentlicht wird. Da
reden wir überhaupt nicht von Strafverfolgung.
Nun gab es inzwischen Wahlen. Inzwischen sind diejenigen in der Mehrheit und in den entsprechenden Positionen, die gar nicht wollten, dass dieser Bericht veröffentlicht wird. Ist es deshalb nicht umso wichtiger, dass
wir als deutsches Parlament ein Signal senden, dass wir
mit diesem Weg nicht einverstanden sind?
({0})
Ich sagte es ja, Herr Kollege: Ich glaube, das tun wir
heute. Ich habe insofern auch den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen begrüßt.
({0})
Ich lehne den Antrag vom Inhalt her nicht ab, nur den
Weg, der mit diesem Antrag verfolgt wird, halte ich
nicht für den richtigen.
({1})
Ich komme zur Übergabe des Berichts unter Geheimhaltungspflicht zurück. Hier stellt sich doch die Frage,
ob dies für eine weitere Fallaufklärung hilfreich wäre
bzw. zur juristischen Aufarbeitung der Vorwürfe beitragen kann. Beides scheint mir eher nicht der Fall zu sein.
Abschließend möchte ich, wie auch Vorredner von
mir, noch einmal auf den Fall Khaled el-Masri eingehen.
Dieser Fall findet besondere Beachtung, weil hier womöglich Verhöre mit deutscher Unterstützung im Raum
stehen. Auch hier gilt: Es bedarf einer strafrechtlichen
Aufarbeitung. Nach meinen Informationen prüft derzeit
der Generalbundesanwalt Range - das wurde auch gesagt - die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und
möchte selbst den ungeschwärzten Komplettbericht anfordern.
Dieses Vorgehen im Rahmen eines juristischen Verfahrens erscheint mir als der deutlich bessere Weg und
auch als der richtige Weg, die Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des CIA-Programms aufzuklären. Ich
finde, gerade hier sollte dem verfassungsgemäßen Grundsatz der Gewaltenteilung besondere Beachtung zukommen. Denn eines sollte bei der Aufklärung und Verfolgung der Foltervorwürfe des US-Sicherheitsdienstes
keinesfalls geschehen: eine Politisierung und Instrumentalisierung von Menschrechtsverletzungen.
({2})
Alle von mir aufgeführten Gesichtspunkte berücksichtigt der Antrag nicht. Ich empfehle daher, den Antrag abzulehnen.
Danke schön.
({3})
Danke, Frau Kollegin. - Einen schönen guten Tag
von mir für Sie und die Gäste auf der Tribüne.
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Andrea
Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Bereits am 17. Dezember letzten
Jahres hat sich der Bundestag in diesem Haus differenziert zu den Berichten über Folter durch die CIA geäußert. Dieser Debatte lässt sich heute kaum noch etwas
hinzufügen.
({0})
Auch mich hat der Bericht schockiert, und man erschrickt angesichts der perversen Perfektionierung von
Folter. Ausgerechnet in einer der ältesten Demokratien
der Welt wurde versucht, brutale Folter mit rechtsstaatlichen Mitteln zu legitimieren. In einem Rechtsstaat des
21. Jahrhunderts darf Folter niemals legitimiert werden.
Es waren die Bürgerrechte, die Rechte des Einzelnen
gegenüber der Gemeinschaft, die dem amerikanischen
Gesellschaftsmodell seine einzigartige Ausstrahlung
verliehen haben. Nicht ohne Grund hat die Verfassung
der USA, so wie sie 1787 in Philadelphia niedergeschrieben wurde, heute noch Bestand, und sie diente
auch den Demokratien in Europa als Orientierung. Die
grauenvollen Einzelheiten des Berichtes machen erneut
deutlich, wie tief der 11. September 2001 die amerikanische Gesellschaft verstört hat. Als Demokrat möchte
man den USA heute zurufen: Besinnt euch auf eure
Wurzeln, und vergesst auch angesichts des Terrors nicht
euer großes demokratisches Erbe.
({1})
Die Veröffentlichung des Berichtes zeigt aber auch,
dass die rechtsstaatlichen Prinzipien in den USA funktionieren. Keine Diktatur, kein autoritäres Regime würde
eine so schonungslose und öffentliche Aufklärung betreiben, wie es der US-Senat getan hat.
({2})
Als Demokrat hat man die Pflicht, Folter kompromisslos zu verurteilen und Aufklärung zu fordern. Gerade wir als Deutsche sollten aber nicht in eine moralische Überheblichkeit verfallen. Allein das Gedenken in
dieser Woche hier im Bundestag an die Befreiung von
Auschwitz vor 70 Jahren verbietet das.
Auch das moderne Deutschland ist nicht über jeden
Zweifel erhaben.
({3})
Seit 1989 befragt zum Beispiel der Strafrechtsprofessor
Streng seine Erst- und Zweitsemester in Erlangen und in
Konstanz zu ihren rechtsstaatlichen Überzeugungen. Im
Oktober letzten Jahres ergab die Befragung, dass jeder
zweite seiner Jurastudenten Folter und jeder dritte die
Todesstrafe in Deutschland befürwortet.
({4})
- Ja, das ist schlimm. - Die Stichprobe ist zwar nicht repräsentativ, aber sie ist ein deutliches Warnsignal. Auch
in Deutschland müssen wir das absolute Folterverbot
konsequent verteidigen.
({5})
Auch ich möchte heute an die Diskussion um den
Mörder des kleinen Jakob von Metzler erinnern. Natürlich ist es kaum zu ertragen, dass ein verurteilter Kindsmörder für die Androhung von Folter entschädigt und
ein Polizist, der ein Kind retten will, bestraft wird. Trotzdem ist es für einen Rechtsstaat unerlässlich, dass bestimmte Werte absolute Geltung besitzen. Zu diesen
Werten mit absoluter Geltung muss das Folterverbot gehören. Denn die Würde des Menschen darf niemals relativiert werden; sie ist unantastbar.
({6})
Es reicht auch nicht aus, Folter nur zu verurteilen. Ein
Rechtsstaat muss Verbrechen aufklären, und er muss
auch die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Insofern ist das Grundanliegen des Antrages richtig. In der
Vergangenheit wurde in Deutschland und in Europa bereits an der Aufklärung gearbeitet. Der Fall el-Masri und
der Fall Kurnaz wurden im sogenannten BND-Untersuchungsausschuss behandelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits in einigen Fällen
Schadensersatzansprüche durchgesetzt. Angesichts des
nun vorliegenden Berichtes vom 9. Dezember 2014 zu
den Verhör- und Foltermethoden aus den Jahren 2001 bis
2009 durch die CIA müssen auch wir uns fragen: Wie
können wir zur weiteren Aufklärung beitragen?
Einen nationalen Alleingang - ich komme zur Begründung der Ablehnung des Antrages - halte ich für
aussichtslos. Anstatt Schaufensteranträge zu stellen,
brauchen wir eine europäische Initiative.
({7})
Europa sollte gemeinsam auf die Freigabe des vollständigen Berichtes drängen.
({8})
Das Europaparlament wird voraussichtlich im Februar
genau zu dieser Frage eine Entscheidung treffen.
({9})
Diese Entscheidung sollten wir zunächst abwarten.
({10})
Ebenfalls sollte sich der Rat der EU-Außenminister damit befassen.
({11})
In Ihrem Antrag fehlt jeder Hinweis auf die Europäische
Union; denn nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa muss aufklären, ob und inwiefern Mitgliedstaaten
beteiligt waren. Wir sollten daher unseren Einfluss in
Europa geltend machen.
({12})
Die Strafverfolgung in den USA obliegt zunächst der
amerikanischen Justiz.
({13})
In Deutschland hat der Generalbundesanwalt bereits angekündigt, dass er versuchen wird, über die diplomatischen Kanäle Einblick in den vollständigen Bericht zu
erhalten. Wir sollten ihm und unserer Judikative daher
nicht mit einem vorschnellen Antrag vorgreifen.
({14})
Ich bin mir auch sicher, dass die Bundesregierung auf
diplomatischem Weg alles versuchen wird, damit der
vollständige Bericht in ganz Europa und nicht nur in
Deutschland vorgelegt wird. Daher lehnen wir einen
deutschen Alleingang ab.
Vielen Dank.
({15})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. - Nächster und
letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Egon Jüttner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Seit Dezember liegt der Untersuchungsbericht
des Geheimdienstausschusses des Senats der Vereinigten
Staaten von Amerika über die Behandlung von Terrorverdächtigen vor. Es bedarf dringend einer Aufarbeitung
dieses Skandals.
({0})
Die Schuldigen müssen strafrechtlich verfolgt und vor
Gericht gestellt werden,
({1})
nicht nur die kleinen Handlanger, auch die Verantwortlichen in höchsten politischen Positionen.
({2})
Liest man den öffentlich zugänglichen Teil des Berichts, dann sollte man nicht meinen, dass es sich dabei
um den Geheimdienst der Vereinigten Staaten handelt.
Man mag es kaum glauben, dass solche Exzesse des Geheimdienstes von einem Land angewandt wurden, das
auf eine lange demokratische Tradition zurückblicken
kann und das den entscheidenden Beitrag geleistet hat,
Europa von Tyrannei mit all ihren unmenschlichen Auswüchsen im 20. Jahrhundert zu befreien.
Als demokratisches Land, dem die Einhaltung der
universellen Menschenrechte wichtig ist, und als Verbündeter der USA muss Deutschland betroffen und
schockiert sein über die Verhörmethoden des amerikanischen Geheimdienstes. Diese sind einer freien Gesellschaft und eines Landes, das die Werte der Freiheit proklamiert, unwürdig. Sie stellen den Anspruch der USA,
Vorbild und moralische Instanz zu sein, infrage.
({3})
Waterboarding, Kälteschocks, Morddrohungen und
Scheinexekutionen, um nur einige der brutalen Foltermethoden zu nennen, sind Maßnahmen, die wir eigentlich nur aus Diktaturen kennen und die wir dort zu Recht
anprangern. Sie als „erweiterte Verhörmethoden“ zu bezeichnen, wie es der amerikanische Geheimdienst tut, ist
mehr als zynisch. Sie sind keine Mittel, deren sich eine
der ältesten Demokratien der Welt bedienen sollte, um
von Verdächtigen Geständnisse zu erpressen.
({4})
Der Rechtsstaatlichkeit ist immanent, dass auch denjenigen mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet wird, die es
sich zur Aufgabe gemacht haben, den Rechtsstaat zu bekämpfen.
Als CDU/CSU-Fraktion begrüßen wir es, dass die in
dem Bericht bekannt gewordenen Methoden inzwischen
nicht mehr angewandt werden. Wir begrüßen ebenfalls
die Erstellung des Berichts, zeigt dies doch, dass das altbewährte System von „checks and balances“, also der
gegenseitigen Kontrolle von Verfassungsorganen, in den
Vereinigten Staaten weiterhin funktioniert. Hier wird ein
fundamentaler Unterschied zu Staaten wie etwa Russland, China oder dem Iran deutlich.
({5})
Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten ist es dort undenkbar, dass der Ausschuss eines frei gewählten Parlaments die Verfehlungen des eigenen Geheimdienstes untersucht und sogar veröffentlicht.
Wir teilen die im Antrag gestellte Forderung, dass der
Bericht Deutschland nicht nur in Teilen, sondern vollständig und ungeschwärzt zugänglich gemacht werden
muss.
({6})
Dies ist insbesondere hinsichtlich der Taten, die einen
direkten Zusammenhang zur Bundesrepublik Deutschland aufweisen, für uns von großer Bedeutung. Wir begrüßen es deshalb, dass der Generalbundesanwalt die
komplette Fassung des Berichts anfordert und auf Basis
der veröffentlichten Kurzfassung prüft,
({7})
ob er im Zusammenhang mit dem Folterbericht förmliche Ermittlungen aufnimmt. Wir sollten - das ist unsere
Auffassung - dieses Verfahren abwarten und uns als Legislative nicht in die Arbeit der Exekutive bzw. Judikative einmischen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Vielen Dank, Dr. Jüttner.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3558
mit dem Titel „Bericht über das Inhaftierungs- und Verhörprogramm der CIA vollständig und ungeschwärzt
übermitteln“. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt
dagegen? ({0})
Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Auch wenn
Sie sich etwas anderes wünschen, der Antrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke, abgelehnt haben die CDU/CSU-Fraktion und
die SPD-Fraktion. - Vielen Dank.
({1})
Wenn Sie beim Tagesordnungspunkt 19 nicht hier
sein wollen, dann bitte ich Sie, zügig die Plätze freizugeben. Bei der SPD bleibt alles, wie es ist.
({2})
- Gut, dann fangen wir jetzt an.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung eines ErsatzPersonalausweises und zur Änderung des
Passgesetzes
Drucksache 18/3831
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich bitte Sie, Platz zu nehmen und dem ersten Redner
in der Debatte zuzuhören. Das ist unser Minister
Dr. Thomas de Maizière.
({4})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Europa und damit auch Deutschland stehen im erklärten Zielgebiet des internationalen Terrorismus. Das
haben uns die Anschläge von Paris mit schrecklicher
Klarheit vor Augen geführt. Die Bundesregierung, unsere Sicherheitsbehörden, treten dieser Bedrohung seit
längerem entgegen: wachsam, ruhig, entschlossen und
mit einem ganzheitlichen Ansatz. Dazu gehört Prävention; dazu gehört Deradikalisierung; dazu gehören Maßnahmen unserer Sicherheitsbehörden, teils verdeckt, teils
offen - Beobachtung, Ansprache, Durchsuchungen,
Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Verurteilungen -;
dazu gehören auch gut ausgestattete Sicherheitsbehörden
in Bund und Ländern; und dazu gehören natürlich auch
gesetzgeberische Maßnahmen. Einen wichtigen Baustein hierbei stelle ich Ihnen heute in der ersten Lesung
des vorliegenden Gesetzes vor.
Wir wollen nicht, dass aus Deutschland der Terrorismus nach Syrien und in den Irak exportiert wird. Und
wir wollen erst recht nicht, dass Menschen, die dort in
Kämpfe verwickelt waren, unerkannt wieder einreisen
und gegebenenfalls hier Anschläge planen oder verüben.
Deswegen müssen wir entsprechende Ausreisen verhindern. Und deswegen müssen wir Wiedereinreisen verhindern oder erkennen. Bisher haben sich - Sie kennen
die Zahlen - ungefähr 3 400 Kämpfer aus Europa dazu
entschlossen, für den sogenannten Islamischen Staat zu
kämpfen. Allein aus Deutschland sind es rund 600, vielleicht etwas mehr, die daran beteiligt sind. Etwa
200 Personen sind nach Deutschland zurückgekehrt,
35 davon als kampferprobte Fundamentalisten.
Nach der bisherigen Rechtslage können wir deutschen Staatsbürgern den Reisepass entziehen und ihnen
die Ausreise untersagen. Das ist unstreitig, das wird häufig gemacht. Niemand erhebt dagegen bisher verfassungsrechtliche Bedenken. Die Wirksamkeit dieser
Maßnahme setzt aber voraus, dass die Personen einen
Reisepass benötigen oder nutzen, weil das Ziel- oder
Transitland die Vorlage eines solchen Reisepasses verlangt. Das ist aber heutzutage oft gar nicht mehr der Fall.
Häufig reicht der Personalausweis zur Aus- und Einreise
aus. Deswegen fahren oder fliegen viele, obwohl ihnen
die Ausreise untersagt ist, mit ihrem Personalausweis zu
einer Schengen-Außengrenze und gelangen dann in
Kampfgebiete und/oder kommen mit dem Personalausweis wieder zurück.
Die verhängte Ausreiseuntersagung, die durch den
Entzug des Passes sozusagen teilweise dokumentiert
wird, sieht man dem Personalausweis nicht an. Auch der
Grenzbeamte eines anderen Staates kann die Sperre anhand des Ausweises nicht erkennen. Trotzdem müssen
wir sicherstellen, dass kein Zweifel darüber besteht, ob
ein Ausweisinhaber ausreisen darf oder nicht. Deswegen
beinhaltet der Gesetzentwurf vor allem zwei Maßnahmen: Erstens soll nicht mehr nur der Reisepass, sondern
auch der Personalausweis entzogen werden können.
Zweitens soll in diesen Fällen ein Ersatz-Personalausweis ausgestellt werden, mit dem man sich in Deutschland ausweisen und identifizieren kann.
Die Entziehung dieses Ausweises soll möglich sein,
wenn Tatsachen vorliegen, die den Verdacht begründen,
dass eine Person einer terroristischen Vereinigung angehört oder eine solche unterstützt, Gewalt als Mittel zur
Durchsetzung ihrer politischen oder religiösen Überzeugung anwendet, unterstützt oder hervorruft oder eine
staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet. Die Maßnahme unterliegt natürlich der sofortigen Vollziehung,
um effektiv zu sein.
Der Ersatz-Personalausweis sieht ungefähr so aus wie
das Ersatzdokument, das jemand erhält, der seinen Personalausweis oder Reisepass im Ausland, in den Ferien
zum Beispiel, verloren hat. Er entspricht damit optisch
im Wesentlichen einem solchen behelfsmäßigen Reiseausweis, den man in diesen Fällen von deutschen Konsulaten erhält. Viele werden ihn schon einmal gesehen haben. Er ist allerdings nicht ganz identisch, weil auf
diesem Ausweis natürlich auch vermerkt ist, dass man
damit den Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht verlassen darf, und zwar in den neun wesentlichen Sprachen
des Schengen-Raums.
Was passiert, wenn ein Ausweisinhaber entgegen dieser Maßnahme die Bundesrepublik Deutschland trotzdem verlässt? Das war ja eines der Gegenargumente von
einem Teil der Grünen, während andere es gefordert haben. Wenn das bekannt wird, weil sich zum Beispiel derjenige im Internet damit brüstet, im Ausland aktiv zu
sein, dann werden - so sieht das der Gesetzentwurf vor die Reisedokumente, auch dieser Personalausweis, kraft
Gesetzes ungültig. Dies ermöglicht den Behörden nun
eine sofortige Ausschreibung des Ausweises im Schengener Informationssystem und in der „Stolen and Lost
Travel Documents“-Datenbank von Interpol. Damit erhöhen wir deutlich die Wahrscheinlichkeit des Aufgreifens des Reisenden bereits in Transitländern oder bei der
Rückkehr.
Das Gesetz, meine Damen und Herren, ist eine von
mehreren Maßnahmen, die wir in diesem Zusammenhang national ergreifen, noch ergreifen werden und für
die wir uns international einsetzen. Ich nenne beispielhaft: die Strafbarkeit des Reisens und der Versuch des
Reisens in terroristischer Absicht - hierzu wird mein
Kollege Maas in der nächsten Sitzungswoche einen entsprechenden Gesetzentwurf im Kabinett vorstellen -, die
Änderung des Schengener Informationssystems, damit
jeder Grenzbeamte an der Schengen-Außengrenze erkennt, ob er einen terroristischen Gefährder vor sich hat
oder nicht, den von der Bundesregierung angestrebten
Kompromiss über das europäische Fluggastdatenabkommen, einen verbesserten Informationsaustausch mit unseren Partnern, insbesondere auch mit der Türkei. Dann
gibt es noch einige Gesetzesvorhaben, über die wir diskutieren müssen und über die noch nicht vollständig Einigkeit besteht.
Auch dieses Gesetz, das ich hier vorstelle, wird die
Ausreise oder die unerkannte Wiedereinreise nicht vollständig verhindern können. Wir haben aber die Pflicht,
alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um die Gefahr
von Terroranschlägen und die Beteiligung Deutschlands
daran im In- und Ausland so klein wie nur irgend möglich zu halten.
({0})
Die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist
und sollte uns allen ein kostbares Gut sein.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Dr. de Maizière. - Nächster Redner in
der Debatte: Frank Tempel für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Minister! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Gefahr
von Terroranschlägen kann gerade mit Blick auf viele internationale Konflikte in keinem Land der Welt vollständig ausgeschlossen werden. Auch hier bei uns besteht
diese latente Gefahr. Natürlich ist es Aufgabe der Bundesregierung, diese Gefahr zumindest so gering wie
möglich zu halten. Damit dies gelingt, müssen wir uns
zuallererst fragen, was Terroristen mit ihren Anschlägen
hier erreichen wollen. Sie wollen hier bei uns kein Territorium erobern, keine Rohstoffe erbeuten und keine unliebsame Regierung stürzen. Sie wollen uns in unserer
freiheitlichen demokratischen Grundordnung angreifen.
Sie wollen Angst schüren, um uns unsere Freiheit Stück
für Stück zu nehmen. Wenn es dann unsere Antwort ist,
aus Angst vor Terroranschlägen Bürgerrechte zu beschränken, Grundrechte einzuschränken, entspricht unser Handeln genau dem, was Terroristen mit ihren Anschlägen erreichen wollen.
({0})
Wenn wir mit Gesetzen reagieren, die unsere Freiheit
einschränken, senden wir das Signal, dass Terror erfolgreich ist und dass wir in unserer Freiheit durch Terroranschläge angreifbar sind. Unsere Antwort muss stattdessen sein: mehr Demokratie und mehr Freiheit. Wir lassen
uns nicht einschüchtern.
({1})
Natürlich brauchen wir trotzdem Gesetze, anhand derer Sicherheitsbehörden effektiv ihren Beitrag zur Sicherheit in unserem Land leisten können. Das wird auch
die Linke nie in Abrede stellen. Aber die Messlatte muss
eben sehr hoch sein.
Wenn wir Bürgerrechte und Grundrechte einschränken, dann muss ein deutlich nachvollziehbarer Sicherheitsgewinn für die Allgemeinheit zu erzielen sein. Unter diesem Aspekt haben wir Ihren Vorschlag geprüft,
möglichen Gefährdern den Personalausweis zu entziehen und ein Ersatzdokument auszustellen, das sie als Gefährder identifiziert, aber natürlich auch stigmatisiert.
Denn machen wir uns nichts vor: Ein Personalausweis - und das ist der Unterschied zum Reisepass, Herr
Minister - dient auf vielfältige Art und Weise, und sei es
nur, um sich in einem Hotel einzuchecken, ein Konto zu
eröffnen oder ihn bei der EC-Kartenzahlung vorzulegen
usw. Der Rechtseingriff wäre also schwerwiegend;
schwerwiegender als der Entzug des Reisepasses.
Hinzu kommt, dass der vorliegende Gesetzentwurf
nicht auf erwiesene Straftäter abzielt. Vielmehr soll bereits der bloße Verdacht auf zukünftige gewaltbereite
Handlungen ausreichen, um Menschen ihren Ausweis zu
entziehen. Aber wer definiert diesen Verdacht? Die
Hemmschwelle zum Grundrechtseingriff wird in der
Praxis also sehr gering sein.
Nur zur Erinnerung: Der Reisepass kann bereits entzogen werden. Deswegen müssen wir wissen: Ist wenigstens die Größenordnung so, dass eine rechtliche Verschärfung notwendig ist? Wir haben dazu die
Bundesregierung für die Jahre 2012, 2013 und 2014 befragt. Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung
auf Drucksache 18/3673 - hören Sie zu -:
In mindestens 20 Fällen kann nachvollzogen werden, dass eine Ausreise trotz bestehender Verfügung, Deutschland nicht zu verlassen, und entsprechenden Entzugs des Reisepasses erfolgte und
diesen Personen ein Personalausweis zur Verfügung
stand.
20 Personen!
Jetzt frage ich Sie: Verhindern Sie deren Ausreise
durch den Entzug des Personalausweises? Funktioniert
das? Sie müssen schon verzeihen: Ich war nun einmal
lange Polizeibeamter, und ich blicke ganz besonders darauf, ob eine geplante Maßnahme überhaupt funktionieren kann.
Wie stellen Sie sich den Entzug des Ausweises vor?
Was ist, wenn der Ausweis einfach als gestohlen oder
verloren gemeldet wird? Ein Personalausweis behält
zehn Jahre seine Gültigkeit. Hausdurchsuchungen werden in diesem Fall wahrscheinlich auch nicht sehr erfolgreich sein.
({2})
- Herr Binninger, natürlich wird der Verlust im Register
vermerkt. Dort steht dann, dass der Ausweis ungültig ist.
({3})
Das wird aber bei Grenzkontrollen nur festgestellt, wenn
der Ausweis mit dem Register, also mit der Datenbank,
abgeglichen wird. In diesem Register können aber auch
statt der Ungültigkeit Ausreisebeschränkungen eingetragen werden. Das hätte den gleichen Effekt, auch ohne
Entzug.
({4})
Natürlich kann man auch das regeln, Herr Binninger.
({5})
- Ja, aber das wäre eine mögliche rechtliche Änderung,
ohne den Ausweis zu entziehen, Herr Binninger. Wir reden doch immer davon, das mildeste Mittel anzuwenden
und nicht das schärfste Mittel.
({6})
In diesem Fall würde der Ausweis nicht entzogen werden müssen, und wir hätten trotzdem entsprechende
Möglichkeiten.
Wir wissen doch - gerade wenn wir auf die Türkei
schauen -, dass bei Grenzkontrollen nicht immer ein Datenabgleich erfolgen kann. Das heißt, wir müssen auch
mit unseren Partnern reden, um uns darüber zu informieren, wie dort Grenzkontrollen ablaufen. Ganz nebenbei:
In einer Welt, in der eine illegale Ausreise oder eine illegale Einreise möglich ist, wird der Entzug des Ausweises keinerlei Beschränkungen darstellen.
Meine Damen und Herren, wenn die Regelungen, die
im vorliegenden Gesetzentwurf formuliert sind, gar
nicht funktionieren: Was wollen wir dann mit diesem
Gesetzentwurf? Auch wenn die Terrorgefahr wieder tagesaktuell ist: Gesetzentwürfe, die Terrorbekämpfung
und damit mehr Sicherheit vortäuschen, am Ende aber
lediglich einen Aktivitätsnachweis der Bundesregierung
darstellen, brauchen wir nicht.
({7})
Forcieren Sie deswegen weiter die Prävention, investieren Sie noch mehr in Aufklärung und Dialog, und bekämpfen Sie die Ursachen des Terrorismus, statt ihm
nachzugeben und so unsere Freiheit und Demokratie
weiter zu beschneiden.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Tempel. - Nächste Rednerin in der Debatte: Gabriele Fograscher für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der islamistisch motivierte Terrorismus ist eine
Bedrohung für Deutschland und die westliche Staatengemeinschaft und eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden und die Politik. Nicht erst seit dem grausamen und abscheulichen Terroranschlag auf die
französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo und auf
einen jüdischen Supermarkt zu Beginn dieses Jahres
wissen wir, dass wir unsere freiheitlich-demokratische
Grundordnung gegen Terroristen verteidigen müssen.
Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus
ist nicht auf die islamischen Staaten beschränkt. Sie ist
schon lange im Westen, in Europa, in Deutschland angekommen. Auch wenn es zum Glück in Deutschland noch
keine Anschläge gab, so sind wir doch im Visier des internationalen islamistischen Terrorismus.
Aus Europa sind inzwischen 3 400 Menschen - der
Minister hat die Zahlen genannt - Richtung Syrien und
Irak gegangen, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Davon kommen etwa 600 Islamisten aus
Deutschland. Mehr als die Hälfte davon besitzen die
deutsche Staatsangehörigkeit. Von diesen rund 600 sogenannten Foreign Fighters aus Deutschland haben sich
10 als Selbstmordattentäter in Syrien in die Luft gesprengt, 150 bis 180 sind radikalisiert zurückgekehrt,
und 30 von ihnen gelten als kampferprobt und gewaltbereit.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird ein
zusätzliches Instrument geschaffen, um den Export von
Terror möglichst zu verhindern; wir haben über diese
Änderung schon vor den Anschlägen in Paris diskutiert.
Die Reisetätigkeit von Gefährdern soll eingeschränkt
werden. Herr Tempel, wenn es mit diesem Gesetz gelingt, auch nur einen Anschlag zu verhindern und Menschenleben zu retten, dann ist das Gesetz gerechtfertigt.
({0})
Schon heute ist es möglich - das wird auch praktiziert -, zum Beispiel gewaltbereiten Islamisten, die
deutsche Staatsangehörige sind, den deutschen Reisepass zu entziehen. Dies ist gemäß § 8 Passgesetz möglich, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Passinhaber unter anderem die innere oder
äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der
Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Der Personalausweis hingegen kann nach geltender
Rechtsgrundlage nicht entzogen werden. Zwar ist bei
Einzug des Reisepasses der Geltungsbereich des Personalausweises auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt, dies ist aber nicht auf dem Personalausweis
vermerkt und somit bei Kontrollen nicht sofort zu erkennen. Islamisten können mit dem Personalausweis in die
Türkei und von dort aus weiter über die grüne Grenze
nach Syrien oder in den Irak reisen. Ohne Reisepass, nur
mit dem Personalausweis ist es ihnen somit möglich, das
Land ohne großes Aufheben zu verlassen. 20 Islamisten
soll das schon gelungen sein.
Deshalb wollen wir die Möglichkeit des Entzugs des
Personalausweises in § 6 a Personalausweisgesetz schaffen, eine Maßnahme, die an bestimmte Voraussetzungen
geknüpft ist: Tatsachen müssen die Annahme begründen, dass der Ausweisinhaber einer inländischen terroristischen Vereinigung oder einer ausländischen kriminellen oder terroristischen Vereinigung angehört oder
diese unterstützt. Der Entzug ist möglich, wenn die Person rechtswidrig Gewalt gegen Leib oder Leben als
Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter
politischer oder religiöser Belange anwendet, solche Gewaltanwendung unterstützt oder vorsätzlich hervorruft.
Diese beiden Voraussetzungen treffen auf die sogenannten Foreign Fighters zu. Die Maßnahme ist deshalb verhältnismäßig und geeignet, deren Reisetätigkeit zu unterbinden.
Nach dem Entzug des normalen Personalausweises
wird dem Betroffenen auf dessen Kosten ein ErsatzPersonalausweis ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer des
Ersatz-Personalausweises ist auf maximal drei Jahre
begrenzt. Diese Lösung halten wir für besser als die, den
normalen Personalausweis mit einem roten Balken
- „Gilt nur für die Bundesrepublik Deutschland“ - oder
mit einem Aufkleber, der leicht zu entfernen wäre, zu
versehen. Der Ersatz-Personalausweis entspricht dem
Ersatzdokument, das man erhält, wenn einem zum Beispiel der Personalausweis im Ausland verloren geht. Damit wird die Stigmatisierung der Betroffenen möglichst
gering gehalten. Auf dem Ersatz-Personalausweis ist in
mehreren Sprachen vermerkt, dass dieses Dokument
nicht zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland
berechtigt. Dies erleichtert die Kontrolle durch ausländische Grenzbeamte.
Der Entzug des Personalausweises ist nicht die einzige Maßnahme, um Reisebewegungen von Terrorverdächtigen zu erschweren oder besser gar zu verhindern.
Der Bundesjustizminister wird zeitnah einen Gesetzentwurf vorlegen, der Reisen in Länder, in denen es Terrorcamps gibt, unter Strafe stellt.
Eine weitere Maßnahme ist die Einführung des Tatbestandsmerkmals „Terrorism-related Activity“, also
terrorbezogene Aktivitäten, im Schengener Informationssystem. Darüber sind sich die europäischen Innenminister einig. Diese Neuregelung wird dazu führen,
dass bei Kontrollen des Ausweises und des Abgleichs
mit dem System festgestellt werden kann, ob es sich um
einen Dschihadisten handelt. Derzeit wird geprüft, wie
diese Änderung im SIS möglichst schnell umgesetzt
werden kann.
Darüber hinaus brauchen wir einen intensiveren Austausch mit den Sicherheitsbehörden anderer Länder über
Gefährder bzw. gefährliche Personen.
Nicht zuletzt müssen wir die Prävention verstärken
und alles tun, um zu verhindern, dass sich vor allem
junge Männer radikalisieren, einem fanatischen Islamismus hinterherlaufen, Religion missbrauchen, um in den
Krieg zu ziehen und Menschen zu ermorden. Rückkehrer müssen wir nicht nur im Auge behalten, sondern es
muss auch Angebote geben, sie von ihrem Fanatismus
abzubringen.
Die Prüfung und Überprüfung von Gesetzen und auch
neue gesetzgeberische Initiativen sind wichtige Maßnahmen im Kampf gegen den Terror. Daneben aber gilt es,
die gesellschaftliche Debatte über Respekt vor Religionen und anderen Kulturen zu führen und die Kräfte zu
stärken, die sich für den Zusammenhalt in der Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben einsetzen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Gabi Fograscher. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Irene Mihalic für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Natürlich: Nicht erst die schrecklichen
Anschläge von Paris machen Maßnahmen gegen den
Terrorismus notwendig; das ist völlig richtig. Das ist
eine Debatte, die wir schon viel länger und auch völlig
zu Recht führen. Dabei ist aber eine Sache ganz besonders wichtig: eben nicht in Aktionismus zu verfallen,
sondern die Terrorgefahr sauber zu analysieren, Kräfte
und Kompetenzen in der Sache zu bündeln und sorgfältig Maßnahmen zu entwickeln, die wirklich greifen, Herr
Minister.
({0})
Leider geht Ihr Gesetzentwurf zum Terroristen-Personalausweis völlig am Thema vorbei. Sie betreiben hier
eine unausgegorene Symbolpolitik, mit der Sie hektisch
zu überdecken versuchen, dass Sie weder gründlich analysieren noch die Maßnahmen irgendwie koordinieren
und dass Sie alles in allem keine richtige Antiterrorstrategie haben.
({1})
Der Ersatz-Personalausweis für Terroristen ist nicht
nur sicherheitspolitisch vollkommen nutzlos und rechtsstaatlich fragwürdig, sondern das Ganze ist auch noch
gefährlich. Ich will Ihnen ein praktisches Beispiel nennen: Angenommen, Sie haben einen Gefährder ermittelt,
also einen mutmaßlichen Terroristen; es soll ja eine stattliche dreistellige Anzahl von Personen geben, die die
Absicht haben, nach Syrien auszureisen. Jetzt fordern
Sie diese Person auf Grundlage des neuen Gesetzes auf,
den alten Personalausweis abzugeben und gegen einen
Ersatz-Personalausweis einzutauschen.
({2})
Was glauben Sie denn, was dann passiert? Glauben
Sie denn tatsächlich, er geht dann brav zum Bürgeramt,
um dort seinen Personalausweis abzugeben? Wohl eher
nicht. Glauben Sie, dass der mutmaßliche Terrorist völlig geknickt seine Pläne einfach so aufgeben wird? Wohl
kaum. Er wird doch vielmehr sagen: Jetzt oder nie. Er
wird versuchen, alles, was er vorhatte, also eben auch
die Ausreise, sofort in die Tat umzusetzen, und zwar vor
dem Zugriff der Sicherheitsbehörden. Das kann nicht in
unserem Interesse sein.
({3})
Es gibt noch ein weiteres praktisches Problem. Nehmen wir einmal an, der mutmaßliche Terrorist geht
tatsächlich zum Amt, um sich diesen Ersatz-Personalausweis abzuholen. Ohne große Fantasie lässt sich voraussehen - das hat Kollege Tempel schon angesprochen -, dass der richtige Personalausweis dann plötzlich
verloren gegangen ist, gestohlen gemeldet wird, auf jeden Fall irgendwie abhandengekommen ist. Jedenfalls
können Sie ganz sicher sein, dass der verschwundene
Ausweis wieder auftaucht und die Person ihn munter
weiter nutzen und auch bei der Ausreise an der Grenze
vorlegen wird. Es wird wohl kaum einen mutmaßlichen
Dschihadisten geben, der an den EU-Außengrenzen diesen Terror-Ersatzausweis vorlegen wird.
({4})
Das glauben Sie doch nicht ernsthaft. Dieser Gesetzentwurf ist völlig realitätsfern.
({5})
Sie bewirken mit diesem Ersatz-Personalausweis im
Wesentlichen zwei Dinge:
Erstens. Sie desensibilisieren die Grenzbeamten.
Denn wieso sollte ein Kontrolleur einen richtigen Personalausweis in den Datenbanken, zum Beispiel in der Datenbank verlorener oder gestohlener Reisedokumente,
überprüfen, wenn er erwartet, dass er einen Terroristen
gleich am Ersatz-Personalausweis erkennt?
({6})
Zweitens. Sie fördern mit diesem Gesetz die Radikalisierung solcher Leute. Denn am Ende sind die Gefährder
vielleicht sogar noch stolz darauf, mit einem amtlichen
Dokument endlich als IS-treue Dschihadisten eingestuft
zu werden. Mit der Übergabe des Ersatz-Personalausweises machen Sie aus einem Gefährder einen staatlich
anerkannten Terroristen. Das muss so manchem ja wie
eine Auszeichnung vorkommen. Aber das ist das Gegenteil von Gefahrenabwehr.
({7})
Statt diesem Irrweg weiter zu folgen, sollten Sie Ihre
Hausaufgaben machen. Sorgen Sie endlich dafür, dass
die Sicherheitsbehörden vor allen Dingen personell vernünftig ausgestattet sind.
({8})
Gewährleisten Sie möglichst dichte Kontrollen bei der
Ausreise aus dem Schengen-Gebiet. Legen Sie endlich
ein mit den Ländern wirklich abgestimmtes Präventionsund Deradikalisierungskonzept vor. Die Länder haben
dazu ja schon Initiativen angekündigt. Deswegen: Verharren Sie da bitte nicht in der Zuschauerrolle, sondern
gestalten und koordinieren Sie diesen Prozess aktiv mit.
({9})
Und: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf bitte schnellstmöglich zurück, damit er keinen Schaden anrichtet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die innere Sicherheit ist ein hohes Gut. Sie darf nicht durch aktionistische
Symbolpolitik, die auch noch rechtsstaatlich fragwürdig
ist, in Gefahr gebracht werden.
({10})
Eine Sache möchte ich gerne noch ansprechen, weil
ich sie zugegebenermaßen recht amüsant fand. Man
konnte neulich auf Twitter sinngemäß die Frage lesen:
Wir haben biometrische Ausweise wegen der Terrorgefahr, und mutmaßlichen Terroristen nehmen wir sie jetzt
weg?
({11})
Ich finde, sie bringt die Widersprüchlichkeit Ihrer Antiterrorpolitik richtig schön auf den Punkt. Vielleicht denken Sie auch darüber noch einmal nach.
Ganz herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der
Debatte - jetzt sind Sie dran -: Clemens Binninger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man überlegt sich ja immer, wie man in eine Rede
einsteigt. Ihr Beitrag, Frau Kollegin Mihalic, veranlasst
mich dazu, mein Konzept zu ändern und gleich auf Ihre
Rede einzugehen.
({0})
Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Meinung
sein; das wird nie ganz ausbleiben. Dass Sie aber in dieser Art und Weise, so ironisierend, über eine Bedrohungslage, die uns allen Sorgen macht, und über dieses
Gesetzesvorhaben reden,
({1})
die Gefahrenlage mit keinem Wort beschreiben und so
tun, als ob wir hier einfach irgendetwas machen, geht
völlig an der Realität und an der Bedrohungslage vorbei.
Völlig!
({2})
Dann haben Sie auch noch munter alles Mögliche
durcheinandergeworfen. Sie haben zum Beispiel das
Thema Biometrie angesprochen. Der biometrische Reisepass ist unter Rot-Grün auf den Weg gebracht worden,
und zwar von Otto Schily mit dankbarer Unterstützung
der Grünen;
({3})
damals haben Sie noch eine vernünftige Innenpolitik gemacht. Das Thema Biometrie haben Sie mit dem Ersatzausweis vermischt. Das passt nicht. Es geht hierbei nämlich auch darum - vielleicht finden Sie ja, da sollte man
auch ironisieren -, eine Resolution des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen umzusetzen, in der alle Staaten
aufgefordert werden, alles Mögliche zu tun, um Reisebewegungen von Terrorverdächtigen zu erschweren bzw.
zu unterbinden. Genau das tun wir mit diesem Gesetz.
({4})
Da Sie immer wieder auf unseren gemeinsamen Berufsstand abheben, sage ich Ihnen: Sie alle wissen - da
sollten wir redlich miteinander umgehen -, dass es kein
Gesetz gibt, mit dem man alle Ziele erreichen kann;
({5})
das behauptet auch niemand. Da wir aber wissen, dass es
in Europa 3 500 Terrorverdächtige gibt, die in die
Kampfgebiete des IS reisen und dort mutmaßlich mitkämpfen, dass es alleine in Deutschland
({6})
- wenn wir nur 20 entdeckt haben, macht es das nicht
besser - 600 Gefährder gibt, die dorthin reisen - Tendenz zunehmend -, dass für diese Reise kein Reisepass
mehr notwendig ist, weil diese Krisenregion nicht am
Hindukusch, sondern direkt am Mittelmeer liegt und für
die Reise dorthin der Personalausweis ausreicht, muss
man doch darüber nachdenken, wie man diese Reisebewegungen erschweren oder - noch besser - verhindern
kann, indem man im Hinblick auf den Personalausweis
etwas verändert. Genau das tun wir. Da gibt es doch keinen Grund, zu ironisieren. Ich sehe einen solchen Grund
nirgends.
({7})
Jetzt zu der Frage: Was tun wir? Kollege Tempel, ich
habe vorhin einen Zwischenruf gemacht, weil Sie suggeriert haben, man könne die Ausreise heute schon untersagen
({8})
- ich habe heute keine Zeit; sonst immer gerne ({9})
und man müsse, da das ja gespeichert sei, den Personalausweis nicht entziehen.
({10})
- So klang es aber. - Das stellt uns vor ein Problem:
Wenn wir auf EU-Ebene etwas dagegen tun wollten,
würde das zweieinhalb Jahre dauern. Deshalb ist der
richtige Weg: Es muss aus dem Dokument ersichtlich
sein, dass eine Person nicht reisen darf. Dafür ist die
Ausstellung eines Ersatzausweises bei Entziehung des
alten Personalausweises genau das richtige Instrument.
Das wird funktionieren; das ist der richtige Ansatz.
({11})
Vor allen Dingen aber, Frau Kollegin, ist dies ein Ansatz, der sofort umgesetzt werden kann. Wenn Sie den
Schengen-Kodex ändern wollten, müssen Sie dafür mindestens zweieinhalb Jahre veranschlagen. Das können
wir uns angesichts der Bedrohungslage nicht erlauben;
das wäre unverantwortlich.
Richtig ist: Das ist nur ein Baustein, so wie die UNResolution auch verlangt, Fluggastdaten auszutauschen.
Das wollen Sie ja auch nicht; aber die UN-Resolution
verlangt es. Es ist eine Reihe von Bausteinen notwendig,
um dieser Terrorgefahr Herr zu werden. Heute debattieren wir über einen Baustein, der wichtig ist und der
funktionieren wird.
({12})
Natürlich reicht das allein nicht aus, natürlich gehören
andere Dinge dazu: Terrorabwehrzentrum, Antiterrordatei und andere Maßnahmen, über die wir noch zu sprechen haben. Aber es muss uns doch eines leiten, Kollegen: Wir müssen als Gesetzgeber die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lage
sind, Terrorverdächtige ins Visier zu nehmen - nicht Unbeteiligte, sondern Terrorverdächtige. Von denen müssen
wir dann so viel wissen wie möglich - mit wem sie telefonieren, wohin das Geld fließt -, und wir müssen ihnen
das Reisen erschweren. An diesem Ansatz kann man eigentlich nicht herumkritteln. Deshalb habe ich Ihren
Beitrag wirklich hinten und vorne nicht verstanden.
({13})
- Für dich gilt das Gleiche: Ich habe heute keine Zeit.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist, wie gesagt, ein
wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung des Terrorismus, andere werden folgen. Die Ausstattung der Sicherheitsbehörden gehört natürlich immer mit dazu, Prävention gehört ebenfalls dazu. Es geht um ein Paket an
Maßnahmen. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung
hier einen guten und wichtigen Schritt gemacht hat.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Herr Binninger. - Er hat wirklich keine
Zeit - selbstverständlich sagt er die Wahrheit -; er hat
schon mit Herrn Mayer getauscht. - Kommen Sie gut
wohin auch immer!
Uli Grötsch für die SPD ist der nächste Redner in der
Debatte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sicherheitspolitik darf nicht reaktiv sein, Sicherheitspolitik muss zuallererst präventiv sein. Neue Gesetze zur
Terrorabwehr dürfen nicht erst dann beschlossen werden, wenn es zu einem Anschlag gekommen ist. Unser
Ziel muss es sein, dort Lücken zu schließen, wo die Sicherheit und damit die Freiheit der Menschen in
Deutschland gefährdet ist.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf regelt die Bedingungen eines Entzuges des Personalausweises bei
solchen Bundesbürgern - und nur bei solchen Bundesbürgern -, bei denen der dringende Tatverdacht besteht,
dass sie sich im Ausland einer terroristischen Vereinigung anschließen oder an solchen Handlungen teilnehmen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf bildet nur eine von
mehreren Maßnahmen in der Sicherheitspolitik, die die
Bundesregierung auf den Weg gebracht hat und noch auf
den Weg bringen wird. Das ist kein politischer Aktionismus und auch keine unmittelbare Reaktion auf die
Anschläge von Paris. Es ist auch keine Symbolpolitik,
sondern aktive Sicherheitspolitik, was wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf betreiben.
({0})
Wie wir alle wissen, war dieser Gesetzentwurf schon
lange vor den Anschlägen von Paris auf dem Weg. Wir
sind uns der Bedrohung durch den internationalen Terror
nicht erst seit diesen Anschlägen bewusst, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir alle tragen Verantwortung für
die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Wir alle müssen wachsam sein und sinnvolle Gesetzesänderungen dort vornehmen, wo es notwendig ist.
({1})
Es kann ja nicht sein, dass wir
- in Deutschland Terrorismus exportieren, und es kann auch nicht
sein, dass wir potenziellen Terroristen ermöglichen,
in einem Ausbildungslager oder sogar in Kriegsgebieten ihr Handwerk zu lernen.
Der mögliche Entzug des Personalausweises von ausreisewilligen Dschihadisten schließe hier eine „Schwachstelle“. - Das ist die Aussage des BKA-Präsidenten
Holger Münch. Das sehe ich ganz genauso wie der Präsident des Bundeskriminalamtes.
({2})
Bislang gibt es in unseren Gesetzen nur die Möglichkeit, den Reisepass zu entziehen. Aber auch mit dem
Personalausweis reisen nachweislich Dschihadisten über
die Türkei nach Syrien aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie tatsächlich nicht wissen sollten, dass
verlorene oder als gestohlen gemeldete Personalausweise, die Originalpersonalausweise also, im Sachfahndungssystem ausgeschrieben werden
({3})
und im Falle einer versuchten Grenzüberschreitung mit
diesen Ausweisen natürlich dann festgestellt werden,
dann erkläre ich es Ihnen nach diesem Tagesordnungspunkt von Herzen und aus Interesse an der Sache gern.
({4})
Diese Ausreisen sollen künftig nicht mehr möglich
sein. Minister de Maizière hat es eben gesagt: Diese Lücke schließen wir.
Natürlich müssen wir bei einem solchen Gesetz sorgsam abwägen. Es handelt sich um einen Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte der Betroffenen; das ist unstrittig.
Aber angesichts der uns allen bekannten Gefahrenlage
halte ich diesen Grundrechtseingriff auch für gerechtfertigt.
Im Vergleich zu dem im letzten Jahr diskutierten Vorschlag, nämlich den Personalausweis zu markieren, stellt
ein Ersatz-Personalausweis einen weitaus geringeren
Grundrechtseingriff und erst recht keine Stigmatisierung
der Inhaber dar. Stellen Sie sich vor, dass auf Ihrem Personalausweis ein dicker roter Balken quer über das
ganze Dokument verläuft. Das wäre doch viel auffälliger, und Sie würden in Ihrem täglichen Leben viel stärker eingeschränkt sein als mit einem Dokument, auf dem
der Ausreisesperrvermerk nicht direkt neben den personenbezogenen Daten angebracht ist, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({5})
Und natürlich betrifft der mögliche Personalausweisentzug nur eine geringe Anzahl von Personen, und zwar
solche, die im dringenden Verdacht stehen, dass sie einer
terroristischen Vereinigung angehören. Das sind ja keine
Touristen, die ihren Urlaub in Syrien verbringen wollen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Eines sage ich ganz deutlich: Bei dieser Klientel, bei
denen, die den Krieg von Deutschland aus in die Welt
tragen wollen, bei denen, die wieder nach Deutschland
zurückkommen wollen und uns womöglich Gewalt und
Terror mitbringen, zählt jeder Einzelne.
({6})
Zum Schluss meiner Rede sage ich noch etwas zum
Thema Prävention; das wurde hier schon öfter angesprochen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion halten eine präventive Sicherheitspolitik natürlich nach wie vor für effektiver. Deshalb ist das von Bundesfamilienministerin
Manuela Schwesig gerade auf den Weg gebrachte Programm zur Radikalisierungsprävention gegen gewaltorientierten Islamismus ohne Zweifel der richtige Weg,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Danke, Herr Kollege Grötsch. - Nächster Redner in
dieser Debatte vor der spannenden Beratung im Ausschuss ist Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Das Gesetz zur Änderung des Personalausweisgesetzes und des Passgesetzes
ist zwar nur ein Baustein, aber es ist ein durchaus nicht
unwesentlicher Baustein im Kampf gegen den islamistischen, dschihadistischen Terrorismus. Ich lege auch
Wert auf die Feststellung, dass wir hier fernab von jeglichem Aktionismus und von jeglicher Symbolpolitik
sind. Dieses Gesetz ist keine unmittelbare Reaktion auf
die barbarischen Anschläge von Paris.
({0})
Dieser Gesetzentwurf ist noch vor Weihnachten im Bundeskabinett verabschiedet worden und ist aus meiner
Sicht angemessen und verhältnismäßig.
Ich muss ganz ehrlich sagen, meine sehr verehrte Kollegin Mihalic und sehr geehrter Kollege Tempel: Ich war
schon etwas verwundert über Ihre Argumentation. Man
muss ja nicht alles teilen, was die Bundesregierung vorbringt, und natürlich müssen Sie sich als Oppositionsfraktionen irgendwelche Argumente aus den Fingern
saugen, um dieses Gesetz abzulehnen.
Herr Mayer, erlauben Sie eine direkte Frage?
Selbstverständlich. Sehr gern.
Gut. - Frau Mihalic.
Vielen Dank, Herr Mayer, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen. - Sie haben vorhin gesagt, das Gesetz sei verhältnismäßig, es sei angemessen. Also, Sie sind zutiefst
davon überzeugt, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf das
Richtige tun. Deswegen würde mich einfach nur einmal
interessieren, womit Sie das begründen.
Wir werden das Ganze ja auch noch im Innenausschuss miteinander erörtern. Offen gestanden war ich
aber doch ein bisschen überrascht, als ich zur Kenntnis
genommen habe, dass ausgerechnet Ihre Fraktion zu diesem Gesetzentwurf eine Ausschussanhörung beantragt
hat. Ich habe mich gefragt, ob Sie sich vielleicht doch
nicht ganz sicher sind, dass das, was Sie mit diesem Gesetzentwurf vorhaben, verhältnismäßig und angemessen
ist.
Sehr verehrte Frau Kollegin Mihalic, ich danke Ihnen
und nehme stellvertretend für den Kollegen Binninger
auch gerne Fragen entgegen.
({0})
Ich beantworte Ihre Frage aber sehr gerne sehr ernsthaft.
Ich glaube, es gehört zum guten parlamentarischen
Ton, dass man bei wichtigen Gesetzgebungsvorhaben
- es handelt sich hierbei zweifelsohne um ein wichtiges
Gesetzgebungsvorhaben - auch eine Sachverständigenanhörung durchführt.
({1})
Ich bin auch deshalb sehr dankbar für die Frage, weil sie
es mir ermöglicht, klarzumachen, dass wir als Koalitionsfraktionen den parlamentarischen Auftrag unheimlich ernst nehmen und uns im Wege einer ausführlichen
Sachverständigenanhörung mit den Vor- und Nachteilen
dieses Gesetzentwurfs intensiv auseinandersetzen werden.
Hätten wir diese Sachverständigenanhörung nicht
proaktiv von uns aus beantragt,
({2})
dann hätten Sie mit Sicherheit behauptet: Die Regierungskoalition will diesen Gesetzentwurf durch den
Bundestag peitschen. Es geht hier wieder nur um Eilbedürftigkeit und nicht um Qualität. - Wir haben diese
Sachverständigenanhörung jetzt beantragt, und das ist
Ihnen, sehr verehrte Frau Kollegin Mihalic, auch nicht
recht.
({3})
Mit Verlaub: Das verwundert mich schon etwas.
Ich finde es schön, dass Sie sich mit dem Antrag, den
wir gestellt haben, beschäftigen, aber Sie können sich
sicher sein, dass es uns hier um eine hohe Qualität der
Gesetzgebung geht. Deswegen legen wir als Koalitionsfraktionen Wert darauf, sich im Wege einer Sachverständigenanhörung intensiv mit diesem Gesetzentwurf auseinanderzusetzen.
({4})
Liebe Frau Kollegin Mihalic, daran darf ich gleich
einmal anknüpfen: Mich haben Ihre Ausführungen
schon etwas verwundert, weil aus Ihrer Fraktion, nämlich von Ihrem Kollegen Beck, im Herbst letzten Jahres
der Vorschlag kam, dass man nicht ein Ersatzdokument
einführen, sondern sogar eine Kennzeichnung des Personalausweises von potenziellen Dschihadisten vornehmen
sollte.
({5})
Mich wundert es, dass Sie in Ihrer Kritik an dem Gesetzentwurf nicht auch auf den Vorschlag Ihres Fraktionskollegen eingegangen sind, und ich frage mich, warum er heute als Mitglied des Innenausschusses nicht an
dieser Debatte teilnimmt.
({6})
Ihr Kollege Beck wäre ja noch sehr viel weiter gegangen, und bei seinem Vorschlag wäre der Vorwurf der
Stigmatisierung vielleicht sogar gerechtfertigt gewesen,
weil er eben klar die Auffassung vertreten hat, man
müsse den Personalausweis sogar kennzeichnen und
markieren.
({7})
Das ist ein weitaus weiter gehender Vorschlag als der,
den wir heute vorlegen.
({8})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
darf auch ein paar Worte zum Kollegen Tempel sagen:
Es ist ja schön, dass Sie Ihren Schwerpunkt auf Prävention und Deradikalisierung legen. Das ist auch wichtig,
und das möchte ich auch gar nicht negieren und verharmlosen. Ich halte es aber, mit Verlaub, Herr Kollege
Tempel, schon für reichlich fahrlässig, dass Sie sagen:
Bei diesem durchaus sehr ernst zu nehmenden Kampf
gegen den islamistischen und dschihadistischen Terrorismus verlegen wir uns einseitig nur auf den Bereich der
Prävention und der Deradikalisierung. - Das ist aus meiner Sicht zu kurz gegriffen.
Herr Mayer, erlauben Sie eine Frage oder einen Kommentar von Herrn Tempel?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Gut.
Da Sie mich angesprochen haben: Sie haben hoffentlich vernommen, dass ich gesagt habe, dass die Sicherheitsbehörden durch entsprechende Gesetze natürlich ein
Rüstzeug an die Hand bekommen müssen, um wirksam
und aktiv arbeiten zu können, und ich habe auch gesagt,
dass die Messlatte dabei sehr hoch liegen muss. Es muss
also auch überprüft werden, ob die Maßnahmen geeignet
sind.
Ich frage Sie: Wie kommen Sie dazu, zu behaupten,
dass wir einseitig nur mit Prävention arbeiten wollen,
obwohl ich doch sehr deutlich gesagt habe, dass wir natürlich entsprechende Gesetze brauchen, die aber auf
ihre Wirksamkeit, Geeignetheit, Erforderlichkeit und
Angemessenheit hin überprüft werden müssen?
({0})
Herr Kollege Tempel, ich habe Ihren Äußerungen klar
entnommen, dass Sie die Gefahren des Terrorismus nicht
bagatellisieren, sich aber eindeutig darauf verlegt haben,
zu sagen: Man muss viel mehr tun, um zu verhindern,
dass es überhaupt zu einer Radikalisierung kommt. Darauf muss doch der Schwerpunkt gelegt werden. - Dem
möchte ich schon entgegentreten. Beides ist erforderlich:
Wir brauchen ein großes Maßnahmenpaket, und wir sind
sehr wohl auch der festen Überzeugung, dass es wichtig
ist - hier sind vor allem die Länder gefordert -,
({0})
im Rahmen von Präventionsprogrammen mehr dafür zu
tun, dass jugendliche und heranwachsende Moslems erst
gar nicht radikalisiert werden.
Um es aber auch noch einmal klar und in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass
dieser Gesetzentwurf, den wir heute in der ersten Lesung
beraten, angemessen und verhältnismäßig ist, weil die
Voraussetzungen dafür, dass es zu einem Entzug des Personalausweises kommen kann, außerordentlich hoch
sind. Es muss nachgewiesen werden, dass jemand einer
ausländischen oder inländischen terroristischen Organisation angehört, dass er das Staatswohl gefährdende Gewalttaten vorbereitet
({1})
und damit die Sicherheit anderer Staaten oder internationaler Organisationen gefährdet oder deutsche Verfassungsgrundsätze beeinträchtigt, dass er rechtswidrig Gewalt gegen Leib und Leben als Mittel zur Durchsetzung
religiöser oder politischer Belange anwendet oder unterstützt. Es gibt ganz konkrete hohe Voraussetzungen, die
erfüllt sein müssen, damit es zum Entzug des Personalausweises kommen kann. Vor diesem Hintergrund bin
ich der festen Überzeugung, dass dieses Gesetz verhältnismäßig und angemessen ist.
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte noch weiter gehen. Wir sollten nicht so tun, als
sei allein dieses Gesetz ein Allheilmittel. Ich bin Ihnen,
sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr dankbar,
dass Sie sich gestern bei dem informellen JI-Rat in Riga
insoweit durchsetzen konnten, als der informelle JI-Rat
gestern beschlossen hat, das Schengener Informationssystem dahin gehend zu verändern, dass in Zukunft die
Kontrolle an den Schengen-Außengrenzen intensiviert
wird, dass es Grenzbeamten erleichtert wird, Dokumente
ungültig zu stempeln und ein- oder ausreisewillige
Dschihadisten an den Grenzen festnehmen zu lassen.
Das ist ein weiterer wichtiger Fortschritt im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Dafür danken wir
Ihnen sehr herzlich.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der
Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist aus meiner
Sicht ein wichtiger Baustein. Das Ersatzdokument wird
mit einer Gültigkeit von maximal drei Jahren ausgereicht. Wichtig ist mir, zu sagen, dass die immer wieder
behauptete stigmatisierende oder diskriminierende Wirkung durch das Ersatzdokument nicht zutrifft. Hier
wurde gefragt: Was ist, wenn jemand mit einem Ersatzdokument ein Bankkonto eröffnen oder eine Wohnung
mieten will? Natürlich legitimiert ihn das ausgereichte
Ersatzdokument, diesen Dingen in Deutschland weiterhin in vollem Umfang nachzugehen. Also, der Vorwurf
der stigmatisierenden oder der diskriminierenden Wirkung dieses Ersatz-Personalausweises geht ins Leere.
Wir werden diesen Gesetzentwurf zügig beraten. Wir
werden ihn aber auch intensiv beraten, auch im Rahmen
der von Ihnen, Frau Kollegin Mihalic, angesprochenen
Sachverständigenanhörung.
Ich freue mich auf diesen konstruktiven Austausch
bezüglich dieses wichtigen Gesetzes, möchte aber noch
einmal betonen, auch eingedenk dessen, dass man unterschiedliche Haltungen zu diesem Gesetz einnehmen
kann: Bitte lassen Sie uns auch nach dieser Debatte weiterhin seriös und verantwortungsbewusst mit dieser doch
sehr intensiven und gestiegenen Bedrohung umgehen.
Ich glaube, das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Danke, Herr Mayer. - Ich schließe damit die Aussprache.
({0})
- Das tut mir leid. Das war aber nicht ganz eindeutig. Also gut, eine ganz kurze Kurzintervention von Herrn
Frank Tempel von einer Minute. Dazu haben Sie natürlich das Recht.
Meine Kurzintervention ist wirklich ganz kurz. - Da
nach Herrn Binninger nun auch der Kollege Mayer wiederholt erklärt hat, ich hätte etwas gesagt, was ich aber
nicht so gemeint habe, was aber anders geklungen haben
soll, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Hier im Bundestag gilt bitte schön das gesprochene Wort. Bitte nehmen Sie das, was gesagt wurde, und interpretieren Sie
nicht einfach, wie es klang.
Ich spreche hier für meine Fraktion. Wir in unserer
Fraktion entscheiden selber, was wir sagen wollen. Wir
bitten darum, das zu respektieren und so zur Kenntnis zu
nehmen und nicht irgendwelche Klangtöne hineinzuinterpretieren.
({0})
Danke schön, Herr Tempel. Entschuldigung, ich habe
nicht verstanden, was Sie mir sagen wollten.
({0})
Herr Mayer, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Tempel, ich nehme Ihre
Äußerungen mit großem Respekt zur Kenntnis, möchte
aber schon betonen: Ich hatte aufgrund Ihrer Rede den
klaren Eindruck, dass Sie an dem Gesetz Kritik üben.
Das steht Ihnen zu, das ist Ihnen unbenommen; keine
Frage.
Aber von Ihnen und auch von der gesamten Fraktion
Die Linke kommt kein einziger gesetzgeberischer Vorschlag, wie wir die gestiegene Bedrohung angehen sollen. Von Ihnen kommt kein einziger Vorschlag, was wir
denn konkret tun können, um den islamistisch-dschihadistischen Terrorismus in Deutschland zu bekämpfen.
({0})
Sie haben sich darauf verlegt, zu sagen, man müsste
mehr für Prävention und für Deradikalisierung tun. Darin sind wir uns alle einig. Das ist keine große Weisheit,
um das klar zu sagen.
({1})
Aber darüber hinaus bezeichnen Sie jeden gesetzgeberischen Vorschlag, den wir einbringen, als unverhältnismäßig, nicht angemessen und untauglich. Wo bleiben
denn Ihre konkreten Vorschläge? Die Bevölkerung erwartet Ihre Vorschläge.
({2})
Vielen Dank, liebe Kollegen. Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3831 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich wünsche
Ihnen eine sehr lebendige Aussprache und Debatte in
den Ausschüssen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({1}), Christina Schwarzer,
Ursula Groden-Kranich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Sönke Rix, Susann Rüthrich, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch sicherstellen
Drucksache 18/3833
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Ich bitte wie vorher, die Plätze einzunehmen oder den
Saal zu verlassen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem ersten Redner Marcus
Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Werte Kolleginnen
und Kollegen! Es sind nicht selten in der Geschichte
Briefe, die Steine ins Rollen bringen. Es war auch diesmal ein Brief des Rektors einer Berliner Bildungseinrichtung im Jahr 2010, der einen Stein ins Rollen gebracht hat. Er hat sich bei ehemaligen Schülerinnen und
Schülern für das Leid, für die sexuellen Übergriffe entschuldigt, die diesen angetan wurden.
Marcus Weinberg ({0})
Anfang 2010 wurde das weitere Ausmaß des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland in einer Reihe
von Bildungseinrichtungen bekannt: im Westen wie
auch in Kinderheimen und Jugendwerkstätten im Osten.
Wir alle waren damals schockiert, und wir alle sind
heute noch darüber erschüttert, was sich damals abgespielt hat und wie weit verbreitet sexuelle Gewalt an
Kindern ist. Heute noch müssen wir darüber sprechen,
weil mehr als ein Zehntel der Bevölkerung betroffen ist.
Im Jahr 2013 wurden 14 800 Taten registriert. Beratungsstellen sprechen von bis zu 100 000 betroffenen
Mädchen und Jungen pro Jahr. Diese Betroffenen leiden
ihr ganzes Leben an den Folgen dieser traumatischen Erlebnisse. Ich gebe die Gedanken einer Betroffenen wieder, die ihren Leidensweg öffentlich gemacht hat:
Ich hatte diese Bilder nicht unter Kontrolle, es
schmerzte sehr, ich war unausgeglichen, wütend,
hatte Zweifel und bekam starke Selbstmordgedanken. Ich dachte, dass ich es nicht mehr aushalten
kann, und wollte dem Schmerz für immer entfliehen.
Diese Betroffene hat ihre Erlebnisse öffentlich gemacht. Sie hat öffentlich gemacht, wie sie nach und nach
ihr Schweigen gebrochen und so gelernt hat, mit den Erinnerungen zu leben. Das Aussprechen des Erlebten ist
oft von großer Bedeutung für die betroffenen Personen.
Es ist aber auch für uns gesellschaftlich in der Aufarbeitung dieser Prozesse wichtig gewesen, dass Menschen
sich geäußert und die Debatte damit auch angestoßen haben.
Ich möchte auch ausdrücklich die vielen Vertreter von
Opferverbänden begrüßen, die heute an der Debatte teilnehmen. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind!
({1})
Ich möchte mich bei Ihnen für Ihr Engagement bedanken
und dafür, dass Sie diese Debatte angestoßen haben und
mit viel Mut die traumatischen Erinnerungen öffentlich
kundtun. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Thema sexueller Missbrauch Minderjähriger nicht länger tabuisiert wird. Politik und Gesellschaft müssen dafür sensibilisiert werden. Denn wir wissen aus der Psychologie
und der Psychoanalyse: Wer sich nicht erinnert, der verdrängt, vergisst und wiederholt. Das ist auch ein gesellschaftliches Problem bei diesem Thema. Deswegen sind
die Aufarbeitung des Unrechts und der Schmerz der betroffenen Mädchen und Jungen für uns Christdemokraten ein Thema, das ganz oben auf der Agenda steht.
Was haben wir getan? Wir haben, nachdem die Debatte 2010 ins Rollen gebracht wurde, im März 2010
Frau Dr. Christine Bergmann zur Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ernannt. Dies wird fortgeführt durch JohannesWilhelm Rörig, den ich auch hier begrüßen darf, dem
unser Dank für seine hervorragende, engagierte Arbeit in
diesem Bereich gilt. Sie sind ein Lobbyist, dem wir vertrauen. Sie sind ein Lobbyist, der wichtig ist. Arbeiten
Sie so engagiert weiter! Sie haben unsere volle Unterstützung.
({2})
Wir haben auch viele einzelne Maßnahmen und Kampagnen entwickelt, zum Beispiel die Kampagne „Sprechen hilft“, eine Anlaufstelle des Unabhängigen Beauftragten. 27 000 Telefongespräche sind in diesem
Rahmen geführt worden und über 5 000 Briefe eingegangen.
Im März 2010 wurde der Runde Tisch „Sexueller
Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im
familiären Bereich“ von der Bundesregierung eingesetzt.
Im April 2013 fand ein Hearing statt. Seit dem 1. Mai
2013 gibt es den Fonds „Sexueller Missbrauch im familiären Bereich“, für den der Bund 50 Millionen Euro bereitgestellt hat.
Wir diskutieren - gerade auch im letzten Jahr - über
sehr viele einzelne Maßnahmen und weitere Gesetzesvorhaben, die die Rechte von Opfern stärken sollen, die
Aufarbeitungsprozesse begleiten sollen und die Kinder
schützen sollen. Dazu gehören das Bundeskinderschutzgesetz, das in diesem Jahr evaluiert wird, das Gesetz zur
Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs,
aber auch die ergänzenden Hilfssysteme für von sexuellem Missbrauch betroffene Menschen. Am 22. September wurde das Gesamtkonzept zum Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgestellt. Für
uns war und ist diese Debatte, auch zu diesem Zeitpunkt,
wichtig, um der Erinnerungskultur Rechnung zu tragen;
denn sie ist unsere gesellschaftliche Aufgabe in der
Folge der damaligen Diskussionen.
Neben diesen wichtigen Schritten zum Schutz von
Kindern und Jugendlichen muss auch die Aufarbeitung
sexuellen Kindesmissbrauchs der Vergangenheit fortgeführt und intensiviert werden. Daher unterstützen wir die
Einrichtung einer unabhängigen Kommission und fordern die Bundesregierung im Antrag entsprechend auf,
den Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des
sexuellen Kindesmissbrauchs bei seiner Arbeit zu unterstützen. Entscheidend ist dabei für uns, dass im Rahmen
der Arbeit der Kommission Betroffene angehört werden
und es nicht länger zu Verschleierungen kommt. Denn
auch die Institutionen sind nicht aus ihrer Pflicht zu entlassen; sie müssen sich weiterhin beteiligen. Es gilt für
uns, dass die Arbeit nicht ersetzt werden soll, sondern ergänzt werden muss. Die betreffenden Institutionen haben
sich daran zu beteiligen.
Darüber hinaus muss das Ziel aber auch darin bestehen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: bei
der Frage der Strukturen, bei der Frage, wie man
Schwachstellen frühzeitig identifizieren kann, um Missbrauch in Zukunft wirksamer zu verhindern.
Die Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungskommission ist ein wichtiger erster Schritt. Entscheidend
ist aber, dass wir hier nicht verharren. Die Aufarbeitung
von Unrecht ist ein langwieriger Prozess - das wissen wir
aus vielen anderen Aufarbeitungsprozessen -, der auch in
den kommenden Jahren mit großer Intensität vorangetrieben werden muss. Deshalb war und ist es wichtig und
richtig, die Aufarbeitung zu stärken und vor allen DinMarcus Weinberg ({3})
gen uns selbst wieder den Anstoß zu geben, darüber
nachzudenken, was wir jeden Tag, jede Woche tun können, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen.
In diesem Sinne bitten wir um Unterstützung für unseren
Antrag.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Marcus Weinberg. - Nächster Redner in
der Debatte: Norbert Müller für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Es ist
Teil der menschlichen Zivilisationsgeschichte, es sollte
fraktionsübergreifend unser aller Ziel sein, Gewalt aus
zwischenmenschlichen, aus politischen und aus gesellschaftlichen Beziehungen zu verdrängen. Sexueller
Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist eine besonders schreckliche Form von Gewalt; er ist ein fundamentaler Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit und steht
damit in eklatantem Widerspruch zu unserer Verfassung
und zur UN-Kinderrechtskonvention.
Sexueller Missbrauch von Kindern ist dabei kein Problem, das nur in - ich zitiere Pastor Klaus Mertes „männerbündisch verengten homosozialen Strukturen
des Klerus“ stattfindet; er ist ein gesellschaftliches Problem mit vielen Gesichtern. Er kann an staatlichen Einrichtungen wie an privaten Einrichtungen stattfinden. Ja,
wir wissen auch: Die meisten Fälle betreffen am Ende
den familiären Raum.
Strafrechtlich werden sexueller Missbrauch von Kindern und Misshandlung von Schutzbefohlenen aus Sicht
der Linken angemessen geahndet - sofern die Tat bekannt ist; Sie haben völlig zu Recht die hohe Dunkelziffer angesprochen.
Der Missbrauch von Schutzbefohlenen verursacht
gravierende seelische Wunden, verursacht Scham und
Angst. Die Betroffenen leiden meist im Stillen. Nur wenige finden den Mut und die Kraft, sich als Kind oder
später im Erwachsenenalter anderen anzuvertrauen. Dies
ist jedoch die Voraussetzung dafür, betroffenen Menschen Unterstützung dabei zu bieten, Traumata zu verarbeiten und einen Umgang mit dem Erlebten zu finden.
Was die Schaffung einer Kultur angeht, die es den Menschen ermöglicht, sich zu offenbaren und einen Umgang
zu finden, sind wir in den letzten Jahren sicherlich weitergekommen.
Erst durch das Bekanntwerden der Tat haben Strafverfolgungsbehörden - bei aller Verschärfung des Strafrechts - die Chance, die Täter anzuklagen und die Konstitutionsbedingungen der Tätersysteme zu analysieren
und diese abzuschaffen. Hierfür braucht es Institutionen,
die einen transparenten politischen und gesellschaftlichen Diskurs überhaupt erst ermöglichen und anhand der
Bearbeitung konkreter Fälle die systematischen Bedingungen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen überwinden.
({0})
Mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsstrukturen
am Berliner Canisius-Kolleg, an der Odenwaldschule,
aber auch an den Jugendwerkhöfen, der Nordkirche und
in vielen weiteren Fällen in den letzten fünf Jahren trat
der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität eklatant zutage. Die daraufhin seit 2010 geführte Debatte
über Aufklärung, Opferinteressen, Täterbestrafung, Ursachenforschung, Entschädigung, Institutionswandel
und eine offene Kultur, aber auch über Prävention haben
wir immer unterstützt und befördert. Durch die Arbeit
des Runden Tisches und des Unabhängigen Beauftragten
wurden erste notwendige Reformen initiiert. Ich schließe
mich dem Dank an Herrn Rörig an.
({1})
Es hat sich allerdings gezeigt, dass beide Instrumente
dem Umfang der notwendigen Aufarbeitung alleine
nicht gewachsen waren. Hier, Herr Weinberg, gibt es
noch ein Stück weit Differenz zwischen uns. Die Aufarbeitung von Missbrauch in Institutionen stellt diese
selbst und ihren soziopolitischen Kontext infrage. Das
ist notwendig und auch gut so, führt aber auch zu Abwehrreaktionen bzw. Abwehrreflexen. Betroffene Institutionen verweigern noch immer die Aufarbeitung von
Unrecht unter dem eigenen Dach. Aufklärungsprozesse
werden durch zu schwache Untersuchungsrechte erschwert, Akteneinsichten verwehrt oder Unterlagen vernichtet.
Den vom Unabhängigen Beauftragten erarbeiteten
Vorschlag für eine Kommission zur Aufarbeitung von
Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen begrüßen wir als Linke ebenfalls. Damit diese
Kommission mit der dem Thema angemessenen Schlagkraft ausgestattet wird, bedarf es folgender vier Ergänzungen bzw. Änderungen Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition.
Erstens. Die Kommission muss auf gesetzlicher
Grundlage konstituiert werden. Dies stärkt die Unabhängigkeit und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit. Notwendig ist eine Evaluation der Handlungsspielräume
und Grenzen einer solchen Kommission zu Beginn der
19. Legislaturperiode.
Zweitens. Die Kommission benötigt eine tragfähige
und langfristige Finanzierungsgrundlage zur Bewältigung ihrer Aufgaben.
Drittens. Die angedachte Befristung der Arbeit der
Kommission bis zum März 2019 ist völlig unzureichend,
genauso wie die Formulierung in Ihrem Antrag, dass es
nur um Fälle der Vergangenheit geht; denn sexueller
Missbrauch ist auch nach 2010 Thema geblieben und
wird es auch in Zukunft sein. Die Linke spricht sich deswegen für die Einrichtung einer dauerhaften Kommis7956
Norbert Müller ({2})
sion zur Bearbeitung auch gegenwärtiger und zukünftiger Fälle aus.
({3})
Viertens. Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein
umfangreiches Problemfeld. Die Kommission muss ihre
Arbeit auf Themenbereiche konzentrieren - darin sind
wir uns einig - und diese in Zusammenarbeit mit dem
Unabhängigen Beauftragten und dem Betroffenenbeirat
regelmäßig überprüfen.
({4})
Wenn diese vier Bedingungen Eingang finden, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wird die Linke
Ihre Forderung nach Aufarbeitung als Ziel anerkennen
und ein gemeinsames Vorgehen mittragen. Wir freuen
uns auf die Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Norbert Müller. - Nächste Rednerin in
der Debatte ist Susann Rüthrich von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor allem liebe Gäste! Liebe Betroffene! Vielen Dank, dass Sie heute an unserer Debatte teilnehmen.
Vor fünf Jahren hallte ein Aufschrei durch das Land.
Der Leiter einer Berliner Bildungseinrichtung entschuldigte sich bei seinen Schülern für die jahrelange sexuelle
Gewalt, die ihnen in dieser Einrichtung angetan wurde.
Viele weitere Opfer fanden daraufhin den Mut, das ihnen
angetane Leid ebenfalls öffentlich zu machen. Ich denke,
ich spreche für uns alle: Wir erschraken über diese Art
von Beziehungstaten von Menschen, die ein enges Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen hatten. Da wären
eigentlich Schutz und Begleitung beim Erwachsenwerden zu erwarten gewesen. Stattdessen missbrauchten
diese Erwachsenen ihre Macht und taten ihren Schützlingen furchtbare Gewalt an. Opfer wurden sichtbar, Täter
und Täterinnen ebenfalls. Doch oft wussten viel mehr
Menschen im Umfeld von dem, was geschah. Doch auch
sie schützten die Kinder nicht.
Warum? Warum schaut man weg? Warum macht man
offene Geheimnisse nicht zum Thema? Warum sind
Schweigen und Tatenlosigkeit offenbar leichter zu ertragen, als Verantwortung zu übernehmen und Kindern das
Leid zu ersparen, Opfer sexueller Gewalt zu werden?
Antworten auf diese Fragen zu finden, das ist für mich
der Grund, eine unabhängige Aufarbeitungskommission
einzurichten.
Wie wichtig das ist, zeigt sich, wenn wir kurz darüber
nachdenken, was passieren würde, wenn wir nicht zurückschauen würden. Weitere Kinder würden Opfer, und
zwar auf genau dieselbe Art und Weise, wie es viel zu
viele vor ihnen wurden. Täter und Täterinnen könnten
sich weiter sicher sein, dass unsere Scham, unsere blinden Flecken und unser Nicht-Wahrhaben-Wollen sie decken.
Der Schutz und die Hilfe für die heutigen Kinder wären ohne sicheres Fundament, und die Prävention wäre
an vielen Stellen zwar gut gemeint, aber nicht gut. Herr
Rörig, der Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung
des sexuellen Kindesmissbrauchs, sagte dazu an diesem
Montag:
Solange nicht alle uns bekannten Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden, bleibt Missbrauch
weiterhin ein Skandal in Deutschland!
Genau so ist es.
({0})
Die Kommission wird zeigen, wo und wie wir unsere
Möglichkeiten besser ausschöpfen können, um sexuelle
Ausbeutung und Gewalt zu verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir versetzen also
den Unabhängigen Beauftragen in den Stand, die Aufarbeitung zu starten, ein Konzept zu erstellen, Fachleute
aus verschiedenen Professionen zu benennen und uns bis
zum Ende seiner aktuellen Amtszeit 2019 Empfehlungen
zu geben, was praktisch und politisch getan werden
muss, um sexuelle Gewalt an Kindern zu verhindern,
und zwar in allen Bereichen, in Familien, im sozialen
Umfeld, in Institutionen, bei Menschen mit und ohne
Behinderung.
Es wird Anhörungen geben. Bisher vorgelegte Studien und Aufarbeitungsakten werden gesammelt, gebündelt, ausgewertet. Es wird selbst geforscht und recherchiert, und am Ende wird uns ein Ergebnis vorgelegt.
Doch es ist nicht nur wichtig, dass das gemacht wird,
sondern es kommt darauf an, wie es gemacht wird. Da
kommt es eben nicht nur auf das Konzept an, das jetzt
erarbeitet wird, sondern es kommt auf uns an. Dabei rede
ich noch nicht einmal davon, dass die Aufarbeitung Geld
kosten wird, Geld, das wir alle werden aufbringen müssen, weil es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt.
({1})
Viel mehr als vom Geld rede ich aber davon, dass die
Kommission unsere dauerhafte und starke Unterstützung
brauchen wird, und zwar gerade dann, wenn es schwer
wird, sich dem zu stellen, was da auf den Tisch kommt.
Es ist heute kaum absehbar, was genau zum Vorschein
kommen wird. Allein die Aufarbeitung von einzelnen
Fällen in einzelnen Institutionen ist schnell viel fundamentaler geworden, als sich das die Beteiligten vorher
gedacht haben.
Wie wird es dann erst sein, wenn wir alles zusammen
betrachten, wenn der gesellschaftliche Rahmen angeschaut wird, in dem sexuelle Gewalt an Kindern möglich
wird? Genau dann werden wir stark sein müssen, und
zwar nicht in der Abwehr, sondern indem wir Verantwortung übernehmen.
({2})
Am Ende steht für mich noch eines: Auch wenn die
Arbeit der Kommission zeitlich begrenzt ist, haben wir
hier eine Daueraufgabe vor uns, wenn wir den Skandal,
den ich anfangs erwähnte, tatsächlich beenden wollen;
denn es wird wohl neue Fälle geben - leider. Es wird
aber auch gesellschaftliche Veränderungen geben, vielleicht zum Glück. Es wird zu prüfen sein, wie und ob die
gewonnenen Erkenntnisse wirken. Um dem gerecht zu
werden, braucht es den Unabhängigen Beauftragten zur
Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs unabhängig von Legislaturen und Amtszeiten auf Dauer.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Susann Rüthrich. - Nächste Rednerin in
der Debatte ist Katja Dörner für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich
bin wirklich froh, dass wir heute über die Einrichtung einer Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch hier diskutieren. Obwohl in den letzten
Jahren Betroffene über ihren persönlich erlebten Missbrauch gesprochen haben und auch Institutionen sich auf
den Weg der Aufarbeitung gemacht haben, haben wir in
Deutschland immer noch keine wirklich systematische
und weitreichende Aufarbeitung. Genau dafür brauchen
wir eine solche Kommission.
Eine solche Kommission hat nicht nur der Unabhängige Beauftragte schon lange gefordert, sondern insbesondere die Betroffenen. Deshalb finden wir Grünen es
gut, dass die Kommission jetzt auf den Weg gebracht
wird.
({0})
Ich will aber auch nicht verhehlen, dass ich etwas unschön finde, wie dieses Anliegen hier zu uns ins Parlament gebracht worden ist, nämlich in Form eines Koalitionsantrags.
({1})
Ich finde, das Thema „sexueller Kindesmissbrauch“ verbietet die übliche Aufstellung Opposition versus Regierung. Wir haben uns als Grüne in den letzten Wochen
sehr bemüht, mit den Koalitionsfraktionen ins Gespräch
zu kommen. Das ist leider nicht gewünscht gewesen. Ich
finde das sehr schade, weil sexueller Kindesmissbrauch
die gesamte Gesellschaft angeht, weil sie den gesamten
Bundestag angeht. Es wäre wichtig, dass von uns gemeinsam ein politisches Signal ausgeht: Ja, wir wollen
diese Kommission.
({2})
Wenn man über die Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch spricht, steht oft im Vordergrund, Strukturen zu erkennen, die Missbrauch möglich gemacht haben, die Missbrauch befördert haben, und zwar mit dem
Ziel, zukünftigen Missbrauch zu verhindern und bestmögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Diese
Dimension der Aufarbeitung ist natürlich extrem wichtig.
Genauso wichtig ist aber auch die Dimension der individuellen Aufarbeitung, also die Möglichkeit für die
Opfer, in einem geschützten Raum über erlebten Missbrauch zu sprechen, gehört zu werden und ernst genommen zu werden. Wir als Grüne haben die Vorstellung
und auch den Anspruch, dass die Aufarbeitungskommission, die jetzt eingerichtet werden soll, einen solchen
Raum darstellt.
Ich habe am Montag am Fachgespräch des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs genau zu dieser Thematik teilgenommen, in
dem vor allem die Erfahrungen mit den Prozessen der
Aufarbeitung verschiedener Institutionen zusammengetragen und diskutiert wurden. In diesem Fachgespräch
ist sehr klar formuliert worden - mir ist sehr wichtig, das
in diesem Rahmen noch einmal zu sagen -, dass es besonders darum gehen muss, denen Gehör zu verschaffen,
die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gut
ausdrücken können, die nicht über das Erlebte gesprochen haben, die nicht gut darüber sprechen können und
deren Leid in der Öffentlichkeit deshalb nicht wahrgenommen worden ist. Das sind beispielsweise Menschen
mit Behinderung. Das sind Heimkinder. Das sind aber
auch Menschen, die sehr jung waren, als der Missbrauch
geschah. Auch für diese Menschen soll die Aufarbeitungskommission aus unserer Sicht einen Raum des Gehörtwerdens sein.
({3})
Da der Auftrag der Kommission, den wir heute beraten, im Antrag nur sehr knapp benannt wird, hoffe ich,
dass die Kommission in ihrer Arbeit den unterschiedlichen Dimensionen der notwendigen Aufarbeitung entsprechen kann. Wir erwarten, ehrlich gesagt, dass sie dafür auch ausgestattet wird.
Im Fachgespräch, das ich schon erwähnt habe, ist sehr
deutlich geworden, dass es von großem Vorteil wäre,
wenn die Kommission eine gesetzliche Grundlage hätte,
also gesetzlich verankert würde. Das würde für den
Handlungsspielraum der Kommission einfach eine deutliche Erweiterung zur Folge haben, beispielsweise was
das Recht der Akteneinsicht angeht, aber auch, was die
Befragung von Zeugen angeht.
In die Aufarbeitungskommission werden große Hoffnungen gesetzt. Ich finde, zu Recht. Ich habe allerdings
die Sorge, dass es dieser Kommission ohne diese gesetzliche Verankerung schwerfällt, diesen Hoffnungen und
Anforderungen tatsächlich gerecht zu werden. Wenn ich
es richtig sehe, ist eine gesetzliche Verankerung bei den
Koalitionsfraktionen noch nicht vorgesehen. Ich hoffe,
dass wir in den Beratungen des Antrags hier vielleicht
noch zu einer anderen Lösung kommen können.
({4})
Wie so oft ist die Finanzierung der Knackpunkt; das
ist schon angesprochen worden. Da heißt es im Antrag:
„im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten“. Das ist
natürlich auf der einen Seite selbstverständlich; auf der
anderen Seite lässt es aber auch nicht ganz so viel Gutes
vermuten. Ich habe aus den Reden der Kolleginnen und
Kollegen noch nicht wirklich heraushören können, was
das in diesem Fall bedeutet. Für uns ist ganz klar - das
möchte ich für die Grünen sagen -, dass es zusätzliche
Mittel geben muss. Die Mittel für die Aufarbeitungskommission dürfen nicht aus dem Etat des Kinder- und
Jugendministeriums herausgeschnitten werden.
({5})
Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen auch hier
zu einer gemeinsamen Lösung kommen.
Für uns ist klar: Wir begrüßen die Einrichtung der
Aufarbeitungskommission ganz ausdrücklich; aber natürlich müssen auch die Rahmenbedingungen stimmen.
Zum Abschluss möchte ich noch Folgendes ansprechen: Herr Weinberg, Sie haben sich eben auf das Gesamtkonzept bezogen, das die Ministerin anlässlich des
Empfangs des Unabhängigen Beauftragten vorgestellt
hat. Darin war eine ganze Reihe von guten und interessanten Vorschlägen enthalten. Meine Kollegin Brantner
hat vor zwei oder drei Monaten in einer Kleinen Anfrage
abgefragt, welche der konkreten Vorhaben mittlerweile
angegangen worden sind. Die Beantwortung dieser Anfrage war leider sehr mau: Quasi nichts von dem, was
die Ministerin an dieser Stelle angekündigt hat, wurde
bis dato umgesetzt. Ich finde, da haben wir eine gemeinsame Baustelle, nämlich da nachzuhaken und dafür zu
sorgen, dass die guten Vorschläge, die im Raum stehen,
dann auch umgesetzt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Katja Dörner. - Nächste Rednerin in der
Debatte: Christina Schwarzer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Das weiße
Kreuz hier an meiner Jacke steht für Sicherheit und
Schutz. Die Farbe Weiß symbolisiert Verletzlichkeit, die
Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen, die geschützt werden müssen. Das weiße Kreuz ist Symbolträger einer bundesweiten Kampagne zum Thema „Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“. Ich trage
es heute zur Erinnerung für uns alle. Uns muss bewusst
sein, dass wir hier im Deutschen Bundestag auch zukünftig Teil einer großen Verantwortungsgemeinschaft
sind.
Aber nicht nur mit dem Tragen des weißen Kreuzes
leisten wir unseren Beitrag dazu, dass die so wichtige
Debatte zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im institutionellen und privaten Bereich nicht verstummt. Es
darf nicht nur eine Bundestagsdebatte, sondern muss
auch eine gesellschaftliche Debatte sein und bleiben.
Das sind wir den Opfern schuldig, die vor fünf Jahren einen unbeschreiblichen Mut aufgebracht haben und mit
ihren Qualen an die Öffentlichkeit gegangen sind.
Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, welche Kraft
es braucht, diesen Schritt zu gehen, welche Belastungen
an den Menschen zerren. Allein schon die Angst vor Unverständnis, Bagatellisierung, Ignoranz oder Leugnung
hält viele Opfer davon ab, zu sprechen. Da Angst kein
gutes Gefühl ist, schweigen viele. Das Wort „Danke“ ist
heute schon oft gefallen. Ich glaube, man kann es nicht
oft genug sagen: Danke für den Mut, den Sie bewiesen
haben!
({0})
Dieser Mut hat nicht nur dazu geführt, dass wir heute
im Bundestag über dieses Thema sprechen; er ist auch
Grundlage dafür, dass wir beim Unabhängigen Beauftragten eine Aufarbeitungskommission einrichten werden. Ich kann für meine Fraktion, aber sicherlich auch
für das ganze Haus sagen, dass wir das sehr unterstützen
- nicht nur heute, sondern über den gesamten Prozess
hinweg. Ich kann Ihnen sagen - Frau Rüthrich und Herr
Weinberg können das sicherlich auch -: Wir alle haben
in den letzten Tagen viele E-Mails und Briefe bekommen. Ich glaube, wir lassen diese sicherlich auch Ihnen,
Herr Rörig, zukommen. Vielleicht haben wir gemeinsam
noch weitere Ideen dazu, wie wir vorankommen.
Nachdem 2010 der Stein ins Rollen gebracht worden
ist, sind über 16 000 Gespräche mit Betroffenen geführt
worden. In 4 500 Briefen legten Opfer Zeugnis über ihre
Leiden ab. Das zeigt: Viele Opfer wollen sprechen. Sie
sagen aber auch: Danke, dass ihr uns endlich eine
Stimme gegeben habt! - Wir müssen weiterhin zuhören
und natürlich auch helfen. Wir müssen Zeugen sein und
als Gesellschaft Verantwortung übernehmen.
Ich bin optimistisch gestimmt, dass diese Kommission, so wie sie vorbereitet und geplant ist - ich bin sehr
beeindruckt -, eine große Stütze für die Opfer, aber auch
für die Institutionen sein wird. Sie ist sorgfältig und effizient geplant und kann konkrete Ergebnisse liefern. Im
Prozess der Aufarbeitung, aber auch im Bereich der Prävention kann sie uns einen großen Schritt nach vorn
bringen.
Die Betroffenen berichten, dass sie in eine zweite Dimension des Leidens geführt werden, wenn sie über das
Erlebte sprechen. Dies bestärkt nur meine Anerkennung
für ihre Offenheit. Sie sagen aber auch, dass diese Gespräche helfen, die Erinnerung und den Schmerz anzuerkennen und aufzuarbeiten.
Eine unabhängige Kommission ist meiner Ansicht
nach ein guter Ansprechpartner. Ihre Mitglieder werden
sorgfältig ausgewählt. Sie müssen sehr integer, vertrauenswürdig und unabhängig sein. Für die extrem intensiven und sensiblen Gespräche und Aufgaben sind diese
Voraussetzungen unerlässlich.
Eine Aufarbeitungskommission hilft aber auch den
Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche zu Opfern wurden. Sie müssen weiter - manchmal noch intensiver - daran arbeiten, Fälle aus der Vergangenheit aufzuarbeiten, um dadurch zukünftiges Leid vielleicht zu
verhindern. Die Kommission nimmt ihnen diese Aufgabe nicht ab. Sie kann sie dabei nur unterstützen und
Prozesse in Gang setzen.
Aber auch viele andere Institutionen, viele Schulen
oder Vereine haben noch wichtige Aufgaben zu meistern. Hier geht es darum, Missbrauch zu verhindern oder
im Missbrauchsfall so schnell wie möglich zu helfen, damit Taten nicht über 30 Jahre verdrängt oder gar ignoriert werden. Wir brauchen Konzepte zum Umgang mit
Fällen sexuellen Missbrauchs. Das hat unter anderem
auch der Runde Tisch empfohlen. Wie verhalte ich mich
als Lehrer, wenn ein Schüler von sexuellen Übergriffen
berichtet? Wie reagiere ich, wenn ich mich als Trainer zu
einem Schutzbefohlenen vielleicht hingezogen fühle?
Was tue ich, wenn ich den Verdacht hege, dass in meinem Freundeskreis sexuell missbraucht wird? - Die Institutionen, Schulen oder Vereine brauchen ein Konzept
zur Prävention und Intervention, das ist ganz wichtig. So
erhalten Verantwortliche mehr Handlungssicherheit
beim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch. Der Unabhängige Beauftragte kann
hier helfen und Anleitungen geben; aktiv werden müssen
jedoch die Einrichtungen selbst. Von dort wissen wir
aber auch, dass Überforderung herrscht. Das müssen und
wollen wir ändern.
({1})
Das Zuhören und der Versuch, die richtigen Antworten zu finden, sind ganz besonders wichtige Punkte auf
dem Weg der Aufarbeitung. Es gehört aber noch mehr
dazu. Wir müssen uns auch fragen: Wie können wir verhindern, dass solche Fälle in Zukunft wieder passieren? - Hier gibt es keine Garantie, das gehört leider zur
traurigen Wahrheit.
Die Hilflosigkeit der Institutionen, in denen Kinder
und Jugendliche zu Opfern wurden, muss in eine Bewältigungsstrategie umgewandelt werden. Dennoch dürfen
und werden wir nicht aufhören, dagegen anzukämpfen,
dass Kinder und Jugendliche in unserem Land von Erwachsenen, manchmal von den Erwachsenen, die sie eigentlich beschützen sollen, sexuell missbraucht werden.
Der Kollege Marcus Weinberg hat vorhin schon einige
Maßnahmen genannt. Ich möchte an dieser Stelle noch
ergänzend die Verschärfung des Sexualstrafrechts nennen oder auch die Förderung des Netzwerkes „Kein Täter werden“ an der Berliner Charité, bei dem es um Prävention geht.
Natürlich ist die Aufarbeitung selbst nicht nur Hilfe
für diejenigen, die bereits zu Opfern geworden sind. Ich
wiederhole mich: Es gibt hier keine Garantie. Aber ich
bin fest davon überzeugt: Je lauter eine Gesellschaft über
dieses Thema diskutiert, je deutlicher sie macht, dass sie
solche Abscheulichkeiten nicht duldet, desto mehr potenzielle Täter können abgeschreckt werden und sich
hoffentlich Hilfe suchen. Auch darum ist die Aufarbeitung so wichtig.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass diese
Debatte nicht verstummt, damit der Mut der Opfer nicht
umsonst war, damit ihr Mut nicht umsonst war.
({2})
Vielen Dank, Christina Schwarzer. - Nächste Rednerin in der Debatte ist die Parlamentarische Staatssekretärin Caren Marks.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über ein Thema, das die gesamte Gesellschaft bewegt, bewegen muss. Sexuelle Gewalt gegen
Kinder und Jugendliche bedeutet körperliche und seelische Qualen für die Betroffenen. Sie leiden, sie leiden
ein Leben lang.
Wir wissen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Viele
zeigen den oder die Täter nicht an, und wenn Betroffene
ihr Schweigen brechen, dann oftmals erst viele Jahre
später als Erwachsene. Was ich ganz besonders erschütternd finde: Wenn Missbrauch stattfindet, dann in einem
hohen Maße im unmittelbaren Umfeld dieser Kinder und
Jugendlichen; in Einrichtungen, in Familien. Vertrauensverhältnisse werden missbraucht. Sie werden zerstört,
und das bereits im Kindesalter.
Wir müssen uns heute hier vergegenwärtigen: Das
Aufdecken von Missbrauchsskandalen vor fünf Jahren
hat nicht dazu geführt, dass der Missbrauch ein Ende hat.
Davor und danach fand und findet sexuelle Gewalt gegen Kinder und gegen Jugendliche statt; mitten unter
uns. Die Öffentlichkeit nimmt dies aber nicht immer
gleich stark wahr.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vor fünf
Jahren wurde der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ eingerichtet, der ressortübergreifend arbeitete
und interdisziplinär besetzt war. Der Runde Tisch erarbeitete einen Abschlussbericht mit konkreten Empfehlungen zum Thema Missbrauch. Zudem nahm damals
die Unabhängige Beauftragte, Frau Dr. Christine Bergmann, im Auftrag der Bundesregierung ihre Arbeit auf.
Seitdem ist einiges geschehen. Beispielsweise wurden in
den vergangenen Jahren Regelungen zum Schutz von
Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt, im Strafrecht Verjährungsfristen ausgeweitet sowie die Rechte
von Opfern in Strafverfahren verbessert.
Die Bundesregierung hat die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Herrn Rörig, in dieser Legislaturperiode abgesichert. Ich begrüße Sie, Herr Rörig, sowie die
Betroffenen ganz herzlich auf der Besuchertribüne. Sie
verfolgen die Debatte heute. Ich sage Danke für Ihre
wertvolle Arbeit und das großartige Engagement. Den
Betroffenen danke ich für den Mut und den Einsatz, den
sie zeigen. Auch wir sind alle darauf angewiesen in unserer Gesellschaft. Vielen Dank.
({0})
Es ist einiges geschehen, aber wir haben auch noch einiges vor. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig
hat ein Gesamtkonzept zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt vorgestellt. Es beruht auf dem Gedanken, dass wir gemeinsam daran arbeiten müssen, Missbrauch wirksamer zu verhindern
und die Unterstützungsangebote und Hilfen für Betroffene zu verbessern.
Meine Kolleginnen und Kollegen, in den vergangenen Jahren wurden Missbrauchsskandale in einigen Einrichtungen untersucht. Es ist aus Sicht der Betroffenen,
aber auch aus Sicht der gesamten Gesellschaft ganz wesentlich, dass sich Institutionen mit ihrer Vergangenheit
beschäftigen und sich der Verantwortung stellen, dass
Schweigen gebrochen wird. Daher ist sehr gut nachvollziehbar, dass es aus dem Kreis der Betroffenen die starke
Forderung nach einer unabhängigen Aufarbeitung gibt.
Gewollt ist eine unabhängige, aber nicht unparteiische
Aufklärungskommission; eine Kommission, die Partei
für die Betroffenen ergreift.
Der Koalitionsvertrag greift die Forderung nach einer
unabhängigen Aufarbeitung ebenso auf wie der heute
debattierte Antrag. Betroffene von sexualisierter Gewalt
machen in diesen Tagen deutlich, dass sie ein starkes
Mandat vom Bundestag erwarten. Die heutige Plenardebatte ist ein starkes Signal, weil das Parlament dem Anliegen der Betroffenen öffentlich Rechnung trägt, die
Aufarbeitung bzw. eine Aufarbeitungskommission öffentlich einfordert und nach der Einbringung des Antrages heute das Thema weiter debattieren wird. Die
Bundesregierung ist ressortübergreifend in der Verantwortung, diesen Antrag umzusetzen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen,
Expertinnen und Experten betonen, dass die Aufklärungsarbeit nicht den Institutionen überlassen werden
dürfe; denn „Täternetzwerke“ und Institutionen würden
sich immer noch vereinzelt vor den Informationen schützen, die sie infrage stellen. Zudem ist es ganz besonders
wichtig, den Betroffenen zuzuhören. Auch das gehört zu
einer Aufarbeitung dazu. Eine unabhängige Aufarbeitungskommission, die Empfehlungen ausspricht und
systematische Fehler benennt, bringt Erkenntnisse, die
auch zu einem verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt beitragen. Sie ist
damit auch ein wichtiger Teil der Präventionsarbeit. Nur
so schaffen wir auch eine Kultur des Hinsehens und können Rahmenbedingungen, die Missbrauch begünstigen,
erkennen und ihnen wirksam entgegenwirken.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Caren Marks. - Letzter Redner in dieser
Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es wurde von meinen Vorrednern schon
sehr viel Zutreffendes ausgeführt. Ich will das Positive
der heutigen Debatte direkt voranstellen: Wir sind fraktionsübergreifend, losgelöst von Koalition und Opposition, in diesem Punkt ziemlich einig und auf einem guten
Weg. Wir haben konsensual den Schutz der Betroffenen
im Fokus. Dafür allen Vorrednern ein herzliches Wort
des Dankes.
({0})
- Dort möchte jemand eine Frage stellen.
Das habe ich schon gesehen, Herr Lehrieder. Keine
Angst. Meine Augen sind überall.
Ja, ich wollte Sie nur höflich darauf hinweisen.
Wollen Sie die Frage zulassen?
Natürlich, ja.
Frau Keul, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. - Sie haben gerade zu Recht gesagt, dass wir konsensual dieses Vorgehen begrüßen. Ich habe noch nicht die Antwort auf die
Frage meiner Kollegin Dörner gehört, warum die CDU/
CSU-Fraktion darauf bestanden hat, das im Parlament
nicht gemeinsam zu machen und die Opposition auszuschließen. Was ist die Antwort darauf?
Frau Kollegin, wir werden Sie natürlich an den Debatten beteiligen. Wir ziehen Sie natürlich mit. Sie dürfen sich an diesem Werk entsprechend konstruktiv einbringen. Sie dürfen versichert sein, so wie früher bei
Rot-Grün, dass eine Regierungskoalition ein gewisses
Maß an Verantwortung für die Bevölkerung trägt und ein
Initiativrecht hat, zu sagen: Wir bringen etwas auf den
Weg, und die anderen Parteien nehmen wir dann später
mit. Von daher sollten wir das nicht in parteipolitischem
Klein-Klein zerreden, Frau Kollegin - Sie können stehen
bleiben, ich bin noch nicht fertig -, sondern das große
Ganze sehen.
({0})
Das wäre wichtig, im Interesse der Betroffenen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutz von Kindern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir alle
müssen uns jedoch eingestehen - die Vorredner haben
bereits darauf hingewiesen -, dass wir in der Vergangenheit beim Thema „sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“ in vielen Bereichen versagt haben. Ende dieses Monats jährt sich zum
fünften Mal das Bekanntwerden der Missbrauchsskandale in Bildungseinrichtungen; alle Vorredner haben bereits darauf hingewiesen.
Die 2010 in Gang gesetzte Aufklärungswelle in Bezug auf sexuellen Missbrauch in Heimen und Schulen
und die Berichte der Betroffenen haben uns alle zutiefst
erschüttert und beschämt. Das ganze Ausmaß der leidvollen Erfahrungen wurde uns erst nach und nach bewusst. Die gesellschaftliche und politische Debatte zu
diesem Thema mag noch relativ jung sein, hinter vielen
Betroffenen liegen jedoch lange Jahre, wenn nicht sogar
Jahrzehnte des Schweigens und des Leidens: nicht verarbeitete Traumata, fehlendes Vertrauen - von der Kollegin wurde bereits darauf hingewiesen - zu Personen, die
mit der Erziehung, mit der Betreuung dieser Kinder beauftragt waren. Personen, denen man ein erhöhtes Maß
an Vertrauen entgegengebracht hat, haben das Vertrauen
erschüttert, was zu erheblichen Verletzungen in den Seelen und Körpern der betroffenen Kinder geführt hat. Das
ist ganz großes Leid. Jemand, der das nicht erlitten hat,
kann das wahrscheinlich nur sehr schwer nachvollziehen.
Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen sind in den letzten Jahren zum Teil ein zweites Mal Opfer geworden, nämlich dann, wenn sie sich
jemandem anvertraut haben. So ist es gut, dass insbesondere in den letzten fünf Jahren eine gesellschaftliche Debatte in Gang gekommen ist, in der genau dieses Leid
nicht stigmatisiert, sondern in der klargestellt wird: Du
bist nicht schuld, wenn dir so etwas passiert ist, das ist
auch anderen Kindern passiert. - Nun traut man sich,
über ein Thema zu sprechen, das vor sieben, acht oder
zehn Jahren gesellschaftlich noch stärker ausgegrenzt
war.
Wie es den Betroffenen in all den Jahren ergangen ist,
vermag kaum einer von uns nachzuempfinden. Die
Opfer leiden oftmals ein Leben lang unter den Folgen
des Missbrauchs - hierzu können unter anderem Flashbacks, Depressionen, Panikattacken, Suchterkrankungen, selbstverletzendes Verhalten sowie ein generelles
Misstrauen gegenüber Menschen gehören -; das wird
durch die Schilderungen der Menschen deutlich, die sich
an die Missbrauchsbeauftragten gewendet haben. Die
Betroffenen schaffen es erst zum Teil Jahrzehnte später,
das Schweigen zu brechen und sich jemandem anzuvertrauen.
Ich weiß, dass viele Opfer von sexuellen Übergriffen
und sexueller Gewalt diese heutige Debatte verfolgen,
zum Teil live vor dem Fernseher oder auf der Besuchertribüne. Ihre Courage, ihre traumatischen Erfahrungen
der Vergangenheit mit der Öffentlichkeit zu teilen, verdient allerhöchste Anerkennung. Die geschilderten Erlebnisse lassen uns erschüttert und oft sprachlos zurück.
Ihre Berichte haben andere Betroffene dazu ermutigt,
den Missbrauch in Institutionen, Schulen und kirchlichen Einrichtungen zu thematisieren. Von vielen Kollegen wurde auf das Fachgespräch mit dem Unabhängigen
Beauftragten, Herrn Rörig, im Familienministerium am
vergangenen Montag hingewiesen. Wir haben uns am
Rande dieser Veranstaltung darauf verständigt, Herr
Rörig, dass wir den Betroffenenrat, der im März seine
Tätigkeit aufnehmen wird, anhören werden, ich hoffe,
noch vor der Sommerpause. Wir müssen uns überlegen,
wo wir - neben der Tätigkeit in der neu einzurichtenden
unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung - helfen
können.
Herr Rörig, herzlichen Dank für Ihre segensreiche Arbeit. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, herzlichen
Dank für Ihr konstruktives Mitarbeiten an der Lösung
dieses gesamtgesellschaftlichen Problems. Wir sind auf
einem guten Weg. Liebe Frau Kollegin Dörner, wir werden uns im weiteren Verfahren die guten Vorschläge der
Grünen und auch der Linken sehr gerne anhören.
Herzlichen Dank und schönes Wochenende.
({2})
Danke, Paul Lehrieder. - Ich schließe diese intensive,
fraktionsübergreifend sehr bewegende Aussprache und
wünsche Ihnen gute Weiterarbeit an diesem Thema.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3833 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich warte noch einen Moment, bis die Plätze eingenommen wurden. - Ich danke auch Ihnen auf der Besuchertribüne, dass Sie an dieser Debatte teilgenommen
haben. Vielen herzlichen Dank!
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Claudia Roth
Übernahme der Energienetze durch Stadtwerke erleichtern
Drucksache 18/3745
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Kein Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Caren
Lay für die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Privatisierungswelle, die sich seit den 90erJahren vollzieht, neigt sich nun hoffentlich bald ihrem
Ende zu. Viele Kommunen wollen die Netze für Stromund Gasversorgung, die sie an private Betreiber übergeben, zum Teil verhökert haben, nun wieder zurück. Der
Zeitpunkt dafür ist genau richtig; denn bis zum Jahr
2016 werden über 2 000 Netzverträge auslaufen. Das ist
also eine Riesenchance für die kommunalen Stadtwerke.
({0})
Netze in öffentlicher Hand haben so manchen Vorteil:
Die Preise können im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher moderat gestaltet werden, die Gewinne
bleiben bei den Kommunen und können sinnvoll reinvestiert werden. Wir als Linke sind überzeugt: Auch für
die Energiewende ist es gut und richtig, die Netze zurück
in öffentliche Hand zu bringen; denn dezentraler Energieversorgung gehört die Zukunft.
({1})
Demokratisch kontrollierte Stadtwerke sollen aus unserer Sicht eine ganz zentrale Rolle bei der Energiewende
spielen.
Das wollen auch immer mehr Kommunen. Leider
werden sie durch die derzeitige Rechtslage viel zu oft
daran gehindert. Die privaten Betreiber und die Energiekonzerne denken überhaupt nicht daran, auf dieses einträgliche Geschäft zu verzichten, und ziehen vor Gericht selten ohne Erfolg. Eine Vielzahl von Vergabeverfahren
wurde aufgehoben. Teilweise wurden die Rekommunalisierungen rückabgewickelt, so geschehen beispielsweise in Meschede und in Olsberg sowie in der Gemeinde Bestwig. Das Oberlandesgericht Düsseldorf
hatte hier die Konzessionsvergabe der Städte an die jeweiligen Stadtwerke gekippt.
Ein anderes Beispiel, das derzeit durch die Presse
geht, ist die Stadt Berlin. Deswegen freue ich mich, dass
der Antrag, den wir heute in den Bundestag einbringen,
über den wir heute diskutieren, auch von der Fraktion
der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus eingebracht
wird mit der Zielstellung, dass die Länder endlich einmal eine Bundesratsinitiative auf den Weg bringen.
({2})
Man muss sagen, dass der Bund bisher nicht gerade
hilfreich ist, das Bundeskartellamt und die Bundesnetzagentur jedenfalls nicht. Ja, das Selbstverwaltungsrecht
der Kommunen existiere, aber bei der Konzessionsvergabe, so sagen sie es, eben nur im Rahmen des Wettbewerbs. Andere Kriterien - regionale Wirtschaftskreisläufe, Bürgernähe, ökologischer Anspruch - fallen
hinten herunter. In der Praxis sind die Privaten dann häufig im Vorteil. Grundlage dafür ist ein gemeinsamer
Leitfaden der beiden Bundesbehörden aus dem Jahr
2010. Das ist zwar kein Gesetz, sondern nur ein Leitfaden, aber aufgrund der unklaren Rechtslage wird dieser
Leitfaden häufig wie ein Gesetz behandelt.
Auch ein Urteil des BGH vom Dezember des letzten
Jahres bestätigt diese Auffassung. Ich muss dazu einfach
einmal sagen, dass ich das völlig absurd finde: Das
Grundgesetz garantiert den Vorrang der kommunalen
Selbstverwaltung, und wir müssen im Bundestag durch
Schaffung einer klaren Rechtslage dafür sorgen, dass
dieser Vorrang der kommunalen Selbstverwaltung endlich eingehalten werden kann.
({3})
Es gibt, ehrlich gesagt, überhaupt keinen Grund dafür,
dass die deutsche Interpretation übereifrig über das hinausgeht, was die Europäische Union vorschreibt. Ich bin
sehr froh, dass wenigstens dagegen jetzt Klage beim
Bundesverfassungsgericht eingereicht wurde, in diesem
Fall von der Stadt Titisee-Neustadt. Ich hoffe, dass diese
Klage erfolgreich ist.
({4})
Bevor es weitere Klagen gibt und wir auf die Entscheidungen warten müssen, sollten wir im Bundestag
schnellstmöglich für Rechtssicherheit sorgen. Ich finde,
wir brauchen schnellstmöglich eine rechtliche Klarstellung; denn es kann nicht sein, dass Kommunen, die öffentliche Stadtwerke und öffentliche Netze wollen,
durch eine unklare Rechtslage auf Bundesebene daran
gehindert werden. Diesbezüglich müssen wir endlich
Rechtssicherheit herstellen.
({5})
Die Frage ist doch, ob die Kommunen tatsächlich
selbst entscheiden können, ob sie Aufgaben der Daseinsvorsorge selbst erbringen oder an Dritte vergeben. Deswegen fordern wir hier auch, dass die Möglichkeit der
Inhouse-Vergabe ganz klar rechtlich geregelt wird.
({6})
Der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und
Gemeindebund und auch der Verband kommunaler
Unternehmen sehen das genauso. Sie protestieren seit
Jahren gegen diese eben erläuterte erhebliche Einschränkung. Auch Sie vertreten die Auffassung, dass die EUKonzessionsrichtlinie Inhousevergaben direkt an die
kommunalen Stadtwerke eindeutig ermöglicht. Ich darf
hier aus einer Erklärung von Februar 2012 zitieren; diese
ist jetzt nun schon drei Jahre alt. Dort heißt es:
Beim Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessionen darf das Recht auf kommunale Selbstverwaltung nicht eingeschränkt werden. Wir fordern
im Rahmen der derzeitigen Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes klare Regelungen für eine
rechtssichere Konzessionsvergabe, die auch kommunale Netzübernahmen ermöglichen.
In einer Presseerklärung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes vom letzten November wurde diese Forderung noch einmal ganz klar wiederholt. Ich finde, zu
Recht; denn auch im Koalitionsvertrag wurde versprochen, an dieser Stelle Rechtssicherheit herzustellen.
Aber auf diese Rechtssicherheit warten die Kommunen,
warten die Stadtwerke bis heute. Ich finde, das kann so
nicht bleiben.
({7})
Laut Presseberichten ist es Bundeswirtschafts- und -energieminister Gabriel selbst, der angeblich hinter den Kulissen auf die Bremse tritt, vielleicht um Zeit für die privaten Betreiber und die Energiekonzerne zu schinden.
Zeit ist hier im wahrsten Sinne des Wortes Geld, Geld,
das die Kommunen derzeit gut gebrauchen könnten. Gelingt es nicht jetzt, die Netze in öffentliche Hand zu
übernehmen, ergibt sich die nächste Chance erst in
20 Jahren. Das geht so nicht. Wir brauchen schnellstmöglich eine rechtliche Klarstellung.
Ich bitte daher um Unterstützung unseres Antrags.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir reden über die Rekommunalisierung
der Energienetze. Beim Durchlesen des Antrages - ich
lese Ihre Anträge tatsächlich - habe ich festgestellt, dass
er mir unwahrscheinlich bekannt vorkommt. Nach einer
kurzen Recherche fand ich heraus, dass Sie in der Tat
vor fünf Jahren den Antrag „Energienetze in die öffentliche Hand“ gestellt hatten.
({0})
- Genau. - Beim Lesen beider Anträge habe ich festgestellt: Der jetzige Antrag ist eine Blaupause. Es gibt
leichte Veränderungen, aber letztendlich müssen wir Ihnen genau das, was wir Ihnen vor fünf Jahren schon gesagt haben, auch dieses Mal sagen.
({1})
In dem Antrag, Frau Kotting-Uhl - es ist nicht Ihr Antrag; aber ich spreche Sie an, weil Sie sich gerade einmischen -, geht es um Folgendes.
({2})
- Locker, ich habe neun Minuten Redezeit.
({3})
Sie fordern mehr Staat, weniger Markt, eine verklausulierte Verstaatlichung von Netzbetreibern und eine Rekommunalisierung ohne Risikobewertung. Das können
wir natürlich aus den folgenden drei Punkten nicht mittragen.
Der erste Punkt ist: Das Modell „Mehr Staat und weniger privat“ ist kein Erfolgsmodell.
({4})
Ich kenne keine Volkswirtschaft auf der Welt, in der dieses Modell wirklich zum Erfolg geführt hat. Ich selbst
habe 28 Jahre lang in einer Volkswirtschaft gelebt, in der
man sich in der Tat redlich darum bemüht hat. Es hat
aber nicht zum Erfolg geführt, hat nicht dazu geführt,
dass dieses Modell „Staat vor Markt“ gegriffen hat. Eine
Verstaatlichung ist keine Garantie für Erfolg, ganz im
Gegenteil.
({5})
Rekommunalisierungen müssen immer die Ausnahme
bleiben. Sie haben vorhin auf die kommunale Selbstverwaltung abgehoben.
({6})
Kommunale Selbstverwaltung heißt aber nicht, dass eine
Kommunalisierung per se dort erfolgt, wo es in irgendeiner Art und Weise möglich ist. Deswegen haben wir das
Subsidiaritätsprinzip.
({7})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden, dann werden
Sie vielleicht klüger. Dann müssen Sie den Antrag nicht
ein drittes Mal stellen.
({8})
Das Subsidiaritätsprinzip besagt eindeutig, dass die
Aufgabenverteilung, die Aufgabenerledigung so erfolgt,
dass zuerst der Private mit seiner privaten Initiative, mit
seiner privaten Eigenverantwortung dran ist. Erst dann,
wenn das nicht möglich ist, wenn das nicht greift, ist die
öffentliche Hand an der Reihe.
({9})
Die Kommunalverfassungen der Länder lassen eine
Rekommunalisierung schon jetzt zu. Es gibt nämlich
eine schwache und eine starke Subsidiarität. Die schwache Subsidiarität besagt, dass Kommunen es genauso gut
machen müssen wie private Unternehmen. Die starke
Subsidiarität besagt, dass es Kommunen besser machen
müssen als private Unternehmen. Das müssen wir beachten. Wenn Sie dieses System infrage stellen, stellen
Sie generell die Systemfrage. Das wollen wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({10})
Der zweite Grund dafür, dass dieser Antrag überflüssig ist: Stadtwerke haben bereits jetzt die Möglichkeit,
Netze zu übernehmen. Wenn Sie sich einmal die Mühe
machen würden, zu recherchieren, welche Stadtwerke
welche Netze übernommen haben - das ist übrigens in
großer Zahl geschehen -, dann würden Sie sehr schnell
fündig werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In der
Kreisstadt Prenzlau in der Uckermark gibt es ein Stadtwerk, und es wurden natürlich auch Netze übernommen.
({11})
- Das ist falsch, junge Frau. Da sind Sie aber richtig auf
dem Holzweg. Seit dem dritten Energiebinnenmarktpaket gibt es die Entflechtung zwischen Betrieb und Erzeugung; das wird Ihnen ja bekannt sein. Wenn Sie sagen:
„Es gibt keine rechtlichen Grundlagen“, muss ich Ihnen
antworten: Die rechtliche Grundlage ist das Energiewirtschaftsgesetz.
({12})
Aus Ihrer Sicht muss eine Novelle her, aus unserer Sicht
nicht, weil dort alles Notwendige geregelt ist.
({13})
Sie sagen: Es muss keine Risikobewertung geben. Aber im Energiewirtschaftsgesetz ist ganz klar geregelt:
Es muss eine Risikobewertung geben, und es gilt das
Prinzip der Subsidiarität. Das heißt, das Stadtwerk muss
es nachweislich besser machen als ein privater Dritter,
und zwar zum Vorteil des Kunden. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kann das Stadtwerk natürlich einen
Antrag stellen und das Netz übernehmen.
Sie haben auf die Transparenz abgehoben. In der Tat
wünscht sich das eine oder andere Stadtwerk bei der
Übernahme, dass es mehr Transparenz gibt und dass die
Daten offengelegt werden: die Kundendaten, die Daten
zum Netzbetrieb, zu den Kosten und zu allem, was dazugehört. Aber die Gefahr besteht natürlich darin, dass es
zu Rosinenpickerei kommt. Denn wenn man alle Daten
offenlegt und sagt: „Das ist ein Netz, das gut läuft“, dann
entscheidet man aufseiten des Stadtwerkes vielleicht:
Dies wird nicht übernommen; aber das, was gut läuft,
wird übernommen. - Das geht natürlich nicht. Hier besteht also die Gefahr der Rosinenpickerei. Auch aus diesem Grund müssen wir Ihren Vorschlag ablehnen.
({14})
Drittens. Die Netze sind nicht per se eine Cashcow.
Einen Goldesel mit Netzen wird es bei einer Übernahme
nicht geben. Es besteht die Möglichkeit - das sagen die
Stadtwerke, die Netze übernommen haben -, eine zusätzliche Säule aufzubauen. Aber das ist keine Garantie
für Gewinn. Man braucht definitiv ein gutes Management, man braucht unternehmerische Abwägung, und
man muss vor allen Dingen mit einem großen Investitionsbedarf rechnen. Damit, dass man einfach nur sagt:
„Ich übernehme ein Netz, damit ist es gut, und ich mache einen großen Gewinn“, ist es nicht getan. Es besteht
das Risiko eines großen Investitionsbedarfs, eines Investitionsbedarfs, der in die Millionen geht. Deswegen muss
hier genau abgewogen werden.
({15})
Außerdem muss man die Versorgungssicherheit gewährleisten; auch das ist nicht ganz einfach. Man muss
völlig neue Strukturen, Servicebereiche und Abteilungen
aufbauen und Mitarbeiter einstellen. Man hat ganz andere Fixkosten und Lohnkosten. All das muss abgewogen werden. Damit, dass man einfach nur sagt: „Ich
übernehme ein Netz“, ist es nicht getan.
Auch ein Scheitern ist möglich. Wenn ein Stadtwerk
scheitert, dann haben die Verluste Auswirkungen auf die
anderen Aufgaben der Verwaltung, nämlich auf die Aufwendungen für Kitas, Schulen, Vereine, Musikschulen,
Infrastruktur usw. Das alles muss beachtet werden.
Mein Fazit im Hinblick auf Ihren Antrag lautet: Stadtwerke sind natürlich keine karitativen Einrichtungen.
Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Lay?
Bitte schön.
Verehrter Herr Kollege Koeppen, ich möchte Sie erstens fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass
ich nicht die Ansicht vertreten habe, dass sich alle Kommunen zwingend um eine Neuvergabe bemühen müssen.
Zweitens. Sind Sie, wie ich, der Auffassung, dass die
Kommunen, wenn sie es wollen - in der Stadt TitiseeNeustadt beispielsweise ist man parteiübergreifend der
Auffassung, dass die Netze in kommunale Hand überführt werden sollten -, wenigstens nicht durch eine ungeklärte Rechtslage auf Bundesebene behindert werden
sollten? Das Stichwort „Energiewirtschaftsgesetz“ haben Sie genannt, den Leitfaden der beiden Bundesbehörden habe ich erwähnt. Durch diese Regelungen wird eine
rechtssichere Übernahme offenbar behindert. Sonst
würde es nicht so viele Urteile geben, die zur Folge haben, dass eine Rekommunalisierung rückabgewickelt
werden muss. Insofern frage ich mich, ehrlich gesagt, ob
Sie diese Position verstanden haben und ob Sie mir zustimmen, dass schnellstmöglich eine Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz kommen muss.
({0})
Ich habe die Position natürlich verstanden; aber ich
kann ihr nicht zustimmen.
({0})
Ich habe Ihnen doch gesagt: Es gibt viele Stadtwerke,
die Netze übernommen haben. Sie müssen sich einmal
die Mühe machen, zu recherchieren, wie viel Netze
- auch erfolgreich - übernommen wurden. Natürlich
gibt es hier und da Klagen; da müssen Sie schauen, warum geklagt wird. Aber wenn Stadtwerke aus welchen
Gründen auch immer ein Netz nicht übernehmen können
- das wird vielleicht eine Handvoll Stadtwerke betreffen,
vielleicht auch mehr -, dann können Sie doch nicht das
Energiewirtschaftsgesetz, das sonst hervorragend funktioniert und die Übernahme von Netzen erlaubt,
({1})
dafür verantwortlich machen, dass es in dem betreffenden Fall nicht läuft. Das funktioniert so nicht. Deswegen
kann ich Ihre Auffassung nicht teilen.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass es generell eine
Rekommunalisierungswelle geben muss. Warum auch?
Es ist doch nicht so, dass ein privater Netzbetreiber per
se schlechter arbeitet als Stadtwerke - wo steht denn das
geschrieben? Ich habe doch vorhin gesagt, was alles beachtet werden muss. Deswegen muss man alles genau
abwägen und darf eine Rekommunalisierung nur durchführen, nachdem wirklich das gesamte Risiko bewertet
wurde.
Stadtwerke sind auch nicht prinzipiell und per se auch wenn das immer so dargestellt wird; Sie haben ja
aufgezählt, was da alles Tolles entstehen kann - karitative Unternehmen,
({2})
sie sind keine Eier legenden Wollmilchsäue, sie dürfen
auch keinen riesigen Bauchladen vor sich her tragen,
sondern Stadtwerke sind im Prinzip für die Daseinsvorsorge da.
({3})
Wenn ich beobachte, was in den Stadtwerken teilweise
passiert, drängt sich mir der Eindruck auf: Das hat etwas
mit der Daseinsberechtigung zu tun: Viele Leute werden
in die Verwaltung eingestellt; man übernimmt die Müllversorgung, den Rettungsdienst, die Spaßbäder, die Kinos, die Friseurläden, macht Catering. Das ist nicht die
Aufgabe der Stadtwerke!
({4})
- Da kann ich Ihnen sehr viele Stadtwerke benennen,
insbesondere im Bundesland Brandenburg, wo so etwas
immer wieder gemacht wird.
({5})
Das mit einem solchen Bauchladen muss auch nicht immer gutgehen. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich,
dass unter dem Deckmantel der Rekommunalisierung
eine Verstaatlichung der Netze und eine Enteignung der
Netzbetreiber nicht stattfinden darf und auch nicht stattfinden wird; da sind wir davor!
({6})
Damit es nicht zu einem dritten Antrag kommen
muss, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Am 20. März
- entweder Sie fahren selbst hin oder schicken Ihre Referenten - findet in Düsseldorf ein Praxisseminar vom
Behörden Spiegel - also frei jeglicher Lobbyistendiskussion - zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen
statt.
({7})
Da wird unter anderem beraten: Was für rechtliche Bedingungen gibt es? Sind die notwendig?
({8})
Reichen die aus? - Mir wurde gesagt: Das jetzige Gesetz
ist völlig ausreichend.
({9})
Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei diesem Seminar.
({10})
Ihnen allen ein schönes Wochenende.
({11})
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koeppen, ich habe gedacht, am Freitagnachmittag
haben wir hier einen Punkt, wo man vielleicht mal eine
gemeinsame große Linie findet. Den Vortrag von Ihnen,
den ich gerade gehört habe, werde ich allen CDU-Bürgermeistern, die ich kenne, empfehlen,
({0})
dass die mal lesen, was Sie hier erzählen. Das hat erstens
mit der Sache überhaupt nichts zu tun und zweitens auch
nichts mit den Debatten in den Kommunen, wo es um
die Frage geht: Was machen wir, wenn ein Konzessionsvertrag ausläuft? - Da kann ich Ihnen eines sagen: Sie
haben im Jahr 2011 ein Energiewirtschaftsgesetz verabschiedet, in dessen § 46 - darum geht es, das ist der
Punkt an der Stelle - geregelt ist, dass die Kommune das
Wegerecht, das sie besitzt, nutzen kann, indem sie das
Netz selber betreibt oder jemand anders damit beauftragen kann, ein anderes Stadtwerk oder, von mir aus, auch
einen Energiekonzern.
({1})
Das ist verfassungsrechtlich verankert. Uns geht es darum, dass die Kommune selber frei entscheiden kann,
was sie tun will: Will sie ein eigenes Stadtwerk gründen
- was wir als Grüne immer wieder unterstützen würden;
das soll sie tun! - oder wechselt sie den Energiekonzern? - Das geht aber im Moment nicht. Sie haben nämlich 2011 das Gesetz so geändert, so verunklart, dass bei
jedem Fall, wo ein Energiekonzern heute der Netzbetreiber ist und die Kommune sich entscheidet, einen anderen
Netzbetreiber zu beauftragen oder die Netze selber in die
Hand zu nehmen, das Ganze vor Gericht landet. Ich
kenne keinen einzigen Fall in Deutschland - keinen einzigen Fall -, wo das aufgrund Ihrer schwarz-gelben Novelle ohne Gerichtsprozesse gelaufen ist.
({2})
Das führt im Ergebnis dazu, dass es eine totale
Rechtsunsicherheit gibt.
({3})
Dass Sie das selber erkannt haben, kann ich ja Ihrem Koalitionsvertrag entnehmen; denn darin steht ja, dass die
Rechtsunsicherheit beim Übergang der Netze beseitigt
werden soll.
({4})
Also: Gibt es nun ein Problem, oder haben Sie einen Koalitionsvertrag unterschrieben, den Sie überhaupt nicht
verstanden haben?
Ich sage Ihnen ehrlich eines: Wir haben Sie 2011, zusammen mit den Kollegen von den Sozialdemokraten
und den Linken, nach vielen Sachverständigenanhörungen - das war die Debatte um den Atomausstieg und die
Energiegesetze, die dann nachfolgten - darauf hingewiesen: So geht das nicht. - Sie haben keine Regelung dazu
geschaffen: Wie ist der Kaufpreis? Wenn ein Netz übergeht, was muss der zahlen, der das Netz vom anderen
übernimmt? - Das ist völlig unklar.
Sie haben keine Kriterien festgelegt, sondern haben
sich allgemein auf § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes
bezogen. Da stehen widersprüchliche Aussagen dazu,
was ein Energienetz erbringen soll. Das führt zu Rechtsunsicherheit. Am Ende ist an jeder Stelle geklagt worden.
Das ist Ihnen gesagt worden. Das haben Ihnen alle
Sachverständigen gesagt. Das hat Ihnen damals die Opposition gesagt. Das ist in den Protokollen alles nachzulesen. Und es ist genau so eingetreten. Sie können zum
Behörden Spiegel gehen, zu anderen Veranstaltungen
- die gibt es im Dutzend in diesem Land -, und da werden Sie überall die gleiche Antwort bekommen: So, wie
es jetzt ist, ist es völlig untragbar, weil es ein Beschäftigungsprogramm ist für Gerichte, für Berater und für Anwälte. Daran haben manche vielleicht Spaß, weil sie damit Geld verdienen. Aber den Kommunen nutzt es
nichts. Die können nicht frei entscheiden, was sie mit ihrem Netz machen wollen, ob sie die Energieversorgung,
das Netz in die eigene Hand nehmen oder ob sie einen
Dritten beauftragen wollen.
Jetzt habe ich die Hoffnung an die Kollegen der SPD
- wir haben hier in der letzten Wahlperiode sogar gemeinsame Gesetzesinitiativen vorgelegt -, dass an der
Stelle jetzt auch umgesetzt wird, was im Koalitionsvertrag steht. Aber nachdem ich den Vortrag vom Kollegen
Koeppen gehört habe, scheint das ja noch eine größere
Überzeugungsaufgabe zu werden. Wir werden Sie da
nicht aus der Verantwortung entlassen. Auch an der
Stelle müssen Sie liefern, was Sie in der letzten Wahlperiode versprochen haben. Das werden Ihnen auch die
kommunalen Spitzenverbände sagen, die unisono meinen: So, wie es jetzt ist, muss sich das an der Stelle ändern.
Ich sage Ihnen auch noch: Ich glaube, dass die Regelung damals in § 46 nicht nur miese Gesetzgebung war;
es war nicht einfach nur schlecht, es war mit Absicht
schlecht. Denn Sie verfolgten ein ganz bestimmtes Ziel.
Da war der Ausstieg aus der Atomkraft; es gingen den
Energiekonzernen Geschäftsfelder verloren. Da haben
Sie ganz bewusst gesagt: Wir machen ein schlechtes Gesetz, das Rechtsunsicherheit schafft, weil das nämlich
dazu führt, dass dann, wenn Gemeinderäte, Bürgermeister sagen: „Wir wollen einen anderen Netzbetreiber, wir
wollen weg von dem Energiekonzern, der das Netz heute
betreibt“, sie sich vor Ort rechtfertigen müssen, ob sie
jahrelange Gerichtsauseinandersetzungen eingehen wollen, ob sie sich mit der Rechtsabteilung eines Konzerns
auseinandersetzen wollen. Viele tun das nicht - das gilt
gerade für kleine Gemeinden im ländlichen Raum; eben
wurden hier auch Namen genannt; ich könnte da Dutzende Beispiele aus Nordrhein-Westfalen aufzählen -,
weil sie das einfach nicht verantworten können. Sie können diese Auseinandersetzung nicht auf sich nehmen.
Ich sage Ihnen: Sie haben das mit voller Absicht gemacht. Nachdem ich Ihre Rede heute gehört habe, kann
ich daraus nur den Schluss ziehen: Sie wollen das genau
so weitertreiben. Sie wollen eben nicht zulassen, dass
eine Kommune frei über ihr Strom- und Gasnetz entscheiden kann. Sie wollen es bei der Rechtsunsicherheit
belassen, damit das Netz am Ende bei einem der von Ihnen offensichtlich immer noch geliebten Energiekonzerne bleibt und nicht die Kommune die Handlungsmöglichkeiten hat. Da haben wir einen völlig anderen
Ansatz.
({5})
Wir wollen, dass die Kommunen frei entscheiden können, wie sie ihre Netze betreiben wollen, ob sie es selber
machen oder ob sie ein anderes Stadtwerk damit beauftragen oder ob sie sich am Ende für den Verbleib bei einem Energiekonzern entscheiden. Das sollen die dann
selber wissen. Aber dazu muss das Energiewirtschaftsgesetz in § 46 geändert werden.
Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Wenn Sie den Antrag der Linken ablehnen, werden
wir in nächster Zeit noch einmal eine konkrete Gesetzesinitiative im Rahmen einer EEG-Novelle einbringen.
({0})
Dann haben Sie die Debatte wieder. Das wird Ihnen
nicht verloren gehen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Der Kollege Johann Saathoff hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von den Linken,
ich freue mich, dass wir heute darüber sprechen, wie wir
die Kommunen bei der Vergabe von Netzkonzessionen
unterstützen können. Bevor ich Bundestagsabgeordneter wurde, war ich nämlich nicht nur Bürgermeister einer
Gemeinde in Ostfriesland, sondern auch Geschäftsführer
einer Gesellschaft, die die Energienetze rekommunalisieren sollte, als der Konzessionsvertrag nach zwölf Jahren auslief. Deshalb kann ich Ihnen sagen: Die Entscheidung für die Übernahme der Energienetze darf man sich
auf keinen Fall leicht machen.
Die Sympathie der Räte für die Rekommunalisierung
der Energienetze wächst. Mit der Übernahme des Netzbetriebes durch Kommunen verbinden sich viele Hoffnungen - manchmal sogar die letzte Hoffnung. Mit Ihrem Antrag springen Sie genau auf dieses Pferd.
Man darf eine solch weitreichende Entscheidung aber
keinesfalls übereilt treffen.
({0})
Im schlimmsten Fall kommen auf die Kommune finanzielle Lasten zu, die sie jahrelang handlungsunfähig machen.
Aus meinen Erfahrungen kann ich berichten, dass ein
Ausschreibungsverfahren auch Vorteile haben kann: Die
Gemeinde muss sich erst einmal ausführlich mit dem
Netz beschäftigen
({1})
und entsprechende Netzdaten erheben. Erst dann erfährt
die Gemeinde, wie viele Meter Leitung auf einen Abnehmer kommen, welche Kosten für den Netzbetrieb
und die Instandhaltung entstehen,
({2})
und natürlich auch, was bei welchem Risiko verdient
werden kann.
Um die Position der Kommune zu stärken, wollen wir
in der Koalition dafür sorgen, dass die Altkonzessionäre
ihrer Pflicht zur Datenübermittlung an die Gemeinden
auch nachkommen.
({3})
Durch mehr Transparenz fällt es den Kommunen leichter, in den Verhandlungen mit dem Netzbetreiber ein für
sie positives Ergebnis zu erzielen, und das ist unser Ziel.
({4})
In diesem Fall gibt es auch kein Schwarz-Weiß. Sie
stellen es in Ihrem Antrag so dar, als würde immer ein
großer Energiekonzern - ein Privater, wie Sie ihn nennen - gegen die kleine Gemeinde stehen. Tatsächlich
gibt es aber eine ganze Reihe von Kooperationsmöglichkeiten, durch die die Gemeinde Teil einer Netzbetriebsgesellschaft wird, ihre Ziele verfolgen und zusätzlich einen größeren finanziellen Nutzen aus dem Netzbetrieb
ziehen kann als vorher.
Das Geschäftsmodell der Rekommunalisierung besteht schließlich einzig und allein aus der Zinstransfor7968
mation. Es gibt für von der Bundesnetzagentur akzeptierte Investitionen im Netz 9,05 Prozent Verzinsung.
Geld auf dem Kapitalmarkt bekommt man bekanntlich
wesentlich günstiger. Außerdem können die kommunalen Belange auch heute schon in den Ausschreibungen
berücksichtigt werden. Die vielen neuen Stadtwerke haben sich in den letzten Jahren ja trotz der aktuellen
Rechtslage gegründet.
Bei der Gewichtung von Ausschreibungskriterien
sehe ich noch deutlich mehr Spielraum als bei der Inhouse-Vergabe an Eigenbetriebe. Wie schon mehrfach
gesagt, haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass
wir in diesem Bereich etwas tun werden.
Beim Bewertungsverfahren sehe ich auch einen dringenden Handlungsbedarf - gerade im Fall einer Rekommunalisierung. Egal ob die Kommune einen viel zu hohen Betrag an den Altkonzessionär zahlen muss oder ob
dieser sie wegen eines vermeintlich viel zu niedrigen Betrages verklagt: Beide Fälle bedeuten für die Städte und
Gemeinden ein enormes finanzielles Risiko, und von
diesem Damoklesschwert wollen wir sie befreien.
({5})
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich ganz bewusst sind, was Ihr Antrag in der Praxis bedeuten kann.
Ich will hier einmal aus meinen Erfahrungen berichten:
Die Rekommunalisierung zu erleichtern, kann nämlich
auch bedeuten, dass man die Privatisierung der Netze erleichtert.
Um die Netze übernehmen zu können, benötigen die
allermeisten Kommunen Partner, und zwar auf zwei
Ebenen: Zum einen macht es Sinn, Kommunalverbünde
zu gründen, um eine gewisse Mindestgröße zu haben,
damit man Marktmacht hat und bei der Auftragsvergabe
angemessen auftreten kann. Zum anderen benötigen die
Kommunen aber auch ausreichend Eigenkapital für den
Kauf und vor allen Dingen für die Finanzierung der
Netze.
({6})
Das besorgen sich die in der Regel klammen Kommunen, indem sie sogenannte strategische Partner mit in die
Netzgesellschaft aufnehmen, und das ist natürlich ein
Partner aus der Privatwirtschaft.
Kollege Saathoff, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Krischer?
Aber selbstverständlich, Frau Präsidentin.
({0})
Herr Kollege Saathoff, ich verstehe, ehrlich gesagt,
Ihren Vortrag nicht ganz.
({0})
Das kann ich nachvollziehen.
Sie reden hier darüber, was der Rat einer Gemeinde,
einer Stadt diskutieren muss, wenn der Konzessionsvertrag ausläuft. Dieser wird dann entweder verlängert, oder
er wählt einen neuen Konzessionsnehmer. Dabei muss er
sich all diese Fragen stellen: Habe ich das technische
Know-how? Kann ich das selber machen? Habe ich das
Kapital? Will ich das überhaupt? Gehe ich das Risiko
ein? - Das alles ist richtig.
Das ist hier aber gar nicht unser Punkt; darum geht es
hier gar nicht. Es geht allein um die Frage: Wollen Sie
den Kommunen die Möglichkeit eröffnen, wie es eigentlich im Energiewirtschaftsgesetz angelegt und verankert
ist, selbst frei zu entscheiden, indem Sie die rechtlichen
Hürden und die Rechtsunklarheit, die 2011 durch die
letzte große EnWG-Novelle hervorgerufen wurden und
Übertragungen unmöglich machen, beseitigen, oder wollen Sie im Grunde genommen alles so lassen, wie es ist?
Herr Kollege Krischer, als erste Nachfrage zu einer
meiner Reden hätte ich mir schon eine etwas intelligentere Frage gewünscht.
({0})
Ich sage Ihnen auch, warum. Ich habe deutlich gemacht,
dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen wir Handlungsbedarf sehen, zum Beispiel bei der Frage der Bewertung der Netze: Nach welchen Verfahren bewerten
wir die Netze? Wie müssen die Preise ermittelt werden?
Das können Sie aus meiner Sicht durchaus bemängeln
und sagen: Da besteht für die Kommunen eine Rechtsunsicherheit. Da muss Abhilfe geschaffen werden. - Das
habe ich gerade vorgetragen.
Als Sie mich mit Ihrer Frage unterbrochen haben,
ging es darum: Was passiert eigentlich, wenn man nicht
ausreichend über das, was man vorhat, nachdenkt und
die Rahmenbedingungen nicht ausreichend berücksichtigt?
({1})
Ein Beispiel aus der Praxis möchte ich Ihnen gerne mitgeben, damit Sie sehen, dass es nicht automatisch richtig
ist, Netze zu privatisieren.
({2})
Das kann durchaus richtig sein, aber es muss nicht automatisch richtig sein; das sage ich Ihnen noch einmal in
aller Deutlichkeit.
Wir von der SPD-Fraktion sind natürlich dafür, dass
die Kommunen bei der Beantwortung der Frage: „Wollen wir die Netze selber betreiben, oder soll das eine
Netzgesellschaft machen?“ freier sind als bisher.
({3})
Die noch bestehenden Beschränkungen wollen wir aufheben. Ich habe Ihnen von dem Bewertungsergebnis berichtet.
({4})
Aber auf der anderen Seite muss diese Entscheidung gut
abgewogen werden, man muss schon ganz genau nachdenken. Von daher ist es richtig, Zeit zu haben, sich mit
dem bisherigen Energieversorger auseinanderzusetzen
und sich über die Übertragung Gedanken zu machen.
({5})
Jetzt berichte ich über meine Erfahrungen, warum Rekommunalisierung - Herr Krischer, es wäre schön, wenn
Sie dann nicht auf Ihr Handy guckten - auch eine Privatisierung bedeuten kann.
({6})
Um die Netze übernehmen zu können, benötigen die allermeisten Kommunen auf zwei Ebenen Partner. Zum einen sind das die Kommunalverbünde; das habe ich gerade gesagt. Zum anderen brauchen die Kommunen für
die Finanzierung der Netze Eigenkapital. Das machen
sie in dem Fall so, dass sie sich einen strategischen Partner besorgen. Das heißt, sie suchen sich einen Partner
aus der Privatwirtschaft.
Dieser Partner will in der Regel um die 50 Prozent haben. Manche sagen: 49 Prozent reichen mir. - Es gibt
aber auch welche, die sagen: Es ist mir wichtig, 51 Prozent zu haben. - Das heißt, dieser Partner aus der Privatwirtschaft liefert das Eigenkapital und hat damit die Sicherheit, dass 50 Prozent dessen, was am Netz verdient
werden kann, in die private Hand geht.
Im Fall Ostfriesland sah die Situation so aus, dass der
Altkonzessionär ein Unternehmen im Besitz der Landkreise war. Durch die Rekommunalisierung wären die
Netze auch in die Hände eines Privatunternehmens gelangt, wären also zu 50 Prozent in den Händen einer
Kommune, aber eben auch zu 50 Prozent in den Händen
eines Privatunternehmens. Damit liegt eher eine Privatisierung als eine Kommunalisierung vor. Was das für Arbeitsplätze usw. bedeutet hätte, brauche ich hier nicht
vorzustellen. Es hat gutgetan, sich die Angelegenheit im
Verfahren mehr als einmal durch den Kopf gehen zu lassen und mit dem privaten Versorger eine Lösung zu finden, damit das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet
wird.
„Sacht loopen kummt van sülmst“ bedeutet, dass man
mit einiger Erfahrung eher gründlicher als zügiger wird.
In diesem Fall ist das auch gut so. Daher wollen wir den
Kommunen durch die Vergaberegeln Gelegenheit geben,
sich ausreichend Gedanken vor der endgültigen Entscheidung zu machen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Karl Holmeier.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke soll die Übernahme der Energienetze durch Stadtwerke erleichtert
werden. Wieder einmal suggeriert die Linke den Menschen, dass sie der Bundesregierung die politischen Themen diktiert. Genau das Gegenteil ist der Fall.
({0})
Wir bestimmen den Weg, und Sie laufen uns hinterher.
({1})
Das Thema der Rekommunalisierung beschäftigt uns
schon seit vielen Jahren. Es wurde bereits gesagt, dass es
absehbar ist, dass in der nächsten Zeit viele Netzkonzessionen auslaufen, die vor 20 Jahren vergeben wurden.
Wir haben das Thema daher in unserem Koalitionsvertrag aufgegriffen. Es heißt dort - das wurde schon einmal angesprochen -:
Wir werden das Bewertungsverfahren bei Neuvergabe ({2}) der Verteilernetze eindeutig und rechtssicher regeln sowie
die Rechtssicherheit im Netzübergang verbessern.
({3})
So steht es in unserem Koalitionsvertrag. Aus diesem
Grund arbeitet die Bundesregierung aktuell an einem
entsprechenden Gesetzentwurf zur Novellierung des
Energiewirtschaftsgesetzes.
Sie fordern in Ihrem Antrag, die Energienetze wieder
in die Hände der Kommunen zu geben, Stichwort
„Rekommunalisierung“. Als langjähriger Bürgermeister
kann ich Ihnen umfassend über die Stärken der Kommunen berichten. Die Kommunen nutzen nämlich die Mög7970
lichkeiten, die sich ihnen bieten. Ich habe zum Beispiel
in meiner Gemeinde ein eigenes kommunales Breitbandnetz aufgebaut. Das war eine richtige Entscheidung.
Sehr verehrte Damen und Herren, ich traue unseren
Kommunen sehr viel zu und kann jede Kommune nur
beglückwünschen, wenn sie den Wettbewerb mit anderen Marktteilnehmern sucht und sich dem auch stellt.
Kommunen übernehmen zum Teil auch eine tragende
Rolle in der Energieerzeugung. In meiner Heimat betreiben viele Kommunen Hackschnitzelkraftwerke und Biomassekraftwerke, alle mit großem Erfolg. Es kann daher
für alle Beteiligten nur von Vorteil sein, wenn sich Kommunen zum Beispiel auf der Ebene von Zweckverbänden zusammenschließen und über das Thema diskutieren
und wenn Möglichkeiten geschaffen werden, selbst ein
Stromnetz zu betreiben.
({4})
Aus meiner Sicht machen energiewirtschaftliche Tätigkeiten von Kommunen aber nur dann Sinn, wenn sie
tatsächlich geeignet sind, Marktstrukturen zu verbessern.
Das muss geprüft werden. Eine Rekommunalisierung
um jeden Preis darf es nicht geben. Rekommunalisierung darf keine Flucht in öffentlich-rechtliche Rechtsformen sein, um die Kartellaufsicht zu unterlaufen und von
den Bürgern höhere Gebühren einzufordern.
Eine Kommune muss wirtschaftlich arbeiten. Daher
kommt eine Konzessionsübernahme für mich nur in Betracht, wenn sie tatsächlich wirtschaftlich ist und nicht
zulasten der Effizienz geht. Eine Zersplitterung der
Netze muss verhindert werden. Je kleinteiliger die Netze
sind, desto höher ist der Regulierungsaufwand. Ein hoher Regulierungsaufwand birgt die Gefahr von Kostensteigerungen. Diese werden am Ende beim Endverbraucher abgeladen. Auch dazu darf es nicht kommen.
Es gibt also eine Menge zu beachten, wenn wir die
Rahmenbedingungen gesetzgeberisch neu auf den Weg
bringen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns die Bundesregierung bald einen ausgewogenen Regelungsentwurf vorlegen wird.
Was ich ablehne, ist die von den Linken geforderte Inhouse-Vergabe der Netze an kommunale Unternehmen.
({5})
Die Übernahme eines bisher privatwirtschaftlich betriebenen Energienetzes durch die Kommune selbst würde
erhebliche europarechtliche Probleme aufwerfen. Sie
könnte der EU-Kommission den Anlass bieten, die geltende sogenannte De-minimis-Regelung in der EU-Energiebinnenmarktrichtlinie grundsätzlich infrage zu stellen.
Meine Damen und Herren, die De-minimis-Regelung
ist vor Jahren auf deutschen Wunsch in die EU-Energiebinnenmarktrichtlinie aufgenommen worden. Sie ist für
die Kommunen, die Stadtwerke haben, von ganz großer
Bedeutung. Durch die Sonderregelung werden die überwiegend kleineren und mittleren Stadtwerke im Gegensatz zu den großen Energieversorgungsunternehmen von
einer Reihe aufwendiger Pflichten, zum Beispiel der
Gründung einer separaten Netzgesellschaft, befreit.
Es muss also sehr wohl abgewogen werden, welchen
Weg wir in dieser Sache einschlagen wollen. Ich freue
mich daher schon jetzt auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung und auf die inhaltliche Diskussion im
Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Florian Post
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich hätte nie erwartet, dass am Freitagnachmittag zu diesem Punkt so eine doch aufgeheizte
Debatte stattfindet.
({0})
Aber es geht um ein wichtiges Thema. Denn das sonst
vielleicht langweilig erscheinende Thema Konzessionsvergabe rückt in der ganzen Energiewendedebatte und
auch in der Diskussion um die Rekommunalisierung immer mehr in den Blickpunkt.
Seit 2007 haben über 80 Kommunen eigene Stadtwerke neu gegründet und 200 Gemeinden selbst Konzessionen für Stromnetze übernommen. Dazu zählen Großstädte wie Stuttgart, Dresden und Hamburg, aber auch
kleinere Kommunen wie Putzbrunn in Bayern mit 6 300
Einwohnern. Allein in Bayern laufen bis 2017 mehr als
200 Konzessionsverträge aus. Wir sagen deutlich, dass
Kommunen ebenso für eine preiswerte, sichere und effiziente Stromversorgung sorgen müssen wie ein privater
Mitbewerber.
Der Kollege Holmeier hat schon aus dem Koalitionsvertrag zitiert. Ich hoffe, dass dieser Punkt im Koalitionsvertrag nach wie vor Gültigkeit hat. Da steht eindeutig, dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen der
Netzübergabe konkretisieren, damit es keine Rechtsunsicherheit für die Kommunen gibt. Insofern kommen wir
Ihrer Forderung, Frau Kollegin Lay, nach. Sie haben ja
nichts anderes gefordert, als hier Rechtssicherheit herzustellen.
({1})
Der Koalitionsvertrag - zum Nachlesen: Seite 59 -, ist
da sehr eindeutig.
({2})
Wir werden noch in diesem Jahr das Gesetzesvorhaben
auf den Weg bringen
({3})
und es mit Ihnen zusammen, Herr Krischer, verabschieden; ich freue mich schon auf die Diskussionen im Wirtschaftsausschuss. Dann werden wir auch klarstellen,
dass die kommunalen Betriebe bzw. die Kommunen
schon jetzt Vorteile bei der Vergabe von Konzessionen
haben, beispielsweise durch die Gewichtung der in § 1
des Energiewirtschaftsgesetzes definierten Kriterien der
Versorgung, nämlich möglichst sicher, preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient und umweltverträglich.
Es kann nicht sein - auch das wurde schon richtig bemerkt -, dass private Konkurrenten oder auch Kommunen mit zu hoch angesetzten Kaufpreisen, überzogenen
Entflechtungskosten und damit verbundenen jahrelangen
Rechtsstreitigkeiten solche Verfahren und Prozesse in
die Länge ziehen. Diesem ungerechten Abschreckungsverhalten werden wir mit rechtlichen Klarstellungen und
Informationspflichten entgegentreten. Es ist für uns
wichtig, dass ein gesunder, offener und diskriminierungsfreier Wettbewerb zwischen Kommunen und privaten Betreibern herrscht und dass die Bürgerinnen und
Bürger einen optimalen Netzbetrieb in Städten und Gemeinden erhalten.
Einen Blankoscheck für Kommunen, der darin bestünde, einem kommunalen Unternehmen grundsätzlich
den Vorrang zu geben, lehne ich allerdings ab. Wenn ein
kommunales Unternehmen in das Bieterverfahren eintritt, muss das kommunale Unternehmen selbstverständlich mindestens genauso gut wie der private Anbieter
sein, um den Zuschlag erhalten zu können. Denn der
kommunale Betrieb ist kein Selbstzweck, sondern muss
immer dem Wohle der Bürger dienen und sich an objektiven Kriterien messen lassen.
Wir wollen einen gesunden, offenen und diskriminierungsfreien Wettbewerb herstellen, der keine Gräben
zwischen öffentlicher und privater Wirtschaft schafft.
Durch Wettbewerb und oft auch durch Kooperationen
können wir die Effizienzpotenziale der freien Wirtschaft
nutzen und sie mit gemeinwohlorientierten kommunalen
Zielen wie Verbraucher- und Umweltschutz verbinden.
Eine Stadt oder Gemeinde, für die eine diskriminierungsfreie Ausschreibung mit selbstgewählter Gewichtung der Versorgungsziele und kommunalem Eigeninteresse als Nebenziel allerdings eine zu hohe Hürde für den
neu zu gründenden Netzbetreiber darstellt, ist dann vielleicht nicht unbedingt der beste Akteur, um das Netz zu
betreiben. Das muss man natürlich einsehen.
Die energiepolitische Kernfrage nach dem richtigen
Betreiber eines Stromnetzes hat viele verschiedene richtige Antworten. Für die optimale Lösung ist es wichtig,
dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen, wie im
Koalitionsvertrag eindeutig festgelegt, konkretisieren
und den Kommunen hier Rechtssicherheit geben.
Ich bin mir sicher, dass wir hier in der Koalition, aber
auch in der AG Wirtschaft und Energie und im Ausschuss gut zusammenarbeiten werden; denn es ist ein
wichtiges Thema, das sich nicht für Parteiengezänk eignet.
({4})
Ich muss zugeben - das fällt mir schwer -: Der Kollege
Krischer hat schon viel Richtiges zu diesem Thema gesagt.
({5})
Das möchte ich ausdrücklich loben.
({6})
Ich bin mir sicher, dass wir hier eine intelligente und zukunftsfähige Lösung im Sinne der kommunalen Daseinsvorsorge finden.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3745 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. Februar 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.