Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/29/2015

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Tom Koenigs nachträglich zu seinem 71. Geburtstag gratulieren und im Namen des Hauses alles Gute wünschen. ({0}) Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die CDU/ CSU-Fraktion schlägt vor, für den verstorbenen Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff den Kollegen Dr. Franz Josef Jung als persönliches stellvertretendes Mitglied als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu berufen. Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. Das sieht ganz so aus. Dann ist der Kollege Franz Josef Jung hiermit als persönliches stellvertretendes Mitglied gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zum EZB-Anleihekaufprogramm ({1}) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({2}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesprogramm Modellvorhaben Regionale Auslastung von Müllverbrennungsanlagen unter Integration von Klärschlamm auflegen Drucksache 18/3048 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({4}) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({5}) Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht Drucksache 18/3864 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Tom Koenigs, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ja zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen, Raif Badawi freilassen Drucksache 18/3835 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Raif Badawi sofort freilassen - Völkerrechtswidrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffen Drucksache 18/3832 ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der kostenlosen Abgabe an junge Frauen ({6}) Drucksache 18/3834 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({7}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, Doris Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Gerechtigkeit bei der Entschädigung von Einsatzunfällen Drucksachen 18/2874, 18/3126 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 7 - da geht es um die Stärkung der Provenienzforschung - und 19 b - da geht es um die Änderung des Personalausweisgesetzes - werden von der Tagesordnung abgesetzt. Anstelle des Tagesordnungspunktes 7 sollen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/3835 mit dem Titel „Ja zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter - Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen, Raif Badawi freilassen“ und der Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3832 mit dem Titel „Raif Badawi sofort freilassen - Völkerrechtswidrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffen“ aufgerufen werden. Die Debattenzeit dazu soll 38 Minuten betragen. Ich mache schließlich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam. Der am 15. Januar 2015 ({9}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit ({10}) und dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({11}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({12}) Drucksache 18/3699 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ich frage Sie, ob Sie mit den vorgeschlagenen Verän- derungen und Ergänzungen einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Energie Investieren in Deutschlands und Europas Zu- kunft b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2015 der Bundesregierung Drucksache 18/3840 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({14}) Sportausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2014/2015 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Drucksache 18/3265 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({15}) Sportausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel. ({16})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Wirtschaft ist in guter Verfassung. Trotz eines schwierigen internationalen Umfelds rechnen wir nach zwei schwächeren Jahren - 0,4 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2012 und 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2013 nun zum zweiten Mal in Folge mit einem Wachstum von 1,5 Prozent. Besonders wichtig ist, dass diese wirtschaftliche Entwicklung bei den Menschen in Deutschland ankommt. Nach 370 000 zusätzlich Beschäftigten im letzten Jahr erwarten wir im Jahr 2015 nochmals einen Beschäftigungsaufbau um 170 000. Wir erreichen damit einen erneuten Rekord mit 42,8 Millionen Beschäftigten. Die Zahl der Arbeitslosen lag im Dezember des letzten Jahres auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung, und sie wird auch in diesem Jahr weiter leicht abnehmen. Die längerfristigen Gründe für diese gute wirtschaftliche Entwicklung sind erstens hochflexible und innovative Unternehmen, vor allem im deutschen Mittelstand, zweitens hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, drittens der Erhalt von Industrie und verarbeitendem Gewerbe als wirtschaftliche Basis unseres Landes. Während andere Länder in Europa über Reindustrialisierung diskutieren müssen, ist das Gott sei Dank in Deutschland nicht nötig, meine Damen und Herren. ({0}) Zu den Erfolgsfaktoren gehören sicher auch - viertens - die Verbindung von Arbeitsmarkt- und Sozialreformen mit Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung im Zuge der Reformpolitik der Agenda 2010 und fünftens natürlich auch eine außerordentlich solide Finanz- und Haushaltspolitik, die uns ja schon im letzten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt beschert hat. ({1}) Aktuell wird das wirtschaftliche Wachstum getragen von einer starken Binnenkonjunktur und Binnennachfrage. Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte nehmen endlich wieder spürbar zu; sie werden um 2,7 Prozent steigen. Dazu leisten die guten Tarifabschlüsse, aber auch der Mindestlohn und die Rentenreform des letzten Jahres ihre Beiträge. Das zeigt: Die Teilhabe möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger am Wirtschaftswachstum durch eine gute Einkommens- und Beschäftigungsentwicklung ist die zentrale Bedingung für Wohlstand, aber auch für den kulturellen und politischen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. ({2}) Daran werden wir weiter arbeiten müssen. Wir brauchen beides, wirtschaftliches Wachstum, Innovationsbereitschaft, Veränderungsbereitschaft, aber eben auch, dass möglichst alle daran teilhaben. Das muss fühlbar werden; denn noch immer müssen viel zu viele Menschen in Deutschland mit zu geringen Einkommen klarkommen. Vor allem Familien und Alleinerziehende mit Kindern sind davon betroffen, aber zunehmend auch Rentnerinnen und Rentner. So richtig und notwendig viele der Sozialreformen der Agenda 2010 waren und sosehr sie heute Grundlage für die gute wirtschaftliche Entwicklung sind: Die Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland ist eindeutig zu weit gegangen. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn Menschen in qualifizierten Berufen mit 1 200 Euro brutto auskommen sollen, wenn Rentnerinnen und Rentner nach 40 Arbeitsjahren gerade mal das Rentenniveau der Sozialhilfe erreichen und wenn dann noch in Großstädten die Mietpreise so explodieren, dass mit Normaleinkommen kaum noch eine Wohnung zu bezahlen ist, dann spaltet das die Gesellschaft und bringt manchmal auch Menschen gegeneinander in Stellung. ({4}) Deshalb ist es richtig, Tarifverträge zu stärken. Deshalb ist es richtig, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach 45 Arbeitsjahren einen fairen Zugang zur Rente ohne Rentenkürzung zu ermöglichen. ({5}) - Wenn Sie ihnen die Rente nicht kürzen, dann hebt das das Rentenniveau. Das ist eine einfache Rechnung. ({6}) Deshalb ist es richtig, sich um Mietpreisbremsen und den Bau bezahlbarer und übrigens auch alters- und pflegegerechter Wohnungen zu kümmern. Und natürlich ist es deshalb auch richtig gewesen, den Mindestlohn einzuführen. ({7}) Ich glaube, in diesem Haus gibt es niemanden, der etwas gegen die Einführung des Mindestlohns hat. ({8}) - Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen, die dem zugestimmt haben, das sozusagen aufgrund öffentlicher Erpressung getan haben, sondern sie werden davon überzeugt gewesen sein. ({9}) Beim einen dauert es länger, beim anderen geht es schneller. ({10}) Wir haben jetzt doch keine Debatte über den Mindestlohn. ({11}) Wir haben eine Diskussion über die Frage, ob der mit der Kontrolle des Mindestlohns verbundene Aufwand eigentlich zwingend erforderlich ist, damit der Mindest7754 lohn auch durchgesetzt wird - es nützt ja nichts, ihn ins Gesetz zu schreiben und dann seine Einhaltung nicht zu kontrollieren -, oder ob an einigen Stellen der Kontrollaufwand zu weit geht. Ich finde, das kann man doch entspannt miteinander bereden; das muss doch möglich sein. ({12}) Niemand wird etwas am Mindestlohn ändern, niemand wird die Kontrolldichte so reduzieren, dass er in Wahrheit nicht stattfindet. ({13}) Wir sollten aber jetzt einmal ein paar Wochen und Monate Erfahrungen sammeln, und dann werten wir aus, ob es notwendig ist, an dem Bürokratieaufwand etwas zu ändern, oder ob es nicht notwendig ist. ({14}) Das, finde ich, ist ein entspannter Umgang mit dem Thema. ({15}) Meine Damen und Herren, das alles ist nicht nur Sozialpolitik, sondern das ist auch Wirtschaftspolitik. Nur in einem Land, in dem sich Arbeit lohnt und Menschen an den Möglichkeiten der Gesellschaft teilhaben können, gibt es auf Dauer Leistungsbereitschaft, Anstrengung und auch Risikobereitschaft. ({16}) Das ist der Grund, warum Ludwig Erhard sein Modell der sozialen Marktwirtschaft mit dem Aufruf „Wohlstand für alle“ verbunden hat. Das ist auch heute der richtige Aufruf in unserer Gesellschaft und in unserer Wirtschaft. ({17}) Neben der guten Binnenkonjunktur wird unser Wirtschaftswachstum allerdings auch ganz wesentlich von zwei externen Faktoren getragen: von niedrigen Ölpreisen und einem schwachen Wechselkurs des Euro, der vor allem der mittelständischen Exportwirtschaft zugutekommt. Das wiederum zeigt aber auch die Verwundbarkeit unseres Wirtschaftswachstums. Gerade im letzten Jahr haben wir erlebt, dass gute Wachstumsprognosen schnell das Papier nicht mehr wert sind, wenn sich die internationale Lage auf einmal verschlechtert. Natürlich bleibt diese unsichere Lage zum Beispiel aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts oder der Situation im Nordirak ein Unsicherheitsfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land. Hinzu kommt die schwächere Entwicklung in für den Export unseres Landes wichtigen Ländern und Regionen wie China und Lateinamerika. Alle relativ guten Prognosen dürfen uns also nicht davon abhalten, die Aufgaben schnellstens anzugehen, die wir nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Europa dringend angehen müssen, um unsere eigene Stärke zu verbessern. Denn nur wenige führende Wirtschaftsnationen der Welt stehen vor so grundlegenden Herausforderungen wie Deutschland. Ich möchte beispielhaft nur die wichtigsten Herausforderungen nennen: Die demografische Entwicklung - das Arbeitskräftepotenzial unseres Landes nimmt in den kommenden zehn Jahren um bis zu 6,7 Millionen Menschen ab. Kein Industrieland der Erde hat bisher ein solches Experiment vor sich gehabt. Es ist wahrscheinlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre, mit der wir umgehen müssen. Die europäische Integration: Was in den letzten Jahren die deutsche Stärke in Form von Wohlstand und Stabilität ausgemacht hat, nämlich wachsender Wohlstand und wachsende Stabilität in Europa, ist immer noch fragil. Hinzu kommt die enorme Herausforderung durch die Intervention Russlands in der Ukraine. Natürlich hat niemand in Europa und ganz sicher nicht in Deutschland ein Interesse an weiteren und schärferen Sanktionen, und natürlich brauchen Europa und die ganze Welt einen Partner wie Russland für die Lösung globaler Konflikte und für die Bewältigung globaler Herausforderungen. Aber der Weg zu einem neuen Aufbruch in den europäisch-russischen Beziehungen, also zum Beispiel der Weg zu freiem Handel zwischen Lissabon und Wladiwostok, führt eben über Minsk und die Umsetzung der dort vereinbarten Schritte zur Beendigung der bewaffneten Intervention in der Ukraine. ({18}) Deutschland gehört zu den Ländern, die am energischsten für eine Verhandlungslösung eintreten - durch den Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin. Es gibt aber keine Alternative zur Rückkehr zu all dem, was vor rund 40 Jahren in der KSZE-Schlussakte von Helsinki vereinbart wurde und was vermutlich in ganz Europa die größte Leistung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, nämlich die Erklärungen zur Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und zum Gewaltverzicht. ({19}) Aber auch im Inland stehen wir vor großen Herausforderungen. Die Investitionskraft unseres Landes muss steigen; sowohl bei Investitionen in die öffentliche Infrastruktur als auch bei privaten Investitionen in Unternehmen. Deshalb ist es richtig, nachdem die Koalition zusätzliche Verkehrsinvestitionen in Höhe von 5 Milliarden Euro vereinbart hat, jetzt noch einmal - diese Möglichkeit hat der Finanzminister aufgrund der soliden Finanzpolitik - 10 Milliarden Euro zusätzlich zu investieren. Dazu kommt eine Entlastung der Kommunen in dieser Legislaturperiode um rund 10 Milliarden Euro. Das ist deshalb so wichtig, weil mehr als die Hälfte der öffentlichen Investitionen von den Gemeinden getätigt werden. Außerdem wollen wir jetzt im Frühjahr die Ergebnisse der Expertenkommission vorlegen, wie wir priBundesminister Sigmar Gabriel vate Investitionen steigern können, in den privaten Sektor selbst und auch in die öffentliche Infrastruktur. Natürlich ist es auch weiterhin nötig, sich um den Aufbau Ost zu kümmern. Ja, da hat sich vieles verbessert. Aber gerade der Mindestlohn ist für Ostdeutschland wichtig. Das in der Koalition vereinbarte Projekt zu einer Solidarrente übrigens auch; es ist vor allen Dingen für Ostdeutschland und für Frauen von Bedeutung. Wir haben deshalb auch das Zukunftsinnovationsprogramm Mittelstand im Wirtschaftsministerium ausgebaut, durch die wesentliche Förderung in Ostdeutschland geschieht. Das Gleiche gilt auch für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. ({20}) Eines muss auch klar sein: Was immer bei den Verhandlungen über die Fortführung des Solidarpaktes ab 2019 herauskommt - wir werden nicht an einer besonderen Förderung von Ostdeutschland vorbeikommen, meine Damen und Herren. Der Aufbau dort muss weitergehen, aber eben auch in vielen anderen Regionen stärker werden, die heute benachteiligt sind. ({21}) Zu unseren Aufgaben gehört auch, junge Unternehmen in ihrer Wachstumsphase besser zu fördern. Ich bin der Deutschen Börse dankbar für ihre Initiativen. Wir begleiten das durch den Ausbau der Förderinstrumente. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen auch den regulatorischen Rahmen anpassen. Es kann doch nicht sein, dass wir den Einstieg in junge deutsche Unternehmen für Kapitalgeber auf Dauer durch hohe Hürden im Einkommensteuerrecht erschweren und damit international überhaupt nicht wettbewerbsfähig sind. ({22}) Dazu zählt auch der Abbau von Bürokratie. Wir werden in diesem Frühjahr ein Gesetzespaket zum Bürokratieabbau vorlegen. Eine der großen Herausforderungen wird die Digitalisierung unserer Wirtschaft sein. Den digitalen Sektor gibt es schon lange nicht mehr. Die Digitalisierung hat längst alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft erreicht. Sie verändert Qualifikations- und Wertschöpfungsstrukturen, schafft neue Chancen, aber eben auch neue Herausforderungen und Risiken. Deutschland unterstützt die Schaffung eines gemeinsamen digitalen Binnenmarktes in Europa und baut selbst seine digitale Infrastruktur aus. Wir öffnen Deutschland auch weiter digital. Wir sorgen für freies WLAN, freie Routerwahl, wirksame Verankerung der Netzneutralität, investitionsfreundliche Netzregulierung und für einen Ordnungsrahmen für die digitale Ökonomie. Die Neuordnung unserer Energiepolitik gehört auch zu den innerdeutschen Herausforderungen. Wir müssen die Umstellung eines der weltweit führenden Industriestandorte auf eine neue, klimaschonende, nachhaltige, aber eben auch bezahlbare Energiebasis weiter voranbringen. Für den Industriestandort Deutschland ist es elementar, dass sich die Energiekosten im Vergleich zu unseren Wettbewerbern nicht immer weiter verteuern, meine Damen und Herren. ({23}) Nach der Einführung einer Zielsteuerung beim Zubau der Erneuerbaren müssen wir deswegen jetzt die Architektur des Marktes und der Netze an die Energiewende anpassen. Mit unserem Grünbuch haben wir die Diskussion über die Zukunft des Strommarktes eröffnet. Dazu kommen die Entscheidungen über die Zukunft von KWK und Stadtwerken. All das werden wir in diesem Jahr nicht nur voranbringen, sondern auch abschließen müssen. ({24}) Meine Damen und Herren, jede der genannten Veränderungen bringt Herausforderungen an das heutige Modell Deutschland mit sich. Wer ehrlich ist, der weiß, dass sich unser Land ändern muss, um seine Werte zu sichern und weiterhin erfolgreich zu sein. Um selbstbewusst in die Zukunft zu blicken, muss sich Deutschland öffnen und Barrieren abbauen. Wir müssen Deutschland weiter öffnen: einmal nach innen, um mehr Menschen die Erarbeitung von Wohlstand, aber auch die Teilhabe an diesem Wohlstand zu ermöglichen. Das wichtigste Instrument dabei ist Bildung. Viel zu viele junge Menschen in Deutschland wachsen in zweiter und dritter Generation in Stadtteilen auf, in denen sie keine Erfahrung von Aufstieg durch Bildung machen; und das gilt für Deutsche wie für Zuwandererkinder, meine Damen und Herren. ({25}) Deshalb ist es richtig gewesen, dass die Koalition entschieden hat, den Ländern 6 Milliarden Euro mehr für Bildungsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Die sind genau in diesen Stadtteilen am besten aufgehoben. Zur Öffnung nach innen gehört aber auch mehr Gleichberechtigung. Es ist nicht nur ungerecht, immer noch viel zu vielen Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt und zur beruflichen Karriere zu verbauen, wenn sie Kinder haben, sondern es ist auch wirklich ökonomischer Unfug. ({26}) Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen für mehr Gleichberechtigung und Gleichstellung erhöhen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Akzeptanz neuer Erwerbsbiografien, die Integration von Zuwanderern, die Toleranz gegenüber neuen Familienmodellen, religiöser Zugehörigkeit und gleichgeschlechtlichen Ehen sowie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft - all das gehört zur Öffnung nach innen. ({27}) Wir brauchen auch die Bereitschaft, uns mehr nach außen zu öffnen, eine Bereitschaft zu mehr und nicht zu weniger Internationalität. Dazu gehört auch Freihandel, meine Damen und Herren, der natürlich in Deutschland und in Europa weder Standards absenken darf, noch an irgendeiner Stelle das Recht privatisieren darf oder die demokratischen Rechte von Parlamenten und Regierungen einschränken darf. ({28}) Der Verweis auf schlechte Freihandelsabkommen der Vergangenheit darf uns doch nicht daran hindern, bessere für die Zukunft zu machen. ({29}) Wenn wir uns als Europäer von den Entwicklungen abkoppeln, die heute das asiatische oder das pazifische Jahrhundert genannt werden, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung dahin verschiebt, wir uns aber keine Partner suchen, mit denen wir gemeinsam ein Gegengewicht dazu bilden, dann werden wir uns den internationalen Standards, über die andere entscheiden, anpassen müssen, ({30}) statt sie selber jetzt mutig zu gestalten. Darum geht es bei der Debatte. ({31}) Noch einmal: Nicht jedes Freihandelsabkommen ist gut. Es gibt Dinge, die wir nicht machen dürfen und auch nicht machen werden; diese habe ich eben schon genannt. Aber eine Verweigerungshaltung zwingt uns später zur Anpassung. ({32}) Wir sollten die vermutlich letzte Chance nutzen, dass Europa diese Standards im Sinne Europas definiert, statt sich später anderen Standards anpassen zu müssen. ({33}) Zur Öffnung gehört auch, dass sich Deutschland dazu bekennen muss, ein Einwanderungsland zu sein, um seine wirtschaftliche Stärke beizubehalten. ({34}) Dazu gehören klare Regeln, die festlegen, wen wir aufnehmen, weil er Hilfe und Schutz vor Verfolgung und Krieg braucht, um wen wir weltweit werben, weil er bislang nicht bereit ist, zu uns zu kommen, wir ihn oder sie aber brauchen. Übrigens auch Regeln diesbezüglich, wen wir nicht in Deutschland aufnehmen können oder wollen. Manches davon ist bereits geregelt, anderes nicht. Deshalb ist die Debatte über ein modernes Einwanderungsgesetz meines Erachtens außerordentlich sinnvoll. Wir sollten sie mutig und offen führen, meine Damen und Herren. ({35}) Aber Gesetze alleine helfen nicht. Wir müssen in der Praxis ein Einwanderungsland werden. Zur Bildung habe ich schon etwas gesagt. Es muss zum Beispiel aber auch darum gehen, dass wir nicht jedes Jahr erneut um die Finanzierung kämpfen müssen, damit ausreichend Sprachförderkurse vorgehalten werden können. ({36}) Ich bin es, ehrlich gesagt, leid, dass wir diese Debatte immer wieder führen müssen, und bin außerordentlich froh, dass wir die Haushaltsmittel für Integrationskurse 2014 um 40 Millionen Euro auf inzwischen immerhin 244 Millionen Euro aufstocken konnten. Wir müssen und wollen das fortschreiben. Meine Damen und Herren, für nachhaltiges Wachstum in Deutschland ist ein starkes Europa die entscheidende Voraussetzung. Dazu müssen wir dringend die notwendigen Strukturreformen durch eine ambitionierte Wachstumspolitik in Europa ergänzen. Ich begrüße es sehr, dass der Europäische Rat im letzten Dezember die mit bis zu 315 Milliarden Euro ausgestattete europäische Investitionsoffensive von Kommissionspräsident Juncker beschlossen hat. Ich finde es - das sage ich ausdrücklich - richtig, dass die Kommission die Möglichkeiten der Flexibilität im Stabilitätsund Wachstumspakt nutzt und sich dieser Debatte nicht verweigert hat. ({37}) Wir wollen, dass diese Investitionsoffensive ein Erfolg wird. Deshalb werden wir unseren Beitrag zum Gelingen dieser Offensive leisten, indem wir uns über die KfW mit bis zu 8 Milliarden Euro - möglicherweise sogar darüber hinaus - an der Projektfinanzierung beteiligen. Ich bin meinem Kollegen Wolfgang Schäuble außerordentlich dankbar, dass er das mitträgt und im Ecofin-Rat in dieser Woche vertreten hat. Wir haben dank unserer soliden Finanzpolitik die Möglichkeit, uns daran zu beteiligen. Das sollten wir nicht kleinreden. Deshalb sage ich herzlichen Dank an den Kollegen Schäuble für diese Initiative. ({38}) Wir haben vereinbart, dass Deutschland und Frankreich die europäische Investitionsoffensive nach Kräften unterstützen und durch eigene Initiativen und Reformen voranbringen wollen. Ziel darf kein konjunkturelles Strohfeuer sein, sondern Ziel müssen Investitionen in Nachhaltigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents sein, also in digitale Infrastruktur, in Energieeffizienz, in den Energiebinnenmarkt, in Forschung und Entwicklung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen in Griechenland am letzten Sonntag rufen uns allerdings auch in Erinnerung, wie sehr Europa von der KooperationsbeBundesminister Sigmar Gabriel reitschaft seiner Mitgliedstaaten abhängt, und auch, dass wir bei Fragen der wirtschaftlichen Erholung und der wirtschaftlichen Stabilität und den dafür notwendigen Reformschritten nicht vergessen dürfen, dass es nicht nur um ökonomische Lehrmeinungen geht, sondern immer auch um Menschen. Ohne Hoffnung und nur mit äußerem Druck gelingen keine Reformen. Griechenland hat einen beachtlichen Fortschritt bei der Sanierung seines Haushalts und auch beim Wirtschaftswachstum gemacht. Ich finde, man darf jetzt auch einmal sagen, dass die Menschen dort ungeheuer viel ertragen und erduldet haben; auch das zu sagen gehört dazu. ({39}) Ich erinnere mich noch ganz gut, welche Debatte wir bei der Agenda 2010 in unserem Land hatten. Wer ehrlich ist, der muss doch sagen: Gegenüber dem, was Griechenland zu schultern hatte und hat, ist die Agenda 2010 in unserem Land ein laues Sommerlüftchen gewesen. Gerade wir sollten die Bereitschaft zu Reformen in diesem Land und das, was Menschen dort dafür zu ertragen hatten, hochschätzen und das öffentlich zum Ausdruck bringen. ({40}) Ich hoffe sehr, dass es der neuen Regierung in Griechenland gelingt, das System von Korruption, persönlicher Bereicherung und Vorteilsnahme, das sich ungeachtet der Reformprogramme in Griechenland hartnäckig hält, endlich zu zerstören. Das ist dringend notwendig. ({41}) Dieses Land ist viel zu lange die Beute von einigen Familien gewesen, die sich jeder Verantwortung für dieses Land entzogen haben. ({42}) Deswegen sind nicht die Troika und Europa an den Problemen in Griechenland schuld. Das ist eine falsche Interpretation. ({43}) Jedenfalls hoffe ich, dass es gelingt, eine gerechtere Verteilung der Lasten zu erzielen. Es ist immer noch traurige Realität, dass die Vermögensverteilung in Griechenland eine der ungerechtesten in Europa ist. ({44}) Ich finde, wir Deutschen haben auch diesbezüglich eine Erfahrung anzubieten: Der Lastenausgleich dieses Landes nach 1945 war eine Maßnahme, in deren Folge diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch Vermögen hatten, von ihrem Vermögen etwas abgegeben haben, um denen, die alles verloren hatten und als Flüchtlinge in dieses Land kamen, zu helfen, sich in diesem Land zu integrieren. Das ist ein Beispiel, dem auch in Griechenland diejenigen folgen sollten, die über große Vermögen verfügen. ({45}) - Ich würde an Ihrer Stelle nicht so ganz laut dazwischenrufen, wenn es um die griechische Regierung geht; denn, ehrlich gesagt, übertragen auf deutsche Verhältnisse - ich unterstelle Ihnen das nicht; damit das klar ist -, ist die Koalition dort eine Koalition von Linken und AfD. Das ist eine bemerkenswerte Entscheidung. ({46}) Ich würde an Ihrer Stelle nicht darüber lachen; denn das beinhaltet eine klare Botschaft, nämlich die der Rückkehr zum Nationalismus und, gegen Europa zu sein. Sonst kann man nicht mit einer solchen Partei koalieren. ({47}) Ich sage deshalb auch klar: Wir wollen Griechenland in der Euro-Zone halten, nicht, weil es alternativlos ist, sondern, weil es das Richtige ist, um Europas wirtschaftliche und politische Zukunft zu sichern. Gleichzeitig aber erwarten wir, dass die neue griechische Regierung ihren Verpflichtungen nachkommt. ({48}) Natürlich muss jeder Demokrat die demokratische Entscheidung von Wählerinnen und Wählern genauso akzeptieren wie das Recht einer neu gewählten Regierung, ihren Kurs neu zu bestimmen. Allerdings gilt ebenfalls, dass natürlich auch alle anderen Bürgerinnen und Bürger Europas erwarten können, dass Veränderungen in der griechischen Politik nicht zu ihren Lasten vorgenommen werden. Darum geht es. ({49}) Was immer die griechische Regierung an den zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und Griechenland vereinbarten Maßnahmen, Programmen und Reformen ändern will, sie muss die Konsequenzen dieser Änderungen im eigenen Land bewältigen und darf sie nicht auf die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder abwälzen. Darum geht es in der Debatte. ({50}) Denn Europa lebt von Berechenbarkeit und Kooperationsbereitschaft, allerdings auch von gegenseitiger Fairness. Der Jahreswirtschaftsbericht 2015 zeigt: Wir stellen uns den vor uns liegenden Herausforderungen. Richt7758 schnur des Handelns dieser Bundesregierung ist die Öffnung der Gesellschaft auf Grundlage der Idee der sozialen Marktwirtschaft und der Zusammenarbeit aller in unserem Land. Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland von mehr Offenheit profitieren wird. Sie schafft Freiheit, und zwar nicht nur die Freiheit, sich um seine wirtschaftlichen Belange zu kümmern, sondern vor allen Dingen Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens. Das ist die Voraussetzung für Kreativität und Leistungsbereitschaft. Das gehört zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft. Im Übergang zur vierten industriellen Revolution spielen Grenzen des Denkens und Grenzen hinsichtlich der Zugehörigkeit der Länder kaum noch eine Rolle. Aber Kreativität und Mut spielen genauso viel eine Rolle wie in der Vergangenheit. Wir müssen und werden das fördern. Wenn wir an einem Strang ziehen, dann - da bin ich mir sicher - werden wir es schaffen, in Deutschlands und Europas Zukunft zu investieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({51})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, nachdem Sie sich jetzt doch zu einer Aussage verstiegen haben, was die Verhältnisse in Griechenland angeht, mache ich zwei, drei kurze Bemerkungen dazu. Der erste Punkt ist: Was wäre die Alternative gewesen? Die Alternative in Griechenland wären Neuwahlen gewesen. Dann hätten wir im Ergebnis noch instabilere Verhältnisse, die sich mit Sicherheit auf Europa nicht positiv ausgewirkt hätten. ({0}) Der zweite Punkt, der mich sehr ärgert: Es waren Ihre Partnerparteien - Pasok ist eine sozialdemokratische Partei; Nea Dimokratia ist die konservative Partei -, die diesen Saustall in Griechenland verursacht haben ({1}) das haben Sie vorhin selber gesagt -: Korruption, die Reichen werden nicht besteuert. Vielleicht hätten Sie vorher einmal nach Griechenland fahren und denen sagen sollen, dass sie anständige Politik machen müssen. Dann müssten Sie sich hinterher nicht darüber aufregen, dass unsere Partnerorganisation dort das einzig Mögliche macht, nämlich diese Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und dafür zu sorgen, dass tatsächlich die Reichen besteuert werden, ({2}) dass tatsächlich andere Verhältnisse in Griechenland herrschen als die, die Sie kritisiert haben. ({3}) Aber das, meine Damen und Herren, ist nicht unser Thema. Im Zusammenhang mit der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichtes haben Sie heute betont, die deutsche Wirtschaft sei in guter Verfassung, und haben viele Punkte angesprochen, die auch uns freuen, zum Beispiel die Entwicklung von Beschäftigung und Wachstum. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Gabriel, dass Sie aber auch darauf eingegangen sind, was nicht in Ordnung ist. Auf diesen Punkt möchte ich schon hinweisen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wer, bitte, ist denn eigentlich die Wirtschaft? Sind das nur die Zahlen, die wir hier vorgelegt bekommen, oder stecken auch Menschen dahinter? ({4}) Wenn man sich anschaut, wie sich die Entwicklung der Wirtschaft darstellt, dann merkt man: Sie ist äußerst unterschiedlich. Von 2000 bis 2013 ist der Umfang der Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 24 Prozent gestiegen; das ist ein Viertel mehr. Im selben Zeitraum war bei den abhängig Beschäftigten ein reales Minus von 3,1 Prozent zu verzeichnen. Wir haben hier also eine vollkommen unterschiedliche Entwicklung. Die Menschen nehmen nicht mehr gleichermaßen an der wirtschaftlichen Entwicklung teil, sondern ein großer Teil von ihnen ist abgehängt, nämlich diejenigen, die das Ganze erarbeiten: ({5}) durch Schichtarbeit, durch Samstagsarbeit, durch Sonntagsarbeit, oft auch indem sie ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen. Wenn man diese Menschen von der wirtschaftlichen Entwicklung abkoppelt ({6}) und sagt: „Die Wirtschaft ist in guter Verfassung“, wird dies dem Zustand des Landes nicht gerecht, meine Damen und Herren. ({7}) Im Übrigen haben wir die Situation - Sie haben ja auch etwas zum Thema Renten gesagt, Herr Gabriel -, dass die Renten von 2000 bis 2012 um real 19 Prozent gesunken sind, im Osten um 24 Prozent. Wir sehen also, dass Sie nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern auch die Älteren, die unser Land aufgebaut haben, nicht an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben lassen. Weil Sie auch etwas zur Agenda 2010 gesagt haben, Herr Gabriel: Wenn man Gesetze macht, durch die die Löhne gedrückt werden, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Beschäftigten geringere Löhne gezahlt bekommen. Das ist die Wahrheit. ({8}) Wie kommen wir wieder voran? Sie haben den Mindestlohn angesprochen, Herr Gabriel. Ja, 8,50 Euro sind besser als nichts. 10 Euro wären bei weitem besser und angemessener gewesen. ({9}) Ich sage Ihnen, was jetzt aber überhaupt nicht geht: vollkommen zu verharmlosen, dass selbst diese 8,50 Euro von Teilen Ihrer eigenen Regierung bzw. von einem Teil der Fraktionen, die die Regierung stellen, offensichtlich sabotiert werden. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Sie sabotieren Ihre eigenen Gesetze, die Gesetze, die Sie selber hier beschlossen haben. ({10}) Nichts anderes ist es, wenn Sie sagen: Wir wollen, dass in bestimmten Bereichen nicht mehr kontrolliert wird, wie lange die Leute eigentlich arbeiten. ({11}) Es geht doch um die Dokumentationspflicht. ({12}) Ich sage: Wenn Sie nicht dokumentieren, wie lange die Menschen arbeiten, wissen Sie auch nicht, welchen Lohn sie pro Stunde bekommen, weil Sie den Lohn dann gar nicht auf die Arbeitszeit umrechnen können. ({13}) Deshalb sagen wir: Hören Sie mit diesem Unsinn auf! Halten Sie sich wenigstens an das, was Sie selber beschlossen haben! ({14}) - Herr Grosse-Brömer, da können Sie abwinken, so viel Sie wollen. Man merkt in diesem Land, was Sie hier treiben. Meine Damen und Herren, um die Verhältnisse wieder vernünftig zu gestalten, wäre es notwendig, dafür zu sorgen, dass es am besten gar keine Leiharbeit mehr gibt, dass aber zumindest gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird, und zwar ab der ersten Stunde. Wir müssen Regelungen zur Befristung treffen, und wir müssen vor allen Dingen beim Thema Werkverträge vorankommen. Hier haben Sie bisher nur heiße Luft von sich gegeben. Das große Problem in unserem Land sind die Investitionen; Sie haben den Titel Ihres Berichts - „Investieren in Deutschlands und Europas Zukunft“ - erwähnt. Wenn Sie es nur tun würden, meine Damen und Herren! 5 Milliarden Euro soll es zwischen 2014 und 2017 für den Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur geben, 10 Milliarden Euro im selben Zeitraum für Infrastruktur und Energieeffizienz. Angesichts dieser Zahlen reibt man sich wirklich die Augen. Ich möchte, damit die Höhe des Investitionsbedarfs auch Ihnen bewusst wird, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zitieren. Dort heißt es - ich zitiere -: Im Vergleich mit dem Durchschnitt der Eurozone … hat sich in Deutschland seit 1999 eine Investitionslücke von drei Prozent - ich betone: jährlich des Bruttoinlandsprodukts gebildet. Kumuliert seit 1999 entspricht dies etwa einer Billion Euro … Ich wiederhole: Das Investitionsdefizit beträgt laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung 1 Billion Euro. Aber Sie betreten die Bühne mit 5 und 10 Milliarden Euro. Für wie dumm halten Sie die Leute eigentlich? Glauben Sie wirklich, die Leute denken, dass man damit tatsächlich etwas bewegen kann? ({15}) Meine Damen und Herren, notwendig wären tatsächlich Investitionen. Die muss man finanzieren. Aber statt nun die niedrigen Zinsen auszunützen, um für mehr Investitionen staatlicherseits zu sorgen, kommen Sie mit der schwarzen Null. Ich habe langsam den Eindruck, die großen schwarzen Nullen sitzen in dieser Regierung. ({16}) Leider geht das zulasten der Bevölkerung. ({17}) Sie hätten auch die Möglichkeit, bei denen, die wirklich zu viel haben, Steuern zu erhöhen; denn die Vermögensverteilung läuft auseinander. Auch das tun Sie nicht. Sie verweigern höhere Steuern. Obwohl Sie sich vor der Wahl, Herr Gabriel, noch dafür ausgesprochen hatten, sah die Welt kurz nach der Wahl wieder vollkommen anders aus. Meine Damen und Herren, jetzt kommen Sie auf die fantastische Idee - ich zitiere aus Ihrem Jahreswirtschaftsbericht -: Für die Finanzierung des Erhalts und des Ausbaus der öffentlichen Infrastruktur sollen nun „private Finanzierungsmöglichkeiten“ einbezogen werden. - Was machen Sie denn da nun? Obwohl wir wissen, dass die Privaten sozusagen Geld wie Heu haben und dennoch nicht investieren, wollen Sie, dass jetzt die Privaten die Infrastruktur des Staates erneuern, den Straßenbau übernehmen. Was Sie hier machen, ist der direkte Griff in die Taschen der Steuerzahler. Ich sage Ihnen auch, warum. Nehmen Sie einmal den Bericht des Bundesrechnungshofs, der dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vorgelegt wurde. Dort lesen Sie - ich zitiere -: Vielmehr haben Berechnungen des Bundesrechnungshofs zu fünf der sechs bereits vergebenen ÖPP-Projekte ergeben, dass allein diese um insgesamt über 1,9 Mrd. Euro teurer sind, als es eine konventionelle Realisierung gewesen wäre. Er kommt zu dem Ergebnis - ich zitiere weiter -: Der Bundesrechnungshof ist der Auffassung, dass die bisherigen ÖPP-Projekte unwirtschaftlich sind. Was bedeutet das? Die Projekte, die es schon jetzt in dieser Art und Weise gibt, wo sozusagen private Investoren für öffentliche Investitionen gewonnen werden sollen, kosten den Steuerzahler viel mehr Geld, als wenn wir das über Kredite des Staates finanzieren oder die Reichen entsprechend besteuern. Was Sie machen, ist ein Renditeprogramm für die Reichen, für die Besserverdienenden, für die großen Unternehmen. Was Sie verweigern, ist eine vernünftige öffentlich finanzierte Infrastruktur für die Leute in diesem Land. ({18}) Das ist eine unmögliche Politik. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke für die Aufmerksamkeit. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es fällt natürlich ein bisschen schwer, nach einem solchen Unsinn überhaupt noch ernst zu bleiben; Herr Ernst, mir fällt das schwer. ({0}) Denn was ich da von Ihnen hören musste, das ist nun mal durch nichts zu belegen. Sie haben es immer noch nicht kapiert. Sie reden davon, dass der Staat das alles besser könne. Das haben Sie ja mit der SED in der DDR bewiesen: Da ist er dann zusammengebrochen. ({1}) - Das tut Ihnen weh, das weiß ich; das soll Ihnen auch wehtun. Meine Damen und Herren, Deutschland geht es gut. Wir haben eine Situation, wie wir sie so gut in Deutschland eigentlich noch nicht gehabt haben: 42,8 Millionen Erwerbstätige in Deutschland - der Bundesminister hat es eben gesagt -, das ist eine Erfolgsstory. ({2}) Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Das ist für mich eines der wichtigsten Signale, dass es Deutschland gut geht; denn es gibt nichts Schlimmeres, als wenn junge Menschen keine Hoffnung haben. Das haben wir Gott sei Dank in Deutschland verändert. ({3}) Wenn Sie sich anschauen, wie es im europäischen Umfeld aussieht, dann sehen Sie: Wir sind auf einem guten Weg. In Frankreich liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 25 Prozent, in Spanien bei 42 Prozent. Bei uns liegt sie durchschnittlich bei 6,7 Prozent. In vielen Regionen Deutschlands gibt es keine Jugendarbeitslosigkeit mehr. Im Gegenteil: Wir sind dabei, nach Wegen zu suchen, wie wir für diese Regionen unter Umständen junge Leute aus dem Ausland anwerben können. Dies zeigt: Wir haben die richtige Wirtschaftspolitik betrieben. Wir haben dafür gesorgt, dass es läuft. Die Unternehmer wie die Arbeitnehmer in den Betrieben haben eine gute Arbeit geleistet. Wir haben einen Konsolidierungskurs gefahren, der bemerkenswert ist: Wir haben bereits letztes Jahr die schwarze Null erreicht. Dieses Jahr wird es dann sicherlich - Überraschungen des Finanzministers sind ja bekannt - auch noch ein nettes Plus geben; wir gehen mal davon aus, dass das so sein wird. Ich finde, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das ist allerdings - das sollten wir auch sagen - keine gottgegebene Sache und auch kein Automatismus. Wir müssen schon daran arbeiten, dass das so weitergeht. Ich habe das Gefühl, dass wir im letzten Jahr das eine oder andere Mal ein bisschen zu viel über Verteilungsgerechtigkeit nachgedacht haben, aber zu wenig darüber, wie wir die wirtschaftliche Situation in Deutschland verbessern und verstärken. Das sollten wir jetzt machen. Die Worte des Wirtschaftsministers in diesem Zusammenhang habe ich gehört. Wir dürfen bei der Bürokratie nicht immer weiter draufsatteln. Das haben Sie selbst gesagt, Herr Gabriel, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Allerdings habe ich das Gefühl, dass das nicht in allen Ministerien so verstanden wird. ({4}) Zu den Dokumentationspflichten beim Mindestlohn ({5}) sage ich Ihnen: Das geht ein gutes Stück zu weit, verehrte Frau Andreae. Das geht nämlich so weit, dass wir alle Unternehmer - und das stört mich vor allen Dingen bei der Linken besonders - unter den Generalverdacht stellen, dass sie Verbrecher und Betrüger sind. Das ist nicht in Ordnung, und das möchte ich nicht. Wir haben in Deutschland einen Mittelstand, der hervorragende Arbeit leistet, ({6}) indem die Unternehmen gut zusammenarbeiten. Sie alle unter einen Generalverdacht zu stellen, das ärgert mich schon ganz gewaltig. Auch darüber sollten wir nachdenken. Ich will kein Misstrauensklima in Deutschland haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Fuchs, darf der Kollege Ernst eine Frage stellen?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme es zwar nicht ernst, aber okay. ({0}) - Nein, Gott sei Dank.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte keine Frage stellen. Man darf ja auch Bemerkungen machen, Herr Präsident; das habe ich so verstanden. ({0}) Meine erste Bemerkung. Sie haben ja gerade versucht, einen Zusammenhang zwischen der SED und meiner Person herzustellen.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das betrifft nicht Sie; das weiß ich. Aber Sie sind für den Verein verantwortlich.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jetzt kann man unschwer erkennen: Ich spreche mit bayerischem Akzent. Ist Ihnen entgangen, dass es die SED in Bayern gar nicht gab? ({0}) Zweitens. Das bezieht sich jetzt auf das, was Sie zu mir gesagt haben - das sei Unfug, Unsinn, und man müsse das ja nicht ernst nehmen -: Herr Fuchs, Sie haben, zitiert nach dem Handelsblatt, einen Vergleich aufgestellt; der ist einige Jahre her. Dort haben Sie gesagt - ich möchte das zitieren -: Der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels, Dr. Michael Fuchs, hat die Diskussion über die Standortqualität Deutschlands auf diese Gleichung verdichtet: Für das, was ein deutscher Arbeitnehmer im Durchschnitt kostet, könnten entweder 70 Russen, 38 Bulgaren, 18 Polen, 17 Tschechen oder 10 Ungarn beschäftigt werden. Denn die monatlichen Arbeitskosten … liegen in Deutschland bei 6 000 DM und entsprechend geringer in den anderen Ländern. Daraufhin, auf diese große wirtschaftliche Einsicht, die Sie dort bekundet haben, hat Ihnen dann Herr Hans Mundorf vom Handelsblatt geantwortet. Er hat geschrieben: Müsste man aus solchen Vergleichen die tarifpolitische Konsequenz ziehen, könnte die nur heißen: Erst wenn das Monatseinkommen des deutschen Arbeitnehmers auf 90 DM reduziert worden wäre, könnte die Bundesrepublik wieder im Wettbewerb mit Russland bestehen. Und dann schreibt Herr Mundorf - jetzt wird es spannend -: Diese Folgerung jedoch ist zu absurd, als dass man nur eine Sekunde darüber nachdenken müsste. Das ist Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz, Herr Fuchs. ({1}) Wenn Sie dann zu mir sagen, das, was ich sage, müsse man nicht ernst nehmen, kann ich Ihnen nur sagen: Dieser Vergleich ist 20 Jahre her. Man muss Sie seit 20 Jahren nicht mehr ernst nehmen. ({2})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auf so etwas zu antworten, erspare ich mir. Sie kapieren es halt nicht, und Sie werden es nicht kapieren, weil Sie es auch nicht können. ({0}) Bleiben wir bitte beim Bürokratieabbau. Das muss unser gemeinsames Ziel sein; denn es macht überhaupt keinen Sinn, Bürokratie aufzubauen, parallel dazu aber davon zu reden, dass wir sie abbauen wollen. Deswegen bin ich der Meinung, dass wir da unbedingt herangehen müssen. Ich finde, dass wir auch in Europa ein gutes Stück weitergekommen sind. Es ist erfreulich, dass viele Länder jetzt aus den Programmen, die wir hier in diesem Hohen Haus beschlossen haben, herausgekommen sind. In Irland sind wir auf einem sehr guten Weg. Selbst in Portugal und in Spanien sind wir auf einem guten Weg. Die Kanzlerin hat am Wochenende ja gesagt, dass auch Italien langsam, aber sicher merkt, dass wir nur über Reformen aus der Krise herauswachsen können. Ich hoffe, dass das in allen anderen Ländern genauso wird. Wenn nun aber in Griechenland eine neue Regierung antritt und sagt, die geringe Reform, die gemacht wurde, wolle man zurückdrehen und ein Antispar- bzw. Antireformprogramm oder gar einen Anti-Merkel-Pakt beschließen, dann macht mir das schon erhebliche Sorgen. Das ist nicht der Weg, mit dem Europa wettbewerbsfähig wird, und das ist auch nicht der Weg, mit dem wir die Zukunft in Europa gestalten können. Wenn dann Linksradikale mit Rechtspopulisten koalieren, dann frage ich mich, ob ich nicht im falschen Film bin. ({1}) Wenn ich mir dann angucke, was diese Linksradikalen zusammen mit den Rechtsradikalen da machen wollen, wird es mir angst und bange. Und dann, Herr Ernst: Wenn es eine Partei ist, die Antisemitismus, Rassismus und einen Chauvinismus in ihrem Programm hat, der nicht akzeptabel ist, dann kann ich nur sagen: Eine Koalition mit einer solchen Partei zu akzeptieren, zeigt den ganzen Charakter der Linken und stört mich ganz gewaltig. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Fuchs, darf der Kollege Schlecht eine Zwischenbemerkung machen?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na gut. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Fuchs, Sie haben ja eben die neue griechische Regierung beschrieben und dabei von einer Koalition aus Linksradikalen und Rechtspopulisten gesprochen. Ich will Sie nur darauf hinweisen, dass diese Regierung momentan versucht - maßgeblich von Syriza betrieben -, die übelsten Zustände, die dem griechischen Volk von außen über die Troika aufoktroyiert worden sind - maßgeblich auch von Deutschland betrieben -, zu beseitigen. ({0}) Dort sind dramatische Verschlechterungen der sozialen Lage und eine ganz große Anzahl von Menschen, die nicht mehr krankenversichert sind, zu beklagen. Es sterben dort Leute auf den Straßen, weil sie verhungern, die Suizidrate hat dramatisch zugenommen, es gibt Stromsperren usw. ({1}) Das alles soll jetzt abgestellt werden. Ich will Sie nur darauf hinweisen: Das ist nicht linksradikal, sondern im besten Sinne sozialdemokratische Politik. Allerdings mag es sein, dass Ihr Koalitionspartner hier in Deutschland, die SPD, bestimmte Elemente sozialdemokratischer Politik mittlerweile als linksradikal denunziert. Daran kann man aber nur sehen, wo sie angekommen ist. ({2}) Weil die Anel auch von anderen immer wieder mit der AfD verglichen wird, will ich, bezogen auf die sogenannten Rechtspopulisten, darauf hinweisen, dass es einen ganz großen Unterschied zwischen diesen beiden Gruppierungen gibt. Er besteht darin, dass diese sogenannten Rechtspopulisten gemeinsam mit Syriza gegen das antreten, was hier in Deutschland „Agenda 2010“ heißt und was zu einer Zerstörung der Strukturen am Arbeitsmarkt geführt hat. Dafür würde die AfD hier in Deutschland nie die Hand geben, weil die AfD - das ist in der Öffentlichkeit leider viel zu wenig bekannt - eine Vorkämpferin für die weitere Verschlechterung der Situation am Arbeitsmarkt ist und hinter den Entscheidungen steht, die vor zehn Jahren hier in diesem Hause getroffen worden sind und die wir nicht wollen und bekämpfen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der AfD und Anel. ({3}) Insofern kann man diese beiden Gruppierungen überhaupt nicht miteinander vergleichen. ({4})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schlecht, das macht Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit besser? Ist das Ihre Einstellung? Das habe ich kritisiert. Sie sollten hier bitte zuhören! ({0}) Ich möchte nicht, dass wir solche Verhältnisse jemals in Deutschland bekommen, und ich sage Ihnen eines: Gott sei Dank wird diese Linke zusammen mit der AfD und der Pegida in Deutschland niemals mehrheitsfähig sein und das wünsche ich Ihnen auch nicht. ({1}) Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer Reihe großer Herausforderungen; der Minister hat schon eine ganze Menge genannt. Eine der Herausforderungen ist sicherlich die Energiewende. Wir haben im letzten Jahr eine vernünftige EEG-Reform durchgeführt. Ich würde mir wünschen, der Herr Krischer würde sich heute bei Ihnen, Herr Gabriel, entschuldigen; denn er hat am 27. Juni 2014 hier im Hohen Hause gesagt - ich zitiere das einmal -: Sigmar Gabriel ist die Abrissbirne, die die erneuerbaren Energien in diesem Land kaputt macht … ({2}) Das war eine Unverschämtheit. Wenn Sie einmal nachgucken würden, was im letzten Jahr passiert ist - vielleicht haben Sie das ja noch nicht gelesen, Herr Krischer -, dann wüssten Sie, dass das, was Sie erzählt haben, Unsinn war. ({3}) Wir haben für neue Investitionen gesorgt, was allein im Bereich der Onshorewindenergie zu einer Ausweitung der Kapazität im Umfang von brutto 4 700 Megawatt und netto 4 300 Megawatt geführt hat. Das ist gewaltig viel und sogar viel mehr, als wir uns in dem Zielkorridor von 2 400 Megawatt bis 2 600 Megawatt vorgenommen hatten. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Einen Augenblick mal. - Ich bitte um Nachsicht: In der Zulassung von Zwischenfragen und auch Kurzinterventionen bin ich nachweislich eher großzügig, aber man muss einem Redner auch die Möglichkeit geben, drei aufeinanderfolgende Sätze ohne Unterbrechung vorzutragen. ({0}) Wenn Sie nachher also eine Kurzintervention machen wollen, dann werde ich sie gerne genehmigen; aber im Augenblick genehmige ich keine weiteren Zwischenfragen. ({1})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin dem Präsidenten dankbar; denn man muss einen Gedanken ja auch einmal komplett ausformulieren können. - Wir hatten 2 400 bis 2 600 Megawatt geplant, und es sind netto 4 300 Megawatt geworden. Das zeigt ja wohl, dass wir die Energiewende nicht kaputt gemacht, sondern dass wir, im Gegenteil, in gewaltigem Maße Möglichkeiten geschaffen haben, in Deutschland in erneuerbare Energien zu investieren. Ich kann nur sagen: Wir müssen uns schon genau überlegen, ob das richtig ist. Verehrte Kollegen von den Grünen, diese zusätzlich gebauten Anlagen kosten 250 Millionen Euro pro Jahr mehr an EEG-Umlage. Wir liegen zurzeit bei 22 Milliarden Euro. Zu dieser Summe kommen in diesem Jahr 250 Millionen Euro mehr dazu, und zwar nur aufgrund der Tatsache, dass wir beim Ausbau der Windenergie deutlich über das selbstgesteckte Ziel hinausgeschossen sind. Herr Minister, wir sollten darüber nachdenken, ob wir den Ausbau in den Folgejahren leicht reduzieren, um diesen nicht gewollten Anstieg bei den Mitteln zu kompensieren. Ich halte das für eine sinnvolle Maßnahme; denn wir müssen in irgendeiner Weise die gewaltigen Mehrausgaben in diesem Bereich kompensieren. Die Firmen können das nicht bezahlen, und auch die Bürgerinnen und Bürger können das nicht bezahlen. Ich halte es für vollkommen richtig, dass Sie heute in diesem Hohen Hause gesagt haben, dass unsere Mehrausgaben bei den Energiekosten gedeckelt werden müssen, dass wir aufhören müssen, zu glauben, wir könnten die Energiekosten immer und immer weiter steigen lassen. Das gilt für KWK. Das gilt aber auch für alles, was erneuerbare Energien in diesem Zusammenhang ausmacht. Ich meine, es ist allerhöchste Zeit, das zu tun; denn in vielen Bereichen hat der Ausbau nichts gebracht. Mittlerweile gibt es mehr chinesische PV-Module auf deutschen Dächern als Module aus Deutschland. Das wird nicht zu unserer Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Der Ausbau hat zwar für Bayern ein erfreuliches Ergebnis erzielt, weil es dadurch zu einer Umkehr des Länderfinanzausgleichs gekommen ist. Aber ob das sinnvoll ist, müssen wir noch einmal diskutieren. Auch der Netzausbau muss mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in irgendeiner Art synchronisiert werden. Es macht keinen Sinn, wenn wir ständig weitere Anlagen im Norden bauen, aber den Strom nicht in den Süden transportieren können. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. In Schleswig-Holstein werden wir Ende dieses Jahres wahrscheinlich eine installierte Leistung von 12 Gigawatt bei den erneuerbaren Energien erreichen. In Schleswig-Holstein werden aber maximal 2,8 bis 3 Gigawatt an installierter Leistung gebraucht. Das heißt, dort gibt es 9 Gigawatt zu viel. Wohin mit dieser Leistung? Sie muss wegtransportiert werden. Wenn es uns nicht gelingt, diese wegzutransportieren, dann haben wir ein Problem. Dann müssen diese Anlagen nämlich permanent abgeschaltet werden - das können Sie jetzt schon beobachten -, und das kostet enorm viel Geld. Das müssen alle Verbraucher bezahlen. Das kann nicht unser Ziel sein. Deswegen muss das gesamte Hohe Haus dafür sorgen, dass der Netzausbau so schnell wie möglich vorankommt. Das dauert mir bei weitem zu lange. ({0}) Das kann so nicht weitergehen. Ich bin der Meinung, dass wir auf diesem Sektor Defizite haben, und zwar in allen Bundesländern, auch in Bayern. Es ist klar - ich bin dankbar, dass der Bundesminister das eben sehr deutlich erwähnt hat -, dass wir nur dann, wenn wir ein vernünftiges Freihandelsabkommen mit den Amerikanern aushandeln, ({1}) in der Zukunft Standards und Normen setzen. Die Amerikaner verhandeln zurzeit sehr intensiv mit den ASEAN-Staaten über TPP. Wer die State-of-the-UnionRede von Obama gelesen hat, der wird feststellen, dass sich Obama mehr um TPP als um TTIP kümmert. Wenn es so sein sollte, dass dieses Abkommen zuerst geschlossen wird, dann werden die Amerikaner mit den ASEANStaaten Normen und Standards setzen, an denen wir dann nicht mehr vorbeikommen. Das ist nicht meine Vorstellung. Meine Vorstellung ist, dass wir mit den Amerikanern europäische Standards aushandeln und dass diese dann anschließend auf Asien übertragen werden. Das wäre für die deutsche Wirtschaft eine Chance. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. ({2}) Deswegen ärgere ich mich so, wenn alle NGOs, die Linke sowieso und auch Teile der Grünen ({3}) das TTIP-Abkommen schlechtreden. Dahinter steckt Ideologie, dahinter steckt Antiamerikanismus. ({4}) Dagegen wehren wir uns. Wir wollen nämlich genau das Gegenteil. Wir wollen, dass ein vernünftiges Freihandelsabkommen zwischen unseren Ländern geschlossen wird, das den Menschen hilft und das auch den Unternehmen bessere Chancen ermöglicht. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Krischer das Wort.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Fuchs, Sie haben darauf hingewiesen, dass ich vor einem guten halben Jahr Sigmar Gabriel bei der Verabschiedung der EEG-Novelle als „Abrissbirne“ der Energiewende bezeichnet habe. Das ist richtig. ({0}) Ein halbes Jahr danach muss ich leider feststellen - Herr Fuchs, Sie sind offensichtlich nicht über die Entwicklungen in der Branche beim Ausbau der erneuerbaren Energien informiert -, dass die Voraussage, dass Sigmar Gabriel mit dieser EEG-Novelle die Abrissbirne der Energiewende ist, genau so eingetreten ist. Die Biomassebranche hat null Zubau in Deutschland. ({1}) In den Fachmagazinen der Branche finden Sie nur noch Artikel darüber, wie man im Ausland investieren kann und dass Deutschland keinen Zukunftsmarkt hat. ({2}) Bei der Photovoltaikbranche ist es genauso. Im letzten Jahr, 2014, ist Ihr eigener Ausbaukorridor deutlich unterschritten worden, ({3}) und im Jahr 2015 wird der Ausbau gegen null gehen. Das Einzige, was noch kommt, ist Ihr merkwürdiges Ausschreibungsprogramm für Solar-Freiflächenanlagen. Ansonsten passiert gar nichts. Gestern hat SMA, ehemals Weltmarktführer in der Wechselrichtertechnologie, den Abbau von 1 600 Arbeitsplätzen angekündigt. Sie treiben diese Industrie aus dem Land. ({4}) Dass wir derzeit bei der Windenergie noch einen guten Zubau haben, liegt daran, dass die rot-grün regierten Bundesländer dafür gesorgt haben, dass im EEG wenigstens noch bis 2017 eine angemessene Vergütung vorgesehen ist. Das wollten Sie auch ändern. Das wollten Sie auch kaputtmachen. Aber hier kommt es zum Schlussverkaufeffekt. Das ist in Kürze vorbei. Der Marktführer Enercon beispielsweise, der Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland sichert, hat ab 2017 in Deutschland keinen einzigen Auftrag mehr, weil Sie dann, ohne irgendwie benennen zu können, wie Sie es machen wollen, das Vergütungssystem auf Ausschreibung umstellen wollen. Sie haben aber keine Vorstellung davon, wie Sie das machen wollen. ({5}) Sie machen die erneuerbare Industrie kaputt, statt Industriepolitik zu betreiben. Der Bundesminister hat das eben sehr deutlich bestätigt, als er über alles Mögliche geredet hat, aber nicht über Klimaschutz, die Energiewende und den Ausbau der Erneuerbaren. ({6}) Das ist zu wenig für ein Land, das die Energiewende will. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Herr Kollege Fuchs.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Krischer, ich habe versucht, es Ihnen zu erklären. ({0}) Wir hatten einen Ausbau der Windenergie auf 2 400 bis 2 600 Megawatt geplant. Es sind inklusive des Repowering 4 700 Megawatt geworden. Angesichts dessen trifft es nicht zu, dass wir etwas abgerissen haben. Es ist doch mehr aufgebaut worden, als wir selbst gewollt haben. Die Zahlen für die Photovoltaik liegen noch gar nicht vor. Sie mögen sie schon alle haben, weil Sie permanent mit diesen Herrschaften reden. Ich habe sie noch nicht. Ich habe heute Morgen noch einmal bei den ÜbertraDr. Michael Fuchs gungsnetzbetreibern angerufen und gefragt, ob es irgendwelche Zahlen gibt. Sie sind nicht vorhanden. Reden Sie nicht über etwas, das noch gar nicht vorliegt! Bis Anfang November waren schon rund 1 800 Megawatt installiert. Wir sind also nicht weit von dem Korridor, den wir uns selbst gegeben haben, entfernt, und wir haben obendrein ein vernünftiges Ausschreibungsverfahren für Freiflächen auf den Weg gebracht. Wir wollen aber nicht, dass alles in Deutschland verspiegelt wird. Wir wollen auch noch Landwirtschaft haben. ({1}) Deswegen sind wir bei dem ganzen Thema Biomasse sehr zurückhaltend.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer direkten Erwiderung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erhält der Kollege Gabriel jetzt das Wort.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Meine Damen und Herren! Ich habe dem Präsidenten versprochen, dass ich mit nur einem Satz antworte. Den muss ich jetzt hinbekommen. Ich wollte nur, weil Sie an das Stichwort „Abrissbirne“ erinnert haben, an ein zweites Wort in der damaligen Debatte erinnern: Damals habe ich Ihnen gesagt, dass man Sie mit guten Gründen davor bewahren muss, zum Pinocchio dieses Bundestages zu werden; ({0}) denn auch Ihre heutige Darstellung der Entwicklung der erneuerbaren Energien ist falsch, und der Abbau des Personals bei der Firma SMA hat etwas mit Billigimporten aus China und Dumping zu tun, aber nichts mit der Entwicklung der erneuerbaren Energien. ({1}) Sie nähern sich immer mehr diesem Ehrentitel. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gabriel, ich erinnere Sie an das dritte Wort der Debatte. Dieses lautete „roter Anorak“. ({0}) Sie sollten sich an damals erinnern, als Sie als Bundesumweltminister die Klimakrise wirklich ernst genommen haben und im roten Anorak vor den Polarbergen erklärt haben: Wir haben ein Problem, das wir weltweit angehen müssen. - Das war damals die richtige Haltung. Diese Haltung sollten Sie auch heute als Bundeswirtschaftsminister einnehmen. Das wäre effektive, sinnvolle Wirtschaftspolitik. ({1}) Sie haben viel von zusätzlich notwendigen Investitionen gesprochen. Wir teilen das ausdrücklich. Ja, wir brauchen zusätzliche Investitionen. Aber was im Jahreswirtschaftsbericht zu lesen ist, ist nichts anderes als aufgewärmter Kaffee. Sie reden von 5 Milliarden Euro an Zusatzinvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Aber der große Teil fließt in alte Projekte. Da wird Ramsauers Spatenstichpolitik fortgeführt. Hier von Zusatzinvestitionen zu sprechen, ist ein glatter Etikettenschwindel. Von Zukunftsinvestitionen zu sprechen - dieses Wort wird auch im Jahreswirtschaftsbericht verwendet -, geht erst recht nicht. Man könnte nur dann von Zukunftsinvestitionen in den Verkehrsbereich sprechen, wenn das Programm, das zum Ziel hat, 1 Million Elektromobile auf die Straße zu bringen, forciert angegangen und wenn eine Infrastruktur aus Ladestationen finanziert würde. Dann gäbe es eine echte Verkehrswende. Zukunftsinvestitionen bedeuten Umsteuern in Richtung Zukunft und Nachhaltigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen. Das machen Sie hier nicht. ({2}) Die Mittel dazu wären doch vorhanden. Die wirtschaftliche Lage ist so gut, wie seit langem nicht mehr. Der niedrige Ölpreis, der teilweise bedauerlich schwache Euro - es ist nicht nur schön, dass der Euro so schwach ist - und auch die niedrigen Zinsen verschaffen Ihnen einen Puffer, der es Ihnen ermöglicht, in die Zukunft zu investieren. Sie müssen jetzt handeln, denn der Ölpreis wird nicht immer so niedrig sein. Die Investitionen nehmen gerade ab. Das heißt, dass auch das Angebot abnehmen wird und die Preise wieder steigen werden. Aus Klimaschutzgründen ist es sowieso notwendig, den Ölverbrauch zu senken; das dürfen Sie nicht vergessen. Sie müssen nun das Zeitfenster und die steigenden Einnahmen - der niedrige Ölpreis wirkt wie ein Konjunkturpaket von 20 Milliarden Euro - nutzen und dafür sorgen, dass tatsächlich konsequent Investitionen in den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz getätigt werden. ({3}) Gerade bei der Energieeffizienz sind Sie weit von dem entfernt, was wir brauchen. Sie haben auf den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz verwiesen. Aber was wir fordern und brauchen, sind konsequente Investitionen in Energieeffizienz und Klimaschutz. Der Klimaschutz eröffnet neue Geschäftsfelder. Wir erleben das in anderen Ländern. In Indien und in China werden die Subventionen für herkömmliche Energiequellen heruntergefahren. Auch Sie könnten die Mineralölsubventionen zugunsten der chemischen Industrie, die ebenfalls von dem niedrigen Ölpreis profitiert, herunterfahren. Klimaschutz ist ein Chancenfaktor und kein Kostenfaktor. Das müsste sich doch durchsetzen lassen. ({4}) Ja, es geht um Deutschlands und um Europas Zukunft. Deutschland muss mehr Verantwortung für Europa übernehmen. Derzeit zieht die Europäische Zentralbank den Karren aus dem Dreck. Sie musste handeln, weil die Bundesregierung nicht gehandelt hat. ({5}) Die Wahlen in Griechenland zeigen doch nur, dass die Menschen frustriert sind, Angst haben und keine wirtschaftliche Perspektive und Zukunft für sich sehen. ({6}) Deswegen geht es vor allem darum, hier Investitionen für wirtschaftliche Perspektiven auf den Weg zu bringen, die Energienetze auszubauen, die Bildung zu fördern sowie kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen, aber auch Armut zu bekämpfen. Herr Gabriel, Sie haben angekündigt, dass sich die KfW mit 8 Milliarden Euro an der zweiten Stufe der Projekte beteiligen soll. Das ist nicht der richtige Weg. Sie haben uns im Haushaltsausschuss gesagt, dass Sie sich am Investitionsfonds von Herrn Juncker erst dann beteiligen, wenn die anderen europäischen Länder nachziehen. Wollen Sie wirklich auf Estland und Portugal warten? Nein, richtig wäre, 12 Milliarden Euro in den Investitionsfonds von Herrn Juncker einzuzahlen. Das wäre ein klares, starkes proeuropäisches Signal. Dann würde Deutschland Verantwortung für Europa übernehmen. ({7}) Führen wir uns einmal die Debatte über den Mindestlohn vor Augen. Sie sagen, dass Sie Erfahrungen sammeln und dann auswerten wollen. Wir haben Ihnen beim Mindestlohngesetz vorgeschlagen, es genau andersherum zu machen. Evaluieren Sie kontinuierlich mit Beginn des Mindestlohns! Natürlich gibt es am Anfang an der einen oder anderen Stelle noch gewisse Schwierigkeiten. Wenn aber der Wirtschaftsrat der Union und Sie, Herr Fuchs, schon zehn Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus versuchen, die Axt anzulegen, dann ist das nichts anderes als Propaganda gegen den Mindestlohn. ({8}) Wir würden Sie dabei unterstützen, Bürokratie abzubauen. ({9}) Das ist ganz einfach: Lassen Sie diesen CSU-Irrsinn mit der Ausländermaut. Das ist das größte bürokratische Programm, das Sie gerade auf den Weg bringen. Lassen Sie diese Bürokratie weg. ({10}) Im Jahreswirtschaftsbericht wird der demografische Wandel als Problem erkannt. Die Diskussion über den Fachkräftemangel gibt es seit vielen Jahren. Ich zitiere: Der demografische Wandel in Deutschland geht einher mit einer abnehmenden Zahl von Personen im erwerbsfähigen Alter. ({11}) Guten Morgen! Genau deshalb ist die Rente mit 63 das falsche Signal an den Arbeitsmarkt gewesen. Es ist diese Koalition, die mit einem falschen Rentenpaket die Probleme des demografischen Wandels verschärft hat. Es ist diese Koalition, die den zukünftigen Generationen Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro pro Jahr aufbürdet. Das war die bisher teuerste sozialpolitische Fehlentscheidung dieser Koalition. ({12}) Natürlich brauchen wir eine Fachkräftesicherung im Inland, aber auch Fachkräfte aus dem Ausland. Sie, Herr Gabriel, haben einen bemerkenswerten Artikel im Tagesspiegel mit der Überschrift „Mut zur Einwanderergesellschaft“ geschrieben. Da finden Sie unsere volle Unterstützung. Aber ich würde mir wünschen, dass sich ein Wirtschaftsminister dieses Landes, der dieses Problem erkennt, auch in einem Jahreswirtschaftsbericht klar zu einem Einwanderungsgesetz bekennt. Wir brauchen ein Signal, ein Signal für ein weltoffenes, modernes und zukunftsfähiges Deutschland mit Einwanderung, mit einem Einwanderungsgesetz. In diesem Jahreswirtschaftsbericht findet sich nichts darüber. Reden Sie sich nicht damit heraus, dass Thomas de Maizière in seinem Zuwanderungsbericht schreibt, es sei doch alles in Ordnung, es sei zufriedenstellend, und er ein Einwanderungsgesetz ablehnt. Sie haben viele Sachen angesprochen, die Sie im Kabinett noch nicht durchbekommen haben oder die Sie noch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen diskutieren. Aber ein Wirtschaftsminister muss in der Lage sein, zu sagen: „Wir werden moderne Bedingungen für Einwanderung schaffen, wir werden ein Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen“, ({13}) und dieses auch im Jahreswirtschaftsbericht benennen und darf sich nicht auf Placebos beschränken, wie Sie es hier getan haben. ({14}) Das wäre im Übrigen eine Investition in die Zukunft, die keinen Pfennig Geld kostet, sondern die im Gegenteil viel Geld bringt. Was sie kostet, ist Mut und Durchsetzungsfähigkeit. Wir fordern Sie jetzt auf: Stellen Sie die Weichen richtig - für Deutschland und für Europa, für die Zukunft dieses Landes und für die Zukunft nachfolgender Generationen, nicht nur hier, sondern auch in Europa! Vielen herzlichen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich sollten wir über die wirtschaftliche Lage reden, Frau Kollegin Andreae. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Man kann sich doch auch einfach einmal freuen, dass wir eine ordentliche wirtschaftliche Entwicklung haben: 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum, ({0}) Rekordbeschäftigung, zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Einfach einmal sich fröhlich freuen, würde auch Ihnen den Tag versüßen, sage ich einmal an dieser Stelle. ({1}) Es ist natürlich richtig - und das ist ein Verdienst des Bundeswirtschaftsministers -, dass man sich angesichts dieser guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur hinstellt und sagt: Es ist schön. - Denn klar ist: Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, warum wir so gut aufgestellt sind. Das ist die Folge von Reformen in der Vergangenheit gewesen, das hat etwas mit der aktuellen internationalen Situation zu tun und auch mit der Arbeit dieser Bundesregierung, die aktuell im Amt ist. Da kommt vieles zusammen. Aber es ist vor allen Dingen das Verdienst von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und tüchtigen Unternehmern in diesem Land. Dieser Bundeswirtschaftsminister macht mit dem Jahreswirtschaftsbericht, im Übrigen auch schon mit dem letzten, Dinge anders als Vorgänger. Ich finde es richtig, dass er eben nicht nur sagt, was jetzt ist, sondern auch, was kommen muss, und ganz offen und ehrlich auch Herausforderungen benennt. Genau das ist es. Aber, liebe Kerstin Andreae, eines muss ich doch noch loswerden: Bei bestimmten Fragen habe ich bei der Rede, die ich eben gehört habe, das Gefühl gehabt, dass man geradezu Pappkameraden aufbauen muss, weil es ganz schön schwierig ist, Dinge zu fordern, die es schon gibt. Ich finde das ganz schön schwierig. Mich erinnert das ein bisschen an eine Szene aus den Buddenbrooks, als Arbeiter vor das Haus des Senators ziehen und rufen: Wir wollen eine Republik. - Da sagt der Senator: Wir sind in der Freien und Hansestadt Lübeck, wir sind schon eine Republik. - Daraufhin sagt einer: Dann wollen wir noch eine Republik. - Das ist ein bisschen problematisch. Sie fordern zusätzliche Investitionen. Genau die haben wir auf den Weg gebracht. ({2}) Ich kann sie Ihnen im Einzelnen benennen: 5 Milliarden Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur; 6 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung, weil wir nicht nur in Beton denken; 3 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung; 10 Milliarden Euro zusätzlich für Investitionen bringen wir jetzt auf den Weg. Wir entlasten die Kommunen in dieser Legislaturperiode um über 5 Milliarden Euro. Also einfach mit einer Tonnenideologie immer mehr zu fordern, ist der falsche Weg. Sie könnten zumindest einmal anerkennen, dass diese Regierung massiv mehr als Vorgängerregierungen in die Zukunft investiert. ({3}) Wenn wir über Investitionen in diesem Land reden, dann reden wir zum einen über die Investitionen der öffentlichen Hand, also über die Investitionen von Bund, Ländern und Kommunen, in die Infrastruktur dieses Landes. Ich habe vorhin von Investitionen im Bereich der Bildung gesprochen: Zusätzlich stehen 6 Milliarden Euro zur Verfügung, vor allen Dingen durch Entlastung der Länder, damit in Kitas, in Schulen, in Hochschulen investiert werden kann. Hinzu kommen zusätzlich 3 Milliarden Euro für Forschung. Das ist eine gigantische Leistung. Man kann immer mehr wünschen - gar keine Frage -; aber wir wollen es eben schaffen - das ist nachhaltige Politik -, die Balance zwischen Haushaltskonsolidierung und Zukunftsinvestitionen zustande zu bringen. Dieser Weg scheint richtig zu sein. Wir haben es geschafft, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, und wir haben es geschafft, ihn durchzusetzen und auch durchzuhalten. Natürlich ist das Glück manchmal auch mit den Tüchtigen; gar keine Frage. Die internationale Situation ist beschrieben worden, und wir haben das Glück der Tüchtigen an dieser Stelle. Aber es ist nicht so, dass sich diese Bundesregierung auf dem Erreichten ausruht; vielmehr gehen wir die Dinge an, die vor uns liegen. Auch das ist vorhin beschrieben worden. Mehrere große Herausforderungen liegen vor uns. Es geht nicht nur darum, dafür zu sorgen, dass wir bei den öffentlichen Investitionen vorankommen, sondern zum anderen darum, dass wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass die Privatwirtschaft in Deutschland investiert. Aber auch da, Kerstin Andreae, ist der Befund, dass weniger investiert wird, falsch. Die Bruttoanlageinvestitionen in diesem Land sind gestiegen. Auch die Investitionen in der Privatwirtschaft in diesem Land sind gestiegen; auch das ist ein Befund des Jahreswirtschaftsberichts. Wir haben also einige Aufgaben zu bewältigen. Das Thema Fachkräftesicherung ist vorhin angesprochen worden. Hier sind wir - Kollege Fuchs hat es angesprochen - ganz kräftig vorangekommen, auch was die Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit in diesem Land betrifft. Das ist hocherfreulich. Ich füge hinzu: Es gibt in diesem Bereich noch Potenziale, die wir heben müssen. 50 000 junge Menschen Hubertus Heil ({4}) verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 haben keine Ausbildung. Damit darf man sich nicht abfinden; das werden wir auch nicht. Deshalb ist es gut, dass dieser Bundeswirtschaftsminister im vergangenen Dezember mit Vertretern der Wirtschaft und der Gewerkschaften die Allianz für Aus- und Weiterbildung geschlossen hat, um dafür zu sorgen, dass wir kein Kind in diesem Land zurücklassen, dass wir versuchen, jedem, auch den Benachteiligten in diesem Land, unter die Arme zu greifen. Das geht nur im Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Ich finde, auch als Opposition hätte man diese Leistung einfach einmal anerkennen können, Frau Kollegin Andreae. ({5}) Sie haben über Einwanderung gesprochen. Ich finde, es ist nicht fair, zu sagen, dass dieser Wirtschaftsminister dazu keine Vorschläge mache; er hat es nämlich in seiner Rede vorhin getan. Wir werden uns miteinander darüber zu unterhalten haben, wie wir das Einwanderungsrecht in diesem Land modernisieren. Ich finde, das ist eine ganz wesentliche Botschaft an diejenigen, die glauben, dass wir unseren Wohlstand national abgeschottet verteidigen können. Das können wir nicht! Wir müssen ein offenes, ein weltoffenes Land sein. Aber die Diskussion darüber müssen wir miteinander führen. Ich glaube, dass es neben der Frage der gesetzlichen Bedingungen für Einwanderung in diesem Land einfach darum geht, eine offene Gesellschaft zu haben, die Menschen willkommen heißt und die Zuwanderer nicht abstößt. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir müssen Rechtsradikalen und Rechtspopulisten aus sehr unterschiedlichen Gründen entgegentreten. Wir müssen auch Ängsten entgegentreten, die es in der Bevölkerung aus sehr unterschiedlichen Gründen gibt; schließlich geht es um Menschen, und es ist nicht in Ordnung, gegen Minderheiten zu hetzen. Aber wir müssen auch deswegen weltoffen sein, weil es sich unser Land ökonomisch nicht leisten kann, national vernagelt zu sein. Unsere Wirtschaft ist exportorientiert, und wir brauchen eine qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland. Dies wollen und werden wir organisieren. ({6}) Ich sage das auch im Hinblick auf den anderen Aspekt der Zukunftsfähigkeit unseres Landes: die digitale Infrastruktur. Wir haben durch die Haushaltskonsolidierung, durch die wirtschaftliche Entwicklung Spielräume bekommen: Zusätzlich stehen 10 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung. Wir müssen schauen, wie wir das vernünftig einsetzen. Auch da geht es darum, mit knappem Geld vernünftig umzugehen. Es ist richtig, dass in Energieeffizienz investiert wird; denn gerade in diesem Bereich können private Investitionen vernünftig gehebelt werden. Das ist ökologisch und auch wirtschaftlich vernünftig. Wir müssen etwas für die Verkehrsinfrastruktur tun. Auch da gilt unser Prinzip „Erhalt vor Neubau“, weil wir von der Substanz im Bereich der Verkehrsinfrastruktur leben; denn es ist für einen Wirtschaftsstandort wichtig, eine gute Verkehrsinfrastruktur zu haben. Aber ich füge hinzu: Wir müssen auch mehr in die digitale Infrastruktur in diesem Land investieren. ({7}) Auch das wird Teil der Aufgabe sein: mit öffentlichem Anstoß privates Kapital in den Ausbau von Breitbandinfrastruktur gerade in ländlichen Räumen in Deutschland zu bringen. Nächster Punkt: die Frage der Internationalisierung. Es ist vorhin angesprochen worden: Wir sind Exportvizeweltmeister. Wir dürfen nicht vernagelt sein. Wir müssen auch darüber reden, wie die Regeln für einen fairen und freien Welthandel gestaltet werden. Das sind schwierige Debatten, die wir in Sachen CETA und TTIP zu führen haben. Aber wir stellen uns den Debatten. Ich finde, man hätte auch einmal anerkennen können, dass wir diesen kritischen Diskurs miteinander führen und aushalten. ({8}) An einem Punkt - da beißt die Maus keinen Faden ab - dürfen wir nicht national vernagelt sein. Man muss sich die Entwicklung in Fernost einfach einmal anschauen, um zu begreifen, dass auch unsere Interessen berührt sind. Es geht darum, welchen Zugang deutsche Unternehmen, vor allen Dingen mittelständische Unternehmen, auf den Märkten der Welt haben, wenn darüber verhandelt wird, Zollgrenzen einzureißen und auch nichttarifäre Handelshemmnisse zu beseitigen. Das ist in unserem Interesse, und auch das ist wirtschaftlich vernünftig. Der Kollege Krischer hat vorhin über Energiepolitik gesprochen. ({9}) Wir haben noch genug Gelegenheit in diesem Jahr, über Energiepolitik zu diskutieren. Ich finde, Oliver Krischer, es ist auch nicht unehrenhaft, wenn man Prognosen, die man bei Reden hier im Bundestag sozusagen im Überschwang abgegeben hat, was den Ausbau der erneuerbaren Energien betrifft, einfach einmal korrigiert und Zahlen zur Kenntnis nimmt. ({10}) Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht in diesem Land kräftig weiter. Aber es geht nicht darum, einfach nur kräftig Gas zu geben, sondern es geht darum, das System vernünftig weiterzuentwickeln. Die Frage der Bezahlbarkeit scheint die Grünen nicht so richtig zu interessieren, wenn es um die Energiewende geht. Das unterscheidet uns möglicherweise. ({11}) Hubertus Heil ({12}) Wir wollen eine sichere, aber auch eine saubere und bezahlbare Energieversorgung in diesem Land. ({13}) Das ist der Weg, den wir fortsetzen werden. Das ist wirtschaftlich vernünftig. Es ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes, dass wir die Energiewende miteinander hinbekommen. Da liegt viel Arbeit vor uns.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt: Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden nicht nachlassen, im Interesse unseres Landes weiter daran zu arbeiten, dass wir wettbewerbsfähig bleiben, dass wir erfolgreich bleiben und dass möglichst viele Menschen am Wohlstand in diesem Land teilhaben können. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung. Das heißt, es geht darum, einzuordnen: Was wurde erreicht? Wo stehen wir? Vor allem geht es um die Frage: Wo wollen wir hin? Das ist in diesem Jahreswirtschaftsbericht niedergelegt. Es sind Dutzende von Maßnahmen angesprochen worden, die wir in diesem Jahr anpacken wollen. Wir wollen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Wo stehen wir? Deutschland - die Vorredner haben das angesprochen - steht gut da. Noch vor wenigen Wochen und Monaten wurde uns von linker und grüner Seite gesagt: „Wir rutschen in eine Rezession, es geht abwärts, das Wirtschaftswachstum wird zum Erliegen kommen“, und anderes mehr. ({0}) Die Kassandrarufe habe ich heute nicht mehr gehört, Gott sei Dank, weil die Realität Sie mal wieder eines Besseren belehrt hat. Wir haben 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Noch vor wenigen Wochen war von maximal 1 Prozent die Rede, davon, dass es nach unten geht. Das Gegenteil ist der Fall. Das Konsumklima heute ist auf dem höchsten Stand seit 13 Jahren. Träger des Wachstums ist neben dem Export insbesondere die Binnenkonjunktur. Hohe Einkommenszuwächse - nominal und real - kommen bei den Menschen an. Sie haben Vertrauen in die Politik, in diese Regierung und investieren und konsumieren jetzt. Das ist das Ergebnis verantwortungsvoller Politik dieser Bundesregierung in den letzten Jahren. Was sind die Rahmenbedingungen, die wir verändern wollen, die wir angehen wollen, um uns noch besser zu machen, um uns auf die demografischen und die technologischen Herausforderungen noch besser einzustellen? Der digitale Wandel stellt uns vor große Herausforderungen. Wir haben in dieser Woche zusammen mit den Ländern den Startschuss gegeben für die Versteigerung von Frequenzen - es geht um die sogenannte Digitale Dividende II -, von Funkfrequenzen, die im analogen Bereich nicht mehr benötigt werden und jetzt im Rahmen des digitalen Wandels für den Breitbandausbau verwendet werden können. Das heißt, wir können über die Versteigerung der Funkfrequenzen einen Beitrag dazu leisten, die flächendeckende Versorgung mit 50 Megabit bis 2018 in Deutschland zu erreichen. 98 Prozent der Haushalte und 98 Prozent der Bundesbürger sollen mit diesen 50 Megabit versorgt werden. In keinem Bundesland sollen es weniger als 97 Prozent sein. Nicht nur flächendeckend in den Städten und Gemeinden, sondern auch entlang von Autobahnen und entlang von Schienentrassen soll dieser Breitbandausbau erfolgen. Er ist kein Selbstzweck; denn dieser Breitbandausbau ist notwendig für Industrie 4.0, für neue Anwendungen im Bereich der Mobilität. Selbstfahrende Autos werden nicht ohne Breitbandausbau und ohne eine entsprechende Netzinfrastruktur funktionieren. Deshalb arbeiten wir daran, dies entsprechend nach vorn zu bringen. ({1}) Jetzt sind die vermeintlichen Investitionslücken angesprochen worden. Da lohnt es sich, etwas genauer hinzusehen. In der Tat, wenn man die Zahlen oberflächlich betrachtet, dann hat Deutschland heute mit 17 Prozent ein niedrigeres Investitionsniveau im Vergleich zum Jahr 2000 und auch im Vergleich zu 20 Prozent im OECDDurchschnitt. Das heißt, es gibt eine vermeintliche Investitionslücke von 3 Prozent. Wenn man sich die Zahlen aber genau anschaut, wenn man beispielsweise sieht, dass in den 90er-Jahren vereinigungsbedingt bei uns viel gebaut wurde, und wenn man die Baubranche herausrechnet, dann gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, die beispielsweise im Baubereich noch Nachholbedarf haben, keine Investitionslücke. Das hat die Bundesbank jüngst klargestellt und dargestellt. Man muss sich das nur anschauen wollen und sich mit dem Thema beschäftigen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht weiter investieren wollen. Wir wollen jedoch nicht auf Pump investieren. Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Staaten sind unsere Investitionen nicht mehr schuldenfinanziert. Wir haben einen ausgeglichenen Haushalt, keine Neuverschuldung in 2014, keine Neuverschuldung in 2015, und trotzdem können wir 10 Milliarden Euro mehr investieren, als noch vor einem Jahr geplant war. Das ist solide Haushaltsfinanzierung, und das ist solides Investieren und nicht Investieren auf Pump. ({2}) Wir werden trotzdem weiter versuchen, privates Kapital für die Infrastruktur zu mobilisieren. Es gibt genug Geld auf der Welt. Warum sollte es nicht noch mehr in Deutschland investiert werden? Beispielsweise beim Ausbau der Stromnetze ist dies gelungen. Warum sollte es nicht auch an anderer Stelle, bei kommunaler Infrastruktur, bei Straßeninfrastruktur gelingen, dieses Geld nach Deutschland zu bringen? Das werden wir versuchen. Dann gilt es auf jeden Fall, Wachstumsfesseln der Bürokratie zu lösen. Da wird manches durcheinandergebracht. Zum einen begrüßen wir ausdrücklich das, was die Bundesregierung vorschlägt, nämlich das Prinzip „One in, one out“. Das heißt, dass zukünftig bei jedem zusätzlichen Bürokratieaufwand an anderer Stelle Bürokratie abgebaut werden muss. Wenn dies konsequent durchgehalten wird, dann haben wir viel erreicht. Dann wird nämlich nicht mehr weiter Bürokratie aufgebaut. Wir haben schon einmal, von 2005 bis 2013, einen Bürokratieabbau von 25 Prozent geschafft. Dieser schlägt sich natürlich entsprechend in Zahlen nieder. Dies kommt dem Arbeitsmarkt und der Wirtschaft zugute. Wir müssen den Mut haben, Dinge, bei denen wir über das Ziel hinausgeschossen sind, entsprechend zu korrigieren. In der Tat sind wir bei den Dokumentationspflichten, die jetzt im Rahmen des Mindestlohns eingeführt wurden, über das Ziel hinausgeschossen. ({3}) Es geht nicht darum, den Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro infrage zu stellen. ({4}) Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern. Mit der Einführung des Mindestlohns sind fast 10 Millionen Menschen in Deutschland von Dokumentationspflichten betroffen. Bis zu einem Schwellenwert des Einkommens in Höhe von 2 958 Euro muss die Arbeitszeit in vielen Branchen minutengenau, halbstundengenau dokumentiert werden. Dabei geht es aber nicht um den Mindestlohn; denn man müsste an 29 Tagen im Monat zwölf Stunden arbeiten, um mit dem Mindestlohn 2 958 Euro zu verdienen. ({5}) Es geht jetzt nicht darum, den Mindestlohn auszuhebeln, sondern es geht darum, Millionen von Menschen von unnötiger Bürokratie zu befreien. ({6}) Ich komme zum Minijobbereich. Die Minijobs sind ein Erfolg. Sie sind das größte Schwarzarbeitsbekämpfungsprogramm, das wir in den letzten 15 Jahren geschaffen haben. Diese Arbeitsplätze sind zusätzlich entstanden. Da von linker Seite vorhin gesagt wurde, die Reformen der letzten zehn Jahre hätten den Arbeitsmarkt zerrüttet, muss ich Sie fragen: Wo leben Sie denn? ({7}) Heute sind 6 Millionen Menschen mehr in Lohn und Brot - vor allem in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen - als 2005. Das ist die höchste Beschäftigung, die wir jemals in der Geschichte der Bundesrepublik hatten: mit den höchsten Einkommen, mit der größten Kaufkraft und den höchsten Reallohnzuwächsen. ({8}) Und Sie reden davon, es würde in diesem Land ungerecht zugehen. Das ist absolut nicht nachvollziehbar. ({9}) Wir werden Wachstumsfelder für unseren Binnenmarkt beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit den USA - TTIP ist schon angesprochen worden - erschließen. Wir werden in diesem Jahr auf nationaler Ebene die Freiräume schaffen, um den Einstieg in die Abmilderung der kalten Progression noch in dieser Legislaturperiode, nämlich 2016/2017, angehen zu können. Das sind Maßnahmen, die den Bürgern nutzen und die Wirtschaft nach vorne bringen. ({10}) Lassen Sie mich abschließend zum Thema Europa - auch das wurde schon angesprochen - noch etwas sagen. Viele Länder Europas befinden sich in einer schwierigen Situation. Nicht der Euro ist in einer Krise, sondern einige Länder der Europäischen Union befinden sich nach wie vor in einer Struktur- und Verschuldenskrise. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich, aber sie sind vor allem hausgemacht. Darauf muss an dieser Stelle hingewiesen werden. Wir sind alle solidarisch und haben Rettungsschirme aufgespannt, um Zeit zu gewinnen. Diese Zeit muss von den Ländern genutzt werden, um Strukturreformen vorzunehmen, die zu Wachstum und Innovationen führen. Dazu gibt es klare Vereinbarungen. „Pacta sunt servanda“ - das gilt für alle Länder in Europa, egal wer dort regiert. Dass dieses funktioniert, sehen wir in Irland, in Spanien und Portugal. Die Mühen haben sich dort gelohnt. ({11}) Bei allem Verständnis für das, was die Menschen in Griechenland aufgrund der Reformen an Entbehrungen, Belastungen und Mühsal zu ertragen haben, muss ich sagen: Wenn ich die Stimmen der letzten Tage höre, habe ich manchmal den Eindruck, dass Ursache und Wirkung verwechselt werden. Man kann dies mit folgender Situation vergleichen: Ein Alkoholiker, der ins Krankenhaus eingewiesen wird, damit sein schweres Leberleiden behandelt wird, schimpft darüber, dass es die Schuld des Arztes ist, dass er ins Krankenhaus musste und dort zu wenig Alkohol bekommt. Ich glaube, da wird manchmal Ursache und Wirkung verwechselt. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Pfeiffer!

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Es ist nicht akzeptabel, dass in einem Land Europas neu gewählte Mitglieder einer Regierung sagen, sie wollten das vierte Reich in die Knie zwingen und die nationale Souveränität und Würde wiederherstellen. Das ist nicht der Umgang, den wir im Europa der 28 im 21. Jahrhundert miteinander pflegen sollten. ({0}) Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden. Alles hat seine Grenzen. Insofern gilt es, in Europa Ruhe zu bewahren, Kurs zu halten und den eingeschlagenen erfolgreichen Weg weiterzugehen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrter Herr Wirtschaftsminister, Sie sind am Anfang Ihrer Rede auf Griechenland eingegangen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso Sie den Griechen eine Fortsetzung Ihrer Politik vorschreiben wollen, obwohl wir mittlerweile sehen, dass diese Politik, die den Griechen von außen aufoktroyiert wurde, gescheitert ist. Aufgrund dieser Politik, die in den letzten vier, fünf Jahren dem griechischen Volk von außen aufgedrängt wurde, ist in Griechenland die Wirtschaft um ein Viertel eingebrochen, ist die Arbeitslosigkeit angestiegen, sind die Löhne gesunken und dergleichen mehr. Ich muss das nicht alles hier aufzählen. Im Übrigen: Ein Wirtschaftseinbruch von 25 Prozent ist historisch nur vergleichbar mit der Großen Depression zu Beginn des letzten Jahrhunderts in den USA. Sie hat erhebliche politische Konsequenzen gezeitigt. Die Griechen haben sich jetzt gewehrt. Sie haben eine neue Regierung gewählt. Diese Regierung korrigiert im Kern unmenschliche Maßnahmen: Sie setzt in einem ersten Schritt zum Beispiel den Mindestlohn von 400 Euro auf 751 Euro herauf, in den Schulen will sie entlassene Lehrer wieder einstellen, auch Putzfrauen und dergleichen mehr. Das sind die ersten Schritte, und ich finde es mehr als begrüßenswert, dass sie jetzt von der neuen Regierung sehr schnell angegangen werden. ({0}) Mir ist vollkommen unverständlich, dass Sie das kritisieren. Ich sage noch einmal: Das ist beste sozialdemokratische Politik. Aber man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass die SPD das, was sozialdemokratische Politik ausmacht, schon seit langem vergessen hat. ({1}) Dann sagen Sie: Sie können es gerne machen, aber dann soll das nicht die Bevölkerung Europas bezahlen müssen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ich glaube, auch Sie kennen das Programm der neuen Regierung. Syriza - das ist eine der entscheidenden Neuerungen will zum ersten Mal etwas angehen, was sogar positiv ist und was die griechischen Regierungen in den letzten Jahren nicht getan haben - auch von außen wurde es den griechischen Regierungen nie als Bedingung vorgeschrieben -, nämlich Reiche und Vermögende in Griechenland heranzuziehen. Das Programm, das die Regierung momentan auflegt und mit dem die ersten Schritte zur Linderung der größten humanitären Krise unternommen werden, hat ein Volumen von 11 Milliarden Euro. Nach ihren eigenen Rechnungen hat Syriza es gegenfinanziert, indem sie Reiche und Vermögende - in Griechenland gibt es Reiche, die bisher von dieser Krise vollkommen ungeschoren geblieben sind - heranzieht. Es wäre verdienstvoll gewesen, wenn in den letzten Jahren bei den Auflagen, die von der deutschen Bundesregierung mittels der Troika gemacht worden sind, der griechischen Regierung aufoktroyiert worden wäre, die Reichen heranzuziehen. ({2}) Ich will noch einige Punkte zum Jahreswirtschaftsbericht sagen. Der wichtigste Punkt, über den überhaupt noch nicht geredet wurde, ist: Im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass das glorreiche Wachstum in Höhe von 1,5 Prozent in diesem Jahr erfordert, einen Außenhandelsüberschuss von über 200 Milliarden Euro zu generieren. Das heißt im Klartext - ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist, ob Sie es vielleicht so laufen lassen und stolz darauf sind -, dass Sie eine Politik betreiben, wonach Deutschland einen Überschuss von 200 Milliarden Euro erwirtschaftet, der zu den 1,8 Billionen Euro Überschuss, die seit 2000 entstanden sind, hinzukommt. Diese 1,8 Billionen Euro bzw. die neuen 200 Milliarden Euro bedeuten faktisch eine Verschuldung des Auslands, auch eine Verschuldung der anderen europäischen Partnerländer. Auf der anderen Seite sagen Sie immer: Die müssen ihre Verschuldung abbauen. Sie selbst praktizieren aber eine Politik - sie heißen sie gut, sie beschreiben sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht -, die zu einer weiteren Verschuldung Europas, der Krisenländer und der übrigen Welt beiträgt. Wie sollen es die betroffenen Ländern eigentlich jemals schaffen, von der Neuverschuldung he7772 runterzukommen, wenn Deutschland eine Politik betreibt, die zur Folge hat, dass die Binnenwirtschaft so schwach ist, dass am Ende immer wieder ein Außenhandelsüberschuss entsteht?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mein letzter Satz. - Wir brauchen eine Stärkung der Binnennachfrage, damit in Deutschland der Außenhandelsüberschuss endlich umgekehrt wird. Wir brauchen Außenhandelsdefizite und eine Stärkung der Binnennachfrage; denn nur so besteht die Chance, dass Verschuldung abgebaut wird. ({0}) Aber ich sehe an Ihrer Reaktion:

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, nein, Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum Schluss kommen.

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die einfachsten ökonomischen Zusammenhänge sind in diesem Hause nicht besonders verbreitet. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die deutsche Wirtschaft ist in guter Verfassung“ - so lautet ein Kernsatz des Jahreswirtschaftsberichts 2015. ({0}) Ein Garant dafür sind der deutsche Mittelstand und das Handwerk. Hierzu zählen 99 Prozent der Unternehmen in Deutschland. Hier werden nicht nur die meisten Arbeitnehmer beschäftigt, sondern auch die meisten jungen Menschen ausgebildet. Zudem findet im Mittelstand mehr als die Hälfte der Wertschöpfung statt. Dies muss, meine ich, Grund genug sein, uns speziell diesem Bereich wirtschaftspolitisch mehr zu widmen. Dabei darf es nicht darum gehen, dass wir die besseren Unternehmer sein möchten, sondern es muss darum gehen, dass wir die Rahmenbedingungen mittelstandsfreundlich gestalten, und natürlich hängen gerade im Mittelstand viele Aufträge davon ab, wie investitionsfreudig Bund, Länder und Kommunen sind. Deshalb ist es wichtig, dass wir mehr investieren. Der Anfang ist gemacht. Mit dem neuen EEG war unter anderem das Ziel verbunden, die stetig steigenden Energiekosten zu bremsen. Dies ist nicht nur für den Verbraucher wichtig, sondern auch für kleine und mittelständische Unternehmen; denn in Bäckereien oder in der mittelständischen textilverarbeitenden Industrie bilden die Stromkosten einen Großteil der Herstellungskosten. Auch die Zahlungsverzugsrichtlinie konnten wir mittelstandsfreundlich gestalten. Unternehmen haben nun einen rechtlichen Anspruch auf eine zügige Bezahlung ihrer Leistungen. ({1}) Die teilweise schlechte Zahlungsmoral von Großunternehmen, aber auch - das müssen wir zugeben - der öffentlichen Hand, haben bisher das eine oder andere kleinere Unternehmen in Schwierigkeiten gebracht. Dem treten wir mit dem neuen Gesetz entgegen. ({2}) Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung ist das Eckpunktepapier zum Bürokratieabbau. Darin ist unter anderem vorgesehen, Start-ups und Gründer in den ersten drei Jahren von Berichts- und Informationspflichten zu entlasten. Zudem sollen Anlaufstellen eingerichtet werden, bei denen Gründer alle nötigen Formalitäten elektronisch einreichen. Damit sparen sie mehrfache Antragstellung und somit viel Zeit. Wichtig ist aber, dass es nicht bei dem Eckpunktepapier bleibt, sondern dass die Maßnahmen zügig - möglichst in diesem Jahr - durch praxistaugliche Gesetze und Verordnungen umgesetzt werden. ({3}) Weitere Reformen - das wissen Sie - sind in der Pipeline, zum Beispiel das Insolvenzanfechtungsrecht, das gerade den Mittelstand betrifft. Nach unseren Vorstellungen soll die Frist verkürzt werden, in der ein Insolvenzverwalter Zahlungen zurückfordern kann. Damit gewährleisten wir die notwendige Planungssicherheit und erhalten übliche und wichtige Geschäftspraktiken wie Stundungen und Ratenzahlungen. Eine Herausforderung der nächsten Monate wird für uns die Neuregelung der Erbschaftsteuer sein. Betriebsübergänge dürfen durch die veränderten Regelungen nicht gefährdet werden. ({4}) Daher brauchen wir eine mittelstandsfreundliche Ausgestaltung. Gleiches gilt auch für das Vergaberecht. Mittelständische Unternehmen müssen eine reelle Chance haben, bei öffentlichen Aufträgen zum Zug zu kommen. Der Jahreswirtschaftsbericht geht auf eine weitere Aufgabe ein, die vor uns liegt - wir hatten das Thema heute schon -, auf den Fachkräftemangel, der sich, wenn auch nicht in allen, so doch in einigen Branchen schon abzeichnet. Auch diesbezüglich waren Regierung und Koalitionsfraktionen nicht untätig. Mit Investitionen in Bildung, in den Kitaausbau sowie die Nach- und Weiterqualifizierung treten wir ihm entgegen. In unserem Koalitionsantrag, den wir vor einem Monat hier beraten haben, stellen wir zudem klar, dass der Meisterbrief für uns nicht zur Disposition steht; denn der Meisterbrief steht für gut ausgebildete Fachkräfte, die Deutschland braucht, um nachhaltig, innovativ und wettbewerbsfähig zu sein. ({5}) Wir müssen in diesem Zusammenhang aber auch dafür sorgen, dass akademische und nichtakademische Bildung gleichgesetzt werden. Das Aufstiegsfortbildungsgesetz bzw. das sogenannte Meister-BAföG muss daher reformiert werden. Wir müssen stärkere Anreize für Weiterbildung setzen, aber wir müssen auch bestehende Ungleichheiten auflösen. Die Streichung der Studiengebühren muss eine Entlastung bei der Fortbildung für Meister und Techniker nach sich ziehen. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Extra langsam für Sie! - Für Herrn Pfeiffer spreche ich extra langsam. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, Sie haben gestern im Wirtschaftsausschuss ein Bild benutzt, das mir eigentlich ganz gut gefallen hat und das ich Ihnen deshalb heute klauen möchte. Sie haben gesagt, dass die EZB, dass Mario Draghi in der europäischen Wirtschaftspolitik, im Kampf gegen die erschreckende Preisentwicklung in Europa, im Kampf gegen sinkende Preise zum Last Man Standing in Europa geworden ist. Ich muss Ihnen sagen: Das stimmt. Wenn die EZB ihr letztes geldpolitisches Instrument einsetzt und Staatsanleihen ankauft, dann macht sie das nicht, weil sie das super findet, sondern weil sonst wirklich niemand in Europa etwas Wirksames gegen die Deflationstendenzen, gegen die Gefahr dauerhaft stagnierender oder sogar fallender Preise und gegen eine dauerhafte Lähmung der Konjunktur tut. ({1}) Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich finde es richtig, dass Sie diese Situation mit Besorgnis betrachten, wie Sie das gestern im Wirtschaftsausschuss gesagt haben. Wir können wirklich nur hoffen, dass die Maßnahmen der EZB wirken und Europa nicht in eine Deflation rutscht. Erstaunlich finde ich aber, dass solche Worte von der Bundesregierung kommen; denn in diesem Spiel sind Sie einer der Akteure, die Mario Draghi in seiner Politik unterstützen könnten. Wenn Mario Draghi der Last Man Standing ist, dann frage ich: Warum stellt sich die Bundesregierung nicht einfach neben ihn? ({2}) Sie könnten - das wäre dringend notwendig - eine aktive Fiskalpolitik betreiben. Aber statt eine starke Rolle in Europa einzunehmen, statt als deutsche Bundesregierung voranzugehen, bleiben Sie auf Ihrer Insel sitzen und ignorieren die Mahnungen und die Forderungen nach mehr Investitionen. Jetzt hat Herr Juncker einen ersten Vorschlag für einen Europäischen Investitionsfonds vorgelegt. Das ist erst einmal eine Chance für uns in Europa, darüber zu diskutieren, dass Investitionen in Europa notwendig sind. Doch statt dafür zu sorgen, dass in den Bereichen Forschung, Bildung und Klimaschutz europäische Projekte finanziert werden, statt Vorschläge für eine vernünftige Wirtschaftspolitik, für die Bekämpfung von Steuerflucht, für den Abbau umweltschädlicher Investitionen und für nachhaltige Investitionen zu unterbreiten, statt Geld in die Hand zu nehmen, mit dem der Europäische Investitionsfonds wirklich unterstützt werden könnte, statt dafür zu kämpfen, dass die Mittel in die Länder fließen, in denen sie wirklich gebraucht werden, statt dafür zu sorgen, dass es öffentliche Investitionen gibt, schicken Sie auf die Schnelle eine merkwürdige 90-Milliarden-Euro-Liste nach Brüssel - ohne Plan und ohne roten Faden -, die Ihnen selbst gestern im Ausschuss so peinlich war, dass Sie sie uns nicht erklären wollten. ({3}) Jetzt zum Thema TTIP, weil das in der Debatte eine große Rolle gespielt hat. ({4}) Ich erwarte von Ihnen als Bundesregierung schon, dass Sie nicht einfach so, aus Angst vor der Konkurrenz aus China oder anderen asiatischen Ländern in ein Handelsabkommen stolpern, das Sie nicht gestalten können und für das Sie keinen Plan haben. ({5}) Ihr Auftritt hier im Bundestag hat mit Gestalten ebenso wenig etwas zu tun, wie Ihre Wirtschaftspolitik etwas mit Zukunft zu tun hat. ({6}) Sie stolpern seit einem Jahr durch das Parlament und versprechen uns, dass Sie die Standards schützen wollen. Sie wissen aber nicht, wie. Sie sagen, dass Sie Probleme mit dem Investitionsschutzabkommen haben - die einen mehr, die anderen weniger. Sie wollen das irgendwie gerne raushaben, wissen aber nicht, wie Sie das hinkriegen können. Sie, liebe CDU/CSU, wollen die Bürgerinnen und Bürger von einem Projekt überzeugen, indem Ihre Kollegen hier im Deutschen Bundestag die Bürger, die sich beteiligen, die kritische Stellungnahmen abgeben, als Empörungsindustrie beschimpfen. Ich sage Ihnen: Viel Glück mit dieser Politik. ({7}) Liebe Bundesregierung, statt sich aus Angst vor einem drohenden Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit in ein Handelsabkommen zu flüchten, das Sie nicht gestalten können und für das Sie auch keinen Plan haben, sollten Sie die Chance nutzen, die deutsche Wirtschaft und den internationalen Handel tatsächlich zukunftsfähig zu gestalten. ({8}) Wenn Sie die Förderung erneuerbarer Energien oder den Klimaschutz als Priorität definieren würden, dann würden Sie etwas für die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standortes tun. Wenn Sie in die Infrastruktur investieren würden, die in diesem Land verrottet, dann würden Sie etwas für die Zukunft Deutschlands tun. Wenn Sie endlich genug Geld für Bildung und für die Betreuung von Kindern in die Hand nehmen würden, dann würden Sie Deutschland zukunftsfähig machen. All das tun Sie nicht. ({9}) Auf internationaler Ebene machen Sie dies auch nicht. Statt sich für vernünftige Klimaschutzziele einzusetzen, statt sich für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards oder für die Zertifizierung von ILO-Kernarbeitsnormen einzusetzen, verhandeln Sie Handelsabkommen, die sich einseitig auf Deregulierung, auf den Abbau von Standards und auf Investitionsschutzabkommen konzentrieren. Das alles ist keine vernünftige zukunftsfähige Politik, weder in Deutschland noch in Europa. Da haben Sie Ihren eigenen Arbeitsauftrag einfach verfehlt. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade überlegt, Frau Dröge, wenn Herr Krischer der Pinocchio ist, was dann die weibliche Form wäre. Wir sind auf Pinocchia gekommen. Diese Diskussion können wir ja beizeiten noch vertiefen. ({0}) 86 Prozent der Deutschen blicken laut einer Studie optimistisch in die Zukunft. Schaut man sich die Zahlen der wirtschaftlichen Entwicklung an, dann sieht man, dass die Menschen in Deutschland zu Recht optimistisch sind. Doch die größte Gefahr für die Zukunft ist bekanntlich der Erfolg der Gegenwart. Wir müssen also jetzt die Grundlagen für eine langfristig positive wirtschaftliche Entwicklung legen. Die Investitionen von heute sind das Fundament für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze von morgen. ({1}) Deshalb trägt der Jahreswirtschaftsbericht nicht grundlos den Titel: Investieren in Deutschlands und Europas Zukunft. Die deutsche Wirtschaft konnte den zahlreichen geopolitischen Krisen des vergangenen Jahres trotzen und stieg real um 1,5 Prozent. Die Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung ist weiter positiv. Dazu trägt auch der gesunkene Rohölpreis bei, der voraussichtlich für Einsparungen von rund 30 Milliarden Euro sorgen wird. Auch deshalb erhöht die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose für 2015 auf 1,5 Prozent. Deutschland ist damit weiter der Stabilitätsanker in Europa. Die Zahl der Beschäftigten steigt 2015 vermutlich um 170 000. Damit stehen wir vor einem erneuten Beschäftigungsrekord. 2015 werden 42,8 Millionen Menschen erwerbstätig sein, so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Vor allem gilt es dabei zu betonen, dass auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in der letzten Dekade angestiegen ist. Mehr als 3,5 Millionen Menschen haben seit 2005 einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz angenommen. Auf diese Entwicklung können wir stolz sein. ({2}) Besonders stark stieg der Anteil der Beschäftigung von ausländischen Mitbürgern. Diese trugen im letzten Jahr zu annähernd 40 Prozent des Beschäftigungswachstums bei. Die Bekämpfung von Missbrauch beim Bezug von Sozialleistungen durch EU-Ausländer in Deutschland bleibt jedoch gerade auch deshalb richtig. Ebenso wichtig ist das Bekenntnis zu einem flexiblen Arbeitsmarkt. Trotz der hohen Flexibilität unseres Arbeitsmarktes stieg das Vertrauen in die Jobsicherheit auf ein Rekordniveau. 91 Prozent halten ihren Arbeitsplatz für sicher. Flexibilität und Vertrauen müssen also kein Gegensatz sein. Mit einem Bruttolohnzuwachs von 3,2 Prozent und einem Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent haben wir den größten Lohnzuwachs seit 2010. Die Lohnentwicklung trägt so wesentlich zu einem höheren Binnenkonsum bei. Bei der letzten Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts, des Jahreswirtschaftsberichts 2014 im letzten Jahr, meinte der Bundeswirtschaftsminister noch, man müsse bei der Lohnentwicklung die Produktivität beachten. „Verkehrte Welt“ titelten damals die Zeitungen. Diese Feststellung ist schlicht richtig. Wir übernehmen in diesem Jahr gerne den Hinweis, dass die Lohnstückkosten moderat steigen und wir diese Entwicklung hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit beobachten müssen. Allerdings sind wir uns auch hier einig. Das haben wir gestern im Ausschuss schon besprochen. Jetzt müssen wir nur noch die Opposition davon überzeugen. ({3}) Dann sind wir schon ein Stück weiter. Um Wohlstand und Beschäftigung zu sichern, brauchen wir Investitionen in die Zukunft. Hierzu tragen die verstärkten Investitionen des Bundes in die öffentliche Infrastruktur bei. Tausende Kilometer Straßen, Schienen und Wasserwege werden schwerpunktmäßig instand gehalten und verbessert. In den Jahren 2014 bis 2017 stellt der Bund insgesamt 5 Milliarden Euro zusätzlich für den Erhalt und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung. Allein für 2015 haben wir den Verkehrshaushalt um weitere 410 Millionen Euro erhöht. Ja, Frau Andreae, auch die Pkw-Maut wird zur stärkeren Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur beitragen; auch darauf können wir stolz sein. ({4}) Von 2016 bis 2018 stellt der Bund zusätzliche Mittel in Höhe von 10 Milliarden Euro für weitere Investitionen zur Verfügung. Diese müssen zielgerichtet in nachhaltige Wohlstandstreiber investiert werden. Dazu gehören vor allem Investitionen in Infrastruktur, Energieeffizienz und Digitalisierung. Auch Formen der öffentlich-privaten Partnerschaften sollten nicht verteufelt werden. Dabei muss natürlich ein Rahmen geschaffen werden, der langfristige Rechtssicherheit für beide Vertragsparteien gewährleistet. ({5}) Auch die Unternehmen sind gefordert. Es geht am Ende um mehr Investitionen für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Es nutzt insgesamt jedoch wenig, durch konkrete Maßnahmen private Investitionen zu fördern, wenn Unternehmen Zweifel an der grundsätzlichen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik haben. Auch deshalb ist es wichtig, eine unternehmensfreundliche Regelung im Hinblick auf die anstehende Änderung bei der Erbschaftsteuer zu treffen, und dies möglichst ohne bürokratischen Mehraufwand. Die Aufzeichnungspflichten bei der Umsetzung des Mindestlohns - wir haben das vorhin schon gehört - schießen in vielen Fällen über das Ziel hinaus. Ich danke dem Minister, dass er einer Überprüfung zustimmt. Wir dürfen unsere Unternehmer nicht unter staatlichen Generalverdacht stellen. ({6}) Genauso wichtig wie der Bürokratieabbau ist es, dass wir keine neue Bürokratie aufbauen. ({7}) Das gilt für Pläne hinsichtlich einer Anti-Stress-Verordnung, die abzulehnen sind, genauso wie für die anstehende Arbeitsstättenverordnung. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir in Bildung, insbesondere in die berufliche Bildung, investieren, dann sind auch dies Zukunftsinvestitionen. Eine solide Fachkräftebasis ist die Grundlage für Wachstum und Investitionen. Eine Ausbildung ist dabei nicht schlechter als ein Studium; das kann man nicht oft genug betonen. Unser betriebliches Ausbildungssystem ist jedem anderen Ausbildungssystem überlegen. Die Ausbildungsinhalte richten sich nach dem betrieblichen Bedarf. Was vermittelt wird, wird auch gebraucht. In Anbetracht der demografischen Entwicklung dürfen wir auf keinen Schulabgänger verzichten. Jeder Mensch ist uns wichtig. ({9}) Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag eine Ausbildungsgarantie für jeden Jugendlichen abgegeben. Diese wird im Rahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildung eingelöst. Die renditestärksten Investitionen sind im Bereich der Innovation, der Digitalisierung und der Hochtechnologie zu erwarten. Deshalb ist es wichtig, den Rahmen für Unternehmensgründungen weiter zu stärken. Wir müssen durch gezielte Förderung von Wagniskapital Wachstumsfinanzierungen ermöglichen. Der ausgeglichene Haushalt 2015 bzw. schon 2014 ist eine historische Leistung. Langfristig entstehen so Spielräume für mehr staatliche Investitionen. Darüber hinaus werden die Länder und Kommunen entlastet. So werden auch deren Investitionsspielräume erhöht. Der ausgeglichene Haushalt ist ein Beitrag zu einer generationengerechten Politik. Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen bedürfen einer Neuregelung. In diesem Zusammenhang gilt es, auch den Länderfinanzausgleich in einer Weise zu ändern, dass die richtigen Anreize für mehr Eigenverantwortung gesetzt werden. Steuervereinfachung bleibt ein Dauerthema. Wünschenswert wäre dabei auch eine Steuerstrukturreform. Es ist zu begrüßen, dass im Jahreswirtschaftsbericht erstmalig das Ziel des Abbaus der kalten Progression genannt wird. Ziel muss es sein, dass wir hier noch in dieser Legislaturperiode Fortschritte erzielen. Die Unternehmen brauchen einen berechenbaren Rahmen hinsichtlich der Entwicklung der Energiepreise. Maßstab ist das energiepolitische Dreieck einer umweltverträglichen, sicheren, aber eben auch bezahlbaren Energieversorgung. Das neue Strommarktdesign wird in puncto Versorgungssicherheit einen entscheidenden Schritt bringen. Wir sollten hier Mut zu marktwirtschaftlichen Ansätzen zeigen. Für den Wohlstand und die Lebensqualität der Menschen in Deutschland und Europa ist nicht nur ein dynamisches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts entscheidend, sondern auch gesellschaftlicher Zusammenhalt und eine nachhaltige Entwicklung, heißt es treffend im Jahreswirtschaftsbericht. Die geopolitischen Krisenherde bergen erhebliche Risiken, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ebenso treibt die Menschen die Frage nach der Stabilität unserer Währung um. Auch deshalb müssen die Strukturreformen in den Krisenländern weitergehen. Gleichzeitig müssen wir die europäischen Strukturen stärken, und zwar mehr denn je. Es gilt, den Blick in die Zukunft zu richten. Ludwig Erhard sagte: Den Wohlstand zu bewahren, ist noch schwerer, als ihn zu erwerben. - Mit dem Jahreswirtschaftsbericht schaffen wir die Basis dafür, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Packen wir’s an! Herzlichen Dank. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Dirk Becker. ({0})

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich mich mit dem Kernthema befasse, möchte ich doch noch mal ganz kurz auf den Kollegen Schlecht eingehen. Herr Schlecht - wenn Sie mir kurz zuhören könnten, wäre das nett -, Sie haben sich in der Debatte zweimal veranlasst gesehen, die Sozialdemokraten an ihre Werte zu erinnern, haben uns vorgeworfen, dass wir unsere Werte teilweise verloren hätten. Wenn ich mir angucke, mit welchen Argumenten Sie zu relativieren versuchen, was da in Griechenland passiert, kann ich Ihnen als Beispiel für unsere sozialdemokratischen Werte nur mit auf den Weg geben: Als eine unserer Schwesterparteien mit Rechten eine Koalition gebildet hat, haben wir sie aus der europäischen Familie der Sozialdemokraten ausgeschlossen. Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen! Oder sind Sie auf dem rechten Auge blind? ({0}) - Wir können das gleich diskutieren. Ich möchte zum Jahreswirtschaftsbericht kommen. Ich danke dem Wirtschaftsminister, der heute - ich glaube, für uns alle - klargemacht hat, was die Gründe für diese robuste wirtschaftliche Situation sind, aber auch auf die Risiken und auf die Herausforderungen hingewiesen hat. Ich will nur vier Punkte im Kontext der letzten zehn Jahre erwähnen: Da wären die Arbeitsmarktreformen, die gerade für Sozialdemokraten schwierig waren, die auch teilweise fehlerbehaftet waren. Es gibt Fehler, die wir korrigiert haben, und Fehler, die wir aktuell noch korrigieren. ({1}) Wir haben in Zeiten der letzten Großen Koalition, als wir in der Wirtschaftskrise waren, reagiert: Wir haben investiert. Wir haben dem Arbeitsmarkt durch die Verlängerung des Bezugs von Kurzarbeitergeld wichtige Impulse gegeben. Wir haben im Weiteren eine Konsolidierung des Staatshaushaltes vorangetrieben; wir haben jetzt eine Basis, auf der wir aufbauen können. Wir haben aber auch die Nachfrage gestärkt. Wir haben erkannt: Ja, die Binnennachfrage muss gestärkt werden. Wir haben das durch bessere Lohnabschlüsse, aber auch durch den Mindestlohn und eine entsprechende Rentenpolitik hinbekommen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer vorausschauend betrachtet: Wie müssen wir Deutschland aufstellen, um weiter erfolgreich wirtschaften zu können? Ich will auf ein paar Bereiche eingehen - einige sind schon angeklungen -, die diese Große Koalition in den nächsten Jahren beschäftigen werden, wo wir die Weichen für die Zukunft stellen wollen: Dass die Investitionstätigkeit mangelhaft ist, ist mehrfach angeklungen. Herr Minister, ich danke Ihnen und auch dem Finanzminister, dass Sie nun gemeinsam dabei sind, bis, ich glaube, Ende März in einer Arbeitsgruppe Vorschläge zu diesem Bereich zu erarbeiten. Wir werden uns damit auseinandersetzen. Das ist ein wichtiges Signal für die Kommunen. Wir wissen schließlich: Der wichtigste Investitionsbereich sind die Kommunen. Wir werden die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Investitionsmöglichkeiten der Kommunen gestärkt werden. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich ({0}) von der Fraktion Die Linke?

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ich verstehe, dass Fragen an die neue griechische Koalition gerichtet werden, weil das ja keine Selbstverständlichkeit ist.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe da keine Fragen.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Sie haben dazu ja eine klare Haltung formuliert, die allerdings nicht auf dem Blick in die eigene Vergangenheit basiert. Es war ja die Pasok, also Ihr sozialdemokratischer Partner, die im griechischen Kabinett im Jahr 2012 mit der Partei Laos - einer rechtspopulistischen, zum Teil sogar ultrarechten Partei - zusammen regiert hat. Das heißt, diese Diskussionen, die wir hier führen müssen, die wir auch führen, sollten Sie nicht vom hohen Ross herunter führen.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mache ich auch nicht.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielmehr sollten Sie sich Ihre eigene Geschichte in Griechenland anschauen. Da gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Aber diesen Aspekt wollte ich hier wenigstens hinzugefügt haben. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Liebich, erwarten Sie eine Antwort?

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, bitte.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Dann bleiben Sie bitte stehen. - Bitte schön.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Liebich, ich habe Folgendes getan: Herr Schlecht hat hier versucht, an unsere Werte zu erinnern. ({0}) Und ein Grundwert der Sozialdemokratie ist, dass wir Rechtspopulisten in unserer Geschichte immer eine Absage erteilt haben. ({1}) Meine Frage war nur noch: Was haben Sie unternommen? Haben Sie mit Ihren griechischen Brüdern und Schwestern einmal gesprochen, haben gesagt: „Leute, das ist ein Problem“? Die Aussage, die Herr Ernst gemacht hat, war nur: Sonst hätte es Neuwahlen geben müssen. - Ich finde, das ist ein relativ schwaches Argument. ({2}) Wir wollen jetzt weiter über den Jahreswirtschaftsbericht reden ({3}) und über die Frage: Wie geht es in diesem Land weiter? Ich habe die Investitionen angesprochen. Das zweite Thema ist: Wie sichern wir, dass hinreichend qualifizierte Beschäftigte für unsere Unternehmen zur Verfügung stehen? Denn anders als die Linkspartei wünschen wir uns kein Außenhandelsdefizit, sondern wir wissen: Eine Stärke der deutschen Unternehmen, der deutschen Industrie, ist der Außenhandel. Von daher, Herr Schlecht: Wir sehen es anders, und daher wollen wir auch in bessere Bildung und in Arbeitskräfte investieren. ({4}) Das heißt aber auch, dass wir - wie schon in den letzten Jahren; der Kollege Lenz hat das eben angesprochen Zuwanderung brauchen, diese Menschen qualifizieren müssen, um bei den Arbeitskräften unsere Möglichkeiten zu erhalten. Ich finde es ganz interessant für die Debatte: Wenn man sich die Zahlen anguckt, muss man zur Kenntnis nehmen, dass auch die sozialen Sicherungssysteme in unserem Land von der Zuwanderung profitiert haben. ({5}) Wir haben auch unsere sozialen Sicherungssysteme durch Zuwanderung zukunftsfest gemacht.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Lieber Herr Kollege Becker, darf ich noch einmal unterbrechen? Der Herr Kollege Schlecht würde Ihnen gern noch eine Frage stellen.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, wenn es wieder um Griechenland geht. Ich rede jetzt zum Jahreswirtschaftsbericht weiter. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Nein, nein, zur Wirtschaft, hat er gesagt, nicht zu Griechenland.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn er zum Wirtschaftsthema fragt, dann lasse ich es zu. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön, Herr Kollege Schlecht.

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das finde ich jetzt sehr nett, dass Sie mir die Zwischenfrage ermöglichen. - Sie sprachen eben über das Problem des Außenhandelsüberschusses oder des Außenhandelsdefizits. Ich will Sie noch einmal darauf hinweisen: Deutschland erzielt ungefähr seit dem Jahr 2000 Jahr für Jahr einen Außenhandelsüberschuss. Deutschland verkauft dem Rest der Welt jedes Jahr mehr Waren und Dienstleistungen, als Deutschland aus dem Ausland kauft. ({0}) Mit dem voraussichtlichen Außenhandelsüberschuss von 200 Milliarden Euro in diesem Jahr werden wir am Ende dieses Jahres kumuliert - also aufsummiert seit 2000 einen Außenhandelsüberschuss von 2 Billionen Euro haben. Das heißt, wenn Deutschland in diesen 15 Jahren im Ausland für 2 Billionen Euro mehr verkauft, als es von denen kauft: Womit sollen die denn unseren Überschuss überhaupt bezahlen? Sind Sie denn mit mir nicht einer Meinung, dass das Ausland diesen Überschuss nur mit einer permanenten Verschuldung bei uns überhaupt bezahlen kann? Glauben Sie, dass ein derartiges Außenhandelsungleichgewicht langfristig wirklich störungsfrei bleiben kann? Wenn Sie mir dann antworten, würde ich Sie zuvor gern noch an das Stabilitätsgesetz von 1968 - glaube ich von Karl Schiller ({1}) - oder von 1967 - erinnern, in dem festgelegt wurde, dass wir auf längere Sicht ein Außenhandelsgleichgewicht brauchen. Wir sollten also nicht über 15 Jahre beständige Überschüsse von - ich sage es noch einmal 2 Billionen Euro auflaufen lassen. Das ist ja ein Betrag, den sich kaum jemand vorstellen kann. Danke schön. ({2})

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schlecht, ich habe ein einigermaßen gutes Gedächtnis. Eine ähnliche Frage haben Sie dem Wirtschaftsminister vor ungefähr einem Jahr im Wirtschaftsausschuss gestellt. Der Wirtschaftsminister hat damals gesagt: Ja, wir wollen die Binnennachfrage, bei der wir Defizite haben, stärken, die Nachfrage im Inland also voranbringen. ({0}) Das haben wir geschafft. ({1}) Er hat auch gesagt, dass wir natürlich auch darauf achten müssen, dass wir den Überschuss, den wir nach wie vor haben, nicht ausufern lassen, und dass wir verantwortungsvoll damit umgehen. Aber noch einmal: Wir sind nicht in einer weltweiten Planwirtschaft. Es gibt eine starke Nachfrage nach deutschen Produkten, und das ist eine Stärke unseres Landes. ({2}) Nur wenn die Wirtschaft erfolgreich ist, haben wir das Geld, um das zu finanzieren, was auch Sie von uns fordern. Man kann nicht das eine nicht wollen und alles andere fordern. ({3}) Wir wollen dafür sorgen, dass Deutschland als Exportnation erfolgreich bleibt, damit die Menschen in diesem Land Arbeit haben. ({4}) Zurück zu den Herausforderungen. Neben den Fachkräften - ich habe das eben angesprochen - und den Investitionen müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die Versorgung der deutschen Industrie mit Ressourcen in Zukunft sicherstellen können. Wir kennen die Probleme - Stichworte: Ressourcenverantwortung und Ressourcenverwertung. Ich denke, wir haben hier wichtige Dinge zu regeln. Aufgrund der Zeit kann ich nur noch einen letzten Punkt kurz ansprechen: Wir wollen unter Beweis stellen, dass in einem Industrieland eine Energiewende möglich ist. Von daher ist der Bundeswirtschaftsminister dabei, diese Energiewende mit Augenmaß zum Ziel zu führen und bis 2050 umzusetzen, ({5}) ohne dass wir die Stärke der deutschen Wirtschaft in Gefahr bringen. So und nicht anders sieht eine verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik aus. Vielen Dank. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege Andreas Lämmel das Wort. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den Grünen, es ist Mist, wenn man in der Opposition sitzt. Selbst bei besten Wirtschaftsdaten muss man die Regierung irgendwie kritisieren und an allen Dingen herumnörgeln, die überhaupt gar keinen Grund dafür geben. Das tut mir zwar sehr leid, aber das ist nun einmal Ihre Rolle. Man kann hier auch nichts anderes erwarten; das wissen wir ja. Wir haben das auch gestern im Ausschuss schon erlebt. Dort mussten wir einiges über uns ergehen lassen. ({0}) Herr Schlecht, Ihr Name ist Programm. ({1}) Wenn man Ihre Reden hört, dann wird einem schlecht. ({2}) Dazu nur eines: Sie haben die neue griechische Regierung so gelobt, weil sie Lehrer einstellt, Tausende Beamte zurückholen will und weitere Großtaten plant. Eines haben Sie aber nicht beantwortet, nämlich die Frage, woher das Geld dafür kommen soll. Sie arbeiten ja nicht umsonst. Aber ich kann Ihnen da einen Tipp geben, wissen Sie? Am besten reden Sie noch einmal mit Ihrem Kollegen Gysi. Er soll wissen, wohin das ganze SED-Vermögen verschwunden ist. ({3}) Das könnten Sie Ihren Genossinnen und Genossen in Griechenland doch zur Verfügung stellen. Damit könnten sie diese Leistungen auch bezahlen. ({4}) Sie können aber nicht davon ausgehen, dass der deutsche Steuerzahler das bezahlen wird, was Sie vorschlagen und wozu Sie sagen: Es ist wunderbar, dass die neue Regierung Griechenlands genau das tut. ({5}) Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht hat ja eigentlich zwei Funktionen: Zum einen wird noch einmal auf die wirtschaftliche Lage zurückgeblickt, zum anderen wird ein Ausblick auf das gegeben, was die Regierung in den nächsten Monaten beabsichtigt, zu tun, um die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland voranzubringen. Von den Oppositionsrednern habe ich überhaupt nichts dazu gehört, wie sie die Maßnahmen der Bundesregierung einschätzen. ({6}) Wahrscheinlich ist Ihnen entgangen, dass es zu dem Jahreswirtschaftsbericht noch den Anhang „Maßnahmen der Bundesregierung“ gibt. Darauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen. Daraus muss ich schließen, dass Sie bei Ihrem Studium des Jahreswirtschaftsberichts nur bis zur Seite 10 gekommen sind. Auf diese Maßnahmen möchte ich noch eingehen, weil sie die Grundlage für den zukünftigen Erfolg Deutschlands sein werden: In diesem Maßnahmenkatalog finden sich zwei Themen sehr stark wieder: Das eine Thema ist Digitalisierung; darauf ist heute schon verschiedentlich eingegangen worden. Die Digitalisierung der Wirtschaft, aber genauso die Digitalisierung der Verwaltung sind für mich genau die Felder, auf denen sich der zukünftige Erfolg Deutschlands entscheiden wird. Schauen wir uns das einmal an: Wir haben in den letzten Jahren große Projekte auf den Weg gebracht. Ein Stichwort ist die Gesundheitskarte. Das Verfahren läuft bis heute noch nicht reibungslos. ({7}) Wir haben als anderes großes Projekt den elektronischen Personalausweis eingeführt. Mit den vielen Funktionen, die dieser Personalausweis haben sollte, sollten eine Vereinfachung und eine Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen einhergehen. Diese großen Projekte, die mit großen Hoffnungen verbunden waren, wurden zumindest bisher nicht zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Das darf natürlich bei den weiteren Projekten der Digitalisierung nicht passieren. So wie die Projekte vorangehen, ist das einfach zu langsam. Ich nenne hier das Stichwort „Störerhaftung bei öffentlichen WLAN-Netzen“. Es ist doch kein Zustand, dass wir schon seit Jahren über das Thema diskutieren und die Nutzung der öffentlichen WLANNetze blockiert wird. ({8}) - Ihre Ideen lassen wir einmal außen vor. ({9}) Sie wollen ja immer noch, dass andere die Kommunikation in öffentlichen WLAN-Netzen mithören. Das wollen wir nicht. ({10}) Noch einmal: Wir müssen jetzt sehen, dass wir diese Prozesse beschleunigen. Dass wir das können und dass wir solche Projekte gut voranbringen können, zeigt sich bei der Versteigerung der Frequenzen für das mobile Internet, die wir am Montag beschlossen haben. Hier ist Deutschland spitze. Hieraus entstehen viele neue Geschäftsmodelle und viele neue Ideen für die Neugründungen von Firmen. Deswegen müssen die Digitalisierung der Volkswirtschaft und die Digitalisierung der Verwaltung im Vordergrund unserer Überlegungen stehen. Das zweite Thema, das heute kurz in verschiedenen Facetten angesprochen wurde, ist die Außenwirtschaft. Wir sind Exportweltmeister. Wenn man es auf das Volu7780 men umrechnet, werden wir manchmal von China überholt. Wenn man es aber auf die Exportleistung pro Kopf der Bevölkerung umrechnet, dann sieht man: Deutschland ist eindeutig Exportweltmeister. Dadurch sind wir aber auch von großen Absatzgebieten abhängig. Natürlich sind China und andere asiatische Länder ein großer Markt für deutsche Firmen. Wenn in China die Konjunktur schwächelt, dann schwächelt bei uns der Export. Wir müssen also neue Exportmärkte erschließen. ({11}) Ich denke zum Beispiel an einen Kontinent, der in der wirtschaftlichen Debatte fast völlig vergessen wird: Afrika. Wir müssen uns in den nächsten Jahren verstärkt anstrengen, die wirtschaftlichen Märkte in Afrika zu erschließen. Ich weiß ganz genau, dass das nicht so einfach ist, dass das viel Mühe kostet und dass die Bedingungen in vielen afrikanischen Staaten nicht optimal sind. Aber letztendlich müssen wir versuchen, beim Außenhandel, bei der Außenwirtschaft zu diversifizieren, um nicht von einem Markt abhängig zu werden. Ich komme noch auf das Thema TTIP. In der gestrigen Sitzung des Ausschusses haben die Grünen und die Linken wieder eine Glanzvorstellung gegeben. ({12}) Wir hatten heute früh vor der Debatte hier im Deutschen Bundestag ein Gespräch mit einem mittelständischen Unternehmer, der uns eindeutig klargemacht hat, wie er die Sache mit seinen Exporten in die USA sieht. Unser Kollege Ernst war mit auf der Reise nach Kanada. Auch von der SPD waren Kollegen dabei. Wir haben zusammen Firmen besucht. Dass Sie trotz allem und obwohl Sie wissen, dass dieses Freihandelsabkommen für den Mittelstand sehr wichtig ist, dass Sie also trotz besseren Wissens immer nur ihre Ideologie verkaufen, kann ich einfach nicht nachvollziehen. ({13}) Wir brauchen ein Freihandelsabkommen. Wir brauchen für beide großen Wirtschaftsräume, für die Vereinigten Staaten und für Europa, ({14}) die Annäherung von Standards und von Prüfverfahren, ganz einfach deshalb, um Export überhaupt zu ermöglichen. ({15}) Reden Sie doch einmal mit deutschen Mittelständlern, warum sie ihre Exportchancen in den USA jetzt nicht nutzen. Das hängt genau an den Dingen, die jetzt im Rahmen von TTIP verhandelt werden. ({16}) Deswegen wollen wir, dass die Verhandlungen erfolgreich sind. Ein letzter Punkt zum Thema Außenwirtschaft. Ich meine die Sanktionen - darüber haben wir auch gestern im Ausschuss kurz diskutiert - gegen Russland. Wir sind uns darüber klar: Solange von russischer Seite keinerlei Zeichen zu einer Entspannung in der Ukraine kommt, werden die Sanktionen beibehalten. Aber Sanktionen sind immer eine Einschränkung von freiem Handel. Auch wenn die Sanktionen gegen Russland für Gesamtdeutschland nicht so einschneidend sind: Ich komme aus Sachsen; ({17}) da ist die Lage schon ganz anders. Deswegen muss man, wenn man Sanktionen beschließt, auch immer bedenken, wie man wieder aus den Sanktionen herauskommt. Das ist für mich noch eine offene Frage, über die diskutiert werden muss. Auch die Verschärfung von Sanktionen erfordert eine Diskussion darüber, gegen wen die Sanktionen gerichtet sind, wer damit getroffen werden soll und wie man sie effizient anwenden kann. Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt die positive Entwicklung der deutschen Wirtschaft auf, und er zeigt eindeutig, dass die Bundesregierung mit ihrem Maßnahmenpaket auf einem hervorragenden Weg ist, um diese Entwicklung auch in Zukunft positiv zu begleiten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({18})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man kann, ohne in Schwarzmalerei zu verfallen, feststellen, dass die Lage in Europa in dieser Woche komplizierter geworden ist, nicht weil wir das Wahlergebnis bedauerten; ich jedenfalls tue das nicht. Die Abwahl der beiden Parteien, die die Regierung gestellt haben, ist aus Sicht der griechischen Bevölkerung nachvollziehbar. Aber was uns dieses Wahlergebnis beschert hat, wirkt sich in verschiedene Richtungen aus - das sieht man ja auch in der Debatte über Sanktionen -, und das in einer Situation, in der die Europäische Union im Interesse der Arbeitslosen und insbesondere der jugendlichen Arbeitslosen eine größere Handlungsfähigkeit braucht, um mehr Investitionen und Strukturreformen in Bildung und Ausbildung und zugunsten einer funktionierenden Verwaltung durchzuführen; in einer Situation, in der wir vorangekommen sind und die neue Kommission die Aufgaben mit einem gewissen neuen Schwung in Angriff nimmt. Wir führen die Diskussion auch auf europäischer Ebene - nicht nur in Griechenland -, um den Widerspruch zwischen Austerity, also einer übertriebenen Sparsamkeit, auf der einen Seite und Investitionen auf der anderen Seite aufzulösen. Wir führen zurzeit diese Debatte. Europa braucht die Auflösung dieses Widerspruchs. Wir müssen im Interesse der europäischen Bürger an einem Strang ziehen. ({0}) Deswegen macht diese Komplikation so, wie sie sich derzeit abzeichnet, die Lage schwierig. Es ist auch nicht in Ordnung, dass wir - nicht nur in Griechenland, auch in anderen europäischen Ländern erlebt man das - in eine Sündenbockfunktion gebracht werden: Deutschland, die EU oder die Troika. ({1}) Das ist kontraproduktiv. So ist zum Beispiel die Behauptung des neuen griechischen Finanzministers, dass die EU für den Klientelismus und die Vetternwirtschaft in Griechenland verantwortlich ist, ({2}) schlicht absurd. ({3}) Wenn man solche absurden Analysen trifft, dann kann man auch keine vernünftigen Schlussfolgerungen mit Blick auf das ziehen, was jetzt erforderlich ist. Auf der Grundlage solcher Analysen kann man keinen Staat, keine Gesellschaft und keine Wirtschaft aufbauen. Das heißt, linker und rechter Populismus helfen den oft verzweifelten Menschen in Griechenland oder auch anderswo in der Europäischen Union nicht. ({4}) Unsere konkrete Antwort auf diese Situation ist: Wir reden nicht nur über Investitionen in Deutschland und Europa, sondern wir sorgen in den nächsten Monaten dafür, dass in Deutschland und Europa tatsächlich mehr investiert wird. ({5}) Das ist unsere Antwort, und darauf kommt es an. Im Übrigen sind wir keine Illusionisten. Nur so können wir auch der schwindenden politischen Akzeptanz, die die Europäische Union in der europäischen Bevölkerung hat, entgegenwirken. Denn wir sehen ja die Wahlergebnisse; ich denke dabei nicht nur an Griechenland, sondern auch an andere Trends. Erfolge - zum Beispiel im Kampf gegen Steuerdumping, und zwar nicht nur in Luxemburg - brauchen wir in Europa aus Gerechtigkeitsgründen und aus finanziellen Gründen. Schließlich brauchen wir auch eine vernünftige Finanztransaktionsteuer. Das sind drei wichtige Punkte, in denen sich die Kommission, das Europaparlament und auch die nationalen Parlamente, auch wir, beweisen müssen, indem sie sagen: Das ist unser europäisches Projekt; daran arbeiten wir, und wir erreichen Fortschritte. - Diese messbaren Fortschritte müssen wir in diesem Jahr schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und zwar mit deutscher Unterstützung und einer breiten Mehrheit. ({6}) Es muss in Deutschland auch verstanden werden: Die wirtschaftliche und die soziale Stabilität der Euro-Zone wird nur dann zu erreichen sein, wenn die Länder mit den größten Problemen wieder auf die Beine kommen. Das liegt in unserem ureigensten Interesse. Es ist gesunder Egoismus, wenn wir vielleicht mehr als bisher investieren, um für Stabilität in ganz Europa zu sorgen. Das versteht man hier in Deutschland noch nicht ausreichend. ({7}) Dazu gehört auch, dass wir in Europa und Deutschland erkennen müssen, dass wachsende Ungleichheit nicht nur ein soziales Problem ist, sondern zunehmend auch zum wirtschaftlichen Problem wird. Deshalb ist Verteilungsgerechtigkeit - Kollege Fuchs musste schon gehen; ich hatte ihm das angekündigt - auch für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig; das gehört inzwischen zum Standardrepertoire der wichtigsten Ökonomen der Welt. ({8}) Das ist kein Gegensatz. Verteilungsgerechtigkeit ist auch für die ökonomische Entwicklung wichtig. In diesem Sinne wollen wir jedenfalls Europa gestalten. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Bernd Westphal, SPD-Fraktion.

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Herr Minister Gabriel, für den Jahreswirtschaftsbericht 2015. Er gibt einen Überblick über die aktuelle wirtschaftliche Situation und zeigt gleichzeitig die zukünftigen Handlungsfelder auf. Wir haben eine sehr gute ökonomische Situation in Deutschland. Das bestätigt die Richtigkeit der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen dieser Regierungskoalition. Grundlage dieser ökonomischen Stärke sind vor allem engagierte und hoch motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Es sind die Schicht- und Fabrikarbeiter, die Pflegekräfte, die Handwerker, die Ingenieure, die Techniker, die Meister, die Programmierer und viele andere, die mit ihrer Arbeit erst zu diesem Wohlstand beigetragen haben. Es sind aber auch mutige Unternehmer. ({0}) Diese Leistungen sind nur durch gute Arbeit möglich. Erst wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hergestellt ist, wenn Aus- und Weiterbildung sichergestellt sind und wenn es Wertschätzung im Arbeitsprozess gibt, kann man sagen, dass Arbeit zufrieden und nicht krank macht. Dazu gehört natürlich auch eine angemessene Bezahlung. Dort, wo das Verhältnis zwischen den Tarifpartnern im Rahmen der Tarifautonomie gut ist, entwickeln sich die Löhne sehr positiv. Dort, wo die Tarifpartnerschaft nicht funktioniert, haben wir als Gesetzgeber die Verpflichtung, einzugreifen. Deshalb ist der Mindestlohn der richtige Weg. Ich verstehe überhaupt nicht, dass hier ein Popanz aufgebaut wird, bevor die ersten Lohnabrechnungen nach Einführung des Mindestlohns vorliegen. ({1}) Große Bedeutung für unseren Erfolg und die Gestaltung der Zukunft hat vor allen Dingen die Industrie. Sie hat einen erheblichen Anteil an dieser positiven Bilanz, und ihr kommt deshalb ein besonderes Gewicht zu. Eine aktive Industriepolitik hat Relevanz für die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, für Investitionen in neue Produkte und für eine starke Exportwirtschaft, aber auch für Innovationen im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes. Für die zukünftigen Herausforderungen gibt es eine ganze Reihe von Politikfeldern. Ich will nur einige kurz nennen. Über Investitionen wurde schon vieles gesagt. Der Weg, den die Bundesregierung beschreitet, ist richtig. Wir brauchen Planungs- und Rechtssicherheit. Nur dann werden Investitionen getätigt. Hier kommt der Politik eine besondere Verantwortung zu. Gerade im Bereich von Start-ups, also von jungen Unternehmen, die sich gründen, brauchen wir mehr Venture Capital, um die Startvoraussetzungen für junge Unternehmen zu gewährleisten. Aber auch darüber hinaus, wenn es nach der Startphase darum geht, eine gewisse Marktrelevanz zu erreichen, müssen die Unterstützungen ausgebaut werden. ({2}) Wir brauchen neben Investitionen aber auch eine neue Offenheit in der Gesellschaft, eine neue Offenheit für Zuwanderung, eine neue Offenheit bei der Gestaltung der Globalisierung mit Freihandelsabkommen, aber auch eine neue Offenheit gegenüber großen Infrastrukturprojekten und eine neue Offenheit gegenüber dem technischen Fortschritt. ({3}) Ich will das an den Punkten Energieversorgung und Energiepolitik festmachen. Eine sichere, saubere und bezahlbare Energieversorgung ist nach wie vor das Ziel aller politischen Parteien, denke ich. Für den Industriestandort Deutschland ist die Versorgungssicherheit von großer Bedeutung. Das gilt für Menge und für Preis. Die Energiewende muss erfolgreich und kosteneffizient weitergeführt werden, um Deutschland als wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort zu erhalten. Dazu gehören auch effiziente, moderne Kohlekraftwerke, um eine sichere Brücke in das regenerative Zeitalter bauen zu können. ({4}) Eine weitere Herausforderung wird die Gestaltung des demografischen Wandels und natürlich auch die Deckung des Fachkräftebedarfs werden. Einiges ist dazu hier schon gesagt worden. Natürlich müssen wir die Investitionen in Bildung verstärken. Aber auch das, was Andrea Nahles als Arbeitsministerin angestoßen hat, nämlich dass man mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten versucht, die vermeintlich Außenstehenden der Gesellschaft wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist der richtige Weg. Dabei werden wir sie positiv begleiten. Infrastrukturausbau ist viel genannt worden. Was wir mit der digitalen Agenda beschlossen haben, zum Beispiel der Breitbandausbau, ist vor allen Dingen im ländlichen Raum wichtig. Wir brauchen diese Kapazitäten für die Übertragung. Das gilt nicht nur für die Industrie, sondern auch für das Handwerk und den Mittelstand. Wenn ein Handwerksmeister ein Angebot verschicken will, aber nicht genug Kapazitäten im Internet hat, kann das nicht zukunftsfähig sein. Als Letztes: Ich glaube, dass wir eine Akzeptanz für den dynamischen Fortschritt, den wir brauchen, nur erreichen, wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen und Umweltaspekte gleichrangig berücksichtigen. Dies sorgt dann für die Motivation und positive Stimmung im Land, die wir für ein wirtschaftspolitisch erfolgreiches Umfeld benötigen. Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik trägt schon nach einem Jahr Früchte. Wir werden den Kurs des Wirtschaftsministers kritisch, solidarisch und konstruktiv begleiten. Vielen Dank. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. Tagesord- nungspunkt 3 a: Abstimmung über den Entschließungsan- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- che 18/3841. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stim- men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa- chen 18/3840 und 18/3265 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vizepräsidentin Ulla Schmidt Soziale Wohnungswirtschaft entwickeln Drucksache 18/3744 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Marktmacht brechen - Wohnungsnot durch Sozialen Wohnungsbau beseitigen Drucksachen 18/506, 18/3854 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke. ({2})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung ist nun nicht mehr neu; die Schonzeit ist vorbei. ({0}) Aber leider ist sie in der Frage des sozialen Wohnungsbaus immer noch im Ankündigungsmodus. Selbst unter den wohnungspolitisch und mietenpolitisch hoffnungsvollen Euphorikern machen sich langsam die Ernüchterung und die Enttäuschung breit. Man fragt sich nämlich zu Recht: Was ist denn nun mit der wohnungspolitischen Offensive? Wo bleibt denn nun der mehrfach angekündigte Dreiklang aus Stärkung der Investitionstätigkeit, Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus und der ausgewogenen mietrechtlichen und sozialpolitischen Flankierung? So steht es ja auf Seite 80 des Koalitionsvertrages, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Vielleicht sollten Sie den Koalitionsvertrag ab und zu wieder einmal in die Hand nehmen. ({1}) Ein Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen ist gegründet worden. Schön! Das haben wir auch begrüßt. Aber was tut dieses Bündnis eigentlich? Nach seiner Gründung haben wir nichts weiter davon gehört. Selbst die lange angekündigte und schon fast wieder zerredete Mietpreisbremse schwimmt noch immer in parlamentarischen Gewässern. Es ist zu befürchten, dass am Ende nicht der Mietanstieg, sondern das Gesetz gedämpft wird, und zwar so lange, bis die Mietpreisbremse vollständig verdampft zu sein scheint. ({2}) In der gestrigen Ausschusssitzung vermittelten die Koalitionsredner den Eindruck, als sei das Gesetz schon in Kraft. Nein, meine Damen und Herren, Sie haben noch nicht geliefert. Die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU versuchten auch im Ausschuss, uns weiszumachen, dass die Mietpreisbremse und die Wohngelderhöhung geeignet seien, mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. ({3}) - Sie nicht, Frau Nissen. Ich habe gerade die CDU/CSU angesprochen. ({4}) Wer hat Sie bloß beraten, dass Sie zu dieser Erkenntnis kommen? Zwischenzeitlich haben wir, die Linke, mit den heute hier zu behandelnden Anträgen schon vier Anträge zum sozialen Wohnungsbau und zur Mietpreisbegrenzung zur Beratung und Abstimmung vorgelegt. Während wir hier Monat um Monat debattieren, nutzen Vermieterinnen und Vermieter fleißig die Gelegenheit, jede Mieterhöhungsmöglichkeit auszuschöpfen und ihre juristischen Batterien in Stellung zu bringen, bevor das Gesetz irgendwann das Licht der Welt erblickt. So wird das nichts mit der wohnungspolitischen Offensive dieser Bundesregierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit ordnungspolitischen Maßnahmen zu beginnen, ohne die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine solide Wohnungspolitik grundlegend zu verändern, heißt, ein Pferd von hinten aufzuzäumen. Wir alle wissen, dass das meistens nicht gelingt. ({5}) Es wird also Zeit, dass sich endlich etwas dreht. Eine wirkliche wohnungspolitische Offensive unter marktwirtschaftlichen Bedingungen müsste damit beginnen, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage vor allem in angespannten Wohnungsmärkten in Ordnung zu bringen. Jetzt ist es nämlich so, dass gerade dort jede Wohnung, egal ob energetisch saniert oder nicht, egal ob Familienwohnung, Studentenwohnung oder altersgerechte Wohnung, zu Höchstrenditen vermietet werden kann. Andererseits gibt es selbst in schrumpfenden oder ländlichen Regionen mit wachsendem Wohnungsleerstand Wohnungsnot, weil nur noch das gebaut wird, wofür es eine zahlungskräftige Nachfrage gibt. Wirklich bedarfsgerechte, also für alle bezahlbare, barrierearme, klima- und altersgerechte Wohnungen fehlen auch hier massenhaft. Hier ist auch die Bundespolitik gefordert, die im Koalitionsvertrag versprochene „sozialpolitische Flankierung“ tatsächlich praxistauglich zu machen. Auch Herr Gabriel hat heute Morgen in seiner Rede zur Wirtschaftslage darauf aufmerksam gemacht, dass wir hier, die Bundesebene, für den sozialen Wohnungsbau verantwortlich sind, Länderverantwortung hin oder her. Wozu beschließen wir sonst hier Bundesgesetze, und warum sonst steht die Bundesverantwortung im Koalitionsver7784 trag? Sie können sich also nicht herausreden, wie Sie es gestern im Ausschuss versucht haben. Den sozialen Wohnungsbau wiederzubeleben, wie es die Bundesregierung angekündigt hat, das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Bisher fehlt aber die Richtung, und von Schritten dahin kann überhaupt keine Rede sein. ({6}) Unverändert 518 Millionen Euro Kompensationszahlungen seit 2006, seitdem die Föderalismusreform beschlossen ist, befristet bis 2019 und ohne soziale Zweckbindung, das ist doch keine Wiederbelebung, sondern bestenfalls eine Notbeatmung des Patienten „sozialer Wohnungsbau“, um ihn vor dem Tode zu retten. Ein wirklicher Neustart im sozialen Wohnungsbau ist dringend geboten, und das ist auch das Hauptanliegen unserer hier vorgelegten Anträge. Es müssen jährlich mindestens 150 000 Sozialwohnungen - ich betone: Sozialwohnungen - zusätzlich auf den Markt. Sie sind allein erforderlich, um den kontinuierlichen Schwund an Sozialwohnungen seit den 1970er-Jahren durch den Wegfall der Sozialbindung zu kompensieren. Mindestens 700 Millionen Euro jährlich, verlässlich, langfristig durch den Bund bereitgestellt und durch die Länder bedarfsgerecht und dauerhaft zweckgebunden kofinanziert, sind dafür notwendig. Es muss nicht überall Neubau sein; es kann auch die Sanierung von vorhandenen Wohnungsbeständen sein. Anderswo ist möglicherweise auch der Ankauf von Belegungsbindungen die bessere Lösung. Gute und zudem preiswerte Chancen, wenigstens einen kleinen Beitrag zu einer sozialpolitisch flankierten wohnungspolitischen Offensive zu leisten, hätte die Bundesregierung bei einem entsprechenden Umgang mit ihren eigenen Liegenschaften. Beim Verkauf der TLG im Jahr 2012 hat die damalige Bundesregierung diese Chance allerdings gründlich versemmelt. Die jetzige Bundesregierung würde diesen Fehler wiederholen, wenn sie beim Verkauf der BImA-Wohnungen stur am Höchstpreisgebot festhielte. ({7}) Hier in Berlin scheint die Chance zu bestehen, einmal über den Rand der schwarzen Null hinauszublicken und einen konzeptgebundenen Verkauf dieser Wohnungen an kommunale Wohnungsunternehmen - natürlich zu akzeptablen Preisen - zu organisieren. ({8}) Das wäre - das sage ich hier ganz klar - der richtige Weg. Wir begleiten die betroffenen Mieterinnen und Mieter in diesem Prozess nicht nur mit Sympathie, sondern unterstützen auch ihre Forderung nach Erhalt ihrer Wohnungen und ihres Kiezes - gegen den Privatisierungsund Verwertungswahn. Darauf können sich sowohl die Mieterinnen und Mieter als auch die Bundesregierung verlassen. Beides zusammen, der Neustart des sozialen Wohnungsbaus, finanziell gut ausgestattet, dauerhaft zweckgebunden und am besten in kommunalen Wohnungsgesellschaften konzentriert, und ein sozial verantwortlicher Umgang mit öffentlichem Eigentum an Wohnungen und für Wohnzwecke geeigneten Liegenschaften, das kann der bescheidene Anfang für eine grundlegende Korrektur in der heutigen Systematik der Wohnungswirtschaft sein. Die fast ausschließlich privat dominierte Wohnungswirtschaft mit Gewinnmaximierung muss gebremst werden. ({9}) Die Wohnung darf nicht ausschließlich eine Ware bleiben, sondern muss wieder zu einem hohen, schützenswerten Sozialgut werden und damit ein wirkliches Zuhause für alle sein. Danke schön. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Kai Wegner, CDU/CSU-Fraktion.

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Frau Bluhm die Anträge der Linken hier nochmals begründet hat, sehe ich mich in meiner Einschätzung bestätigt, zu der ich gekommen bin, als ich die Anträge gelesen habe: Das, was in den Anträgen nicht ganz falsch, vielleicht sogar gut ist, das ist nicht neu, Frau Bluhm, und das, was neu ist, das ist definitiv nicht gut. ({0}) Nichtsdestotrotz begrüße ich, dass wir diese Debatte heute im Hohen Hause führen, da das Thema Wohnen für die Menschen in unserem Land von ganz großer Bedeutung ist. Liebe Frau Bluhm, vielleicht lernen Sie in der Debatte noch etwas dazu; denn die Bundesregierung ist auf diesem Weg sehr erfolgreich und sehr aktiv. ({1}) Wir von der Koalition wissen, dass Wohnen mehr bedeutet, als ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir wissen, dass eine Wohnung der Lebensmittelpunkt für die Menschen ist. Sie dient als Rückzugs- und Erholungsraum. Die Behaglichkeit der eigenen vier Wände bietet den Menschen auch Lebensqualität. In den Problembeschreibungen, liebe Frau Bluhm, stimme ich den Linken in einigen Punkten durchaus zu. Ja, wir stehen in der Wohnungspolitik vor großen Herausforderungen. Ja, wir haben eine wachsende Nachfrage nach Wohnraum und deshalb auch steigende Mieten, insbesondere in großen Städten, in Ballungsräumen, aber auch in kleineren Universitätsstädten. ({2}) Angesichts des demografischen Wandels müssen große Teile des Wohnungsbestandes altersgerecht umgebaut werden. Auch müssen wir weiter in die energetische Sanierung des Wohnungsbestandes investieren, um diese weiter voranzutreiben. Die Große Koalition hat sich dieser Herausforderungen angenommen und ist längst aktiv geworden. Ja, Frau Bluhm, wir haben die Mietpreisbremse auf den Weg gebracht. Wir wollen verhindern, dass einige Bevölkerungsgruppen ganze Stadtteile nicht mehr bewohnen können. Wir wollen verhindern, dass Menschen in Stadtvierteln nach Einkommen getrennt leben. Das zerstört die Vielfalt in unseren Städten. Das zerstört die Kreativität, und das spaltet auch die Gesellschaft. Meine Damen und Herren, ich sage es sehr deutlich: Wir wollen keine Pariser Verhältnisse in unseren Städten. Wir wollen nicht, dass Menschen einiger Einkommensgruppen an die Ränder der Städte verdrängt werden. Wir wollen vielmehr eine gute soziale Durchmischung in unseren Städten auch auf dem Wohnungsmarkt. ({3}) Frau Bluhm, das beste Mittel gegen steigende Mieten, gegen Gentrifizierung ist nun einmal der Wohnungsneubau. Nachdem ich Ihre Anträge gelesen habe, freue ich mich, dass die Linken das ganz offensichtlich auch endlich verstanden haben. ({4}) Wir müssen aber - das sage ich ganz deutlich, und damit will ich nichts zerreden - darauf aufpassen, dass sich die Mietpreisbremse gerade vor dem Hintergrund des Wohnungsneubaus nicht zu einer Investitionsbremse entwickelt. Darauf achtet die Koalition, und das werden wir sicherstellen. ({5}) Ich erwarte auch von den Ländern, dass sie gerade in den Gebieten, in denen die Mietpreisbremse gelten wird, dafür Sorge tragen werden, dass dort neuer, bezahlbarer Wohnraum entsteht. Auch das dient der sozialen Mischung in unseren Städten. Weiterhin haben wir, Frau Bluhm, das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen ins Leben gerufen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir in diesem Bündnis die unterschiedlichen Akteure, nämlich Bund, Länder, Kommunen, aber auch die Verbände, an einen Tisch bringen; denn die wohnungspolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, werden nur alle Akteure gemeinsam bewältigen können. Für uns ist es gerade im Rahmen des Bündnisses ganz wichtig, eine Baukostensenkungskommission einzusetzen. Es geht darum, Kostensteigerungen im Baubereich zu analysieren. Preistreibende und überdimensionierte Standards müssen dabei auf den Prüfstand. Wir als Koalition machen uns dafür stark, dass wir beim Bauen sinkende Kosten haben, dass wir ein investitionsfreundliches Klima erreichen. Dass dies letztlich den Mieterinnen und Mietern dient, davon sind wir felsenfest überzeugt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Ich würde es in der Tat begrüßen, wenn die Bundesregierung zeitnah einen Zwischenbericht über die bisherigen Aktivitäten dieses Bündnisses vorlegte. Wir brauchen erste Ergebnisse; denn die Herausforderungen sind groß. Auch auf den demografischen Wandel reagieren wir. Sie tun immer so, als würden wir hier gar nichts tun. Wir haben das Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufgelegt, und dieses leistet einen ganz wichtigen Beitrag für die älter werdende Gesellschaft in unserem Land. Durch dieses Programm können gerade ältere Menschen in ihrer vertrauten Umgebung verbleiben, in der sie sich wohlfühlen und in der sie sozial integriert sind. ({7}) Ich glaube, das ist eine gute Investition, die den Menschen vor Ort ganz konkret hilft. Meine Damen und Herren von der Linken, ich möchte mich jetzt mit der einen oder anderen Forderung aus Ihren Anträgen beschäftigen. Zunächst betrifft dies den sozialen Wohnungsbau. Frau Bluhm, es ist und bleibt so: Auch die Länder sind hier in der Verantwortung. ({8}) Der Bund gibt den Ländern für den sozialen Wohnungsbau zusätzlich 518 Millionen Euro. ({9}) Sie fordern jetzt eine Aufstockung auf 700 Millionen Euro. Meine Damen und Herren, dies rufe ich den Ländern zu: Es würde sehr helfen, wenn die zur Verfügung gestellten Mittel des Bundes endlich auch für den sozialen Wohnungsbau genutzt würden. ({10}) Es kann doch nicht sein, dass die Mittel in den Länderhaushalten versickern und dann nach dem Bund gerufen und gesagt wird: Ihr müsst mehr tun. - Nein, die Mittel, die der Bund jetzt zur Verfügung stellt, müssen die Länder angemessen abfordern. Ich wünschte mir, dass die Länder zu den 518 Millionen Euro, die der Bund zur Verfügung stellt, selbst noch etwas drauflegen, damit wir im sozialen Wohnungsbau mehr tun. ({11}) Sie haben auch das Thema BImA angesprochen, Frau Bluhm. Am Beispiel Berlin sieht man doch, dass im Rahmen der bestehenden Gesetze etwas geht. Wir haben in Berlin knapp 5 000 Wohnungen im BImA-Bestand. Derzeit gibt es Verhandlungen zwischen der BImA und dem Land Berlin. Ich wünsche mir sehr, dass der Verkauf der bundeseigenen Liegenschaften und die Verhandlungen mit dem Land Berlin gelingen, und zwar zum Verkehrswert. Das wäre im Interesse der Mieterinnen und Mieter und sollte ein Stück weit Schule machen in Bezug auf die restlichen Bestände. Auch das sage ich sehr deutlich. ({12}) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie heben in Ihren Anträgen die Städtebauförderung hervor. Ja, die Städtebauförderung ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Stadtentwicklungspolitik. Sie ist unverzichtbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unseren Städten, und sie ist unverzichtbar für die Integration. Frau Bluhm, dass wir dies auch so sehen und darauf einen Schwerpunkt setzen, sehen Sie doch an der starken Erhöhung der Mittel für die Städtebauförderung, nämlich von 455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro. Wir kritisieren das nicht, wir finden das richtig. Wir haben das ja auch gemacht. Sie von den Linken haben das nicht gemacht. ({13}) Sie fordern nun in Ihren Anträgen, die Mittel des Programms „Soziale Stadt“ vermehrt für nichtinvestive Maßnahmen zu verwenden. Das lehne ich entschieden ab. Gerade die investiven Maßnahmen sind es doch, die die Lebensqualität in den Städten sichern. Gerade die investiven Maßnahmen sind es doch, die eine Hebelwirkung haben, die weitere Investitionen nach sich ziehen, die in die Wohnumfeldverbesserung einfließen, die der Lebensqualität der Menschen in Ballungsräumen direkt zugutekommen. Das dient dem Mittelstand und dem Handwerk und schafft Arbeitsplätze. Deshalb ist es wichtig, bei der Städtebauförderung gerade die investiven Bereiche nicht zu vernachlässigen. ({14}) Sie sprechen auch von der energetischen Sanierung und wollen hier die Umlage der Kosten auf die Mieter begrenzen. Mit Umsetzung Ihrer Forderungen würde erreicht, dass im Bereich der energetischen Gebäudesanierung nichts mehr passiert, Frau Bluhm. Sie würden dafür sorgen, dass die Vermieter keinen Cent mehr investieren. Wir hätten dann große Probleme bei der Klimagerechtigkeit. An Ihrem Antrag sieht man einmal mehr: Was gut gemeint ist, ist nicht immer gut gemacht. Frau Bluhm, vielleicht erinnern Sie sich einfach einmal: Sie von den Linken haben auch schon Regierungsverantwortung in den Ländern getragen und tragen sie immer noch, und in Berlin haben Sie zehn Jahre Zeit gehabt. Was passiert, wenn die Linke Verantwortung für Wohnungsbaupolitik mitträgt? Sie haben in Berlin in zehn Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung 100 000 Wohnungen privatisiert; ({15}) 30 Prozent des Bestandes an öffentlichen Wohnungen wurden verkauft. In Ihrer Regierungszeit gab es im Wohnungsneubau in Berlin so gut wie keine Investitionen. Wenn wir in Berlin über steigende Mieten, über die Verdrängung der ortsansässigen Bevölkerung, über die Gefährdung einer guten sozialen Durchmischung sprechen müssen, dann ist das immer auch zu einem guten Teil auf die Erblast Ihrer gescheiterten linken Wohnungsbaupolitik zurückzuführen. ({16}) Seitdem Sie nicht mehr in Berlin regieren, entstehen wieder Wohnungen. Wir haben einen Wohnungsbauförderfonds aufgelegt. 10 000 neue Wohnungen jährlich im sozialverträglichen Segment werden wir errichten. Es ist gut, wenn Sie keine Verantwortung für die Wohnungsbaupolitik haben. ({17}) Meine Damen und Herren von der Linken, gerade kam in einem Zwischenruf von Ihnen zum Ausdruck: Wir haben es schon immer so gesehen, dass wir Wohnungsneubau brauchen. - Ich erinnere ungern an den Volksentscheid zum Tempelhofer Feld. Aber auch da haben Sie eine unrühmliche Rolle gespielt. Dort hätten 5 000 neue Wohnungen entstehen können; ({18}) aber Sie haben populistisch dagegengehalten, haben Wohnungsneubau verhindert. Sie reden in Sonntagsreden von Wohnungsneubau. Da, wo er konkret stattfinden kann, Frau Bluhm, verhindern Sie ihn. Deswegen sind die Anträge, die Sie heute hier vorgelegt haben, auch nicht glaubwürdig. ({19}) In der Wohnungspolitik setzt die Koalition auf einen Dreiklang aus einer Stärkung der Investitionstätigkeit, einer Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus und einer ausgewogenen mietrechtlichen und sozialpolitischen Flankierung. Diesen Kurs werden wir entschieden fortsetzen. Wir sorgen dafür, dass Wohnen für Geringund Durchschnittsverdiener bezahlbar bleibt und dass ausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt wird. Die Koalition wird hier die Bemühungen der Bundesministerin Hendricks weiterhin unterstützen. Meine Damen und Herren von den Linken, ich empfehle Ihnen, das auch zu tun; denn uns allen hier im Hause sollte doch klar sein, dass Wohnungen nicht irgendeine Ware sind, sondern das Zuhause für die Menschen. ({20}) Diese Regierung wird ihren Weg in der Wohnungspolitik konsequent fortsetzen. Herzlichen Dank. ({21})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir diese Woche im Plenum die Mietpreisbremse debattieren ({0}) und auch beschließen würden. Wenn man über Wohnungswirtschaft redet, muss man in diesen Tagen über die Mietpreisbremse reden. Alle, die in der Wohnungspolitik unterwegs sind, haben dieses Thema in den letzten eineinhalb Jahren begleitet. Nach Ihrer Rede, Herr Wegner, kommt es mir fast so vor, als ob die Mietpreisbremse schon beschlossen wäre. Aber sie ist nicht beschlossen. Herr Maas hat letzte Woche in Hamburg gesagt: Die Mietpreisbremse wird bis zum Sommer in Kraft treten. - Sie wird vielleicht bis zum Sommer beschlossen werden; aber Kraft wird sie vor Ort bis zum Sommer nicht entfalten. Das ist Wahlkampfgetöse, ein Ammenmärchen. Die Mietpreisbremse, die Sie auf den Weg bringen werden, wird nicht schnell eingeführt werden, und sie wird vor Ort nicht schnell umgesetzt werden. Dies zeigt, dass Sie eigentlich nicht verstanden haben, was eine Mietpreisbremse ist. ({1}) Die Anhörung im Rechtsausschuss hat gezeigt, dass es keine schnelle Umsetzung der Mietpreisbremse geben wird. Sie haben Hürden gebaut und Steine in den Weg gelegt. Wenn man eineinhalb Jahre braucht, um ein Sofortprogramm auf den Weg zu bringen, dann ist das eine ziemlich lange Zeit. Jede Woche und jeden Monat geht bezahlbarer Wohnraum in Deutschland verloren. Das ist ein Skandal; das ist unsozial und Wählertäuschung. Angela Merkel hat sich im Wahlkampf für die Mietpreisbremse ausgesprochen. ({2}) Herr Wegner, ich glaube, dass Sie und Frau Merkel guten Willen gezeigt haben, aber - ich zitiere Sie einmal -: Gut gemeint ist nicht gut gemacht. - Das trifft auf Ihre Mietpreisbremse zu. ({3}) Die Geltungsdauer der Minimietpreisbremse, die Sie auf den Weg bringen, ist zu kurz. Sie hätte mindestens zehn Jahre betragen müssen. Außerdem gibt es große Schlupflöcher. Mit dem Schlupfloch „umfassende Modernisierungen“ treiben Sie hochpreisige Modernisierung an. ({4}) Sie leisten damit der Gentrifizierung Vorschub, und das ist ein Skandal. ({5}) Es gibt viel zu viele Ausnahmen, zum Beispiel beim Neubau. Es hätte völlig ausgereicht, wenn Sie die erstvermieteten Neubauwohnungen ausgenommen hätten. Die Länder werden die Mietpreisbremse lange nicht umsetzen können. Ich glaube, bis zum Ende dieser Legislaturperiode wird es nicht in allen Städten und Ländern möglich sein, die Mietpreisbremse umzusetzen, weil es große Hürden gibt. Eine völlig unsinnige Regelung, die ich als Skandal empfinde, ist die Rügepflicht. ({6}) Das Mietrecht kennt keine Rügepflicht. Es gibt genug Juristen in Deutschland, denen sich bei dem, was Sie mit dem Mietrecht machen, der Magen umdreht. Ändern Sie das, damit diese Mietpreisbremse auch eine mieterfreundliche Mietpreisbremse wird. ({7}) Anstatt eines schnellen Rettungsschirmes haben Sie eine Minimietpreisbremse auf den Weg gebracht. Diese Mietpreisbremse wird den wohnungspolitischen Herausforderungen in sozialer Hinsicht nicht gerecht. Ich komme zum Antrag „Soziale Wohnungswirtschaft entwickeln“ der Linksfraktion. Auch ich finde, dass das markige Worte sind. Es gibt einige Maßnahmen, die ich gut finde, und andere, die ich nicht unterstützen würde. Eigentlich ist es eine Zusammenstellung unterschiedlicher Punkte. Mir wird nicht klar, was in der Wohnungswirtschaft geschehen soll, Frau Bluhm. Wollen Sie eher eine Verstaatlichung der Wohnungswirtschaft, oder wollen Sie eine öffentlich-gemeinnützige Wohnungswirtschaft? Ich finde Ihren Antrag für dieses Thema zu schmal und deswegen nicht ganz so gut. Viele Forderungen sind wachsweich. Es sind viele finanzielle Forderungen enthalten. Eine Forderung hätte man noch hineinschreiben müssen, nämlich die Forderung, dass wir in Deutschland eine Debatte darüber brauchen, wie wir wieder mehr Gemeinnützigkeit in die Wohnungswirtschaft bringen. ({8}) Christian Kühn ({9}) Wir müssen darüber reden, wie wir vielfältige Akteure ins Spiel bringen, wie wir statt Monopolbildung und Schrottimmobilien wieder die Mieterinnen und Mieter in den Blick bekommen. Ich finde, die zentrale Frage ist: Was ist nach 1988 passiert, als die Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft worden ist? Die Ziele, die man damit verfolgt hat, sind, wenn ich mir heute die Wohnungswirtschaft anschaue, nicht erreicht worden. Ich glaube deshalb, dass wir dringend eine Debatte darüber brauchen, wie wir wieder Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland erreichen können. ({10}) Das Thema BImA wurde bereits von Herrn Wegner angesprochen. Auch ich finde es gut, dass das Land Berlin die Idee hat, diese Wohnungen aufzukaufen. Aber Ihre BImA-Politik im Deutschen Bundestag hat ja gerade verhindert, dass das nicht schon früher in Angriff genommen wurde. Unter anderem wegen Ihrer Politik sind Wohnungen in der Großgörschenstraße verscherbelt worden. Im Kern ist das neoliberale Wohnungs- und Liegenschaftspolitik, die wir ganz klar ablehnen. ({11}) Wir brauchen endlich eine Wohnungsgemeinnützigkeitsdebatte in Deutschland. Wir Grünen wollen Spekulation mit Wohnraum verhindern. Wir wollen gemeinwohlorientierte Wohnungswirtschaft. Wir wollen Akteure, die keine reine Renditelogik haben. Wir müssen Genossenschaften, öffentliche Wohnungsunternehmen, Studentenwerke und Baugruppen unterstützen. Sie müssen ein größeres Stück vom Kuchen der Wohnungswirtschaft abbekommen. Darauf müssen wir unser Augenmerk legen. ({12}) Leider beobachte ich genau das Gegenteil. Allein durch die jüngste Elefantenhochzeit zwischen der GAGFAH und der Deutschen Annington entsteht ein Wohnungskonzern, der rund 350 000 Wohnungen mit mehr als 1 Million Mieterinnen und Mieter hat. Da frage ich mich schon: Wie soll der einzelne Mieter oder die einzelne Mieterin angesichts einer solchen Marktmarkt seine bzw. ihre Interessen durchsetzen können? Man muss sich nur einmal im Klagefall vorstellen, welche Macht solch ein Konzern gegenüber dem einzelnen Mieter hat. Ich frage mich, ob wir angesichts dieser zu beobachtenden Veränderungen in der Wohnungswirtschaft nicht ein Verbandsklagerecht brauchen. ({13}) Brauchen wir im Kern nicht ein viel sozialeres Mietrecht? Müssen wir die Mietenrechtsnovelle der schwarzgelben Regierung nicht eigentlich wieder rückabwickeln? Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine letzten Worte ({14}) - nein, hier jetzt heute; das verspreche ich Ihnen ({15}) zum Bündnis für bezahlbares Wohnen. Das Bündnis für bezahlbares Wohnen ist eine gute Sache. Herr Wegner, Sie haben angekündigt, dass Sie sich einen Zwischenbericht wünschen. Auch ich wünsche mir einen Zwischenbericht, aber nach meinen Erkenntnissen würde er jetzt sehr dünn ausfallen und nur wenige Seiten beinhalten. Ich hoffe, dass Sie sich im Bündnis für bezahlbares Wohnen einmal über den sozialen Wohnungsbau und anderes unterhalten. Ab 2019 haben wir ein Riesenproblem; denn dann laufen die Bundesmittel aus. 2020 kommt die Schuldenbremse der Länder hinzu. Ich habe keine Lust, dass wir in ein Jahrzehnt gehen, in dem der soziale Wohnungsbau stockt. Danke schön. ({16})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bezahlbares Wohnen, bezahlbares Bauen ist eines der Hauptanliegen der Menschen in Deutschland. Rentnerinnen und Rentner haben die Sorge, dass sie sich ihre Wohnung von ihrer Rente in Zukunft nicht mehr leisten können. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen und mittleren Einkommen haben Angst, dass sie aus den Städten an den Rand gedrängt werden. Deswegen hat diese Große Koalition das Thema bezahlbares Bauen und Wohnen so stark im Koalitionsvertrag verankert wie lange keine Regierung vorher. ({0}) Liebe Frau Bluhm, ich fand - im Gegensatz zu Ihrem Antrag und zu den Verhältnissen, wie ich sie sonst kenne - die Rede, die Sie hier gehalten haben, sehr ausgewogen und moderat. ({1}) - Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als wenn ich Sie einmal lobe. Aber ich bin mir sicher, dass Sie das in Zukunft auch wieder anders können. Ich finde, eines muss man hier in aller Deutlichkeit sagen: Durch Ihren Antrag wird die Sicherheit von Mieterinnen und Mietern in Deutschland leider nicht gestärkt. Sie tun auch nichts für den sozialen Wohnungsbau. Das ist die Wahrheit an dieser Stelle. ({2}) Zur Wahrheit gehört auch: Wir haben auf dem Wohnungsmarkt unterschiedliche Akteure - private Investoren, die Kommunen, die Länder und den Bund -, und wenn wir die nicht zusammen an einen Tisch bekommen und wenn wir nicht Politik aus einem Guss machen, dann wird bezahlbares Bauen und Wohnen nicht gelingen. Deswegen können wir das nicht durch Anträge im Deutschen Bundestag erreichen, sondern nur durch konkretes Handeln. ({3}) Sie haben das Bündnis für bezahlbares Wohnen angesprochen. Gerade in der letzten Woche hat sich die Arbeitsgruppe „Aktive Liegenschaftspolitik“ getroffen. Eine vernünftige Liegenschaftspolitik ist eine zentrale Voraussetzung für bezahlbares Wohnen und Bauen. ({4}) Dabei geht es nicht nur um die BImA, sondern auch um die Grundstückspreise der Kommunen. Es geht darum, was wir vor Ort zur Verfügung stellen können. Auch die Baukostensenkungskommission arbeitet und wird noch vor dem Sommer einen Bericht vorlegen. ({5}) Auch das ist entscheidend; denn nur, wenn die Baukosten bezahlbar sind, kann es nachher auch bezahlbare Mieten geben. Die Baukosten zu senken, ist ein zentrales Element des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen, das wir auf den Weg gebracht haben. Zur Wahrheit gehört, dass dieses Haus 2006 eine Föderalismusreform durchgeführt hat und in diesem Zuge der soziale Wohnungsbau in die Alleinverantwortung der Länder gegeben wurde. ({6}) Dazu kann man heute stehen, wie man will. Aber das Grundgesetz ist geändert worden. Der Bund gibt jedes Jahr eine halbe Milliarde Euro an die Länder, damit sie sozialen Wohnraum schaffen. Was ist passiert? Zwischen 2002 und heute hat sich die Zahl der Wohnungen mit Sozialbindung - 2002 waren es noch 2,6 Millionen fast halbiert. Wir stellen fest, dass die Länder mit dem Geld des Bundes völlig unterschiedlich umgehen. ({7}) In der letzten Legislaturperiode ist mit den Ländern vereinbart worden, dass es keine Verpflichtung gibt, diese halbe Milliarde Euro vom Bund so und so auszugeben. Wir wollen die Länder jetzt wieder an den Tisch holen, weil wir neue Wohnungen mit Sozialbindung brauchen. Anders ist bezahlbares Wohnen vor Ort nicht möglich. Darüber muss man reden. Weil wir kein Druckmittel haben, müssen wir an die Einsicht appellieren. Ich sehe, wie gut das in Hamburg läuft. Dort gibt es Initiativen, eine entsprechende Grundstückpolitik und städtebauliche Verträge. Ein anderes Beispiel ist München, wo man auch auf anderem Wege eine Sozialbindung herstellt. Das ist richtig. Diesen Weg müssen viele mitgehen, damit wir wieder mehr preisgünstige Wohnungen bekommen. Wir werden eine Wohngeldreform durchführen und mit der Mietpreisbremse dafür sorgen, dass die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland vor Wucher geschützt sind. Wir werden dafür Sorge tragen, dass wir auch beim Neubau vorankommen. Nicht nur Kostensenkung ist wichtig, sondern wir brauchen auch eine Debatte darüber, wie wir als Bund über die Steuerpolitik zusätzliche Anreize schaffen können, damit in Städten mit einem angespannten Wohnungsmarkt mehr neuer sozialer, bezahlbarer Wohnraum entsteht. Diesen Wohnraum brauchen wir, weil die Entwicklung vor Ort dramatisch ist. ({8}) Alle bisherigen Redner in dieser Debatte haben gesagt, dass Wohnungen keine Ware sein sollen. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir die Kräfte wieder stärken - das ist in den letzten zwei Jahrzehnten eben nicht passiert -, die dafür Sorge tragen, dass Wohnungen keine Ware sind. Das bedeutet, dass wir auch den Neubau durch Genossenschaften und kommunale Wohnungsbaugesellschaften voranbringen müssen, dass auch dort zusätzliche Aktivitäten entstehen. Schauen wir uns das Beispiel München an: Dort liegt die durchschnittliche Kaltmiete heute bereits bei über 12 Euro pro Quadratmeter. In den städtischen Wohnungsbaugesellschaften beträgt sie gerade einmal die Hälfte. Das kann man übrigens auch hier in Berlin feststellen, wenn man sich zum Beispiel viele Genossenschaften anschaut. Das macht deutlich, welch wichtige Rolle diejenigen spielen, die die Gemeinnützigkeit im Hinterkopf haben und einen genossenschaftlichen Gedanken verfolgen: für bezahlbares Wohnen in der Stadt. Das ist entscheidend, und da müssen wir wieder hin. Dafür brauchen wir zusätzliche Initiativen und eine zusätzliche Stärkung. Das können wir aber nicht im Deutschen Bundestag beschließen. Wir können das allenfalls unterstützen. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass das Land im Gleichge7790 wicht bleibt. In vielen ländlichen Räumen ziehen die Leute weg, weil sie den Arbeitsplätzen hinterherziehen. Dadurch verstärken sich in vielen Städten die Probleme, auch hinsichtlich der Bezahlbarkeit des Wohnens. Es muss uns gelingen - das ist aus Nachhaltigkeitsgründen genauso wie aus sozialen Gründen wichtig -, dieses Land im Gleichgewicht zu halten. Wir müssen unsere Politik, zum Beispiel die Infrastrukturpolitik, darauf ausrichten, dass Menschen in ihrer Heimat wohnen bleiben können, weil sie vor Ort Arbeitsplätze finden oder mit dem ÖPNV oder auf anderem Wege in die Städte kommen, wo die Arbeitsplätze sind, ohne durch Umzug in die Städte zusätzlichen Druck auf die Mietwohnungsmärkte dort auszulösen. Deswegen bedarf es auch einer weiteren Initiative für den Neubau. Vor wenigen Jahren sind bis auf ein paar Experten, die aber einsame Rufer in der Wüste waren - sie haben immer schon darauf hingewiesen, dass man Neubau braucht -, alle davon ausgegangen, dass das Thema auf dem Wohnungsmarkt erledigt ist. Die Prognosen haben sich geirrt. Karl Valentin hatte recht: Das Gefährliche an Prognosen ist, dass sie auf die Zukunft gerichtet sind. Das ist immer ein Risiko. Alle haben sich vertan. Jetzt müssen wir nachholen. Bei den Städten stellen wir fest, dass die privaten Initiativen bisher nur im hochpreisigen Segment neuen Wohnungsbau schaffen. Ich bin froh über jede Wohnung, die gebaut wird. Wir brauchen aber bezahlbaren Wohnraum auch für die Rentnerin, für den Rentner, für die, die als Polizeibeamte, als Krankenpfleger, als Krankenschwester jeden Tag ihre Arbeit tun und auch in der Stadt zu bezahlbaren Preisen wohnen wollen. Diese Bundesregierung hat mit ihrem Koalitionsvertrag, mit dem, was wir im Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen machen, mit der Mietpreisbremse, mit vielen, vielen anderen Initiativen - die Wohngeldreform kommt demnächst - einen Beitrag dazu geleistet, dass Wohnen wieder bezahlbarer wird. Wir werden in dieser Wahlperiode noch eine ganze Menge machen. Ich freue mich auf die Unterstützung auch der Linken und der Grünen an dieser Stelle. Herzlichen Dank. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Jörrißen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sylvia Jörrißen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004314, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnen ist Leben, Wohnraum ist Lebensraum. Das ist ein Zitat aus dem Antrag der Linken, über den wir heute debattieren. Das ist nicht neu. ({0}) - Ja. - Adäquaten Wohnraum zu haben, ist ein Grundbedürfnis menschlichen Lebens. Selbst der Neandertaler hat sich schon seine Höhle geschaffen. Das ist eine Binsenweisheit, aber es stimmt, Frau Bluhm, und deshalb stimme ich Ihnen zu. Aber Sie können versichert sein: In den nächsten elf Minuten - so lange habe ich heute Redezeit - ist das zugleich auch das letzte Mal, dass ich Ihnen zustimme. ({1}) Wir sind uns darüber einig: Wohnen ist ein zentrales Element unseres Lebens und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für die Politik. Dieser fühle ich mich als Baupolitikerin verpflichtet. Aus diesem Grund bin ich sehr froh, dass die Große Koalition dem Thema Wohnen und Bauen einen solch großen Stellenwert im Koalitionsvertrag beigemessen hat. Lassen Sie mich auf einige Punkte in Ihrem Antrag im Detail eingehen. Mit Ihren Forderungen, die Sie an den sozialen Wohnungsbau stellen, übersehen Sie komplett, dass der Bund überhaupt nicht zuständig ist. Es ist gerade mehrfach ausgeführt worden: Seit der Föderalismusreform 2006 sind hierfür allein die Länder zuständig. Der Bund stellt Kompensationsmittel zur Verfügung. Aber Ihr Ruf nach immer mehr Geld geht doch ins Leere, wenn die Länder ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Sie sollten lieber Ihren Landesregierungen auf die Finger schauen. ({2}) Solange Rot-Rot in Berlin regiert hat, wurden die Mittel jedenfalls nicht in sozialen Wohnungsbau investiert, ({3}) sondern Schlaglöcher damit gestopft. Vielleicht funktioniert es demnächst in Thüringen ja besser. ({4}) - Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie fordern weiterhin eine pauschale Anzahl von 150 000 neuen mietpreisgebundenen Wohnungen und nennen das bedarfsgerechte Förderung. Ich frage mich: Was ist daran bedarfsgerecht, wenn die Wohnungen am Ende an den falschen Stellen gebaut werden? ({5}) Wie kann es bedarfsgerecht sein, wenn Sie vor Beginn der Bedarfsermittlung bereits wissen, welche Zahl am Ende dabei herauskommen soll? Das ist für mich eher Hellseherei. Ich weiß nicht, ob Ihre Erkenntnis aus dem Legen von Tarotkarten entstanden ist. ({6}) Aber dass Sie ja gerne zur Planwirtschaft zurückkommen möchten, sieht man auch an anderen Stellen in Ihrem Antrag, zum Beispiel wenn Sie eine staatliche ReSylvia Jörrißen gulierungspolitik auch für die Bereiche Energie, Wasser, Abwasser und Abfall fordern. Sie scheinen aus Ihrer Vergangenheit nichts gelernt zu haben. ({7}) Mit uns wird es das jedenfalls nicht geben. ({8}) Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag hat mich ganz besonders betroffen gemacht ({9}) - nein, ich bin fertig -: die Forderungen, die Sie in Bezug auf die Unterbringung von Flüchtlingen stellen. Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, haben Sie die aktuelle Notlage der Flüchtlinge immer noch nicht erkannt? Wir erleben derzeit einen außergewöhnlich großen Zustrom von Flüchtlingen. Die Zahl der Erstanträge auf Asyl ist im Jahr 2014 um 60 Prozent höher gewesen als im Vorjahr, und für dieses Jahr ist mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen. 200 000 Flüchtlinge stehen vor den Toren unserer Stadt. ({10}) Viele Kommunen stoßen angesichts dieser Herausforderungen an das Ende ihrer Kapazität. ({11}) Aber wir befinden uns in einer Situation, die sofortiges Handeln erfordert. ({12}) Die Unterkünfte müssen heute bereitgestellt werden. Eine Unterkunft in einem Randgebiet ist doch allemal besser als keine Unterkunft im Zentrum. ({13}) Ich halte Ihren Antrag an dieser Stelle für eine gewaltige Missachtung der Leistung der Kommunen, die gerade ihr Möglichstes tun, um den Zustrom von Flüchtlingen zu bewältigen. ({14}) Ich halte ihn vor allem auch für eine Missachtung der Bedürfnisse der Asylsuchenden. ({15}) Meine Damen und Herren, wir nehmen die Menschen ernst. Die Menschen stehen im Mittelpunkt unserer Politik. ({16}) Deshalb schauen wir genau hin. Wir wollen an den richtigen und an den erforderlichen Stellen die notwendigen Anreize setzen. Sie haben vollkommen recht: Wir stehen vor Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt. Wir haben in Deutschland einen heterogenen Wohnungsmarkt, wir haben in einigen Bereichen mit Leerstand zu kämpfen, und wir haben Ballungsräume, in denen wir zu wenig Wohnraum haben. Aber wir als Große Koalition sind diese Herausforderungen bereits angegangen. Auch die Große Koalition möchte die Wiederbelebung der sozialen Wohnraumförderung. Deshalb haben wir die Kompensationsmittel in Höhe von 518 Millionen Euro bis zum Jahr 2019 verstetigt. Damit ist es den Ländern möglich, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Aber die Länder müssen ihrer Verantwortung nun auch nachkommen. Wir haben weitere zielgerichtete Maßnahmen auf den Weg gebracht. Die Mietpreisbremse wird kommen; ({17}) sie befindet sich bereits im parlamentarischen Verfahren. Mit der Mietpreisbremse unterbinden wir zielgenau unverhältnismäßig hohe Mieten bei der Weitervermietung in einigen Ballungsräumen. Aber wir müssen zugleich im Blick haben, dass die Mietpreisbremse nur die Symptome lindert. Die Mietpreisbremse baut keine einzige neue Wohnung. ({18}) Des Weiteren werden wir das Wohngeld erhöhen; das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Auch hier ist ein entsprechender Gesetzentwurf auf dem Weg. Damit stellen wir sicher, dass gerade Menschen mit geringem Einkommen direkt unterstützt werden. Mir ist noch ein Punkt wichtig. Gute Wohnungspolitik ist mehr als nur günstige Mieten. Wohnen muss nicht nur bezahlbar, sondern auch lebenswert sein. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass strukturschwache Ortsteile in ihrer Gesamtheit stabilisiert und aufgewertet werden. Deshalb hat der Bund die Städtebaufördermittel auf insgesamt 700 Millionen Euro erhöht. Wir leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Entlastung der Kommunen und zur Schaffung lebenswerter Wohnviertel. ({19}) Meine Damen und Herren, bei allem, was wir tun, müssen wir die Menschen im Auge haben, aber nicht nur diejenigen, die mieten, sondern auch diejenigen, die anderen Menschen Wohnraum zur Verfügung stellen. Wir müssen in Deutschland ein Klima schaffen, das Investitionen in den Bau von Wohnungen zulässt und attraktiv macht. Attraktiv wird eine Investition durch steuerliche Förderung. ({20}) Daher sollten wir im Rahmen der Möglichkeiten unseres Haushaltes auch über eine Sonderabschreibung nachden7792 ken, die auf die Gebiete, in denen die Mietpreisbremse gilt, beschränkt werden könnte. ({21}) Dann würde wieder zielgenau dort die Investition angekurbelt, wo sie benötigt wird. Es ist bereits mehrfach gesagt worden: Nur der Neubau bringt mehr Wohnungen, dadurch mehr Angebot und damit eine Entlastung der Märkte. Aber das Bauen ist in den letzten Jahren sehr teuer geworden. Aus diesem Grund gehören auch die preistreibenden Faktoren auf den Prüfstand: Ich nenne als Beispiel die Grunderwerbsteuer. In meinem Heimatland, Nordrhein-Westfalen, ist mit der Erhöhung in diesem Jahr der traurige Spitzensatz von 6,5 Prozent erreicht. Ich nenne als Beispiel das Bauplanungsrecht: langwierige Umwidmungsverfahren und Baugenehmigungsverfahren, die Stellplatzverordnung. Ist es erforderlich, dass bei der Planung einer Seniorenwohnanlage die gleiche Anzahl von Stellplätzen vorgehalten wird wie bei der Entwicklung eines Baugebietes für junge Familien? Ich bin der Meinung: Nein. Dies treibt die Baukosten in die Höhe und verursacht einen nicht notwendigen Flächenverbrauch. An diesen Beispielen sehen Sie bereits, dass dies Faktoren sind, die der Bund nicht beeinflussen kann. Der Bund tut deshalb das, was er kann: Er holt alle Akteure an einen Tisch. Im Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen sind alle politischen Ebenen - auch die Länder und die Kommunen - und alle handelnden Akteure vertreten: die Bauwirtschaft, die Wohnungswirtschaft und die Mieter. Jeder muss seinen Teil dazu beitragen. Ich erwarte, dass dieses Bündnis zügig konkrete Ergebnisse liefert. ({22}) Letztlich müssen sich auch die Bürger entscheiden, was sie wollen: Wenn sie eine innerstädtische Grünfläche wollen, dann kann an dieser Stelle kein innerstädtisches Baugebiet entstehen; das Tempelhofer Feld hier in Berlin ist das beste Beispiel dafür. Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben die Problematik erkannt und wir handeln bereits. Die Anträge der Linken sind populistisch, zum Teil blanker Unsinn, und gehen ins Leere. ({23}) Es wird Sie daher nicht wundern, dass wir Ihre Anträge ablehnen werden. ({24}) Danke schön. ({25})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Kerstin Kassner, Fraktion Die Linke. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wage mal ganz einfach die These: Unter uns sind einfach viel zu wenige Kommunalpolitiker. ({0}) Sonst würden wir über die Situation der Kommunen nicht nur reden, sondern auch aktiv etwas tun, dass sich an dieser Situation etwas ändert. Die Situation der Kommunen ist in der Tat sehr unterschiedlich: Es gibt welche, denen es gut geht, die auch tatsächlich gestalten können für ihre Bürgerinnen und Bürger, und es gibt Kommunen, denen es nicht gut geht. Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern; hier gibt es sehr viele Kommunen, denen es nicht gut geht. Ich kenne aus meiner Zeit als Landrätin die Haushalte der Kommunen auf der Insel Rügen ausgezeichnet, und ich weiß auch als aktive Kommunalpolitikerin in meiner Heimatgemeinde, wie die Lage dort ist. Es braucht also tatsächlich Möglichkeiten der Gestaltung. Die Kommunen haben mit ihren Vertretungen sehr wohl einen Gestaltungswillen - daran mangelt es nicht -; aber sie haben oft gar keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr, die sie einsetzen können. Deshalb wäre es gut, wenn wir ein solches soziales Wohnungsprogramm hätten, dass wir wirklich den Kommunen wieder Gestaltungsspielräume eröffnen. ({1}) Es ist in der Gegenwart tatsächlich zu beobachten - auf Rügen -, dass Investoren Bebauungspläne bezahlen. Sie wissen ja, wie das ist: Wer die Musik bezahlt, der sagt auch, was gespielt, in diesem Falle: gebaut wird. Ergebnis sind Wohnungsgebiete, in denen im Winter die Rollläden heruntergelassen sind und wo die Bauämter sehr viel zu tun haben damit, Fehlnutzungen von Wohnungen als Ferienwohnungen hinterherzulaufen. Das darf nicht sein! Wir wollen, dass die Kommunen das, was für die Bürgerinnen und Bürger und für die Entwicklungsziele der Kommunen notwendig ist, auch tatsächlich gekonnt einsetzen können. Wir brauchen Möglichkeiten der Stadtentwicklung, dass man eben auf Entwicklungen flexibel reagieren kann, auf die älter werdende Einwohnerschaft, auf mögliche Ansiedlung von jungen Familien, natürlich auch auf Flüchtlingsströme. Dies gilt beispielsweise auch für die Situation in der Hansestadt Greifswald, die gleichzeitig eine Universitätsstadt ist. Dort platzt der Wohnungsmarkt aus den Nähten, weil für die Studierenden keine bezahlbaren Räume zur Verfügung stehen. Hier brauchen wir Programme, die auf diese Entwicklungen tatsächlich reagieren. ({2}) Nun hat ja der Staatssekretär, Herr Pronold, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Land sehr treffend beschrieben. Ich sage Ihnen einmal als Beispiel, wie es bei mir in Mecklenburg-Vorpommern aussieht - übrigens rot-schwarze Regierung. Dort kommen von den 518 Millionen Euro jedes Jahr 21,3 Millionen an. 11,5 Millionen Euro davon packt die Finanzministerin erst einmal in einen Sparstrumpf. Dort liegen jetzt 50 Millionen Euro, und zwar deshalb, weil 2019 das Programm ausläuft und man gar nicht weiß, was dann passiert. Deshalb sagt man: Wir sparen einmal für diese Zeit nach 2019. - Der Rest wird zu großen Teilen als Darlehen ausgereicht. Das bedeutet, dadurch wird keinerlei Absenkung der Mieten erreicht. Das ist eine absolute Fehlentwicklung. Deshalb sage ich: Hier muss man sich dringend an den Tisch setzen, und man muss die Länder in die Pflicht nehmen, dass sie das, was ihnen zur Verfügung steht, wirklich für die Gestaltungskraft der Kommunen einsetzen - das ist meine Forderung -, und das muss schnellstens passieren, nicht erst irgendwann. ({3}) Ein weiterer Bereich, bei dem wir Möglichkeiten haben, etwas aktiv zu tun, ist die BImA. Es gab ja den Verkauf der TLG-Wohnungen. Ich sage Ihnen einmal, was in Stralsund passiert ist. Damals sind 240 Wohnungen an die Tegernsee AG verkauft worden. Diese Wohnungen sind knapp zwei Jahre später weiterverkauft worden. Und was hat der Vorstandsvorsitzende dazu gesagt, warum er das tut? „Ich wäre ja verrückt, wenn ich das nicht täte.“ Es ist eine Möglichkeit, ganz schnell Geld zu machen, und das nicht zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger, sondern zu ihrem Schaden. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir brauchen wieder Gestaltungsspielräume. Ich wünschte mir, dass wir mit solch einem sozialen Wohnungsbauprogramm diese Spielräume tatsächlich wieder bekämen. Tun Sie etwas dafür! ({4})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt Sören Bartol das Wort. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Koalition hat das Thema Mieten, Wohnen und Stadtentwicklung oben auf die Tagesordnung gesetzt. Ich danke den Kollegen von der Linken, dass sie es heute im Bundestag aufgerufen haben. ({0}) Gutes und bezahlbares Wohnen ist eines der zentralen Vorhaben in dieser Legislaturperiode. Barbara Hendricks und Heiko Maas und natürlich auch die gesamte Koalition sorgen dafür, dass es nun auch Schritt für Schritt umgesetzt wird. Wir haben schon 2014 die Städtebauförderung von 455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro aufgestockt, das Programm Soziale Stadt von 40 Millionen Euro auf 150 Millionen Euro. ({1}) Soziale Stadt wird zum ressortübergreifenden Leitprogramm für die soziale Integration in den Städten. Heiko Maas hat bereits im letzten Jahr auch die Mietpreisbremse und das Bestellerprinzip für Makleraufträge auf den Weg gebracht. Das parlamentarische Verfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss jetzt endlich abgeschlossen werden. ({2}) Der Entwurf für die Wohngeldnovelle liegt vor; er geht in den nächsten Monaten ins Kabinett. Erstmals seit 2009 wird damit das Wohngeld wieder erhöht. Die Wohngeldreform entlastet über 900 000 Haushalte; 360 000 davon bekommen durch die Reform zum ersten Mal oder wieder einen Anspruch auf Wohngeld. Wir sorgen dafür, dass Familien und ältere Menschen nicht allein wegen hoher Mieten Arbeitslosengeld oder Grundsicherung im Alter beantragen müssen. Barbara Hendricks hat das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen gestartet und arbeitet gemeinsam mit wohnungswirtschaftlichen Verbänden, den Ländern, dem Mieterbund an Vorschlägen, den Wohnungsbau für Mieter mit geringem Einkommen anzukurbeln. In diesem ersten Regierungsjahr haben wir eben vieles zur Entlastung der Mieter und für die lebenswerten Städte auf den Weg gebracht. Mit der Mietpreisbremse schaffen wir endlich die Möglichkeit, exzessive Preissteigerungen bei Wiedervermietungen zu begrenzen. Das ist eine wichtige Ergänzung zur abgesenkten Kappungsgrenze bei den Bestandsmieten, die viele Länder wie Hamburg, Berlin, NRW, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz schon eingeführt haben. Mit der Mietpreisbremse wird es in angespannten Wohnungsmärkten endlich auch bei neuen Mietverträgen eine Grenze nach oben geben. Maßstab dafür ist die ortsübliche Vergleichsmiete. Das dämpft zugleich die Dynamik der Mietentwicklung insgesamt. Die Mietpreisbremse ist ein ausgewogenes Instrument, das Mieterinnen und Mieter schützt. Neubauten und umfassend modernisierte Wohnungen sind davon ausgenommen, um Investitionen in den Neubau und den Werterhalt nicht auszubremsen. Doch das hält leider manche nicht davon ab, mit einer Verfassungsbeschwerde zu drohen und deutlichen Mieterhöhungen noch vor dem Inkrafttreten das Wort zu reden. Sie übersehen, dass Eigentum verpflichtet. Es geht nicht darum, den Mietwohnungsmarkt außer Kraft zu setzen. Eine angemessene Rendite ist auch mit Mietpreisbremse weiterhin möglich, überzogene Renditen ohne jede Verbesserung des Wohnwerts aber eben nicht. ({3}) Die Statistik zeigt: Je länger angespannte Wohnungslagen anhalten, desto mehr entfernen sich die Angebotsmieten vom Mietspiegel - in teuren Städten im Schnitt um 25 Prozent, sogar in normalen Lagen. Das können sich dann selbst Haushalte mit mittlerem Einkommen nicht mehr leisten. Hier in Berlin ist die Mietpreisspirale in den gehobenen Wohnlagen wie Charlottenburg mittlerweile an die Grenze dessen geraten, was auch Mieter mit höherem Einkommen bereit sind, zu zahlen. Sie weichen jetzt in den Wedding oder nach Lichtenberg aus. Die Angebotsmieten in Charlottenburg sinken, aber der Preisdruck in den einfachen Wohnlagen steigt. Für Haushalte mit niedrigen Einkommen macht die Mietbelastung bis zu 50 Prozent des Einkommens aus. Das trifft vor allem Alleinlebende und Alleinerziehende, aber auch Familien. Sie finden in den Innenstädten keinen bezahlbaren Wohnraum mehr, und das hat natürlich auch Folgen für die soziale Durchmischung der Städte. Deswegen brauchen wir die Mietpreisbremse, und zwar jetzt. ({4}) Ich bin optimistisch, dass wir den wichtigen Gesetzentwurf dazu im Bundestag jetzt schnell abschließend beraten werden, und ich sage es auch ganz deutlich: Ich baue hier auch auf das Versprechen der Kanzlerin und das Versprechen dieser Koalition. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt auch für das Bestellerprinzip bei den Maklergebühren. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Vermieter die Kosten für den Makler nicht mehr einfach auf den Mieter überwälzen können. Unbenommen ist es wohnungssuchenden Mietern natürlich, auf eigene Rechnung einen Makler zu beauftragen. In jedem Fall muss es ab jetzt einen schriftlichen Vertrag über den Suchauftrag geben, und ich sage es noch einmal: Wer bestellt, bezahlt. Das ist ein klares und, wie ich finde, faires marktwirtschaftliches Prinzip. Wir wollen einen besseren Mieterschutz, gleichzeitig aber Investitionen in den notwendigen Neubau. Klar ist: Die Mietpreisbremse alleine bringt keinen bezahlbaren Wohnraum. ({6}) In den wachsenden Städten brauchen wir Neubau, zumal die Zahl der Haushalte und auch die Ansprüche an die Wohnfläche zunehmen. Neubau - vor allen Dingen im unteren und mittleren Preissegment - kann nur gelingen, wenn Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen und mit der Bau- und Wohnungswirtschaft, den Gewerkschaften und dem Mieterbund gemeinsam nach Lösungen dafür suchen, wie Neubau zu vertretbaren Kosten realisiert werden kann. Barbara Hendricks hat das mit dem Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen in Angriff genommen und braucht hier auch die aktive Unterstützung der Länder und der Wohnungswirtschaft. Vor allem auch genossenschaftliche Wohnungsunternehmen müssen in meinen Augen verstärkt in den Neubau investieren. Die Bevölkerung in den großen Städten wächst weiter. In den Uni-Städten sorgen doppelte Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht für stärkere Bevölkerungszuwächse. Die Flüchtlingszahlen bleiben absehbar hoch, und auch der Zuzug aus dem europäischen Ausland hält an. Das spricht für die Attraktivität der Städte, und ich finde, das ist auch gut so. Knapper Wohnraum und steigende Mieten sind allerdings die Kehrseite. Deswegen hat die soziale Wohnraumförderung der Länder eine hohe Bedeutung. Wir haben die klare Erwartung, dass die Länder die Bundesmittel für geförderten Neubau oder auch für den Rückkauf von Belegungsrechten in angespannten Wohnungsmärkten einsetzen, und wir brauchen auch eine Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus, der in den 2000er-Jahren vernachlässigt worden ist. Inzwischen haben etliche Länder ganz klar umgesteuert - allen voran Olaf Scholz in Hamburg. Über 6 000 Wohnungen, davon 2 000 Sozialwohnungen, wurden im letzten Jahr fertiggestellt. Ich finde, das ist eine beeindruckende Zahl. ({7}) In Städten und Ballungszentren ist Bauland oft der entscheidende Engpass. Grundstückskosten machen zum Teil mehr als 20 Prozent der Kosten von Neubauten aus. Die Liegenschaften von Bund, Ländern und Kommunen können deshalb einen Beitrag leisten, Bauland für bezahlbaren Wohnungsbau bereitzustellen. Ich finde, der Bund muss dort mit gutem Beispiel vorangehen. ({8}) In den Koalitionsverhandlungen haben wir die verbilligte Abgabe von Konversionsliegenschaften, insbesondere für Wohnungsbau, erreicht. Das setzen wir auch mit dem Haushalt 2015 um. Flüchtlingsunterbringung wird dabei besonders berücksichtigt. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Aber aus Sicht der SPD gehört die Liegenschaftspolitik insgesamt auf den Prüfstand. Unser Ziel ist, dass beim Verkauf von bundeseigenen Grundstücken nicht nur der Erlös, sondern auch soziale, städtebauliche und auch energetische Belange berücksichtigt werden. ({9}) Konzeptvergaben sind ein bewährtes Instrument. Hamburg zum Beispiel setzt das erfolgreich um und gibt damit einen Anteil von Sozialwohnungen von bis zu einem Drittel vor. Wir wollen auch, dass Kommunen ein verbindliches Erstzugriffsrecht auf Grundlage des natürlich von den örtlichen Gutachterausschüssen ermittelten Verkehrswertes bekommen. ({10}) Für Mieter von bundeseigenen Wohnungen, die zum Beispiel in Berlin zum Verkauf stehen, fordern wir einen vertraglich abgesicherten Schutz vor Umwandlung in Eigentum oder vor Luxusmodernisierung. ({11}) Neben dem Neubau ist der altersgerechte und energieeffiziente Umbau der Wohnungsbestände die große Aufgabe der kommenden Jahrzehnte. Wir schaffen verlässliche Rahmenbedingungen für die Gebäudesanierung, ({12}) stocken die CO2-Gebäudesanierungsprogramme auf 2 Milliarden Euro auf und entwickeln sie weiter, damit die Förderung stärker als bisher in die Breite wirkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist zum Erreichen unserer Klimaschutzziele unverzichtbar. Auch für Eigentümer von Ein- und Mehrfamilienhäusern und Wohneigentumsgemeinschaften soll die Förderung der energetischen Sanierung attraktiver werden. Nicht nur das einzelne Haus, sondern das ganze Quartier haben wir zum Beispiel beim Programm „Energetische Stadtsanierung“ im Blick. Damit energiesparendes Wohnen für alle bezahlbar bleibt, haben wir im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass Mieterhöhungen aufgrund von Modernisierungen in Zukunft begrenzt werden. Das werden wir mit dem zweiten Paket umsetzen. ({13}) Von besonderer Bedeutung ist natürlich das Programm „Soziale Stadt“. Es richtet sich an Städte und Gemeinden mit Quartieren, in denen Arbeitslosigkeit, Bildungsarmut, vernachlässigte öffentliche Räume und soziale Konflikte gehäuft auftreten und die besondere soziale Integrationsleistungen für die gesamte Stadt erbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht eben nicht nur um gute und bezahlbare Wohnungen, sondern um ein gutes Wohnumfeld, um die Zukunftsfähigkeit der Städte insgesamt. Wir wollen lebendige und intakte Nachbarschaften. Dafür steht diese Koalition. Dafür stehen wir. Danke schön. ({14})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zwar heute von der Union nette wohnungspolitische Worte gehört, aber wenn man mit anderen von der Union - mir fallen da spontan Michael Fuchs und Joachim Pfeiffer ein - über Wohnungspolitik redet, dann merkt man, was ihr Problem ist, warum sie in Großstädten nicht ankommen. Sie selber erkennen ja, dass Sie da ein Problem haben. Für Sie sind Wohnungen im Kern Ihrer Partei Rendite- und Anlageobjekte und nicht Heimat und Schutz von Menschen, die dort leben. Genau das ist Ihr Problem. Das atmen Sie in Ihren Reden aus allen Poren aus. Deshalb verhindern Sie hier auch die Mietpreisbremse. Es ist doch unglaublich, dass es hier seit anderthalb Jahren einen politischen Konsens über alle Grenzen hinweg darüber gibt, eine Mietpreisbremse einzuführen. Auch die Kanzlerin hat vor der Bundestagswahl gemerkt, dass sie sich diesem Thema nähern muss. Sie aber bringen hier nichts zustande und können nichts abliefern. Das ist unglaublich. Eine seit anderthalb Jahren angekündigte Mietpreisbremse treibt die Mietpreise sogar noch nach oben. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was eine Mietpreisbremse machen sollte. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Sören Bartol, Ihr Beitrag war gerade zur Hälfte eine Oppositionsrede. ({1}) Das Interessante ist, dass sich das Thema sogar in Ihren Flyern findet, die sich oben vor dem SPD-Fraktionssaal finden. ({2}) Darin ist von bezahlbarem Wohnen in der Stadt die Rede. Da steht: „Gesagt“ - sagen tun sie viel -, aber dann kommt: „getan“ Ich frage mich aber nur: Was haben Sie denn getan? Wo ist die Mietpreisbremse? Schaffen Sie es nicht, die Union dazu zu bewegen? Wo ist die Erhöhung des Wohngeldes? Wo ist ein vernünftiges Programm zur energetischen Quartierssanierung? Das alles liefern Sie an dieser Stelle nicht ab. ({3}) Beim Blick in den Flyer wird es dann ganz lustig. Darin heißt es - ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin -: Die SPD-Bundestagsfraktion fordert zudem, dass in angespannten Wohnungsmärkten geeignete Grundstücke des Bundes nur unter der Auflage verkauft werden, dass auf ihnen zu mindestens 30 Prozent öffentlich geförderter Wohnraum errichtet wird. Sehr richtig. Sie haben nur den Satz vergessen: Wir konnten uns gegen die Union nicht durchsetzen, und deshalb kommt das Ganze nicht. ({4}) Sie errichten da einen Riesenpopanz. Sie reden viel und tun so, als würden Sie etwas machen. Am Ende haben Sie zwar die Ressortzuständigkeit, bekommen aber überhaupt nichts hin. Das ist Ihr Problem, und das sollten Sie wenigstens in Ihre Faltblätter hineinschreiben, damit den Leuten klar wird, wo das Problem ist. ({5}) Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Das ist vielleicht auch ein Hinweis an die Linken. Heute ist viel über die Wohnraumförderung gesprochen worden. Die SPD - auch Herr Pronold eben - feiert sich für etwas, was eigentlich gesetzlich verankert ist und für das bis 2019 519 Millionen Euro gezahlt werden. Wohnungspolitik ist aber ein langfristiges Geschäft. Ich habe auf eine Aussage darüber gewartet, wie es ab 2019 weitergehen soll. Welche Perspektive gibt es für die Wohnraumförderung? Darauf warten die Länder. Das muss endlich geliefert werden. Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. Ganz skurril wird es beim Thema energetische Gebäudesanierung. Sie reden davon, was Sie alles machen wollen ({6}) und legen einen Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz vor. Fragt man am Ende nach der Substanz, dann zeigt sich: Sie haben im Haushalt 2015 im Zusammenhang mit dem Energie- und Klimafonds die Mittel sogar noch abgesenkt. Sie machen weniger als vorher, und genau das ist das Problem Ihrer Wohnungspolitik, meine Damen und Herren. ({7}) Der Kollege Bartol hat sich eben für die energetische Quartierssanierung gelobt. ({8}) Mit diesem Programm fördern Sie zwar ein bisschen was, aber letztlich muss es einen Ansatz geben. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und kann mir kaum eine Kommune vorstellen, die dieses Programm in Anspruch nehmen kann, allein was die Eigenanteile angeht, die vorausgesetzt werden. ({9}) Wir brauchen doch endlich ein Programm - wir Grünen haben dazu den Energieeffizienzfonds vorgeschlagen, der mit 2 Milliarden Euro für die Kommunen ausgestattet werden soll, damit sie vor Ort die Quartierssanierung durchführen können. Das wäre eine richtige Antwort. Dazu kommt aber von Ihnen gar nichts. Sie beschränken sich auf Showpolitik und Gerede, aber es gibt keine Substanz. ({10}) Zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Wir haben in Deutschland gerade in Großstädten eine Mietentwicklung, bei der sich die Menschen Sorgen machen, ob sie auch weiterhin in ihren Wohnungen leben können. Wir erleben Gentrifizierung. Das, was man aus anderen westeuropäischen Großstädten kennt, wollen wir nicht, aber es droht leider: die Gettobildung. Was auch droht, ist eine Immobilienblase in Deutschland. Der Bericht der Bundesbank zeigt, was in diesem Zusammenhang läuft. Es gibt aber keine Antwort der Bundesregierung zu diesem Thema. Sie liefern nicht die notwendigen Antworten, die die Menschen, die auf bezahlbaren und günstigen Wohnraum angewiesen sind, brauchen. Sie liefern keine Antwort auf Immobilienblasen, die entstehen. Am Ende werden nicht nur die Menschen, die auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, sondern auch die Volkswirtschaft insgesamt unter Ihrer nicht vorhandenen, sondern nur angekündigten Politik leiden, meine Damen und Herren. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie haben insofern recht: Auf dem Wohnungsmarkt in Ballungsgebieten und Universitätsstädten herrscht Handlungsbedarf. Auch wenn in weiten Teilen Deutschlands die Wohnungsmärkte gut funktionieren, ist es leider so, dass bezahlbarer Wohnraum in manchen Gebieten Deutschlands knapp ist. Dagegen müssen wir etwas tun, keine Frage. Aber wie so oft in der Politik im Deutschen Bundestag sind unsere Vorstellungen, wie man dieses Ziel erreicht, total unterschiedlich. Sie zeigen mit Ihren Forderungen aufs Neue, dass Sie noch nicht in der sozialen Marktwirtschaft angekommen sind, meine Damen und Herren. ({0}) Ich möchte hier nur einige Punkte Ihrer Forderungen herausgreifen: erstens Aufstockung und Verstetigung der Wohnraumförderung des Bundes bei 700 Millionen Euro jährlich, zweitens eine haushaltsfinanzierte Investitionsoffensive zugunsten der energetischen Gebäudesanierung in Höhe von 5 Milliarden Euro jährlich, drittens eine Verstetigung der Städtebauförderung bei 700 Millionen Euro jährlich für die nächsten zehn Jahre - man höre und staune; da greifen Sie in das Haushaltsrecht des Bundestages in diesen Jahren ein -, ({1}) viertens Auflegung eines Investitionsprogramms für die Entwicklung der ländlichen Räume und deren Vernetzung mit städtischen Zentren in relevanter Höhe. Diese Forderungen, insbesondere die letzte Forderung - das sage ich als Abgeordnete, die aus dem ländlichen Raum kommt -, hören sich grundsätzlich ganz gut an, keine Frage. Aber bei Anträgen der Linken stellt sich immer wieder die gleiche Frage: Wie wollen Sie das finanzieren? ({2}) Das liest sich nicht wie ein seriöser Antrag, den man umsetzen kann, weil das dafür notwendige Geld vorhanden ist, sondern wie ein Wunschzettel nach dem Motto „Wünsch dir was“. So sieht seriöse, verantwortungsvolle und nachhaltige Politik nicht aus. ({3}) Sie bestätigen einmal mehr, dass Sie ein ganz eigenes bzw. kein Verhältnis zum Steuergeld haben. Ihnen scheint es egal zu sein, wie hoch der Schuldenberg des Bundes anwächst. Wir dagegen haben in diesem Hohen Hause im November letzten Jahres den ersten ausgeglichenen Haushalt seit 45 Jahren beschlossen; denn wir wollen unseren Kindern Chancen statt Schulden vererben. Das nenne ich verantwortungsvolle und zukunftsgerichtete Politik. ({4}) Sie dagegen fordern immer mehr. Gleichzeitig werfen Sie dem Bund vor, im sozialen Wohnungsbau sei in den letzten Jahren zu wenig passiert. Hier müssen wir aber auf die Zuständigkeiten blicken. Das heißt, wir müssen auf die Länder schauen. In unserem föderalen System sind die Bundesländer für den sozialen Wohnungsbau zuständig. Das wollen sie auch, und das soll auch so bleiben. Der Bund stellt ihnen dafür 518 Millionen Euro zur Verfügung. Dieser Betrag wird in den nächsten Jahren verstetigt. Wenn man aber einen genaueren Blick auf die Länder wirft, dann zeigt sich ein ganz unterschiedliches Bild. Einige Länder nehmen diese Verantwortung wahr; Herr Staatssekretär Pronold hat das erwähnt. Frau Lay, Sie haben vorhin einen Zuruf gemacht - ich habe ihn genau verstanden - und gefragt, wie denn die Bilanz in unseren Ländern aussieht. - Frau Lay, würden Sie mir kurz zuhören? ({5}) - Gut. - Bayern, das Land, aus dem ich komme, ist hier einmal mehr ein ausgezeichnetes Beispiel. Bayern hat die Gelder zur Förderung des sozialen Wohnraums verwendet. Wir in Bayern haben zielgerichtet investiert. Andere Länder haben nichts oder nur sehr wenig investiert. Daher muss ich einmal mehr sagen: Es kann nicht sein, dass der Bund den Ländern Gelder für den sozialen Wohnungsbau überweist und dass manche Länder dann diese Gelder nutzen, um ihre Haushaltslöcher zu stopfen; das geht so nicht. ({6}) In Berlin war das fast ein Jahrzehnt - wen wundert’s? unter Rot-Rot der Fall. Erfreulicherweise hat sich die Situation in Berlin seit der rot-schwarzen Koalition deutlich verbessert; Herr Mindrup hat das bei uns im Ausschuss erwähnt. Dazu kann ich nur sagen: Kaum ist die Union statt der Linken an der Regierung beteiligt, ändert sich etwas, ({7}) wenn es um die sinnvolle Verwendung von Steuergeldern geht. Hier kann man das an einem ganz konkreten Beispiel deutlich machen. Kaum auszudenken ist, was wäre, wenn in Berlin die Union allein in der Verantwortung stünde. Allerdings ist das wohl eher ein theoretisches Gedankenspiel. ({8}) Wir diskutieren heute darüber, wie viele öffentliche Gelder in den sozialen Wohnungsbau investiert werden sollten. Wichtig ist aber auch, dass der Gesetzgeber die Weichen beim Mietrecht - Stichwort „Mietpreisbremse“ so stellt, dass noch Anreize zum Bauen und Investieren gesetzt werden. Wenn wir zu diesem Thema anderen Anträgen der Linken folgen würden, dürfte es in Zukunft Mieterhöhungen nur noch in Höhe der Inflation geben. Das wäre keine Mietpreisbremse, sondern eine Investitionsbremse. In der aktuellen Diskussion ist es deshalb entscheidend, dass wir diese Mietpreisbremse klug ausgestalten. Wenn wir hier dem Modell der Linken folgten, würde niemand in neue Wohnungen investieren. Das würde die Situation auf den angespannten Wohnungsmärkten noch weiter verschärfen, und das kann auch keiner wollen. Deshalb haben wir uns in den Verhandlungen dafür eingesetzt, dass die Vermietung von neu errichteten Wohnungen aus dem Anwendungsbereich der Mietpreisbremse ausgenommen wird. Das ist jetzt auch so im Gesetzentwurf enthalten, der zurzeit im Parlament diskutiert wird. Diese Ausnahme - auch das möchte ich an dieser Stelle sagen - wünsche ich mir auch für umfassend modernisierte Wohnungen. Herr Bartol, Sie haben es vorhin erwähnt. Auch die, hatten Sie gesagt, seien ausgenommen. Aber bisher ist bei den umfassend modernisierten Wohnungen nur die erste Vermietung aus der Mietpreisbremse ausgenommen. Eine komplette Ausnahme wie für Neubauten würde die Anreize für die Durchführung von solchen Modernisierungsmaßnahmen noch erhöhen. Als Klimapolitikerin sage ich: Das ist genau das, was wir uns auch unter klimapolitischen Gesichtspunkten wünschen. 40 Prozent des Endenergieverbrauchs und etwa ein Drittel der CO2-Emissionen in Deutschland fallen im Gebäudebereich an. Diese Einsparpotenziale müssen wir nutzen. Das kürzlich beschlossene Klimaaktionsprogramm der Bundesregierung schafft mit der steuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanierung dafür die richtigen Investitionsanreize. Nun sind an dieser Stelle die Bundesländer am Zug. Aber der Bundesrat hat erneut einen entsprechenden Antrag der Bayern vertagt. Deshalb appelliere ich hier erneut an die Bundesländer. Herr Krischer, wo sind hier die grünen Abgeordneten, auch in den Bundesländern? ({9}) Die Grünen müssten doch diesen Prozess noch beschleunigen, ({10}) damit die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung endlich kommt. Machen Sie jetzt endlich mit. Lassen Sie uns gemeinsam diese Chance am Schopf packen. ({11}) - Bayern hat den Antrag im Bundesrat gestellt. Der ist vertagt worden. Wenn wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen, finden wir endlich eine Lösung. Wir Klimapolitiker und, wie ich glaube, alle Politiker in diesem Haus, die meisten jedenfalls, wollen diese energetische Sanierung und die steuerliche Förderung. ({12}) Auch für Millionen Mieter in unserem Land wäre das gut; denn sie sparen durch die energetische Modernisierung langfristig bares Geld. Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die Unterbringung von Flüchtlingen an. Uns allen liegt daran, die schutzbedürftigen Menschen, die zu uns kommen, angemessen unterzubringen. Ziel dabei ist, die Menschen dezentral an vielen Orten, auch in leerstehenden Häusern, unterzubringen, auch um zu vermeiden, dass Gemeinden mit sehr großen Notunterkünften überfordert werden und die Willkommenskultur, die wir momentan noch in Deutschland haben, dadurch gefährdet wird. Diese Lösungen müssen wir gemeinsam umsetzen - und das auch kurzfristig. Genau deshalb haben wir im November, übrigens gegen die Stimmen der Linken, ein Gesetz verabschiedet, das die Kommunen bei der Flüchtlingsunterbringung unterstützt. Die Änderungen im Baugesetzbuch erweitern den Handlungsspielraum der Städte und Gemeinden, um Flüchtlinge schneller und einfacher angemessen unterbringen zu können. Damit helfen wir den Menschen mehr, als wenn wir immer nur utopische Forderungen stellen. ({13}) Bei einem Punkt sind wir uns allerdings gar nicht so fern: der Städtebauförderung. Ich freue mich außerordentlich darüber, dass wir die Mittel der Städtebauförderung auf einem Rekordniveau von 700 Millionen Euro verstetigt haben, im Hinblick auf unsere Staatsfinanzen jedoch zunächst nur bis zum Ende der Legislaturperiode. Das ist ein starkes Signal an unsere Städte und an unsere Gemeinden, ein starkes Signal auch mit Blick auf die Herausforderungen, denen sie derzeit gegenüberstehen, weil immer mehr Menschen in unser Land kommen und in unserem Land Schutz suchen. Gerade das Programm „Soziale Stadt“, das wir deutlich aufgewertet haben, kann dazu einen Beitrag leisten. Diese Mittel können für die Integration der Flüchtlinge eingesetzt werden, beispielsweise durch Angebote wie Nachbarschaftstreffen für Flüchtlinge und die örtliche Bevölkerung. Das trägt auch zur Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für die Zuwanderer bei, die wir dringend brauchen. ({14}) Dennoch bin ich der Meinung, dass das Programm „Soziale Stadt“ weiterhin in erster Linie für investive Maßnahmen eingesetzt werden sollte; denn das ist das Wesen der Städtebauförderung und ihr Erfolgsrezept. ({15}) Zusammenfassend möchte ich sagen: Ihre Vorschläge zeigen einmal mehr, dass Ihre Politik weit an der Realität vorbeigeht. Deshalb kann ich, wie meine gesamte Fraktion, Ihren Antrag nur ablehnen. Vielen Dank. ({16})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Klaus Mindrup. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Karl Valentin ist hier ja eben schon zitiert worden. Ich kann noch ein Zitat anfügen: Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Ich möchte versuchen, die Richtigkeit dieses Zitats an dieser Stelle nicht zu bestätigen. ({0}) Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen haben ein wichtiges Thema auf die Tagesordnung gesetzt; da sind wir uns hier einig. ({1}) - Sie von der Linken waren das. Entschuldigen Sie, ich habe gerade in die falsche Richtung geschaut. Das Thema, das Sie aufgegriffen haben, ist vernünftig. Deutschland hatte im Jahr 2013 einen Einwanderungsüberschuss von ungefähr 430 000 Einwohnern. Allein nach Berlin sind 47 000 Menschen gekommen. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Tatsache kann man nicht länger ignorieren und auch nicht länger leugnen. ({2}) Das muss natürlich auch eine andere Wohnungspolitik zur Folge haben. Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen Wohnungen, und sie sollen nicht die Mieterinnen und Mieter aus ihren angestammten Wohnungen verdrängen; deswegen brauchen wir Wohnungsneubau. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber ich kann Ihnen aus meinem Wahlkreis sagen: Wenn städtische Gesellschaften, nicht private, oder Genossenschaften neuen Wohnraum schaffen wollen, sind die Linken im Protest immer vorne dabei, egal ob es um eine Brache in der Innenstadt oder um eine Bebauung am Stadtrand geht. Das Argument ist immer dasselbe: „Anderswo geht es besser.“ Oder: „Wir brauchen das gar nicht.“ ({3}) Insofern kann ich Ihnen für diesen Antrag sehr dankbar sein. Er ist eine Argumentationshilfe für uns. Das Positivste an diesem Antrag ist, dass darin festgestellt wird, dass Wohnungsneubau etwas ist, was wir brauchen. ({4}) Aber Wohnungsneubau allein ist nicht die Lösung. Wir müssen auch die heutigen Bestandsmieter stärker und besser schützen. Dazu bietet der Koalitionsvertrag eine hervorragende Handlungsgrundlage. Die müssen wir jetzt aber umsetzen, und dafür haben wir Tempo aufzunehmen. Ich denke, das ist aus Sicht der SPD ganz klar. Das Bündnis für bezahlbares Wohnen ist bereits erwähnt worden. Ich möchte an dieser Stelle einen Punkt herausgreifen: die Liegenschaftspolitik. Es ist hervorragend, dass sich Berlin und der Bund auf einen Erstzugriff für die 4 600 Geschosswohnungen zum gutachterlichen Verkehrswert geeinigt haben. Diese Einigung ist bereits an einer Stelle umgesetzt worden: bei den 84 Wohnungen des Quartiers Londoner Straße/Themsestraße. Das zeigt, dass man sich einigen kann, dass BImA, Bundesrepublik und Kommune, in diesem Fall Berlin, zum Nutzen der Mieterinnen und Mieter zusammenarbeiten. Außerdem zeigt es - das ist ein ganz wichtiger Hinweis -, dass dies eine Politik ist, die einer Blasenbildung entgegenwirkt, nämlich weil zum Verkehrswert veräußert wird. Ich hoffe, dass die Verhandlungen über diese 4 600 Wohnungen in diesem Jahr zum Abschluss gebracht werden können, und ich hoffe, dass es anschließend auch eine Lösung für das Problem der Potenzialflächen gibt. ({5}) Alles, was ich höre, und zwar von beiden Seiten, ist, dass man auf einem guten Weg ist. Aber eins ist klar: Das, was für Berlin gilt, muss auch für alle anderen Städte und Gemeinden in Deutschland gelten. Das ist die Richtschnur, und das muss auch anderswo umgesetzt werden. ({6}) Zu den Konversionsflächen gibt es bereits einen entsprechenden Beschluss des Haushaltsausschusses. Ich denke, dass die Koalition hier aufgefordert ist - die SPD unterstützt das -, die BImA auf eine entsprechende Beschlussgrundlage zu stellen, damit sie für ihr Handeln parlamentarischen Rückhalt hat. Wir müssen an dieser Stelle liefern. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, sind wir uns hoffentlich bald einig. Man muss aber auch einräumen, dass für die drei Häuser in Schöneberg keine Lösung gefunden werden konnte, zumindest bisher nicht. Hier sagt Berlin, dass der Erwerb zu den aufgerufenen Konditionen wirtschaftlich nicht möglich ist; Berlin beruft sich auf die Landeshaushaltsordnung. Die BImA sagt: Die Haushaltsordnung des Bundes legt fest, man könne nicht unter Gutachterwert veräußern. - Irgendetwas stimmt an dieser Stelle nicht. Man muss klar sagen - das sage ich auch an dieser Stelle -: Das ist der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln. Eins muss man allerdings auch sagen: Wir kennen noch nicht alle Einzelheiten dieses Einzelfalls, insbesondere nicht das Wertgutachten; insofern können wir das hier nicht beurteilen. Das wird uns sicherlich noch an anderer Stelle beschäftigen. Kommen wir zurück zum Antrag. Die Linken fordern, dass die Kompensationszahlungen des Bundes für die Wohnraumförderung auf 700 Millionen Euro - eine schöne Zahl - jährlich erhöht werden, begründen aber nicht, warum. Sind nicht 800 Millionen oder 900 Millionen Euro besser? Das ist hier aber nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist: Wie sieht die Gesamtstrategie aus? Und dazu hat der Kollege Pronold schon etwas gesagt. Wir brauchen eine Gemeinschaftsaufgabe, ein gemeinschaftliches Herangehen von Bund, Ländern und Gemeinden. Wir als Bund sind hier schon vorangegangen, konkret bei der Aufstockung der Städtebaufördermittel und zum Beispiel auch beim Zuschuss für das barrierefreie Wohnen; das gehört auch in dieses Kapitel hinein, und das haben wir auf den Weg gebracht. ({7}) Die energetische Quartierssanierung wurde hier eben so abgetan, und es wurde gesagt, sie würde nicht funktionieren. Ich habe mir die aktuellen Zahlen geben lassen. Mir wurde gesagt: Der Mittelabruf steigt. - Das ist etwas Positives. Verbesserungsbedarf besteht noch insofern, als dass Gemeinden in Haushaltsnotlagen einen geringeren Eigenanteil aufbringen müssen. Ich höre aber: Da ist man auch dran. Insofern kann ich sagen: Die Koalition ist unterwegs. Die Richtung stimmt. Aus Sicht der SPD können wir allerdings noch etwas beschleunigen. Das ist vor allen Dingen ein Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen aus der Union. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Jetzt hat die Kollegin Yvonne Magwas von der CDU/CSU das Wort. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner aus der Großen Koalition haben bereits die wesentlichen Argumente zu den vorliegenden Anträgen der Linksfraktion genannt; ({0}) ich werde mich deshalb vor allem auf zwei, drei Aspekte konzentrieren, die mir wichtig sind. Es geht schon los, wenn wir uns die Überschriften der Anträge anschauen. Die reichen von einem linksrevolutionären „Marktmacht brechen“ ({1}) bis hin zu einem etwas milderen „Soziale Wohnungswirtschaft entwickeln“. ({2}) Beide Überschriften erwecken aber den Eindruck, als ob wir in Deutschland zwei dramatischen Situationen ausgesetzt sind: Erstens. Da herrschten irgendwelche finsteren Mächte des Marktes im Wohnungssektor, und diese müssten besiegt werden. Zweitens. Eine soziale Wohnungswirtschaft müsse erst einmal entwickelt werden. Dem Titel nach existiert ja eine solche in Deutschland überhaupt nicht. Jetzt kann man einfach anführen, es handele sich nur um die Überschriften; man solle sich doch einmal den Text anschauen. ({3}) Doch ist die Überschrift immer auch die Visitenkarte eines Textes. Sie sagt etwas darüber aus, was der Inhalt des Textes zutage fördern wird und was der Autor im Sinn hat. In diesem Fall, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, radikalisieren und bagatellisieren die Überschriften den Wohnungsstandort Deutschland. ({4}) Sie erwecken nämlich einen Anschein, der nichts mit der Realität und der wirklichen Situation in unserem Land zu tun hat. ({5}) Und sie lassen darauf schließen - das ist eindeutig erkennbar -, wie grundsätzlich negativ die Linke unser Land betrachtet. Im Text der Anträge selber werfen Sie den Koalitionsfraktionen vor, die beschlossenen Maßnahmen würden nicht ausreichen oder seien überhaupt nicht geeignet. Sie bagatellisieren also die Mietpreisbremse, ({6}) Sie bagatellisieren das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, Sie bagatellisieren die Baukostensenkungskommission, ({7}) und Sie bagatellisieren die Bundeskompensation in Höhe von 518 Millionen Euro an die Länder. Kein Wort fällt Ihnen zu der von uns angeschobenen Wohngeldnovelle ein. ({8}) Die Mittel aus dem Bereich der Städtebauförderung reichen Ihnen nicht aus. Und auch, dass wir die Kommunen um Milliarden entlasten, damit sie wieder Aufgaben im sozialen Wohnungsbau wahrnehmen können, ignorieren Sie vollends. ({9}) Sie hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, bleiben sich durchaus treu. Wie heißt es so oft? Viel heiße Luft und wenig bis gar nichts dahinter! In Österreich nennt man diese Vorgehensweise „Dampfplauderei“, und genau das passt zu Ihren Anträgen. ({10}) Stattdessen würde es zu guter Arbeit gehören, wenn Sie wesentliche Fragen beantworten könnten, etwa: Wie wollen Sie das Ganze finanzieren? ({11}) Wo wollen Sie sparen? Wen wollen Sie im Gegenzug für all die Wohltaten, die Sie großzügig verteilen wollen, belasten? - Es ist eine Wunschliste, eine Wunschliste ohne Gegenfinanzierung. Schauen wir uns einmal die Anträge an - wir können darin viele schöne Zahlen lesen -: 5 Milliarden Euro hier, 700 Millionen Euro da, 700 Millionen Euro dort. Hinzu kommen ein neues Investitionsprogramm in „relevanter Höhe“ und obendrauf noch Forschungs- und Förderprogramme zur Entwicklung neuer Wohnformen. Flankiert wird diese wohnungspolitische Wundertüte natürlich mit nicht praktikablen Vorschlägen wie zum Beispiel dem diffusen „Einfrieren“ von Energie- und Wasserpreisen unter bundeseinheitlicher Aufsicht. Meine Damen und Herren, ich möchte es wiederholen: Nichts in den Anträgen halte ich für durchdacht. ({12}) Ihre Anträge sind getragen von einer absurden Ansicht, und das ist natürlich nicht unser Anliegen. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union macht Politik für alle Menschen im Land und nicht für eine bestimmte Klientel. ({14}) Würdiges Wohnen ist eine Aufgabe, um die sich Bund, Länder und Kommunen gemeinsam kümmern. Dazu gehört für uns auch die Beachtung eines einfachen Grundsatzes: Ich kann nur das ausgeben, was ich einnehme. Mit der Schwarzen Null und einem ausgeglichenen Haushalt betreiben wir eine generationengerechte Politik. Niemand kann heute Wohltaten verteilen, die dann die nächste Generation schultern muss. Dies verlangt aber die Linke in ihrem Antrag. Die Leute im Land verdienen, dass man ihnen ehrlich sagt, was man finanzieren kann und was man nicht finanzieren kann. ({15}) Meine Damen und Herren, meine Kollegen haben es schon angesprochen: Leider wird die vom Bund geleistete Kompensation für den Wegfall der Finanzhilfe für den sozialen Wohnungsbau in den Bundesländern nicht immer komplett für den sozialen Wohnungsbau verwendet. ({16}) Das ist zu kritisieren. ({17}) Wir erwarten im Gegenzug für die vom Bund geleisteten Mittel - so steht es auch im Koalitionsvertrag -, dass die Länder diese zweckgebunden für den Bau neuer sozialer Wohnungen einsetzen. Überhaupt sollten wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf die einzelnen Bundesländer richten. Berlin war zur Zeit der linken Regierungsbeteiligung komplett aus dem sozialen Wohnungsbau ausgestiegen. ({18}) Aber auch das mit Ihrer Beteiligung regierte Brandenburg ist ein Sorgenkind in Sachen sozialer Wohnungsbau. Lassen Sie mich kurz aus dem Rechnungshofbericht des Landes Brandenburg aus dem Jahr 2014 zitieren. Da heißt es: Das Ministerium - für Infrastruktur und Landesplanung beabsichtigte, bis 2013 für den Neubau von Mietwohnungen in Innenstädten Fördermittel von 30,0 Mio. Euro einzusetzen. Im Jahr 2011 standen davon 10,0 Mio. Euro zur Verfügung. So schön, so gut. Es gab dann einen Wettbewerb, und die Jury wählte 16 Anträge mit insgesamt 336 Wohneinheiten aus. Ich zitiere weiter: Nach drei Jahren befanden sich von diesen 16 grundsätzlich bestätigten Projekten lediglich … vier Vorhaben in der Umsetzung: … Damit förderte das MIL letztlich den Neubau von 72 Mietwohnungen im gesamten Land Brandenburg und stellte dafür Fördermittel von 2,2 Mio. Euro zur Verfügung. ({19}) Das entspricht 1 % der zwischen 2007 und 2013 insgesamt für die Wohnraumförderung bewilligten Mittel. Das schreibt der Landesrechnungshof. Schon allein das ist im Angesicht der vorliegenden Anträge eine Farce. Aber es kommt noch ein klein wenig dicker: Das Land Brandenburg hat im vergangenen Jahr die Kappungsgrenzenverordnung eingeführt. Im Ergebnis wurden 30 Brandenburger Gemeinden ermittelt, in denen es zu wenige Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen gibt.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Frau Kollegin Magwas, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich zu?

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin fast fertig, das können wir hinterher bilateral klären. Danke schön. ({0}) 30 Brandenburger Gemeinden wurden ermittelt, in denen es zu wenige Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen gibt. Leider ergibt sich daraus auch der Schluss, dass Brandenburg versucht hat, die Fehlentwicklungen der eigenen Baupolitik zu kaschieren. Das ist die Realität der linken Politik, meine Damen und Herren. ({1}) Im Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition auf ein umfangreiches Paket an Maßnahmen verständigt, um die Wohnsituation in Deutschland weiter zu verbessern. Diese Maßnahmen sind zum Teil schon verabschiedet, andere werden auf den Weg gebracht. Lassen Sie mich die Maßnahmen noch einmal stichpunktartig zusammenfassen: das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, hier vor allem die Baukostensenkungskommission, die Mietpreisbremse, die anstehende Wohngeldnovelle, die finanzielle Entlastung der Kommunen, die Städtebauförderung und natürlich die Bereitstellung von Finanzmitteln, die wir konkret für den sozialen Wohnungsbau an die Länder geben. ({2}) Meine Damen und Herren, die Linke gaukelt uns allzu gerne vor, sie würde die einzig wahre Sozialpolitik für die Menschen in unserem Land machen. Sozialpolitik ist aber auch das, was die Große Koalition tut, nämlich zum einen durch die bereits erwähnten Maßnahmen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, zum anderen - das ist die wesentliche Grundlage - durch eine solide und generationengerechte Haushaltspolitik. Nur eine solche Kombination an Entscheidungen garantiert, dass es den Menschen in unserem Land gut geht. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Liebich für eine Kurzintervention. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin, herzlichen Dank für das charmante Angebot, dass wir das privat klären können. ({0}) Aber ich würde gerne alle hier an den Informationen teilhaben lassen. Ich habe in der Zeit, über die Sie hier gesprochen haben, als Fraktionsvorsitzender der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin gearbeitet und würde gerne über einen Punkt informieren. Sicherlich haben wir damals auch Fehler gemacht - das soll ja beim Regierungshandeln vorkommen -, aber der Ausstieg aus dem sogenannten sozialen Wohnungsbau in Berlin war aus meiner Sicht sehr richtig. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: In Berlin war es so, dass das Land Berlin unter der CDUSPD-Regierung, aber auch schon davor, zu Westberliner Zeiten, einen ganz besonders kreativen Weg gewählt hat, den sogenannten sozialen Wohnungsbau zu betreiben. Es war nämlich so, dass die Immobilienfirmen direkt das Geld bekommen haben und die sogenannten Sozialmieten höher waren als die Vergleichsmieten auf dem freien Markt. Deshalb hat sich das Land Berlin entschieden, dort auszusteigen. Dagegen gab es massive Klagen der Immobilienunternehmen. Am Ende haben wir in allen Verfahren gewonnen. Ich glaube, dass man damit dem Landeshaushalt einen Gefallen getan hat und den Mietern nicht geschadet hat. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Dann hat die Kollegin Ulli Nissen von der SPD-Fraktion als nächste Rednerin das Wort. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist gutes, bezahlbares Wohnen sehr wichtig. Deshalb ist es schön, dass ich heute dank des Wünsch-dir-was-Antrags der Linken dazu Stellung nehmen kann. Wenn wir schon beim Wünschen sind: Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute die Mietpreisbremse debattiert und beschlossen hätten; ({0}) aber es gibt leider noch einige kleine Bremsklötze. Ich bin mir jedoch sicher, dass die Nöte der Mieterinnen und Mieter auch meinen lieben Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU eine Herzensangelegenheit sind und wir möglichst umgehend eine Lösung finden. ({1}) Viele von uns kommen aus Städten, die einen angespannten Wohnungsmarkt haben. Ich selber komme aus Frankfurt. Die Stadt wächst jährlich um 15 000 Menschen. Deshalb wissen wir, wie schwer es ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst. Wir haben da eine Menge zu tun und handeln dort, wo wir es auf Bundesebene auch wirklich können. Damit Wohnen nicht zum Luxus wird, haben wir als rot-schwarze Bundesregierung bereits eine Menge in Angriff genommen. Nur ein kurzer Auszug unserer bereits beschlossenen Maßnahmen: Erhöhung der Mittel für die Städtebauförderung, deutlich mehr Geld für das Programm „Soziale Stadt“ und die Schaffung des Bündnisses für bezahlbares Bauen und Wohnen. Natürlich wäre es super, wenn wir für diese Maßnahmen weitere Mittel aus dem 10-Milliarden-Euro-Sonderprogramm bekommen würden. Daran müssen wir alle wirklich arbeiten; das ist notwendig. Zusätzlich werden wir das Wohngeld erhöhen und die Warmmiete als Grundlage nehmen. Über 300 000 Menschen werden davon profitieren, und darüber freue ich mich. ({2}) Im Antrag der Linken wird gefordert, die Unterbringung von Flüchtlingen in Massenunterkünften unverzüglich zu beenden und sie stattdessen in städtische und ländliche Wohnstrukturen zu integrieren - super Forderung! Das meine ich mit „Wünsch dir was“. Ich würde es gerne sofort umsetzen. Aber was mache ich in einer Stadt wie Frankfurt mit einer langen Liste von Menschen mit Wohnberechtigungsschein, die auf eine Wohnung warten? Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, was sollen wir tun, wenn wir keinen entsprechenden Wohnraum nach Ihren Vorstellungen anbieten können? Sollen wir die Menschen auf die Straße setzen? Natürlich versuchen wir, alle Personen menschenwürdig, am besten in kleinen Wohneinheiten, unterzubringen. Bei uns in Frankfurt werden Flüchtlinge von der Nachbarschaft herzlich willkommen geheißen. Ich bedanke mich bei allen für ihr großes Engagement. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wohnungsnot kann der Bund alleine nicht beseitigen. Auch Kommunen spielen dabei eine wichtige Rolle. Was vor Ort direkt und besser gelöst werden kann, sollte auch dort erledigt werden - auch deshalb haben wir ein föderales System. Frankfurt nimmt die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum sehr ernst, insbesondere seit Peter Feldmann Oberbürgermeister ist. Der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, ABG Frankfurt Holding, gehören gut 50 000 Wohnungen. Sie nimmt bis 2019 2,4 Milliarden Euro in die Hand, um 6 200 neue Wohnungen zu schaffen, davon 37 Prozent im geförderten Bereich. Das ist vorbildlich, reicht aber lange noch nicht aus. Wir haben nur noch wenig bebaubare Grundstücke; das Thema ist schon angesprochen worden. Ich denke, das ist in vielen anderen angespannten Wohnungsmärkten ähnlich. Da müssen die Kommunen vor Ort auch selber nach Lösungen suchen. Das kann der Bund für sie eben nicht erledigen. Wir denken zum Beispiel in Frankfurt darüber nach, innerstädtische Autobahnen zu überbauen. Damit hätten wir zwei Dinge erreicht: einerseits neue Bauflächen, andererseits Lärmschutz. Es wäre schön, wenn der Bund solche Modelle finanziell fördern könnte; nicht nur in Frankfurt, sondern auch an anderen Orten. ({4}) Kommunen könnten auch Milieuschutzsatzungen erlassen. In den betroffenen Gebieten müssten dann alle Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen der Stadt zur Genehmigung vorgelegt werden. Nicht erlaubt sind dann beispielsweise Maßnahmen, die zu Luxussanierungen führen. Damit soll die Verdrängung von Mietern aus gefragten Stadtteilen verhindert werden. Es ist gut, dass sich vor Ort Bündnisse zusammentun, um sich gegen die Verdrängung zu wenden. Als vorbildlich in Frankfurt nenne ich zum Beispiel die „Nachbarschaftsinitiative Nordend Bornheim Ostend“. Am Samstag werde ich Mitglieder in einem betroffenen Objekt in der Wingertstraße 21 treffen. Ich freue mich schon heute darauf. Auch die Länder können viel tun, unter anderem eine Landesverordnung erlassen, mit der die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen unter Genehmigungsvorbehalt gestellt werden kann. Dies würde uns nicht nur in Frankfurt helfen, sondern sicherlich auch in anderen Kommunen. Leider gibt es dies in Hessen unter der schwarz-grünen Landesregierung nicht. Das bedauere ich sehr. ({5}) Es gibt bekanntermaßen große Probleme für Mieter durch Eigenbedarfsklagen bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Auch hier könnten Länder gemäß § 577 a BGB mit Rechtsverordnungen Gemeinden festlegen, in denen die Wohnungsversorgung besonders gefährdet ist, und damit einen verlängerten Kündigungsschutz von bis zu zehn Jahren festlegen. Leider ist auch hier unter Schwarz-Grün in Hessen keine Verbesserung eingetreten. Es blieb bei fünf Jahren - wie unter CDU und FDP. Das finde ich sehr peinlich und bedauere ich sehr. Eine moderne, soziale, zielgerichtete Wohnungspolitik kann also nur im Zusammenspiel aller Beteiligten - Bund, Länder, Kommunen und Akteure des Wohnungsbaus - gelingen. Lassen Sie uns gemeinsam auf allen Ebenen kämpfen, um den Menschen zu helfen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3744 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 4 b: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Marktmacht brechen - Wohnungsnot durch Sozialen Wohnungsbau beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3854, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/506 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? - Die Linke. Wer enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Einlagensicherungssysteme ({0}) Drucksache 18/3786 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt haben, eröffne ich die Aussprache. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn Als erster Redner in dieser Aussprache hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister das Wort. ({2})

Dr. Michael Meister (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002733

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im November vergangenen Jahres haben wir hier ein großes Gesetzespaket zur Umsetzung der Europäischen Bankenunion verabschiedet. Mit dem Sanierungs- und Abwicklungsgesetz sind die Vorschriften für eine Eigentümer- und Gläubigerhaftung im Falle einer Bankenschieflage am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Ich glaube, dass das ein wichtiger Schritt ist, um erstens dem Haftungsprinzip in Europa zur Durchsetzung zu verhelfen und um zweitens eine bessere Trennung zwischen der Staatsfinanzierung und der Finanzierung des Finanzsektors zu gewährleisten. Das war ein wesentlicher Baustein zur Stabilisierung der Finanzsysteme in Europa. ({0}) Im November vergangenen Jahres ist auch der einheitliche Aufsichtsmechanismus in Kraft getreten. Die Europäische Zentralbank hat die Aufsicht über die größten und risikoreichsten Banken innerhalb Europas übernommen. Damit ist es, wie ich glaube, gelungen, für eine qualitativ bessere Aufsicht über diesen Sektor zu sorgen. Wir haben im Dezember des Weiteren die Befüllung eines Fonds zur Restrukturierung und Abwicklung von Banken, den sogenannten Abwicklungsfonds - er wird im nächsten Jahr in Kraft treten -, vereinbart. Es ist uns auch dabei gelungen, wie ich glaube, dafür zu sorgen, dass der Bankensektor in Zukunft selbst fair und ausgewogen an der Finanzierung von Abwicklungs- und Restrukturierungsmaßnahmen beteiligt wird. Heute diskutieren wir über einen weiteren Baustein, um das europäische Bankensystem stabiler zu machen. Das Kabinett hat am 19. November einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der neu gefassten Einlagensicherungsrichtlinie beschlossen. Es geht um einen Rechtsanspruch, damit die Sparer in Zukunft - ganz gleich, was in Europa passiert - nicht in Schlangen vor den Banken stehen müssen, sondern sich darauf verlassen können, dass ihre Ersparnisse gesichert sind und diese ihnen auch kurzfristig wieder zur Verfügung stehen. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Schritt, um Vertrauen bei den Sparern in Europa und in Deutschland zu erzeugen. ({1}) Meine Damen und Herren, unser Ansatz ist es gewesen, mehr Sicherheit und mehr Vertrauen für die Sparer in Deutschland zu schaffen. Es ist uns nicht darum gegangen, eine gemeinsame Haftung in Europa zu organisieren. Ja, wir wollen gemeinsame, harmonisierte Regeln für die Einlagensicherung, aber wir wollen keine gemeinsame Haftung, weil es nicht darum gehen kann, Sparervermögen in Europa umzuverteilen. Ich glaube, auch an dieser Stelle haben wir eine grundsätzlich richtige Entscheidung getroffen. ({2}) Wenn über die Einlagensicherung diskutiert wird, dann erinnern wir uns alle noch an die Bilder aus Großbritannien, als die Menschen im Zuge der großen Finanzkrise - Stichwort: Lehman - im Jahr 2008 in Schlangen vor den Banken standen. Ich will darauf hinweisen, dass dasselbe Phänomen im vergangenen Jahr aufgetreten ist, als wir uns mit der Frage „Wie liquide sind eigentlich bulgarische Banken?“ befasst haben. Deshalb geht es darum, nicht nur wegen des Phänomens Finanzkrise Vertrauen und Sicherheit aufbauen, sondern dauerhaft dieses Vertrauen und diese Sicherheit zu gewährleisten. Wir müssen, auch um den Finanzsektor zu stabilisieren, einen massiven Abzug von Spareinlagen vermeiden. In Deutschland wird es bei den etablierten Strukturen, die wir kennen, bleiben; aber wir werden mit dem Einlagensicherungsgesetz eine größere Leistungsfähigkeit in die Systeme bekommen, weil wir dafür sorgen, dass die Einlagensicherungssysteme mit echtem Geld unterlegt sein werden. Wir werden sie krisenfester machen; wir werden dafür sorgen, dass die Sparer unbürokratischer an ihr Geld kommen; und wir werden dafür sorgen, dass sie schneller an ihr Geld kommen. Vielleicht ein paar Bemerkungen im Einzelnen: Alle Banken müssen in Zukunft einem Einlagensicherungssystem angeschlossen sein. Jeder einzelne Sparer hat einen Rechtsanspruch auf seine Einlagen bis zu einer Höhe von 100 000 Euro pro Sparer und Bank. Wir haben in Deutschland die Sondersituation, dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken Institutssicherungssysteme besitzen. Diese sollen dafür sorgen, dass solche Institute gar nicht erst in eine Schieflage kommen, weil sie von ihrer Institutsgruppe gegebenenfalls gestützt und abgesichert werden. Wir haben jetzt nicht diese Institutssicherung erhalten, sondern dafür gesorgt, dass diese Institutssicherung - die ist gut und schön - hin zu einer Einlagensicherung weiterentwickelt werden kann. Damit wird das, was sich in Deutschland bewährt hat, in dieses neue, europäische System überführt. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz: Wir setzen auf den bewährten Strukturen auf und sorgen dafür, dass das System noch kundenfreundlicher und stabiler ausgestaltet wird. Das ist ein großer Schritt nach vorne, Institutssicherung und Einlagensicherung vernünftig miteinander zu verbinden. ({3}) Um diese Einlagensicherungssysteme finanziell auszustatten, um eine finanzielle Unterlegung für die Einlagensicherung zu schaffen, müssen über die nächsten neun Jahre 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen angespart werden. Wir haben als Bundesregierung in Europa darauf geachtet, dass der Proportionalitätsgrundsatz auch in dieser Frage gewahrt bleibt und man sich bei der Bemessung der Höhe der Einlage in diesen Fonds an der Höhe der gedeckten Einlage und am Risiko des Geschäftsmodells des jeweiligen Instituts orientiert. Ich glaube, das sind zwei vernünftige Parameter, um die Höhe der Einlage in diesen Fonds zu bestimmen. Der Sparer soll zukünftig statt nach 20 Arbeitstagen bereits nach 7 Arbeitstagen den Anspruch haben, seine Spareinlagen ausgezahlt zu bekommen. Wir hätten die Möglichkeit gehabt, diese Fristverkürzung über zehn Jahre zu strecken. Wir schlagen Ihnen aber vor, von dieser Option der Europäischen Richtlinie keinen Gebrauch zu machen, sondern diese Regelung bereits ab 2016 umzusetzen, sodass dieser Schutz unseren Sparern bereits ab Mitte kommenden Jahres zur Verfügung steht. ({4}) Wie bisher bleiben Spareinlagen bis 100 000 Euro pro Kunde und Bank im Sinne dieser Einlagensicherung abgesichert. Wir sind aber der Auffassung, dass wir in einigen Sondersituationen über diese Grundsicherung hinausgehen sollten. Eine solche Sondersituation entsteht etwa, wenn jemand eine Immobilie veräußert und dadurch kurzfristig einen hohen Mittelzufluss hat. Wenn diese Mittel für einige Zeit auf seinem Konto stehen, müsste die Einlagensicherung greifen. In diesem Fall wäre ein Betrag von 100 000 Euro möglicherweise nicht ausreichend. Eine ähnliche Situation entsteht, wenn jemand eine größere Auszahlung aus einem Sozialversicherungssystem erhält und aus diesem Grund kurzfristig eine höhere Einlage als 100 000 Euro auf seinem Konto hat. Deshalb sind wir der Meinung, dass aus solchen Gründen bis zu sechs Monate bis zu 500 000 Euro durch die Einlagensicherung gedeckt sein sollen. Ich glaube, auch das ist ein vernünftiger Schritt, um Menschen in solchen Sondersituationen mehr Sicherheit und mehr Absicherung zukommen zu lassen. ({5}) Ich glaube, dass wir mit der Konstruktion der Europäischen Bankenunion den größten Schritt - ich habe die verschiedenen Säulen vorhin vorgestellt - seit Einführung des Euros in Europa unternommen haben. Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir die neuen Regelungen mit Leben erfüllen und glaubwürdig leben. Dazu gehört nach meiner Einschätzung nicht nur, dass wir Regeln schaffen, sondern auch, dass diejenigen, die im Finanzsektor arbeiten, dort mit einem neuen Bewusstsein und einer neuen Philosophie ihrer Tätigkeit nachgehen. Denn der erste Teil des Vertrauens entsteht nicht durch unsere Regeln, sondern durch die Philosophie, mit der die Verantwortlichen in den Finanzinstituten diese neue Situation leben. Ich glaube, wir haben einen Beitrag geleistet für mehr Stabilität in Europa, für mehr Vertrauen und für die Wiedergeltung von Prinzipien - ich habe das Haftungsprinzip erwähnt -, die wir in Europa dringend benötigen. Wir haben die Ausschussempfehlung des Bundesrates zu diesem Gesetzentwurf gesehen. Der Bundesrat hat mit 16 zu 0 gesagt - das ist ein großer Vertrauensbeweis -, dass er diesen Gesetzentwurf für sinnvoll und zielführend hält. Ich würde mich freuen, wenn die heutige Diskussion und die weitere Beratung im Bundestag auch zu so viel Zustimmung zu diesem Vorschlag der Bundesregierung führen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und gute Beratungen. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat Dr. Axel Troost von der Linken das Wort. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Programm des Deutschen Bundestages hat sich inzwischen eine Reihe fest etabliert, und zwar die Reihe „Aufräumen im Bankensektor“. In dieser Reihe diskutieren wir heute über ein Thema, das sich mit alltäglichen und notwendigen Bankgeschäften befasst. Es geht um den Schutz von Bankeinlagen. Für die allermeisten Bankkunden ist ein Bankkonto dazu da, laufende Zahlungen abzuwickeln und Geld aufzubewahren. Bei Spareinlagen kommt ein Zins knapp über oder unter der Inflationsrate dazu. Zur Zahlung von Mieten, zur Abwicklung von Löhnen und Gehältern und dergleichen ist ein persönliches Bankkonto quasi obligatorisch. Deswegen setzen wir uns als Linke auch seit langem dafür ein, dass jede und jeder einen Zugang zu einem eigenen Bankkonto hat. ({0}) Mit dem Bankkonto vertraut ein Kunde seiner Bank sein Geld an in der Hoffnung, dass damit vernünftig umgegangen wird. Das lässt sich aber von außen schwer beurteilen. Was passiert, wenn die Bank es nicht tut? Aus zwei Gründen sollte sichergestellt sein, dass die Einlagen bei einer Pleite der Bank geschützt sind: Das ist zum einen das Gerechtigkeitsargument. Da niemand vor der Eröffnung eines Kontos prüfen kann, ob eine Bank solide ist oder nicht, und man natürlich sicher sein will, dass man sein einmal eingezahltes Geld jederzeit zurückbekommt, sollte es nicht mit Geldern von Spekulanten, die hochriskante Produkte einwerben, in einen Topf geworfen werden. Zum Zweiten ist der Schutz der Bankeinlagen auch aus Gründen der Finanzstabilität erforderlich. Wenn Bankkunden bei jedem Gerücht scharenweise ihre Gelder abräumen würden, hätten wir viele unnötige Bankpleiten und Finanzkrisen. Es ist eben schon angesprochen worden, dass wir das in Deutschland schon erlebt haben und es auch in der Krise in Großbritannien gemerkt haben. Darum gibt es in Deutschland seit vielen Jahrzehnten private, öffentlich-rechtliche und gesetzliche Sicherungssysteme, die historisch gewachsen sind. In Europa - das ist von Herrn Meister dargestellt worden - hat sich während der Finanzkrise gezeigt, dass Nachbesserungsbedarf existiert. Daher wurde die europäische Einlagensicherungsrichtlinie überarbeitet. Jetzt geht es darum, diese in nationales Gesetz umzusetzen. Dabei drohte ursprünglich - auch das ist angesprochen worden -, dass die Sicherungssysteme der Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland plattgewalzt werden. Das ist nun aber nicht der Fall und auch nicht notwendig, weil in Deutschland sowohl für die Sparkassen als auch für die Kreditgenossenschaften schon immer eigene Sicherungssysteme bestanden haben. Diese Institute können nicht einzeln pleitegehen, sondern werden immer von den anderen Mitgliedern ihres Verbunds gerettet. Es ist gut, dass diese Prinzipien in die jetzt gefundene Regelung mit eingeflossen sind und es dort eine einheitliche Regelung gibt. Das ist auch wichtig und von Bedeutung, weil wir damit - im Gegensatz zur Bankenabgabe - ein System haben, bei dem die Sparkassen und die Genossenschaften für Kreditrisiken und Ausfallrisiken der Großen nicht in irgendeiner Form in die Haftung genommen werden können. Trotzdem müssen wir aufpassen - das liegt allerdings außerhalb unserer unmittelbaren parlamentarischen Möglichkeiten -, dass im Rahmen der Leitlinie zur Beitragsberechnung, die auf Empfehlung der EBA, also der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde in London, kommt, nicht doch wieder Richtlinien erlassen werden, die möglicherweise zur Benachteiligung von Sparkassen und Genossenschaftsbanken führen. Wir müssen in den nächsten vier Wochen darauf achten - das gilt sowohl für das Finanzministerium als auch für die BaFin -, dass, wie schon gesagt, keine Regelungen getroffen werden, die von den Sparkassen als sehr negativ empfunden werden und zu erheblich höheren Kosten führen könnten. Ich glaube, dass das machbar ist. Natürlich muss auch innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems das Verhältnis der Sparkassen zu ihren Landesbanken neu definiert werden. Auch da wird es durchaus noch Reibungspunkte geben. Aber auch das sehen wir als nicht so problematisch an. Das deutsche System wird also nicht umgekrempelt, und das ist auch gut so. Allerdings haben wir schon an der Lehman-Krise bzw. -Pleite gesehen, dass durchaus Gefahren bestehen. Wir alle erinnern uns, dass sich die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister damals trotz der bestehenden Sicherungssysteme genötigt sahen, vor die Kameras zu treten und staatlicherseits Garantien für die Sparguthaben auszusprechen. Das zeigt natürlich, dass es auch in Anbetracht der neuen Regelungen notwendig ist, zu verhindern, dass es zu systemischen großen Krisen kommt. Denn große Krisen stellen Sicherungssysteme, wenn sie einen zu geringen Umfang haben, sofort wieder infrage. Insofern muss man sicherstellen, dass massive Vertrauensverluste gar nicht erst entstehen können. Das heißt, man muss das Finanzsystem so krisensicher machen, dass eine Massenpanik verhindert werden kann. Daher sagen wir immer wieder: Die beste Einlagensicherung besteht darin, ein Finanzsystem zu schaffen, das die Banken davor bewahrt, aus Renditegier auf den Abgrund hin zu spekulieren. ({1}) Das ist, glaube ich, nach wie vor die zentrale Aufgabe. Wir haben in der Reihe „Wir retten die Banken und helfen, die Banken sicherer zu machen“ jetzt noch eine große Aufgabe vor uns, nämlich die Schaffung eines Trennbankensystems. Hier stellt sich die Frage: Kommt da wirklich etwas in Gang, was zur Stabilisierung des Systems führt? Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern: Die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolumen von 1,7 Billionen Euro. Damit ist das Bilanzvolumen dieser einen Bank größer als das Bruttoinlandsprodukt von Italien. Diese Dimensionen müssen verkleinert werden. Wenn es mit dem Trennbankengesetz nicht gelingt, die Deutsche Bank in deutlichem Umfang zu verkleinern und ihre Zockergeschäfte in London und New York von dem zu sichernden Geschäft in der Bundesrepublik Deutschland zu trennen, dann sind wir als Tiger losgesprungen, aber letztlich als Bettvorleger gelandet. Es geht um die Stabilisierung des Systems und um die Frage, ob Großbanken wirklich verkleinert werden oder nicht. Wenn dies nicht gelingt, hätte ich, um im Bild zu bleiben, den Eindruck, dass wir mit all den Bankensicherungspaketen zwar vorhatten, in die Hochseefischerei einzusteigen, am Schluss aber beim Angeln im Dorfteich gelandet sind. Wenn wir es nicht schaffen, diese großen Einheiten zu verkleinern, werden wir es immer wieder mit großen Instabilitäten im Finanzsystem zu tun bekommen. Dann nutzt die Einlagensicherung alleine, so gut sie jetzt auch ausgestattet werden soll, nichts. Ich möchte gerne, dass wir im Hinblick auf die Trennbanken auch in der Bundesrepublik Deutschland wirklich Veränderungen im Bankensystem hinbekommen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Manfred Zöllmer von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Bild ist mir im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise in den letzten Jahren in besonderer Erinnerung geblieben: das Bild von den langen Schlangen vor Northern Rock. Northern Rock war 2007 die achtgrößte Bank von England. Die Menschen wollten dort in einem Anflug von Panik noch schnell ihre Ersparnisse abheben, da eine Zahlungsunfähigkeit der Bank befürchtet wurde. Fast 2 Milliarden Pfund wurden in kürzester Zeit von den Kunden abgehoben. Eine solche Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Horrorvision für jeden Ökonomen; denn in so einer Situation ist die Stabilität des gesamten Finanzsystems gefährdet. Damals musste die britische Regierung handeln. Sie tat das auch: Sie verstaatlichte kurzerhand die Bank und garantierte für alle Einlagen. Auch in Deutschland gab es schon ähnlich gelagerte Probleme. Ich kann mich noch gut an den Konkurs der Herstatt-Bank 1974 erinnern: Ende Juni 1974 beantragte die Bank die Eröffnung des Konkursverfahrens wegen Überschuldung. Am selben Tag kam es in Köln zu Tumulten am Hauptsitz der Bank, sodass die Polizei das Gebäude sichern musste. Die deutschen Aktienkurse stürzten ab. Damit solche Szenarien der Vergangenheit angehören, diskutieren wir heute in erster Lesung über einen Gesetzentwurf zur Einlagensicherung. In Deutschland geht es immerhin um 2,9 Billionen Euro, die die Kunden der deutschen Kreditwirtschaft anvertraut haben. Da darf dann nicht nur der Ruf eines Instituts entscheidend sein für die Frage: „Wohin bringe ich mein Geld, wo ist es sicher?“, da braucht es klare und verlässliche gesetzliche Rahmenbedingungen. Wir sprechen hier über einen wichtigen Baustein - wir haben es eben schon gehört -, über die dritte Säule der Bankenunion in Europa, nach Aufsichts- und Abwicklungsregime. Insgesamt, glaube ich, können wir eine gute Nachricht für alle Sparerinnen und Sparer verkünden: Sie können sich auf die Sicherheit ihrer Einlagen bei deutschen Banken verlassen; dies gilt bis zu einer Grenze von 100 000 Euro pro Person, in Ausnahmefällen - wir haben die Beispiele eben gehört - bis 500 000 Euro. Das bewährte deutsche System aus gesetzlichen und freiwilligen Sicherungssystemen bleibt auch in Zukunft erhalten. Das Gesetz dient insgesamt der Umsetzung der in Europa neugefassten Einlagensicherungsrichtlinie in einem neuen Einlagensicherungsgesetz, um hier für Europa einheitliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Ziel des Gesetzes ist der sichere Schutz der Einlagen von Kunden bei Banken für den Fall, dass eine Bank zahlungsunfähig wird. Dazu gehört ein Einlagensicherungssystem, das sicherstellt, dass die versprochenen Auszahlungen im Krisenfall auch geleistet werden können. Die Kreditinstitute müssen dazu entsprechende Einzahlungen in einen Fonds in Höhe von 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen bis 2024 leisten. Gedeckte Einlagen sind alle geschützten Kundeneinlagen bei einer Bank bis zu der Garantiegrenze von 100 000 Euro. Diese 0,8 Prozent waren ein Kompromiss, der im Trilog mit den zuständigen europäischen Gremien erzielt worden ist. Man kann jetzt lange darüber streiten, ob eine höhere Einzahlung nicht besser gewesen wäre - es gab entsprechende Positionen des Europäischen Parlaments -, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass wir jetzt in Europa eine funktionsfähige Bankenunion etabliert haben. Die Aufsicht erfolgt durch die EZB. Der Bankenabwicklungsfonds befindet sich im Aufbau; seine Chefin soll, so hört man, Frau König von der BaFin werden. Damit könnten in Zukunft dann auch große und systemrelevante Banken aufgefangen werden. Zusätzlich haben wir die Eigenkapitalanforderungen an Banken deutlich verschärft. Damit ist die Stabilität des Bankensystems insgesamt deutlich verbessert worden. ({0}) Für uns Sozialdemokraten war es bei diesem Prozess von sehr großer Bedeutung, dass die vorhandenen institutsbezogenen Sicherungssysteme der Sparkassen- und Giroverbände und des Verbandes der Volks- und Raiffeisenbanken als Einlagensicherungssysteme europäisch anerkannt werden. Ich bin Peter Simon, dem zuständigen Berichterstatter im Europaparlament, sehr dankbar, dass er sehr hart dafür gekämpft hat und dies auch erfolgreich umsetzen konnte. Die bewährte Institutssicherung von Sparkassen und Genossenschaftsbanken bleibt als eigener Haftungsverbund erhalten. Gerät eine Sparkasse oder Volksbank in Schieflage, wird sie auch weiterhin durch die Sicherungseinrichtung ihrer Verbünde aufgefangen. Auch die beiden gesetzlichen Entschädigungseinrichtungen in Deutschland bleiben erhalten. Daneben gibt es den freiwilligen Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken. Er soll im Falle einer Insolvenz die Entschädigung jenseits dieser 100 000 Euro übernehmen, bis zur jeweiligen Sicherungsgrenze, die von Bank zu Bank unterschiedlich ist und sich an einem bestimmten Prozentsatz des Eigenkapitals bemisst. Eine erfreuliche Nachricht gibt es für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Mit der Neuregelung der Einlagensicherung wird die stufenweise Verkürzung der Auszahlungsfrist im Krisenfall auf sieben Arbeitstage geregelt. Wir haben ja eben von Staatssekretär Meister gehört, dass dies in Deutschland sozusagen sofort in Kraft treten soll. Ich glaube, das ist eine sehr gute Nachricht. Damit erhalten Einleger einen besseren und schnelleren Zugang zu einer Entschädigung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen, es gibt eine Reihe von guten Nachrichten. Aber auch zu diesem Gesetzentwurf wird es Verbesserungsvorschläge geben, die wir dann im Verlauf des Verfahrens genauer analysieren, bewerten und gegebenenfalls in das Verfahren einbringen werden. Insgesamt wird dieses Einlagensicherungssystem eine weitere Säule bei der Bankenunion darstellen und damit das Vertrauen in die Stabilität des gesamten Finanzsystems festigen. Denn eines ist ganz sicher: Herstatt darf sich niemals wiederholen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Gerhard Schick vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird im Rahmen dieser Debatte deutlich, dass es jetzt nicht um ein sehr umstrittenes Thema geht. ({0}) Auch die Fraktionen im Europäischen Parlament haben gemeinsam an der zugrundeliegenden Richtlinie gear7808 beitet - auch unsere grüne Fraktion - und für Verbesserungen gestritten. Es ist ein wichtiger Baustein der Bankenunion, der hier jetzt zur Diskussion steht. Jetzt werden nach der gemeinsamen Aufsicht und der gemeinsamen Abwicklung Regeln für eine einheitliche Einlagensicherung geschaffen, weil in den letzten Jahren deutlich geworden ist, dass es in der Währungsunion unterschiedliches Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Bankensystems, in die Einlagensicherungseinrichtungen sowie in die Solvenz der Mitgliedstaaten geben kann. Wir haben gesehen, dass der portugiesische Euro und der deutsche Euro in den Augen der Sparer und Investoren teilweise nicht den gleichen Wert hatten. Die Finanzsysteme in Europa wurden dadurch destabilisiert, dass wir hier keine einheitlichen Regelungen haben. Wir sollten in Deutschland auch nicht vergessen - die Bemerkungen vom Kollegen Zöllmer, wir hätten in Deutschland ein bewährtes System, habe ich natürlich sehr aufmerksam registriert -: Sehr bewährt hat sich unser System nicht. Der Steuerzahler musste in Deutschland einspringen, weil im Sicherungssystem der privaten Banken zu großzügige Versprechungen gemacht worden waren und man deswegen die Rückendeckung des Fiskus brauchte, um beim Lehman-Bankhaus aktiv zu werden. Nachher musste bei der Hypo Real Estate endgültig der Steuerzahler einspringen. Hinzu kommt natürlich, dass es auch bei der öffentlich-rechtlichen Institutssicherung, bei den Landesbanken, nicht ohne Steuerzahlermittel ging. Das sollte man hier schon sagen. Es geht auch für Deutschland darum, diese Systeme stabil und sicher für die Zukunft aufzustellen. Wir sollten da nicht immer nur auf die anderen zeigen, sondern auch unsere eigenen Hausaufgaben im Blick haben. ({1}) Ich will auch bei einem anderen Punkt kurz zurückblicken. Wir hatten 2010 im Bundestag eine Diskussion, in der dann die CDU/CSU-Fraktion gesagt hat: Da brauchen wir eine Subsidiaritätsrüge. Das sollte Europa gar nicht machen. - Sie erinnern sich. Zum Glück haben Sie sich damals mit Ihrem europakritischen Kurs nicht durchgesetzt. ({2}) - Ja, ja, aber es ging damals darum: Geht man damit konfrontativ um oder nicht? Ihr Weg hat sich als Sackgasse erwiesen, und zum Glück hat sich in Europa der andere, ({3}) von uns damals vorgeschlagene Weg durchgesetzt, auf dem Verhandlungsweg mit den anderen darüber eine einvernehmliche Lösung zu finden. Sonst wäre man jetzt nämlich mit der Konfliktstrategie, die Sie vorgeschlagen haben, möglicherweise bei einem Ergebnis, das zu massiven Problemen in Deutschland geführt hätte. Zum Glück haben Sie sich nicht durchgesetzt. ({4}) Richtig ist, dass man jetzt einen Wettbewerb der Sicherungssysteme in Europa durch einheitliche Regeln unterbindet. Es ist zwar kein europäischer Einlagensicherungsfonds, so wie die USA einen solchen für die gesamte USA haben; aber es gibt Regeln für die jeweiligen nationalen Systeme und auch die Berechtigung, sich gegenseitig Kredite einzuräumen. Das macht es umso unwahrscheinlicher, dass der Steuerzahler künftig bei Bankenpleiten für die Sicherungssysteme einspringen muss. Es ist auch deutlich geworden, dass wir beim Thema Institutssicherungssysteme eine parteiübergreifende Regelung in Europa durchsetzen konnten. Wir begrüßen diese Richtlinie also grundsätzlich. Wichtig war uns dabei, dass die Beitragshöhe der einzelnen Institute das Risikoprofil wirklich abbildet und dass nicht kleine, risikoarme Institute relativ mehr zahlen müssen, als es ihrem Risiko entspricht. Es ist auch gut, dass 70 Prozent der Beiträge ex ante gezahlt werden müssen und ein Teil durch Zahlungsverpflichtungen abgedeckt wird. Das erhöht die Glaubwürdigkeit des Sicherungssystems, weil in Krisenzeiten Geld eben bereits da ist. Wichtig ist auch - das ist schon genannt worden -, dass es für die Verbraucherinnen und Verbraucher dadurch eine Verbesserung gibt, dass sie nicht mehr extra einen Antrag stellen müssen und dass innerhalb von sieben Tagen ausgezahlt werden muss. Das ist sicher eine wichtige Verbesserung. Ich will noch kurz auf zwei Themen eingehen, die mit der Einlagensicherung verbunden sind und bei denen wir noch Hausaufgaben zu erledigen haben: Das erste Thema bezeichnen Experten mit dem Begriff „Asset Encumbrance“. Diesen Begriff muss man vielleicht nicht kennen, aber das Problem ist unmittelbar einleuchtend: Einlagen sind für die Banken eine sehr günstige Form der Refinanzierung. Wenn sie geschützt sind, müssen die Banken das Risiko nicht selber tragen. Deswegen gibt es das Problem, dass Risiken auf die Einlagensicherung übertragen werden und damit praktisch eine neue Möglichkeit geschaffen wird, Risiken auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Dieses Problem ist in anderen Ländern schon gesetzlich gelöst worden, bei uns noch nicht. Hier besteht Handlungsbedarf. Zum Zweiten besteht Handlungsbedarf bezüglich der risikoadäquaten Bepreisung. Hiermit sind wir beim Thema Trennbankensystem. Gibt es eine Trennung zwischen dem gesicherten Einlagengeschäft auf der einen Seite und dem Investmentbanking auf der anderen Seite? ({5}) Auch hier ist nach wie vor Handlungsbedarf gegeben und die Bundesregierung gefordert, sich auch auf europäischer Ebene für das Richtige einzusetzen. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat Alexander Radwan von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Wir haben hier heute - das wurde ja schon von allen Rednern gesagt - eine große Harmonie. Das zeigt, dass der Entwurf der Bundesregierung ({0}) in die richtige Richtung zielt. ({1}) - Herr Schick, zum Thema Europa werde ich noch kommen. Dort war ich eine Zeit lang, und wir können uns hier sicherlich gegenseitig gut ergänzen. Das eine oder andere, was aus grüner Sicht gerade lobend erwähnt wurde - es ging um die Subsidiaritätsrüge und die Antwort auf die Frage, wie man mit der Institutssicherung und den kleinen Banken umgeht -, könnte man vielleicht noch vertiefen - heute oder auch später. Wir alle haben in unseren Reden mit der Historie angefangen. Der Kollege Zöllmer hat das Thema Herstatt angesprochen, und der Kollege Troost die damalige Aussage von Frau Merkel. Ich gehe jetzt noch einen Schritt zurück, nämlich zur Bankenkrise von 1931; ich weiß nicht, ob irgendeiner von Ihnen persönlich dabei war. ({2}) Jeder, der in die Geschichtsbücher hineinschaut, wird Bilder von den Schlangen vor den Banken sehen. Den Herstatt-Fall, wie erwähnt, und die Folgen des Zusammenbruchs des Finanzunternehmens Northern Rock in Großbritannien haben wir alle noch bildhaft vor Augen. Am 5. Oktober 2008 - ich konkretisiere das jetzt, Herr Troost; Sie hatten das ja erwähnt - sind Kanzlerin Merkel und der damalige Minister Steinbrück während der Hypo-Real-Estate-Krise an die Öffentlichkeit gegangen und haben erklärt, die Spareinlagen seien sicher. Das war eine politische Aktion, um die Banken und den Finanzmarkt zu stabilisieren und einen Zusammenbruch der Finanzmärkte über Deutschland hinaus zu verhindern. Ich erinnere zum Beispiel an die Geschehnisse in Bulgarien. Wir sind heute beim letzten Baustein der Bankenunion angelangt. Wir hatten nach der Finanzmarktkrise auf internationaler Ebene, auf europäischer Ebene und auf nationaler Ebene entsprechende Regularien geschaffen, die jetzt umgesetzt werden. Seit November letzten Jahres haben wir die gemeinsame Aufsicht unmittelbar bei der Europäischen Zentralbank und für die kleinen Banken bei den nationalen Aufsehern installiert, und zwar so, dass diese Regeln auch angewendet werden. Wir haben erst vor kurzem die gemeinsame Abwicklung beraten und auf deutscher Ebene umgesetzt. Hier haben wir dann einen gemeinsamen europäischen Fonds kreiert, dessen Mittel bei der Abwicklung zur Verfügung stehen, um den Steuerzahler zu entlasten oder ganz außen vor zu lassen. Heute beraten wir in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes über die Einlagensicherung, der auch den Aspekt des Verbraucherschutzes stark berücksichtigt. Dabei möchte ich betonen: Es ist gut, dass wir, anders als bei der Abwicklung, zwar europäische Regeln haben, aber nicht einen europäischen Fonds, also keine grenzüberschreitende europäische Haftung. Jeder Staat soll selber dafür sorgen, dass er für seine Banken Verantwortung übernimmt. ({3}) Warum brauchen wir überhaupt eine europäische Richtlinie? Erinnern wir uns: Wo kommen wir her? Vorher galt der Grundsatz der Mindestharmonisierung. Das heißt, es wurden bestimmte Zielvorgaben genannt. Aber die Beantwortung der Fragen, wessen Einlagen geschützt werden und wie das Ganze finanziert wird, unterlag den Mitgliedstaaten. Darüber konnten sie selber entscheiden. Bei grenzüberschreitend tätigen Unternehmen - die Deutsche Bank wurde genannt; ich nenne hier einmal die UniCredit oder die BNP Paribas - wusste am Schluss keiner, was im Fall einer Abwicklung unter anderem mit den Einlagen letztendlich passiert. Darum ist die hier vorliegende Richtlinie, die eine Maximalharmonisierung beinhaltet, der richtige Ansatz. Maximalharmonisierung heißt: gleiche Regeln für alle Mitgliedstaaten, aber eben keine Vergemeinschaftung der Haftung. Das ist der richtige Weg. Die Regelungen zur Deckungssumme und zu den Auszahlungsfristen sind bereits angesprochen worden und führen zu einem verbesserten Verbraucherschutz. Die Sicherung - das wurde bereits angesprochen - wird auf 100 000 Euro erhöht. Die Auszahlungsfrist wird auf Vorschlag der Bundesregierung von drei Monaten auf sieben Arbeitstage verkürzt. Die europäische Richtlinie sieht hier einen größeren Spielraum vor. Ich denke, im Rahmen der Beratungen werden wir darüber diskutieren, wo es sinnvoll ist, über die Richtlinie hinauszugehen - da gibt es Punkte, an die wir uns nach unserer Ansicht nicht eins zu eins halten müssen -, und wo wir den Spielraum nicht nutzen wollen. Ich bewerte den erhöhten Schutz bis zu einer Summe von 500 000 Euro für ein halbes Jahr als sehr positiv. Dies gilt dann, wenn jemand höhere Einnahmen hatte, zum Beispiel aus dem Verkauf einer Immobilie - das sind schnell über 100 000 Euro -, oder sich jemand seine Rentenansprüche auszahlen lässt. Innerhalb einer gewissen Frist ist es sinnvoll und notwendig, eine höhere Grenze zuzulassen, nämlich bis zu 500 000 Euro. Ein Antrag auf Entschädigung ist zukünftig nicht mehr erforderlich. Die Verjährungsfrist wird entsprechend verlängert. Nach zehn Jahren wollen wir 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen erreicht haben. Auch die Informationspflichten werden wir prüfen und uns anschauen, inwieweit sie auf der einen Seite den Informationsbedürfnissen der Verbraucher entgegenkommen und auf der anderen Seite so gestaltet werden, dass der bürokratische Aufwand nicht wie bei anderen Gesetzen, die in diesem Hause zurzeit heftig diskutiert werden, die Bürokratie insgesamt exponentiell nach oben führt. Wichtig ist mir, dass das ganze System bei uns auf nationaler Ebene und auf europäischer Ebene offen ist. Was wir nicht brauchen, ist, dass die europäische oder nationale Gesetzgebung bestimmte Säulen oder Systeme bevorzugt. Vielmehr soll die Institutssicherung gleichberechtigt neben andere Sicherungssysteme, zum Beispiel jenes der privaten Banken, gesetzt werden, sodass es private freiwillige Einrichtungen und öffentliche Einrichtungen gibt. Beides gleichberechtigt nebeneinanderzustellen, ist ein wichtiger Schritt. Ich danke der Bundesregierung, dass sie dieses System entsprechend implementiert und umgesetzt hat. ({4}) Wir haben es geschafft, die Regulierung und die Aufsicht zu europäisieren und in der nationalen Umsetzung voranzubringen, um Sicherheit und Vertrauen in die Märkte und insbesondere beim Verbraucher zu erreichen. Dafür ist das Gesetz ein richtiger und wichtiger Schritt. Was das Verfahren angeht, ist als Nächstes die Anhörung vorgesehen. Wir werden redaktionelle Fragen zu diskutieren haben. Mir ist ein Punkt in dem ganzen System besonders wichtig, nämlich die Frage, in welchem Rahmen die EBA Kompetenzen bekommt. Kollege Troost - Sie werden heute ein paar Mal von mir zitiert; seien Sie nicht irritiert -, Sie haben von vier Wochen gesprochen, aber ich gehe von einem längeren Zeitraum aus. ({5}) - Ja, aber nach meiner Einschätzung wird die EBA leider Gottes nicht nur bei diesen Punkten eine Rolle spielen. Die Frage ist, welche Kompetenzen auf Level 2 vorgesehen sind. Sie haben die Methode der Errechnung der Risikoadäquanz angesprochen. Dabei müssen wir als Gesetzgeber aufpassen, dass das, was wir auf der einen Seite loben, zum Beispiel die Institutssicherung, nicht auf der anderen Seite durch europäische Aufseher konterkariert wird. Wir haben eine lange Liste von Themen, die dort abgearbeitet werden, und dabei sehe ich uns alle als Parlamentarier in der Pflicht, das zu kontrollieren und entsprechend den Finger daraufzulegen, wenn sie zu weit gehen. Wir sind in der Verantwortung, die nationale Umsetzung so anzugehen, dass es im Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Schieflage kommt, indem auf der einen Seite härter reguliert wird als auf der anderen Seite. Wir werden auf das Verhältnis zwischen Fonds und Banken zum Beispiel beim Wertpapierhandel achten müssen: Ist dort die Trennung richtig, oder müssen wir entsprechend nachjustieren? Ein großes Paket - ich nenne hier Regulierung, Aufsicht, Abwicklung und Einlagensicherung - haben wir bereits abgearbeitet. Es wurden richtigerweise einige Punkte angesprochen, die in nächster Zeit auf der Agenda stehen. Aber ich bin der Meinung, dass beim Thema Trennbanken die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag im Lead sind. Wir haben in Deutschland bereits ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Ich denke, wir sind auch diejenigen, die dafür sorgen, dass es auf europäischer Ebene umgesetzt wird. Aber wir müssen darauf achten, wie die Regulierung auf europäischer Ebene erfolgt und wie sie umgesetzt wird. Deshalb liegt mein Fokus nicht nur darauf, wie es in Deutschland umgesetzt wird. Das ist notwendig und richtig, und es ist unsere Aufgabe. Aber ich sehe es auch als unsere Aufgabe, nachzufragen, wie die europäischen Regeln in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union umgesetzt und angewendet werden. Haben wir letztendlich die gleiche Wettbewerbslage? Kommen die anderen entsprechend nach? Insofern, denke ich, werden wir in der nächsten Zeit noch genügend zu tun haben, aber nicht nur mit Blick auf den deutschen Regulierer, sondern auch auf den europäischen. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Christian Petry für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Spareinlagen sind sicher. Das könnte - in Abwandlung eines berühmten Spruches - auch von Norbert Blüm stammen. Es hört sich zumindest genauso griffig an, und es ist das Ziel vieler Maßnahmen, die schon genannt wurden: Die Spareinlagen werden durch die Gesetzesinitiative, die wir heute beraten, sicherer. Seit 1994 existieren in der Europäischen Union Mindestanforderungen an die Einlagensicherung. Die Vorgeschichte ist schon angesprochen worden: Der ZusamChristian Petry menbruch der Herstatt-Bank 1974 hatte zur Folge, dass 1976 ein Einlagensicherungsfonds eingerichtet wurde, damit das Risiko abgemildert wird und so etwas in der Form nicht mehr stattfinden kann. Aber die globale Finanzmarktkrise hat gezeigt, dass dies nicht ausreicht und dass für die 8 300 Banken in Europa eine verbesserte, einheitliche Regelung in diesem Bereich notwendig war. Einlagensicherungssysteme müssen die Angst vor Verlust nehmen. Das wird hiermit erreicht. Der Verbraucherschutz steht im Mittelpunkt. Das ist sozialdemokratische Politik, die man unterstützen kann. Der Verbraucherschutz hat einen hohen Stellenwert in diesem Haus. ({0}) Die Harmonisierung der europäischen Einlagensicherung soll verhindern, dass der Sparer in bestimmten Situationen seine Ersparnisse verliert und sie vielleicht überhastet abzieht. Die Bankeinlagen werden - das wurde mehrfach angesprochen - bis zu einem Betrag von 100 000 Euro durch die Richtlinienumsetzung geschützt. Auch die in besonderen Fällen geltende 500 000-Euro-Grenze wurde genannt. Das ist sehr positiv zu bewerten. Die Bankkunden werden dadurch besser geschützt. In Deutschland gilt dieses Einlagensicherungssystem seit Jahren. Die Besonderheiten, die institutsbezogenen Sicherungssysteme, gelten weiterhin. Das ist ein großer Erfolg, und ich bin froh, dass die Richtlinie dies für unsere Sparkassen, Landesbanken, Genossenschaftsbanken und Landesbausparkassen so vorsieht. Denn diese Sicherungssysteme haben sich bewährt. Die Höhe des Fonds und der Aufbau bis 2024 wurden schon angesprochen, genauso wie die Bewertung nach Größe und Risiko. Das alles findet unsere Unterstützung. Das ist ein guter Weg, um Verbesserungen im Kundenschutz zu erzielen. Bislang wurden Einlagen bis 100 000 Euro innerhalb von 20 Werktagen zurückgezahlt. Nun erfolgt eine Rückzahlung antragslos innerhalb von sieben Arbeitstagen. Auch das stellt eine Stärkung des Verbraucherschutzes dar. Eben wurde zudem kurz angedeutet, dass die länderübergreifende Abwicklung verbessert wurde. Der Schutz des deutschen Kunden einer ausländischen Bank wird dadurch gestärkt und verbessert. Das ist ebenfalls ein erwähnenswerter Vorteil. Die EURichtlinie kann also auch deutschen Kunden ausländischer Banken weiterhelfen. Das schafft Vertrauen. Das alles ist im europäischen Kontext zu sehen. Die Bankenunion, die Aufsichts- und Abwicklungsregime, die bereits installiert sind oder noch installiert werden, Restrukturierungsfonds - zukünftige Abwicklungsmaßnahmen werden von den Banken selbst finanziert - und die Haftungskaskade, all das sind viele Schritte, die nach der Krise im Finanzwesen dazu geführt haben, dass die Verursacher stärker in die Verantwortung genommen werden und dass der Verbraucher, der Anleger, der Sparer stärker geschützt wird. ({1}) Die Harmonisierung der Einlagensicherungssysteme ist somit ein wichtiger Bestandteil des europäischen Maßnahmenpakets, das die Banken in Europa krisenfester machen wird. Dies ist also ein weiterer wichtiger Schritt hin zu einem verbesserten Anlegerschutz im Finanzbereich. Das stärkt das notwendige Vertrauen in den europäischen Bankensektor. Die Spareinlagen sind sicher. Glück auf! ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Matthias Hauer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute diskutieren wir in erster Lesung über die Umsetzung der Richtlinie zur Einlagensicherung. Wir schützen damit Sparer in Deutschland noch besser vor dem Verlust ihres Ersparten. Die Systeme zur Einlagensicherung werden finanziell besser ausgestattet. Das Erstattungsverfahren wird unbürokratischer, kundenfreundlicher und transparenter. Gut ausgestattete und funktionierende Einlagensicherungssysteme sind ein wesentlicher Faktor, um das Vertrauen in das Bankensystem zu stärken. Sie vermeiden im Krisenfall einen massiven Abzug von Spareinlagen und tragen somit dazu bei, dass sich eine Krise nicht weiter verschärft. In England standen die Menschen 2007 vor Bankschaltern Schlange, um Bargeld abzuheben. In der Schweiz musste eine Bank ein Jahr später innerhalb kürzester Zeit 25 Milliarden Schweizer Franken auszahlen. Wir müssen also nicht weit zurückschauen einige andere Beispiele sind schon genannt worden -, um einen Eindruck davon zu gewinnen, was fehlendes Vertrauen in die finanzielle Leistungsfähigkeit von Banken bewirken kann. Deutschland hat schon lange ein gutes System der Einlagensicherung. Dieses System hat zur Besonnenheit der Bevölkerung in Deutschland beim Umgang mit der Finanzkrise beigetragen. Auch die klaren Worte von Bundeskanzlerin Merkel und dem damaligen Finanzminister Steinbrück im Jahre 2008, nämlich die Garantie, dass die Einlagen der Sparer in Deutschland sicher sind, haben Überreaktionen verhindert und waren völlig richtig. ({0}) Durch die Richtlinie werden nun die Einlagensicherungssysteme EU-weit harmonisiert, und es wird ein einheitliches Schutzniveau für alle Sparer in der EU geschaffen, egal ob es sich um einen Sparer in meinem Wahlkreis in Essen oder um einen Sparer im EU-Ausland handelt. ({1}) Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, bleiben die etablierten und historisch gewachsenen Strukturen der deutschen Einlagensicherung erhalten. Dafür hat sich die CDU/CSU-Fraktion schon in der Vergangenheit kontinuierlich eingesetzt. Die drei Säulen aus den gesetzlichen Entschädigungseinrichtungen, den freiwilligen Einlagensicherungsfonds der öffentlichen und privaten Banken und den institutssichernden Einrichtungen des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes sowie des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken sind in Europa einzigartig und haben sich bewährt. ({2}) Auch künftig haftet die deutsche Einlagensicherung ausschließlich für Einlagen in Deutschland. Bei Banken im EU-Ausland greift jeweils das nationale Einlagensicherungssystem. Alle EU-Länder sind fortan verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihre nationalen Einlagensicherungssysteme innerhalb einer Frist von zehn Jahren ein Mindestvermögen in Höhe von 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen ihrer Kreditinstitute ansparen. Mit der CDU und der CSU wird es auch künftig kein europäisches System der Einlagensicherung geben, das eine Vergemeinschaftung der Haftung vorsieht. ({3}) Die Einlagensicherung hat sich für die Sparer in Deutschland schon in den letzten Jahren deutlich verbessert, von zunächst 20 000 Euro über 50 000 Euro auf nunmehr 100 000 Euro. Auch die frühere Selbstbeteiligung der Sparer in Höhe von 10 Prozent ist 2009 entfallen. Schon jetzt ist also von der Einlagensicherung geschützt, wer bis zu 100 000 Euro Guthaben hat: auf seinem Sparbuch, auf seinem Girokonto, auf seinem Festgeldkonto, auf seinem Tagesgeldkonto, Banksparplan oder Sparbrief. Ein Girokonto ist heute die Voraussetzung dafür, um überhaupt am wirtschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Wer ein solches Konto eröffnet, der verbindet damit nicht automatisch, dass er Gläubiger der Bank wird und dadurch auch ein Haftungsrisiko trägt. Das ist vielen Menschen gar nicht bewusst. Gerade vor diesem Hintergrund ist die gesetzliche Einlagensicherung ein wichtiges Instrument zum Schutz der Sparer. Sie befreit den Kontoinhaber bis zur Höhe der Sicherungsgrenze von diesen Haftungsrisiken. Künftig wird das Geld der Sparer also noch besser geschützt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Sicherungsgrenze von 100 000 Euro beibehalten. Für einige Bereiche soll sie sogar deutlich auf 500 000 Euro angehoben werden. Es gibt nun einmal bestimmte Ereignisse, da werden hohe Beträge üblicherweise auf einmal auf ein Konto überwiesen. Da wären zum Beispiel der Erlös aus dem Verkauf einer Eigentumswohnung oder eines Hauses, die Zahlung zugunsten eines Arbeitnehmers aus einem Sozialplan, die Versicherungsleistung nach einem schweren Unfall oder vielleicht auch die Auszahlung einer betrieblichen Altersversorgung zu nennen. Wer solche hohen, meist einmaligen Zahlungen erhält, die über die Sicherungsgrenze der Einlagensicherung hinausgehen, der soll die Möglichkeit erhalten, sein Geld in Ruhe neu anzulegen. Dafür bekommt der Kunde nach dem Gesetzentwurf nunmehr sechs Monate Zeit, in denen die höhere Sicherungsgrenze für solche bestimmten Ereignisse gilt. Zudem werden die Sparer künftig im Schadensfall schneller und unbürokratischer an ihr Geld kommen. Die Entschädigung soll nicht wie bisher nach 20 Tagen, sondern schon nach sieben Arbeitstagen gezahlt werden, künftig ohne einen Antrag stellen zu müssen. Auch die Transparenz wird erhöht. Die Kreditinstitute werden nun verpflichtet, ihre Kunden besser über die Einlagensicherung und vor allem über das Entschädigungsverfahren zu informieren. Zudem muss der Kunde in Zukunft rechtzeitig über einen Wechsel des Einlagensicherungssystems informiert werden, damit er selbst entscheiden kann, ob er seine Einlagen bei dem Kreditinstitut belässt oder auf ein anderes überträgt. Abschließend bleibt festzustellen, dass unser gutes und funktionierendes System der Einlagensicherung in Deutschland durch die Umsetzung dieser Richtlinie noch besser wird. Egal ob in wirtschaftlich besseren oder schlechteren Zeiten - die Menschen in Deutschland können darauf vertrauen, dass ihre Spareinlagen geschützt sind. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt Dr. Carsten Sieling von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zum Schluss dieser Debatte noch einmal darauf aufmerksam machen, dass wir mit der Einlagensicherung einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Finanzsystems leisten, aber natürlich auch dazu, dass die Menschen, die ihr Geld zur Bank bringen, dieses wirklich sicher haben. Das ist ein Gebot der Fairness. Dieses Gebot der Fairness beinhaltet mehrere Punkte. Ein Punkt, der uns als Sozialdemokraten wichtig war, ist, dass dieses Geld wirklich in allen Instituten sicher ist, und dass dabei beachtet wird, dass insbesondere die Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland schon eine eigene Institutssicherung haben. Das zeichnet uns gegenüber vielen anderen Ländern aus. Darum war uns als Sozialdemokraten die besondere und faire Behandlung dieser Institute wichtig. ({0}) Weil hier die meisten Punkte bereits ausgeführt worden sind, will ich sagen, dass wir eine Reihe weiterer Aufgaben haben werden, um dieses Ziel der Stabilität des Finanzsektors zu gewährleisten. Diese haben wir uns als Koalition vorgenommen. Ich will zunächst ansprechen, dass es einfach notwendig ist, dafür zu sorgen, dass die Gelder, die die Menschen zu den Banken und Sparkassen bringen, nicht für riskante Geschäfte verwendet werden. Wir sind sehr dafür, dass das Investmentgeschäft und das Einlagengeschäft, also das normale Kundengeschäft, getrennt werden. Wir haben deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart - das halte ich für einen wichtigen Schritt -, dass entsprechend den weiter gehenden europäischen Vorgaben auf Grundlage des Vorschlages des finnischen Zentralbankchefs Liikanen eine Umsetzung durchgeführt wird, die wirklich zu einer Trennung führt und damit Sicherheit schafft. Auch das ist uns ein wichtiges Anliegen. ({1}) Ein weiteres Thema ist hier in einigen Reden bereits angesprochen worden, und wir stimmen dem sehr zu: Es gibt viele Menschen in diesem Land, die kein Konto haben und auch keinen Zugang zu Konten haben. Auch deshalb haben wir vereinbart, jedermann die Einrichtung eines Girokontos zu ermöglichen. Das werden wir bald hier im Hause debattieren. Auch das ist ein wichtiger Bereich im Zusammenhang mit der Stabilisierung des Finanzsektors. ({2}) Lassen Sie mich als Allerletztes sagen, quasi als Ausblick auf das, was wir vorhaben und was wir zu tun haben: Die Finanzkrise hat den Steuerzahler viel Geld gekostet. Die Finanzkrise war eine Belastung und hat auch deshalb Risiken hervorgerufen, weil Geld immer wieder spekulativ verwendet wurde. Das wird man nicht einfach abstellen können; aber es gibt Instrumente, um dagegen vorzugehen, etwa die Besteuerung bestimmter Aktivitäten im Rahmen einer Finanztransaktionsteuer auf europäischer Ebene. Diese Steuer würde dafür sorgen, dass Spekulationen reduziert werden. Ich bin ganz optimistisch. Ihre Einführung steht in unserem Koalitionsvertrag; uns Sozialdemokraten war das immer eine Herzensangelegenheit. Die Meldungen der letzten Tage besagen, dass wir weiterkommen. Die Finanztransaktionsteuer stabilisiert die Finanzmärkte und ist deshalb ein guter Partner der Einlagensicherung. Ich freue mich auf die Debatte und die Beratungen im Bundestag und in den Ausschüssen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/3786 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkt 2 auf: 22 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Elfter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik Drucksache 18/3494 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesprogramm Modellvorhaben Regionale Auslastung von Müllverbrennungsanlagen unter Integration von Klärschlamm auflegen Drucksache 18/3048 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 23 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Mai 2014 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz- und Zollbehörden Drucksache 18/3696 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) Drucksache 18/3851 Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3851, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/3696 anzunehmen. Ich möchte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 23 b auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 139 zu Petitionen Drucksache 18/3738 Wer stimmt für die Sammelübersicht 139? - Alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 139 einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 23 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 140 zu Petitionen Drucksache 18/3739 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Die Koalition. Wer stimmt dagegen? - Die Linke. Wer enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammelübersicht 140 mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 23 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 141 zu Petitionen Drucksache 18/3740 Wer stimmt dafür? - Alle. Trotzdem: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? - Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 141 einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 23 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 142 zu Petitionen Drucksache 18/3741 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 142 mit den Stimmen der Koalition und der Linken bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 23 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 143 zu Petitionen Drucksache 18/3742 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand. Dann ist die Sammelübersicht 143 mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({8}) Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht Drucksache 18/3864 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? Auch niemand. Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen worden. Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 6: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Antrag der Bundesregierung Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region KurdistanIrak und der irakischen Streitkräfte Drucksachen 18/3561, 18/3857 - Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3858 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort. ({11})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist ein Hinweis, den man am Anfang einer Debatte geben muss: dass die Bekämpfung von ISIS, also des „Islamischen Staats“, auch eine militärische Herausforderung ist. Das, was wir in den letzten Stunden und Tagen gehört haben, nämlich dass es offensichtlich gelungen ist, Kobane zu befreien und ISIS auch in diesem Gebiet zurückzudrängen, deutet darauf hin, dass diese Auseinandersetzung militärisch geführt werden muss. Wir wissen auch, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung gerade in diesem Gebiet gibt. Deswegen ist es sehr naheliegend, dass das deutsche Engagement gerade im kurdischen Teil des Irak stattfindet. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sich ehrlich machen würden, würden Sie es an dieser Stelle auch einmal sagen. Sie sind in diesem Gebiet unterwegs - darauf weisen Sie ja oft hin -, wie wir auch. Ohne die Begleitung oder zumindest ohne die Rahmenbedingungen, die offensichtlich auch durch die Peschmerga und andere hergestellt werden, würden Sie sich gar nicht in dieses Gebiet wagen können. Ich finde, das zu sagen, gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu. ({0}) Es ist eine militärische Herausforderung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist genauso eine politische Herausforderung; das ist wahrscheinlich noch wichtiger, weil das nämlich langfristig trägt. Letztlich ist in dem Gebiet, über das wir bei dieser Ausbildungsmission sprechen, ein regionaler Ansatz geboten; nur so wird dieser Konflikt am Ende zu lösen sein. Ich würde gern daran erinnern, dass ISIS offensichtlich auch deshalb so viel Gefolgschaft hat, weil es in den letzten Jahren Staatsversagen in der Region gegeben hat, weil die Regierungen nicht in der Lage gewesen sind, ein Minimalangebot für die Menschen bereitzuhalten. Korruption und vieles andere haben dazu geführt, dass ISIS eine Legitimation von der Bevölkerung bekommt. Das ist eine politische Auseinandersetzung, in der wir von Deutschland aus durchaus sagen müssen: Es besteht eine Verpflichtung der dortigen politischen Akteure, zu einer guten Regierungsführung zu kommen. Der damalige jordanische Kronprinz, Prinz Hassan, hat ja darauf hingewiesen, dass genau das letztlich das Erfolgsrezept für die Region ist. Deswegen glaube ich: „ISIS bekämpfen“ umfasst mehr als nur den militärischen Ansatz, aber ohne den militärischen Ansatz wird es keine Voraussetzungen für politische Lösungen geben. ({1}) Deswegen müssen wir auch von dieser Stelle aus sagen: Natürlich müssen vornehmlich aus der Region Lösungen aufgezeigt werden, müssen sich die auf den Weg machen, die hoffentlich eine andere Regierungsführung zeigen. In der Tat müssen wir darauf achten, dass ISIS nicht mehr diese Gefolgschaft bekommt. Wir wissen, sunnitische Stämme, auch restliche Teile der Baath-Partei, sind gerade in diese Gruppierungen mit aufgenommen worden, und nur eine Einheitsregierung im Irak wird es schaffen, diese Kräfte aus der ISIS wieder herauszulösen. Der Außenminister und sein Haus haben letztlich immer wieder darauf hingewiesen: Insbesondere geht es um die Delegitimierung des Kalifats. Ich finde, das ist einer der wichtigen Bestandteile, zu dem man immer wieder Fragen an den Irak, insbesondere aber an SaudiArabien, richten muss, da offensichtlich von dort eine gewisse Legitimierung kommt. Deswegen glaube ich, der Ansatz vonseiten der Bundesregierung und auch der europäischen Partner, dass die Unterstützung Deutschlands nicht bedingungslos ist, war richtig gewählt. Voraussetzung ist, dass es in Bagdad zu einer anderen Regierung gekommen ist und dass diese mit dafür gesorgt hat, dass religiöse und ethnische Teile mit an den Tisch geholt und in die Regierungsführung einbezogen werden. Wir sehen ja auch Fortschritte. Wir sehen zum Beispiel die Verwirklichung des Ölgesetzes und die Unterstützung des kurdischen Haushaltes vonseiten der Zentralregierung. Das schafft nach unserem Dafürhalten möglicherweise ein Umfeld, in dem ein besseres Regieren möglich ist, um so ISIS die Legitimation zu entziehen. Dazu kommt der zweite Punkt. Auch hier bin ich der Bundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin, aber auch dem Außenministerium, sehr dankbar, dass sie dies immer wieder in Angriff genommen und gesagt hat: Die regionalen Akteure wie der Iran, wie Saudi-Arabien, wie Katar und die Türkei haben die Verpflichtung, ein regionales Sicherheitsumfeld zu schaffen, in dem möglicherweise Entwicklung stattfinden kann. Ich glaube, der Iran ist nicht nur ein Teil des Problems, sondern er bietet auch eine Möglichkeit, um die Probleme mit lösen zu können. Daher glaube ich, wir müssen ihn viel stärker fordern und einbeziehen; und das gilt nicht nur für den Irak, sondern das gilt genauso für Syrien. Daher bin ich sehr dankbar, dass zum Beispiel der Beauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nicht nur Vorschläge für lokale Waffenstillstände oder Waffenruhen in Syrien gemacht hat, sondern dass er versucht, die Probleme, die sich daraus ergeben, auch mit diesen anderen Staaten zu besprechen, und versucht, dass auch sie möglicherweise im Rahmen von Genf III am Tisch Platz nehmen, um zu einer Problemlösung zu kommen. Meine Damen und Herren, ich würde gern zu dem rechtlichen Rahmen dieses Mandats kommen, weil wir in den letzten Tagen und Stunden immer wieder gehört haben, dass der eine oder andere Zweifel besteht. Erstens bin ich der Bundesregierung dankbar, dass sie dieses Parlament im Zweifel mit in die Mandatierung einbezieht. Ich finde, wir sollten es über alle Fraktionen hinweg loben, dass die Bundesregierung den Bundestag dennoch einbindet - nicht nur in die politische Diskussion, sondern in die Mandatierung -, auch wenn im Zweifelsfall vielleicht doch kein Mandat erforderlich ist. Allein die Aufgabe und die Größenordnung machen es notwendig, dass wir heute als Deutscher Bundestag darüber entscheiden. ({2}) Der zweite Punkt: Die Frage der Mandatsklarheit finde ich in dem Antrag der Bundesregierung sehr überzeugend ausgeführt. Es ist eine überschaubare Aufgabe. Sie wird mit verlässlichen Partnern durchgeführt. Es werden keine Strukturen geschaffen, die selbstbindend sind oder sozusagen zeitlos wirken werden. Vielmehr stehen wir insbesondere vor der Möglichkeit, die Führung relativ schnell, nach sechs Monaten, an andere Partner zu übergeben. Gestern hat der Bundesaußenminister im Auswärtigen Ausschuss von Italien gesprochen. Ich finde es richtig, dass zum Beispiel die Bundeswehr die Peschmerga an defensiven Waffensystemen ausbildet. Die Frage der Minenräumung und andere Dinge spielen für die Menschen vor Ort die entscheidende Rolle. Wenn da die Bundeswehr Hilfestellung geben kann, sollte sie es tun. Die Beschlüsse der Vereinten Nationen sind klar; sie müssen aber im Zusammenhang gesehen werden. Ich vermisse, dass neben der Resolution 2170 zu wenig auf die Resolutionen 2169 und 2178 eingegangen wird; denn diese bieten den Rahmen für ein kollektives Sicherheitssystem, in dem es möglich ist, die Aufgabe an die Mitgliedsnationen zu überweisen. ({3}) - Sie stehen im Mandat. - Deswegen bin ich der Meinung, dass Ihr Vorwurf nicht stimmt, es sei ein Novum, was heute vonseiten des Deutschen Bundestages möglicherweise beschlossen wird. Es gab bereits andere Mandatstexte - da ging es um AFISMA und andere Einsätze -, die keine unmittelbare Folgewirkung hatten. Wenn Ihre Kritik glaubwürdig sein soll, dann müssen Sie auch die damaligen Beschlüsse kritisieren. Auch das gehört zu einer ehrlichen Debatte mit dazu. ({4}) - Sie können fragen oder gleich in der Debatte noch etwas dazu sagen. Es gibt Ratschläge, die besagen, dass wir den europäischen Rahmen suchen müssen. Das mag sein. Aber der Außenminister hat gestern im Auswärtigen Ausschuss angedeutet - auch das sollten wir der Öffentlichkeit deutlich sagen -, wie schwierig dieser Prozess mit den europäischen Partnern ist. Das zu erwähnen, gehört zur Ehrlichkeit mit dazu; denn unterschiedliche Regierungen verknüpfen unterschiedliche Ziele damit. Sie diskutieren ja rechtlich; entsprechende Aussagen hat der Kollege Schmidt in der ersten Beratung gemacht. Dann müssen Sie aber auch das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hier zitieren. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist Europa bis zum jetzigen Zeitpunkt kein System kollektiver Sicherheit. Sie verlangen immer, dass wir alles tun müssen, um an dieser Stelle rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Ich glaube, Sie machen sich mit dieser Forderung nur einen schlanken Fuß, damit Sie an diesem Mandat heute nicht mitwirken müssen. ({5}) Was die Bundesregierung heute vorgelegt hat, ist eine rechtlich einwandfreie Herleitung. Sie bietet auch Möglichkeiten der Mitberatung. Letztlich besteht das System auch darin, dass uns eine legitime Regierung und das irakische Parlament gebeten haben, an dieser Ausbildung mitzuwirken. Der Beitrag Deutschlands ist in der Tat nicht überragend. Aber er ist das, was wir zurzeit liefern können. Ich finde, er ist auch richtig begründet. Wir sollten uns in dieser Debatte selbstbewusst klarmachen, was wir in der Vergangenheit unternommen haben. Beim gezielten Aufbau, bei der humanitären Hilfe und bei der Unterstützung der Länder in dieser Region, die die Hauptlast der Aufnahme von Flüchtlingen tragen, haben wir viel unternommen. Insbesondere haben wir eine Diskussion geführt, die ich vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten habe. Ein Großteil der Menschen in Deutschland ist bereit, Flüchtlingen in Not eine Art Heimat zu bieten. Dieses Signal geht von dieser Debatte aus. Frau Präsidentin, wenn ich das am Schluss noch erwähnen darf: Neben der guten rechtlichen Herleitung, die die Bundesregierung erarbeitet hat, gehört zu einer ehrlichen Debatte, dass wir uns demnächst darüber unterhalten müssen, ob die eine oder andere Regierung in dieser Region nicht erneut möglicherweise eine Situation herbeiführen wird, die bewirkt, dass noch mehr Gewalt in diese Region hineingetragen wird. Mir machen autoritäre Regierungen große Sorgen, die keine Rücksicht auf die Menschenrechte nehmen. Darüber sollten wir im Deutschen Bundestag eine ehrliche Diskussion führen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan van Aken von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, wir sollten erst einmal zusammen feiern, dass diese Woche Kobane befreit worden ist. Mein Dank und meine ganze Hochachtung gilt den Frauen und Männern, die in den letzten Monaten gegen die Menschenfeinde von ISIS gekämpft haben, dabei ihr Leben riskiert und zum Teil verloren haben. Biji Kobane! Jetzt zu Ihrem Antrag. Sie wollen 100 Bundeswehrsoldaten in den Nordirak schicken, um dort kurdische Peschmerga auszubilden. Dieser Einsatz ist grundgesetzwidrig, aber er ist auch politisch falsch. Sie werden damit ISIS auf Dauer stärken und nicht schwächen, weil Sie so die Spaltung des Irak vorantreiben. Zur rechtlichen Frage muss ich nicht viel sagen. Das ist in den letzten Tagen alles ausgeführt worden. Auch viele Abgeordnete der SPD, der CDU und der CSU sind der Meinung, dass dieser Einsatz gegen das Grundgesetz verstößt, weil er eben nicht in den Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems passt. Wenn Sie ihn jetzt hier durchwinken, dann schaffen Sie einen Präzedenzfall, der uns in den nächsten Jahren immer wieder einholen wird. ({0}) Das allein wäre für uns Grund genug, Ihren Antrag abzulehnen. Aber er ist, wie gesagt, auch politisch falsch. Ich bin überzeugt davon - das werde ich gleich im Detail begründen -, dass Sie damit ISIS auf Dauer tatsächlich stärker und nicht schwächer machen. Herr Mützenich, auch das gehört zur Ehrlichkeit: Sie müssen sehen, dass manchmal ein militärischer Beitrag ein politisches Ziel unterläuft. Genau das ist hier der Fall. Sie haben es völlig richtig beschrieben. Ich glaube, wir sind uns hier alle einig: Es gibt einen zentralen Grund, warum ISIS im Irak so stark ist. Das liegt daran, dass in den letzten Jahren die sunnitischen Muslime im Nordirak komplett ausgegrenzt worden sind, dass die Zentralregierung in Bagdad alle lukrativen Posten, die gesamten Öleinnahmen, den gesamten Reichtum des Landes an die Schiiten und zum Teil an die Kurden verteilt hat. Die Sunniten sind völlig leer ausgegangen. Als ich Anfang des letzten Jahres durch die Region gefahren bin, auch durch Mossul, schlug mir ein Hass auf die Schiiten entgegen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Genau dieser Hass ist der Nährboden dafür, dass ISIS jetzt militärisch so stark geworden ist. ISIS ist im Nordirak mittlerweile in der Breite verankert und hat die Unterstützung der lokalen Bevölkerung. Wenn Sie ISIS militärisch bekämpfen wollen, dann geht es nur, wenn Sie den Hass wieder wegbekommen, indem Sie eine inklusive, eine breite, eine faire Regierung in Bagdad installieren, die den Reichtum fair zwischen Kurden, Schiiten und Sunniten verteilt. Das muss das politische Ziel sein. ({1}) Das große Problem, Herr Mützenich, ist, dass es eine große Kraft im Irak gibt, die genau dagegen arbeitet, und das ist Massud Barzani, der Präsident der nordirakischen kurdischen Autonomieregierung. Barzani lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass er einen eigenen Nationalstaat der Kurden im Nordirak möchte. Er möchte die Abspaltung vom Restirak. Seit Monaten bringt er eine Volksabstimmung in der Autonomieregion ins Gespräch. Wozu das führt, wissen wir alle. Wenn sich der Nordirak abspaltet, dann zerfällt der Restirak, und wir haben ein Desaster, von dem wir uns viele Jahre nicht erholen werden. Genau den Barzani haben Sie mit Waffen beliefert. Genau den Barzani wollen Sie jetzt weiter militärisch ausrüsten und ausbilden? Damit treiben Sie doch noch mehr Sunniten in die Arme von ISIS. Damit werden Sie ISIS auf Dauer wirklich stärken, weil Sie die Abspaltungstendenzen im Irak stärken und nicht die Vereinigung der drei verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Das ist Ihr grober Fehler. Selbst wenn Sie für Waffenlieferungen sind, wenn Sie für Bundeswehreinsätze sind, dann ist dieser Einsatz doch genau der falsche. Sie bilden die falschen Leute für die falschen Zwecke aus. ({2}) Noch ein letzter Punkt. Es gebe sehr vieles, was Sie im Moment tun könnten, um ISIS militärisch zu schwächen. Aber all dies Richtige und Gute tun Sie nicht. Sie könnten zum Beispiel die direkte Unterstützung für ISIS austrocknen: die Geldquellen, aber auch den Nachschub an Kämpfern und Waffen. Noch immer können Dschihadisten mit ihren Waffen über die Türkei nach Syrien einreisen. Sie können gar nicht so schnell in Arbil ausbilden, wie ISIS über die Türkei weiter wächst. Dagegen haben Sie überhaupt keine Chance. Wenn Sie militärisch effektiv gegen ISIS vorgehen wollen, dann machen Sie die Grenzen zu und üben Sie Druck auf die Türkei aus. ({3}) Dafür hätten Sie sogar ein UNO-Mandat. Für einen Bundeswehreinsatz im Nordirak haben Sie keine gesetzliche Grundlage bei den Vereinten Nationen. Es gibt genau eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die hier einschlägig ist. In dieser geht es darum, den Zufluss internationaler Terroristen zu behindern. Stoppen Sie endlich den Zufluss der ISIS-Terroristen über die Türkei. Machen Sie endlich Druck auf die Türkei, die Grenze zu schließen. Damit bekämpfen Sie ISIS, aber lassen Sie die Bundeswehr da raus. ({4}) Damit sind wir beim Kern des Problems, den Sie immer aussparen. Sie haben über die Golfstaaten, über den Iran geredet. Warum reden Sie nicht über die Türkei? Die türkische Regierung ist eines der Hauptprobleme. Sie sagt bis heute: Unser Hauptfeind ist nicht ISIS, sondern sind Assad und die Kurden. Es ist vorgekommen, dass schwerverletzte Verteidiger von Kobane an türkischen Grenzposten gestorben sind, weil die Grenze zu war. Ein paar Kilometer weiter konnte ISIS samt Waffen über die türkische Grenze gehen. Genau das müssen Sie verändern. Es ist die Hauptaufgabe des Bundesaußenministers, den Druck auf die Türkei so weit zu erhöhen, dass ISIS nicht noch weiter stärker wird. ({5}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen exportieren sollte: nicht in den Irak und auch nicht in die Türkei. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Henning Otte von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag sagte unser Bundestagspräsident, Dr. Norbert Lammert, auf der Gedenkveranstaltung hier im Deutschen Bundestag anlässlich der Befreiung des KZ Auschwitz: Verantwortung zu übernehmen, ist … ein persönlicher Akt. Das zu fördern, gehört aber zu den zentralen Aufgaben des Staates. Meine Damen und Herren, Deutschland übernimmt Verantwortung, auch als Partner einer Verantwortungsgemeinschaft. Deutschland übernimmt Verantwortung für das Leben von Christen, Jesiden, Kurden und Moslems. Wir verstecken uns nicht hinter Zweifeln, hinter einer Ideologie, sondern wir stehen zu unserer Verant7818 wortung. Sie, Herr van Aken - das haben Sie eben deutlich gemacht -, ducken sich weg. ({0}) Der IS-Terrorismus versucht, eine ganze Region unter Kontrolle zu bringen und Menschen tief zu verunsichern. Männer werden zum Konvertieren gezwungen. Mädchen werden als Sklaven verkauft. Homosexuelle werden unter den Augen der verängstigten Bevölkerung von hohen Gebäuden gestoßen. Davor können wir die Augen nicht verschließen. Es ist der kurdischen Peschmerga mit westlicher Hilfe gelungen, den Vormarsch des IS-Terrors zu stoppen. Die Herausforderung ist, dass diese Kampfhandlungen auf einer Frontbreite von 1 000 Kilometern stattfinden. Bei einem Besuch unserer Verteidigungsministerin Frau von der Leyen, bei dem ich sie begleitet habe, haben wir deutlich bestätigt bekommen, dass die westliche Hilfe einen Beitrag dazu leistet, die von mir beschriebenen Grausamkeiten zu verhindern. Die Ausbildungsmission der Bundeswehr ist ein Gradmesser für die Menschlichkeit, für die Verlässlichkeit und auch für die Verantwortung unseres Landes. Wir wollen ein Ausbildungszentrum betreiben. Das ist unser Beitrag - 60 weitere Nationen leisten ebenfalls ihren Beitrag -, damit die Peschmerga-Kämpfer noch effektiver vorgehen können. Dazu gehört die Sanitätsausbildung, weil hohe Verluste durch schwere Verwundungen zu verzeichnen sind. Dazu gehört eine Mission zur Minenräumung, damit die Menschen, nachdem sie aus ihren Dörfern vertrieben wurden, wieder zurückkehren können; denn die IS-Terroristen hinterlassen verbrannte Erde und verminte Dörfer. Auch hier leisten wir einen Beitrag. Es gehört auch dazu, dass wir mit militärischem Know-how einen Beitrag leisten. Es ist doch geradezu zynisch, den Menschen die Mittel zur Selbstverteidigung vorenthalten zu wollen. Als Ultima Ratio gehört auch dazu, Waffen zu liefern, die vonnöten sind, um heranfahrende, mit Sprengstoff beladene Lkw auf Distanz zu halten. Solche Selbstmordkommandos können gestoppt werden, weil wir beispielsweise die Panzerabwehrrakete Milan zur Verfügung stellen. Wir fangen mit dieser Mission rechtzeitig an. Wir wollen nicht in eine Situation wie in Afghanistan geraten. Das Land war bereits völlig zerrüttet, als man um Hilfe gebeten hat. Deshalb wollen wir schon jetzt einen Beitrag dazu leisten, den Irak weiter zu stabilisieren. Offensichtlich ist der Terrorismus - ob unter al-Qaida oder IS - wie ein Franchiseunternehmen organisiert. In allen möglichen Ländern wird versucht, „Filialen“ zu eröffnen. Diesem Geschäftsmodell müssen wir als Verantwortungsgemeinschaft gemeinsam einen Riegel vorschieben. Wer glaubt, dass wir uns heraushalten können, der irrt. So können wir auf dieser Welt nichts verbessern. Ja, wir müssen aktiv werden. Wir müssen auch deutlich machen, dass die innere Sicherheit für unser Land von besonderer Bedeutung ist, und dass wir bereit sind, die notwendigen Maßnahmen umzusetzen, zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung zur Ermittlung bei schweren Straftaten und bei terroristischen Anschlägen. Das sind wir der Sicherheit unseres Landes und auch der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger schuldig. ({1}) Oftmals ist in der Debatte darüber von der 68er-Generation der Eindruck vermittelt worden, dass Freiheit und Sicherheit sich gegenseitig aufheben bzw. blockieren. ({2}) Ich glaube, nach den Anschlägen von Paris können wir deutlich feststellen: Freiheit gibt es nur mit Sicherheit und in Sicherheit. Deswegen ist es gut, dass wir heute diese Debatte über eine Stärkung der Ausbildungsmission im Irak führen. Deutschland ist bereit, 100 Soldatinnen und Soldaten in ein Mandat zu entsenden, das eine Ausbildungsmission ist - verbunden mit 60 Partnerländern. Hier geht es darum, sich dem Terror entgegenzustellen und einen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. Der Theologe Georg Picht sagte einmal: Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sich der Last, die sich daraus ergibt, nicht entziehen. Deswegen handeln wir, und deswegen reden Sie von der Opposition. Wir bitten um Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Omid Nouripour von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicher ist die Nachricht über die Befreiung von Kobane eine hervorragende. Ich finde es richtig, dass man diese Befreiung feiert, ({0}) auch wenn man weiß, dass ISIS weiterhin ein Drittel des Territoriums Syriens und des Irak besetzt. Wenn man sich die humanitäre Katastrophe anschaut, die diese Barbaren verursacht haben, dann fehlen einem manchmal die Worte, um sie zu beschreiben. In einer solchen Situation muss man handeln. Darüber sind wir uns alle einig. Wie man genau handeln sollte, darüber kann man, darüber muss man streiten. Dass man dabei zu verschiedenen Meinungen kommen kann, das verstehen wir. Wir Grüne haben gute Erfahrungen damit gemacht, und wir haben natürlich Respekt vor der MeiOmid Nouripour nung derjenigen, die zu einem anderen Ergebnis kommen, egal ob bei uns oder in anderen Fraktionen. Wir wissen, dass man ISIS nur militärisch stoppen kann, und wir wissen, dass man dafür auch Ausbildung braucht. Das ist unsere Meinung. Wir haben das bereits Anfang September in unserem Entschließungsantrag formuliert, den wir hier eingebracht haben, und wir haben das auch auf unserem Parteitag beschlossen. Heute werden wir uns mehrheitlich enthalten. Ich werde Ihnen sagen, warum. Es gibt vier Gründe, die sehr viel mit der Art des Mandats, das die Bundesregierung vorlegt, zu tun haben: Erstens. Ja, Ausbildung ist notwendig. Aber muss man nicht vorher sagen, wen man ausbildet? Wir haben überall nachgefragt. Die Bundesregierung - ich habe es schriftlich - kann diese Frage nicht beantworten. Muss man nicht die Frage beantworten, woran ausgebildet wird? Kollege Mützenich, Sie haben gesagt: an Defensivwaffen. Das kann sein, kann aber auch nicht sein. Ich weiß es nicht. Ich kann Ihnen vorlesen, was die Bundesregierung dazu sagt. Eine Antwort auf diese Frage wurde nicht gegeben. Muss man nicht sagen, was das Ziel ist? Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, dass Auslandseinsätze ein klares Ziel brauchen, damit man irgendwann einmal weiß, wann man sie beendet? ({1}) Fehlanzeige, komplette Fehlanzeige. Es gibt ein Novum - das habe ich noch nie erlebt -: Wir schicken, mandatiert, Soldatinnen und Soldaten. Das heißt, es kann sein, dass sie in Kampfhandlungen geraten; ({2}) sonst müssten wir ja nicht mandatieren. Wir schicken Soldatinnen und Soldaten, aber es gibt noch keine Einsatzregeln. Es gibt noch nicht einmal Einsatzregeln! Ich finde, das ist den Soldatinnen und Soldaten gegenüber ein nicht unbedingt verantwortungsbewusstes Verhalten. Wir schicken sie in eine Rechtsunsicherheit. Wir schicken sie in einen Einsatz, ohne dass es Einsatzregeln gibt. Das ist schlicht unverantwortlich. ({3}) Der zweite Grund. Alle haben gesagt, dass die irakischen Streitkräfte, dass die irakische Armee in der Vergangenheit Teil des Problems gewesen ist. Wir brauchen in diesem Land dringend eine gescheite Reform des Sicherheitssektors; denn die Art und Weise, wie die Streitkräfte aufgestellt worden sind - dabei geht es nicht um Geld -, ist Teil des Problems. Die Amerikaner haben 25 Milliarden Dollar in diese Armee investiert. Als es aber darauf ankam, haben viele Soldaten, wenn sie in Mossul nicht gleich die Seite gewechselt haben, nicht nur die Ausrüstung, sondern auch die Uniform hinterlegt. Deshalb muss man da etwas tun. Man muss dafür sorgen, dass die Korruption in den Streitkräften beendet wird. Aber was passiert stattdessen? Die irakische Regierung fordert von der EU inoffiziell eine Rechtsstaatsmission. Und die Antwort der Bundesregierung ist: Nein. Das hat mit einer Reform des Sicherheitssektors überhaupt nichts zu tun. Sie verschließen die Augen vor dem, was im Irak dringend notwendig ist. ({4}) Drittens. Die Rechtsgrundlage. Kollege Mützenich, wenn es mit dem System kollektiver Sicherheit so klar wäre, dann frage ich mich, warum die Bundesregierung in zwei Ausschüssen verschiedene Aussagen macht. In dem einen Ausschuss wird gesagt, die völkerrechtliche Grundlage sei Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. In dem anderen Ausschuss wird gesagt: Die Grundlage ist die Einladung der Regierung Iraks. Ich frage mich noch etwas; das habe ich auch noch nie gesehen. Es gibt jetzt - endlich haben wir es bekommen eine rechtliche Ausfertigung des Auswärtigen Amtes über die verfassungsgemäße Grundlage dieses Einsatzes. ({5}) Diese haben wir einen Tag vor der Abstimmung bekommen. Das kann man richtig finden, muss man aber nicht. Ich habe noch nie gesehen, dass eine rechtliche Ausarbeitung über die Grundlage eines Einsatzes eingestuft wird. Es ist eine vertrauliche Grundlage. Warum darf die Öffentlichkeit dieses Papier nicht sehen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, ob das jetzt verfassungsgemäß ist oder nicht? ({6}) Wie kommt es, dass der Kollege Mißfelder heute Morgen im Radio gesagt hat: „Natürlich ist das politische Argument wichtiger als juristische Bedenken“? Was ist das denn für ein Verständnis von Rechtsstaat, wenn man sagt, dass man etwas unbedingt will, das müsse doch möglich sein, auch unabhängig davon, wie die rechtliche Grundlage ist? ({7}) Sie wissen ganz genau, dass nicht das Lissabon-Urteil der Grund ist, warum die EU jetzt nicht befasst wird. Das Lissabon-Urteil ist aus dem Jahr 2009. Es gibt mittlerweile ganz andere Strukturen in der EU. Wir wissen ganz genau, dass man ein bisschen Angst hat, dass man weiß, dass man andere Dinge tun müsste, die notwendiger sind, statt reinen Aktionismus zu betreiben. Der letzte Grund ist: Man kann sich - das machen wir - darüber streiten, ob Waffenlieferungen Sinn machen oder nicht. Aber in dem Mandat steht auch, dass der Bundestag absegnen soll, und zwar ganz pauschal, dass demnächst Waffen geliefert werden. Das steht einfach so in dem Mandat, ohne dass aufgezeigt wird, was dort passiert, ohne dass darüber nachgedacht wird, was mit den bisher gelieferten Waffen passiert ist. Uns ist bekannt - es gibt viele Berichte darüber -, dass man nicht weiß, wo sie sind. Man geht auch nicht der Frage nach, wie man mit Menschenrechtsverletzungen von kurdischen und irakischen Streitkräften - auch darüber gibt es einige Berichte - umgehen will. Das ist alles andere als verantwortlich. Wir sind für Ausbildung. Das, was die Bundesregierung hier vorlegt, ist für die große Mehrheit meiner Fraktion nicht zustimmungsfähig. Deshalb werden wir uns enthalten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Roderich Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts des millionenfachen Leids, das wir nicht nur medial erleben, sondern über sehr hohe Flüchtlingszahlen auch in Deutschland tagtäglich in unseren Kommunen mitbekommen, ist es wichtig, dass wir heute mit der Verabschiedung des Mandats ein Signal des Handelns zeigen. Es ist nicht nur das Mediale, das uns fassungslos macht, sondern es sind auch die Geschichten syrischer Familien und irakischer Familien, die uns in den Kommunen tagtäglich vor Augen führen, welches Leid dort geschieht. Es ist gerade einmal fast auf den Tag genau ein Jahr her, dass unsere Bundesverteidigungsministerin und unser Bundesaußenminister bei der Münchener Sicherheitskonferenz deutlich gemacht haben, dass unser Land nicht dauerhaft gewisse Ereignisse auf der Welt von der Seitenlinie kommentieren kann, ({0}) sondern dass wir sehr sorgfältig abwägen müssen, wo wir uns engagieren. Die Münchener Sicherheitskonferenz hat eben nicht dazu geführt, dass sich Deutschland stärker militärisch engagiert, sondern dazu, dass wir verschiedene Prozesse in unserem Land äußerst besonnen angestrengt haben. Ich erinnere an den Review-Prozess des Auswärtigen Amtes. Ich erinnere an den WeißbuchProzess. Ich erinnere an die Einsetzung der Rühe-Kommission. Das alles sind Bereiche, in denen wir uns als Parlamentarier intensiv Gedanken machen, wie wir unser Land angesichts der außenpolitischen Herausforderungen strategisch besser aufstellen. ({1}) Das führt, lieber Herr Kollege Nouripour, eben auch dazu, dass wir uns Gedanken über die Mandatierung machen. Die Einsatzschwelle ist mit der Ausbildungsmission im Nordirak nicht erreicht. Aber wir als Parlamentarier setzen damit ein ganz wichtiges Zeichen, dass wir bereit sind, eine Ausbildungsmission zu mandatieren, die der Stabilisierung einer Region im Norden des Irak dient und auf Einladung der irakischen Regierung, auf Aufforderung der Vereinten Nationen erfolgt. Das gibt auch die Handlungssicherheit, die wir brauchen. Das Mandat gibt unseren Soldatinnen und Soldaten, die dort hingehen, die Rückendeckung, die sie in einer Ausbildungsmission brauchen. Es ist kein Kampfeinsatz, und es ist keine bewaffnete Auseinandersetzung. ({2}) Für eine Ausbildungsmission gibt es bestimmte Regeln. Auch Eigensicherung ist zulässig. Aber mehr brauchen wir da im Moment nicht. Entscheidend ist - wir beraten nachher ja auch die Operation Active Fence in der Türkei -, dass wir vorbeugende Sicherheitspolitik betreiben. „Vorbeugende Sicherheitspolitik“ heißt, dass wir einen Rahmen schaffen, der bei einer möglichen Eskalation Rechtssicherheit gewährleistet. Genau das leisten wir im Rahmen dieser Mission. Deswegen stimmen wir als CDU/CSU zu. Ich bin froh, dass die gesamte Regierungskoalition geschlossen hinter diesem Einsatz steht. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn die rechtlichen Voraussetzungen stimmen - ich bin dem Bundesaußenminister sehr dankbar, dass er gestern im Auswärtigen Ausschuss für Klarheit gesorgt hat -, müssen wir uns zwei Fragen stellen: Erstens. Wird unser Einsatz gebraucht? Zweitens. Ist er politisch sinnvoll? Dass er gebraucht wird, wird schon an der mangelnden Handlungsfähigkeit der irakischen Regierung deutlich. Mit Blick auf die Eroberung von Kobane müssen wir die Kräfte, die die Staatlichkeit des Irak schützen, stärken. Ist er politisch sinnvoll? Als Europäer müssen wir deutlich machen, dass uns die Region, aus der zurzeit die meisten Flüchtlinge der Welt kommen, nicht gleichgültig ist, dass wir diese Region nicht sich selbst überlassen, dass wir aber auch nicht massiv von außen eingreifen, wie es im Jahr 2003 der Fall war, sondern Hilfe zur Selbsthilfe geben. Das müssen wir äußerst engagiert tun. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten uns als Angehörige dieses Parlaments auch Gedanken darüber machen, wie lange der Entscheidungsprozess gedauert hat, nämlich vom August letzten Jahres bis in den Januar dieses Jahres, also fast sechs Monate. In dieser Zeit hat Dänemark versucht, diese Ausbildungsmission mit uns gemeinsam durchzuführen. Unsere Verfahren haben sehr lange gedauert. Daran ist nichts auszusetzen. Wohl aber sollten wir aufmerken, dass dieses Verfahren engsten Bündnispartnern - sogar Dänemark, einem Land, das der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU äußerst zurückhaltend gegenübersteht - zu lange gedauert hat. Dänemark hat sich nun einer gemeinsamen Mission mit Großbritannien angeschlossen. Ich rege deshalb an, dass wir uns auch mit Blick auf unseren Koalitionsvertrag Gedanken darüber machen, wie wir die europäische Integration vertiefen können. Der Vertrag von Lissabon erlaubt die vertiefte Integration einzelner Staaten; derzeit gehören ja acht oder neun EU-Staaten der Koalition der 60 an. Die Aktivitäten dieser Koalition könnten wir mit einem Instrument, das der Lissabon-Vertrag zulässt, verknüpfen, nämlich mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit. Lassen Sie uns gemeinsam ausloten, wie wir die Verantwortung, die wir haben, wahrnehmen, mit Besonnenheit und Augenmaß agieren und dabei europäische Partner gewinnen können, indem wir gemeinsam Instrumente entwickeln, um die europäische Sicherheitspolitik voranzutreiben, allerdings ohne dabei unsere Rechte als Parlament zu verlieren. Wir müssen, wie in diesem Falle, um die jeweiligen Mandate ringen und zur Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes zur Stabilisierung dieser Region beitragen. ({4}) Es ist, glaube ich, ein gutes Zeichen, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, wenn wir als Parlament mit einer breiten Mehrheit deutlich machen, dass wir hinter dieser Ausbildungsmission stehen. Wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten zeigen, dass sie in ein Gesamtkonzept der freien westlichen Welt eingebunden sind. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Julia Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Julia Bartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004249, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern gedachten wir hier im Hohen Haus der Opfer des Nationalsozialismus. Der Bundestagspräsident hat in seiner Rede deutlich gemacht, was Auschwitz und die Erinnerung an diesen Völkermord heute bedeuten. Er betonte dabei die besondere Verantwortung Deutschlands, solche Verbrechen nie und nirgendwo mehr zuzulassen. Daraus leite ich für die heutige Debatte ab, dass wir im Irak handeln und helfen müssen. Die ISIS-Schlächter richten auf menschenverachtende Art tausendfach Tod, Leid und Schmerz an. Amnesty International spricht von einer systematischen ethnischen Säuberung von historischem Ausmaß. ISIS macht ganze Dörfer dem Erdboden gleich. Die Männer werden ermordet, Mädchen und Frauen vergewaltigt und versklavt. Millionen von Menschen sind im Irak und in Syrien brutalster Verfolgung ausgesetzt. ISIS bedroht damit nicht nur die Stabilität der gesamten Region, sondern auch die internationale Sicherheitsarchitektur. Zur Wahrheit gehört leider auch, dass sich diese Terrormiliz nicht durch diplomatische Gespräche stoppen lässt. In diesem Fall muss die Weltgemeinschaft zur Ultima Ratio greifen: zu militärischen Mitteln. Deutschland gehört zu den knapp sechzig Staaten, die sich zusammengetan haben, um den Terror von ISIS zu stoppen. Die Beiträge der unterschiedlichen Nationen sind vielfältig: Die USA, Saudi-Arabien und Frankreich beteiligen sich an Luftschlägen, Kanada beispielsweise hat Spezialkräfte vor Ort. In unserem deutschen Beitrag sind wir großzügig mit Hilfslieferungen, offen für Waffenlieferungen und vorsichtig beim Einsatz von Militär. Deutschland ist einer der größten Geldgeber für die Flüchtlinge in der Region: Seit dem Ausbruch der Syrien-Krise 2012 haben wir den Menschen vor Ort mit über 600 Millionen Euro humanitär geholfen. Aber diese humanitäre Hilfe kann nur in sicheren, ruhigen Gebieten auch ankommen. So haben wir uns im Sommer nach gründlicher Abwägung für die Lieferung von Waffen, Munition und Ausrüstung entschieden. Damit unterstützen wir die Peschmerga, also diejenigen, die ISIS entgegentreten. Diese Entscheidung beruhte auf der Überzeugung, unschuldiges Leben zu schützen. ({0}) Die Richtigkeit dieses Schritts wurde von Papst Franziskus, aber auch von Personen wie Rupert Neudeck gestützt. Das Engagement Deutschlands hat hier bereits einiges bewirkt: Durch die gelieferten Milan-Raketen können die rollenden Selbstmordkommandos von ISIS - mit Sprengmaterial beladene Lastwagen - gestoppt werden. Auch einer der gelieferten Dingos konnte bereits Leben retten. Doch um gegen ISIS weiter bestehen zu können, benötigen diejenigen, die an vorderster Front kämpfen, nicht nur das richtige Material, sie brauchen auch die entsprechende Ausbildung. Dazu gehört zum Beispiel eine Ausbildung in der Versorgung von Verwundeten. Etwa 800 Kämpfer der Peschmerga haben ihr Leben verloren, weil sie direkt nach der Verletzung an der Front nicht die notwendige Wundversorgung erhielten. Eine Ausbildung in diesem Bereich durch die Bundeswehr kann Leben retten. Dieses Ziel - Leben retten - verfolgen wir mit diesem Mandat. Es handelt sich dabei um eine reine Ausbildungsmission, um keinen Kampfeinsatz. Es sind auch keine Partnering-Modelle wie damals in Afghanistan geplant. Die Mandatsobergrenze ist mit 100 Soldatinnen und Soldaten eng - vielleicht zu eng begrenzt; aber die Mission ist ein wichtiger Teil des deutschen Beitrags im internationalen Kampf gegen die ISIS-Terrormiliz. Und wir handeln hier auf Bitte der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Arbil. Mit dieser Ausbildungsmission wollen wir dazu beitragen, die Region zu stabilisieren, Menschen zu schützen und insbesondere weitere Massenmorde zu verhindern. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. Ich möchte Ihnen auch gratulieren zu Ihrem Namenswechsel, weil er Vizepräsident Johannes Singhammer einen ganz bestimmten Grund hat: Ihre Heirat. Herzlichen Glückwunsch dazu! ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie- rung zu der Ausbildungsunterstützung der Sicherheits- kräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte. Dazu liegt mir eine Reihe von persönlichen Erklärungen gemäß § 31 unserer Ge- schäftsordnung vor.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 18/3857, den Antrag der Bundesre- gierung auf Drucksache 18/3561 anzunehmen. Wir stim- men nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich möchte bereits jetzt darauf hinweisen, dass wir im Laufe des Nachmittags zu Tagesordnungspunkt 8 eine weitere namentliche Abstimmung durchführen werden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind jetzt alle Plätze an den Abstimmungsurnen besetzt? - Dann er- öffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfeh- lung. Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Ich sehe, das sind noch einige, darunter auch der Herr Bundesverkehrsminister. - Ich sehe jetzt niemanden mehr im Plenarsaal, der seine Stimme noch nicht abgegeben hat. Ich schließe hiermit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab- stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Ich bitte jetzt, die Plätze wieder einzunehmen, weil wir noch eine weitere Abstimmung durchführen werden und es sonst schwierig ist, die Mehrheitsverhältnisse mit der notwen- digen Genauigkeit festzustellen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3863. Wer für diesen Entschlie- ßungsantrag stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Tom Koenigs, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ja zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter - Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen, Raif Badawi freilassen Drucksache 18/3835 1) Anlagen 3 bis 7 2) Ergebnis Seite 7823 D ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Raif Badawi sofort freilassen - Völkerrechtswidrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffen Drucksache 18/3832 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Raif Badawi, für den im Augenblick vor der saudi-arabischen Botschaft demonstriert wird und für den viele von uns demonstriert haben, ist leider nicht der Einzige. Allein im Jahre 2014 hat der inzwischen verstorbene König zwölf Enthauptungen genehmigt, und sie sind auch durchgeführt worden. Beim neuen König sind es schon vier. Wie sie durchgeführt worden sind, haben wir im Internetvideo von ISIS gesehen. Nur die Fahne war eine andere. In Saudi-Arabien ist es die Fahne des „Bewahrers der Heiligen Stätten“, bei ISIS ist es die schwarze Fahne. In der Sache ist es dasselbe. Raif Badawi ist bekannt. Seine Strafe sind Folter und zehn Jahre Haft. Diese Folterung - 1 000 Stockhiebe bedeutet den Tod auf Raten. Das haben die Saudis gesehen; denn in Saudi-Arabien gibt es die dritthöchste Dichte an Smartphones auf der Welt. Dieser Mord auf Raten wird im Netz kommuniziert. Warum wurde er verurteilt? Er wurde verurteilt, weil er angeblich den Propheten beleidigt hat; denn er hat gesagt: Alle Menschen sind gleich viel wert: Muslime, Juden und Christen. - Das ist aber nur fast wörtlich der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Außerdem hat er sich über die Tugendwärter - Mutawa genannt - lustig gemacht, die darauf geachtet haben, dass der Valentinstag in Saudi-Arabien nicht mit Schokolade und Blumen gefeiert wird. Er hat geschrieben: Herzlichen Glückwunsch zu eurer Bereitschaft, allen Mitgliedern der saudischen Öffentlichkeit einen Platz im Paradies zu sichern. Das verbietet die „Freiheit“ in Saudi-Arabien. Ein Wort zur Pressefreiheit. „Reporter ohne Grenzen“ hat Saudi-Arabien in puncto Pressefreiheit auf Platz 174 von 180 Ländern gesetzt. Dahinter kommen dann Länder wie Nordkorea. Am 11. Januar dieses Jahres ist seine Exzellenz Dr. Nizar bin Obaid Madani, der Vizeaußenminister von Saudi-Arabien, in Paris mit vielen Staatschefs mit dem Schild „Je suis Charlie“ durch die Straßen gelaufen. Die Pressefreiheit ist nicht das einzige Menschenrecht, das in Saudi-Arabien mit Füßen getreten wird: Frauenrechte, politische Rechte, Ausbeutung von Gastarbeitern usw. Dort sind mittelalterliche Zustände; das Land wird beherrscht von einem Diktatorkönig: Der 90Jährige wurde von dem inzwischen 79-Jährigen abgelöst. Der Altersdurchschnitt im Lande liegt demgegenüber bei 30 Jahren. Wenn es in Saudi-Arabien freie Wahlen geben würde, würde ich nicht zu schätzen wagen, was dabei herauskäme. Vor fünf Jahren gab es eine Untersuchung, die das Ergebnis hatte, dass Osama Bin Laden gewählt worden wäre, populärster Sohn des Landes. Dort im Lande wird Terror produziert. ({0}) Das ist der geostrategische Stabilitätsanker des Westens. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Saudi-Arabien sind freundschaftlich und spannungsfrei. So steht es auf der Website des Außenministers. Das Handelsvolumen beträgt 11 Milliarden Euro. Deutschland pflegt wirtschaftliche Zusammenarbeit und staatliche Wirtschaftsförderung, gewährt Bürgschaften und erlaubt Waffenexporte. Gleichzeitig macht das Auswärtige Amt einen Aktionsplan zur menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen. Deutschland hofiert die königlichen Diktatoren. Zu den Trauerfeiern hat es den Exbundespräsidenten Wulff recycelt. Da wird also gerade ein „Held der Pressefreiheit“ mit einem neuen Amt versehen. Wir erinnern uns: Ruf’ den Chefredakteur an! Das ist Krieg. - Islam gehört zu Deutschland. - Und Wulff gehört zu Saudi-Arabien. ({1}) - Der Satz, über den ihr gerade gelacht habt, hätte mir in Saudi-Arabien 1 000 Peitschenhiebe eingebracht. ({2}) Jetzt steht die Reise einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation, begleitet von Ministerpräsidenten, nach Saudi-Arabien an, angeführt von Wirtschaftsminister Gabriel. Ich frage: Was wollen Sie da? ({3}) Was sagen Sie da? Für was stehen Sie da? Für wen stehen Sie da? Für mich nicht und für die Bevölkerung auch nicht. Da gibt es eine Umfrage: 78 Prozent wollen Waffenexporte nicht. Für welche Reform stehen Sie, nachdem jahrelang und jahrzehntelang nichts passiert ist? Gehen Sie, wenn Sie schon dahin fahren, zu den wenigen Demokraten! Gehen Sie zu den „Writers in Prison“! Gehen Sie zu den Menschen in die Gefängnisse! Gehen Sie zu den Bloggern! Und gehen Sie zu den wenigen oder vielen Menschen - die Sie erreichen -, die unsere Werte vertreten! Im Nahen Osten werden unsere Werte gegen die Werte von ISIS gesetzt. Da findet der ideologische Kampf statt. Und im allergrößten Notfall: Bieten Sie den Menschen Asyl an, ({4}) wenn sie sich in der Deutschen Botschaft in Riad melden! Bieten Sie auch Raif Badawi Asyl an! Sollte seine Exzellenz, die Königliche Hoheit, Ihnen, Herr Gabriel, im Nebensatz anbieten: „Ihren Raif Badawi können Sie mitnehmen“, vergessen Sie nicht, dass auch sein Anwalt im Gefängnis sitzt. ({5})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Bevor ich dem Kollegen Frank Heinrich das Wort erteile, darf ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der eben durchgeführten namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte“, Drucksachen 18/3561 und 18/3857, bekannt geben: abgegebene Stimmen 590. Mit Ja haben gestimmt 457, mit Nein haben gestimmt 79, Enthaltungen 54. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 590; davon ja: 457 nein: 79 enthalten: 54 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Peter Altmaier Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens ({0}) Veronika Bellmann Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Jutta Eckenbach Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({1}) Vizepräsident Johannes Singhammer Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich ({2}) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Reinhard Grindel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Frank Heinrich ({3}) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann ({4}) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Bettina Hornhues Charles M. Huber Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Andreas Jung Dr. Franz Josef Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Hartmut Koschyk Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Andreas Lenz Philipp Graf Lerchenfeld Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({5}) Reiner Meier Dr. Angela Merkel Jan Metzler Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller ({6}) Stefan Müller ({7}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({8}) Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht Anita Schäfer ({9}) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt ({10}) Gabriele Schmidt ({11}) Ronja Schmitt ({12}) Patrick Schnieder Nadine Schön ({13}) Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder ({14}) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster ({15}) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Erika Steinbach Johannes Steiniger Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Stephan Stracke Max Straubinger Thomas Stritzl Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel ({16}) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Albert Weiler Marcus Weinberg ({17}) Peter Weiß ({18}) Sabine Weiss ({19}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({20}) Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Matthias Bartke Bärbel Bas Uwe Beckmeyer Vizepräsident Johannes Singhammer Lothar Binding ({21}) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Martin Burkert Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Siegmund Ehrmann Michaela Engelmeier Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Elke Ferner Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann ({22}) Dirk Heidenblut Hubertus Heil ({23}) Marcus Held Gustav Herzog Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz Josip Juratovic Thomas Jurk Johannes Kahrs Christina Kampmann Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange ({24}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Hiltrud Lotze Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Dr. Matthias Miersch Susanne Mittag Bettina Müller Detlef Müller ({25}) Michelle Müntefering Dietmar Nietan Thomas Oppermann Mahmut Özdemir ({26}) Aydan Özoğuz Jeannine Pflugradt Detlev Pilger Joachim Poß Florian Post Achim Post ({27}) Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({28}) Susann Rüthrich Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer ({29}) Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt ({30}) Matthias Schmidt ({31}) Dagmar Schmidt ({32}) Carsten Schneider ({33}) Ursula Schulte Ewald Schurer Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Franz Thönnes Carsten Träger Ute Vogt Dirk Vöpel Andrea Wicklein Dirk Wiese Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Dr. Jens Zimmermann Brigitte Zypries Nein CDU/CSU Dr. Peter Gauweiler SPD Ulrike Bahr Klaus Barthel Marco Bülow Wolfgang Gunkel Gabriele Hiller-Ohm Cansel Kiziltepe Hilde Mattheis Swen Schulz ({34}) Rüdiger Veit ({35}) DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Roland Claus Dr. Diether Dehm Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Andrej Hunko Sigrid Hupach Susanna Karawanskij Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Michael Leutert Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Niema Movassat Norbert Müller ({36}) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Harald Petzold ({37}) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann ({38}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Annalena Baerbock Sylvia Kotting-Uhl Monika Lazar Irene Mihalic Corinna Rüffer Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Petra Hinz ({39}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Volker Beck ({40}) Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Vizepräsident Johannes Singhammer Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Oliver Krischer Stephan Kühn ({41}) Christian Kühn ({42}) Renate Künast Markus Kurth Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({43}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Wir fahren jetzt in der Beratung dieses Tagesordnungspunktes fort. Ich darf dem Kollegen Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen. ({44})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vielleicht auch besonders: Geschätzte Vertreter von Menschenrechtsorganisationen! Bevor ich zum Thema komme, möchte ich zunächst den Bürgerinnen und Bürgern von Saudi-Arabien zum Tod des Königs Abdullah am 23. Januar kondolieren und zum Zweiten auch Glückwünsche an den neuen König Salman aussprechen. Dies ist unter anderem auch deswegen ein guter Zeitpunkt, darüber zu diskutieren. Denn am Anfang einer Regierungszeit lassen sich Zeichen setzen, sowohl von ihm - das wird heute angesprochen; Herr Koenigs, Sie haben das sehr deutlich gemacht - als auch von uns, von außen. König Abdullah sah die Förderung der Menschenrechte als wichtigen Teil seiner Reformpolitik, vor allem in den Bereichen Bildung, Justiz und Frauenrechte. So kündigte er im September 2011 die Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts bei den Kommunalwahlen 2015, also in diesem Jahr, an. Wir wünschen bzw. fordern - ich denke, darin sind wir alle uns einig von Saudi-Arabien unter dem neuen König, diese angekündigten Reformen umzusetzen und weiterzuführen, Menschenrechte ernst zu nehmen und zu garantieren. Um ein positives Beispiel zu setzen, fordern wir die Freilassung von Raif Badawi. Das ist auch Anlass der Anträge vom Bündnis 90/Die Grünen und von den Linken und der heutigen Debatte. Im Juni 2012 wurde - das wurde bereits gesagt - der Blogger und Internetaktivist Raif Badawi wegen Beleidigung des Islam verhaftet. Im November letzten Jahres wurde er zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe, einer Geldstrafe und zu den schon angesprochenen 1 000 Stock- und Peitschenhieben verurteilt. Nachdem die erste Einheit von 50 Peitschenhieben am 9. Januar 2015 öffentlich vollstreckt wurde, ist die weitere Vollstreckung aufgrund von nicht verheilenden Wunden - und aufgrund der internationalen Proteste, wie die Ehefrau Badawis gegenüber einer deutschen Zeitung bestätigt hat - zumindest momentan ausgesetzt. Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte - das fand ich bemerkenswert, und dafür bin ich ihm sehr dankbar - in seiner Rede in diesem Hause vor 14 Tagen nach den Attentaten von Paris und den Reaktionen darauf, wem unter den Muslimen über rhetorische Floskeln hinaus tatsächlich an Aufklärung gelegen sei, müsse sich als Muslim mit der Frage auseinandersetzen, warum noch immer im Namen Allahs Menschen verfolgt, drangsaliert und getötet werden. Auch mit staatlicher Autorität werde im Namen Gottes gegen Mindeststandards der Menschlichkeit verstoßen. Saudi-Arabien habe das Attentat in Paris „als feigen Terrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“, und zwei Tage später den Blogger Raif Badawi in Dschidda öffentlich auspeitschen lassen. Menschenrechtsverletzungen sind in Saudi-Arabien an der Tagesordnung. Wir haben es gerade gehört: Das ist kein Einzelfall. Die Behörden schränkten die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit durch entsprechende Gesetze 2012 empfindlich ein. Andersdenkende wurden rücksichtslos unterdrückt. Regierungskritiker und politische Aktivisten befanden sich ohne Anklageerhebung in Haft oder wurden äußerst unfairen Verfahren ausgesetzt und dann verurteilt. Sie werden im Alltag - auch durch Gesetze diskriminiert. Die Todesstrafe wurde 2013 mindestens - soweit es draußen bekannt wurde - 79-mal vollstreckt, Körperstrafen wie Auspeitschen oder Stockhiebe wie im Fall Badawis werden regelmäßig vollzogen. Dissidenten werden inhaftiert und Geständnisse erzwungen. Frauen werden wesentliche Menschenrechte vorenthalten, minderjährige Mädchen zwangsverheiratet. Freie Meinungsäußerung ist nur teilweise möglich, die öffentliche Religionsausübung für nichtmuslimische Religionen verboten. Das heißt, es ist lebensgefährlich, mit dem Heiligen Buch der Christen in der Stadt herumzulaufen. Die schiitische Minderheit im Osten des Landes wird diskriminiert. Ausländische Arbeitnehmer können ihre Rechte häufig nicht durchsetzen usw. Ich könnte diese Reihe noch fortsetzen. Auf der anderen Seite ist Saudi-Arabien - Sie haben das sehr lautstark kritisiert, Herr Kollege Koenigs - ein wichtiger Partner Deutschlands. Wie wichtig, darüber müssen wir natürlich reden. Saudi-Arabien ist ein Wirtschaftspartner nicht nur bei Rüstungsgütern. Nach den USA und China ist die BRD drittgrößtes Lieferland. Es handelt sich dabei um verschiedene Wirtschaftsfelder wie Maschinenbau und Eisenbahnen. 2013 belief sich Frank Heinrich ({0}) das bilaterale Handelsvolumen auf rund 11 Milliarden Euro. Hinzu kommen internationale Zusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit mit Saudi-Arabien. Seit 1980 ist die GIZ - damals hieß sie noch GTZ - in Saudi-Arabien tätig. Berufliche Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, biologische Landwirtschaft, Wasserwirtschaft und Lebensmittelsicherheit sind nur ein paar Stichworte, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind. Eine wichtige Säule in der Entwicklungszusammenarbeit mit Saudi-Arabien sind Dreieckskooperationen, in denen die GIZ saudische Entwicklungsprojekte in Drittländern als Durchführungsorganisation abwickelt. So führt die GIZ im Auftrag des Saudi Fund for Development ein Brunnenbauprogramm in zwölf Ländern Afrikas bereits in der vierten Phase durch. Außenminister Steinmeier hat das wahhabitische Königreich als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ bezeichnet. Gerade von einem solchen Partner - deshalb habe ich das so ausführlich dargelegt - muss Deutschland, müssen wir die Achtung der Menschenrechte fordern. Wenn Saudi-Arabien einen exponierten Platz in der Weltgemeinschaft einnehmen will - das will dieses Land, und einen solche Platz soll es auch haben -, dann muss es die Menschenrechte, die die Grundlage bilden, auf der wir stehen, achten, respektieren und durchsetzen. ({1}) Daher begrüße ich die Stellungnahme der Bundesregierung. Der Außenminister hat die Prügelstrafe für den saudischen Blogger verurteilt und gesagt, dass die Regierung alles tun werde, um eine Lösung zu finden. Die Auspeitschung des 30-Jährigen sei grausam, falsch, ungerecht und völlig unverhältnismäßig. Die Bundesregierung werde hier weiterhin alles tun, was möglich sei, um eine Lösung zu befördern. Unabhängig vom Fall des Bloggers spiele das Thema Menschenrechte in allen Gesprächen mit den Verantwortlichen in Riad - es sind viele Gespräche, da es um viel Geld und viele Projekte geht - eine wichtige Rolle. Das versicherte Steinmeier. Heute in der Zeit sagt Ensaf Haidar, die Ehefrau des Bloggers Raif Badawi, über den wir heute reden: Deutschland könnte seinen Einfluss aber weiter geltend machen und „seine Stärke für meinen Mann und die Menschenrechte einsetzen“ … Diesen Auftrag nehmen wir gerne an. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin Inge Höger. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den Solidaritätskundgebungen nach den Attentaten in Paris war die saudische Regierung mit einem Vertreter präsent; das wurde schon erwähnt. Nur zwei Tage nach diesen Bluttaten ließ die saudische Justiz den ersten Teil der Prügelstrafe gegen den kritischen Blogger Raif Badawi vollziehen. So viel Heuchelei und Doppelmoral ist kaum zu überbieten, außer vielleicht von den westlichen Staaten, für die Saudi-Arabien ein wichtiger Verbündeter ist und die dieses Land mit allem ausstatten, was für den Machterhalt nötig ist. Um es klar zu sagen: 1 000 Peitschenhiebe sind nichts anderes als Folter und wahrscheinlich die Todesstrafe auf Raten. Diese barbarische Praxis muss ein Ende haben. ({0}) Das gilt für Raif Badawi, aber auch für alle anderen, die in Saudi-Arabien zu unmenschlichen Strafen verurteilt werden. Wenn die Bundesregierung Menschenrechte in der Außenpolitik tatsächlich ernst nehmen will und wenn sie Raif Badawi beispielhaft helfen will, dann gibt es hierfür eine Reihe von ganz konkreten Schritten, die möglich und nötig wären. Sowohl der Antrag der Grünen als auch unserer nennen dafür Beispiele. Es fängt an bei Botschafterbesuchen im Gefängnis, geht über die Entsendung einer hochrangigen Delegation bis hin zur Ermöglichung von Asyl in Deutschland. Ich fordere die Bundesregierung auf, hier tätig zu werden. ({1}) Allerdings darf neben dem Entsetzen über das Schicksal dieses Bloggers nicht vergessen werden, dass das kein Einzelfall ist. Das saudische Justizsystem operiert generell weit jenseits rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards. Allein im letzten Jahr wurden 87 Menschen in Saudi-Arabien hingerichtet. Es ist kaum möglich, einen angemessenen Rechtsbeistand im Verfahren zu bekommen. Anwälte geraten meist selbst ins Visier der Justiz. Auch der Anwalt von Raif Badawi wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch er braucht unsere Hilfe. ({2}) Solange das Justizsystem in Saudi-Arabien nicht grundlegend geändert wird, ist es nicht akzeptabel, das saudische Unterdrückungssystem auch noch durch den Verkauf deutscher Überwachungstechnik und die Entsendung deutscher Soldaten und Polizisten zu stabilisieren. Die Gewerkschaft der Polizei hat sich sehr deutlich zu Wort gemeldet. Sie hat dagegen protestiert, dass deutsche Polizei in einer undurchsichtigen - Zitat - „Gemengelange politischer und wirtschaftlicher Interessen“ eingesetzt wird. Diesem Protest kann ich mich nur anschließen. ({3}) Die Sicherheitskooperation mit Saudi-Arabien muss umgehend gestoppt werden. Das gilt für die polizeiliche, die geheimdienstliche und die militärische Zusammenarbeit. ({4}) Ich freue mich, wenn das, was in den Medien zu lesen war, tatsächlich stimmt, nämlich dass in der jüngsten Sitzung des Bundessicherheitsrates beschlossen worden ist, keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien zu liefern. Es wäre ein wichtiger Schritt, zukünftig auf die Lieferung von Waffen nach Saudi-Arabien zu verzichten. Die „Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel“ kommentierte diese Berichte über einen möglichen Kurswechsel wie folgt: Wer dem Frieden dienen und Menschenrechte achten will, darf keine Rüstungsgüter und insbesondere keine Kleinwaffen von Heckler & Koch mehr an Diktatoren und kriegsführende Staaten liefern. ({5}) Allerdings verweigerte die Bundesregierung gestern in der Fragestunde Antworten zu der weiteren Praxis von Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien. Deshalb bleibt zu befürchten, dass es hier nicht zu einer wirklichen Kursänderung gekommen ist. Ich befürchte, dass nur gewartet wird, bis das öffentliche Interesse etwas erlahmt, um dann wieder ungebremst Rüstungsgeschäfte mit Saudi-Arabien machen zu können. Waffenlieferungen bringen jedoch weder Stabilität noch Frieden, nicht im Innern eines Landes und auch nicht nach außen. Beenden Sie die Waffenlieferungen - vollständig und dauerhaft. ({6}) Lassen Sie mich abschließend noch auf ein anderes großes und sehr grundsätzliches Problem hinweisen. Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz in der UNMenschenrechtskommission. Der Kampf für Menschenrechte ist jedoch nur dann glaubwürdig, wenn er auch Selbstkritik beinhaltet, wenn auch im eigenen Land die Menschenrechte beachtet werden und dafür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. Genau hier droht Deutschland eine gigantische Blamage. Wenn das Deutsche Institut für Menschenrechte nicht bis März eine gesetzliche Grundlage erhält, die seine Unabhängigkeit sichert, dann wird Deutschland vom UN-Akkreditierungsausschuss der sogenannte A-Status aberkannt. Dadurch würde Deutschland wichtige Einflusskanäle verlieren. Es würde aber vor allem dem globalen Kampf für Menschenrechte massiv schaden, wenn hier offensichtlich Angst davor herrscht, auch die Menschenrechte im eigenen Land kritisch untersuchen zu lassen. ({7}) Lassen Sie uns deswegen gemeinsam für eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik eintreten. Wir kämpfen für die Rechte von Bloggern wie Raif Badawi und genauso für die Menschenrechte in allen Regionen der Welt. Wir dürfen darüber aber nie die Hausaufgaben im eigenen Land, die Beachtung der Menschenrechte, vernachlässigen. Lassen Sie uns die Menschenrechte immer und überall verteidigen! ({8})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ute FinckhKrämer für die SPD. ({0})

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Saudi-Arabien ist eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen. Es war also schon Mitglied der Vereinten Nationen, als 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Grundsatzdokument der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Saudi-Arabien hat sich damals bei der Abstimmung enthalten, und zwar nicht wegen der Menschenrechte, um die es im Augenblick im Fall von Raif Badawi, seinem Anwalt und vielen anderen geht - also wegen des Verbots grausamer Strafen oder der Einschränkung der Meinungsfreiheit -, sondern aus zwei anderen Gründen: Saudi-Arabien hatte Bedenken wegen der in dieser Erklärung enthaltenen Religionsfreiheit und wegen der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Bezug auf die Ehe. Das heißt, in Saudi-Arabien hat sich etwas verschlimmert seit 1948. Den Zivilpakt, in dem zentrale Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Hinblick auf persönliche Freiheitsrechte in einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag gegossen sind, hat Saudi-Arabien bis heute weder ratifiziert noch in anderer Weise völkerrechtlich verbindlich anerkannt. Dies ist ein echter Ausnahmetatbestand; denn von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben immerhin 168 den Zivilpakt unterzeichnet und ratifiziert. Frau Höger, in einem Punkt bin ich mit Ihnen einer Meinung. Ich hoffe sehr, dass sich die Presseinformationen, die wir in den letzten Tagen lesen konnten, nämlich dass Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien bis auf Weiteres gestoppt sind, als wahr erweisen. ({0}) Was wir nachweisen können, ist, dass im ersten Halbjahr 2014 wesentlich weniger Waffen nach Saudi-Arabien exportiert wurden als in den Jahren davor. Insofern hoffe ich, dass wir dort den Anfang eines Trends sehen, der in die Richtung weitergeht, die Sie skizziert haben. Es wurde bereits erwähnt, dass wir es in Bezug auf Saudi-Arabien nicht mit Einzelfällen zu tun haben, sondern mit einer ganzen Serie von Verurteilungen von Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen haben. Wir haben auch schon gehört, wie jung die Bevölkerung im Schnitt ist.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben gerade gesagt, es sei deutlich, dass bereits 2014 weniger Waffen an Saudi-Arabien geliefert worden sind als in den Jahren zuvor. Nun liegt uns der Rüstungsexportbericht für 2014 noch gar nicht vor. Alles, was wir haben, sind einzelne Erklärungen über erteilte Genehmigungen im Bundessicherheitsrat, die aber keinesfalls vollständig sind. Die ministeriellen Genehmigungen sind nicht enthalten. Was das BAFA genehmigt hat, wissen wir nicht. Deswegen frage ich Sie: Woher haben Sie diese Informationen? ({0})

Dr. Ute Finckh-Krämer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004273, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe über das erste Halbjahr 2014 gesprochen, und dafür liegt ein Zwischenbericht vor. ({0}) Ich komme zurück auf das Rechtssystem von SaudiArabien. Seit 2011 nehmen dort Zensur, Einschüchterungsmaßnahmen, Festnahmen wegen politischer Meinungsäußerungen zu, und das in einem Land, wo ein Großteil der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist. Das heißt, dass ein Großteil der Bevölkerung dort wie in anderen Ländern auch, etwa in unserem Land, das Internet nutzt. Zum Teil wird gebloggt; zum Teil gibt es Einträge bei Facebook usw. Ich habe mich zwischendurch gefragt, wie viele von uns angesichts der drakonischen Strafen, die dort aufgrund bestimmter Meinungsäußerungen verhängt werden, den Mut hätten, ihre Meinung so frei zu äußern, wie es Raif Badawi getan hat. Ein Punkt noch, der vielleicht für die weitere Diskussion wichtig ist: Die drakonischen Strafen, die Unrechtstatbestände in Saudi-Arabien, die uns im Augenblick zu Recht so empören, sind größtenteils Vorgänge, die in der Vergangenheit auch in Deutschland üblich waren. Das geht bis hin dazu, dass in Saudi-Arabien bis heute Menschen wegen Hexerei verurteilt werden - etwas, was in Deutschland zum letzten Mal im 18. Jahrhundert vorgekommen ist. Die Hoffnung, die wir haben - Herr Heinrich hatte erwähnt, dass es an manchen Stellen ganz winzige Fortschritte gibt -, ist, dass Saudi-Arabien genauso, wie das Deutschland und viele andere Länder der Welt in den letzten Jahrzehnten, zum Teil sogar Jahrhunderten getan haben, auch erkennt, dass bestimmte Strafen, dass bestimmte Rechtssysteme nicht menschenwürdig sind und nicht aufrechterhalten werden sollten, dass Saudi-Arabien auf diesem Weg weitergeht und sich in die gleiche Richtung entwickelt wie fast alle Länder der Welt, die den Zivilpakt und den Sozialpakt unterschrieben und damit in ihren Ländern die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen rechtsverbindlich gemacht haben. Danke schön. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Schicksal von Raif Badawi bewegt die Welt. Seine Verurteilung und Bestrafung lösen Wut und Empörung aus. Ihm gehören unsere Solidarität und Unterstützung. Seine Geschichte ist aufrüttelnd, weil sie aufzeigt, wie zerbrechlich die Freiheit sein kann und wie mutig und verzweifelt Menschen wie Raif Badawi in so vielen Teilen der Welt für ihr Recht kämpfen, ihre Meinung frei äußern zu dürfen. Raif Badawi ist ein mutiger Mann mit einer klaren Haltung und starken Werten. Er gründete das Forum „Freie Saudische Liberale“, um eine, wie ich meine, sehr notwendige und richtige Debatte über das Verhältnis zwischen Religion und Staat in Saudi-Arabien zu führen. Sein angebliches Vergehen bestand in der Forderung nach der Gleichwertigkeit von Christen, Juden, Moslems und Atheisten. Dafür wurde er bestraft. Damit ist in aller Deutlichkeit zu sagen: SaudiArabien pervertiert eine unumstößliche Wahrheit zum Verbrechen. Es gibt keine Gründe, die die Strafe für Badawi erklären oder rechtfertigen könnten. Sie ist als das zu bezeichnen, was sie ist: grausame Folter. ({0}) Jeder der 50 bereits verabreichten Peitschenhiebe ist auch ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die sich für die Freiheit und die Würde des Menschen einsetzen. Unverständlich und zynisch ist in diesem Zusammenhang, dass der Vertreter Saudi-Arabiens in Paris für Meinungsfreiheit demonstriert, während in der gleichen Woche Raif Badawi ausgepeitscht wird. Der Protest gegen diesen Akt der Barbarei ist aber in Teilen erfolgreich. Ohne den Protest wären vermutlich weitere Auspeitschungen vollstreckt worden. Damit geht der Dank auch an die Bundesregierung und unseren Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der den deutlichen Protest und die klare Haltung Deutschlands zum Ausdruck gebracht hat. Das ist ein gutes und entscheidendes Zeichen. ({1}) Wichtig ist aber auch: Für Raif Badawi und für den ebenfalls verurteilten Rechtsanwalt Walid Abu al-Chair kann es nur einen Weg geben: den Weg der sofortigen Begnadigung und Freilassung. ({2}) Raif Badawi und Walid Abu al-Chair sind aber nur zwei aufrüttelnde Beispiele für die insgesamt erschüt7830 ternde Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien. Menschen werden auf offener Straße geköpft, Gliedmaßen werden amputiert, Frauen unterdrückt, Homosexuelle verfolgt, und die Äußerung von kritischen Gedanken wird hart bestraft. Das ist unter keinen Umständen hinnehmbar. Wirtschaftlich nimmt Saudi-Arabien am freien Welthandel teil und profitiert mit seinem Wohlstand von den grundlegenden Ideen der Freiheitsrechte, ohne sie selbst in entsprechender Art und Weise im eigenen Land zu garantieren. Hinter den hellen Glitzerfassaden von Riad und Dschidda verbirgt sich auch der Schatten einer unfreien und unterdrückten Gesellschaft. Saudi-Arabien hat die Pflicht, diesen Widerspruch aufzulösen und den Weg zur Geltung der Menschenrechte zu beschreiten. Das ist eindeutig zu formulieren; auch unsere Außenpolitik muss sich daran messen lassen, wie wir dieses Ziel einfordern. Die universelle Geltung der Menschenrechte kann niemals einem religiösen Gesetz untergeordnet werden. Vielmehr kann die Geltung von religiösen Geboten nur so weit reichen, wie diese mit den Menschenrechten und der Würde des Menschen in Einklang zu bringen sind. Nicht die Menschenrechte sind an den Vorgaben der Scharia zu messen, wie es noch in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte heißt, sondern die Scharia kann und darf nur im Rahmen der Menschenrechte interpretiert und gelebt werden. ({3}) Diese Erkenntnis wird zum Inhalt eines großen und langen Reformprozesses in Saudi-Arabien werden müssen. Wir fordern dabei nicht etwas, was uns nicht zusteht; wir mischen uns nicht unzulässigerweise in innere Angelegenheiten eines Staates ein. Die Geltung von Menschenrechten ist keine innere Angelegenheit eines Staates. ({4}) Sie entfalten ihre Wirkung nicht, weil sie staatlicherseits zugestanden werden oder zum kulturellen Zusammenhang passen. Menschenrechte gelten für alle Menschen, ({5}) gleich welcher Herkunft, Religion oder sozialen Stellung, weil wir Menschen sind - unbedingt und überall. ({6}) Johannes Rau hat es so formuliert - ich zitiere -: Kritik am Stand der Menschenrechte in anderen Staaten ist daher keine Einmischung in deren innere Angelegenheiten. Sie verletzt ihre Souveränität nicht. … Man darf das Eintreten für Menschenrechte nicht dahin gehend missverstehen, dass es sich um ein spezifisch „westliches“ Anliegen handele, mit dem „westliches“ Gedankengut der übrigen Welt aufgedrängt werden soll. Saudi-Arabien wird daher keinen anderen Weg beschreiten können als den Weg des Umdenkens. Das Ziel für Saudi-Arabien entspricht der Idee von Raif Badawi selbst. Seine Ehefrau Ensaf Haidar hat es in der heutigen Ausgabe der Zeit so formuliert: Seine Vision ist eine liberale Gesellschaft, die auf einem friedlichen Zusammenleben aller Mitglieder fußt. Bevor Raif Badawi verhaftet wurde, hat er auf seinem Blog Albert Camus mit seinem berühmten Ausspruch zur Freiheit bemüht: Die einzige Möglichkeit, mit einer unfreien Welt umzugehen, ist, so absolut frei zu werden, dass die eigene bloße Existenz ein Akt der Rebellion ist. Meine Damen und Herren, wir brauchen auf der Welt eine Rebellion im Sinne eines mutigen Eintretens für die Freiheit und die Würde des Menschen, für Blogger und für freie Meinungsäußerungen. Der Erfolg wird am Ende sicher sein, weil keine Gewalt, keine Unterdrückung und kein Terror den Menschen das Recht nehmen werden, ihre Meinung frei zu äußern. ({7})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Achim Post, SPD. ({0})

Achim Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004378, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will einmal versuchen, die Debatte, die wir hier gerade führen, mit einem anderen wichtigen Ereignis zusammenzubringen, nämlich dem Besuch von Präsident Obama vor zwei Tagen in Riad. Worüber haben wir hier geredet? Wir haben darüber geredet, dass es in Saudi-Arabien massive Menschenrechtsverletzungen gibt. Da ist auch kein Ende abzusehen. Wir haben darüber geredet, dass es dort barbarische Strafen gibt, und wir haben darüber geredet, welche Auswirkungen das auf Deutschland haben könnte und haben sollte. Ich finde, diese gute und kritische Debatte ist notwendig. ({0}) Worüber hat Präsident Obama in Riad mit dem neuen König geredet? Auch über Menschenrechte, über ISIS, Syrien, Iran, die Lage im Nahen Osten und natürlich über den Ölpreis. Zu den Menschenrechten. Ich kann nur hoffen, dass Präsident Obama in seinen Äußerungen genauso klar war wie unser Außenminister, der zu der Verurteilung des Bloggers gesagt hat, sie sei grausam, falsch und unAchim Post ({1}) gerecht. Wenn ich mich in Europa umschaue, dann sehe ich nur wenige Parlamente und nur wenige Regierungen in anderen EU-Ländern, die die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien klarer und deutlicher kritisieren, als wir es tun. Das wir das tun, ist gut so. Zu ISIS. Dies ist ein Problem, über das wir lange und intensiv geredet haben. Man muss sagen, dass SaudiArabien eine der wichtigsten Nationen im Kampf gegen ISIS ist und einen großen Beitrag dazu leistet. SaudiArabien beteiligt sich an Bombardierungen und hat eine wichtige Konferenz der Golfstaaten gegen ISIS ausgerichtet. Saudi-Arabien hilft nicht nur mit Taten, sondern geht auch ideologisch gegen ISIS vor. Der verstorbene König hat klipp und klar gesagt: Die größte Gefahr für den Islam ist ISIS. ISIS sei geradezu eine Pervertierung des Islam. Das erwähne ich nicht - verstehen Sie mich nicht falsch -, um anzudeuten, dass das, was die Saudis machen, auf der Grundlage einer werteorientierten Außenpolitik und auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten passiert. Das hat damit nichts zu tun; da gibt es ganz andere Interessen, wie Sie alle wissen. Viele Beispiele zeigen, welche Interessen Saudi-Arabien mit seinen außenpolitischen Beziehungen verfolgt. Was den Arabischen Frühling angeht, so kann man sagen, dass Saudi-Arabien von Anfang an jede Demokratisierungsbewegung in der Region bekämpft hat. Saudi-Arabien hat die Militärs in Ägypten vorbehaltlos unterstützt. Ich könnte noch weitere Beispiele anführen. Über andere Interessen dieser großen Mittelmacht in der Region sollten wir hingegen reden. Syrien: Oberste Priorität für Saudi-Arabien hat der Kampf gegen Assad. Wenn ich das richtig sehe, bekämpfen auch wir ihn. ({2}) Flüchtlingshilfe: Saudi-Arabien ist einer der größten Geldgeber, wenn es um Hilfe für Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien geht. Nahostkonflikt: Saudi-Arabien ist eindeutig für die Zweistaatenlösung und hilft im Gazastreifen. Das alles sind Punkte, über die wir - bei aller massiven Kritik - mit Saudi-Arabien weiter im Gespräch bleiben sollten. Zusammengefasst sind für mich drei Punkte ganz klar: Erstens. Wir müssen mit unserer Kritik an der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien so weitermachen wie bisher, nämlich klar, eindeutig, umfassend und nachhaltig. ({3}) Zweitens. Wir dürfen Dialoge und die entsprechenden Strukturen nicht abbauen, sondern müssen sie - im Gegenteil - erweitern, und zwar nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch und gerade auf der Ebene der Zivilgesellschaft. Drittens. Unsere Haltung und unser Handeln werden in Saudi-Arabien wahrgenommen, nicht nur in der Führung, sondern auch im Volk. Deshalb ist die Debatte hier im Deutschen Bundestag so wichtig. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den beiden antragstellenden Fraktionen, den Linken und den Grünen, dafür, dass sie es ermöglicht haben, dass wir diese Debatte heute so führen konnten, wie wir das getan haben. Schönen Dank. ({4})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/ 3835 und den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3832. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke wünschen jeweils Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen jeweils Überweisung zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenreche und humanitäre Hilfe und mitberatend an den Auswärtigen Ausschuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie sowie an den Verteidigungsausschuss. Nach ständiger Übung stimmen wir zunächst über die Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Wer für die beantragten Überweisungen stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind die Überweisungen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen so beschlossen. Deshalb stimmen wir heute über die Anträge auf den Drucksachen 18/3835 und 18/3832 nicht in der Sache ab. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({1}) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksachen 18/3698, 18/3859 - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3860 Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Da sich kein Widerspruch erhebt, ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Niels Annen, SPD, das Wort. ({3})

Niels Annen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag befasst sich heute zum dritten Mal mit der Verlängerung des Mandats Active Fence, in dem es um einen Beitrag der NATO zur integrierten Luftverteidigung in der Türkei geht. Vor dem Hintergrund der dramatischen Lage in Syrien ist die NATO der Bitte ihres Bündnispartners Türkei nachgekommen, eine Lücke in der türkischen Luftverteidigung zu schließen. Es geht hier also um die Solidarität im Bündnis. Es geht aber auch um die Sicherheit der Türkei. Die Stationierung der Patriot-Raketen dient dabei weder der Bekämpfung des Assad-Regimes noch der Vorbereitung oder Durchsetzung einer Flugverbotszone. Die Kommandogewalt - darüber werden wir Sie in dieser Debatte vermutlich wieder reden hören - liegt bei der NATO und nicht bei der Türkei. Es geht also nicht um eine militärische Einmischung in den Bürgerkrieg, sondern um den Schutz für einen Bündnispartner, einen Schutz - das darf man an dieser Stelle erwähnen -, der übrigens auch den vielen Flüchtlingen dient, die wegen der mörderischen Kriegsauseinandersetzung in der syrischen Republik in die Türkei geflohen sind. ({0}) Die Zahl der Flüchtlinge, die von Syrien in die Türkei geflohen sind, beläuft sich mittlerweile auf über 1,5 Millionen Menschen. Die Türkei leistet hier Außergewöhnliches. Die Hilfsbereitschaft und die Großzügigkeit der türkischen Regierung, der türkischen Zivilgesellschaft und der türkischen Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen verdienen unsere Anerkennung. ({1}) Die Solidarität mit der Türkei innerhalb des NATOBündnisses bedeutet jedoch nicht - auch das will ich sagen -, dass wir uns mit allen Aspekten der türkischen Syrien-Politik identifizieren. Es gibt gute Gründe, die Politik der türkischen Regierung kritisch zu betrachten. Es gibt leider zahlreiche Hinweise, Vorfälle und Zeugenaussagen, die besagen, dass die türkischen Behörden ein ziemlich nachlässiges, wenn nicht gar zum Teil auch wohlwollendes Verhalten gegenüber ausländischen Kämpfern an den Tag legen. Offenbar gelingt es ausländischen Kämpfern weiterhin, aus Europa nach Syrien einzureisen. Offensichtlich ist auch der umgekehrte Weg relativ problemlos möglich. Deswegen sei an dieser Stelle daran erinnert, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 24. September des vergangenen Jahres eine Resolution - die Foreign-Fighter-Resolution - verabschiedet hat, in der er bekräftigt - ich will daraus zitieren -: „… dass alle Staaten gehalten sind, Bewegungen von Terroristen oder terroristischen Gruppen zu verhindern, indem sie wirksame Grenzkontrollen durchführen …“. Wir erwarten von der Türkei die komplette Umsetzung dieser Resolution. ({2}) So wie sich die Lage in Syrien derzeit darstellt - das muss man ganz nüchtern feststellen -, werden wir uns vermutlich auf einen langjährigen Konflikt mit weiteren unschuldigen Opfern einstellen müssen; denn bisher spricht nichts dafür, dass irgendjemand von dem Ziel abgerückt ist, diesen Krieg mit militärischen Mitteln für sich zu entscheiden. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass das gelingen kann, ausgesprochen gering. Außenminister Steinmeier hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht nur einen Anlauf für eine politische Lösung benötigen, sondern wir brauchen gerade jetzt neue Ideen und neue Ansätze. Wir müssen denjenigen ausdauernde politische Unterstützung zukommen lassen, die sich darum kümmern. Wir wissen, dass Russland seit einigen Monaten versucht, mit der syrischen Opposition ins Gespräch zu kommen. Das ist erst einmal positiv. Die Verhandlungen verlaufen allerdings schleppend. Über die genauen Vorschläge wissen wir relativ wenig. Ein wenig mehr Transparenz, Kooperation und Kommunikation an dieser Stelle wären daher wünschenswert. ({3}) Der neuernannte Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Staffan de Mistura, versucht - auch das wissen wir - etwas über eine neue Strategie zu erreichen. Er nennt das „incremental local freezes“, also ein lokales Einfrieren des Konfliktes. Sie wissen vielleicht, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dass es die Versuche gibt, in der Stadt Aleppo einen lokalen Waffenstillstand auszuhandeln. Das ist in gewisser Weise das Eingeständnis, dass mit den Genfer Verhandlungen nicht der große Wurf gelungen ist. Vielleicht ist das jetzt der richtige Ansatz. Ich bin jedenfalls froh darüber, dass diese Bundesregierung die Bemühungen von Herrn de Mistura nachhaltig unterstützt; dieses Parlament sollte das auch tun. ({4}) Staffan de Mistura hat den VN-Sicherheitsrat unterrichtet und entsprechende Empfehlungen vorgetragen, wie die Wiederaufnahme eines politischen Prozesses funktionieren könnte. Ich glaube, dass er recht hat, wenn er sagt - ich zitiere ihn -: Wir haben den Eindruck, dass niemand diesen Krieg gewinnen kann … Die einzigen, die derzeit den Krieg verlieren, sind die Syrer. ({5}) Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Türkei in einer ausgesprochen schwierigen strategischen und auch geografischen Situation befindet. In der heutigen Debatte ist auf die Befreiung von Kobane hingewiesen worden. Auch wir in der SPD-Fraktion freuen uns darüber. Es hat zum ersten Mal Kooperationen vonseiten der türkischen Regierung gegeben, Kämpfern aus den kurdischen Gebieten die Möglichkeit zu geben, sich am Kampf in Kobane zu beteiligen. Jeder, der sich mit der Politik in der Türkei beschäftigt, weiß, dass das innenNiels Annen politisch hochbrisant und kompliziert ist, weil es einen ungelösten Konflikt mit der PKK und den Kurden gibt. Lassen Sie mich zum Abschluss darauf hinweisen: Die Türkei ist und bleibt der zentrale Akteur in der Region. Ja, wir haben Kritik am Verhalten der türkischen Regierung, aber wir brauchen die Türkei zur Lösung des Syrien-Konfliktes. Deswegen brauchen wir die Bereitschaft zur Solidarität mit der Türkei. ({6}) Deswegen stimmen wir heute dem Antrag der Bundesregierung zu. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin Katrin Kunert. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz der Patriot-Abwehrraketen in der Türkei soll um ein weiteres Jahr verlängert werden. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler soll dieser Einsatz weitere 20,5 Millionen Euro kosten. Ich will hier noch einmal festhalten, wie es zu diesem Einsatz gekommen ist. Der Krieg in Syrien stellte nach Angaben der türkischen Regierung eine Gefahr für die territoriale Unversehrtheit des Landes dar. Einschläge fehlgeleiteter Granaten wurden als Grund genannt, die NATO um Beistand zu bitten. Allerdings räumte die Türkei selbst ein, dass die Granaten nicht gezielt auf ihr Territorium abgefeuert wurden. Es gab also Anfang 2013 keine Bedrohungssituation, die den Bündnisfall - auch nach Ihrer Logik - gerechtfertigt hätte. Heute, im Januar 2015, schätzt die Bundesregierung die Bedrohungslage als niedrig ein; sie konstruiert aber Gefahren wie einen Angriff mit eventuell noch vorhandenen Chemiewaffen oder ballistischen Raketen. Was die Bundesregierung in der Öffentlichkeit allerdings nicht sagt, ist, dass diese Patriot-Abwehrraketen bei Chemiewaffen völlig wirkungslos sind. Deshalb sagen wir: Ihre Raketen haben bisher keine Entspannung und keinen Frieden gebracht. Im Gegenteil: Sie riskieren, dass Deutschland in diesen Konflikt hineingezogen wird, und das lehnt die Linke ab. ({0}) Die Türkei wurde und wird von Syrien nicht bedroht. Syriens Präsident Assad hat doch ganz andere Probleme, als die Türkei anzugreifen und sich dann auch noch die NATO zum Gegner zu machen. Das muss doch auch Ihnen klar sein. ({1}) Die türkische Armee ist die zweitgrößte in der NATO. Und diese Armee soll nicht in der Lage sein, die eigenen Grenzen zu sichern? Die Türkei ist nach wie vor Teil des Konflikts. Sie unterstützt islamistische Gotteskrieger und ermöglicht den Waffennachschub für den Krieg in Syrien. Schlimmer noch, nach türkischen Medienberichten wollte der Militärgeheimdienst 2014 sogar eigene Waffen an islamistische Terrorgruppen in Syrien liefern. Und dafür wollen Sie der Türkei auch noch Rückendeckung geben? Für den Krieg ist die Grenze zu Syrien geöffnet, für humanitäre Hilfe und für den Wiederaufbau bleibt sie geschlossen. Die Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung sind systematisch abgeriegelt, und das sagt aus unserer Sicht wirklich alles. ({2}) Die kurdischen Verteidiger von Kobane haben jetzt nach mehreren Monaten die Stadt vom „Islamischen Staat“ befreit. Hierfür gab es kaum Unterstützung von der Türkei. Im Gegenteil: Die Versuche demokratischer Selbstverwaltung sind der Regierung in Ankara ein Dorn im Auge. Sie möchte dieses demokratische Experiment am liebsten ersticken. Es ermutigt die Kurden und andere Minderheiten im eigenen Land dazu, mehr Demokratie zu fordern - und das ist dringend notwendig. ({3}) Wir halten es für völlig falsch, dass die Bundeswehr auch wegen einer angeblichen innerpolitischen Bedrohungssituation in der Türkei bleiben soll, wie Ihr Kollege Mißfelder es in der ersten Lesung hier im Haus gesagt hat. Ich bitte Sie: Beenden Sie dieses Mandat, und ziehen Sie die Raketen zurück! ({4}) Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für einen Waffenstillstand und Verhandlungen in Syrien einzusetzen. ({5}) - Sie sagen: „Machen wir doch!“ Aber mit welchem Erfolg? - Tragen Sie dazu bei, dass die Finanzquellen des „Islamischen Staates“ ausgetrocknet werden! Solange der IS sein Öl über die Türkei verkaufen kann, schwimmt er im Geld. Beenden Sie Ihre Kumpanei mit der türkischen Regierung! Fordern Sie sie auf, die Grenzen zu den syrischen Kurdengebieten zu öffnen, um ganz normalen wirtschaftlichen Handel und humanitäre Hilfe zuzulassen, damit mit dem Wiederaufbau im Land begonnen werden kann! Lassen Sie uns die 20,5 Millionen Euro, die der Patriot-Einsatz kosten würde, für die Versorgung der Bevölkerung und der Flüchtlinge, für Lebensmittel, für wichtige Medikamente und Unterkünfte ausgeben! Das wäre humanitäre Hilfe. ({6}) Was wir jetzt brauchen, sind Diplomatie und Verhandlungen, um die Lage im Nahen Osten zu stabilisie7834 ren. Deshalb lehnen wir eine weitere Verlängerung dieses Einsatzes ab. Schönen Dank. ({7})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Andreas Nick. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei ist in besonderer Weise von dem schrecklichen Bürgerkrieg in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, in Syrien, betroffen. In den letzten Jahren hat das Land über 1,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen und trägt gemeinsam mit dem Libanon und Jordanien die Hauptlast. Sie stellt sich dieser humanitären Verantwortung in vorbildlicher Weise. Das Mandat zur Mission Active Fence, über dessen Verlängerung wir heute entscheiden, soll unserem NATO-Partner Türkei weiterhin Schutz bieten - Schutz seiner Bevölkerung, Schutz seines Territoriums, aber auch Schutz der aufgenommenen Flüchtlinge -; denn auch zwei Jahre nach Entsendung der ersten Patriot-Systeme ist die Türkei weiterhin Bedrohungen ausgesetzt. Syrische Kurzstreckenraketen können auch heute noch Ziele auf nahezu dem gesamten türkischen Staatsgebiet erreichen. Die Türkei selbst verfügt derzeit über keine eigene Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Raketen und ist somit zwingend auf die Unterstützung ihrer Verbündeten angewiesen. Im Bündnis ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir im Bedrohungsfall einem Partner notwendige militärische Fähigkeiten zum Schutz seines Territoriums und seiner Bevölkerung zur Verfügung stellen. Als Deutscher Bundestag stehen wir hier in einer besonderen Verantwortung, zum einen gegenüber unseren Bündnispartnern, die sehr genau darauf achten, wie wir mit unserem Parlamentsvorbehalt im Rahmen von Bündnisverpflichtungen umgehen. Dieses Thema beschäftigt ja auch die Rühe-Kommission, weil Verlässlichkeit unbedingte Voraussetzung für mehr Pooling und Sharing im Bündnis ist. Zum anderen stehen wir natürlich in der Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, denen ich herzlich für ihren engagierten Einsatz danke. ({0}) Im Rahmen eines Türkeibesuchs im März werde ich voraussichtlich die Gelegenheit haben, mich vor Ort bei den Soldaten des Patriot-Einsatzes ebenso zu informieren wie über die Situation der Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Syrien. Der Patriot-Einsatz hat rein defensiven Charakter und bedeutet keine Involvierung Deutschlands oder der NATO in den syrischen Bürgerkrieg. Aber eine Stabilisierung der Region liegt nicht nur aus humanitären Gründen - dies ganz überwiegend -, sondern natürlich auch mit Blick auf die andauernde Notwendigkeit dieses Einsatzes in unserem Interesse. Im Hinblick auf die Tragödie des syrischen Bürgerkrieges gibt es sicher zwischen der Türkei und uns unterschiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen bezüglich einzelner Akteure in dieser komplexen Lage. Der türkische Ministerpräsident Davutoglu bemängelte bei seinem Besuch in Berlin nicht ganz zu Unrecht eine mangelnde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bei der Beendigung des Assad-Regimes, das Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt. Unabhängig davon erwarten wir jedoch künftig von der Türkei eine unzweideutige Haltung gegenüber ISIS. In jedem Fall brauchen wir eine verbesserte Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden, um den Transit von Extremisten aus Europa nach Syrien und in den Irak und zurück wirksamer kontrollieren und möglichst unterbinden zu können. Dass sich die Türkei mit kurdischen Autonomiebestrebungen schwertut, kann nicht überraschen. Aber dass die Türkei eine konstruktive Rolle einnehmen kann, hat sie bereits im Norden des Irak gezeigt, denn ohne türkische Mitwirkung wäre die positive Entwicklung der autonomen Region Kurdistan in Arbil nicht möglich gewesen.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege Dr. Nick, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen?

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident und Herr Kollege. - Ich wollte Sie etwas fragen, weil Sie sagten, man müsse die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Türkei verstärken. Davutoglu habe sich beschwert. Sie haben gesagt, man müsse auf jeden Fall die Zusammenarbeit verstärken, um gegen IS vorzugehen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie gerne etwas fragen. Gestern Abend ging die Nachricht herum, dass Deutschland gerade mit der Türkei in Verhandlungen über ein Geheimdienstabkommen ist. Der BND soll durch dieses Abkommen, über das verhandelt wird, mit dem türkischen Geheimdienst enger zusammenarbeiten, um den Terror besser bekämpfen zu können. Ich möchte Sie gerne fragen: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ein Whistleblower vor kurzer Zeit Dokumente veröffentlicht hat, laut denen im Januar 2014 der türkische Geheimdienst, mit dem Deutschland jetzt ein Abkommen schließen möchte, eine Lkw-Ladung Waffen direkt an islamistische Terrormilizen an der Grenze geliefert hat? Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass es Unterstützung nicht nur in Form von Waffen gibt, sondern zum Beispiel auch durch die Behandlung von verletzten Dschihadisten in türkischen Krankenhäusern? Dies findet laut vielen Berichten, auch Bildberichten, statt. Glauben Sie ernsthaft, dass es wirklich ein Schritt in die richtige Richtung ist, mit dem Geheimdienst der Türkei, die den „Islamischen Staat“, aber auch andere Terrorgruppen wie die Al-Nusra-Front nachweislich mit unterstützt hat, enger zu kooperieren und ein Abkommen abzuschließen, oder wird es bei diesem Abkommen eher darum gehen, diejenigen, die gegen IS teilweise erfolgreich gekämpft haben, zu bekämpfen, Stichwort PKK? ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dağdelen, ich darf zwei Dinge unterstreichen - ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen -: Erstens. Ich habe gesagt: Wir erwarten von der Türkei eine unzweideutige Haltung, auch gegenüber ISIS. Zum Zweiten. Es ist in unserem unmittelbaren und elementaren Interesse, den Transit von Extremisten aus Deutschland und Europa in die Kampfgebiete in Syrien und im Irak, der über die Türkei führt, zu unterbinden. Es gibt keinen anderen plausiblen Weg, dies zu tun, als in Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden, nicht gegen sie. - Ich glaube, damit ist die Frage hinreichend beantwortet. ({0}) Meine Damen und Herren, gerade mit Blick auf die Brandherde im Mittleren Osten und in Nordafrika kommt der Türkei eine entscheidende Rolle zu. Die Türkei liegt darüber hinaus an einer geostrategischen Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Durch ihre NATO-Mitgliedschaft ist die Türkei eng an den Westen gebunden. Seit Jahrzehnten hat sie sich als verlässlicher Partner innerhalb des Bündnisses erwiesen. Aber es ist richtig: Gerade als Freunde der Türkei beobachten wir manche innenpolitischen Entwicklungen, etwa im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und des Umgangs mit Minderheiten, mit Aufmerksamkeit und manchmal durchaus auch mit Sorge. Manches an der politischen Rhetorik in der Türkei wirkt auf uns befremdlich und gelegentlich leider auch verstörend. ({1}) Aber die Türkei ist und bleibt für uns ein wichtiger strategischer Partner. Dies gilt nicht nur im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch in den Fragen von Wirtschaft, Handel und Energie. Es gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, die in unserem Land zu Hause sind. Es ist daher in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse, die strategische Partnerschaft mit der Türkei zu pflegen und weiterzuentwickeln. Ministerpräsident Davutoğlu hat bei seinem Besuch in Berlin erneut bekräftigt, dass Europa zentraler Bezugspunkt türkischer Außenpolitik bleibt. Wir sollten in diesem Zusammenhang aufmerksam zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei eine stärkere Anbindung an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union sucht. Dabei kann es nicht darum gehen, das Ergebnis von EU-Beitrittsverhandlungen vorwegzunehmen, sondern es geht weitgehend um die Wiederherstellung eines Status, wie es ihn zu Zeiten der Westeuropäischen Union bereits gab. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit unseren Partnern werden wir immer wieder neu zu prüfen haben, wie lange eine Fortsetzung des Patriot-Einsatzes noch notwendig und umsetzbar ist. Auf lange Sicht wäre sicherlich der Aufbau eigener Fähigkeiten der Türkei zu erwägen, um diesen Einsatz der Verbündeten abzulösen. Heute gilt jedoch, dass die Mission weiterhin einen wichtigen Beitrag zum Schutz unseres Verbündeten leistet. Meine Fraktion stimmt der Verlängerung der Mission Active Fence daher zu. Vielen Dank. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Omid Nouripour.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der katastrophale Krieg in Syrien droht auch viele Nachbarstaaten des Landes ins Chaos zu ziehen. Nirgendwo ist das derzeit so sichtbar wie im Irak. Wir wissen aber, dass es auch eine Bedrohungslage für die Türkei gibt. Meine Fraktion hat diesem Mandat vor drei Jahren und seitdem immer wieder mit Bauchschmerzen zugestimmt. Wir haben das gemacht, weil wir immer wieder versichert bekommen haben, dass die Patriots zu rein defensiven Zwecken aufgestellt sind, dass es ein NATO-Kommando gibt, dass sie weit weg von der Grenze sind und nicht von Agents Provocateurs auf der anderen Seite der Grenze beschossen werden können. Die Bedrohungslage ist heute nicht wesentlich anders. Die ballistischen Raketen befinden sich weiterhin in Syrien. Es gibt mindestens fünf Anlagen, in denen Chemiewaffen produziert werden können, die bisher nicht zerstört worden sind. Artikel 4 des NATO-Vertrages ist gerade in diesen Zeiten ein wichtiges Gut. Deshalb wird meine Fraktion auch diesmal mehrheitlich zustimmen. Nichtsdestotrotz ist das Mandat das eine und das ganze Umfeld etwas anders; auch darüber muss man sprechen. Ja, wir haben einen Riesenrespekt davor, dass die Türkei 1,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Das ist eine unglaubliche Leistung, die die Menschen in der Türkei erbringen. ({0}) Aber es ist auch Kritik notwendig. Es ist gerade gesagt worden, dass es einen Bericht gibt - von Hackern veröffentlicht; es ist bei weitem nicht der erste Bericht -, dass Anfang letzten Jahres Gendarmen einen Konvoi aufgehalten haben, der unter dem Schutz des damaligen Ministerpräsidenten stand. Im Konvoi befanden sich Raketen, Munition und Waffen, wahrscheinlich für die Nusra-Front in Syrien. Darüber gibt es in der Türkei eine Nachrichtensperre. Noch bemerkenswerter ist, dass die 13 Gendarmen, die daran beteiligt waren, derzeit wegen Spionage angeklagt sind. Das ist eine ungeheuerliche Geschichte. Deshalb ist es notwendig, dass man dort laut die Stimme der Kritik erhebt und nicht - wie die Bundesregierung in der Begründung des Mandatstextes - behauptet, die Politik der Türkei in Syrien wäre eine besonnene; das ist einfach nicht richtig. ({1}) Es gibt Krankenschwestern, die Briefe an die Parlamentarier der Türkei schreiben, weil sie es nicht mehr aushalten: Sie betreuen ISIS-Kämpfer - das ist Teil des hippokratischen Eides: dass man alle Versehrten betreut -, während die Flüchtlinge nicht in die Krankenhäuser kommen. Diese Kämpfer werden nach ihrer Entlassung nicht von Polizisten abgeführt und ins Gefängnis gebracht, sondern werden in den Krankenhäusern fit gemacht, damit sie weiterkämpfen können. Das ist ein wahrer Skandal. ({2}) Ich bin sehr froh, dass die Krankenschwestern trotz der großen Bedrohung bereit sind, über diese Ungeheuerlichkeiten zu sprechen. Aber auch innenpolitisch gibt es einiges, worüber man wirklich laut reden muss. Die Pressefreiheit - dieser Tage zu Recht ein großes Thema - steht in der Türkei massiv unter Druck. Allein im Dezember sind dort 25 Journalistinnen und Journalisten verhaftet worden. Freedom House sagt, die Pressefreiheit sei in der Türkei mittlerweile nicht mehr gegeben; die Einstufung ist: unfrei. Gleichzeitig stehen Fußballfans von Carsi, einem Fanklub von Besiktas Istanbul, die bei den Demonstrationen zur Rettung der Bäume im Gezi-Park auf der Straße waren, jetzt vor Gericht und sind wegen Terrorismus und Umsturz anklagt - das hat mit Rechtsstaat überhaupt nichts mehr zu tun -, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Michael Brand ({3}) während gleichzeitig der Korruptionsskandal um den Präsidenten einfach ausgesessen wird. Da hat die Kollegin Dağdelen, mit der ich nicht häufig einer Meinung bin, einfach recht: Und das ist das Umfeld, in dem jetzt ein Geheimdienstabkommen verhandelt werden soll? Es mag Gründe dafür geben, ein solches Abkommen anzustreben; aber was nicht geht, ist, dass man in diesem Umfeld ein Abkommen verhandelt und über diese Missstände in der Türkei schlicht schweigt; das ist einfach nicht hinnehmbar. ({4}) Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder auch im Zusammenhang mit Bündnissolidarität über dieses Mandat gesprochen. Bündnissolidarität hat einen großen Wert - das sehen wir auch -; aber Bündnissolidarität ist kein Automatismus. Vor diesem Hintergrund und bei diesem Umfeld, das ja täglich schlechter wird, kann ich Ihnen nur sagen: Ich kann meiner Fraktion vielleicht ein letztes Mal empfehlen, dem Mandat zuzustimmen; aber angesichts der Vorzeichen, die wir derzeit haben, wüsste ich nicht, ob das nächstes Jahr noch möglich ist. Ich kann nur hoffen, dass die Bundesregierung aus den Geschehnissen wirklich etwas lernt: Mit der Türkei - ja, ein Partner; ja, ein Bündnispartner - offen und geradeheraus eine Aussprache zu suchen, ist so notwendig wie seit langer, langer Zeit nicht mehr. Bitte gehen Sie diesen Weg! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit! ({5})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Hellmich, SPD. ({0})

Wolfgang Hellmich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt Situationen in der parlamentarischen Beratung, da nimmt man seine Blätter, legt sie zur Seite und geht auf die Diskussion ein, die hier geführt wird. Vorab, um das von vornherein klar zu sagen: Wir werden der Verlängerung eines solchen Mandates - des Einsatzes von Patriot-Raketen zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung - zustimmen. Es gibt an dieser Stelle keine Alternative dazu, der Türkei als unserem Partner in der NATO die nötige Unterstützung zu geben, wohlwissend, dass dies in einer Zeit passiert, in der sich die Situation in der Region bei weitem nicht verbessert, sondern im Wesentlichen verschlechtert hat. Es ist auf die Zahlen hingewiesen worden: Als wir vor etwas mehr als einem Jahr hier diskutiert und debattiert haben, redeten wir über 200 000 Flüchtlinge in der Türkei. Heute reden wir über 1,6 bis 1,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Die WHO und andere haben die Türkei sehr dafür gelobt, wie sie mit den Flüchtlingen aus Syrien umgeht, wie sie die Versorgung organisiert, wie sie sich um die Flüchtlinge kümmert. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei an dieser Stelle ihrer Verantwortung für die Menschen in der Region nachkommt, indem sie in diesem gesamten Konflikt den Menschen als Fluchtort zur Verfügung steht und ihnen den nötigen Schutz gibt. Diesen Flüchtlingen wollen wir genauso wie allen anderen Menschen in der Türkei denselben Schutz vor möglichen syrischen Raketen - von wem auch immer abgeschossen - geben. Wir wollen den bedrohten Menschen in der Türkei diesen Schutz geben, damit sie sich sicher fühlen können und damit sie an der Stelle auch wissen, dass wir an ihrer Seite stehen und wir mit zu denjenigen gehören, die ihnen helfen wollen, in der Region für Frieden zu sorgen, für eine Entspannung der Situation zu sorgen, dazu beizutragen, dass der Konflikt gelöst wird. Dabei spielt nach wie vor die Türkei eine ganz wesentliche, eine ganz entscheidende Rolle. ({0}) Deshalb werden wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln helfen, genauso wie nämlich die Türkei auch anderen NATO-Partnern an anderen Stellen geholfen hat. Ich erinnere an das Engagement in Afghanistan im Rahmen von ISAF, als die Türkei eine wesentliche Stütze des Einsatzes war. ({1}) - Dass Sie den nicht wollen, das weiß ich ja; das können Sie hier auch noch ein anderes Mal sagen. - Genauso wie die Türkei mit 380 Soldatinnen und Soldaten bei KFOR im Kosovo unterwegs ist und dort hilft, für eine sichere Situation im Kosovo zu sorgen, oder mit Fregatten bei UNIFIL, muss sie - jetzt vielleicht auch mit einer gesteigerten, wieder höher werdenden Bedeutung - ihren Aufgaben im Rahmen der Regulierung eines Konflikts zwischen Israel und dem Libanon nachkommen. An dieser Stelle müssen wir auch mit der Türkei sprechen, wie sie ihren Einfluss da einsetzt, damit es einen solchen Konflikt und eine Eskalation nicht gibt. Das Gleiche gilt dafür, wie sie uns im Golf von Aden und am Horn von Afrika bei der Bekämpfung der Piraterie hilft. Es ist der Geist dieses Vertrages der NATO, den Türken in der Situation, in der sie sind, zu helfen. Mit Fug und Recht können sie sagen, dass sie bedroht sind. Die Zahlen sind genannt, die Strukturen sind genannt. Gleichzeitig wissen wir natürlich auch um die innere Situation, die in der Türkei herrscht und die hier vielfach - gerade am ausführlichsten von dem Kollegen Nouripour - beschrieben und bezeichnet worden ist. Sie von der Linken müssen sich entscheiden, was Sie mit der Türkei machen wollen: reden und verhandeln, damit die Situation besser wird, oder sie herausschmeißen und gar nicht mehr mit ihr reden. Auf der einen Seite Grenzen öffnen und auf der anderen Seite Grenzen schließen. Wenn Sie einmal zu einer konsistenten Position kommen würden, dann wären Sie an dieser Stelle vielleicht auch ein Stück glaubwürdiger, als Sie das im Moment sind. ({2}) Die Türkei kann sich mit Fug und Recht bedroht fühlen, und an dieser Stelle werden wir ihr helfen. Die türkische Regierung hat trotz allem in diesem Konflikt besonnen und verantwortungsvoll gehandelt. Sie hat in diesen Konflikt nicht offensiv eingegriffen, obwohl die Beschlüsse des Parlaments das zugelassen hätten. Nein, sie spielt da eine andere Rolle. Wir wissen um die schwierige Situation der Türkei, um ihre schwierige Rolle, die sie dort spielt, und wir sagen ihr das. Viele Parlamentarier waren da und haben vor Ort mit all denjenigen gesprochen, die beteiligt sind. Die haben auf den Plätzen gestanden und haben auch in der Türkei deutlich gemacht, dass das so nicht geht und dass man mit Menschenrechten, mit demokratischen Rechten anders umgehen muss. Wir haben ein ureigenes Interesse, dass es in Verhandlungen mit der Türkei dazu kommt, dass Foreign Fighters über die Türkei nicht hinein- und nicht herauskommen können. Ich wünsche der Bundesregierung bei den Verhandlungen nicht, dass sie scheitern, sondern den vollen Erfolg dieser Verhandlungen über Abkommen, um an dieser Stelle dafür zu sorgen, dass wir auch beschützt werden. Unser eigenes Interesse ist das, und deshalb geht es auch um unsere eigenen Sicherheitsinteressen. Es geht auch darum, dass die Verhandlungen über das Atomprogramm mit dem Iran, die unter Beteiligung der Türkei gerade in Istanbul laufen, zu einem guten Ergebnis kommen. Also: Wir brauchen die Türkei in der Region, wir brauchen sie als unseren starken Partner an der Seite und im Bündnis der NATO. Wir sehen die Türkei als stabilisierenden Faktor und werden beides tun: sagen, was verbessert werden muss, was anders werden muss, und gleichzeitig dieser Verlängerung des Mandats zustimmen, damit es in der Region vorwärtsgeht und wir einen guten Beitrag dazu leisten können. Herzlichen Dank. ({3})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl Lamers für die CDU/CSU. ({0})

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sagen - insbesondere mit Blick auf die Fraktion Die Linke -: Die Lage an der türkisch-syrischen Grenze ist noch längst nicht so stabil, dass wir uns bereits jetzt aus dem Mandat Active Fence zurückziehen könnten, erst recht dann nicht, wenn ein NATO-Partner um Hilfe bittet und Bündnissolidarität gefordert ist. Seit Januar 2013 schützen amerikanische, niederländische und deutsche Patriot-Staffeln die Bevölkerung und das türkische Territorium gegenüber möglichen Angriffen aus dem syrischen Luftraum. Anstelle der Niederländer, die sich in diesen Tagen aus dem Mandat zurückziehen, rücken jetzt spanische Soldaten nach. Ich stelle fest: Der Luftabwehrschirm an der türkischen Südgrenze bleibt intakt. Das ist eine gute Nachricht. ({0}) Der Einsatz hat sich seit Beginn als sehr effizient erwiesen. Heute geht es darum, das Mandat um ein Jahr, bis zum 31. Januar 2016, zu verlängern. Damit gehen wir in das dritte Jahr. Bei jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr stellen sich uns die Fragen: Ist er notwendig? Warum sind wir da? - Sie alle kennen den Grund für den seinerzeit beschlossenen NATO-Einsatz. Die Konflikte in Syrien und im Irak drohten damals die ganze Region zu destabilisieren. Es bestand die Gefahr, dass sie irgendwann auf die Türkei übergreifen. Wir haben mit dieser Mission in schwierigster Zeit für ein Stück Stabilität in einer instabilen Region gesorgt, und genau das war unsere Absicht. ({1}) Und heute? Noch immer sieht der NATO-Oberbefehlshaber eine Bedrohung der Türkei als glaubhaft und begründet an, und die Türkei selbst fühlt sich bedroht: durch die Kämpfe im benachbarten Syrien und im Irak sowie durch das Wüten und den Furor der IS-Miliz, über den wir heute ja schon so viel Schreckliches gehört haben, durch das syrische Regime, das nicht nur eine eigene Luftwaffe hat, sondern auch über ballistische Flugkörper mit einer Reichweite von bis zu 700 Kilometern und über Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügt, die jederzeit nahezu das gesamte türkische Staatsgebiet erreichen können, und durch ein mögliches Risiko durch Restbestände an chemischen Waffen. Ich meine, das alles sind sehr nachvollziehbare Gründe. Seit Beginn des Einsatzes hat es in der Tat keinen Luft- oder Raketenangriff auf die Türkei mehr gegeben. Heißt das, dass wir den Luftabwehrschirm jetzt nicht mehr brauchen? Nein, im Gegenteil. Dass nichts passiert ist, bedeutet: Die Abschreckung durch das Bündnis hat voll funktioniert. Der Konflikt ist nicht auf den Nachbarn Türkei übergeschwappt. Übrigens: Wir beschränken uns auf rein defensive Waffen, auf eine Luftverteidigung, die das Territorium und vor allem die Menschen schützt, ohne über die Grenze zu wirken. Das möchte ich hier einmal ausdrücklich betonen. Die Türkei braucht weiterhin Sicherheit an ihrer Südgrenze - aus eigenem Interesse, aber auch im Hinblick auf die 1,5 Millionen Flüchtlinge, die auf ihrem Territorium untergebracht sind. Frau Kunert, ich glaube, dass der deutsche Steuerzahler genau das akzeptiert. Hier geht es nämlich darum, genau diese Flüchtlinge zu schützen, also um Menschlichkeit. ({2}) Es geht hier in der Tat aber auch - der Kollege Nouripour hat es angesprochen - um Bündnissolidarität. Die Türkei hält ihr Ersuchen an die NATO, Flug- und Raketenabwehreinheiten an der Südgrenze des Landes zu stationieren, nach wie vor aufrecht. Bündnissolidarität ist ein Schlüsselwort. Jeder muss wissen, dass wir keinen NATO-Partner im Stich lassen. Das sollen sich insbesondere diejenigen merken, oder soll ich sagen: derjenige, der in diesen Tagen in anderen Teilen der Welt die Kraft und Bündnisstärke der NATO testen und ausloten will? Wir sind hellwach! ({3}) Wir wissen: Für unsere Bundeswehrsoldaten ist dieser Einsatz nicht leicht zu schultern. Um die Durchhaltefähigkeit sicherzustellen, werden sie bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit gefordert. Deswegen möchte ich den am Einsatz beteiligten Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle meinen tiefen Dank und meine Anerkennung aussprechen. ({4}) Wir alle, die gesamte NATO, bleiben gefordert, stets aufs Neue die Grundlage und die Basis für die NATOOperation Active Fence zu prüfen und zu evaluieren. Wir stimmen der Verlängerung des Mandats für die Operation Active Fence unter Führung der NATO zu. Vielen Dank. ({5})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war vergangenen Sommer in Kilis in der Türkei.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege, darf ich eine Bemerkung machen, die vielen bekannt erscheint, weil sie regelmäßig beim letzten Redner vor einer namentlichen Abstimmung erfolgt. Ich bitte einfach die Kolleginnen und Kollegen, dem Kollegen Brandl als letztem Redner zuzuhören und die Gespräche, wenn sie notwendig sind, nach draußen zu verlegen. - Jetzt haben Sie wieder das Wort.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, vielen Dank. - Ich war letzten Sommer in Kilis in der Türkei in einem Flüchtlingslager, in dem 14 000 Menschen untergebracht sind und das etwa 50 Kilometer Luftlinie von Aleppo entfernt ist. Die Menschen in diesem Lager können die Kämpfe und die Raketeneinschläge auf der syrischen Seite zum Teil hören. Ich habe die Flüchtlinge und die Mitarbeiter der Leitung des Lagers gefragt, ob sie denn keine Angst haben, so nah an dem Konfliktort untergebracht zu sein. Die Antwort war immer die gleiche. Die Menschen haben gesagt, sie haben keine Angst, weil es keine der KonDr. Reinhard Brandl fliktparteien wagen würde, einen NATO-Partner anzugreifen. Wir reden hier viel über Beistandsverpflichtung, Artikel 5 des NATO-Vertrages, Abschreckung und Rückversicherung. Aber wenn man mit den Menschen vor Ort spricht und erlebt, wie beruhigend es für sie ist und welche Sicherheit sie daraus ziehen, in einem NATO-Land zu sein, dann merkt man erst, was das wirklich bedeutet. Das Ganze funktioniert aber nur, wenn die NATO glaubwürdig ist, wenn kein Zweifel daran besteht, dass wir im Falle eines Angriffs zu Hilfe eilen würden. Meine Damen und Herren, das gilt sowohl für die baltischen Staaten, in denen wir im Moment auch Rückversicherung betreiben, als auch für die Türkei. Das gilt unabhängig davon, ob wir die türkische Regierung oder die aktuelle Politik der türkischen Regierung gut finden. Ich finde sie nicht gut. Aber das tut hier nichts zur Sache. Es geht darum, dass wir klarmachen, dass wir in einer Konfliktsituation oder Bedrohungssituation zu unseren Partnern in der NATO stehen. Meine Damen und Herren, deswegen muss man den Einsatz der Patriot-Raketen unter zwei Gesichtspunkten beurteilen. Zum einen bieten die Raketen Schutz gegen ballistische Raketen, zum anderen sind sie aber auch ein Element der Rückversicherung mit Wirkung in die türkische Bevölkerung hinein. Dafür eignen sie sich gut. Wer vor Ort ist und die Raketen auf Hügeln vor großen Städten stehen sieht, dem wird klar sein, dass diese Raketen der Bevölkerung Tag für Tag demonstrieren: Wir, eure Partner in der NATO, sind hier, um euch zu schützen. ({0}) Diese beruhigende Wirkung dürfen wir nicht unterschätzen. Diese Wirkung kommt aber nur dann zustande, wenn der erste Punkt, den ich vorhin angesprochen habe, nämlich das Vorliegen einer Bedrohung, glaubhaft ist. Das muss man immer wieder neu beurteilen, das kann man auch hinterfragen. Mein Kollege Florian Hahn hat das in der letzten Lesung ausgeführt. Die NATO beurteilt die Bedrohungssituation alle 90 Tage. Sie kam bei ihrem letzten Review zu dem Ergebnis: low but credible; niedrig, aber dennoch glaubhaft. Ich halte diese Bewertung für nachvollziehbar. Wir haben im letzten halben Jahr erlebt, dass etwa 50 Raketen aus Damaskus in Richtung türkische Grenze abgeschossen wurden. Keine dieser Raketen ist auf türkischem Gebiet eingeschlagen, alle sind in Syrien niedergegangen. Aber jede dieser Raketen hätte theoretisch in der Türkei einschlagen können. Wir haben viel über die Chemiewaffen debattiert. Es ist in der Debatte angesprochen worden: Es gibt natürlich noch ein Restrisiko, dass die Chemiewaffen nicht vollständig vernichtet worden sind. Uns liegen zwar im Moment keinerlei Anzeichen vor, dass ein Konfliktpartner die Türkei angreifen will. Aber auch das müssen wir immer wieder neu beurteilen. Wir verfolgen diese Entwicklung sehr aufmerksam, weil wir das auch unseren Soldatinnen und Soldaten schuldig sind. In der Bundeswehr gibt es nur noch ein Flugabwehrraketengeschwader Patriot. Die Soldaten bleiben in der Regel in diesem Einsatz. Das heißt, bei 70 Prozent der Soldaten halten wir es ein, dass sie in einem Zeitraum von zwei Jahren nur vier Monate im Einsatz sind. Bei 30 Prozent halten wir das nicht ein, weil es Spezialisten sind, die länger gebraucht werden; denn ohne sie ist das System nicht durchhaltefähig bzw. betreibbar. Uns ist das sehr wohl bewusst. Wir haben vor allem mit Blick auf die Soldatinnen und Soldaten auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion sehr um unsere Zustimmung zu diesem Mandat gerungen. Wir halten gegenwärtig den Einsatz für notwendig und gerechtfertigt. Wir werden ihm auch zustimmen. Wir werden das aber auch in Zukunft aufmerksam verfolgen. Die Soldatinnen und Soldaten können sich sicher sein, dass wir sie nicht in einem Einsatz belassen, den wir nicht für sinnvoll und notwendig halten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftvertei- digung der NATO auf Ersuchen der Türkei. Dazu liegen mir mehrere persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 18/3859, den Antrag der Bundes- regierung auf Drucksache 18/3698 anzunehmen. Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze an den Abstimmungsurnen ein- zunehmen. - Jetzt sehe ich, dass alle Abstimmungsurnen vorschriftsmäßig besetzt sind. Damit eröffne ich die na- mentliche Abstimmung über die Beschlussempfeh- lung. - Gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen hier im Haus, die oder der abstimmen möchte, dies aber noch nicht getan hat? - Ich sehe, dass alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben haben. Ich schließe damit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird später be- kannt gegeben.2) 1) Anlagen 8 und 9 2) Ergebnis Seite 7842 C Vizepräsident Johannes Singhammer Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes Drucksache 18/2231 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Einen Änderungswunsch kann ich nirgendwo entdecken. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Katarina Barley das Wort. ({1})

Dr. Katarina Barley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Schuldrechtsanpassungsgesetz ist ein sehr emotionales Thema. Hinter diesem sperrigen Titel verbirgt sich das Anliegen, zwei sehr verschiedene Rechtssysteme zusammenzuführen. Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1994 und hat ein klares Ziel. Es sollte die Nutzungsverhältnisse betreffend Grundstücke aus DDRZeiten in das Miet- und Pachtrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches überleiten. Das ist zugegebenermaßen eine ziemlich schwierige, aber auch eine wichtige Aufgabe. Im 25. Jahr des vereinten Deutschlands sollten parallel bestehende Rechtsordnungen langsam der Vergangenheit angehören. ({0}) Es ging 1994 im Wesentlichen um Datschengrundstücke, Garagen und Campinggrundstücke. Bezüglich der Garagen hat sich 1999 die Rechtslage erledigt. Den Campinggrundstücken wird sich nachher mein Kollege widmen. Ich werde mich im Wesentlichen auf die Datschen beschränken. Wichtig ist, zu sagen, dass es dabei nicht um die ostdeutschen Kleingärten geht; das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Diese fallen schon lange unter das Bundeskleingartengesetz. Hier geht es ausdrücklich um die sogenannten Datschen. Bei der Betrachtung dieses Gesetzes stehen sich naturgemäß zwei Interessen gegenüber. Das sind auf der einen Seite die Datschennutzer. Nach DDR-Recht waren die damaligen Pachtverhältnisse faktisch unkündbar. Die Pächter haben viel Zeit und Arbeit in ihre Datschen gesteckt. Deshalb ist dieses Thema logischerweise so hochemotional. Auf der anderen Seite stehen die Grundstückseigentümer, deren Interessen sehr vielfältig sein können. Im Vergleich zum Rechtssystem der DDR hat das Eigentum im gesamtdeutschen Rechtssystem einen anderen, einen höheren Stellenwert. Es wird in Artikel 14 des Grundgesetzes garantiert. Seit der Wiedervereinigung gilt das grundsätzlich auch für die Erholungsgrundstücke auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz hat der Gesetzgeber versucht, diese beiden widerstreitenden Interessen in Ausgleich zu bringen. Ich finde, dass das sehr umsichtig gelungen ist. Es wurde ein weitgehender Kündigungsschutz vereinbart. Bis zum 31. Dezember 1999 waren ordentliche Kündigungen ausgeschlossen. Seit dem 1. Januar 2000 sind solche Kündigungen nur in einigen Fällen zulässig, zum Beispiel bei Eigenbedarf oder dann, wenn eine geplante andere Nutzung nach Bebauungsplan erfolgen soll. Wer am 3. Oktober 1990 60 Jahre oder älter war, kann seine Datsche bis zum Lebensende nutzen. Nutzungsentgelte wurden begrenzt. Für die Entschädigung wurde eine sehr differenzierte Regelung gefunden. Abbruchkosten müssen die Nutzer frühesten ab 2022 tragen, also 32 Jahre nach der deutschen Einheit und 27 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes. Was wir auch haben, ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1999. Die spielt in diesem Zusammenhang eine ziemlich große Rolle; denn das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass im Großen und Ganzen, mit einigen Ausnahmen, dieser Ausgleich der Interessen gelungen ist, aber dass eben die Privilegierung der Nutzer gegenüber den Eigentümern zeitlich befristet sein muss und dass diese Befristung auch verlässlich sein muss. Der Bundesrat möchte nun an zwei Stellen eine Änderung dieses Gesetzes erwirken. Erstens soll der Kündigungsschutz um drei Jahre, bis zum 3. Oktober 2018, verlängert werden. Dazu muss man jetzt natürlich sagen: Das heißt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt die Leute ihre Datschen verlassen müssen, sondern dass ab diesem Zeitpunkt eine ordentliche Kündigung ausgesprochen werden kann, natürlich nicht muss. Wir gehen deshalb davon aus, dass bei den meisten ohnehin alles beim Alten bleiben wird; denn die Eigentümer, die Eigenbedarf geltend machen wollten, oder die Eigentümer der Grundstücke, deren Nutzung sich insgesamt verändert hat, die konnten bereits seit dem Jahr 2000 kündigen. Zweitens möchte der Bundesrat die Regelungen zu den Abbruchkosten ändern. Er möchte, dass diese Kosten nur bei grober Unbilligkeit - das soll also auf Härtefälle beschränkt werden - von den Nutzern getragen werden sollen. Das soll generell auch nach 2022 gelten, im Unterschied zur bisherigen Rechtslage. Diese Sonderregelung gegenüber dem Bürgerlichen Gesetzbuch würde also fortgeschrieben. Dabei müssen wir aber wirklich berücksichtigen, dass viele Grundstückseigentümer Kommunen sind. Wenn wir sehen, wie viele Grundstücke teilweise einzelnen Kommunen zufallen, dann würden die ostdeutschen Kommunen damit finanziellen Belastungen ausgesetzt, die wir heute noch gar nicht absehen können. Ich möchte deshalb festhalten, dass die Verschiebung des Kündigungszeitpunkts um drei Jahre uns in drei Jahren wieder vor dasselbe Problem stellen würde, diese Verschiebung also inhaltlich nicht wirklich etwas bringt. Daraus ergeben sich vor allen Dingen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit, weil gemäß der vom Bundesverfassungsgericht geforderten verlässlichen Rechtsposition der Eigentümer irgendwann nach 25 Jahren wissen muss, wann er sein Grundstück wird nutzen können. Dieser Position kommt also ein verfassungsrechtlich geschützter Rang zu. ({1}) Alle Fristen im Schuldrechtsanpassungsgesetz sind seit 1994 bekannt. Sie haben die Ausgewogenheit der Interessen zwischen Nutzern und Eigentümern sichergestellt. Deshalb sehen wir keine Notwendigkeit, das Schuldrechtsanpassungsgesetz zu ändern. Vielen Dank. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Von der Fraktion Die Linke aus der Mitte des Bundesrats benannt, hat jetzt Herr Landesminister Dr. Helmuth Markov das Wort. ({0}) Dr. Helmuth Markov, Minister ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat der Bundesrat mit überwältigender Mehrheit - das möchte ich Ihnen gerne sagen, weil hier Regierungen unterschiedlichster Couleur vertreten sind - beschlossen, das Schuldrechtsanpassungsgesetz neu auszutarieren. Im Mittelpunkt - das hat meine Vorrednerin gesagt - steht ein Phänomen, das es nur in Ostdeutschland gibt. Es betrifft die sogenannten Datschengrundstücke. Die Grundstückseigentümer und die Nutzer haben vor der Wende Vereinbarungen über Erholungsgrundstücke getroffen. Damit ist den Nutzern ein sehr weitreichendes Recht, eine schutzwürdige Position eingeräumt worden. Anders als bei den gewöhnlichen Miet- und Pachtverträgen der DDR war der nach diesen Regeln geschlossene Nutzungsvertrag im Prinzip nahezu unkündbar. Deswegen, weil es so war, war der Nutzer auch berechtigt, das Grundstück mit eigenen Mitteln zu bebauen, und er erwarb an den Baulichkeiten sogar ein gesondertes Gebäudeeigentum. Das darf man nicht vergessen. Regelmäßig haben dann die Nutzer, natürlich im Vertrauen darauf, dass sie im Prinzip unkündbar sind, mit hohem finanziellem und persönlichem Einsatz Bauten auf den Wochenendgrundstücken errichtet. Das sind die sogenannten Datschen. Die Aufgabe des Schuldrechtsanpassungsgesetzes das ist schon gesagt worden - war und ist es, diese spezifischen, nach DDR-Recht begründeten Nutzungsverträge in bundesdeutsches Recht überzuleiten. Dabei gilt es - es stimmt -, den widerstreitenden Interessen zwischen Nutzern und Grundstückseigentümern zu einem gerechten Ausgleich zu verhelfen. Warum hat sich nun der Bundesrat 20 Jahre danach entschlossen, den Kompromiss, der 1994 vereinbart wurde, nachzubessern? Zum einen sollen die Kündigungsschutzfristen - das ist gesagt worden - um drei Jahre verlängert werden, nämlich bis zum 3. Oktober 2018, und zum anderen ist die Frage der Abbruchkosten neu zu bewerten. Die Problematik, mit der wir es dabei zu tun haben, besteht ganz einfach darin, dass sich der damalige Gesetzgeber - vielleicht waren einige von Ihnen noch dabei - hat von einer Prognose leiten lassen, die besagte, dass im Jahre 2015 der Bedarf an Datschennutzungen nicht mehr in dem Maße bestehen wird, weil es ein verändertes Freizeitverhalten der Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gibt und weil natürlich auch eine zunehmende berufliche Mobilität dazu beiträgt, dass viele Leute am Wochenende ihre Datsche nicht mehr nutzen werden. Aber die Lebenswirklichkeit hat gezeigt: Es ist anders. Nach wie vor gibt es ungefähr eine halbe Million Nutzer von Datschengrundstücken in Ostdeutschland. Das bedeutet, dass die Nutzung dieser Grundstücke auch heute noch einen besonderen sozialen Stellenwert hat. In Anbetracht dessen hat der Bundesrat beschlossen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem der Kündigungsschutz für drei Jahre verlängert werden soll. ({2}) In diesem Gesetzentwurf wird außerdem die Beteiligung an den Abbruchkosten neu geregelt. Erinnern Sie sich: Damals ist eine sehr fragwürdige Regelung getroffen worden; allein schon an den Zahlen kann man das nachvollziehen. Diese Regelung besagt nämlich: Wenn ein Vertrag bis Anfang Oktober 2022 endet, dann trägt der Grundstückseigentümer alle Abbruchkosten. Wenn ein Vertrag zwischen Oktober 2022 und Ende Dezember 2022 endet, dann werden die Abbruchkosten hälftig geteilt. Wenn ein Nutzer sein Grundstück ab 2023 abgibt, dann muss er ganz allein die Abbruchkosten tragen. Das erscheint dem Bundesrat nicht nachvollziehbar und auch nicht begründbar. Diese Regelung ist misslungen. Deshalb sagt der Bundesrat: Die Abbruchkosten sollen dem Grundstückseigentümer grundsätzlich übertragen werden. Es gibt Ausnahmen, etwa für den Fall, dass ein Gebäude nicht mehr genutzt wird, da es in einem allzu schlechten Zustand ist. Das hat auch deswegen einen Sinn, weil mit dem Übergang des Grundstücks auch das Gebäude des Nutzers, das er mit seinen eigenen Mitteln errichtet hat, auf den neuen Grundstückseigentümer übergeht. Er hat also einen Wertzuwachs. Es ist angesprochen worden, dass es verfassungsrechtliche Bedenken gibt. Ich glaube, diese verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Privatnützigkeit des Eigentums überzeugen nicht; denn die Privatnützigkeit bleibt auch in Zukunft gewährleistet; sie wird überhaupt nicht angegriffen. Die bestehenden Kündigungsmöglichkeiten des Eigentümers, insbesondere für den Fall, dass er das Grundstück für den eigenen Bedarf, etwa zu Wohnzwecken, nutzen will, bleiben bestehen; sie werden durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes nicht verändert. Darüber hinaus kann der Eigentümer, wenn er es will, auch heute schon die Nutzungsentgelte entsprechend den ortsüblichen Entgelten beanspruchen. Insofern bitte ich Sie, ernsthaft zu überprüfen, ob Sie diesem Gesetzentwurf, der - ich wiederhole es - im Bundesrat eine absolut überwältigende Mehrheit bekom7842 Minister Dr. Helmuth Markov ({3}) men hat, nicht doch Ihre Zustimmung geben können. Ich finde, das wäre 25 Jahre nach dem Mauerfall ein Zeichen für ein gutes Zusammenwachsen von Ost und West. Danke schön. ({4})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Landesminister Dr. Markov, vielen Dank. - Bevor der Kollege Steineke das Wort erhält, darf ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der letzten namentlichen Abstimmung über den Antrag „Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung“, Drucksachen 18/3698 und 18/3859, bekannt geben: abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 503, mit Nein haben gestimmt 70, Enthaltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 580; davon ja: 503 nein: 70 enthalten: 7 Ja CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Peter Altmaier Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Maik Beermann Veronika Bellmann Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Ute Bertram Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Jutta Eckenbach Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({0}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich ({1}) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Reinhard Grindel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Frank Heinrich ({2}) Mark Helfrich Uda Heller Jörg Hellmuth Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Christian Hirte Alexander Hoffmann Thorsten Hoffmann ({3}) Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Bettina Hornhues Charles M. Huber Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Andreas Jung Dr. Franz Josef Jung Xaver Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Hartmut Koschyk Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Philipp Graf Lerchenfeld Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Gisela Manderla Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Reiner Meier Jan Metzler Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller ({4}) Stefan Müller ({5}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Sibylle Pfeiffer Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alois Rainer Vizepräsident Johannes Singhammer Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({6}) Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Albert Rupprecht Anita Schäfer ({7}) Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Christian Schmidt ({8}) Gabriele Schmidt ({9}) Ronja Schmitt ({10}) Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder ({11}) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster ({12}) Christina Schwarzer Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Johannes Steiniger Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Stephan Stracke Max Straubinger Thomas Stritzl Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel ({13}) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Albert Weiler Marcus Weinberg ({14}) Peter Weiß ({15}) Sabine Weiss ({16}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Waldemar Westermayer Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({17}) Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Matthias Bartke Bärbel Bas Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({18}) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Martin Burkert Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Siegmund Ehrmann Michaela Engelmeier Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Elke Ferner Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Angelika Glöckner Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann ({19}) Dirk Heidenblut Hubertus Heil ({20}) Marcus Held Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz Josip Juratovic Thomas Jurk Johannes Kahrs Christina Kampmann Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange ({21}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Hiltrud Lotze Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Dr. Matthias Miersch Susanne Mittag Bettina Müller Detlef Müller ({22}) Michelle Müntefering Andrea Nahles Dietmar Nietan Thomas Oppermann Mahmut Özdemir ({23}) Aydan Özoğuz Christian Petry Jeannine Pflugradt Detlev Pilger Florian Post Achim Post ({24}) Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({25}) Susann Rüthrich Johann Saathoff Annette Sawade Axel Schäfer ({26}) Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt ({27}) Matthias Schmidt ({28}) Dagmar Schmidt ({29}) Carsten Schneider ({30}) Ursula Schulte Ewald Schurer Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Claudia Tausend Michael Thews Franz Thönnes Carsten Träger Rüdiger Veit Ute Vogt Dirk Vöpel Andrea Wicklein Dirk Wiese Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Dr. Jens Zimmermann Brigitte Zypries BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Annalena Baerbock Volker Beck ({31}) Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Vizepräsident Johannes Singhammer Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Sven-Christian Kindler Sylvia Kotting-Uhl Stephan Kühn ({32}) Christian Kühn ({33}) Renate Künast Markus Kurth Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Irene Mihalic Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({34}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Markus Tressel Jürgen Trittin Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Nein SPD Ulrike Bahr Klaus Barthel Cansel Kiziltepe Hilde Mattheis Dr. Hans-Joachim Schabedoth Swen Schulz ({35}) ({36}) DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Roland Claus Dr. Diether Dehm Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Andrej Hunko Sigrid Hupach Susanna Karawanskij Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Michael Leutert Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Niema Movassat Norbert Müller ({37}) Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Harald Petzold ({38}) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann ({39}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Uwe Kekeritz Monika Lazar Lisa Paus Corinna Rüffer Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Marco Bülow Petra Hinz ({40}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Maria Klein-Schmeink Özcan Mutlu Dr. Harald Terpe Dr. Julia Verlinden Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Sebastian Steineke, CDU/CSU. ({41})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der ehemaligen DDR - wir haben es gehört - konnten die Bürgerinnen und Bürger nach den Regeln des ZGB Nutzungsverträge über Bodenflächen zu anderen persönlichen Zwecken als zu Wohnzwecken abschließen, die nahezu unkündbar waren. Wir reden hier allein von Grundstücken, die zur kleingärtnerischen Nutzung oder zur Erholung oder Freizeitgestaltung dienen, den sogenannten Datschengrundstücken. Im Zuge der Wiedervereinigung - Sie haben es gehört musste man den Fortbestand dieser Rechtsverhältnisse selbstverständlich neu regeln. Ziel war es dabei, eine angemessene Überleitung in das Miet- und Pachtrecht des BGB der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten. Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz ist das aus unserer Sicht hervorragend gelungen. Sinn und Zweck des Gesetzes war von Anfang an die Schaffung eines geeigneten Interessenausgleichs zwischen den Rechtspositionen von Nutzer und Eigentümer. Ziel der Regelungen ist aber auch die schrittweise Herstellung der Rechtseinheit in unserem Land für derartige Nutzungsverträge auf dem Gebiet des Miet- und Pachtrechts. Hierfür sieht das Schuldrechtsanpassungsgesetz, wie mehrfach gehört, bislang eine 25-jährige Vertrauensschutzregelung vor sowie eine 32-jährige Investitionsschutzregelung im Bereich der Tragung der Abrisskosten. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates will zum einen die Kündigungsschutzfrist um drei Jahre verlängern und zum anderen eine praktisch vollständige Befreiung der Nutzer von der Beteiligung an den Abrisskosten für die Bauwerke erreichen. Meine Damen und Herren, aus unserer Sicht sind die aktuellen Regelungen völlig ausreichend, und daher können wir der Argumentation des Bundesrates auch nicht folgen. ({0}) Ich möchte aber gern noch ein paar Dinge im Detail erläutern. Erlauben Sie mir zuvor noch eine Bemerkung zu dem Hinweis des Landesministers zur Beschlussfassung des Bundesrates. Pünktlich vor den Landtagswahlen im letzten Jahr, pünktlich vor den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen - und damit in Bundesländern, in denen die Bürger am meisten davon betroffen sind -, kam dieser Gesetzentwurf wie Kai aus der Kiste; so könnte man sagen. Dieser Gesetzentwurf hatte also von Anfang an auch das klare Ziel, Wahlkampf zu machen, nicht mehr und nicht weniger. ({1}) - Genau so ist es gewesen. Der Zeitpunkt spricht Bände. Natürlich ist das Anliegen der betroffenen Nutzer im Grunde nachvollziehbar; das ist gar keine Frage. ({2}) Jedoch gehören zu Vertragsverhältnissen immer zwei Seiten, nicht nur eine. Auch die Eigentümer mussten auf die Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes vertrauen können, nicht nur die Nutzer. Mit Ablauf der Kündigungsschutzfrist in diesem Jahr ist nunmehr ein Vierteljahrhundert vergangen. Nutzer und Eigentümer konnten sich in dieser Zeit auf das bevorstehende Auslaufen der Frist einstellen und haben in der Regel auch Dispositionen und Vorbereitungen getroffen. Eine weitere Verlängerung der Kündigungsschutzfrist würde insoweit für die Betroffenen auf beiden Seiten negative Folgen nach sich ziehen. ({3}) Im Übrigen: Was verspricht sich der Urheber des Entwurfs, das Land Brandenburg, von einer weiteren Verlängerung um drei Jahre? Warum sollten die jetzt herrschenden Tatsachen in drei Jahren andere sein? Das erschließt sich aus der schlichten Begründung, dass die - ich zitiere - Interessenlage für den betroffenen Personenkreis weitgehend fortbesteht, in keiner Weise. Auch in drei Jahren würden wir uns genau die gleichen Fragen wie heute stellen. Es drängt sich daher der Eindruck auf, dass schlussendlich eine andauernde Spaltung der Rechtslage in Ost und West geplant ist. ({4}) Ein zweiter wesentlicher Punkt des Gesetzentwurfs - neben der Verlängerung der Kündigungsschutzfrist ist die faktisch vollständige Befreiung der Nutzerinnen und Nutzer von den Abrisskosten für die von ihnen errichteten Bauwerke. Bislang besteht für die Nutzer grundsätzlich keine Pflicht zur Beseitigung. Erst nach Ablauf einer 32-jährigen Investitionsschutzfrist haben die Nutzer bei einer Kündigung durch den Eigentümer nach dem 3. Oktober 2022 die Hälfte der Abrisskosten zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Kosten der Nutzer vollständig amortisiert, meine Damen und Herren. Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Befreiung der Nutzer von der Kostentragungspflicht vor. Lediglich in Fällen unbilliger Härte soll eine Kostenbeteiligung der Nutzer in Betracht kommen. Nach unserem heute geltenden Miet- und Pachtrecht müssen die Nutzer bei Vertragsbeendigung das Grundstück in dem Zustand zurückgeben, in dem sie es erhalten haben. Mit der vorgesehenen Regelung würde allein der Eigentümer für den Abriss aufkommen. Es drohen erhebliche finanzielle Belastungen für den Eigentümer, bei denen es sich im Übrigen mehrheitlich um unsere Kommunen handelt. Wir beraten in diesem Hause regelmäßig, wie wir unsere Kommunen entlasten, und das wird auch immer wieder gerade von den Linken gefordert. Dieses Gesetz hätte nun mitunter schwerwiegende finanzielle Folgen für die Städte und Kommunen und würde unser weiteres Bestreben nach kommunaler Entlastung vollständig konterkarieren. ({5}) Eine einseitige Kostenabwälzung auf die Grundstückseigentümer kann und darf nicht der Ansatz sein. Das hat im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1999 festgestellt. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist den Grundstückseigentümern eine freie wirtschaftliche Nutzung und Verwertung ihrer Grundstücke nach wie vor verwehrt. Dass dies ab dem 3. Oktober 2015 wieder möglich sein wird, ist daher mehr als geboten. Der Gesetzentwurf sieht im Übrigen eine Ausnahme bei der Kostentragung durch den Eigentümer bei Vorliegen einer sogenannten unbilligen Härte vor. In der Gesetzesbegründung werden beispielhaft genannt: Fälle …, in denen Abbruchkosten im Verhältnis zum Verkehrswert … unverhältnismäßig hoch sind oder der Nutzer durch unterlassene Instandhaltung des Bauwerks die Ursache für die erforderliche Beseitigung der Anlage gesetzt hat … Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese Billigkeitsklausel wird in der Praxis schlicht ins Leere laufen. ({6}) Es wird zu zahlreichen Prozessen kommen, die eine Klärung bezüglich Vorliegen einer unbilligen Härte herbeiführen sollen. Das bedeutet nicht nur eine zu erwartende Flut an entsprechenden Klagen, sondern gefährdet auch den inneren sozialen Frieden in den betroffenen Gebieten, den Sie mit diesem Gesetzentwurf gerade fördern wollen. ({7}) Auch diese Ausnahmeregelung führt nicht zu einem angemessenen Interessenausgleich. Schon nach jetziger Rechtslage sind die Nutzer im Verhältnis zu anderen privilegiert. Das Tragen der hälftigen Abbruchkosten tritt erst ab dem 3. Oktober 2022 ein. Dies war schon während der Gesetzesberatungen 1994 lediglich ein Kompromiss. Hinzuweisen ist auch auf den vielfach stattgefundenen Nutzerwechsel in den vergangenen Jahren. In Bezug auf die neuen Nutzer besteht erst recht kein Handlungsbedarf. Gerade diese konnten sich auf die aktuelle und geltende Rechtslage bestens einstellen. Wir haben natürlich alle im Vorfeld unserer parlamentarischen Beratungen viele Gespräche zu diesem nicht einfachen Thema geführt, auch mit Nutzerinnen und Nutzern. Hier gibt es interessante Aussagen, die man sich durchaus anhören sollte. Es gibt durchaus Nutzer - und das sind nicht wenige -, die, sei es aus Alters- oder aus wirtschaftlichen Gründen, ein erhebliches Interesse daran haben, dass das Nutzungsverhältnis jetzt beendet wird. Bei einer eigenen Kündigung müssten sie sich nach der geltenden Rechtslage an den Abrisskosten beteiligen. Werden sie allerdings vom Eigentümer nach dem 3. Oktober 2015 gekündigt, trägt der Nutzer nach der jetzigen Rechtslage keine Abbruchkosten. Mit der vom Bundesrat vorgeschlagenen Billigkeitsklausel könnte dies jedoch auf einmal der Fall sein. Insbesondere drohen zusätzlich ungewollte Gerichtsprozesse, die zeitaufwendig und teuer werden, um in diesen Fällen das Vorliegen einer unbilligen Härte feststellen zu lassen. Das ist insoweit eine klare Schlechterstellung im Vergleich zur bisherigen Rechtsprechung. Sie tun demnach mit diesem Gesetzentwurf vielen Nutzerinnen und Nutzern keinen Gefallen. Zuletzt sollte man - es ist schon darüber gesprochen worden - noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass wir auch starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs haben. ({8}) Wir haben hier einen sehr hohen Eingriff in das Eigentumsrecht nach Artikel 14 Grundgesetz, durch den die soziale Bindung des Eigentums massiv gedehnt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich vor 16 Jahren, 1999, in einer Entscheidung bereits mit dem Gesetz befasst. Es hat damals klar zum Ausdruck gebracht, dass die Kündigungsschutzregelungen, insbesondere die Einschränkungen des Kündigungsschutzrechts durch den Eigentümer, bis zu dem heutigen Zeitpunkt gerade noch mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Privatnützigkeit und Verfügungsfreiheit des Eigentums vereinbar sind. Daraufhin sind abgestufte Kündigungsmöglichkeiten in Kraft getreten; Kollegin Barley hat darauf hingewiesen. Weiterhin hat das Bundesverfassungsgericht verfassungskonforme Auslegungen angemahnt. Wenn man dies im Zusammenspiel mit den im Gesetzentwurf geplanten Abbruchkostenregelungen sieht, ist aus unserer Sicht erkennbar, dass ein solches Gesetz nicht verfassungsgemäß wäre. Wir können auch daher nicht zustimmen. Im vergangenen Jahr haben wir das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls gefeiert. 2015 jährt sich auch die deutsche Wiedervereinigung zum 25. Mal. Die Übergangsregelungen waren richtig und notwendig, doch irgendwann ist es weder sachgerecht noch zeitgemäß, die Herstellung der Rechtseinheit zu blockieren. ({9}) Aus den vorgenannten Gründen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Vielen Dank. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als am 20. September 1990 der Einigungsvertrag durch Volkskammer und Deutschen Bundestag angenommen wurde, haben wohl nur die wenigsten Datschenbesitzer in der ehemaligen DDR darüber nachgedacht, wem das kleine Stück Land gehört, auf dem sie ihre Feierabend- oder Wochenendidylle geschaffen hatten. Noch weniger dieser Datschenbesitzer werden sich ausgemalt haben, dass die Frage sie auch noch über das Jahr 2015 hinaus beschäftigen wird. Die Eigentumsordnungen von DDR und Bundesrepublik waren und sind nicht leicht zusammenzuführen. Im Grundgesetz und im Bürgerlichen Gesetzbuch ist das Eigentumsrecht als starke individuelle Rechtsposition ausgestaltet. Dies kann man von den in der Rechtsordnung der damaligen DDR vorherrschenden Eigentumsvorstellungen nicht gerade sagen. Vorrang hatte nach der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik immer das sozialistische Eigentum. Alle anderen Eigentumsformen mussten sich dem unterordnen. ({0}) Die Erbauer der Datschen hatten das Grundstück, auf dem ihr kleines Wochenendhaus stand, in der Regel nicht eigentumsrechtlich erworben, sondern lediglich zur Nutzung überlassen bekommen. Das bedeutete im real existierenden Sozialismus jedoch eine de facto eigentumsrechtliche Stellung. Im Vertrauen auf den Fortbestand des Sozialismus oder zumindest der DDR haben sie daher mitunter viel Mühe und vergleichsweise hohe Investitionen in ihre Wochenendhäuser gesteckt. Mit der Einheit wurde dieses stark ausgeprägte Nutzungsrecht, zumindest aus der Perspektive des BGB, vom Kopf auf die Füße gestellt. Der Eigentümer einer Sache oder eines Grundstückes konnte jetzt mit diesem grundsätzlich so verfahren, wie es ihm beliebt. Den Übergang von der starken Stellung des Nutzungsrechts hin zum übergeordneten Eigentumsrecht zu vollziehen, ist Aufgabe des Schuldrechtsanpassungsgesetzes von 1994. Der dort vorgesehene Kündigungsschutz in § 23 endet allerdings am 3. Oktober 2015. Dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates liegt die Befürchtung zugrunde, dass mit dem Ablauf der Kündigungsschutzfrist viele Eigentümerinnen und Eigentümer von ihrer Kündigungsmöglichkeit Gebrauch machen werden und damit auf die Datschenerrichter die von ihnen als ungerecht empfundene Kostentragungspflicht zukommen könnte. Entschließt sich nämlich der Eigentümer nach der Beendigung des Nutzungsverhältnisses zur Beseitigung des einst vom Nutzer errichteten Gebäudes, so kann er von diesem unter bestimmten Voraussetzungen die Hälfte der Abbruchkosten verlangen. Die besondere Kündigungsschutzfrist soll um drei Jahre bis zum 31. Oktober 2018 verlängert werden, und die Pflicht des Nutzers zur Übernahme der Abbruchkosten soll generell nur noch auf Härtefälle, sogenannte grobe Unbilligkeiten, beschränkt sein. Da fragt man sich natürlich schon, ob das nicht zu mehr Rechtsunsicherheit führt als bisher. ({1}) Was ein Härtefall und was eine Unbilligkeit ist - da muss ich dem Kollegen von der Union recht geben -, werden wohl in der Regel erst die Gerichte entscheiden müssen. Eine ausgewogene Regelung zu haben, die die Rechte und Pflichten der Eigentümer und Nutzer gut ausbalanciert, ist zweifelslos erstrebenswert. Jedoch muss man sich auch bewusst sein, dass es nicht möglich ist, sowohl Eigentümer - in dem Fall häufig die Kommunen - als auch Nutzer zu begünstigen. Eine endgültige Regelung wird zwangsläufig irgendwann irgendjemand belasten. Die Frage ist nur, wann dieser Zeitpunkt eintreten soll. Es ist ja richtig, dass den hohen finanziellen Aufwendungen bei der Datschenerrichtung Rechnung getragen werden muss. Deswegen gibt es ja das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Die Nutzer werden aber auch in drei Jahren höchstwahrscheinlich noch dieselben sein. Es stellt sich dann die Frage, wie oft die Frist in Zukunft erneut verlängert werden muss, um den getätigten Investitionen der Nutzer ordnungsgemäß Rechnung zu tragen. Es ist wichtig, eine endgültige Regelung zu schaffen, auf die sich die Datschennutzer einstellen können, um Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu schaffen. Die verschiedenen Fristen, die für die Frage der Übernahmepflicht von Abbruchkosten gelten sollen, sind in der Tat nur für Spezialisten aus dem Gesetz herauszulesen. Hier wäre durchaus mehr Rechtsklarheit wünschenswert. Wir werden diesen Fragen in den anstehenden Ausschussberatungen nachgehen und prüfen, ob der hier vorgelegte Vorschlag wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Aber die Härte, mit der die Union den Gesetzentwurf heute an dieser Stelle ablehnt, überrascht mich schon ein bisschen; denn die Bundesregierung hat dem Gesetzentwurf des Bundesrates eine Stellungnahme beigefügt, in der eigentlich eine relativ offene Position vertreten wird. Dort wird zumindest betont: Die Bundesregierung ist sich des Stellenwertes bewusst, den diese der Erholung dienenden Grundstücke im Beitrittsgebiet für die Nutzerinnen und Nutzer haben. Die Grundstücke wurden mit hohem finanziellem und persönlichem Einsatz bebaut und gepflegt. Dem Interesse der Nutzerinnen und Nutzer am Fortbestand dieser Nutzungsverhältnisse stehen die schutzwürdige Rechtsposition der Grundstückseigentümerinnen und -eigentümer … gegenüber. Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung prüfen, ob und inwieweit dem Begehren … Rechnung getragen werden kann. Ich frage Sie an dieser Stelle, ob das alles schon erledigt ist und Sie sich schon entschieden haben. So hat es sich vorhin jedenfalls angehört. Wir werden die Sache jedenfalls noch einmal ergebnisoffen prüfen. Vielen Dank. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Stefan Zierke, SPD-Fraktion. ({0})

Stefan Zierke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004453, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Reiseverhalten hat sich geändert. Da gebe ich Ihnen recht. Ich möchte Ihnen auch erläutern, wie es sich gerade hier in diesem Bereich geändert hat. Früher sind viele aus Sachsen, Thüringen und dem heutigen Sachsen-Anhalt zu Campingplätzen nach Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gefahren, um dort Erholung zu finden. Sie haben dort Dauercampingplätze - damals mit Verträgen aus der DDR - gemietet und konnten da das ganze Jahr lang Urlaub machen. Das Reiseverhalten hat sich geändert. Heute kommen deren Kinder auf diese Campingplätze. Wie ist die Situation heute auf den Campingplätzen? Das Reiseverhalten hat sich so geändert, dass meistens die Kinder wirklich dorthin reisen, wo ihre Eltern Urlaub machten. So finden sie heute auf unseren Campingplätzen eine Zweiklassengesellschaft vor. Es gibt nämlich die Dauercampingplatzbesitzer, die diesen Dauercampingplatz zu DDR-Recht, zu DDR-Mark und zu DDRKonditionen erworben haben, und es gibt die Dauercampingplatzbesitzer, die ihn nach neuem Recht, nach dem BGB, gemietet haben: schnell kündbar und zu anderen Konditionen. ({0}) - Ja, Sie rufen „Datschen“ herein, liebe Kollegin von den Linken; da müssen Sie einmal genau schauen. Auch diese Campingplätze sind im Sinne des Gesetzes „Datschen“. Ich will nur die Betroffenheit in diese Richtung lenken, damit Sie wissen, wem Sie mit diesem Gesetz auch wehtun. Diese Datschen - ich nenne es jetzt Datschen; die Kollegen wissen ja, dass wir über Dauercampingplätze reden ({1}) sind der Punkt, an dem Ungerechtigkeit herrscht und keine Rechtssicherheit besteht. Campingplätze müssen eigenwirtschaftlich geführt werden, sie sind im kommu7848 nalen Besitz, sie sind in privatem Besitz. Die Campingplatzbesitzer wissen, dass sie nach 25 Jahren mit diesen Dauercampingplätzen neu wirtschaften können. Für Sie zur Information: Dauercampingplätze sind kleine Grundstücke, auf denen kleine Wagen stehen. Zugleich kann man die Infrastruktur des Campingplatzes nutzen: Toilette, Sicherheit, Bäder - all diese Einrichtungen. Dauercampingplatzbesitzer, die noch unter dieses Gesetz fallen, bezahlen heute im Durchschnitt 100 Euro. Dauercampingplatzbesitzer, die nicht unter dieses Gesetz fallen, zahlen circa 1 000 Euro. Das heißt also: Die eine Gruppe subventioniert für die andere Gruppe all die genannten Einrichtungen. „Ist das gerecht?“, frage ich jetzt die Linke. Ich finde, es ist nicht gerecht und auch nicht rechtssicher. ({2}) Was soll man einem Campingplatzinhaber sagen? Bis heute war das Recht, dass er eine Investition tätigen konnte. Er konnte überlegen: Okay, bis zu dem Zeitpunkt ist Rechtssicherheit durch Bundesgesetz gegeben, und dann kann ich neu verhandeln. - Wenn wir dem Gesetzentwurf zustimmen, sagen wir: Lieber Campingplatzbesitzer, Pustekuchen, wir verlängern noch einmal drei Jahre. Drei weitere Jahre finanzieren die einen die anderen mit. Jetzt zur Betroffenheit. Wir können gemeinsam zu einem Campingplatz gehen und zwei Campingstellplätze ähnlicher Couleur betrachten. ({3}) - Richtig, danke schön der Kollegin von den Grünen: Das ist Zweiklassengesellschaft. - Wir können zusammen auf den Campingplatz gehen und uns fragen, ob es gerecht ist, dass das gut situierte Rentnerpaar für den Campingplatz 100 Euro im Jahr bezahlt und die vierköpfige Familie mit einem Einkommen, die sich davon Urlaub leistet, 1 000 Euro bezahlt. Ist das gerecht, dass die vierköpfige Familie 1 000 Euro zahlt und das Rentnerpaar 100 Euro? Wenn Sie der Meinung sind, dass das gerecht ist, dann müssen wir das Gesetz ändern. Wenn Sie der Meinung sind, dass es nicht gerecht ist, sollten Sie in dem Fall die Finger davon lassen und damit Rechtssicherheit herstellen, Betriebswirtschaftlichkeit für Campingplätze sichern und Gerechtigkeit im Blick auf das Reiseverhalten der ostdeutschen Bürger wiederherstellen. Dann wären wir zusammen. Das wäre die Lösung. Vielen Dank. ({4})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hinter dem Titel „Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes“ verbirgt sich in der Tat die rechtliche Abwicklung von Tausenden Wochenend- oder Datschengrundstücken auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Es geht aber um viel mehr als nur um Freizeitgrundstücke. Es geht bei der heutigen Debatte um zwei zentrale Fragen der Rechtspolitik. Diese möchte ich aufzeigen. Die erste Frage ist: Wie geht der Gesetzgeber im Eigentumsgrundrecht mit dem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch des Nutzers auf weitere Nutzung und dem Wunsch des Eigentümers auf wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks um? Die zweite Frage ist: Wie gelingt es uns im Jahre 25 nach Vollendung der deutschen Einheit, Rechtssicherheit und Rechtseinheit in einem Bereich zu erlangen, in dem sie noch nicht erlangt wurden? ({0}) Ich verhehle nicht, dass im Bereich der Datschengrundstücke die Lebenswirklichkeit der ehemaligen DDR abgebildet wurde. Aber zur rechtlichen Lebenswirklichkeit der DDR gehörte auch eine sozialistisch orientierte Bodenpolitik, die durch den Einigungsvertrag revidiert wurde. Es ging darum, sozialistische Bodenverhältnisse in Verhältnisse des bürgerlichen Rechts zu überführen. Dies ist ein wichtiges Ziel. ({1}) Die lange Kündigungsfrist von 25 Jahren dient dazu, diesen Übergang sozial abgemildert und in Form eines Interessenausgleichs zwischen allen Beteiligten zu ermöglichen. Der Bundestag selbst hat sich in den vergangenen Legislaturperioden mit diesen Kündigungsfristen beschäftigt. Der Bundestag hat sich sehr wohl Gedanken über die Frage gemacht: Wie kann dieses Spannungsverhältnis aufgelöst werden? - Die getroffene Regelung, die einen Kündigungsschutz von 25 Jahren nach der deutschen Einheit vorsieht, ist eine sehr gute Regelung. Ich meine, das ist eine Regelung, an der wir nichts ändern sollten. Das Verfassungsgericht hat selbst gesagt: Die Kündigungsfristen dürfen nicht überspannt werden. Mit Ihrer Regelung überspannen Sie diese Kündigungsfristen. Es gibt, meine Damen und Herren, auch keinen sachlichen Grund, ausgerechnet drei Jahre anzunehmen. Wieso nicht zwei oder vier Jahre? ({2}) Wenn man neun Monate vor Ablauf einer Frist ohne sachlichen Grund durch eine rechtliche Regelung in bestehende Rechtsverhältnisse eingreifen will, dann führt das zu Rechtsunsicherheit. Das ist mit uns nicht zu machen. ({3}) Auch die Neuregelung bei den Abbruchkosten weckt juristische Bedenken. Die bisherige Regelung sieht eine Art Schutzfrist von 32 Jahren vor; das ist, wie ich meine, eine ausreichende und ordentliche Frist. Sie müssen sich vor Augen führen, dass das bürgerliche Recht eine absolute Verjährungsfrist von 30 Jahren vorsieht. Hier haben Sie sogar eine Kostentragungspflicht von 32 Jahren. Warum wollen Sie noch weiter über diese Frist von 30 Jahren hinausgehen? Das ist mit Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. Sie setzen unbestimmte Rechtsbegriffe an die Stelle einer klaren Regelung. Wer soll denn entscheiden, was „angemessen“ bedeutet? Wer soll entscheiden, was „grobe Unbilligkeit“ ist? Das sind Fragen, die Sie den Gerichten anheimstellen. Sie treiben so die Bürger der ehemaligen DDR, die ein entsprechendes Grundstück haben, in Gerichtsverfahren. Sie schaffen für diese Bürger Rechtsunsicherheit. Das hat mit sozialem Frieden und mit deutscher Einheit nichts zu tun. Sie spalten; Sie führen nicht zusammen. ({4}) Meine Damen und Herren, die Verwirklichung der deutschen Einheit im Bereich des Zivilrechts ist ein Stein im Gesamtgefüge der gelungenen Geschichte der deutschen Wiedervereinigung der letzten 25 Jahre. Wir sollten in den Bereichen, zum Beispiel im Zivilrecht, in denen es Rechtsunterschiede gibt, diese Unterschiede aufheben und zu einer einheitlichen Regelung kommen. Diesem Anspruch trägt der Gesetzentwurf nicht Rechnung. Deswegen werden wir ihn ablehnen. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 18/2231 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes Drucksache 18/3785 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes Drucksache 18/3563 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Redner für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann. - Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Landesminister, schön, dass Sie auch einmal an einer Debatte des Deutschen Bundestages teilnehmen. ({0}) Wir bringen als Bundesregierung heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes ein. Bevor wir uns nachher wahrscheinlich wie die Kesselflicker um das Geld streiten, möchte ich für die vielen Zuschauerinnen und Zuschauer ein wenig erläutern, worum es bei dem Regionalisierungsgesetz inhaltlich geht. Im vergangenen Jahr haben wir das 20-jährige Jubiläum der Bahnreform gefeiert. Die Bahnreform war - das lässt sich wohl ohne Übertreibung behaupten - eines der größten Reformprojekte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Neben der Änderung des Grundgesetzes wurden damals sieben neue Gesetze erlassen sowie sage und schreibe 130 weitere Gesetze geändert. Inhaltlich fußte die Bahnreform auf drei Grundprinzipien: Umwandlung von Bundes- und Reichsbahn in eine privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des Bundes, die DB AG, Schaffung eines diskriminierungsfreien Zugangs zum Eisenbahnnetz für private Eisenbahnunternehmen, die sogenannte Öffnung des Marktes, und Übertragung der Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr auf die Bundesländer, einschließlich der finanziellen Verantwortung, die sogenannte Regionalisierung. Die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre hat gezeigt, dass sich dieser politische und organisatorische Kraftakt wahrlich gelohnt hat. Nach Jahren des Niedergangs mit kontinuierlich sinkenden Marktanteilen erlebt der Schienenverkehr seitdem einen enormen Aufschwung. Ohne die anderen Teile der Bahnreform geringschätzen zu wollen, behaupte ich, dass die Übertragung der Planungs-, Organisations- und Finanzierungsverantwortung für den Schienenpersonennahver7850 kehr auf die Bundesländer zum 1. Januar 1996 und die Schaffung einer finanziellen Grundlage durch die Regionalisierungsmittel zentrale Elemente der Erfolgsgeschichte der Bahnreform sind. ({1}) Aus dem Mineralölsteueraufkommen des Bundes erhalten die Länder seitdem auf Grundlage des Regionalisierungsgesetzes jährliche Beiträge zur Finanzierung der Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr, die sie aber zum Teil auch investiv zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs einsetzen können. Allein im Zeitraum von 2008 bis 2014 erhielten die Länder auf diesem Weg knapp 50 Milliarden Euro. Allein 2014 flossen insgesamt rund 7,3 Milliarden Euro vom Bund an die Länder - eine sagenhafte Summe. Der Bund schafft also die Voraussetzungen, indem er die finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Auf Landesebene bzw. in der Region wird dann entschieden, wie diese Mittel sinnvoll eingesetzt werden können, wie der öffentliche Verkehr vor Ort, in der Region oder auch länderübergreifend bedarfsgerecht gestaltet werden kann. Darüber hinaus wird die Verwendung der Mittel über die Transparenznachweise ({2}) - na ja, im weitestgehenden Sinne sind es Transparenznachweise -, die die Länder seit 2008 erbringen, belegt. ({3}) Meine Damen und Herren, die durch die Regionalisierung eingeführte Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern hat sich bewährt. Die Zugkilometer im Schienenpersonennahverkehr konnten um über 28 Prozent und die Verkehrsleistung in Personenkilometern um über 50 Prozent gesteigert werden. Besseres Material, neue Fahrzeugflotten sowie integrierte Taktfahrpläne haben zudem dafür gesorgt, dass es beim Komfort und bei der Qualität des Angebots einen Quantensprung gegeben hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung - das betone ich ausdrücklich - hat ein elementares Interesse daran, die mit der Regionalisierung verbundene Erfolgsgeschichte weiter fortzuschreiben. Zum einen ist und bleibt ein bedarfsgerechtes Angebot im Schienenpersonennahverkehr ein zentrales Element der Daseinsvorsorge, zu dem sich die Bundesregierung ganz ausdrücklich bekennt. Zum anderen ist ein bedarfsgerechtes Angebot im Schienenpersonennahverkehr auch aus ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten ein Gebot der Stunde. Unsere Gesellschaft und auch das Mobilitätsverhalten der Menschen haben sich deutlich verändert. Von den Menschen wird heute mehr berufliche Mobilität erwartet, gleichzeitig können und wollen viele Menschen diesen gesteigerten Erfordernissen nicht mehr ausschließlich mit dem Auto nachkommen. Deswegen ist ein attraktiver Schienenpersonennahverkehr in den Ballungsräumen und genauso natürlich in der Fläche ein unverzichtbarer Bestandteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Um die Mittel auf den zukünftig zu erwartenden Bedarf ausrichten zu können, ist gemäß § 5 Absatz 5 Regionalisierungsgesetz für den Zeitraum ab 2015 eine Neufestsetzung vorgesehen. Diese anstehende Revision der Regionalisierungsmittel tangiert nach Auffassung der Bundesregierung aber auch in erheblichem Maße die Bund-Länder-Finanzbeziehungen auf grundsätzliche Art und Weise. Daher ist die Bundesregierung der Auffassung, dass diese Revision im Rahmen der Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen beraten und beschlossen werden soll. Mit der heutigen Vorlage eines Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes sollen die bisher geltenden Regelungen des Gesetzes um ein Jahr fortgeschrieben werden. Damit ist sichergestellt, dass die Mittel auch 2015 um 1,5 Prozent dynamisiert werden. Den Ländern steht unter diesen Voraussetzungen für 2015 insgesamt ein Betrag von rund 7,4 Milliarden Euro zu. Das sind rund 100 Millionen Euro mehr, als ursprünglich im Haushaltsgesetz 2015 vorgesehen. ({4}) Die Bundesregierung demonstriert damit ihre Bereitschaft, den schienengebundenen Personennahverkehr weiterhin bedarfsgerecht auszustatten, ohne den laufenden Beratungen und Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen entscheidend vorgreifen zu wollen. Nun hat auch der Bundesrat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dazu kann man sagen: Wenn ich unter den Bundesländern Streit über die Verteilung der Mittel habe, ist es einfach, dem Bund links tief in die Tasche zu greifen und rechts tief in die Tasche zu greifen, sodass alle mit dem Mehr, was verteilt wird, zufrieden sind. ({5}) Das ist nicht besonders intelligent. Für die Länder ist es vielleicht gut, aber es ist sehr teuer für den Bund. Von daher werden wir das Problem so nicht lösen können. Gleichwohl wollen wir uns gerne an den Diskussionen beteiligen. Ich hoffe, dass wir den Entwurf, den wir vorgelegt haben und der ein gutes Gesetz beinhaltet, zügig im Parlament beraten, damit die Verkehrsdienstleister in diesem Jahr das ihnen zustehende Geld und auch die Erhöhung der Mittel bekommen. Ich hoffe auch, dass wir in diesem Jahr eine Regelung finden, die eine dauerhafte Finanzierung des schienengebundenen Personennahverkehrs in Deutschland zur Freude aller Beteiligten sicherstellt. Vielen Dank. ({6})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Sabine Leidig, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir reden heute über die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs. Das ist ein wirklich bedeutender volkswirtschaftlicher Sektor: Ein Drittel der Bevölkerung nutzt täglich Bus oder Bahn, und 500 000 Beschäftigte sind im Einsatz, damit die Bürgerinnen und Bürger auf diese Weise mobil sein können. Hohe Lebensqualität in den Städten, Klimaschutz und Mobilität für alle sind Ziele, die nur mit mehr und besserem ÖPNV erreicht werden können. ({0}) Eine ganz wesentliche Säule zur Finanzierung sind die Regionalisierungsmittel, über die jetzt hier gestritten wird, die der Bund an die Länder überweist und die sie insbesondere - das ist im Gesetz so festgelegt - für den Schienennahverkehr zu verwenden haben. 20 Jahre lang galt das Regionalisierungsgesetz fast unverändert. Es ist 2014 planmäßig ausgelaufen. Jetzt ist immer noch unklar, wie es weitergehen soll. Die ganze künftige Finanzierung des ÖPNV ist unsicher. Ich finde, dies ist ein echtes Armutszeugnis für den amtierenden Verkehrsminister Dobrindt, aber auch für seinen Vorgänger Herrn Ramsauer. Sie haben sich wahlweise mit Nummernschildern, mit Flensburg-Punkten oder mit einer Ausländermaut beschäftigt, aber diese zentrale verkehrspolitische Aufgabe haben Sie bis heute nicht gemeistert. ({1}) Die Beschäftigten, die Kommunen und rund 11 Milliarden Fahrgäste pro Jahr erwarten eine dauerhafte und auskömmliche Finanzierung des gesamten ÖPNV, und das mit Recht. Die Bundesländer haben einen Vorschlag vorgelegt, wie die Verteilung der Mittel sinnvoller organisiert werden kann, und das ist gut so. Der große Streit zwischen Bund und Ländern geht allerdings um die Erhöhung der Regionalisierungsmittel und um die Zuverlässigkeit. Darüber werden die anwesenden Minister sicherlich gleich noch mehr erzählen. Nur so viel: Die Regierung will 7,4 Milliarden Euro zahlen - das haben Sie gerade gesagt -, aber in dem Gutachten, dass der Bund selber in Auftrag gegeben hat, wird ein Bedarf von 7,7 Milliarden Euro festgestellt. Das sind 300 Millionen Euro mehr. Die Länder weisen in ihrem Gutachten nach, dass 8,5 Milliarden Euro nötig sind, damit die Preissteigerungen ausgeglichen werden können und Geld für dringend notwendige Investitionen da ist. Mit diesen Fragen werden wir uns in der Anhörung im Verkehrsausschuss am 23. Februar dieses Jahres intensiv beschäftigen. Wir als Linke sind der Meinung: Das reicht nicht. Mehr Geld ist notwendig. Es ist nötig, dass Geld in den Regionen vorhanden ist, damit der Schienenverkehr erhalten und ausgebaut werden kann. Aber wir brauchen auch Qualitätsstandards und -kriterien für einen guten öffentlichen Nahverkehr für alle und dafür, wie gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten verankert werden können. ({2}) Die Allianz pro Schiene hat eine schöne Broschüre veröffentlicht, in der sie 13 Beispiele für im Nahverkehr sehr erfolgreiche Bahnen vorstellt. Darin werden die Zutaten für Erfolgsrezepte ganz explizit genannt: Investitionen in Haltestellen, Gleise und Bahnhöfe, ein dichter Fahrplan, gute Anschlüsse, hochwertige Fahrzeuge, einfache Preis- und Tarifsysteme, Kundenorientierung, regionale Verankerung der Unternehmen und - das möchte ich ergänzen - gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Daran sollte die Politik anknüpfen und solche Qualitätsstandards vereinbaren, wenn wieder über die Regionalisierungsmittel gesprochen wird. ({3}) Schließlich möchte ich noch etwas zu der Frage, woher das Geld kommen soll, sagen. Ich teile ja nicht das Mantra von der sogenannten Schwarzen Null. Denn wenn Sie heute nicht die U-Bahn-Tunnel in Berlin sanieren, weil Geld gespart werden soll, dann werden Sie in 10 oder 20 Jahren gar nicht mehr U-Bahn fahren können, weil das ganze System abrissreif ist. Allerdings könnten Sie auch einfach mehr Geld einnehmen. Herr Schäuble verzichtet jedes Jahr auf 7 Milliarden Euro, weil Diesel und damit der Lkw-Verkehr steuerlich begünstigt werden. Hinzu kommen rund 10 Milliarden Euro, die nicht eingenommen werden, weil der Flugverkehr im Hinblick auf Kerosin und Mehrwertsteuer begünstigt wird. Warum das? Warum immer noch so viele klimaschädliche Subventionen? Das ist völlig unverständlich. ({4}) Die Linke steht für Umverteilen und Gerechtigkeit, auch im Verkehrsbereich. Deshalb schlagen wir vor, den Lkw- und Flugverkehr schrittweise so zu besteuern, wie es bei der Bahn schon heute der Fall ist, und zwar zugunsten von öffentlicher Mobilität, zugunsten von Umwelt- und Klimaschutz. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Landesminister von Schleswig-Holstein, Reinhard Meyer. Bitte schön. ({0}) Reinhard Meyer, Minister ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Bundestag liegen zwei Gesetzentwürfe zur Revision der Regionalisierungsmittel vor: der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Gesetzentwurf der Länder. Es wird Sie kaum verwundern, welchen Vorschlag ich für den besseren halte, nämlich den der Länder. Minister Reinhard Meyer ({2}) Die Länder haben dem Gesamtkompromiss zur Bahnreform vor mehr als 20 Jahren nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die mit der Regionalisierung verbundenen Lasten voll ausgeglichen werden. Dies ist aber schon lange nicht mehr der Fall. Besonders die Stationsund Trassenpreise der Deutschen Bahn AG steigen seit Jahren deutlich stärker als die Dynamisierung der Regionalisierungsmittel. Aus gutem Grunde beinhaltet das Regionalisierungsgesetz eine Revisionsklausel. So kann in regelmäßigen Abständen überprüft werden, ob die bisherigen Mittel noch auskömmlich sind. Seit 2008 - Herr Ferlemann hat darauf hingewiesen - liefern die Länder zudem Transparenznachweise. Deswegen geht der Vorwurf, der gelegentlich aus dem BMF zu hören ist, ins Leere: Wir als Länder legen alles offen. Die Länder haben sich frühzeitig mit der anstehenden Revision auseinandergesetzt. Sie haben in einem Gutachten transparent und nachvollziehbar dargestellt, welche Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland zukünftig zur Verfügung stehen müssen, damit Umfang und Qualität des Angebots erhalten bleiben. Ergebnis: Wir benötigen eine Aufstockung auf 8,5 Milliarden Euro jährlich. Um Planungssicherheit im Hinblick auf die langfristigen Verträge und Investitionen zu bekommen, brauchen wir eine Festschreibung dieser Mittel für die nächsten 15 Jahre sowie angesichts weiterer Kostensteigerungen einen jährlichen Aufwuchs um mindestens 2 Prozent. Darüber hinaus benötigen wir aber - das dürfte unser gemeinsames Interesse sein eine gemeinsame Anstrengung, um bei den Stations- und Trassenpreisen mehr Kosteneffizienz zu erreichen. Die Länder haben sich auch mit der horizontalen Verteilung intensiv befasst; denn wir wollen die Mittel den tatsächlichen Bedarfen anpassen. Dazu mussten einige Länder etwas abgeben, andere gewannen etwas hinzu. 16 berechtigte Einzelinteressen mussten in der Verkehrsministerkonferenz unter einen Hut gebracht werden. Deswegen sind wir als Verkehrsminister der Länder stolz darauf, dass es uns gemeinsam geglückt ist, als Kompromiss den sogenannten Kieler Schlüssel zu finden. Ich glaube, manche - auch von Ihnen hier im Bundestag haben immer darauf gehofft, dass die Länder sich nicht über den horizontalen Verteilungsschlüssel einigen werden; aber dies ist geschehen. Umso unverständlicher ist es, meine Damen und Herren, dass die Bundesregierung so lange braucht, um ihre Hausaufgaben zu machen. Die im Koalitionsvertrag versprochene zügige Einigung mit den Ländern hat leider nicht begonnen. Ein Gutachten des Bundes ließ lange auf sich warten, jetzt liegt es vor. Vielmehr beabsichtigt die Bundesregierung mit dem von ihr eingebrachten Gesetzentwurf, die Revision der Regionalisierungsmittel, wie ich es formulieren muss, ein wenig auf die lange Bank zu schieben und die Finanzierung des Nahverkehrs erst im Rahmen der Neuregelung der Bund-LänderFinanzbeziehungen neu zu ordnen. Ich sage sehr deutlich: Die Bahnreform hatte nie etwas mit der Bund-Länder-Finanzordnung zu tun. Es ist falsch, zu warten - das dauert auch zu lange -; denn die Länder brauchen jetzt Planungssicherheit. Wir reden bei den Regionalisierungsmitteln über eine Erfolgsgeschichte: Die Betriebsleistung im Schienenpersonennahverkehr wurde in 18 Jahren bundesweit von einst rund 490 Millionen auf heute 650 Millionen Zugkilometer gesteigert - ein Zuwachs um ein Drittel. Vor allem qualitativ hat sich einiges getan. Diese Erfolgsgeschichte der Regionalisierungsmittel sollte unbedingt fortgeschrieben werden. Stattdessen droht Folgendes: Einige Länder werden bald Verkehrsleistungen abbestellen müssen, wenn die nötigen Mittel nicht vorhanden sind. Viele Länder stehen zudem unmittelbar davor, neue langfristige Verkehrsverträge auszuschreiben. Aber wie soll das gehen ohne die notwendige Planungssicherheit? Eine Verschlechterung des Bahnangebots führt automatisch zu einer Verlagerung hin zum motorisierten Individualverkehr, gerade wenn die Benzin- und Dieselpreise so niedrig bleiben. Ich frage Sie: Wollen wir das? Ich sage ganz klar: Nein, meine Damen und Herren. ({3}) Der Bundesverkehrsminister verweist auf das BMF. Gleichzeitig hören wir, es soll in allen Zügen WLAN geben. Das können wir gerne machen, meine Damen und Herren - wenn es denn auch mehr Regionalisierungsmittel gibt. Insofern ist dieser Wunsch sicherlich ein gutes Argument, mehr Regionalisierungsmittel zur Verfügung zu stellen. Zum Thema „Schwarze Null“ muss ich sagen: Sie werden die Schwarze Null halten können, weil das, was hier finanziert wird, wie ursprünglich bestimmt, ja auch aus dem Energiesteueraufkommen bezahlt wird. Ich halte das für finanzierbar, auch was die Wünsche der Länder angeht. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass der bundesdeutsche Föderalismus immer dann stark ist, wenn er auf Kooperation setzt. Bei den Regionalisierungsmitteln liegen alle Fakten auf dem Tisch. Lassen Sie uns also sofort anfangen - ich sage: sofort -, miteinander zu reden, miteinander zu verhandeln! Wir Länder sind dazu bereit. Wir wollen die Erfolgsgeschichte des Nahverkehrs in Deutschland fortschreiben. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({4})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Landesminister Winfried Hermann, Baden-Württemberg. Winfried Hermann, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich nach dreieinhalb Jahren hier zum ersten Mal wieder sprechen darf. Es ist ein Minister Winfried Hermann ({1}) wichtiges Thema: Es geht nicht nur, wie angekündigt, um Länderinteressen, sondern es geht um die Zukunft des Schienenpersonennahverkehrs - um nicht mehr und auch nicht weniger. Es geht auch nicht darum, ob die Länder mehr Geld haben wollen, sondern es geht darum, wie viel Geld wir zur Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs einsetzen. Mein Kollege hat es soeben angesprochen: Die Bahnreform war insgesamt ein Erfolgsprojekt. Aber das größte Erfolgsprojekt der Bahnreform war die Regionalisierung, die Übertragung der Zuständigkeit für den Nahverkehr auf die Länder. Die Länder haben mit dem Geld, das über Jahre sehr auskömmlich vom Bund gekommen ist, ein gutes Angebot im Nahverkehr gemacht. Das hat dazu geführt, dass zunehmend mehr Menschen mit dem Zug zur Arbeit fahren, dass man also den ÖPNV wirklich nutzt. Wir haben bessere Züge, wir haben bessere Takte, es ist wirklich ein deutlich besseres Angebot als vor zwanzig Jahren. Deswegen können wir auch sagen: Wir haben einen großen Erfolg zu vermelden. Beispielsweise BadenWürttemberg hat 60 Prozent mehr Fahrgäste als noch vor 15 Jahren. ({2}) Alle Länder - Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, wo auch immer - können diese Belege vorweisen. Aber das ist natürlich nicht aus dem Nichts gekommen, sondern kommt daher, dass wir investiert und auskömmliche Mittel bekommen haben, um Züge zu bestellen. Genau das ist jetzt gefährdet. Das betrifft nicht nur den Bestand, sondern auch die Chance auf Ausbau. Auch der Bund bzw. auch diese Koalition will ja etwas für den Klimaschutz und zur Staubekämpfung tun. Wenn man dies will, dann muss man auch den öffentlichen Personennahverkehr, insbesondere den Schienenpersonennahverkehr, ausbauen. ({3}) Meine Damen und Herren, die Große Koalition, insbesondere der Finanzminister, verweist dieses Projekt immer in die Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Das ist, mit Verlaub, grottenfalsch. ({4}) In den 90er-Jahren ist die Bahnreform durchgeführt und zugleich das Grundgesetz geändert worden, und zwar unabhängig von den Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Man hat eine neue Zuständigkeit und eine neue Finanzierungsgrundlage geschaffen; ich verweise auf Artikel 106 a Grundgesetz. In diesem Zusammenhang ist der Bund verpflichtet, den Ländern eine auskömmliche Finanzierung zur Verfügung zu stellen. Das ist die Wahrheit, das ist der Punkt, um den es geht, und eben nicht um die Bund-Länder-Finanzbeziehungen. ({5}) Ich erspare mir jetzt verfassungsrechtliche Texte, die das noch einmal untermauern; aber ganz eindeutig ist der Bund verpflichtet, die Länder auskömmlich auszustatten. Dessen sind Sie sich ja durchaus bewusst. Nur, Sie pokern. Aber Sie pokern nicht gegenüber den Ländern, sondern Sie pokern gegenüber den Kunden des Nahverkehrs, gegenüber den Menschen, die im Alltag pendeln müssen. Die Züge sind übervoll oder müssen abbestellt werden. ({6}) Das, was der Bund jetzt den Ländern anbietet - eine Verlängerung der bisherigen Regelung um ein Jahr bei gleichen Bedingungen -, das ist für manche der Spatz in der Hand. Ich sage Ihnen aber: Das ist Spatzendreck in der Hand. Denn die Situation für die Länder ist ja völlig anders. Wir sind in einer ganz prekären Situation. Nur damit Sie sich das einmal klarmachen, beschreibe ich Ihnen die Situation in Baden-Württemberg - andere Länder haben vergleichbare Situationen -: Wir müssen im Laufe des nächsten Jahres im Volumen von etwa 10 Milliarden Euro Nahverkehrsnetze ausschreiben 10 Milliarden Euro! Wir müssen Verträge machen, die mindestens 8, 10, 15 Jahre laufen; denn Kurzverträge sind extrem teuer, sie würden uns und den Bund sehr teuer zu stehen kommen. Wir können doch jetzt nicht einfach die Ausschreibung abbrechen. Übrigens: Die CDU im Land treibt mich, dass ich noch schneller mache. Eigentlich müsste ich sagen: Stillhalten. Ich weiß gar nicht, ob ich Geld bekomme. Welche prekäre Situation haben Sie geschaffen, obwohl Sie seit 15 Jahren wissen, dass dieses Gesetz rechtzeitig hätte novelliert werden müssen! ({7}) Der Bund selbst ist sich offenbar gar nicht bewusst, was er tut. Denn auf der einen Seite sagen Sie, es ist rechtlich alles in Ordnung. Wir haben aber diese Woche vom Finanzministerium den Hinweis bekommen: Sie bekommen Geld, aber wir zahlen nur unter Vorbehalt. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden als Länder die DB unter Vorbehalt bezahlen. Dann würde die sagen: Pfeifendeckel, dann fahren wir nicht mehr! Also, welche Situation haben Sie geschaffen - das ist doch völlig absurd -, nur weil Sie pokern wollen, weil Sie glauben, wenn Sie alles in einen Topf schmeißen, werden Sie am Ende weniger bezahlen müssen! Aber das können die Länder nicht akzeptieren. Wir können das nicht puffern. Die Länder haben nicht die Möglichkeit, das auszufinanzieren, was Aufgabe des Bundes ist. Dazu sind wir nicht in der Lage. Minister Winfried Hermann ({8}) Das hat übrigens auch etwas mit den Kosten zu tun. ({9}) Beim Bund haben manche noch das Bewusstsein, es herrschten bei den Regionalisierungsmitteln die Zustände wie vor Jahren. Da war es so: Man hatte phasenweise auskömmlich viel Mittel. Aber dann sind im Rahmen der Koch/Steinbrück-Liste die Mittel über fünf Jahre gekürzt worden. Darunter leiden wir heute noch. Die Mittel sind schon lange nicht mehr auskömmlich. Wir haben Preissteigerungen beim DB-Infrastrukturunternehmen von fast 40 Prozent. Das, was wir zusätzlich bekommen haben, war deutlich weniger. Wir zahlen heute - das müssen Sie sich einmal vorstellen - 55 Prozent der Regionalisierungsmittel direkt an das DB-Unternehmen für Infrastruktur. Mit anderen Worten: Nicht die Länder greifen dem Bund in die Tasche, sondern die Länder finanzieren die Infrastruktur des Bundes. ({10}) Daraus nimmt der Bund übrigens in den letzten Jahren noch die Rendite für seinen Haushalt. Das ist die Wahrheit; so ist die Situation. ({11}) Wenn wir als Länder mit einem eigenen Gutachten belegen, was wir brauchen, dann tun wir das nicht, weil wir einfach mehr Geld wollen, sondern dann tun wir das, weil wir meinen, der Verkehr muss zukunftsfähig ausgebaut werden. Wir brauchen mehr Züge, bessere Züge, bessere Qualität, wenn wir in der Konkurrenz mit dem Auto mithalten wollen. Insofern haben die Länder einen guten und gut begründeten Gesetzentwurf vorgelegt, der übrigens nicht über die Maßen ausgestaltet ist. Übrigens: Der Vorschlag des Bundes wird noch nicht einmal mit dem eigenen Gutachten begründet. In dem eigenen Gutachten werden ja mehr Ausgaben gefordert, als der Bund uns vorschlägt. Meine Damen und Herren, Sie haben hier also noch einiges zu tun. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Länder können Ihr Angebot nicht annehmen. Wenn Sie wollen, dann werden wir das Vermittlungsverfahren suchen. Wir können aber auch gerne zusammen eine bessere Lösung finden. Ich sage Ihnen: Die Forderung von 8,5 Milliarden Euro nach 15 Jahren ist kein übergriffiger Wunsch, sondern gut begründet. Dass wir uns zusammengeschlossen und gesagt haben: „Wir verteilen unter den Ländern neu“, war solidarisch. Sie müssen wissen: Wir wollten nicht, dass Länder im Osten Züge abbestellen müssen. Das wäre die Konsequenz, wenn wir hierfür nicht mehr Mittel bekommen würden. Das ist eben so! Das Land Baden-Württemberg zahlt schon in diesem Jahr 100 Millionen Euro drauf, damit wir keine Züge abbestellen müssen. Verlangen Sie das einmal von armen ostdeutschen Ländern! Diese können dann nur Züge abbestellen. Wer also Verantwortung hat, der muss jetzt springen und endlich etwas für den Schienenpersonennahverkehr tun. Sie hatten jahrelang Zeit dafür. Mindestens zwei Koalitionen haben dieses Thema verpennt. Jetzt wird es allerhöchste Zeit. Regeln Sie das! Wir, die Länder, sind bereit. Wir wollen eine gute Lösung, und ich glaube, wir haben einen guten Vorschlag gemacht. Vielen Dank. ({12})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Dezember haben wir über die 20-Jahres-Bilanz der Bahnreform debattiert. In dieser Debatte hier knüpfen wir mit den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen unmittelbar an die Debatte im Dezember an. Auf die Inhalte der Reform ist ja schon hingewiesen worden: Die Verantwortung für den Schienenpersonennahverkehr ging vom Bund auf die Länder über. Sie war beim Bund ordnungspolitisch eigentlich immer falsch angesiedelt. Das hatte etwas mit der Bundesbahn als monopolistisches Unternehmen zu tun. Ich erinnere mich daran, dass schon Hans Matthöfer als Finanzminister gesagt hat, dass es eigentlich ein Unding sei, wie das geregelt ist. Das haben wir dann mit der Bahnreform korrigiert. ({0}) Aber natürlich haben die Länder die Verantwortung nicht ohne finanzielle Begleitmusik übernommen. Man muss für jeden Verständnis haben, der für seine Sache mit Leidenschaft eintritt, vor allem dann, wenn es darum geht, die finanziellen Mittel zu erhöhen. Viele sagen - das ist heute schon gesagt worden -, die Regionalisierung des SPNV sei im Ergebnis der erfolgreichste Teil der Bahnreform gewesen. Das sehe ich ähnlich, aber natürlich sehe ich noch weitere positive Effekte der Bahnreform. Die bestellten Zugkilometer im SPNV konnten bis heute um 28 Prozent und die Verkehrsleistung, also die Personenkilometer, um über 50 Prozent gesteigert werden. Nutzten vor 20 Jahren 4 Millionen Fahrgäste täglich die Nahverkehrszüge, so sind wir im Moment bei 7 Millionen. Das ist eine dynamische Entwicklung und eine höchst erfreuliche Steigerung. Die Veränderungen kommen bei den Fahrgästen an: verbesserte, ausgeweitete Angebote bei Bahnen und Bussen, vernetzte Taktsysteme, neue Strecken und Stationen, modernere Fahrzeuge, regional integrierte Tarifsysteme, ein verbesserter Service, kundengerechtere InformatioDirk Fischer ({1}) nen und inzwischen auch immer mehr elektronische und mobile Ticketangebote. Zur Finanzierung gibt der Bund einen hohen Milliardenbetrag aus, der jährlich um 1,5 Prozent gesteigert worden ist. So war die bisherige Regelung. Wir wissen, wo wir im Moment sind, nämlich bei 7,3 Milliarden Euro. Von der letzten Anpassung des Regionalisierungsgesetzes im Jahr 2008 bis 2012 hat der Bund hierfür insgesamt 34,5 Milliarden Euro ausgegeben. Dies ist aus Sicht des Bundes sicherlich ein sehr starkes Engagement in diesem Bereich. ({2}) Damit die Länder ihre Aufgaben als Besteller des Nahverkehrs auch zukünftig erfüllen können, brauchen sie natürlich weiterhin eine verlässliche finanzielle Unterstützung. Ich denke, in diesem Punkt sind wir uns alle einig. Natürlich sollte das Gesetz bis 2014 reformiert werden. Dazu ist es nicht gekommen, weil es im Bund-Länder-Finanzverhältnis mehrere Baustellen gibt. Auf der anderen Seite muss man natürlich auch sehen, dass der Finanzminister sagt, er müsse alles verhandeln. Der eine gibt hier mal nach, der andere ist dort weiter vorn. Auch andere zur Verhandlung stehende Dinge, die, Herr Kollege Hermann, genauso berechtigt sind, können von ihrer Entwicklung und von ihrer Verpflichtung her als besonders begründet dargestellt werden.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Lieber Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hajduk von Bündnis 90/ Die Grünen?

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jederzeit, natürlich.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Bitte schön, Frau Kollegin.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege Fischer, Sie kennen ja die äußerst positive Entwicklung in Form einer enormen Auslastung im öffentlichen Nahverkehr bei uns in Hamburg, aber auch - das ist dargestellt worden - in den anderen Regionen. Sie haben gerade gesagt: „Ich denke, wir sind uns da alle einig“, als Sie über die Entwicklung der Regionalisierungsmittel gesprochen haben. Darf ich diese Einigkeit so verstehen, dass Sie den Antrag der Länder plausibel finden? Darf ich Sie auch so verstehen, dass die schon abgelaufene Frist zur Anpassung des entsprechenden Gesetzes nahelegt, dass wir für die Entwicklung in diesem Bereich bei den Regionalisierungsmitteln schnell eine Zusage brauchen und dass vom materiellen Kern her eine deutliche Erhöhung angemessen ist?

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hajduk, natürlich hat der Bund die Forderung nach 8,5 Milliarden Euro nicht akzeptiert. Darüber wird jetzt verhandelt. Da muss ein Weg gefunden werden, sich zu verständigen. Die Länder haben gesagt - das hat der Staatssekretär dargestellt -: Wir wollen ein System, bei dem im Rahmen der horizontalen Prüfung niemand etwas verliert, sondern alle gewinnen. Dann hat man zusammengerechnet und ist auf die Zahl von 8,5 Milliarden Euro gekommen. Das kann aber aus der Sicht des Bundes nicht das Entscheidende sein, sondern der Bund muss seine eigene Position vertreten. Das wird in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern auch geschehen müssen. ({0}) - Dass wir als Verkehrspolitiker ein gutes und schnelles Ergebnis positiv bewerten würden, braucht man nicht zu unterstreichen. Aber die Verhandlungen müssen geführt werden. ({1}) Ich will darauf hinweisen, dass die Länder ihre Wünsche im Gesetzentwurf des Bundesrates formuliert haben; das haben wir zur Kenntnis genommen. Dabei ging es um die Anpassung des Betrags auf 8,5 Milliarden Euro, die Erhöhung der Dynamisierungsrate, die Übernahme des Risikos von Steigerungen der Stations- und Trassenpreise zusätzlich durch den Bund über die Dynamisierungsrate hinaus, eine Laufzeit der Neuregelung bis 2030 und die Vereinbarung einer notwendigen Revision im Jahre 2026. Ich denke, dass aus der Sicht des Bundes erhebliche finanz- und haushaltspolitische Bedenken gegen den Gesetzentwurf des Bundesrates bestehen. Für den Bund würde das eine jährliche Mehrbelastung von über 1 Milliarde Euro bedeuten, ein Betrag, bei dem die Dynamisierung noch gar nicht eingerechnet worden ist. Das würde die Finanzplanung des Bundes sicherlich ein bisschen durcheinanderbringen. ({2}) Die Länder sollten im Hinblick auf eine Einigung natürlich auch bedenken, dass der Bund in der Verantwortung steht, Haushalte ohne neue Schulden zu machen. Diese Vorgabe verfolgen wir alle mit großem Ernst, und dabei muss es bleiben. ({3}) Deswegen, Herr Minister Meyer: Kooperation ja, selbstverständlich; aber bitte immer in beide Richtungen und nicht nach dem Motto: Beim Geld hört die Freundschaft auf. Ich glaube, da müssen wir im Sinne von Geben und Nehmen vernünftig miteinander umgehen und uns aufeinander zu bewegen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll die Gültigkeit des bestehenden Gesetzes nur als eine Zwischenlösung um ein Jahr verlängert werden. Damit wird die notwendige Zeit gewonnen, um eine Dirk Fischer ({4}) langfristige Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten leben können. Außerdem erhöhen wir - das ist dargestellt worden - für 2015 auf der Grundlage der jetzigen Dynamisierungsrate von 1,5 Prozent die Mittel um 109 Millionen Euro. Ich kann den Ländern nur empfehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen. Diese Summe wäre für die Länder deutlich vorteilhafter, als auf die 109 Millionen Euro zu verzichten und damit, Herr Minister Hermann, die Not der Länder, die Sie beschrieben haben, durch Ihre Blockade noch zu verstärken. Deswegen kann ich nur sagen: Sagen Sie Ja zu einer Zwischenlösung. Dann haben wir Zeit und Raum, ({5}) um für eine gute und langfristige Lösung Verhandlungen zu führen: im Sinne des Bundes, der Länder und unserer Fahrgäste. ({6})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Sören Bartol, SPD-Fraktion. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es immer beeindruckend, wenn der Kollege Fischer als absolut Dienstältester in diesem Hause - er ist seit 1980 im Bundestag und hat die ganze Bahnreform mitgestaltet - eine Rede hält. Herzlichen Dank! Ihr habt euch damals gemeinsam sehr gut entschieden. Das war übrigens auch eine Meisterleistung zusammen mit den Ländern. Ihr habt damals eine gute Arbeit gemacht. ({0}) - Genau, da kann man auch mal klatschen. Der Beifall ist für dich, Dirk. Der Regionalverkehr auf der Schiene, meine Kolleginnen und Kollegen, ist für Millionen von Pendlern auf ihrem täglichen Weg zum Arbeitsplatz unverzichtbar. Regionalbahnen sichern die Anbindung des Umlands an die Ballungsräume. Sie entlasten die Straßen und sind damit auch aktiver Umwelt- und Klimaschutz. Regionalbahnen sichern auch die Erreichbarkeit von Regionen, in denen es keinen starken Fernverkehr gibt, und sind damit das unverzichtbare Rückgrat des öffentlichen Verkehrsangebots. Der öffentliche Nahverkehr ist eine staatliche Aufgabe der Daseinsvorsorge. ({1}) Genau so definiert es auch das Regionalisierungsgesetz, über dessen Novellierung wir heute beraten. Mit Bahnreform und Regionalisierungsgesetz - das wurde schon gesagt - ist die Verantwortung für die Finanzierung und Organisation des SPNV an die Länder übergegangen. Der Bund schafft die Grundlage, indem er den Ländern die Regionalisierungsmittel gibt. Das ist verfassungsrechtlich auch so verbrieft. Die Revision der Mittel hätte, so will es das Gesetz, schon zu Jahresbeginn 2015 erfolgen müssen. Die Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen laufen aber noch, und es zeichnet sich bisher auch zu den Regionalisierungsmitteln noch keine Einigung ab. Die Regionalisierungsmittel waren schon immer zwischen Bund und Ländern, Verkehrspolitikern und Haushältern heftig umstritten. In den 2000er-Jahren haben zwei Ministerpräsidenten zum Leidwesen aller Verkehrspolitiker Subventionen identifiziert und Kürzungspotenzial ausgemacht. Nach den Einschnitten 2007 und 2008 sind aber die Regionalisierungsmittel seit 2009 wieder gestiegen, mit dem Faktor 1,5 Prozent jährlich dynamisiert, und lagen 2014 bei 7,3 Milliarden Euro. Diese 7,3 Milliarden Euro hatte der Bundesfinanzminister im Haushalt 2015 ohne Dynamisierung schlicht fortgeschrieben. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf sichert zum einen die Rechtsgrundlage für 2015 und zum anderen die Dynamisierung um 1,5 Prozent. Ich finde, damit gehen wir einen kleinen, aber unverzichtbaren ersten Schritt. ({2}) Ich bin sicher, uns allen ist klar: Die grundlegende Revision ist damit nicht erledigt. Die vom Bund und von den Ländern vorgelegten Gutachten kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine Erhöhung der Mittel und eine höhere Dynamisierung erforderlich sind, wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung. ({3}) Ich füge hinzu: Die grundlegende Revision muss zügig erfolgen, um endlich Planungssicherheit zu schaffen. Es darf keine weitere Hängepartie geben. ({4}) Man muss auch wissen: Nur wenn der Bund die Regionalisierungsmittel weiter gewährt, kann er sicherstellen, dass die Länder weiterhin überall in Deutschland Züge auch für den Nahverkehr bestellen. Es ist auch die Verantwortung des Bundes, dass in allen Regionen - von Kiel bis München, von Köln bis Frankfurt an der Oder die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die wirtschaftliche Entwicklung gesichert werden. Ein leistungsfähiger Nahverkehr ist dafür unverzichtbar. Die Regionalisierungsmittel sind deshalb mehr als eine finanzpolitische Verschiebemasse. Deswegen ist mein Appell an alle Beteiligten auf Bundes-, aber auch auf Länderseite: Suchen wir endlich einen Weg für eine Lösung bei den Regionalisierungsmitteln unabhängig von den Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzen. ({5}) Die Länder haben schon im letzten Jahr einstimmig einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Erhöhung auf 8,5 Milliarden Euro, eine Dynamisierung um 2 Prozent und die Übernahme der Trassen- und Stationspreise durch den Bund vorsieht. Das ist sehr leicht, wenn andere bezahlen müssen - das wurde schon mehrfach gesagt -, und selbstverständlich müssen wir darüber noch reden. Aber, Kollege Ferlemann, in schwierigen Diskussionen haben sich die Länder auch auf eine Neuverteilung der Mittel untereinander geeinigt. Bei allem, was man vielleicht auch lustig gemeint sagen kann, finde ich: Das verdient große Anerkennung. ({6}) Denn der sogenannte Kieler Schlüssel berücksichtigt sowohl die Region mit deutlich gestiegener Verkehrsnachfrage als auch den Bestandsschutz in Regionen mit sinkender Bevölkerungszahl. Jetzt liegt uns auch das Gutachten im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums vor, das einen Bedarf von 7,7 Milliarden Euro und eine Dynamisierung um 2,7 Prozent ermittelt hat, um auch Trassen- und Stationspreise zu berücksichtigen. Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Rat dieser Fachexperten sollte uns helfen, zügig über die zukünftige Höhe der Regionalisierungsmittel zu verhandeln und zu entscheiden. Wichtig ist doch am Ende, dass wir in Deutschland weiterhin einen guten Nahverkehr haben. Seit der Bahnreform und der Regionalisierung des SPNV haben Regionalzüge massiv an Attraktivität und deutlich messbar Fahrgäste hinzugewonnen; das wurde schon gesagt. So ist bei den Zugkilometern eine Zunahme von 28 Prozent und bei der Verkehrsleistung, also bei den Personenkilometern, sogar eine Zunahme von über 50 Prozent zu verzeichnen. Unverzichtbar für diesen Erfolg ist eine gesicherte Finanzierungsgrundlage. Bund und Länder sind aufgefordert, sich schnell zusammenzusetzen und sich endlich zu einigen. Ansonsten bekommen wir sehr große Probleme in diesem Land. Vielen Dank. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Eckhardt Rehberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Herr Minister Meyer, der Koalitionsvertrag hat zwei Teile. Der eine Teil besagt, dass wir sobald wie möglich - eigentlich schon 2014 - eine zügige Einigung mit den Ländern bei der Revision der Regionalisierungsmittel anstreben. Der zweite Teil besagt: Um die Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs langfristig zu sichern, werden wir die Regionalisierungsmittel für den Zeitraum ab 2019 in der Bund-Länder-Finanzkommission auf eine neue Grundlage stellen. Nach meiner Information saß Ihr Ministerpräsident, Herr Albig, mit in der Arbeitsgruppe „Verkehr“. Für uns ist der Koalitionsvertrag zumindest an dieser Stelle noch bindend. ({0}) - Herr Kollege Bartol, wenn das die Großkopferten beschlossen haben, dann waren auch die SPD-Ministerpräsidenten mit dabei. Insoweit hat dieses Dokument für die Koalition verbindlichen Charakter. Zumindest für die Union ist das so. ({1}) Sie haben von Kooperation geredet und legen einen Gesetzentwurf vor, der einen Aufwuchs von 1,2 Milliarden Euro vorsieht. Sie gehen offenbar leicht über die Schwarze Null hinweg. Wir tun das nicht; denn die Schwarze Null stellt für uns die Basis dar. Wir haben uns damit Spielräume für die Zukunft erarbeitet. Ich will einmal die Entwicklung für die nächsten drei bzw. vier Jahre skizzieren: 8 Milliarden Euro mehr für die Kommunen - Stichworte: „Eingliederungshilfe“, „Erhöhung des kommunalen Mehrwertsteueranteils“, „KdU-Bundesbeteiligung“; im Rahmen des BAföG für die Länder zusätzlich 1,7 Milliarden Euro für Hochschulen und Schulen. Allein in der letzten Legislaturperiode haben wir Ländern und Kommunen 60 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Vor diesem Hintergrund darf man eine Lösung bei den Regionalisierungsmitteln für die nächsten 15 Jahre nicht isoliert betrachten. Das muss in den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen berücksichtigt werden. ({2}) Da es hier um Kooperation geht, kann man auch fragen: Gehörte die Verlängerung bei den Entflechtungsmitteln sachlich und inhaltlich zum Fiskalvertrag? Sie haben sich das erstritten, abgetrotzt und erkauft. Aber in der Föderalismuskommission war ursprünglich vereinbart worden, die degressive Ausgestaltung der Entflechtungsmittel bis 2019 auslaufen zu lassen. Nun ist etwas anderes vereinbart worden. Ich habe nachgesehen, wie die Mittel für den ÖPNV in den Jahren von 2010 bis 2012 eingesetzt wurden, als die ursprüngliche Vereinbarung noch Bestand hatte. Nur zwei kleine Länder, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern, haben 50 Prozent der Mittel für den ÖPNV eingesetzt. Alle anderen 14 Länder haben noch nicht einmal 50 Prozent für den ÖPNV eingesetzt. ({3}) Das ist die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Bundesratsbank. ({4}) - Herr Kollege, das ist das, was auf Nachfrage der Bundesregierung offiziell verwendet worden ist. Es stimmt zwar, dass die Länder seit 2008 Verwendungsnachweise erbringen müssen. Aber die Regionalisierungsmittel sind weitestgehend der parlamentarischen Kontrolle entzogen. ({5}) Schauen Sie sich einmal die Haushalte der Landtage an. Dann stellen Sie fest, dass es Einnahmetitel und Ausgabetitel gibt. In aller Regel werden die Mittel aber nicht durch das Verkehrsministerium, sondern durch Verkehrsverbünde verwaltet und verwendet. In den Beiräten dieser Verbünde sitzen nach meiner Kenntnis keine Landtagsabgeordneten. Jetzt sage ich es einmal etwas derb: Die Länder können uns aufschreiben, was sie wollen. Wir können es nicht kontrollieren, geschweige denn sanktionieren. Das ist aus meiner Sicht ein großes Manko der Regionalisierungsmittel. Das heißt, hier werden von uns 8,5 Milliarden Euro, aufwachsend für die nächsten 15 Jahre gefordert. Es wird gefordert, diese Mittel unkontrolliert an die Länder zu geben. Auch in den Ländern ist die Kontrolle relativ mangelhaft. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Hermann, lassen Sie mich ein letztes Wort zu dem Kompromiss sagen. Herr Minister Meyer, ich schließe Sie dabei ein. Ja, das ist eine 16: 0-Entscheidung. Das ist richtig. Wenn Sie aber in den Vertrag schauen, stellen Sie fest, dass das ein Vertrag zulasten eines Dritten, des Bundes - Stichwort: vertikale Verteilung -, ist. Und das ist eine Vereinbarung zulasten von fünf neuen Ländern. Mecklenburg-Vorpommern bekommt heute 242 Millionen Euro und soll im Jahr 2030 258 Millionen Euro bekommen. Sie können mir doch nicht erzählen, dass damit grob das Angebot von heute gehalten werden kann. Wenn Sie die Trassenpreise und die Inflationsrate in Rechnung stellen, dann sind die 258 Millionen Euro deutlich weniger wert als die 242 Millionen Euro heute. ({7}) Meine letzte Bemerkung: Es ist sehr einfach, Verträge und Vereinbarungen zulasten Dritter und Vierter zu schließen. Fünf Länder bleiben dabei auf der Strecke. Ein bisschen mehr Solidarität hätte ich mir als Vertreter eines neuen Bundeslandes, der den größten Flächenwahlkreis in Deutschland hat, schon gewünscht. Herzlichen Dank. ({8})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/3785 und 18/3563 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land Drucksache 18/2750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Es wäre nett, wenn sich die Kollegen jetzt bitte hinsetzen und der Debatte folgen würden. Wer zwingend daran gehindert ist, möge bitte den Saal verlassen. Es ist nicht nett, bei einem neuen Tagesordnungspunkt die Rednerin daran zu hindern, ihre Argumente darzulegen. Jetzt können wir beginnen. Als erster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mitbestimmung bedeutet für die Beschäftigten Augenhöhe im Betrieb und für die Arbeitgeber entsteht Vertrauen in die Belegschaft. Die Mitbestimmung ist gelebte Partizipation und Demokratie. Auch der Gesetzgeber hat sich im Betriebsverfassungsgesetz ganz eindeutig positioniert. Dort steht nicht „sollen“ oder „können“, nein, Betriebsräte „werden“ gewählt. Die Mitbestimmung ist anerkannt, und darüber besteht auch ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Wenn dieser Konsens aber brüchig wird, dann muss Politik handeln - und deshalb heute unser Antrag. ({0}) „Brüchig“ meint, dass die Arbeit oder die Wahlen von Betriebsräten immer häufiger behindert werden. Ein Beispiel zeigte das ARD-Magazin Report. Da ging es um einen Mann, der 26 Jahre im gleichen Betrieb gearbeitet hat. Das war seine Lebensaufgabe. Dann war von heute auf morgen Schluss. Ihm wurde gekündigt, nur deshalb, weil er zusammen mit Kollegen einen Betriebsrat gründen wollte. Das ist nicht die Regel, aber das ist auch kein Einzelfall. Fakt ist aber: Manche Arbeitgeber verhindern Betriebsratswahlen. Das geht nicht. Deshalb fordern wir mehr Schutz für die Beschäftigten; denn die betriebliche Mitbestimmung ist immerhin ihr verbrieftes Recht. ({1}) Auf drei Forderungen möchte ich ganz kurz eingehen. Erstens. Die schwierigste Phase ist, wenn sich Beschäftigte auf den Weg machen, um einen Betriebsrat zu gründen, insbesondere in einem mitbestimmungsfeindlichen Betrieb. In dieser Zeit brauchen die Beschäftigten Unterstützung. Deshalb sollen sie die Möglichkeit erhalten, ihre Absicht bei einer neutralen Stelle zu melden. Dann erhalten sie auch den besonderen Schutz nach § 78 Betriebsverfassungsgesetz. So werden die Beschäftigten vor Benachteiligungen und Schikanen geschützt. Wenn Arbeitgeber Betriebsräte tatsächlich verhindern wollen, dann müssen wir ganz eindeutig an der Seite der Beschäftigten stehen. ({2}) Zweitens. Es ist bekannt: Heute stellen viele Betriebe und sogar manche Branchen in großer Zahl nur noch befristet ein. Häufig werden die Befristungen genutzt, um unerwünschte Betriebsräte zu zerschlagen. In diesen Betrieben muss häufig schon nach kürzester Zeit wieder neu gewählt werden, weil die befristet beschäftigten Betriebsräte die Ersten sind, die wieder gehen müssen, und das ist nicht akzeptabel. Deshalb sollen diese Betriebsräte übernommen werden wie Auszubildende auch, wenn keine triftigen Gründe dagegen sprechen. Der besondere Schutz nach § 78 a Betriebsverfassungsgesetz funktioniert bei den Auszubildenden gut. Dann geht das auch bei Befristungen; denn die Arbeit von Betriebsräten braucht Kontinuität. ({3}) Drittens. Wenn Betriebsräte nicht erwünscht sind, dann gibt es Kündigungen. Die Beschäftigten werden gemobbt, es hagelt Abmahnungen. Es gibt Schikane und Benachteiligungen. Das alles sind Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz. Dazu sagte ein Fachanwalt in der besagten Report-Sendung - ich zitiere -: Verfahren verlaufen im Sande, werden eingestellt … So … haben Arbeitgeber eigentlich gar nichts zu befürchten. Hier läuft wirklich etwas gewaltig schief. Es muss endlich geprüft werden, welche strukturellen Defizite bei der Verfolgung von Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz bestehen. Hier brauchen wir dringend Lösungen. Das sind keine Kavaliersdelikte. Bestehendes Recht muss endlich durchgesetzt werden. ({4}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt eindeutige Hinweise, dass die Mitbestimmung mittlerweile strategisch bekämpft wird. Diese Hinweise bezeichnen die Autoren einer WSI-Studie als „Spitze des Eisbergs“. Deshalb muss die Politik vorausschauend tätig werden. Die Beschäftigten brauchen mehr Schutz und auch mehr Unterstützung; denn wir brauchen mehr und nicht weniger Demokratie in den Betrieben. Vielen Dank. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uwe Lagosky, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Lagosky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004335, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sicherlich immer noch Menschen, die die betriebliche Mitbestimmung für einen Irrtum der Geschichte halten. Das ist falsch. ({0}) Denn unter anderem während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bis 2010 wurde besonders deutlich, dass Betriebsräte verlässliche, kompetente Sozialpartner sind. Da ich selbst einige Jahre Betriebsratsvorsitzender sein durfte, ist es mir eine Herzensangelegenheit, für Betriebsratsgründungen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wie auch bei Arbeitgebern zu werben. Denn ich bin überzeugt davon, dass Betriebsräte eine wichtige Rolle in unserer sozialen Marktwirtschaft spielen. Mit dieser Überzeugung fühle ich mich in unserer Union gut aufgehoben. Es waren nämlich Christdemokraten und von ihnen geführte Bundesregierungen, die die deutsche Mitbestimmung entscheidend prägten. ({1}) Aber zu Ihrem Antrag. Der prozentuale Anteil der Betriebe mit Betriebsrat nimmt bei steigender Betriebsgröße zu. Nach den aktuellsten Daten wiesen Betriebe mit 5 bis 50 Beschäftigten eine Quote in Ost- und in Westdeutschland von 6 Prozent auf. Bei Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten sind es im Westen 86 Prozent und im Osten 92 Prozent. Generell ist ein Streben nach mehr Betriebsräten daher sinnvoll. Die Frage ist: Erreicht man das auf der Grundlage Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen? Die von Ihnen herangezogene Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, die die Grundlage Ihres Antrags ist und Behinderungen von Betriebsratswahlen untersucht, stellt wichtige Fragen, hat aber leider eine recht dünne Datenbasis: Von 347 Fragebögen wurden 184 beantwortet, also 53 Prozent. In 59 Prozent dieser Fragebögen wurde angegeben, dass man von Be- oder Verhinderungsversuchen bei Betriebsratswahlen weiß. ({2}) - Immerhin. Im ersten Moment gut klingt hingegen Ihre Forderung, das vereinfachte Wahlverfahren bei Erstwahlen von Betrieben mit bis zu 50 wahlberechtigten Mitarbeitern auf Betriebe mit bis zu 100 wahlberechtigten Mitarbeitern auszuweiten. Möglich ist das nach Vereinbarung mit Wahlvorstand und Arbeitgeber heute schon. Genau diese Regelung wollen Sie ändern. Trotz des vereinfachten Wahlverfahrens bei Kleinbetrieben blieb der Anteil der Betriebsräte in dieser Gruppe in den letzten Jahren konstant. Es ist daher fraglich, ob durch die Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrens mehr Betriebsräte gegründet werden. Dann wollen Sie die Mitglieder des Wahlvorstands und Beschäftigte, die erstmals die Wahl eines Betriebsrats einleiten, unter die Schutzbestimmung des § 78 Betriebsverfassungsgesetz stellen. Dieser Paragraf regelt im Wesentlichen, dass die hier aufgeführten Gruppen weder benachteiligt noch bevorteilt werden dürfen. Darüber hinaus sollen die gleichen Gruppen unter den Schutz des § 119 Betriebsverfassungsgesetz - Straftaten gegen Betriebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder gestellt werden. Meines Erachtens sind Beschäftigte, die Wahlen einleiten oder in Wahlvorständen arbeiten, über das Betriebsverfassungsgesetz bereits heute geschützt: § 20 Betriebsverfassungsgesetz in Verbindung mit § 119. ({3}) Darüber hinaus fallen die Beschäftigtengruppen unter einen besonderen Kündigungsschutz nach § 15 Kündigungsschutzgesetz. Sie wollen weiterhin befristet Beschäftigte, die in den Betriebsrat gewählt wurden, unter den Schutz des § 78 a Betriebsverfassungsgesetz stellen, um damit einen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu begründen. Ob das der richtige Weg ist, darf angezweifelt werden, da Betriebsräte nicht benachteiligt oder - wie in diesem Fall - begünstigt werden dürfen. ({4}) Zusammenfassend können wir feststellen, dass Betriebsräte in Deutschland gut geschützt sind. Dort, wo es noch keine gibt, werden wir dafür werben. Herzlichen Dank. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 21. Januar fand vor dem Arbeitsgericht in Magdeburg ein Kündigungsschutzprozess gegen den Betriebsratsvorsitzenden einer Tochterfirma von Enercon statt. Nils-Holger Böttger hat sich für Leiharbeitnehmer in seiner Firma eingesetzt. Er hat das gemacht, was Beschäftigte von ihrem Betriebsrat erwarten. Deshalb haben sie ihn gewählt, auch die Leiharbeitnehmer. Die Firma sieht das anders. Sie will seine Kündigung. Enercon ist Hersteller von Windkraftanlagen, verbunden mit einem Saubermann-Image. Dabei hat Enercon offensichtlich ein Demokratiedefizit. Wer Betriebsräten kündigt, ist im Grunde nichts anderes als ein Vertreter einer Schmuddelbranche. Wir Linken begrüßen den Antrag der Grünen. Er löst eine längst überfällige Debatte über die Stärkung der Rechte von Betriebsräten aus. ({0}) So finde ich richtig, dass befristet Beschäftigte, die in einen Betriebsrat gewählt werden, dem besonderen Kündigungsschutz unterliegen sollen. Heute ist es keine Selbstverständlichkeit, in Betrieben Betriebsräte zu wählen. Die Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrens kann in Zukunft eine Hilfe sein. Als Gewerkschaftssekretärin weiß ich, dass in jedem Betrieb ein Betriebsrat zu bestehen hat. Schwierig wird es, wenn man mit Chefs konfrontiert wird, die sich mit Händen und Füßen gegen Betriebsräte wehren. Aktive Beschäftigte werden zu Opfern einer knallharten Arbeitgeberstrategie. Damit muss endlich Schluss sein! ({1}) Ganz schwierig wird es, wenn Firmen sich Rechtsanwälte nehmen, deren erklärtes Ziel es ist, einzelnen Betriebsräten zu kündigen. Ärzte leisten den hippokratischen Eid, dass sie ihre Qualifikation einsetzen, um Leben zu erhalten. Diese Juristen aber nutzen ihre Qualifikation dazu, Gesetze zu brechen, zu umgehen oder zu missachten. Solchen Juristen gehört die Zulassung entzogen! ({2}) Die systematische Bekämpfung von Betriebsräten ist mittlerweile eine professionelle Dienstleistung in Deutschland geworden. Betriebsräte werden gemobbt und mit Kündigungen bedroht. Sie sollen mürbe gemacht und gebrochen werden. Das ist im Grunde unerträglich. Die Forderung nach einer Prüfung durch die Bundesregierung, ob strukturelle Defizite bei der Verfolgung von Straftaten gegen Arbeitgeber bestehen, ist aus meiner Sicht überflüssig, liebe Grüne. Offensichtliches muss nicht noch einmal geprüft werden, sondern es muss endlich gehandelt und bestraft werden. Ja, mehr Betriebsräte braucht das Land, aber die Forderung nach mehr Betriebsräten allein reicht uns Linken im Grunde nicht. ({3}) Wir müssen endlich die Durchführung von Betriebsratswahlen wirklich erleichtern, und wir müssen bestehende Betriebsräte effektiv vor Bedrohungen schützen. Uns Linken geht es um Anforderungen an eine kämpferische Mitbestimmung in den Betrieben; eine Mitbestimmung von unten, weg von Stellvertreterpolitik. ({4}) Die Linke will die Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene durch Elemente direkter Beteiligung ergänzen und weiterentwickeln. Es geht um die Demokratisierung in der Arbeitswelt. Gute Arbeit verlangt demokratische Bedingungen. Demokratie darf nicht am Werkstor enden. Das muss drin sein. Vielen Dank. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Bernd Rützel, SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie von den Grünen wollen Betriebsräte stärken, da sind Sie bei mir genau an der richtigen Stelle. ({0}) Ich freue mich, dass wir heute darüber reden, ({1}) und ich stelle hier eine breite Übereinstimmung fest. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt. ({2}) Tarifpolitisch, gesellschaftlich und auch für die Betriebe selbst ist die Mitbestimmung von enormer Bedeutung. Ich war selbst lange Jugend- und Auszubildendenvertreter. Ich war freigestellt, später war ich freigestellter Betriebsrat, und ich weiß um die gesetzlichen Regelungen und um die Schutzmöglichkeiten für Betriebsräte. Aber ich weiß aus der Praxis auch, dass diese oft nicht ausreichen. Wir brauchen einen Kündigungsschutz bereits für die Beschäftigten, die sich in der Kaffeeküche treffen und über die Bildung eines Betriebsrats nachdenken. Wir haben das heute schon gehört. Da muss der Kündigungsschutz schon ansetzen; ({3}) denn nicht selten ist es so, dass der Arbeitgeber, wenn er davon Wind bekommt, versucht, die Wahl zu verhindern. Liebe Grüne, das Wahlverfahren haben wir 2001 mit Rot-Grün eingeführt. 2001 war dies ein wichtiges Anliegen, als wir das Betriebsverfassungsgesetz verändert haben. Ziel war hauptsächlich, die Wahl schneller durchführen zu können, damit die Reaktionszeiten der Arbeitgeber kürzer wurden, um Steine in den Weg zu legen. Ich will an dieser Stelle aber auch einmal für die Arbeitgeber sprechen. Viele Arbeitgeber wissen zu schätzen, dass sie einen Betriebsrat haben. Er ist sozusagen eine interne Beratungsfirma, ein Verbindungselement und -instrument, eine Konfliktlösungsstelle. Sie wissen, dass sie mit Betriebsräten produktiver sind und dann, wenn es Krisen gibt, auch besser über die Runden kommen. Betriebsräte hängen an ihren Unternehmen. Sie wollen das Beste für das Unternehmen, aber natürlich auch für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und sie sind oft viel länger im Unternehmen als mancher Manager. Dass manche Betriebe den Betriebsrat fürchten wie der Teufel das Weihwasser, liegt in der Natur der Sache, auch wenn ich dies natürlich nicht nachvollziehen kann. Wir haben es gehört: Dass manche Unternehmen viel Geld in die Hand nehmen, viel Aufwand betreiben und Kanzleien mit Betriebsratskillern beauftragen, die ihnen den Betriebsrat vom Hals schaffen sollen, verurteile ich scharf. Ich habe dies letztes Jahr in meinem Wahlkreis miterlebt, als eine Großbäckerei ihren gewählten Betriebsratsvorsitzenden entlassen hat. Trotz Unterstützung durch die Gewerkschaft NGG, durch viele Mandatsträgerinnen und Mandatsträger und aus der Öffentlichkeit - die Zeitungen waren wochenlang voll -, hat sich der Firmeninhaber letztendlich im Gerichtsverfahren durchgesetzt. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Herz ist voll, meine Redezeit aber fast vorbei. Lassen Sie mich deshalb ganz kurz und auch nicht vollumfassend auf ein paar Punkte eingehen, die uns Sozialdemokraten sehr am Herzen liegen. Leiharbeitnehmer müssen hinsichtlich der Betriebsratsgröße Berücksichtigung finden. Das entspricht dem Bundesarbeitsgerichtsurteil, das im letzten Jahr bereits bei vielen Betriebsratswahlen umgesetzt worden ist. Ein Betriebsrat darf nicht nur ein Informationsrecht nach § 80 des Betriebsverfassungsgesetzes erhalten, sondern er braucht weitergehende Informations- und Unterrichtungsrechte. Das heißt, dass er nicht wie ein Detektiv durch seinen Betrieb laufen muss und in der Einkaufsabteilung nachfragen muss, wie viele Leiharbeiter eingekauft werden - Leiharbeiter werden eingekauft, man findet sie nicht auf der Payroll - und wie viel Fremdpersonal tätig ist. Der Arbeitsschutz muss auch im psychischen Bereich ausgeweitet werden. Wir müssen bei Werkverträgen viel unternehmen. Die Babyboomer - um den Jahrgang 1964 - gehen in gut zehn Jahren in Rente. Wir wissen von unserem Fachkräftemangel, den wir immer wieder wie eine Monstranz vor uns hertragen. Insofern brauchen wir Mitbestimmung. Mitbestimmung ist wichtig. Deutschland geht es gut - nicht trotz der Mitbestimmung, sondern wegen der Mitbestimmung. ({5}) Ganz zum Schluss will ich sagen: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, weisen zu Recht darauf hin, dass die Quote derjenigen Beschäftigten, die nicht durch einen Betriebsrat vertreten werden, erschreckend hoch ist. Hierüber brauchen wir eine breite politische, aber auch gesellschaftliche Debatte. Nur mitbestimmte Arbeit ist gute Arbeit. Vielen Dank. ({6})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Es ist eine beliebte Technik, den Schluss anzukündigen und dann nicht zum Schluss zu kommen. ({0}) Wir haben es jetzt noch mal akzeptiert. Aber ich bitte doch alle, sich an die Redezeit zu halten. Der nächste Redner ist Matthäus Strebl, CDU/CSUFraktion. ({1})

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor gut einem Dreivierteljahr waren die Beschäftigten in unserem Land zu Betriebsratswahlen aufgerufen, und sie haben sich daran zahlreich beteiligt. Die Wahlbeteiligung lag bei durchschnittlich 77 Prozent und war damit zufriedenstellend. Dabei fiel auf: In Betrieben, die unternehmens- oder gesellschaftsnahe Dienstleistungen anbieten, war die Beteiligungsquote erheblich niedriger als in der Industrie. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräten durchaus nachvollziehbar. Auf den ersten Blick könnte man also dem Antrag etwas abgewinnen, doch der Teufel steckt wie so oft im Detail. Zweifellos ist das deutsche Betriebsverfassungsgesetz eine Errungenschaft, die ganz wesentlich zum sozialen Frieden in unserem Land beiträgt. Es ist ohne Abstriche ein Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft. Auch für die meisten Arbeitgeber, so möchte ich behaupten, sind Betriebsräte kein rotes Tuch; denn sie garantieren die Stabilität innerhalb des Unternehmens. Umso erstaunlicher ist es, dass von knapp 16 000 Arbeitgebern nur rund 4 300 die Frage, ob es in ihrem Unternehmen einen Betriebs- oder Personalrat gibt, mit Ja beantworteten. Das jedenfalls haben Untersuchungen im Rahmen des Betriebspanels 2011 des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ergeben, und die Zahlen, werte Kolleginnen und Kollegen, dürften sich seitdem nicht wesentlich verändert haben. Insofern hat die Forderung nach mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräten sicherlich ihre Berechtigung. Die Frage ist jedoch, auf welchem Weg ein solches Ziel erreicht werden könnte. Die Grünen machen es sich einfach und stellen ganz auf die §§ 78 und 119 des Betriebsverfassungsgesetzes ab. Mit ihnen sollen die Schutzbestimmungen für die Betriebsräte bzw. für die Betriebsratskandidatinnen und -kandidaten noch detaillierter als bisher geregelt werden. In den Genuss der Regelungen des § 78 sollen gemäß dem Antrag Wahlvorstände und auch diejenigen kommen, die erstmalig die Wahl eines Betriebsrates einleiten so, wie Sie es vorgetragen haben. Gleiches soll für die befristet Beschäftigten gelten, sofern sie für einen Betriebsrat kandidieren oder ihm angehören. ({0}) Damit nicht genug: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die sonst gegen den Bürokratismus wettern, wollen nun im Betriebsverfassungsgesetz eine Meldepflicht einführen. Damit wollen Sie - ich zitiere aus Ihrem Antrag -: „betriebliche Interessenvertretungen statistisch an geeigneter Stelle erfassen“. Diese neuen Meldestellen sollen unter anderem Behinderungen der Betriebsratsarbeit oder Fälle, in denen Betriebsratswahlen verhindert wurden, registrieren. Beides ist ohnehin nicht zulässig, und Verstöße können jetzt schon gemeldet werden. Dafür braucht man aber keine neuen Meldestellen. ({1}) Und überhaupt - so frage ich -: Wo sollen denn die Meldestellen eingerichtet werden? Mit wie vielen Planstellen? Wer trägt die Kosten? Welche Kompetenzen sollen die Meldestellen erhalten? - Die bloße Erfassung von Behinderungen der Betriebsratsarbeiten zu statistischen Zwecken ohne Konsequenzen hat daher wenig Sinn. Bei jedem Gesetz müssen wir uns überlegen: Wem nützt es? Wir brauchen kein neues Gesetz, sondern wir sollten gemeinsam in unserer Gesellschaft ein Denken fördern, das Betriebs- und Personalräte als Selbstverständlichkeiten ansieht. Arbeitgeber und Betriebsräte müssen sich als natürliche Verbündete betrachten, von denen jeder für sein eigenes Wohlergehen den jeweils anderen braucht. Mein Kollege Uwe Lagosky hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass etliche Forderungen insofern hinfällig sind, als die Gruppen, die Sie schützen wollen, nach dem Kündigungsschutzgesetz ohnehin bereits geschützt sind. Jede Initiative, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerinteressen fördert, ist zu begrüßen und unterstützen wir von der Union. Mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird dieses Ziel allerdings verfehlt. Ich sage sogar: Bürokratie wird damit aufgebaut. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Markus Paschke, SPD-Fraktion. ({0})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Immer mal wieder hört man von Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Betriebsrat? Brauchen wir nicht, bei uns läuft es gut. - Ich sage dann immer: Ja, das finde ich super, aber mit einem Betriebsrat läuft es nicht schlechter. - Im Gegenteil, man ist viel besser aufgestellt, wenn es mal nicht so läuft. Meine Erfahrung als langjähriger Gewerkschaftssekretär: Mit einem Betriebsrat gibt es immer einen Interessenausgleich zum Vorteil von Unternehmen und Beschäftigten. ({0}) In einigen Branchen, wie zum Beispiel der Leiharbeit, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Landwirtschaft oder im Einzelhandel gibt es kaum Betriebsräte, weil diese von kurzfristiger Beschäftigung oder prekären Beschäftigungsformen wie 450-Euro-Jobs oder Saisonarbeit geprägt sind. Wer da nicht das Glück hat, einen verantwortungsvollen Arbeitgeber zu haben, hat häufig Nachteile. Für mich ist klar: Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Arbeitsschutz und vielen anderen Dingen Beschäftigte zweiter Klasse sind. ({1}) Und dann gibt es noch Betriebe, die aktiv die Arbeit oder sogar die Wahl eines Betriebsrates behindern. Sie sind leider keine Randerscheinung. Sogar große Unternehmen aus Zukunftsbranchen wie den erneuerbaren Energien benehmen sich wie kleine Feudalherren aus dem Mittelalter. ({2}) - Genau. - Sie weigern sich komplett, überhaupt Gespräche mit Betriebsräten oder Gewerkschaften zu führen, oder behindern mehr oder weniger offen freie Wahlen. Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: Das dürfen wir in der Politik nicht ignorieren. ({3}) Es geht um nichts Geringeres als ein Grundrecht in Deutschland: das Recht, sich zu organisieren und gemeinsam Interessen zu vertreten. Viele Beispiele zeigen, dass Betriebe mit gelebter Mitbestimmung mittelfristig auch wirtschaftlich erfolgreicher sind. Mitbestimmung ist also ein Standortvorteil. Das ist in einigen Köpfen leider noch nicht verankert. Die soziale Marktwirtschaft und die gelebte Sozialpartnerschaft in Betrieben haben uns so erfolgreich gemacht. Wer will, dass Deutschland auch zukünftig erfolgreich ist, der muss sagen: Ja, mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land! ({4}) Mein Fazit, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Ihr Antrag geht inhaltlich in die richtige Richtung. ({5}) - Er geht in die richtige Richtung. Es gibt ja nichts, was man nicht noch verbessern könnte. ({6}) Wir sollten ihn zum Anlass nehmen für den Start einer breiten gesellschaftlichen Debatte zum Thema: Wie wollen wir Deutschland gemeinsam für die Zukunft aufstellen? ({7}) In dieser Debatte würde ich noch gerne einige Punkte ergänzen, die mir in dem vorliegenden Antrag fehlen.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Herr Paschke, bedenken Sie bitte, dass Sie Ihre Redezeit überzogen haben. Ihr Kollege Rützel hat seine Redezeit bereits dramatisch überzogen, aber wir haben Ihnen die Überschreitung nicht von Ihrer Redezeit abgezogen, sonst wären Sie schon lange nicht mehr am Pult. Kommen Sie also bitte zum Schluss.

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Unsere Stärken in Deutschland waren immer Innovation, Beteiligung und sozialer Ausgleich. Lassen Sie uns Deutschlands Stärken ausbauen. „Gemeinsam sind wir stark“ ist nicht nur das Motto der Gewerkschaften, sondern auch das Motto einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Danke. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 18/2750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Peter Hintze Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Dezember 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind Drucksache 18/3787 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller. Bitte schön, Frau Staatssekretärin. ({1})

Gabriele Lösekrug-Möller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003482

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor zwei Tagen haben wir hier im Deutschen Bundestag in einer beeindruckenden Gedenkstunde der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren und der Millionen von Opfern gedacht, die aus einer verbrecherischen Ideologie heraus im Namen unseres Volkes ermordet, gepeinigt und verfolgt wurden. Das sind Momente, in denen uns unsere Geschichte und die Verantwortung, die wir Deutsche tragen, ganz besonders nahe und bewusst sind. Dieses Bewusstsein hat auch getragen, als wir am 5. Juni des vergangenen Jahres in diesem Haus einstimmig den Beschluss gefasst haben, das Ghettorentengesetz zu ändern. Wir haben den Weg freigemacht, damit Menschen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Arbeit in Ghettos verrichtet haben, ihre Rente ohne Einschränkungen rückwirkend ab Juli 1997 erhalten können. Das neue deutsch-polnische Abkommen ergänzt das Abkommen von 1975 und ermöglicht es, dass eine deutsche Rente aufgrund von Beschäftigung in einem Ghetto auch an Personen ausgezahlt werden kann, die in der Republik Polen leben. Die letzten Berechtigten sind hochbetagt, und unser festes Ziel ist es, den Betroffenen schnell zu ihren Ansprüchen zu verhelfen. ({0}) Zwei von ihnen durfte ich unlängst bei der Vertragsunterzeichnung des Abkommens in Warschau kennenlernen. Sie stehen an der Spitze von zwei Verbänden ehemaliger Ghettoopfer. Die Begegnung mit ihnen hat mich tief berührt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun bitte ich Sie herzlich, dem Gesetz zum Abkommen in einem beschleunigten parlamentarischen Verfahren zuzustimmen. Wir haben diese Bitte auch an den Bundesrat gerichtet, um so möglichst bald mit unseren polnischen Partnern gleichziehen zu können; denn dort genügt für den Abschluss des Ratifizierungsverfahrens ein Kabinettsbeschluss. Dieser ist für Ende Februar terminiert. Unser gemeinsames Ziel sollte es also sein, dafür zu sorgen, dass das Abkommen zügig in Kraft treten kann. Die Rentenversicherungsträger sind schon jetzt mit großem Engagement dabei, alles in die Wege zu leiten, damit die Berechtigten in Polen nach dem Inkrafttreten umgehend ihre rückwirkenden und laufenden Renten erhalten können. Ich füge hinzu: Neben Informationen und Antragsformularen in polnischer Sprache im Internet wollen die Rentenversicherungsträger beider Länder gemeinsam aktiv auf potenziell Berechtigte zugehen und auf mögliche Ansprüche nach dem neuen Abkommen hinweisen. Kein Anspruch und keine Zeit sollen mehr verloren gehen. Für dieses große Engagement danke ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der deutschen und polnischen Rentenversicherung sehr herzlich. Ich möchte an dieser Stelle auch unseren polnischen Partnern und Freunden aus dem polnischen Arbeitsministerium ganz herzlich Dank sagen. Ich freue mich außerordentlich, dass zu unserer Debatte der Gesandte der Botschaft Polens, Herr Janusz Styczek, in den Bundestag gekommen ist. - Wir freuen uns alle miteinander sehr, dass Sie hier sind. ({1}) Die kooperativen, schnellen und freundschaftlichen Verhandlungen reihen sich ein in die vielen wegweisenden Aktivitäten unserer praktizierten guten Nachbarschaft. Der Ort der Unterzeichnung hätte nicht besser gewählt werden können. Im vor wenigen Monaten eröffneten Museum der Geschichte der polnischen Juden, das sich unmittelbar neben dem Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand befindet, wird auf beeindruckende Weise augenfällig, wie eng jüdische, polnische und deutsche Geschichte miteinander verwoben sind. Gleichzeitig ist es ein Ort, der auf beeindruckende Weise ins Gedächtnis ruft, dass es bei diesem Abkommen mit dem etwas sperrigen Namen nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um Menschen geht, die bald endlich die verdiente Anerkennung für geleistete Arbeit erhalten können. ({2}) Das ist ein Stück Gerechtigkeit, auf deren Grundlage unsere Partnerschaft weiter gedeihen soll, ohne jemals die Vergangenheit zu vergessen. Herzlichen Dank. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Azize Tank von der Fraktion Die Linke. ({0})

Azize Tank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004422, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern haben wir an den 70. Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee erinnert. Wir gedachten damit aller Opfer des deutschen Faschismus. Wir gedachten der Schoah, der industriellen Vernichtung von mehr als 6 Millionen europäischen Jüdinnen und Juden. Wir erinnerten gleichzeitig an Hundertausende ermordete Sinti und Roma, ebenso an die lange vergessenen Opfergruppen, die als sogenannte Asoziale verleumdeten Menschen, die Homosexuellen und andere. Wenn wir an die Opfer der Massenmorde von Birkenau, Sobibor oder Treblinka erinnern, dürfen wir jedoch eines nicht vergessen: Vor der Vernichtung wurden diese Menschen rassistisch diskriminiert, entrechtet, misshandelt, beraubt und ausgebeutet. Nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Erst dank dem Einsatz engagierter Überlebender, Historiker, Richter und Rechtsanwälte wissen wir, was lange nicht anerkannt wurde: Für Ghettoarbeit wurden Beiträge zur Sozialversicherung eingezogen. Das Bundessozialgericht hat diese Rentenansprüche erst infolge der Bemühungen von Überlebenden anerkannt. Dafür gebührt den Überlebenden unser höchster Respekt. ({0}) Beschämen sollte uns, dass anfangs 90 Prozent der Anträge auf Ghettorenten abgelehnt wurden. Beschämen sollte uns, dass Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz in Polen von Anfang an ausgeschlossen wurden. Erst das neue Abkommen beendet diesen Zustand. In enger Zusammenarbeit mit den Betroffenen hat die Fraktion Die Linke das Thema in den Bundestag getragen. ({1}) Erlauben Sie mir, Tomasz Miedziński aus Warschau zu zitieren, worum er mich gebeten hat. Als Vorsitzender der Vereinigung der Jüdischen Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs kämpfte er seit mehr als zehn Jahren für die Rechte der Ghettobeschäftigten aus Polen, unterstützt wurde er dabei von Herrn Marian Kalwary, dem Vorsitzenden der Vereinigung Kinder des Holocaust in Polen. Am Tag der Unterzeichnung des vorliegenden deutsch-polnischen Abkommens in Warschau erklärte Herr Miedziński - ich zitiere -: „Ich sollte Freude empfinden über dieses Abkommen. Aber Freude empfinde ich nicht. Während der vielen Jahre des Kampfes gegen den Widerstand der deutschen Behörden und ihre Bürokratie ist mehr als die Hälfte der Berechtigten verstorben.“ Zehn Jahre! Eine Lösung wurde immer wieder als rechtlich nicht umsetzbar abgelehnt. Durch gemeinsame Anstrengungen im Bundestag gelang es uns, in acht Monaten den Abschluss eines Abkommens herbeizuführen. Die Diskriminierung konnte dadurch beendet werden. ({2}) Mit Freude habe ich gehört, dass unsere Staatssekretärin eine ebenso zügige Umsetzung des Abkommens fordert. Wir alle wissen: Es geht hier nicht um eine Drucksache, sondern um die Wiedererlangung von Würde, um Gerechtigkeit. Erlauben Sie mir, dabei etwas zu unterstreichen, was in Deutschland oft ausgeblendet wird. Ja, auch Jüdinnen und Juden waren aktiv an dem bewaffneten Widerstand gegen deutschen Faschismus beteiligt. Auch sie haben ihren Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Ihnen gebührt nicht nur Respekt für das erlittene Leid, sondern auch Dankbarkeit für ihren Widerstand. Sie haben sich um einen demokratischen Neuanfang verdient gemacht. ({3}) Angesichts des Alters der letzten Zeugen der Schoah sind wir verpflichtet, deren Vermächtnis weiterzutragen: Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg. ({4})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Bundestagspräsident Nobert Lammert hat am Dienstag die Gedenkstunde anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz mit einer bemerkenswerten Rede eingeleitet, in der er daran erinnert hat, dass zur nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nicht nur die Konzentrationslager gehörten, sondern auch eine ganze Reihe von Maßnahmen und Einrichtungen, insbesondere auch die Einrichtung von Ghettos. In den Ghettos wurden die Menschen mit dem Willen, sie zu vernichten, zusammengepfercht. Die Menschen in den Ghettos, die die Nationalsozialisten eingerichtet haben, haben dort in vielfältiger Weise versucht, ihr Leben, ihr Überleben zu sichern. Deswegen war es wichtig, dass der Deutsche Bundestag mit dem Instrument der Ghettorente eine eigene Rentenart geschaffen hat. Endlich haben wir die Arbeit, die Bürgerinnen und Bürger dort im Kampf ums Überleben geleistet haben, mit einem eigenen Rentenanspruch ausgestattet. Am 14. Juni vergangenen Jahres haben wir das Ghettorentengesetz verändert und reformiert. Nun gibt Peter Weiß ({0}) es die Möglichkeit - die Frau Staatssekretärin hat es dargestellt -, dass weitere Berechtigte noch Ghettorente beantragen können und dass vor allem diejenigen, die bereits eine Ghettorente beziehen, die Möglichkeit erhalten, sich zwischen zwei Formen zu entscheiden, je nachdem, was ihnen geeigneter erscheint, und dass Berechtigte eventuell auch einen rückwirkenden Ghettorentenbezug ab dem Jahr 1997 erhalten können. Ich glaube, das war ein wichtiger Akt, mit dem wir zeigen: Jawohl, wir stehen zu unserer historischen Verantwortung. Wir wollen, dass Arbeit, die in einem Ghetto geleistet wurde, so bewertet wird wie Arbeit irgendwo anders und einen eigenen Rentenanspruch begründet. ({1}) Uns war schon früher und ist auch heute klar, dass aufgrund des Sozialversicherungsabkommens, das bereits im Jahr 1974 zwischen Polen und Deutschland abgeschlossen worden ist, gilt, dass der jeweilige Rentenanspruch nur an das jeweilige Land, also in Polen nur an die polnischen Behörden und in Deutschland nur an die deutschen Behörden, gerichtet werden kann. Dies ist eine an und für sich nicht unkluge Regelung in einem Sozialversicherungsabkommen. Aber das hat zur Folge gehabt, dass jemand, der in Polen lebt, aufgrund dieses Sozialversicherungsabkommens bei der Deutschen Rentenversicherung keine Ghettorente beantragen kann. Wir haben dieses Problem anlässlich der Beratungen der Änderung des Ghettorentengesetzes miteinander besprochen und es auch in den Berichterstattergesprächen mit der Bundesregierung für sinnvoll erachtet, nicht zu versuchen, das alte Sozialversicherungsabkommen zu verändern - es hat seine Berechtigung -, sondern zu versuchen, mit einem zusätzlichen Sozialversicherungsabkommen diese Frage so zu lösen, dass auch ein in Polen lebender Bürger einen Anspruch an die Deutsche Rentenversicherung stellen kann. Am 14. Juni letzten Jahres haben wir den entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet. Ich möchte mich bei den Fachbeamten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales herzlich dafür bedanken, dass sie so schnell über dieses zusätzliche Sozialversicherungsabkommen verhandelt haben, sodass es dem Parlament heute vorgelegt werden kann. Ein herzliches Dankeschön dafür, dass hier ein so außergewöhnlich schnelles Verhandlungsergebnis erzielt worden ist! ({2}) Ich hoffe - Frau Staatssekretärin, Sie haben es angekündigt -, dass die Rentenversicherungen in Polen und in Deutschland nach der Ratifizierung für eine schnelle Umsetzung sorgen und die Texte auch in polnischer Sprache vorgelegt werden können, sodass diejenigen, die einen Anspruch auf eine Ghettorente haben, sie schnellstmöglich beantragen können. Ich glaube, auch das ist wichtig. Unmittelbar nach der Ratifizierung muss mit der Umsetzung begonnen werden. Darum bitte ich herzlich. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, daran zu erinnern, dass im November dieses Jahres der 50. Jahrestag eines bemerkenswerten Briefwechsels begangen wird. Ich meine den Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Mitbrüder, in dem der berühmte Satz „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ stand. Damals, 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach einer schlimmen, gewaltbelasteten Vergangenheit zwischen Polen und Deutschland, war dies ein mutiger und von der Kraft der Versöhnungsbereitschaft getragener Schritt. Übrigens werden am 18. November dieses Jahres aus diesem Anlass sowohl in Berlin als auch zeitgleich in Breslau Ausstellungen eröffnet, in denen dieses Ereignisses gedacht wird, in denen aber auch der gesamte Prozess der deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt wird. Wir sind heute froh, dass uns die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen gelungen ist und wir gute Nachbarn sind. Das heute vorgelegte zusätzliche Sozialversicherungsabkommen ist für diese Politik der Versöhnung und der Aussöhnung ein weiterer wichtiger Beweis und Baustein. Herzlichen Dank. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrter Gesandter! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Wort des Dankes an die Bundesregierung beginnen, dass dieses Sozialversicherungsabkommen auf dem Tisch liegt. Es ist alles verdammt spät. 13 Jahre nachdem wir das Ghettorentengesetz unter Rot-Grün verabschiedet haben, wird dem gesetzgeberischen Willen von damals nun endlich Rechnung getragen. Das ist aber auch ein Grund, zu trauern, nicht nur um die Opfer von damals, sondern auch um die vielen Opfer, die in der Zwischenzeit verstorben sind und die von den Leistungen, die dieses Abkommen heute ermöglicht, nichts mehr haben, weil sie diesen Tag nicht erlebt haben. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das Entschädigungsrecht der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Wenn wir auf das Abkommen mit Israel unter Adenauer zurückblicken, wenn wir an das Bundesentschädigungsgesetz denken, das damals gegen Widerstände in der Koalition nur mit Unterstützung der SPD-Fraktion eine Mehrheit im Deutschen Bundestag fand, wenn wir uns an die Diskussionen der 80er-Jahre über die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus erinnern, deren Anliegen man in Regelungen zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz mühsam in Härtefonds aufgenommen hat, dann stelVolker Beck ({0}) len wir fest: Die ganze Entschädigungsgesetzgebung ist im Hinblick auf unsere Haltung gegenüber den vielen Millionen Opfern des Nationalsozialismus kein Ruhmesblatt. ({1}) Ich bin zufrieden, dass wir heute einen Schritt nachholen. Trotzdem ist das Ganze nicht ohne Bitternis. ({2}) Deshalb sichere ich Ihnen zu: Unsere Fraktion wird alles tun, damit das hier schnell über die Bühne geht. Auf Fristeinreden und Anhörungsrechte verzichten wir gerne. Wir wollen, dass die Leistungen nun so schnell wie möglich bei den Opfern in Polen ankommen. ({3}) Wir haben diese Woche, am 70. Jahrestag, der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht. Ich war mit dem Bundespräsidenten selbst in Auschwitz bei der Gedenkfeier. Wir werden dieses Jahr auch noch des 70. Jahrestages der Befreiung des europäischen Kontinents vom nationalsozialistischen Terror gedenken. Ich will Ihnen sagen, auch da gibt es noch offene Fragen - das beschämt mich -, derer wir uns dringend annehmen sollten. ({4}) Bis zum heutigen Tag sind die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Bis zum heutigen Tag haben sowjetische Kriegsgefangene, die den Terror der Russenlager überlebt haben, keinen Cent von Deutschland gesehen. Ich finde, es wäre gerade in diesen Tagen - mit dem Konflikt, den es mit Putin gibt - ein Zeichen der Völkerverständigung und der Annahme der historischen Verantwortung, wenn wir den Völkern der ehemaligen Sowjetunion - den Russen, den Weißrussen und den Ukrainern, den Kasachen und allen anderen Völkern sagen: „Die, die in Deutschland gelitten haben, waren Opfer des Nationalsozialismus, sie sollten vernichtet werden; wir erkennen das als Verbrechen an“, und diesen Menschen, die es überlebt haben, mit einer humanitären Geste und der Bitte um Verzeihung und Vergebung die Hand geben. ({5}) Für die sowjetischen Kriegsgefangenen galt das gesamte Kriegsvölkerrecht der Genfer Konvention nicht - durch Sonderbefehle war außer Kraft gesetzt, was für westalliierte Gefangene galt -, sie sind zu Millionen - 2 bis 3 Millionen Opfer gab es, wird geschätzt - in Deutschland verhungert, an Krankheiten gestorben, elendig zugrunde gegangen, weil die nationalsozialistische Vernichtungspolitik es darauf abgesehen hatte. Lassen Sie uns in diesem 70. Jahr der Befreiung diese Frage im Deutschen Bundestag gemeinsam zwischen allen Fraktionen klären! Noch einen Satz zu einer anderen Frage der historischen Verantwortung, die auch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenhängt: Nach Deutschland kamen viele Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten. Es kamen viele Deutsche aus den Staaten Osteuropas, weil sie als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil für die Verbrechen des Hitlerfaschismus verantwortlich gemacht wurden und deshalb fliehen mussten. 1990 haben wir aus ähnlichen historischen Gründen - wegen des Antisemitismus in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion - uns entschieden, jüdische Kontingentflüchtlinge hier in Deutschland aufzunehmen - ein Grund, warum wir wieder ein blühendes jüdisches Leben in Deutschland haben. Aber anders als bei den deutschen Aussiedlern, die zu uns kommen, werden die Rentenansprüche, die diese Menschen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion erworben haben, in unserem Rentensystem nicht berücksichtigt. Aussiedler bekommen diese Zeiten nach dem Fremdrentengesetz anerkannt. Lassen Sie uns endlich die jüdischen Kontingentflüchtlinge wie die Aussiedler in das Fremdrentengesetz aufnehmen! Das kostet am Ende nicht viel Geld; aber es macht einen Unterschied gerade für diese Menschen mit ihren schweren Schicksalen, ob sie Grundsicherung im Alter beziehen müssen oder eine Rente bekommen, die würdigt, was sie in ihrem Leben geleistet haben, und ihnen aus eigenem Recht zugesprochen wird. Frau Staatssekretärin, es wäre schön, wenn Sie das in Ihrem Haus erwägen könnten, sodass wir diese Frage bald lösen; denn das sind hochbetagte Menschen, die schwer gearbeitet haben, oftmals Verfolgungen ausgesetzt waren und mit ihren Familien vor dem Hitlerfaschismus geflohen sind. Denen ging es auch in der Sowjetunion und im späteren Russland oder der Ukraine nicht immer gut: weil sie Juden waren. Wir haben sie deshalb aufgenommen. Lassen Sie sie uns im Rentenrecht endlich deutschen Aussiedlern gleichstellen! Sie sind Deutsche oder gehören zum deutschen Volk, sie gehören zu uns, sie sollen gleichberechtigt werden. ({6})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion. ({0})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 70 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit; wir hatten am Dienstag die Gedenkstunde hier im Deutschen Bundestag. Auschwitz steht für die Ausrottung von Menschen nur weil sie Juden waren, Kommunisten, Homosexuelle oder weil sie mit einer Behinderung lebten. Auschwitz ist nicht nur für mich, sondern sicherlich auch für Sie das Symbol für die systematische Vernichtung von Menschen, denen letztendlich das Menschsein Waltraud Wolff ({0}) abgesprochen worden ist. Ich bin glücklicherweise nach 1945 geboren, und ich könnte sagen: Ich persönlich trage keine Schuld. - Aber mir geht es immer wieder so, dass ich diese Fassungslosigkeit fühle über das, was in dem Land unserer Mütter und Väter passiert ist. Wir alle - darüber bin ich auch besonders froh - sind heute einig darin, dass wir schnell auf den Weg bringen, dass Menschen, die in Ghettos gearbeitet und unter den Nazis gelitten haben, zu ihrem Recht verholfen wird. Das sind Menschen, die heute in Polen leben. Wir haben schon gehört, wie schwierig das in der letzten Zeit gewesen ist. Nach mehreren Anläufen und Rückschlägen haben wir im Sommer diese Veränderung hinbekommen, die Rückwirkungsfrist ab Juli 1997 beschlossen. Das erforderliche Sozialabkommen mit Polen - dafür bedanke ich mich auch ganz besonders bei Frau Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller, die heute dazu Stellung genommen hat - wurde schnell auf den Weg gebracht, und wir können heute mit der ersten Lesung hier auch zu einem Abschluss kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Uri Chanoch hat in einer Stellungnahme an den Bundestag aus Sicht der Betroffenen Folgendes formuliert - Zitat -: Für mich und jeden Ghettoüberlebenden bedeutet die Anerkennung der Arbeitsleistung im Ghetto, dass endlich auch dieser Teil der Geschichte zur Kenntnis genommen … wird. Dieses Abkommen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Zeichen dafür. Uri Chanoch wurde 1941 ins Ghetto Kauna und später über das Konzentrationslager Stutthof ins Außenlager Landsberg/Lech deportiert. Wir können das Leid, das ihm und vielen, vielen anderen zugefügt wurde, nicht ungeschehen machen, wir müssen es aber als Teil unserer Geschichte anerkennen. Es kann unter die Unmenschlichkeit des Holocaust einfach kein Schlussstrich gezogen werden. Geschichte kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber nur, wenn wir uns aktiv mit ihr auseinandersetzen, können wir dazu beitragen, dass Geschichte so nicht noch einmal passiert. ({1}) Die Ghettos, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleiben Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Wir zeigen heute, dass wir den Menschen, die noch am Leben sind, den wenigen Überlebenden - da schließe ich noch einmal an Herrn Beck an; ich war auch schon im Bundestag, als wir unter Rot-Grün dieses Gesetz beschlossen haben -, zum Recht verhelfen - darüber können wir froh sein -, spät, aber hoffentlich nicht zu spät. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Freudenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Gesandter! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine kleine Delegation der CSU-Landesgruppe war vor vier Monaten zu Gast in Polen - ich war auch dabei -, und in den Gesprächen mit dem deutschen Botschafter in Warschau, Rolf Nikel, und mit dem polnischen Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Marek Bucior, waren die Ghettorenten immer auch ein Thema. Es wurde sehr deutlich, wie sehr es der polnischen Regierung daran liegt, die Auszahlung der Ghettorenten an Polen möglich zu machen. Ich möchte mich deshalb auch ausdrücklich bei unserem Arbeits- und Sozialministerium dafür bedanken, dass die Sache angepackt und jetzt auch zu einem guten Abschluss gebracht wurde. Das Warschauer Ghetto war gerade einmal 3 Quadratkilometer groß. Auf dieser Fläche wurden von 1940 an zeitweise mehr als 400 000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen eingepfercht - mehrheitlich deutsche und polnische Juden, aber auch Roma. Eine ganze Großstadtbevölkerung lebte also auf einer Fläche, die ungefähr so groß war wie der ehemalige Berliner Flugplatz Tempelhof. Der Alltag war von Unterversorgung, Diskriminierung und Gewalt geprägt. Die Menschen waren im Ghetto eingesperrt. Ihren Lebensunterhalt mussten sie dennoch selbst bestreiten. Ihnen blieb also meist gar nichts anderes übrig, als unter unwürdigen Bedingungen für die örtlichen Firmen zu arbeiten. Viele wurden ab 1942 in ein Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht. Nur wenige Tausend überlebten. Einer von ihnen, den wir alle kennen, war Marcel Reich-Ranicki. Er war damals Anfang 20. Seine Eltern jedoch wurden ebenso ermordet wie sein Bruder. Vor drei Jahren hat Marcel Reich-Ranicki seine Erinnerungen an das Warschauer Ghetto ja auch in diesem Haus eindrucksvoll geschildert. Erst am Dienstag haben wir hier in einer gemeinsamen Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Auch 70 Jahre später bleibt das Leid, das von deutschem Boden ausging, unvorstellbar. Aber wir haben uns ebenso eindeutig zur historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den Opfern bekannt auch im Hinblick auf die Wiedergutmachung. Das Leid kann natürlich nicht durch Geld- oder Sozialleistungen abgegolten und schon gar nicht im eigentlichen Sinne in irgendeiner Form wiedergutgemacht werden. Unsere Bemühungen gehen dahin, zumindest die Folgen des erlittenen Unrechts etwas zu mildern. Es sind insofern Gesten, und auch der vorliegende Gesetzentwurf ist eine solche Geste an die Arbeiter aus den Ghettos. Die allermeisten, die die Schoa überlebten, wanderten danach nach Israel oder in die USA aus. Ghettorenten können an sie seit mehr als zehn Jahren grundsätzlich ausbezahlt werden. Einige aber blieben in Polen oder gingen dorthin zurück, und das Sozialversicherungsabkommen zwischen Polen und Deutschland von 1975 hat es bisher unmöglich gemacht, auch an sie eine Rente aus Deutschland zu zahlen. Der Rentenexport war also ausgerechnet in jenes Land unmöglich, in dem die deutschen Besatzer die größten Ghettos errichtet hatten. Das jetzt vorliegende Abkommen zum Export besonderer Leistungen an Berechtigte in Polen macht es der Rentenversicherung möglich, Renten an Überlebende aus polnischen Ghettos zu exportieren. Das ist keine Entschädigung, sondern eine Rente für geleistete Arbeit. Für viele - das wurde schon erwähnt - kommt dieser Schritt zu spät - für die allermeisten sogar. Es sind wohl nur noch wenige Hundert, die diese Rente nun beziehen können, und ich würde mir deswegen wünschen, dass die Auszahlung rasch erfolgen kann. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3787 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundestagsmehrheit nutzen - Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen - zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Cornelia Möhring, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien Pille danach schnell umsetzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbstbestimmung bei der Notfallverhütung stärken - Pille danach mit Wirkstoff Levonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht entlassen Drucksachen 18/1617, 18/2630, 18/303, 18/492, 18/3825 ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der kostenlosen Abgabe an junge Frauen ({3}) Drucksache 18/3834 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({4}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen zügig vorzunehmen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion. ({5})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns nun ja schon seit längerer Zeit und in vielen Debatten und Anhörungen mit der sogenannten Pille danach ({0}) und vor allen Dingen mit der Entlassung aus der Rezeptpflicht für das in Deutschland zugelassene Präparat beschäftigt. Mir persönlich ist die Beibehaltung der Rezeptpflicht für das in Deutschland zugelassene Präparat ein Anliegen, und zwar aus mehreren Gründen. Ich habe mich immer für eine Beratung dahin gehend stark gemacht, ob überhaupt ein und gegebenenfalls welches Notfallkontrazeptivum im konkreten Fall passt. Mir war immer die informierte Entscheidung wichtig. Die Anhörungen - auch darauf habe ich an dieser Stelle schon mehrfach hingewiesen - haben ergeben - das haben viele Einzelsachverständige, aber auch die Vertreter der Bundesärztekammer und des GKV-Spitzenverbandes so erläutert -, dass gerade die Beratung sehr wichtig ist. Dabei geht es mir zuerst darum, die Gesundheit der Frauen zu schützen, nicht um irgendeine vermeintliche Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Zum anderen habe ich an dieser Stelle immer darauf verwiesen, wie wichtig es ist, dass wir für beide Notfallkontrazeptiva die gleichen Rahmenbedingungen erreichen, also nicht für das EU-Präparat die Rezeptpflicht und für das deutsche Präparat den freien Verkauf haben. Wenn nun das effektivere Arzneimittel - das Wort „effektiv“ kommt nicht von mir, sondern das hat der Sachverständige Professor Wallwiener bei der letzten Anhörung verwendet - nur verschreibungspflichtig erhältlich wäre und das weniger effektive aber rezeptfrei in der Apotheke, dann würden wir den betroffenen Frauen den falschen Weg weisen, nämlich hin zum schnell verfügbaren, aber im jeweiligen Einzelfall möglicherweise weniger wirksamen Präparat. Genau darum haben wir in den letzten Monaten und in den vergangenen Wochen gerungen. Nehmen wir diese ungleichen Rahmenbedingungen in Kauf? Legen wir weiterhin Wert auf die informierte Entscheidung? Wie können wir gegebenenfalls die Beratung auch ohne Rezeptpflicht sicherstellen? Diese Überlegungen mögen nun manche als überflüssig ansehen. Für mich jedenfalls war die schnellere Lösung nicht immer die bessere. Genau deswegen bin ich heute umso zufriedener, dass sich dieses Ringen gelohnt hat. Die Entscheidung der Europäischen Kommission, ellaOne mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, hat uns natürlich die Entscheidung erleichtert. ({1}) Jetzt haben wir für das in Deutschland zugelassene Präparat eine neue Ausgangslage. Eines war für mich immer klar: Selbstverständlich brauchen die Frauen in Deutschland einheitliche Rahmenbedingungen für beide Notfallkontrazeptiva. Nachdem die Gefahr, dass das schneller verfügbare Präparat gekauft wird, gebannt ist, ist uns auch die Entscheidung leichter gefallen. Wir werden selbstverständlich auch das deutsche Präparat mit dem Wirkstoff Levonorgestrel aus der Verschreibungspflicht entlassen. Das BMG hat dafür die notwendigen Änderungen der Arzneimittelverschreibungsverordnung veranlasst. Diese 14. Änderungsverordnung wurde sehr zügig auf den Weg gebracht. Herzlichen Dank übrigens an das BMG für dieses schnelle Vorgehen. ({2}) In der Sitzung des Bundesrats am 6. März wird hierüber abschließend beraten. Mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung können dann Frauen beide Notfallkontrazeptiva kostenpflichtig in der Apotheke beziehen, und zwar ohne zuvor den Arzt konsultiert zu haben. Bis dahin ist ellaOne mit einer OTC-Packungsbeilage im Handel; auch dafür hat das BMG bereits gesorgt. Jetzt noch einmal zum Thema Beratung. Frauen, die befürchten, nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr schwanger geworden zu sein, brauchen natürlich eine kompetente Beratung; das haben auch die Grünen in ihrem Gesetzentwurf so gesehen. Vor allen Dingen bin ich froh, dass wir uns in der Koalition einig sind. Uns ist gemeinsam wichtig, dass für alle betroffenen Frauen ein hohes Beratungsniveau beibehalten wird. Genau deswegen haben sich das BMG und viele Gremien wie das BfArM, die Bundesärztekammer, die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Berufsverband der Frauenärzte, die ABDA, die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker und der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller zusammengesetzt, um das weitere Vorgehen zu erörtern, und zwar unmittelbar und direkt nach der Freigabe des einen Mittels durch die EU. Schneller geht es nicht. Kurz das Ergebnis: Es wird auch künftig auf der Basis einer Leitlinie, die von der Apothekerschaft erarbeitet wird, eine standardisierte Beratung in den Apotheken geben. Die ABDA hat zugesagt, dass sie die entsprechenden Handlungsempfehlungen möglichst zeitnah erstellt. Sie hat den Entwurf bereits geliefert, und sie wird in den nächsten Wochen mit der Schulung beginnen. Die künftige Leitlinie wird selbstverständlich mit den genannten Gremien und vor allen Dingen mit dem BMG abgestimmt. Genauso selbstverständlich wird übrigens die Expertise der qualifizierten Schwangerschaftsberatung einbezogen. Ich gehe davon aus, dass ebenfalls im März die qualifizierte und standardisierte Beratung in der Apotheke sichergestellt ist, und ich hoffe, dass diese Beratung weiterhin auf so hohem Niveau erfolgt wie bisher bei den Ärzten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entlassung aus der Verschreibungspflicht hätte auch grundsätzlich Folgen für die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung. Denn bisher haben die Versicherten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr auch Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln, aber nur dann, wenn sie ärztlich verordnet werden. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, bin ich bei Ihrem Gesetzentwurf. Sie wollen verständlicherweise weiterhin die kostenlose Abgabe der Pille danach an die jungen Frauen ermöglichen. Auch wenn die Begründung holprig ist: Das Anliegen eint uns. In der Zielsetzung sind wir uns fast einig. Dennoch werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen, weil wir die schnellere und bessere Lösung haben. ({3}) Mit einer Änderung des § 24 a Absatz 2 SGB V schaffen wir eine Ausnahmeregelung für die nicht verschreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva. Auch Kosten für diese nicht verschreibungspflichtigen Präparate müssen künftig für die unter 20-jährigen Frauen von den Krankenkassen übernommen werden, sofern eine ärztliche Verordnung vorliegt. Damit helfen wir den jungen Frauen, die vielleicht auch weniger Geld zur Verfügung haben und sich den direkten Kauf in der Apotheke nicht leisten können. Den notwendigen Änderungsantrag haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales mit dem 5. Änderungsgesetz zum SGB IV als Omnibus bereits eingebracht. Auch diese Regelung wird voraussichtlich noch im März vorliegen. Damit sind wir deutlich schneller, als dies mit einer Richtlinienanpassung über den G-BA, wie Sie es vorschlagen, zu bewältigen gewesen wäre. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin zuversichtlich, dass wir mit den neuen Regeln bzw. unseren Änderungen die für die Frauen bestmögliche Lösung schaffen. Anträge und Gesetzentwürfe der Opposition brauchen wir dazu, wie immer, nicht. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ja in Zeiten der Großen Koalition nicht sehr häufig gute Nachrichten für die Bürgerinnen und Bürger, aber ich bin sehr froh, dass wir heute eine Ausnahme machen können: Die Pille danach wird endlich rezeptfrei. ({0}) Damit werden unnötige Hürden für Frauen abgebaut, die sich nach einer Verhütungspanne vor einer Schwangerschaft schützen wollen. Künftig müssen sie in solchen Fällen nicht mehr zuerst in eine Arztpraxis oder ins Krankenhaus, sondern können gleich in die Apotheke gehen. Damit kehrt in Deutschland endlich ein Stück europäischer Normalität ein, das von den Unionsparteien leider lange verhindert wurde. ({1}) Das ist wirklich eine gute Nachricht für die Frauen; denn die Pille danach wirkt umso sicherer, je eher sie eingenommen wird. Gerade am Wochenende oder auf dem Land war es für Frauen manchmal schwierig, rechtzeitig erst ein Rezept und dann auch noch das Medikament zu bekommen. Es gibt also Grund zur Freude. Traurig ist nur, dass die Frauen so lange auf diese Entscheidung warten mussten. Das war auch völlig unnötig. Schon vor über zwei Jahren, am 16. Januar 2013 - also noch in der alten Wahlperiode -, hat die Linke einen Antrag dazu in den Bundestag eingebracht. Damals gab es bereits seit zehn Jahren eine entsprechende wissenschaftlich begründete Empfehlung des zuständigen Ausschusses beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Im Februar 2014 erneuerte das Institut seine Entscheidung. Doch keine Bundesregierung bisher hat diese Empfehlung aufgegriffen, weder Ulla Schmidt von der SPD noch Philipp Rösler oder Daniel Bahr von der FDP und natürlich erst recht nicht Hermann Gröhe von der CDU. ({2}) Im Bundestag gibt es zwar schon lange eine Mehrheit für die Verschreibungsfreiheit der Pille danach. Denn nicht nur die Linke und die Grünen, die heute Anträge vorgelegt haben, sondern auch die SPD hat sich immer wieder deutlich dafür ausgesprochen. Aber leider werden Sie auch heute unseren Anträgen erneut nicht zustimmen; denn das dürfen Sie wegen der Koalitionsdisziplin nicht. ({3}) Schade! Dabei mussten die Sozialdemokratinnen das eine oder andere Mal wohl die Faust in der Tasche ballen, ({4}) etwa als der Kollege Jens Spahn von der Union den Frauen unterstellt hat, sie würden diese Notfallkontrazeptiva wie Smarties schlucken, wenn diese Arzneimittel nicht mehr verschreibungspflichtig wären. Derartige Frauenfeindlichkeit und Frauenverachtung kann man kaum ertragen. ({5}) Der plötzliche Erkenntniszuwachs beim Gesundheitsminister ist nicht vom Himmel gefallen. Das kam ganz einfach: Gegen den Widerstand aus Berlin hat die EUKommission den Wirkstoff Ulipristal europaweit aus der Verschreibungspflicht genommen. Dieser Wirkstoff bewirkt dasselbe wie Levonorgestrel, über den wir heute debattieren und für den noch allein die Bundesregierung zuständig wäre. Unterschiedliche Regelungen für diese beiden Wirkstoffe? Das kann selbst ein Herr Gröhe der Öffentlichkeit nicht mehr verkaufen. So hat er nun nach langem Widerstreben endlich aufgegeben und die nötige Verordnung auf den Weg gebracht, übrigens genau an dem Tag in der letzten Sitzungswoche, an dem unsere Anträge im Gesundheitsausschuss zur abschließenden Debatte standen. Ich freue mich, dass wir diese Entscheidung endlich erleben dürfen; denn diese Entscheidung stärkt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Sie entspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen und hilft vielleicht sogar, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Deswegen begrüßen wir sie. ({6}) Auch unsere zweite Forderung haben Sie aufgegriffen, nämlich dass jüngere Frauen unter 20 weiterhin auf Kosten der Krankenkassen mit diesen Verhütungsmitteln versorgt werden können, wenn sie ärztlich verordnet werden. Auch das ist gut und das unterstützen wir. Das zeigt wieder einmal, dass sich beharrliche Oppositionsarbeit doch lohnt. ({7}) Ich danke Ihnen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich das Wort. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der lange Atem, den wir als SPD-Bundestagsfraktion beim Thema Pille danach bewiesen haben, hat sich gelohnt. ({0}) Er hat sich gelohnt vor allem für die Frauen in Deutschland. Sie werden die Pille danach schon bald ohne Rezept in der Apotheke erhalten. Gut, dass wir so beharrlich waren. 2012 haben wir als SPD-Fraktion den ersten Antrag gestellt und damit als erste Fraktion im Deutschen Bundestag die Rezeptfreiheit der Pille danach gefordert. ({1}) Mit dieser Forderung standen wir schon damals nicht allein. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat schon 2003 empfohlen, die Verschreibungspflicht aufzuheben. Auch die Europäische Arzneimittel-Agentur vertritt seit Jahren die Meinung, dass die Pille danach auch ohne ärztliche Verschreibung sicher und effektiv ist. Die Weltgesundheitsorganisation rät seit 2010 dazu, die Pille danach rezeptfrei abzugeben. Die Pille danach ist gut erforscht und weitgehend frei von Nebenwirkungen, und zwar unabhängig vom Wirkstoff. Alle bisherigen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die beiden Wirkstoffe Ulipristal und Levonorgestrel ein vergleichbares Sicherheitsprofil haben. Es gibt also gute Gründe dafür, dass in rund 80 Staaten der Welt die Pille danach ohne Rezept erhältlich ist. Auch in den meisten europäischen Staaten ist die Pille danach bereits rezeptfrei zu bekommen. Viele unserer Nachbarländer wie zum Beispiel Belgien, Frankreich und die Niederlande machen damit gute Erfahrungen. Dass jetzt endlich auch in Deutschland unsere Forderung erfüllt wird, dass die Pille danach schon bald auch hierzulande rezeptfrei abgegeben wird, freut mich sehr. ({2}) Ein längst überfälliger und wichtiger Schritt für das Selbstbestimmungsrecht moderner Frauen ist damit vollzogen. Ich hoffe, dass bereits im Frühjahr Frauen von der getroffenen Entscheidung profitieren. Künftig kommen sie bei Bedarf unkompliziert und schnell an die Pille danach. Die meisten Verhütungspannen passieren schließlich am Wochenende oder dann, wenn der vertraute Frauenarzt gerade keine Sprechstunde hat. Bislang war der Gang in die Notaufnahme dann der einzige Weg, um rechtzeitig die Pille danach zu erhalten. Dieser Gang in die Notaufnahme bedeutete oft enorme Wartezeiten und konnte durchaus zu einem Spießrutenlauf geraten, bei dem sich die betroffenen Frauen unangemessene Bemerkungen anhören mussten. Das alles gehört nun, so hoffe ich, der Vergangenheit an. ({3}) Die Befreiung der Pille danach von der Rezeptpflicht ist ein Erfolg unserer Hartnäckigkeit, und dieses Eigenlob, liebe Genossinnen und Genossen, haben wir uns redlich verdient. ({4}) Im jahrelangen politischen Tauziehen haben wir als SPD-Bundestagsfraktion einen kühlen Kopf bewahrt, für unseren Standpunkt geworben und die Skeptiker überzeugt. Dem einen oder anderen Skeptiker half - das will ich hier nicht verschweigen - zu guter Letzt noch ein Impuls aus Brüssel auf die Sprünge. Am 7. Januar 2015 entschied die EU-Kommission, die Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristal aus der Rezeptpflicht zu entlassen. Damit markierte die Kommission einen Wendepunkt im Kampf für die Rezeptfreiheit und hat im Gesundheitsministerium ein erfreuliches Umdenken bewirkt. Das Gesundheitsministerium will diese europäische Entscheidung jetzt im Rahmen der 14. Verordnung zur Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung zügig umsetzen. Ich begrüße dies ausdrücklich. Die neue Verordnung sieht auch vor, dass die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel künftig nicht mehr verschreibungspflichtig ist. Ich begrüße auch die Regelungen zur Erstattung. Hier ist Folgendes vorgesehen: Für unter 20-jährige Frauen soll die Pille danach weiterhin kostenlos sein. Bisher haben Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln, wenn sie ärztlich verordnet werden. Um auch nach der Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht sicherzustellen, dass für Frauen, die das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Kosten nicht nur für herkömmliche empfängnisverhütende Mittel, sondern auch für Notfallkontrazeptiva durch die GKV übernommen werden, wird der Artikel 1 § 24 a SGB V entsprechend geändert. Der neue Satz 2 dieses Paragrafen sieht eine entsprechende Ausnahmeregelung für die nicht verschreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva vor. Die Regelung bestimmt, dass die Kosten für diese nicht verschreibungspflichtigen empfängnisverhütenden Mittel durch die Krankenkassen zu tragen sind, sofern eine ärztliche Verordnung vorliegt. Uns allen ist klar: Die Pille danach ist ein Notfallmedikament. Sie ist kein Ersatz für die Antibabypille. Sie wirkt nicht, wenn sich die befruchtete Eizelle bereits eingenistet hat. Die Pille danach ist demnach kein Präparat, das einen Schwangerschaftsabbruch zur Folge hat. Die Pille danach ist ein wichtiges Mittel zur Prävention ungewollter Schwangerschaften und ihre Freigabe damit eine große Erleichterung für Frauen. Mit der Aufhebung der Rezeptpflicht stellt sich allerdings auch die Frage der medizinischen Beratung und Aufklärung neu. Beides darf auf keinen Fall vernachlässigt werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass Frauen auch in Apotheken fachkundig beraten und ausführlich über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt werden. ({5}) Auf keinen Fall darf der Eindruck aufkommen, die Pille danach könne man so bedenkenlos wie eine Kopfschmerztablette einnehmen. ({6}) Eine gute Beratung bei der Abgabe der Pille danach muss also auf jeden Fall sichergestellt werden. In diesem Punkt besteht weithin Einigkeit. Wie die Dokumentation im Einzelnen ausgestaltet werden soll und wie Beratung und Aufklärung vergütet werden können, ist dagegen noch offen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Apotheker eine qualitativ gute Beratung leisten können. Schließlich ist die Beratung zur Einnahme von Arzneimitteln für die Apotheker kein Neuland, sondern eine Kernkompetenz. ({7}) Sie beweisen tagtäglich, dass sie die nötige Fachkenntnis und auch das wünschenswerte Fingerspitzengefühl haben. Gemeinsam mit Frauenärzten, Apothekern und dem BfArM werden derzeit fachliche Kriterien dafür entwickelt, wie Beratungsgespräche diskret gestaltet werden können. Von allen Seiten höre ich, dass diese Gespräche sehr konstruktiv verlaufen. Ob am Ende nun ein standardisierter Dokumentationsbogen oder eine Art Checkliste mit Fragen stehen wird, ist gegenwärtig noch offen. Zu klären sind auch noch einige offene Fragen, wie zum Beispiel die, ob auch Versandapotheken der Versand erlaubt werden kann und ob es eine Mindestaltersgrenze für die Abgabe für die Pille danach geben kann. Ich hoffe, dass diese Fragen rasch geklärt werden, damit für die betroffenen Frauen keine unnötigen Unsicherheiten entstehen. Die Rezeptfreiheit der Pille danach war von Anfang an ein Herzensthema der SPD-Bundestagsfraktion. Gesundheitsminister Gröhe hat mit der Eilverordnung schnell und richtig reagiert und kommt damit den Forderungen nach, die wir als SPD-Bundestagsfraktion seit langer Zeit stellen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Stamm-Fibich, Sie müssen zum Schluss kommen.

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende. - Die Anträge von Linken und Bündnis 90/Die Grünen sowie deren Gesetzentwurf haben sich mit der Eilverordnung erübrigt und werden daher von uns abgelehnt. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort.

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesundheitsminister Hermann Gröhe hat endlich angekündigt - wir haben es mittlerweile mehrfach gehört -, die Pille danach aus der Rezeptpflicht zu entlassen. Das ist eigentlich eine gute Nachricht für die Frauen in diesem Land. Aber ich finde, es bleibt ein bitterer Nachgeschmack; denn die Entscheidung war keine freiwillige. Die EU-Kommission musste den Minister erst zur Vernunft zwingen. Sie hat klar entschieden, die Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat europaweit ohne Verschreibung freizugeben. Ohne das wäre meiner Ansicht nach nichts passiert. ({0}) - Ja, das mag sein. Aber sonst wäre nichts passiert. Auch Sie hätten daran nicht viel geändert. Dass er jetzt auch den zweiten, weitaus besser geprüften Wirkstoff Levonorgestrel aus der Verschreibungspflicht entlassen will, ist mehr als folgerichtig. Das war seit langem eine grüne Forderung. ({1}) Für dieses unnötige Geziehe und Gezerre kann Minister Gröhe von uns keinen Applaus erwarten. ({2}) Die Aufhebung der Rezeptpflicht war längst überfällig. Sie von der Union haben mehr als zehn Jahre verhindert, dass es dazu kam, erst zu rot-grünen Zeiten durch Ihre Blockade im Bundesrat und in den letzten Jahren als Regierungsfraktion. Sie blieben bei dem Kurs; auch Sie ignorierten den ausdrücklichen Rat der zuständigen Behörden. Warum? Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Gründe: Zum einen waren Sie von der Union aus ideologischen Gründen dagegen, die Pille danach freizugeben. ({3}) Mir scheint, Sie haben nach wie vor ein Problem damit, die reproduktiven Freiheiten von Frauen ohne Wenn und Aber zu stärken. ({4}) Zum anderen - das finde ich genauso fatal - haben Sie sich dem Druck der Ärztelobby gebeugt. Die Gynäkologen haben nämlich kein Interesse daran, dass die Pille danach direkt in Apotheken verkauft wird. Sie wollen, dass die Frauen in ihre Praxis kommen und sie Rezepte verschreiben können. Damit verdienen sie ihr Geld. Ich muss hier einmal anmerken - ich habe mir die letzte Debatte noch einmal sehr genau angesehen -: Es war wirklich schwer erträglich, wie Sie von der Union sich ausschließlich für die Interessen der Ärzteschaft starkgemacht haben. Sie haben das Selbstbestimmungsrecht der Frauen diesen untergeordnet. Nun hat der Minister erfreulicherweise die Seite gewechselt, und Sie müssen jetzt zusehen, wie Sie auf die neue Linie kommen. ({5}) Sie, Kollegin Maag, haben das heute schon ganz gut unter Beweis gestellt. ({6}) Ich finde, der Minister hätte die Urteile der Expertinnen und Experten von vornherein ernst nehmen müssen. Der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht sprach sich wiederholt für die Rezeptfreiheit aus; aber der Minister hielt viel zu lange daran fest, und zwar gegen die Vernunft und auch gegen Lösungen für Frauen in Notsituationen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich betone noch einmal ausdrücklich: Bei einer Verhütungspanne oder gar nach einer Vergewaltigung zählt für die Frau jede Stunde, vor allem am Wochenende. Ich bin davon überzeugt, dass Frauen verantwortungsvoll mit dem Präparat umgehen. Es wäre gut, wenn Sie von der Union das endlich auch so sähen. ({7}) Außerdem geht es jetzt darum, dass junge Frauen die Möglichkeit erhalten, wie bisher die Pille danach kostenfrei bzw. gegen Zuzahlung zu bekommen. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das Sozialgesetzbuch V ändern, damit junge Frauen entscheiden können: Pille danach entweder kostenlos mit ärztlicher Verschreibung oder selbst zahlen direkt in der Apotheke. ({8}) - Ja, jetzt machen Sie es. Aber unser Gesetzentwurf lag ein bisschen eher vor. - Das nenne ich Selbstbestimmtheit und echte Wahlfreiheit für junge Frauen. Weiterhin setzen wir darauf, die qualifizierte Beratung durch die gut ausgebildeten Apothekerinnen und Apotheker zu stärken. Wir wollen auch Entscheidungshilfen im Internet anbieten. Wir wollen den Frauen ermöglichen, eine informierte Entscheidung zu treffen. ({9}) Ich meine, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eigentlich ganz einfach. Sie haben jetzt einen Vorschlag vorgelegt. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie können dem eigentlich zustimmen. Wir sind dann gemeinsam auf der Zielgeraden. Für die Frauen ist das auf jeden Fall eine gute Entscheidung. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/3825. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1617 mit dem Titel „Bundestagsmehrheit nutzen - Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2630 mit dem Titel „Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/303 mit dem Titel „Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien Pille danach schnell umsetzen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/492 mit dem Titel „Selbstbestimmung bei der Notfallverhütung stärken - Pille danach mit Wirkstoff Levonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht entlassen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSUFraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3834 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({1}) Climate Engineering Drucksache 18/2121 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich nehme an, dass der Geräuschpegel keinen Widerspruch zu dieser Vereinbarung bedeutet, sondern nur das Bemühen ausdrückt, möglichst zügig die Weiterführung der Verhandlungen zu ermöglichen. Es fällt mir auf, Kollege Lengsfeld, dass wir öfter die Situation haben, dass ich erst einmal für Ruhe sorgen muss, damit Sie hier sprechen können. ({3}) - Ja, auch aus der eigenen Fraktion. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Lengsfeld. ({4})

Dr. Philipp Lengsfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004338, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor uns liegt ein besonders interessanter Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung. Er handelt vom Aufregerthema Klimawandel und ist aus meiner Sicht Technikfolgenabschätzung im besten Sinne. Die momentane Grundstrategie beim Thema Klimawandel fokussiert auf die Minderung des Ausstoßes von Treibhausgasen. Diese Strategie ist die Mitigation, also Dämpfung. Sie steht auch im Zentrum unserer aktuellen politischen Diskussion in Deutschland. In dem vorliegenden Bericht geht es dagegen um Intervention, also um ein aktives großtechnisches globales Gegensteuern. Die international üblichen Fachtermini heißen Climate oder Geoengineering. Der Bericht behandelt die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen von solchen Interventionstechniken, die momentan aber nur diskutiert und noch nicht angewendet werden. Technikfolgenabschätzung ist hier so wichtig; ({0}) denn wir reden von hochmanipulativen globalen Eingriffen des Menschen in die Natur mit dem Ziel, befürchtete Klimaveränderungen zu verhindern. Mein Fazit aus dem Bericht möchte ich gleich an den Anfang stellen: Wir sollten vom Climate Engineering auf jeden Fall die Finger lassen. Ich will dies natürlich kurz begründen. Was wird konkret unter dem Terminus Climate Engineering diskutiert? Zunächst einmal gibt es eine ganz zentrale Grundannahme, die man verstehen muss. Diese zentrale Grundannahme besagt, dass der CO2-Ausstoß in die Luft und die damit verbundene Erderwärmung einen Punkt erreicht haben oder bald erreichen werden, an dem nur durch manipulative Eingriffe, also durch Climate Engineering, der gewünschte stabile klimatische Zustand bewahrt werden kann. Die diskutierten manipulativen Maßnahmen gliedern sich in zwei Hauptgruppen. Eine Hauptgruppe sind direkte Interventionen zur Dämpfung der Erderwärmung durch Temperaturmanipulation, zum Beispiel - und das ist kein Witz - durch die Anbringung großer Spiegel im All oder durch großflächige Aufhellung der Wolken durch Aerosole, um deren Reflexionseigenschaften zu erhöhen. Ziel ist es natürlich, den Wärmeeintrag in die Atmosphäre zu verringern und so die Erdtemperatur zu senken. Hier ist eigentlich intuitiv schon klar, dass diese Arten der Manipulation zu gefährlich, zu teuer und in ihrer Wirkung äußerst zweifelhaft sind. ({1}) Insgesamt etwas gefälliger wirken die indirekten Interventionen. Dies sind Vorschläge zum Entzug von CO2 aus der Atmosphäre. Ich will ein größeres Beispiel kurz näher diskutieren: Eine Idee, die, wie ich finde, zumindest oberflächlich betrachtet relativ attraktiv wirkt, ist die großflächige Aufforstung von Wüstenflächen, zum Beispiel die Aufforstung der Sahara. Bei näherer Betrachtung sind aber auch hier ungeheure lokale und globale Risiken verborgen; denn für eine großflächige Wüstenaufforstung braucht man Unmengen von Wasser. Hier möchte ich an ein warnendes historisches Beispiel für Geoengineering erinnern, unter dessen Folgen die betroffene Region noch heute ganz massiv leidet. Ich rede vom Aralsee. Das ist ein Beispiel für menschgemachte Naturmanipulationen mit katastrophalen Folgen. Damals ging es zwar nicht um die Rettung des Weltklimas, sondern um den Siegeszug des Kommunismus; aber die Methoden waren ähnlich. Man hat riesige Mengen Wasser in die Wüste umgeleitet, um eine extensive Baumwollproduktion zu ermöglichen. Leider ging darüber der Aralsee kaputt, wurde das Herz einer großen Region zerstört. Damit könnten wir es bewenden lassen. Wir haben, was die Kommunisten nicht interessiert hat, nämlich eine Abschätzung der Technikfolgen. Der Bericht zeigt uns, dass die Technologien zu unkontrollierbar sind, also lassen wir es. Climate Engineering zur Klimarettung ist keine Option. ({2}) Das heißt ja nicht, dass wir auf dem Gebiet nicht mehr forschen sollen. Aber wir können und müssen vielleicht noch mehr lernen; denn der Bericht macht deutlich, dass die momentanen Vorgaben in der internationalen Klimaforschung durch Mitigation vermutlich gar nicht mehr zu erreichen sind. Darüber muss man aber aus meiner Sicht nicht verzweifeln. Vielmehr sollten wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen; denn es gibt eine dritte Strategie, und das ist die Adaption. Wir konzentrieren global mehr Kräfte auf das Verständnis der kommenden Veränderungen und die Entwicklung nachhaltiger Strategien zur Anpassung, zur Adaption an diese Veränderungen. Hier sind unsere Kräfte richtig verwendet. Darauf sollten wir uns konzentrieren, meine Damen und Herren. Diesen Weg weist uns dieser Bericht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich bei den Wissenschaftlern des Büros für Technikfolgen-Abschätzung für den Bericht bedanken, ({0}) einen Bericht, der sehr lesenswert ist, für alle Klimabewegten ein Muss. Worum geht es bei Climate Engineering? Ich denke, das ist ganz schnell erklärt: Mit technischen Eingriffen in das globale Klima soll die Erderwärmung gestoppt werden. Diese einfache Idee steckt hinter dem Begriff. Für manche Wissenschaftler, Politiker und Manager von Energiekonzernen ist das anscheinend ein sehr betörender Gedanke. Mit technischen Eingriffen, nämlich durch das Versprühen von Schwefelpartikeln in der Atmosphäre, soll die Sonne verdunkelt und dadurch die Erde abgekühlt werden. Und mit technischen Eingriffen, nämlich durch das Einleiten von Chemikalien in die Ozeane, soll das Wachstum von Algen beschleunigt werden, damit diese mehr klimaschädliches CO2 aufnehmen. Eine Journalistin des RBB hat es so kommentiert: Die Idee scheint verlockend. Anstatt seine Gewohnheiten zu verändern, um die Erderwärmung zu stoppen, könnte der Mensch das Klima einfach künstlich überlisten. Ein bisschen Gott spielen. Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass sich die Öffentlichkeit, genau wie die Linke, vor diesen Frankenstein-Klimaingenieuren gruselt. ({1}) Wir werden uns aber nicht nur fürchten. Die Linke wird sich auch in Zukunft gegen das Rumschrauben am Weltwetter stellen, Vorhaben beobachten und sich notfalls für Verbote einsetzen - auch bei CCS, das Frau Umweltministerin Hendricks jüngst leider wieder ins Spiel gebracht hat. ({2}) Eigentlich reden wir heute nicht über Klima; es geht um die Beherrschbarkeit von Technik. Ich kann Ihnen sagen: Ich bin keine Technikfeindin; Umweltschützerinnen und Umweltschützern wird das ja ständig vorgehalten. Ich habe in einem hoch technisierten Unternehmen gearbeitet, für einen Maschinenbauer aus meiner Heimat Ingolstadt, der Baumwollspinnereimaschinen herstellt. ({3}) Wir alle sind von Technik, die unser Leben erleichtert, umgeben. Aber lassen Sie es mich auf den Punkt bringen: Climate Engineering birgt zu viele Risiken. Warum? Es gibt zu viele unbekannte Variablen im Hinblick auf das Klima, das Wasser, die Luft, den Untergrund, den Menschen, für Flora und Fauna. Das Klima ist ein hochkomplexes System. Es ist keine Klimaanlage, die man einfach an- und abstellt. Ich möchte zwei Stimmen zu Wort kommen lassen. Erstens, zur Vorhersagbarkeit. Sie kennen die Fragestellung des US-Meteorologen Edward Lorenz - es ist eine interessante Frage -: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Ja, er kann. Das Weltklima ist kein lineares System wie eine Maschine oder ein Lichtschalter. Die Verfechter der Sonnenstrahlungsbeeinflussung durch Schwefelpartikel setzen vor allem auf Computermodelle. Lorenz würde darüber den Kopf schütteln. Klima und Wetter sind chaotisch, Eingriffe nicht berechenbar. Alles andere ist gefährliche Hybris. Zweitens, zur Zielstellung. Statt, wie es die Linke fordert, einen Kohleausstieg einzuleiten und auf Erneuerbare umzusteigen, bliebe unsere fossile Lebensweise unangetastet. Darum schließe ich mit Albert Einstein. In seinem gerne vergessenen Aufsatz „Warum Sozialismus?“ ({4}) erklärt der vielleicht wichtigste Wissenschaftler der Moderne, man solle sich davor hüten, „die Wissenschaft und wissenschaftliche Methoden zu überschätzen, wenn es um Menschheitsprobleme geht“. An anderer Stelle schreibt er: Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Danke. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe vier Vertreter des deutschen Volkes auf der Besuchertribüne! ({0}) Seien Sie herzlich gegrüßt! Der französische Romanautor Jules Verne - die Älteren unter uns kennen noch Kapitän Nemo und die Nautilus - hat 1889 den Roman Der Schuss am Kilimandscharo veröffentlicht. Dort beschreibt er im Prinzip das erste Geoengineering-Projekt der Welt. Seine Protagonisten versprechen den Menschen, die Jahreszeiten abzuschaffen, damit man es immer schön warm hat, jedenfalls auf der Nordhalbkugel. Sie arbeiten an einem Plan, den sie auch ausführen. Sie bauen eine große Kanone am Kilimandscharo und hoffen, dass sie mit dem Rückstoß beim Abschuss die Erdachse verschieben, sodass die Nordhalbkugel immer in der Sonne liegt. Das geht alles schief. Am Ende heiratet der Held wenigstens. ({1}) Das kann auch schief gegangen sein. Aber soweit ich mich erinnere, ist es das erste Mal, dass ein Romanautor einen technischen Eingriff in das Klima beschreibt. Es hat mehr als 100 Jahre gedauert, bis die Überlegung von Climate Engineering, also die Veränderung des Klimas, durch eine Umweltkatastrophe wieder Eingang in die öffentliche Diskussion fand. 1991 - auch daran erinnern sich vielleicht die Älteren unter uns - brach der Vulkan Pinatubo auf den Philippinen aus. Dadurch wurden 17 Millionen Tonnen Schwefeldioxid in die Stratosphäre getragen. Dies führte dazu, dass die Sonnenstrahlen in Teilen reflektiert wurden und die Erde sich weniger stark erwärmte. In den darauffolgenden zwei Jahren hat man tatsächlich eine Absenkung der globalen Temperatur um fast ein halbes Grad gemessen. Das heißt, die Partikel, die sich in der Stratosphäre infolge des Vulkanausbruches befanden, haben dazu geführt, dass weniger Sonnenlicht den Boden erreichte und erwärmte. Der Nobelpreisträger für Chemie Paul Crutzen hat das im Jahr 2006 in einer wissenschaftlichen Arbeit aufgegriffen und überlegt, ob man den Klimawandel, der schon damals diskutiert wurde, nicht über eine solche Methode beeinflussen könnte. Er hat vorgeschlagen, Schwefeldioxid in großen Mengen in die Stratosphäre einzubringen, um die Erderwärmung zu reduzieren. In Deutschland hat 2009 ein deutsch-indisches Projekt die Diskussion um Climate Engineering öffentlich gemacht und beschleunigt, nämlich das deutsch-indische Eisendüngungsprojet Lohafex. Das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“ hat im südatlantischen Raum 20 Tonnen Eisensulfat ausgebracht. Eisensulfat ist ein Mikronährstoff für Algen, den sie zum Wachstum brauchen. Man hat über die Ausbringung in einem begrenzten Gebiet versucht, das Algenwachstum anzuregen mit dem Hintergedanken: Wo Algen wachsen - das ist ein natürlicher Prozess -, binden sie Kohlendioxid aus dem Wasser und damit indirekt aus der Atmosphäre; wenn sie zu Boden sinken, nehmen sie das gebundene CO2 mit und reduzieren so den Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre. Damals erschien ein Spiegel-Artikel dazu. Sowohl die Wissenschaft als auch die Politik waren von dieser Methode sehr überrascht, und in der Gesellschaft begann eine Diskussion darüber, ob man so etwas darf und welche Auswirkungen es hat. Dies führte am Ende zur Beauftragung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestages, das ein sehr bewährtes Instrument ist. Ich bedanke mich für die Gelegenheit, dass erstmals in den letzten Jahren ein TAB-Bericht einzeln diskutiert wird und nicht angehängt an ein anderes Thema. Dieser TAB-Bericht zeigt, welche Auswirkungen, welche Folgen und welche Potenziale Climate Engineering haben kann bzw. hat. Neben den beiden genannten Beispielen möchte ich die beiden Methoden ansprechen, die im Vordergrund stehen: Das eine ist die Strahlungsabschirmung, Radiation Management, also Strahlungsmanagement. Das andere ist das Einfangen von Kohlendioxid, wie es bei Lohafex geplant war, dass man also versucht, Kohlendioxid aus der Atmosphäre oder dem Wasser zu binden und dann zu entfernen. Bei beiden Arten von Climate Engineering wissen wir, bestätigt durch den TAB-Bericht, dass die Auswirkungen völlig unklar sind. Es gibt zwar keine Anwendung solcher Ideen bzw. Projekte. Aber wir wissen überhaupt nicht, was passiert, wenn wir in großem Maße Kohlendioxid, beispielsweise über Eisendüngung im Ozean, binden. Wir verzeichnen seit dem Klimawandel, seit dem Anstieg der Temperatur eine zunehmende Versäuerung der Ozeane. Wir wissen nicht, welche ökologischen Katastrophen es nach sich zieht, wenn die Ozeane nicht mehr als Brutstätte, als Geburtsort für Fische und andere Lebewesen zur Verfügung stehen, weil die natürlichen Bedingungen nicht mehr existieren. Beim Radiation Management vermuten wir, dass eine der Auswirkungen sein könnte, dass zum Beispiel die mittleren Niederschläge nachlassen. Das wird einige Regionen freuen - Lüdenscheid wird sich freuen, weil es im Sauerland weniger regnen wird -, aber in anderen Breitengraden wird es katastrophale Folgen haben, wenn weniger Regen fällt. Eine Schlussfolgerung des vorliegenden Berichtes ist, dass die Fragen, die wir haben, völlig ungeklärt sind. Wir wissen nicht, was im internationalen Kontext passiert, wenn ein Land Climate Engineering betreibt, aber die Auswirkungen in einem anderen Land zutage treten. Was bedeutet das völkerrechtlich? Wie ist das zu regeln? Im vorliegenden TA-Bericht werden entsprechende Vor7878 schläge aufgeführt. Wir sollten uns überlegen, wie wir uns in Deutschland gegenüber Anwendungen wappnen können, und Verhandlungen auf internationaler Ebene aufnehmen, um dies endlich zu regeln. Im TA-Bericht wird dazu aufgefordert, dass Deutschland im Bereich Climate Engineering weiter forschen sollte, aber nicht, um Anwendungen voranzutreiben. Vielmehr geht es darum, die Auswirkungen besser beurteilen zu können, um bei Diskussionen im internationalen Kontext kompetent mitreden zu können. Diese Aufforderung nehmen wir an. Die größte Gefahr von Climate Engineering, die ich sehe, ist allerdings - damit komme ich zum Schluss -, dass wir uns in Sicherheit wiegen könnten, dass es irgendwann eine Anwendung gibt, mit der wir den Klimawandel, der sich bereits vollzieht, beherrschen können. Das Konzept, dass man für den Notfall gewappnet sein und bestimmte Technologien vorhalten sollte, ist der falsche Weg. Uns allen sollte klar sein, dass es nur eine Lösung zur Begrenzung des Klimawandels gibt: die Vermeidung von Kohlendioxid und die Vermeidung von Treibhausgasen. Das heißt, mehr Investitionen in erneuerbare Energien, in Energieeffizienz und einen Umstieg in eine andere Energiepolitik. Das sind wir den künftigen Generationen schuldig. Das ist auch die Schlussfolgerung aus diesem Bericht. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Harald Ebner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zahllose Krisenherde zwingen derzeit so viele Menschen wie nie zuvor, ihre Heimat zu verlassen. Unbemerkt davon wächst sich eine globale Krise zu einem Haupttreiber von Flucht aus, und das ist die Klimakrise. ({0}) Wetterkatastrophen wie Fluten und Stürme haben dazu geführt, dass seit dem Jahr 2008 mehr als 140 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, so der UNHCR. Im Jahr 2050 müssen wir mit bis zu 1 Milliarde an Klima- und Umweltflüchtlingen rechnen. Wenn wir das Aufheizen der Welt um 2 Grad und damit das Flüchtlingsleid begrenzen wollen, muss mehr als die Hälfte der fossilen Ressourcen in der Erde bleiben. Das war in Lima Konsens der Weltgemeinschaft. Um sein Klimaziel zu erreichen, muss Deutschland beispielsweise seine Emissionen bis 2050 auf 5 bis 7 Prozent seines heutigen Niveaus zurückfahren. Vor unserem grünen Fraktionssaal - Sie alle können einmal vorbeischauen - befindet sich eine Klima-Uhr, ({1}) die sekündlich den Ausstoß an Treibhausgasen in Deutschland aufsummiert. Sie zeigt: Schon in den ersten drei Wochen dieses jungen Jahres hat Deutschland bereits die Menge an Treibhausgasen emittiert, die wir 2050 während des gesamten Jahres ausstoßen dürfen, wenn wir das Klimaziel nicht verfehlen wollen. - Das ist nicht zukunftsfähig. Keine Frage, die Herausforderung ist gewaltig und verlangt uns unbequeme Veränderungen ab. Aber gerade weil es sich um eine solch große Aufgabe handelt, erscheint die Idee des Climate Engineering - es wurde schon erklärt - auf den ersten Blick sehr verlockend: eine gezielte Beeinflussung des Klimas, ohne mühsam Treibhausgase zu reduzieren. Aber der TA-Bericht zeigt, das ist eine Seifenblase. Eine einfache technologische Weltrettung wird so nicht möglich sein. Wir wissen bislang noch viel zu wenig darüber, ob das jemals in der Praxis funktionieren könnte und welche Risiken, welche Nebenwirkungen und welche Kosten dadurch entstehen. Wir brauchen natürlich - Kollege Röspel hat es gesagt eine umfassende Risikoabschätzung. Die heutige Debatte mag dazu ein Anfang sein. Gerade angesichts dieser großen Fragezeichen dürfen wir bei den Klimaschutzanstrengungen auf keinen Fall nachlassen. Ich bin froh, dass sich in diesem Punkt, wie ich gehört habe, hier alle einig sind. Ich möchte das Gesagte bestätigen: Wir brauchen auch international eine Verständigung darüber, wie wir mit diesen Risikotechnologien umgehen. Laut Bericht lassen sich unerwünschte Entwicklungen nur anhand völkerrechtlicher Vorgaben effektiv vermeiden. Und da, glaube ich, dürfen wir schon erwarten, dass die Bundesregierung tätig wird; denn wir dürfen nicht zulassen, dass irgendwer beginnt, am Klima herumzupfuschen. ({2}) Der Bericht macht auch Folgendes deutlich: Selbst wenn diese Technologie jemals ohne erhebliche Nebenwirkungen zuverlässig und zu vertretbaren Kosten funktionieren könnte, wird es noch viele Jahrzehnte dauern, bis sie überhaupt einsatzbereit wäre. Unsere Klima-Uhr zeigt aber: Wir haben keine Zeit. Ministerin Hendricks - sie ist, glaube ich, gar nicht anwesend; das wäre aber gar nicht schlecht gewesen hat in Lima zu Recht den Appell: „Act now!“, an die Staatengemeinschaft gerichtet; aber leider liegen bei der Bundesregierung - es sei mir erlaubt, das hier zu sagen Worte und Taten so weit auseinander wie die schmelzenden Polkappen. ({3}) - Natürlich kommt hier Widerspruch von Ihnen. - Es widerspricht klar dem Klimaschutzziel, wenn die Kanzlerin in Brüssel strengere Verbrauchsvorgaben für Pkws untergräbt und Bundeswirtschaftsminister Gabriel den Ausbau der erneuerbaren Energien deckelt und Werbung für Braunkohletagebaue macht, und es passt auch nicht zum Klimaschutz, wenn Fracking in Deutschland ermöglicht wird und nach wie vor jedes Jahr 50 Milliarden Euro umweltschädliche Subventionen verteilt werden. ({4}) Klimafreundliches Wirtschaften darf eben nicht als Last, sondern muss als Chance begriffen werden. Deshalb sollten wir uns, wenn wir unserer globalen Verantwortung gerecht werden wollen, davon verabschieden, als einzelnes Land das Klima jedes Jahr stärker aufzuheizen als die 105 ärmsten Länder dieser Welt. Wir kommen deshalb nicht darum herum, beim Klimaschutz unsere Hausaufgaben zu machen. Weder die Wunschvorstellung Climate Engineering noch die Schönrechnerei und auch die Mutlosigkeit der Bundesregierung bringen uns hier weiter. Wir haben einen Aktionsplan zum Klimaschutz vorgelegt. Sie dürfen gerne daraus abschreiben. Das Klima in diesem Haus wird es nicht stören. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Sybille Benning des Wort. ({0})

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Ende dieser technischen, wissenschaftshistorischen und literarischen Debatte jetzt noch ein Beitrag: Climate Engineering und die Klimapolitik. Oder: Steht die Büchse der Pandora in Mutters Porzellankiste? Manche Analysten wie die Verfasser des sogenannten Hartwell Papers plädieren für eine völlige Umkehr in der Klimapolitik. Noch immer wird kontrovers darüber diskutiert, wie die Staatengemeinschaft das angestrebte 2-Grad-Ziel noch erreichen kann. Eine Verengung auf die CO2-Reduktion halte auch ich für falsch, weil das nicht sachgerecht ist. Langfristig darf man sich nicht auf CO2-Reduktion beschränken, sondern man muss zum Beispiel auch deutlich machen, dass Wirtschaft und Nachhaltigkeit kein Widerspruch sind. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es darum, Wege zu einer Green Economy zu finden. So viel zu „Act now!“: We do. ({0}) Jetzt könnte man auch klatschen. ({1}) Das neue Forschungsprogramm zur Green Economy hat unsere Ministerin gerade erst vorgestellt. Es geht um Nachhaltigkeit, und Nachhaltigkeit heißt Verantwortung für die nächste Generation übernehmen. Wenn Paul Crutzen, der eben schon erwähnt wurde, der Träger des Nobelpreises für Chemie, vom Anthropozän spricht, also vom Menschenzeitalter, dann stellt er damit den bedeutenden Einfluss des Menschen auf die Umwelt heraus. Damit verbunden ist die besondere Pflicht zum verantwortlichen Handeln. Für die Forschung zum Climate Engineering ergeben sich für mich daraus drei zentrale Fragen: Erstens. Inwieweit ersticken wir die Bemühungen um Energieeffizienz und CO2-Reduktion, wenn wir in CE investieren? Würde ein Aktionsprogramm Klimaschutz noch mit gleicher Energie verfolgt, wenn die Aussicht darauf bestünde, CO2 wieder aus der Atmosphäre oder den Ozeanen zu filtern? Der TA-Bericht bemängelt hier, dass die wissenschaftlichen Diskurse über Klimaschutz und CE-Technologien getrennt voneinander ablaufen und empfiehlt eine „niedrig dosierte CE-Intervention“, so wie es auch im letzten IPCC-Bericht steht. Ich bin aber der Meinung, dass wir über Climate Engineering zu wenig wissen, um es zu diesem Zeitpunkt im Kontext der gesamten Klimadebatte zu diskutieren. Die Gefahr besteht nämlich auch darin, dass dadurch falsch Signale ausgesendet würden, zum Beispiel, eine Emissionsreduktion sei weniger wichtig. Manche sagen ja: Wenn sich die internationale Staatengemeinschaft doch so schwer tut, die Klimaziele zu erreichen, sollte man dann nicht doch besser über einen Plan B verfügen, über eine Technologie, die man wie ein Notfallkit gebrauchsfertig in der Tasche hat, wenn die Luft im wahrsten Sinne des Wortes zu dünn wird? Dieser TA-Bericht empfiehlt dazu mehr Wissen und mehr Forschung, um eine bessere Bewertung vornehmen zu können. Wir sollten dabei auch nicht vergessen, uns die wissenschaftlichen Schwierigkeiten von Climate Engineering vor Augen zu führen. Die zweite zentrale Frage lautet darum: Ist eine adäquate Bewertung der CE-Technologien allein mit Modellen und Szenarien überhaupt machbar, oder kann man ohne empirische Forschung nicht alle Aspekte und Folgen einer Anwendung von CE-Technologien genau bestimmen? Hier habe ich allerdings die Befürchtung, dass durch den Einsatz von großskaliger Feldforschung eine Infrastruktur geschaffen werden könnte und Netzwerke entstehen könnten, aus denen sich eine gewisse Pfadabhängigkeit ergeben würde. Es wäre der falsche Weg, auf diese Weise Fakten schaffen zu wollen. Und: Einmal geöffnet - die Büchse der Pandora schließt nicht mehr so leicht. Das führt mich zu meiner dritten Frage: Wie kann man politische Regelungen für Forschung und Einsatz von CE-Technologien finden? In Anbetracht der Zeit mache ich es kurz: Wir leben nicht auf einer Insel, sondern auf einer schützenswerten Kugel. Wir wissen: Andere Staaten erforschen diese Technologien, die keine Staatsgrenzen kennen. In der Arena der internationalen Klimapolitik drängen Länder wie Russland und China auf eine stärkere Einbeziehung der CE-Technologien. Meine Damen und Herren, im Ergebnis sehe ich alle drei Fragen ungenügend beantwortet, eben weil Climate Engineering nicht ausreichend erforscht ist, weder was die Effektivität betrifft noch was die Risiken betrifft. Auch ethische und gesellschaftliche Implikationen sind nicht absehbar. Hier sollten wir darum ansetzen - auf dass die Büchse der Pandora gut bewacht bleibt. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2121 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Meiwald, Nicole Maisch, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Freisetzung von Mikroplastik beenden Drucksache 18/3734 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Meiwald für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Peter Meiwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004351, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie essen genüsslich einen Fisch. Der Fisch sieht gut aus, doch er hat einen komischen Beigeschmack, einen Plastikbeigeschmack. Der Fisch ist möglicherweise - mittlerweile sogar recht wahrscheinlich - voller Acrylate, Polyethylen und anderer Mikroplastikstoffe. Wir haben das Glück, dass die meisten dieser Stoffe im Moment diesen fiesen Beigeschmack nicht produzieren. Das ist aber auch das einzige Glück, das wir dabei haben. Letztlich sind diese Stoffe dort drin. Drei Viertel des Meeresmülls besteht nach Erkenntnissen des UBA mittlerweile aus Kunststoffen. Davon ist Mikroplastik - das ist ganz klar - nur ein kleiner Teil. Aber Mikroplastik wird überflüssigerweise Produkten künstlich hinzugefügt, bei denen man es eigentlich nicht braucht. Mikroplastik wird Peelings, Shampoos und Duschgel ganz bewusst beigemischt. Wir Grünen wollen dies stoppen. Deswegen haben wir den Antrag eingebracht und hoffen, hier eine große Mehrheit dafür zu finden. ({0}) Die kleinen Plastikkügelchen landen am Ende des Tages in unseren Flüssen und dann im Meer. Dort schwimmt bereits viel zu viel Plastik herum, das nicht oder erst nach sehr langen Zeiträumen abgebaut wird ein vermeidbares Umweltproblem. Mikroplastik aus Sonnencreme und Lippenstiften landet nach Gebrauch im Abwasser, kann aber in unseren Kläranlagen, zumindest mit der heutigen Technologie, nur unter sehr großem Aufwand und hohen Kosten entfernt werden. Das heißt, der größte Teil des Plastiks bleibt im Wasser, gelangt in die Flüsse und ins Meer. Der andere Teil, der abgesondert wird, landet im Klärschlamm; das ist letztlich auch nicht besser. Auch aktuelle Untersuchungen des AWI belegen: Wir haben hier einen großen Bedarf, etwas zu tun. Warum? Tiere verwechseln die kleinen Plastikkügelchen mit Nahrung. Nachgewiesen ist, dass Tiere deshalb verenden. Sie haben zwar ihr Hungergefühl bekämpft - es ist ja etwas in ihrem Bauch -, ihnen fehlen aber die Nährstoffe. Giftstoffe lagern sich an den kleinen Plastikpartikeln ab und gelangen dann in unsere Nahrungskette. In Honig, Trinkwasser und Bier lassen sich diese Plastikpartikel mittlerweile nachweisen. Welche gesundheitlichen Auswirkungen das auf uns Menschen hat, ist noch viel zu wenig erforscht. Was unternimmt die Bundesregierung dagegen? Das Problem ist seit einigen Jahren bekannt. Wir Grüne haben bereits im November 2012 kritische Fragen dazu gestellt und im Oktober 2014 eine Kleine Anfrage gestellt. Das Umweltministerium hat uns darauf geantwortet, dass Mikroplastik mittlerweile in mehr als 250 marinen Lebewesen gefunden wurde. Einige davon werden auch von uns gegessen. Es ist also kein Horrorszenario, sondern es ist schon Realität: Das Plastik landet am Ende des Tages auf unseren Tellern. Trotz immer mehr Plastik in Kosmetik und Reinigungsmitteln - das Umweltministerium nennt allein für PE eine Menge von 500 Tonnen in Deutschland - unternimmt die Regierung zu wenig, die Umwelt davor zu schützen. ({1}) Wir hören: Unsere Regierung führt Gespräche mit den Herstellern. Das haben auch wir im vergangenen Mai getan. Es ist in der Tat ganz erfreulich, dass es den einen oder anderen Hersteller gibt, der aus dieser Technologie schon ausgestiegen ist. Aber es gibt, gerade im Weihnachtsgeschäft, immer noch Hersteller, die neue Produkte auf den Markt bringen, bei denen sie wiederum mit primärem Mikroplastik arbeiten. Das heißt, offensichtlich ist Freiwilligkeit nicht ausreichend. ({2}) Wir beobachten, um es in ein einfaches Bild zu bringen, bei ganz vielen Umweltfragen immer wieder den gleichen Effekt. Wenn wir fragen: „Who wants change?“, dann sagen alle: „We“ oder „us“ oder „wir“ oder „wir alle“ und „selbstverständlich“. Aber wenn man die Frage stellt: „Who wants to change?“ - wer will wirklich etwas verändern? -, dann wird man sehr kleinlaut. Das ist, glaube ich, ein Teil unseres Problems, auch wenn es um Mikroplastik geht. Was können wir tun? Auf der EU-Ebene können wir Initiativen ergreifen, um die Abfallgesetzgebung zu verändern, Kosmetika in die Rahmenrichtlinien aufzunehmen - Stichwort „Kreislaufwirtschaft“ - und ähnliche Dinge. Es ist an der Zeit, zu handeln, und nicht nur zu reden. ({3}) Es ist an der Zeit, dieses sinnlose Einbringen umweltschädlicher Stoffe einfach an der Quelle zu bekämpfen, statt uns hinterher unter Einsatz von sehr viel Geld daran abzuarbeiten, das Mikroplastik wieder aus der Umwelt herauszubekommen. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gebhart für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Thomas Gebhart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004038, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind uns sicherlich alle einig: Wir wollen saubere Gewässer, Meere und Strände. Wir alle wollen, dass von solchen Kunststoffabfällen, die sich nur langsam abbauen, so wenig wie möglich in der Umwelt und im Meer landen. Das gilt selbstverständlich auch für die kleinen, festen Kunststoffpartikel, über die wir heute Abend diese Debatte führen. Wir sehen: Es gibt in diesem Bereich erheblichen Forschungsbedarf. Es ist gut, dass dies erkannt ist. Es ist auch gut, dass inzwischen von privater wie von staatlicher Seite viele Forschungsaktivitäten betrieben werden. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Welchen Handlungsbedarf haben wir heute? Um diese Frage sauber beantworten zu können, müssen wir zunächst einmal wissen: Woher kommen die sogenannten Mikrokunststoffe? Was ist die Quelle dieser Mikrokunststoffe? Hier müssen wir zwei Bereiche klar voneinander unterscheiden: Der erste Bereich - er betrifft den weitaus kleineren Teil, die kleinere Menge - umfasst kleine Kunststoffpartikel, die als Bestandteil von Produkten eingesetzt werden, zum Beispiel in Reinigungspasten im kosmetischen Bereich. Die werden für diese Produkte gebraucht und landen dann mit dem Abwasser in den Flüssen und zum Teil im Meer. Das Ziel ist es, diese Kunststoffpartikel möglichst zu ersetzen. Das Umweltministerium war hier bereits aktiv - schon in der Zeit von Umweltminister Peter Altmaier -, man ist ins Gespräch eingetreten mit der Kosmetikindustrie mit dem Ziel eines Ausstiegs aus der Verwendung dieser Stoffe im Bereich der Kosmetik. Eine ganze Reihe von Herstellern hat erklärt, sie suchen nach Alternativen. Andere haben erklärt, sie werden umstellen. Wiederum andere haben erklärt, sie haben umgestellt. Auch ist bekannt geworden: In unserer Zahnpasta sind diese Mikrokunststoffe nicht mehr drin. Sie können also, meine Damen und Herren, mit gutem Gewissen weiterhin regelmäßig Ihre Zähne putzen. ({0}) Aber im Ernst: Tatsächlich sind wir viel weiter, als dieser Grünenantrag den Anschein erweckt. ({1}) Meine Damen und Herren, ich komme zurück zu der Frage: Woher kommen diese Mikrokunststoffe in der Umwelt, im Meer, was ist die Quelle? Ich habe einen Bereich genannt; dieser Bereich ist für den weitaus kleineren Teil verantwortlich. Kommen wir also zu dem zweiten Bereich, der für den weitaus größeren Teil verantwortlich ist: Das sind Abfälle, die unsachgemäß entsorgt werden und über Umwege dann zum Teil im Meer landen. Mit der Zeit entstehen aus diesen größeren Kunststoffteilen kleinere und kleinste Kunststoffteile. Darüber trifft dieser Grünenantrag überhaupt keine Aussage. ({2}) Das verwundert total; denn natürlich gehört das in die Debatte hinein. Deswegen will ich wenigstens an dieser Stelle zwei Punkte dazu sagen: Erstens. Wir brauchen effektiv funktionierende Abfallwirtschaftssysteme, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und möglichst über Europa hinaus, weltweit. ({3}) Wir haben in Deutschland ein funktionierendes Abfallwirtschaftssystem. ({4}) Wir brauchen uns an dieser Stelle überhaupt nicht zu verstecken. Dennoch wollen wir dieses Abfallwirtschaftssystem weiterentwickeln, wir wollen es noch besser machen. Das führt mich zu dem zweiten Punkt: Wir haben uns aufgemacht, ein neues Wertstoffgesetz hier in Deutschland auf den Weg zu bringen und umzusetzen. Wir wollen noch stärker als heute Abfälle vermeiden. ({5}) Wir wollen Kreisläufe besser schließen, mehr Recycling, besseres Recycling. Wir wollen über Technologie, über Innovation neue Verfahren, neue Produkte anreizen. Wir wollen mehr Produktverantwortung nach dem marktwirtschaftlichen Prinzip, dass die Hersteller Verantwortung für den gesamten Lebensweg ihres Produktes übernehmen. Meine Damen und Herren, dafür steht die Union: soziale Marktwirtschaft und Umweltschutz vernünftig miteinander zusammenbringen, in Einklang bringen. Ich kann mich nur wundern, dass die Grünen diesen Punkt völlig ignorieren ({6}) und dass das bei Ihnen überhaupt keine Rolle spielt. ({7}) Hier müssen wir ansetzen, das ist eine echte Herausforderung, aber auch eine Riesenchance; dann kommen wir langfristig wirklich voran. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, dieser Plenarsaal bis zur Kuppel komplett gefüllt mit Plastikmüll, und dann multiplizieren Sie das mit 24: Das allein ist die Menge Plastikmüll, die Schätzungen zufolge in der Nordsee treibt: 600 000 Kubikmeter. Dieser Müll wird kleingerieben, zerfetzt und landet als Mikroplastikpartikel in der maritimen Nahrungskette, also in Fischen usw. Hinzu kommen tonnenweise Mikroplastikpartikel, Kosmetika, die über geklärte Abwässer in Flüssen landen und in die Meere fließen. Wenn Tiere diese Mikroplastikkügelchen aus Kosmetika und die Kleinstplastikteile aus Müll in sich aufnehmen, führt dies zu entzündlichen Veränderungen. Denn Mikroplastik kann toxische, krebserregende und hormonverändernde Substanzen enthalten, in sich aufnehmen und an seiner Oberfläche anlagern, allen voran Weichmacher, Kohlenwasserstoffe, Flammschutzmittel und Insektizide. Alles das befindet sich wie gesagt in der Nahrungskette und landet auch wieder auf dem Teller oder in den Mägen von Meerestieren. Wer einen Vogel, der solche Nahrung hatte, schon einmal auf einem Foto gesehen hat, der weiß, worum es da geht. Aber es ist ein jahrzehntelanges Prinzip: Probleme, die man nicht sehen kann, werden so lange ignoriert, bis sie existenziell oder irreversibel werden. Mikroplastikpartikel in Kosmetika? Was haben die da eigentlich zu suchen? Als Schleifmittel, Füllstoffe oder Filmbildner gibt es seit geraumer Zeit ökologisch unbedenkliche Alternativen, und die gibt es schon lange. Trotzdem werden sie weiter verwendet, weil das eben wieder billiger ist. Bei den großen Kosmetikkonzernen findet halt nur allmählich ein Umdenken statt. Das beruht weniger auf Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Umwelt als vielmehr auf der Angst vor Boykottaufrufen gegen ihre Produkte. Ich habe den Eindruck: Nur das hilft überhaupt. Es ist nämlich erst Umweltorganisationen und Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern zu verdanken, dass es bei den Kosmetikherstellern allmählich zu einem Umdenken kommt. Da frage ich mich halt, warum dieses Problem wieder einmal nur über die Freiwilligkeit der Konzerne gelöst werden soll. Ich meine, es muss Verbote geben. Wir wissen das. Ich kann mich erinnern, vor zwanzig Jahren haben wir hier die Debatte über hormonelle Einträge ins Grundwasser gehabt. Da ist auch nur über Freiwilligkeit gesprochen worden. Sehr viel passiert ist bis jetzt nicht. Also, da müssen wir eben Boykottaufrufe machen. ({0}) Während die Verbraucherinnen und Verbraucher aufgefordert sind, nur Kosmetika zu kaufen, in denen kein Polyethylen oder Polypropylen oder andere Kunststoffe enthalten sind, wäre das Problem - ich sage es noch einmal - ordnungsrechtlich wirklich lösbar. Denn man kann Dinge wirklich per Gesetz verbieten, dafür sind wir doch eigentlich auch gewählt worden. Das sagen uns unsere Wähler. Über alle Parteien hinweg wollen die das. Wir sagen: Wir wollen dieses Verbot, wir unterstützen euren Antrag. Wenn Herr Gebhart sagt, das sei zu wenig, dann sage ich: Dann legt doch etwas anderes vor! ({1}) Ich glaube, dafür gibt es sicherlich Mehrheiten, für Plastiktütenverbot und so weiter. Da immer zu sagen: „Ja, da müssen wir auf Europa schauen, auf die Welt schauen“ und so weiter, immer zu warten, bis die anderen etwas machen, damit werden wir unserer Verantwortung, die wir haben, nicht gerecht. Dieser Verantwortung müssen wir jedoch wirklich gerecht werden. ({2}) Unsere Wählerinnen und Wähler erwarten das. Glauben Sie mir, ich kenne viele CSU-Wähler, die das genauso wollen wie die Linken-, die Grünen- und die Sozi-Wähler. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege - Entschuldigung -, die Kollegin Ulli Nissen das Wort. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, das „Ulli“ irritiert immer wieder. Ich fand es immer spannend, wenn ich Post mit „Herrn Ulli Nissen, Bankkauffrau“ bekommen habe; denn dabei war ja besonders viel nachgedacht worden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal einen herzlichen Dank an die Grünen für ihren Antrag. Es ist gut, dass wir dieses Thema heute debattieren. Das Thema hat es zwar nicht in die Kernzeit geschafft, aber immerhin haben wir Zeit, heute den Antrag „Freisetzung von Mikroplastik beenden“ zu besprechen. Ich fand es auch wirklich sehr interessant: Ich habe mich gestern Abend, als es so doll geregnet hat, doch entschlossen, mit dem Taxi nach Hause zu fahren und nicht mit dem Fahrrad. Ich habe dem Taxifahrer gesagt, wozu ich heute rede. Da hat er gesagt: Oh, darf ich überhaupt noch Fleecejacken tragen? - Denn auch das ist ja ein Problem. Ich fand es wirklich sehr spannend, wie viele Menschen bei diesem Thema schon sensibilisiert sind. Deshalb ist es gut, dass wir darüber reden. Was ist denn überhaupt Mikroplastik? Plastik in Makroform, also große Plastiktüten, sind uns bekannt, auch die damit verbundenen Probleme. Plastiktüten, Kunststoffflaschen und -verpackungen sind sichtbar. Im Gegensatz dazu ist Mikroplastik kaum zu erkennen. Das sind winzige Kunststoffpartikel, kleine Kunststoffkügelchen, Kunststofffasern, die kleiner als 5 Millimeter sind. Das sind so kleine Teile, dass wir oft gar nicht wissen, wo sie verwendet werden und - vor allem was für Folgen sie haben. Auch meine Kollegen haben gesagt, als wir darüber gesprochen haben: Uff, wusste ich gar nicht. Diese kleinen Teilchen werden beispielsweise in Kosmetik- und Körperpflegeprodukten verwendet, also Dingen des täglichen Gebrauchs. Sie befinden sich in Haarshampoos, Spülungen, Duschgels und auch in dekorativer Kosmetik. Wenn wir uns also die Haare waschen oder duschen, dann spülen wir die Inhaltsstoffe und damit auch die kleinen Plastikteilchen ab. So gelangen sie in den Abfluss und eben auch in den Wasserkreislauf. Dieses Problem sehen wir wirklich auch. Die meisten Kläranlagen haben keine Filter, die diese kleinen Partikel zurückhalten könnten. Das heißt, dass die Teilchen, wie schon gesagt, in die Flüsse und am Ende in die Meere gelangen. Das bedeutet - wie für so viel Plastikmüll -: Endstation Meer, Endstation auf der größten Müllkippe der Welt. Je kleiner die Plastikteile sind, desto eher gelangen sie in die Nahrungskette. Der Fisch ist schon angesprochen worden, und ich denke, auf solche Fische haben wir alle keinen Appetit. Sie sind aber auch in Seehunden und in Muscheln nachgewiesen worden. Welche Folgen das alles haben wird, ist noch gar nicht endgültig erforscht. Wir müssen aber auch beachten, dass es sowohl primäre Mikroplastik - das sind die kleinen Teile, die in Reinigungs- und Körperpflegeprodukten aktiv zugesetzt werden - als auch sekundäre Mikroplastik - das ist ganz wichtig, Herr Meiwald - gibt, die durch Abrieb und auch bei der Zersetzung und dem Zerfall von Makroplastik entsteht. Die Auswirkungen sind aber die gleichen. Ich denke, deshalb sind wir uns alle einig: Mikroplastik ist ein Problem. In Ihrem Antrag geht es aber eben nur um die Reduzierung von Mikroplastik in Reinigungs- und Kosmetikprodukten. Das ist mir zu wenig. In Bezug auf die Reduzierung von Mikroplastik in Kosmetik sehe ich allerdings schon Erfolge. Es ist schon angesprochen worden, dass es diverse Unternehmen gibt, die darauf verzichten. dm und Rossmann sagen zum Beispiel, dass sie das in ihren eigenen Produkten nicht mehr wollen, und die sind auch gut. Sie sagen auch: Wir machen keine Tierversuche. Diese Dinge können wir also durchaus annehmen. Ich bin dem BUND sehr dankbar dafür, dass er eine klare Negativliste aufgestellt hat, die man sich im Internet anschauen kann. Ich fordere Sie alle auf: Gucken Sie einmal nach. Ich denke, auch die lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den Linken werden noch zig Produkte zu Hause haben, die entsprechende Inhaltsstoffe haben. ({0}) Ich sage es ganz deutlich: Mir wäre der freiwillige Verzicht natürlich am liebsten, und es ist gut, dass das BMUB Gespräche mit den Herstellern und den Verbänden führt. Ich mache hier aber eine ganz klare Ansage: Wenn nicht umgehend etwas passiert, dann bin ich für eine gesetzliche Regelung. Mikroplastik in Kosmetikprodukten ist aber nur ein kleiner Teil dieser Gesamtproblematik, und ich möchte nicht, dass wir dabei das große Ganze aus den Augen verlieren. Wir müssen natürlich lokal handeln, wo wir können, aber die Vermüllung der Meere geschieht nicht allein durch die Mikroplastik. Die Makroplastik ist ein sehr viel größeres Problem. Deshalb müssen wir das auch zusammen behandeln. Wenn ich die Zahlen betrachte, dann sehe ich eine deutliche Relation. Wir sprechen von jährlich 500 Tonnen Mikroplastik in Deutschland, die durch Kosmetikprodukte auf den Markt kommen. Was ist aber mit der Mikroplastik, die in der Industrie eingesetzt wird? Die Einsatzmenge von Mikropartikeln in Kunststoffwachsen zum Beispiel wird auf ungefähr 100 000 Tonnen geschätzt. Das ist das 200-Fache. Deshalb steht mir in Ihrem Antrag an dieser Stelle zu wenig. ({1}) - Ich kann Ihnen sagen: Ich werde mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU zusammensetzen, und wir werden Ihnen einen Entwurf vorlegen. ({2}) Auf 100 Millionen Tonnen wird der Meeresmüll geschätzt. 75 Prozent davon sind Kunststoffe, und jährlich kommen 6,4 Millionen Tonnen dazu. Das muss uns allen klar sein. Hier müssen wir wirklich dringend handeln, und ich freue mich darauf, dass wir Ihnen, wie ich denke, in Bälde etwas dazu vorlegen werden. Das Umweltbundesamt wird in Kürze eine Studie dazu vorlegen. Ich denke, auch das werden wir nutzen, um daraus etwas zu machen. ({3}) Für uns gehört auch die EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie dazu. Sie soll bis 2020 umgesetzt werden. Mir wäre es lieb, wenn wir dies noch deutlich schneller schaffen würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns der Problematik bewusst und gehen sie auch an. Ihr Antrag war auf jeden Fall ein guter Anlass, einen weiteren Aufschlag zu machen. Es hilft der Sache aber nicht weiter, wenn wir uns auf einen Teilaspekt konzentrieren und lediglich eine einzelne Branche herausgreifen. ({4}) - Ich habe Ihnen ja zugesagt, dass etwas kommt. ({5}) Ich bin Ihnen aber wirklich dankbar, dass Sie das zum Thema gemacht haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen kein kleines Plastik und kein großes Plastik im Meer. Wir wollen dort Plastik überhaupt nicht mehr haben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Josef Göppel für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Mikroplastik berührt und beschäftigt inzwischen Millionen Menschen in Deutschland. Ich denke, wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir uns an der Bekämpfung des Ozons in der Atmosphäre ein Beispiel nehmen müssen. Ich kann mich als einer der Älteren hier in der Runde noch gut daran erinnern, wie diskutiert wurde: Muss denn da hoheitlich vorgegangen werden? Ab einem bestimmten Moment hat man dann gemerkt: Ohne ein hoheitliches Vorgehen geht es nicht. ({0}) Ich meine, die Gesundheitsgefahren für die Menschen, für die Lebewelt und für unsere gesamte Biosphäre liegen so klar auf der Hand, dass wir hier eine Alternative finden müssen. Ich möchte konkret etwas vorschlagen. Wir beraten zurzeit das Wertstoffgesetz, und der entsprechende Gesetzentwurf soll noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Da ist noch ein bisschen Zeit für freiwilliges Handeln. Frau Staatssekretärin, ich erwarte namens der Union, dass die Gespräche mit den Herstellern in der Richtung mit Nachdruck fortgeführt werden, dass das Parlament dann eventuell Regelungen hierzu im Wertstoffgesetz verankert. Das betrifft zu einem noch größeren Teil - das wurde hier schon mehrfach angesprochen - die Plastiktüten. Von den 76 Plastiktüten, die ein Deutscher im Jahr verwendet, sind 64 Tüten Tragetaschen. All die Leute, die sich darüber empören, vergessen oft, zum Einkaufen eine eigene Tasche mitzunehmen. ({1}) Also, das Handeln ist im Leben eben sehr viel schwerer als die Erkenntnis. Deswegen brauchen wir da eine gewisse Richtschnur. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal das Wertstoffgesetz ansprechen. Man könnte sagen: Wenn wir es nicht schaffen, dass kein Geschäft mehr eine Tüte kostenlos abgibt, dann müssen wir im Wertstoffgesetz die Regelung für eine Abgabe verankern. ({2}) Ich habe gar nichts dagegen, wenn die Geschäfte das freiwillig machen; dieses Geld dürfen sie behalten. Aber ich habe erst jetzt wieder in Berlin beim Einkaufen von Lebensmitteln jemanden an der Kasse vor mir ohne Tasche gesehen. Als die Kassiererin sagte: „Eine Tasche kostet 20 Cent“, hat dieser Mensch geantwortet: „Ich brauche sie nicht.“ Eine solche Abgabe von 20 Cent haben zum Beispiel die Iren eingeführt. Das hat dazu geführt, dass die Zahl von 328 Tüten pro Einwohner auf 16 Tüten pro Einwohner im Jahr gesunken ist. Übrigens sind in der Debatte ja schon andere Länder dieser Welt angesprochen worden. Hier ist Ruanda zu nennen, das uns in diesem Bereich beschämt: Ruanda hat Plastiktüten verboten. Mir ist das vor kurzem richtig deutlich geworden, als eine kirchliche Jugendgruppe aus meinem Wahlkreis aus Ruanda zurückkam und die Jugendlichen gesagt haben: In der ganzen Hauptstadt fliegt keine einzige Plastiktüte auf den Straßen herum. - Das haben die jungen Leute gemerkt. Ich denke, wir müssen auf jeden Fall in Aussicht stellen, im Rahmen des Wertstoffgesetzes zu handeln. Ich darf abschließend das Thema Pfand erwähnen. Es gehört auch dazu, dass wir die Ausnahmen beim Pfand, also Fruchtsäfte, Nektare und milchhaltige Produkte, zurückführen. ({3}) Weil ich jetzt die Grünen so schön im Auge habe, ({4}) darf ich daran erinnern, dass 2003 der Freistaat Bayern unter der Regierung von Edmund Stoiber der Einführung des Pfandes mit der ausschließlichen Begründung zugestimmt hat: Wir wollen weniger Weggeworfenes in der Landschaft. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3734 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2015, 9.00 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute. Danke für die Zusammenarbeit in den letzten anderthalb Stunden bei diesen letzten sehr lebensnahen Themen.