Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich. Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich
dem Kollegen Tom Koenigs nachträglich zu seinem
71. Geburtstag gratulieren und im Namen des Hauses alles Gute wünschen.
({0})
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die CDU/
CSU-Fraktion schlägt vor, für den verstorbenen Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff den Kollegen Dr. Franz
Josef Jung als persönliches stellvertretendes Mitglied
als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu berufen. Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. Das sieht ganz so aus. Dann ist der Kollege Franz Josef
Jung hiermit als persönliches stellvertretendes Mitglied
gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zum EZB-Anleihekaufprogramm
({1})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({2})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesprogramm Modellvorhaben Regionale
Auslastung von Müllverbrennungsanlagen
unter Integration von Klärschlamm auflegen
Drucksache 18/3048
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({4})
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({5})
Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Drucksache 18/3864
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Tom Koenigs, Agnieszka
Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ja zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen,
Raif Badawi freilassen
Drucksache 18/3835
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Raif Badawi sofort freilassen - Völkerrechtswidrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffen
Drucksache 18/3832
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der kostenlosen
Abgabe an junge Frauen ({6})
Drucksache 18/3834
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, Doris
Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Gerechtigkeit bei der Entschädigung
von Einsatzunfällen
Drucksachen 18/2874, 18/3126
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 7 - da geht es um die Stärkung der Provenienzforschung - und 19 b - da geht es
um die Änderung des Personalausweisgesetzes - werden
von der Tagesordnung abgesetzt.
Anstelle des Tagesordnungspunktes 7 sollen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/3835 mit dem Titel „Ja zur Meinungsfreiheit,
nein zur Folter - Menschenrechte in Saudi-Arabien
schützen, Raif Badawi freilassen“ und der Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3832 mit dem Titel „Raif Badawi sofort freilassen - Völkerrechtswidrige
Strafen in Saudi-Arabien abschaffen“ aufgerufen werden. Die Debattenzeit dazu soll 38 Minuten betragen.
Ich mache schließlich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam.
Der am 15. Januar 2015 ({9}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Gesundheit ({10}) und dem
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({11}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
({12})
Drucksache 18/3699
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ich frage Sie, ob Sie mit den vorgeschlagenen Verän-
derungen und Ergänzungen einverstanden sind. - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Energie
Investieren in Deutschlands und Europas Zu-
kunft
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2015 der Bundesregierung
Drucksache 18/3840
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({14})
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2014/2015 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Drucksache 18/3265
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({15})
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu höre ich
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar
Gabriel.
({16})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Wirtschaft ist
in guter Verfassung. Trotz eines schwierigen internationalen Umfelds rechnen wir nach zwei schwächeren Jahren - 0,4 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2012
und 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2013 nun zum zweiten Mal in Folge mit einem Wachstum von
1,5 Prozent. Besonders wichtig ist, dass diese wirtschaftliche Entwicklung bei den Menschen in Deutschland ankommt. Nach 370 000 zusätzlich Beschäftigten im letzten Jahr erwarten wir im Jahr 2015 nochmals einen
Beschäftigungsaufbau um 170 000. Wir erreichen damit
einen erneuten Rekord mit 42,8 Millionen Beschäftigten.
Die Zahl der Arbeitslosen lag im Dezember des letzten Jahres auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung, und sie wird auch in diesem Jahr weiter leicht
abnehmen. Die längerfristigen Gründe für diese gute
wirtschaftliche Entwicklung sind erstens hochflexible
und innovative Unternehmen, vor allem im deutschen
Mittelstand, zweitens hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, drittens der Erhalt von Industrie
und verarbeitendem Gewerbe als wirtschaftliche Basis
unseres Landes. Während andere Länder in Europa über
Reindustrialisierung diskutieren müssen, ist das Gott sei
Dank in Deutschland nicht nötig, meine Damen und
Herren.
({0})
Zu den Erfolgsfaktoren gehören sicher auch - viertens - die Verbindung von Arbeitsmarkt- und Sozialreformen mit Investitionen in Bildung, Forschung und
Entwicklung im Zuge der Reformpolitik der Agenda
2010 und fünftens natürlich auch eine außerordentlich
solide Finanz- und Haushaltspolitik, die uns ja schon im
letzten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt beschert hat.
({1})
Aktuell wird das wirtschaftliche Wachstum getragen
von einer starken Binnenkonjunktur und Binnennachfrage. Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte nehmen endlich wieder spürbar zu; sie werden um
2,7 Prozent steigen. Dazu leisten die guten Tarifabschlüsse, aber auch der Mindestlohn und die Rentenreform des letzten Jahres ihre Beiträge. Das zeigt: Die
Teilhabe möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger am
Wirtschaftswachstum durch eine gute Einkommens- und
Beschäftigungsentwicklung ist die zentrale Bedingung
für Wohlstand, aber auch für den kulturellen und politischen Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
({2})
Daran werden wir weiter arbeiten müssen. Wir brauchen beides, wirtschaftliches Wachstum, Innovationsbereitschaft, Veränderungsbereitschaft, aber eben auch,
dass möglichst alle daran teilhaben. Das muss fühlbar
werden; denn noch immer müssen viel zu viele Menschen in Deutschland mit zu geringen Einkommen klarkommen. Vor allem Familien und Alleinerziehende mit
Kindern sind davon betroffen, aber zunehmend auch
Rentnerinnen und Rentner.
So richtig und notwendig viele der Sozialreformen
der Agenda 2010 waren und sosehr sie heute Grundlage
für die gute wirtschaftliche Entwicklung sind: Die Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland ist eindeutig zu weit gegangen.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn Menschen in qualifizierten Berufen mit 1 200 Euro brutto auskommen sollen, wenn Rentnerinnen und Rentner nach 40 Arbeitsjahren gerade mal das Rentenniveau der Sozialhilfe
erreichen und wenn dann noch in Großstädten die Mietpreise so explodieren, dass mit Normaleinkommen kaum
noch eine Wohnung zu bezahlen ist, dann spaltet das die
Gesellschaft und bringt manchmal auch Menschen gegeneinander in Stellung.
({4})
Deshalb ist es richtig, Tarifverträge zu stärken. Deshalb ist es richtig, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach 45 Arbeitsjahren einen fairen Zugang zur
Rente ohne Rentenkürzung zu ermöglichen.
({5})
- Wenn Sie ihnen die Rente nicht kürzen, dann hebt das
das Rentenniveau. Das ist eine einfache Rechnung.
({6})
Deshalb ist es richtig, sich um Mietpreisbremsen und
den Bau bezahlbarer und übrigens auch alters- und pflegegerechter Wohnungen zu kümmern. Und natürlich ist
es deshalb auch richtig gewesen, den Mindestlohn einzuführen.
({7})
Ich glaube, in diesem Haus gibt es niemanden, der etwas gegen die Einführung des Mindestlohns hat.
({8})
- Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen,
die dem zugestimmt haben, das sozusagen aufgrund öffentlicher Erpressung getan haben, sondern sie werden
davon überzeugt gewesen sein.
({9})
Beim einen dauert es länger, beim anderen geht es
schneller.
({10})
Wir haben jetzt doch keine Debatte über den Mindestlohn.
({11})
Wir haben eine Diskussion über die Frage, ob der mit der
Kontrolle des Mindestlohns verbundene Aufwand eigentlich zwingend erforderlich ist, damit der Mindest7754
lohn auch durchgesetzt wird - es nützt ja nichts, ihn ins
Gesetz zu schreiben und dann seine Einhaltung nicht zu
kontrollieren -, oder ob an einigen Stellen der Kontrollaufwand zu weit geht. Ich finde, das kann man doch entspannt miteinander bereden; das muss doch möglich
sein.
({12})
Niemand wird etwas am Mindestlohn ändern, niemand wird die Kontrolldichte so reduzieren, dass er in
Wahrheit nicht stattfindet.
({13})
Wir sollten aber jetzt einmal ein paar Wochen und Monate Erfahrungen sammeln, und dann werten wir aus, ob
es notwendig ist, an dem Bürokratieaufwand etwas zu
ändern, oder ob es nicht notwendig ist.
({14})
Das, finde ich, ist ein entspannter Umgang mit dem
Thema.
({15})
Meine Damen und Herren, das alles ist nicht nur Sozialpolitik, sondern das ist auch Wirtschaftspolitik. Nur
in einem Land, in dem sich Arbeit lohnt und Menschen
an den Möglichkeiten der Gesellschaft teilhaben können,
gibt es auf Dauer Leistungsbereitschaft, Anstrengung
und auch Risikobereitschaft.
({16})
Das ist der Grund, warum Ludwig Erhard sein Modell
der sozialen Marktwirtschaft mit dem Aufruf „Wohlstand für alle“ verbunden hat. Das ist auch heute der
richtige Aufruf in unserer Gesellschaft und in unserer
Wirtschaft.
({17})
Neben der guten Binnenkonjunktur wird unser Wirtschaftswachstum allerdings auch ganz wesentlich von
zwei externen Faktoren getragen: von niedrigen Ölpreisen und einem schwachen Wechselkurs des Euro, der vor
allem der mittelständischen Exportwirtschaft zugutekommt. Das wiederum zeigt aber auch die Verwundbarkeit unseres Wirtschaftswachstums.
Gerade im letzten Jahr haben wir erlebt, dass gute
Wachstumsprognosen schnell das Papier nicht mehr wert
sind, wenn sich die internationale Lage auf einmal verschlechtert. Natürlich bleibt diese unsichere Lage zum
Beispiel aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts oder
der Situation im Nordirak ein Unsicherheitsfaktor für die
wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land. Hinzu
kommt die schwächere Entwicklung in für den Export
unseres Landes wichtigen Ländern und Regionen wie
China und Lateinamerika. Alle relativ guten Prognosen
dürfen uns also nicht davon abhalten, die Aufgaben
schnellstens anzugehen, die wir nicht nur im eigenen
Land, sondern auch in Europa dringend angehen müssen, um unsere eigene Stärke zu verbessern. Denn nur
wenige führende Wirtschaftsnationen der Welt stehen
vor so grundlegenden Herausforderungen wie Deutschland. Ich möchte beispielhaft nur die wichtigsten Herausforderungen nennen:
Die demografische Entwicklung - das Arbeitskräftepotenzial unseres Landes nimmt in den kommenden
zehn Jahren um bis zu 6,7 Millionen Menschen ab. Kein
Industrieland der Erde hat bisher ein solches Experiment
vor sich gehabt. Es ist wahrscheinlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre, mit der wir umgehen
müssen.
Die europäische Integration: Was in den letzten Jahren die deutsche Stärke in Form von Wohlstand und Stabilität ausgemacht hat, nämlich wachsender Wohlstand
und wachsende Stabilität in Europa, ist immer noch fragil. Hinzu kommt die enorme Herausforderung durch die
Intervention Russlands in der Ukraine.
Natürlich hat niemand in Europa und ganz sicher
nicht in Deutschland ein Interesse an weiteren und schärferen Sanktionen, und natürlich brauchen Europa und
die ganze Welt einen Partner wie Russland für die Lösung globaler Konflikte und für die Bewältigung globaler Herausforderungen. Aber der Weg zu einem neuen
Aufbruch in den europäisch-russischen Beziehungen,
also zum Beispiel der Weg zu freiem Handel zwischen
Lissabon und Wladiwostok, führt eben über Minsk und
die Umsetzung der dort vereinbarten Schritte zur Beendigung der bewaffneten Intervention in der Ukraine.
({18})
Deutschland gehört zu den Ländern, die am energischsten für eine Verhandlungslösung eintreten - durch
den Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin. Es
gibt aber keine Alternative zur Rückkehr zu all dem, was
vor rund 40 Jahren in der KSZE-Schlussakte von Helsinki vereinbart wurde und was vermutlich in ganz Europa die größte Leistung in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts war, nämlich die Erklärungen zur Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und zum Gewaltverzicht.
({19})
Aber auch im Inland stehen wir vor großen Herausforderungen. Die Investitionskraft unseres Landes muss
steigen; sowohl bei Investitionen in die öffentliche Infrastruktur als auch bei privaten Investitionen in Unternehmen. Deshalb ist es richtig, nachdem die Koalition
zusätzliche Verkehrsinvestitionen in Höhe von 5 Milliarden Euro vereinbart hat, jetzt noch einmal - diese Möglichkeit hat der Finanzminister aufgrund der soliden
Finanzpolitik - 10 Milliarden Euro zusätzlich zu investieren. Dazu kommt eine Entlastung der Kommunen in
dieser Legislaturperiode um rund 10 Milliarden Euro.
Das ist deshalb so wichtig, weil mehr als die Hälfte der
öffentlichen Investitionen von den Gemeinden getätigt
werden. Außerdem wollen wir jetzt im Frühjahr die Ergebnisse der Expertenkommission vorlegen, wie wir priBundesminister Sigmar Gabriel
vate Investitionen steigern können, in den privaten Sektor selbst und auch in die öffentliche Infrastruktur.
Natürlich ist es auch weiterhin nötig, sich um den
Aufbau Ost zu kümmern. Ja, da hat sich vieles verbessert. Aber gerade der Mindestlohn ist für Ostdeutschland
wichtig. Das in der Koalition vereinbarte Projekt zu einer Solidarrente übrigens auch; es ist vor allen Dingen
für Ostdeutschland und für Frauen von Bedeutung. Wir
haben deshalb auch das Zukunftsinnovationsprogramm
Mittelstand im Wirtschaftsministerium ausgebaut, durch
die wesentliche Förderung in Ostdeutschland geschieht.
Das Gleiche gilt auch für die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“.
({20})
Eines muss auch klar sein: Was immer bei den Verhandlungen über die Fortführung des Solidarpaktes ab
2019 herauskommt - wir werden nicht an einer besonderen Förderung von Ostdeutschland vorbeikommen,
meine Damen und Herren. Der Aufbau dort muss weitergehen, aber eben auch in vielen anderen Regionen stärker werden, die heute benachteiligt sind.
({21})
Zu unseren Aufgaben gehört auch, junge Unternehmen in ihrer Wachstumsphase besser zu fördern. Ich bin
der Deutschen Börse dankbar für ihre Initiativen. Wir
begleiten das durch den Ausbau der Förderinstrumente.
Aber, meine Damen und Herren, wir müssen auch den
regulatorischen Rahmen anpassen. Es kann doch nicht
sein, dass wir den Einstieg in junge deutsche Unternehmen für Kapitalgeber auf Dauer durch hohe Hürden im
Einkommensteuerrecht erschweren und damit international überhaupt nicht wettbewerbsfähig sind.
({22})
Dazu zählt auch der Abbau von Bürokratie. Wir werden
in diesem Frühjahr ein Gesetzespaket zum Bürokratieabbau vorlegen.
Eine der großen Herausforderungen wird die Digitalisierung unserer Wirtschaft sein. Den digitalen Sektor
gibt es schon lange nicht mehr. Die Digitalisierung hat
längst alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft erreicht. Sie verändert Qualifikations- und Wertschöpfungsstrukturen, schafft neue Chancen, aber eben auch
neue Herausforderungen und Risiken. Deutschland unterstützt die Schaffung eines gemeinsamen digitalen
Binnenmarktes in Europa und baut selbst seine digitale
Infrastruktur aus. Wir öffnen Deutschland auch weiter
digital. Wir sorgen für freies WLAN, freie Routerwahl,
wirksame Verankerung der Netzneutralität, investitionsfreundliche Netzregulierung und für einen Ordnungsrahmen für die digitale Ökonomie.
Die Neuordnung unserer Energiepolitik gehört auch
zu den innerdeutschen Herausforderungen. Wir müssen
die Umstellung eines der weltweit führenden Industriestandorte auf eine neue, klimaschonende, nachhaltige,
aber eben auch bezahlbare Energiebasis weiter voranbringen. Für den Industriestandort Deutschland ist es
elementar, dass sich die Energiekosten im Vergleich zu
unseren Wettbewerbern nicht immer weiter verteuern,
meine Damen und Herren.
({23})
Nach der Einführung einer Zielsteuerung beim Zubau
der Erneuerbaren müssen wir deswegen jetzt die Architektur des Marktes und der Netze an die Energiewende
anpassen. Mit unserem Grünbuch haben wir die Diskussion über die Zukunft des Strommarktes eröffnet. Dazu
kommen die Entscheidungen über die Zukunft von
KWK und Stadtwerken. All das werden wir in diesem
Jahr nicht nur voranbringen, sondern auch abschließen
müssen.
({24})
Meine Damen und Herren, jede der genannten Veränderungen bringt Herausforderungen an das heutige Modell Deutschland mit sich. Wer ehrlich ist, der weiß, dass
sich unser Land ändern muss, um seine Werte zu sichern
und weiterhin erfolgreich zu sein. Um selbstbewusst in
die Zukunft zu blicken, muss sich Deutschland öffnen
und Barrieren abbauen.
Wir müssen Deutschland weiter öffnen: einmal nach
innen, um mehr Menschen die Erarbeitung von Wohlstand, aber auch die Teilhabe an diesem Wohlstand zu
ermöglichen. Das wichtigste Instrument dabei ist Bildung. Viel zu viele junge Menschen in Deutschland
wachsen in zweiter und dritter Generation in Stadtteilen
auf, in denen sie keine Erfahrung von Aufstieg durch
Bildung machen; und das gilt für Deutsche wie für Zuwandererkinder, meine Damen und Herren.
({25})
Deshalb ist es richtig gewesen, dass die Koalition entschieden hat, den Ländern 6 Milliarden Euro mehr für
Bildungsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Die sind
genau in diesen Stadtteilen am besten aufgehoben.
Zur Öffnung nach innen gehört aber auch mehr
Gleichberechtigung. Es ist nicht nur ungerecht, immer
noch viel zu vielen Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt und zur beruflichen Karriere zu verbauen, wenn
sie Kinder haben, sondern es ist auch wirklich ökonomischer Unfug.
({26})
Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen für mehr
Gleichberechtigung und Gleichstellung erhöhen. Die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Akzeptanz
neuer Erwerbsbiografien, die Integration von Zuwanderern, die Toleranz gegenüber neuen Familienmodellen,
religiöser Zugehörigkeit und gleichgeschlechtlichen
Ehen sowie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft - all das gehört zur Öffnung
nach innen.
({27})
Wir brauchen auch die Bereitschaft, uns mehr nach
außen zu öffnen, eine Bereitschaft zu mehr und nicht zu
weniger Internationalität. Dazu gehört auch Freihandel,
meine Damen und Herren, der natürlich in Deutschland
und in Europa weder Standards absenken darf, noch an
irgendeiner Stelle das Recht privatisieren darf oder die
demokratischen Rechte von Parlamenten und Regierungen einschränken darf.
({28})
Der Verweis auf schlechte Freihandelsabkommen der
Vergangenheit darf uns doch nicht daran hindern, bessere für die Zukunft zu machen.
({29})
Wenn wir uns als Europäer von den Entwicklungen
abkoppeln, die heute das asiatische oder das pazifische
Jahrhundert genannt werden, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung dahin verschiebt, wir uns aber keine
Partner suchen, mit denen wir gemeinsam ein Gegengewicht dazu bilden, dann werden wir uns den internationalen Standards, über die andere entscheiden, anpassen
müssen,
({30})
statt sie selber jetzt mutig zu gestalten. Darum geht es
bei der Debatte.
({31})
Noch einmal: Nicht jedes Freihandelsabkommen ist
gut. Es gibt Dinge, die wir nicht machen dürfen und
auch nicht machen werden; diese habe ich eben schon
genannt. Aber eine Verweigerungshaltung zwingt uns
später zur Anpassung.
({32})
Wir sollten die vermutlich letzte Chance nutzen, dass
Europa diese Standards im Sinne Europas definiert, statt
sich später anderen Standards anpassen zu müssen.
({33})
Zur Öffnung gehört auch, dass sich Deutschland dazu
bekennen muss, ein Einwanderungsland zu sein, um
seine wirtschaftliche Stärke beizubehalten.
({34})
Dazu gehören klare Regeln, die festlegen, wen wir aufnehmen, weil er Hilfe und Schutz vor Verfolgung und
Krieg braucht, um wen wir weltweit werben, weil er bislang nicht bereit ist, zu uns zu kommen, wir ihn oder sie
aber brauchen. Übrigens auch Regeln diesbezüglich,
wen wir nicht in Deutschland aufnehmen können oder
wollen. Manches davon ist bereits geregelt, anderes
nicht. Deshalb ist die Debatte über ein modernes Einwanderungsgesetz meines Erachtens außerordentlich
sinnvoll. Wir sollten sie mutig und offen führen, meine
Damen und Herren.
({35})
Aber Gesetze alleine helfen nicht. Wir müssen in der
Praxis ein Einwanderungsland werden. Zur Bildung
habe ich schon etwas gesagt. Es muss zum Beispiel aber
auch darum gehen, dass wir nicht jedes Jahr erneut um
die Finanzierung kämpfen müssen, damit ausreichend
Sprachförderkurse vorgehalten werden können.
({36})
Ich bin es, ehrlich gesagt, leid, dass wir diese Debatte
immer wieder führen müssen, und bin außerordentlich
froh, dass wir die Haushaltsmittel für Integrationskurse
2014 um 40 Millionen Euro auf inzwischen immerhin
244 Millionen Euro aufstocken konnten. Wir müssen
und wollen das fortschreiben.
Meine Damen und Herren, für nachhaltiges Wachstum in Deutschland ist ein starkes Europa die entscheidende Voraussetzung. Dazu müssen wir dringend die
notwendigen Strukturreformen durch eine ambitionierte
Wachstumspolitik in Europa ergänzen.
Ich begrüße es sehr, dass der Europäische Rat im letzten Dezember die mit bis zu 315 Milliarden Euro ausgestattete europäische Investitionsoffensive von Kommissionspräsident Juncker beschlossen hat. Ich finde es
- das sage ich ausdrücklich - richtig, dass die Kommission die Möglichkeiten der Flexibilität im Stabilitätsund Wachstumspakt nutzt und sich dieser Debatte nicht
verweigert hat.
({37})
Wir wollen, dass diese Investitionsoffensive ein Erfolg wird. Deshalb werden wir unseren Beitrag zum Gelingen dieser Offensive leisten, indem wir uns über die
KfW mit bis zu 8 Milliarden Euro - möglicherweise sogar darüber hinaus - an der Projektfinanzierung beteiligen. Ich bin meinem Kollegen Wolfgang Schäuble außerordentlich dankbar, dass er das mitträgt und im
Ecofin-Rat in dieser Woche vertreten hat. Wir haben
dank unserer soliden Finanzpolitik die Möglichkeit, uns
daran zu beteiligen. Das sollten wir nicht kleinreden.
Deshalb sage ich herzlichen Dank an den Kollegen
Schäuble für diese Initiative.
({38})
Wir haben vereinbart, dass Deutschland und Frankreich die europäische Investitionsoffensive nach Kräften
unterstützen und durch eigene Initiativen und Reformen
voranbringen wollen. Ziel darf kein konjunkturelles
Strohfeuer sein, sondern Ziel müssen Investitionen in
Nachhaltigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents sein, also in digitale Infrastruktur, in Energieeffizienz, in den Energiebinnenmarkt, in Forschung und
Entwicklung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen in Griechenland am letzten Sonntag rufen uns allerdings auch in
Erinnerung, wie sehr Europa von der KooperationsbeBundesminister Sigmar Gabriel
reitschaft seiner Mitgliedstaaten abhängt, und auch, dass
wir bei Fragen der wirtschaftlichen Erholung und der
wirtschaftlichen Stabilität und den dafür notwendigen
Reformschritten nicht vergessen dürfen, dass es nicht
nur um ökonomische Lehrmeinungen geht, sondern immer auch um Menschen. Ohne Hoffnung und nur mit äußerem Druck gelingen keine Reformen.
Griechenland hat einen beachtlichen Fortschritt bei
der Sanierung seines Haushalts und auch beim Wirtschaftswachstum gemacht. Ich finde, man darf jetzt auch
einmal sagen, dass die Menschen dort ungeheuer viel ertragen und erduldet haben; auch das zu sagen gehört
dazu.
({39})
Ich erinnere mich noch ganz gut, welche Debatte wir bei
der Agenda 2010 in unserem Land hatten. Wer ehrlich
ist, der muss doch sagen: Gegenüber dem, was Griechenland zu schultern hatte und hat, ist die Agenda 2010
in unserem Land ein laues Sommerlüftchen gewesen.
Gerade wir sollten die Bereitschaft zu Reformen in diesem Land und das, was Menschen dort dafür zu ertragen
hatten, hochschätzen und das öffentlich zum Ausdruck
bringen.
({40})
Ich hoffe sehr, dass es der neuen Regierung in Griechenland gelingt, das System von Korruption, persönlicher Bereicherung und Vorteilsnahme, das sich ungeachtet der Reformprogramme in Griechenland hartnäckig
hält, endlich zu zerstören. Das ist dringend notwendig.
({41})
Dieses Land ist viel zu lange die Beute von einigen Familien gewesen, die sich jeder Verantwortung für dieses
Land entzogen haben.
({42})
Deswegen sind nicht die Troika und Europa an den Problemen in Griechenland schuld. Das ist eine falsche Interpretation.
({43})
Jedenfalls hoffe ich, dass es gelingt, eine gerechtere
Verteilung der Lasten zu erzielen. Es ist immer noch
traurige Realität, dass die Vermögensverteilung in Griechenland eine der ungerechtesten in Europa ist.
({44})
Ich finde, wir Deutschen haben auch diesbezüglich eine
Erfahrung anzubieten: Der Lastenausgleich dieses Landes nach 1945 war eine Maßnahme, in deren Folge diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch Vermögen hatten, von ihrem Vermögen etwas abgegeben
haben, um denen, die alles verloren hatten und als
Flüchtlinge in dieses Land kamen, zu helfen, sich in diesem Land zu integrieren. Das ist ein Beispiel, dem auch
in Griechenland diejenigen folgen sollten, die über große
Vermögen verfügen.
({45})
- Ich würde an Ihrer Stelle nicht so ganz laut dazwischenrufen, wenn es um die griechische Regierung geht;
denn, ehrlich gesagt, übertragen auf deutsche Verhältnisse - ich unterstelle Ihnen das nicht; damit das klar ist -,
ist die Koalition dort eine Koalition von Linken und
AfD. Das ist eine bemerkenswerte Entscheidung.
({46})
Ich würde an Ihrer Stelle nicht darüber lachen; denn das
beinhaltet eine klare Botschaft, nämlich die der Rückkehr zum Nationalismus und, gegen Europa zu sein.
Sonst kann man nicht mit einer solchen Partei koalieren.
({47})
Ich sage deshalb auch klar: Wir wollen Griechenland
in der Euro-Zone halten, nicht, weil es alternativlos ist,
sondern, weil es das Richtige ist, um Europas wirtschaftliche und politische Zukunft zu sichern. Gleichzeitig
aber erwarten wir, dass die neue griechische Regierung
ihren Verpflichtungen nachkommt.
({48})
Natürlich muss jeder Demokrat die demokratische
Entscheidung von Wählerinnen und Wählern genauso
akzeptieren wie das Recht einer neu gewählten Regierung, ihren Kurs neu zu bestimmen. Allerdings gilt ebenfalls, dass natürlich auch alle anderen Bürgerinnen und
Bürger Europas erwarten können, dass Veränderungen in
der griechischen Politik nicht zu ihren Lasten vorgenommen werden. Darum geht es.
({49})
Was immer die griechische Regierung an den zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und Griechenland vereinbarten Maßnahmen, Programmen und Reformen ändern will, sie
muss die Konsequenzen dieser Änderungen im eigenen
Land bewältigen und darf sie nicht auf die Bürgerinnen
und Bürger anderer Länder abwälzen. Darum geht es in
der Debatte.
({50})
Denn Europa lebt von Berechenbarkeit und Kooperationsbereitschaft, allerdings auch von gegenseitiger Fairness.
Der Jahreswirtschaftsbericht 2015 zeigt: Wir stellen
uns den vor uns liegenden Herausforderungen. Richt7758
schnur des Handelns dieser Bundesregierung ist die Öffnung der Gesellschaft auf Grundlage der Idee der sozialen Marktwirtschaft und der Zusammenarbeit aller in
unserem Land. Ich bin fest davon überzeugt, dass
Deutschland von mehr Offenheit profitieren wird. Sie
schafft Freiheit, und zwar nicht nur die Freiheit, sich um
seine wirtschaftlichen Belange zu kümmern, sondern vor
allen Dingen Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens. Das ist die Voraussetzung für Kreativität und Leistungsbereitschaft. Das gehört zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft.
Im Übergang zur vierten industriellen Revolution
spielen Grenzen des Denkens und Grenzen hinsichtlich
der Zugehörigkeit der Länder kaum noch eine Rolle.
Aber Kreativität und Mut spielen genauso viel eine Rolle
wie in der Vergangenheit. Wir müssen und werden das
fördern. Wenn wir an einem Strang ziehen, dann - da bin
ich mir sicher - werden wir es schaffen, in Deutschlands
und Europas Zukunft zu investieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({51})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, nachdem Sie sich jetzt doch zu
einer Aussage verstiegen haben, was die Verhältnisse in
Griechenland angeht, mache ich zwei, drei kurze Bemerkungen dazu.
Der erste Punkt ist: Was wäre die Alternative gewesen? Die Alternative in Griechenland wären Neuwahlen
gewesen. Dann hätten wir im Ergebnis noch instabilere
Verhältnisse, die sich mit Sicherheit auf Europa nicht positiv ausgewirkt hätten.
({0})
Der zweite Punkt, der mich sehr ärgert: Es waren Ihre
Partnerparteien - Pasok ist eine sozialdemokratische
Partei; Nea Dimokratia ist die konservative Partei -, die
diesen Saustall in Griechenland verursacht haben ({1})
das haben Sie vorhin selber gesagt -: Korruption, die
Reichen werden nicht besteuert. Vielleicht hätten Sie
vorher einmal nach Griechenland fahren und denen sagen sollen, dass sie anständige Politik machen müssen.
Dann müssten Sie sich hinterher nicht darüber aufregen,
dass unsere Partnerorganisation dort das einzig Mögliche macht, nämlich diese Verhältnisse wieder vom Kopf
auf die Füße zu stellen und dafür zu sorgen, dass tatsächlich die Reichen besteuert werden,
({2})
dass tatsächlich andere Verhältnisse in Griechenland
herrschen als die, die Sie kritisiert haben.
({3})
Aber das, meine Damen und Herren, ist nicht unser
Thema.
Im Zusammenhang mit der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichtes haben Sie heute betont, die deutsche
Wirtschaft sei in guter Verfassung, und haben viele
Punkte angesprochen, die auch uns freuen, zum Beispiel
die Entwicklung von Beschäftigung und Wachstum. Ich
bin Ihnen dankbar, Herr Gabriel, dass Sie aber auch darauf eingegangen sind, was nicht in Ordnung ist. Auf
diesen Punkt möchte ich schon hinweisen, meine sehr
verehrten Damen und Herren. Wer, bitte, ist denn eigentlich die Wirtschaft? Sind das nur die Zahlen, die wir hier
vorgelegt bekommen, oder stecken auch Menschen dahinter?
({4})
Wenn man sich anschaut, wie sich die Entwicklung
der Wirtschaft darstellt, dann merkt man: Sie ist äußerst
unterschiedlich. Von 2000 bis 2013 ist der Umfang der
Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um
24 Prozent gestiegen; das ist ein Viertel mehr. Im selben
Zeitraum war bei den abhängig Beschäftigten ein reales
Minus von 3,1 Prozent zu verzeichnen. Wir haben hier
also eine vollkommen unterschiedliche Entwicklung.
Die Menschen nehmen nicht mehr gleichermaßen an der
wirtschaftlichen Entwicklung teil, sondern ein großer
Teil von ihnen ist abgehängt, nämlich diejenigen, die das
Ganze erarbeiten:
({5})
durch Schichtarbeit, durch Samstagsarbeit, durch Sonntagsarbeit, oft auch indem sie ihre eigene Gesundheit
aufs Spiel setzen. Wenn man diese Menschen von der
wirtschaftlichen Entwicklung abkoppelt
({6})
und sagt: „Die Wirtschaft ist in guter Verfassung“, wird
dies dem Zustand des Landes nicht gerecht, meine Damen und Herren.
({7})
Im Übrigen haben wir die Situation - Sie haben ja
auch etwas zum Thema Renten gesagt, Herr Gabriel -,
dass die Renten von 2000 bis 2012 um real 19 Prozent
gesunken sind, im Osten um 24 Prozent. Wir sehen also,
dass Sie nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern
auch die Älteren, die unser Land aufgebaut haben, nicht
an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben lassen.
Weil Sie auch etwas zur Agenda 2010 gesagt haben,
Herr Gabriel: Wenn man Gesetze macht, durch die die
Löhne gedrückt werden, dann braucht man sich nicht zu
wundern, wenn die Beschäftigten geringere Löhne gezahlt bekommen. Das ist die Wahrheit.
({8})
Wie kommen wir wieder voran? Sie haben den Mindestlohn angesprochen, Herr Gabriel. Ja, 8,50 Euro sind
besser als nichts. 10 Euro wären bei weitem besser und
angemessener gewesen.
({9})
Ich sage Ihnen, was jetzt aber überhaupt nicht geht: vollkommen zu verharmlosen, dass selbst diese 8,50 Euro
von Teilen Ihrer eigenen Regierung bzw. von einem Teil
der Fraktionen, die die Regierung stellen, offensichtlich
sabotiert werden. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Sie sabotieren Ihre eigenen Gesetze, die Gesetze, die Sie selber hier beschlossen haben.
({10})
Nichts anderes ist es, wenn Sie sagen: Wir wollen,
dass in bestimmten Bereichen nicht mehr kontrolliert
wird, wie lange die Leute eigentlich arbeiten.
({11})
Es geht doch um die Dokumentationspflicht.
({12})
Ich sage: Wenn Sie nicht dokumentieren, wie lange die
Menschen arbeiten, wissen Sie auch nicht, welchen
Lohn sie pro Stunde bekommen, weil Sie den Lohn dann
gar nicht auf die Arbeitszeit umrechnen können.
({13})
Deshalb sagen wir: Hören Sie mit diesem Unsinn auf!
Halten Sie sich wenigstens an das, was Sie selber beschlossen haben!
({14})
- Herr Grosse-Brömer, da können Sie abwinken, so viel
Sie wollen. Man merkt in diesem Land, was Sie hier treiben.
Meine Damen und Herren, um die Verhältnisse wieder vernünftig zu gestalten, wäre es notwendig, dafür zu
sorgen, dass es am besten gar keine Leiharbeit mehr gibt,
dass aber zumindest gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird, und zwar ab der ersten Stunde. Wir müssen
Regelungen zur Befristung treffen, und wir müssen vor
allen Dingen beim Thema Werkverträge vorankommen.
Hier haben Sie bisher nur heiße Luft von sich gegeben.
Das große Problem in unserem Land sind die Investitionen; Sie haben den Titel Ihres Berichts - „Investieren
in Deutschlands und Europas Zukunft“ - erwähnt. Wenn
Sie es nur tun würden, meine Damen und Herren! 5 Milliarden Euro soll es zwischen 2014 und 2017 für den Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur geben,
10 Milliarden Euro im selben Zeitraum für Infrastruktur
und Energieeffizienz. Angesichts dieser Zahlen reibt
man sich wirklich die Augen. Ich möchte, damit die
Höhe des Investitionsbedarfs auch Ihnen bewusst wird,
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zitieren.
Dort heißt es - ich zitiere -:
Im Vergleich mit dem Durchschnitt der Eurozone
… hat sich in Deutschland seit 1999 eine Investitionslücke von drei Prozent
- ich betone: jährlich des Bruttoinlandsprodukts gebildet. Kumuliert seit
1999 entspricht dies etwa einer Billion Euro …
Ich wiederhole: Das Investitionsdefizit beträgt laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung 1 Billion Euro.
Aber Sie betreten die Bühne mit 5 und 10 Milliarden
Euro. Für wie dumm halten Sie die Leute eigentlich?
Glauben Sie wirklich, die Leute denken, dass man damit
tatsächlich etwas bewegen kann?
({15})
Meine Damen und Herren, notwendig wären tatsächlich Investitionen. Die muss man finanzieren. Aber statt
nun die niedrigen Zinsen auszunützen, um für mehr Investitionen staatlicherseits zu sorgen, kommen Sie mit
der schwarzen Null. Ich habe langsam den Eindruck, die
großen schwarzen Nullen sitzen in dieser Regierung.
({16})
Leider geht das zulasten der Bevölkerung.
({17})
Sie hätten auch die Möglichkeit, bei denen, die wirklich zu viel haben, Steuern zu erhöhen; denn die Vermögensverteilung läuft auseinander. Auch das tun Sie nicht.
Sie verweigern höhere Steuern. Obwohl Sie sich vor der
Wahl, Herr Gabriel, noch dafür ausgesprochen hatten,
sah die Welt kurz nach der Wahl wieder vollkommen anders aus.
Meine Damen und Herren, jetzt kommen Sie auf die
fantastische Idee - ich zitiere aus Ihrem Jahreswirtschaftsbericht -: Für die Finanzierung des Erhalts und
des Ausbaus der öffentlichen Infrastruktur sollen nun
„private Finanzierungsmöglichkeiten“ einbezogen werden. - Was machen Sie denn da nun? Obwohl wir wissen, dass die Privaten sozusagen Geld wie Heu haben
und dennoch nicht investieren, wollen Sie, dass jetzt die
Privaten die Infrastruktur des Staates erneuern, den Straßenbau übernehmen. Was Sie hier machen, ist der direkte Griff in die Taschen der Steuerzahler. Ich sage Ihnen auch, warum. Nehmen Sie einmal den Bericht des
Bundesrechnungshofs, der dem Haushaltsausschuss des
Deutschen Bundestages vorgelegt wurde. Dort lesen Sie
- ich zitiere -:
Vielmehr haben Berechnungen des Bundesrechnungshofs zu fünf der sechs bereits vergebenen
ÖPP-Projekte ergeben, dass allein diese um insgesamt über 1,9 Mrd. Euro teurer sind, als es eine
konventionelle Realisierung gewesen wäre.
Er kommt zu dem Ergebnis - ich zitiere weiter -:
Der Bundesrechnungshof ist der Auffassung, dass
die bisherigen ÖPP-Projekte unwirtschaftlich sind.
Was bedeutet das? Die Projekte, die es schon jetzt in
dieser Art und Weise gibt, wo sozusagen private Investoren für öffentliche Investitionen gewonnen werden sollen, kosten den Steuerzahler viel mehr Geld, als wenn
wir das über Kredite des Staates finanzieren oder die
Reichen entsprechend besteuern. Was Sie machen, ist
ein Renditeprogramm für die Reichen, für die Besserverdienenden, für die großen Unternehmen. Was Sie verweigern, ist eine vernünftige öffentlich finanzierte Infrastruktur für die Leute in diesem Land.
({18})
Das ist eine unmögliche Politik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke
für die Aufmerksamkeit.
({19})
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es
fällt natürlich ein bisschen schwer, nach einem solchen
Unsinn überhaupt noch ernst zu bleiben; Herr Ernst, mir
fällt das schwer.
({0})
Denn was ich da von Ihnen hören musste, das ist nun
mal durch nichts zu belegen. Sie haben es immer noch
nicht kapiert. Sie reden davon, dass der Staat das alles
besser könne. Das haben Sie ja mit der SED in der DDR
bewiesen: Da ist er dann zusammengebrochen.
({1})
- Das tut Ihnen weh, das weiß ich; das soll Ihnen auch
wehtun.
Meine Damen und Herren, Deutschland geht es gut.
Wir haben eine Situation, wie wir sie so gut in Deutschland eigentlich noch nicht gehabt haben: 42,8 Millionen
Erwerbstätige in Deutschland - der Bundesminister hat
es eben gesagt -, das ist eine Erfolgsstory.
({2})
Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Das ist für mich eines der wichtigsten Signale, dass
es Deutschland gut geht; denn es gibt nichts Schlimmeres, als wenn junge Menschen keine Hoffnung haben.
Das haben wir Gott sei Dank in Deutschland verändert.
({3})
Wenn Sie sich anschauen, wie es im europäischen
Umfeld aussieht, dann sehen Sie: Wir sind auf einem guten Weg. In Frankreich liegt die Jugendarbeitslosigkeit
bei 25 Prozent, in Spanien bei 42 Prozent. Bei uns liegt
sie durchschnittlich bei 6,7 Prozent. In vielen Regionen
Deutschlands gibt es keine Jugendarbeitslosigkeit mehr.
Im Gegenteil: Wir sind dabei, nach Wegen zu suchen,
wie wir für diese Regionen unter Umständen junge
Leute aus dem Ausland anwerben können.
Dies zeigt: Wir haben die richtige Wirtschaftspolitik
betrieben. Wir haben dafür gesorgt, dass es läuft. Die
Unternehmer wie die Arbeitnehmer in den Betrieben haben eine gute Arbeit geleistet.
Wir haben einen Konsolidierungskurs gefahren, der
bemerkenswert ist: Wir haben bereits letztes Jahr die
schwarze Null erreicht. Dieses Jahr wird es dann sicherlich - Überraschungen des Finanzministers sind ja bekannt - auch noch ein nettes Plus geben; wir gehen mal
davon aus, dass das so sein wird. Ich finde, dass wir auf
dem richtigen Weg sind.
Das ist allerdings - das sollten wir auch sagen - keine
gottgegebene Sache und auch kein Automatismus. Wir
müssen schon daran arbeiten, dass das so weitergeht. Ich
habe das Gefühl, dass wir im letzten Jahr das eine oder
andere Mal ein bisschen zu viel über Verteilungsgerechtigkeit nachgedacht haben, aber zu wenig darüber, wie
wir die wirtschaftliche Situation in Deutschland verbessern und verstärken. Das sollten wir jetzt machen. Die
Worte des Wirtschaftsministers in diesem Zusammenhang habe ich gehört.
Wir dürfen bei der Bürokratie nicht immer weiter
draufsatteln. Das haben Sie selbst gesagt, Herr Gabriel,
und ich bin Ihnen dankbar dafür. Allerdings habe ich das
Gefühl, dass das nicht in allen Ministerien so verstanden
wird.
({4})
Zu den Dokumentationspflichten beim Mindestlohn
({5})
sage ich Ihnen: Das geht ein gutes Stück zu weit, verehrte Frau Andreae. Das geht nämlich so weit, dass wir
alle Unternehmer - und das stört mich vor allen Dingen
bei der Linken besonders - unter den Generalverdacht
stellen, dass sie Verbrecher und Betrüger sind. Das ist
nicht in Ordnung, und das möchte ich nicht. Wir haben
in Deutschland einen Mittelstand, der hervorragende Arbeit leistet,
({6})
indem die Unternehmen gut zusammenarbeiten. Sie alle
unter einen Generalverdacht zu stellen, das ärgert mich
schon ganz gewaltig. Auch darüber sollten wir nachdenken. Ich will kein Misstrauensklima in Deutschland haben.
Herr Kollege Fuchs, darf der Kollege Ernst eine Frage
stellen?
Ich nehme es zwar nicht ernst, aber okay.
({0})
- Nein, Gott sei Dank.
Ich möchte keine Frage stellen. Man darf ja auch Bemerkungen machen, Herr Präsident; das habe ich so verstanden.
({0})
Meine erste Bemerkung. Sie haben ja gerade versucht, einen Zusammenhang zwischen der SED und
meiner Person herzustellen.
Das betrifft nicht Sie; das weiß ich. Aber Sie sind für
den Verein verantwortlich.
Jetzt kann man unschwer erkennen: Ich spreche mit
bayerischem Akzent. Ist Ihnen entgangen, dass es die
SED in Bayern gar nicht gab?
({0})
Zweitens. Das bezieht sich jetzt auf das, was Sie zu
mir gesagt haben - das sei Unfug, Unsinn, und man
müsse das ja nicht ernst nehmen -: Herr Fuchs, Sie haben, zitiert nach dem Handelsblatt, einen Vergleich aufgestellt; der ist einige Jahre her. Dort haben Sie gesagt
- ich möchte das zitieren -:
Der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen
Groß- und Außenhandels, Dr. Michael Fuchs, hat
die Diskussion über die Standortqualität Deutschlands auf diese Gleichung verdichtet: Für das, was
ein deutscher Arbeitnehmer im Durchschnitt kostet,
könnten entweder 70 Russen, 38 Bulgaren, 18 Polen, 17 Tschechen oder 10 Ungarn beschäftigt werden. Denn die monatlichen Arbeitskosten … liegen
in Deutschland bei 6 000 DM und entsprechend geringer in den anderen Ländern.
Daraufhin, auf diese große wirtschaftliche Einsicht, die
Sie dort bekundet haben, hat Ihnen dann Herr Hans
Mundorf vom Handelsblatt geantwortet. Er hat geschrieben:
Müsste man aus solchen Vergleichen die tarifpolitische Konsequenz ziehen, könnte die nur heißen:
Erst wenn das Monatseinkommen des deutschen
Arbeitnehmers auf 90 DM reduziert worden wäre,
könnte die Bundesrepublik wieder im Wettbewerb
mit Russland bestehen.
Und dann schreibt Herr Mundorf - jetzt wird es spannend -:
Diese Folgerung jedoch ist zu absurd, als dass man
nur eine Sekunde darüber nachdenken müsste.
Das ist Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz, Herr
Fuchs.
({1})
Wenn Sie dann zu mir sagen, das, was ich sage, müsse
man nicht ernst nehmen, kann ich Ihnen nur sagen: Dieser Vergleich ist 20 Jahre her. Man muss Sie seit 20 Jahren nicht mehr ernst nehmen.
({2})
Auf so etwas zu antworten, erspare ich mir. Sie kapieren es halt nicht, und Sie werden es nicht kapieren, weil
Sie es auch nicht können.
({0})
Bleiben wir bitte beim Bürokratieabbau. Das muss
unser gemeinsames Ziel sein; denn es macht überhaupt
keinen Sinn, Bürokratie aufzubauen, parallel dazu aber
davon zu reden, dass wir sie abbauen wollen. Deswegen
bin ich der Meinung, dass wir da unbedingt herangehen
müssen.
Ich finde, dass wir auch in Europa ein gutes Stück
weitergekommen sind. Es ist erfreulich, dass viele Länder jetzt aus den Programmen, die wir hier in diesem
Hohen Haus beschlossen haben, herausgekommen sind.
In Irland sind wir auf einem sehr guten Weg. Selbst in
Portugal und in Spanien sind wir auf einem guten Weg.
Die Kanzlerin hat am Wochenende ja gesagt, dass auch
Italien langsam, aber sicher merkt, dass wir nur über Reformen aus der Krise herauswachsen können. Ich hoffe,
dass das in allen anderen Ländern genauso wird.
Wenn nun aber in Griechenland eine neue Regierung
antritt und sagt, die geringe Reform, die gemacht wurde,
wolle man zurückdrehen und ein Antispar- bzw. Antireformprogramm oder gar einen Anti-Merkel-Pakt beschließen, dann macht mir das schon erhebliche Sorgen.
Das ist nicht der Weg, mit dem Europa wettbewerbsfähig
wird, und das ist auch nicht der Weg, mit dem wir die
Zukunft in Europa gestalten können.
Wenn dann Linksradikale mit Rechtspopulisten koalieren, dann frage ich mich, ob ich nicht im falschen
Film bin.
({1})
Wenn ich mir dann angucke, was diese Linksradikalen
zusammen mit den Rechtsradikalen da machen wollen,
wird es mir angst und bange. Und dann, Herr Ernst:
Wenn es eine Partei ist, die Antisemitismus, Rassismus
und einen Chauvinismus in ihrem Programm hat, der
nicht akzeptabel ist, dann kann ich nur sagen: Eine Koalition mit einer solchen Partei zu akzeptieren, zeigt den
ganzen Charakter der Linken und stört mich ganz gewaltig.
({2})
Herr Kollege Fuchs, darf der Kollege Schlecht eine
Zwischenbemerkung machen?
Na gut.
({0})
Herr Fuchs, Sie haben ja eben die neue griechische
Regierung beschrieben und dabei von einer Koalition
aus Linksradikalen und Rechtspopulisten gesprochen.
Ich will Sie nur darauf hinweisen, dass diese Regierung
momentan versucht - maßgeblich von Syriza betrieben -, die übelsten Zustände, die dem griechischen Volk
von außen über die Troika aufoktroyiert worden sind
- maßgeblich auch von Deutschland betrieben -, zu beseitigen.
({0})
Dort sind dramatische Verschlechterungen der sozialen
Lage und eine ganz große Anzahl von Menschen, die
nicht mehr krankenversichert sind, zu beklagen. Es sterben dort Leute auf den Straßen, weil sie verhungern, die
Suizidrate hat dramatisch zugenommen, es gibt Stromsperren usw.
({1})
Das alles soll jetzt abgestellt werden.
Ich will Sie nur darauf hinweisen: Das ist nicht linksradikal, sondern im besten Sinne sozialdemokratische
Politik. Allerdings mag es sein, dass Ihr Koalitionspartner hier in Deutschland, die SPD, bestimmte Elemente
sozialdemokratischer Politik mittlerweile als linksradikal denunziert. Daran kann man aber nur sehen, wo sie
angekommen ist.
({2})
Weil die Anel auch von anderen immer wieder mit der
AfD verglichen wird, will ich, bezogen auf die sogenannten Rechtspopulisten, darauf hinweisen, dass es einen ganz großen Unterschied zwischen diesen beiden
Gruppierungen gibt. Er besteht darin, dass diese sogenannten Rechtspopulisten gemeinsam mit Syriza gegen
das antreten, was hier in Deutschland „Agenda 2010“
heißt und was zu einer Zerstörung der Strukturen am Arbeitsmarkt geführt hat. Dafür würde die AfD hier in
Deutschland nie die Hand geben, weil die AfD - das ist
in der Öffentlichkeit leider viel zu wenig bekannt - eine
Vorkämpferin für die weitere Verschlechterung der Situation am Arbeitsmarkt ist und hinter den Entscheidungen steht, die vor zehn Jahren hier in diesem Hause getroffen worden sind und die wir nicht wollen und
bekämpfen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der AfD und Anel.
({3})
Insofern kann man diese beiden Gruppierungen überhaupt nicht miteinander vergleichen.
({4})
Herr Schlecht, das macht Rassismus, Antisemitismus
und Ausländerfeindlichkeit besser? Ist das Ihre Einstellung? Das habe ich kritisiert. Sie sollten hier bitte zuhören!
({0})
Ich möchte nicht, dass wir solche Verhältnisse jemals in
Deutschland bekommen, und ich sage Ihnen eines: Gott
sei Dank wird diese Linke zusammen mit der AfD und
der Pegida in Deutschland niemals mehrheitsfähig sein und das wünsche ich Ihnen auch nicht.
({1})
Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer Reihe
großer Herausforderungen; der Minister hat schon eine
ganze Menge genannt. Eine der Herausforderungen ist
sicherlich die Energiewende.
Wir haben im letzten Jahr eine vernünftige EEG-Reform durchgeführt. Ich würde mir wünschen, der Herr
Krischer würde sich heute bei Ihnen, Herr Gabriel, entschuldigen; denn er hat am 27. Juni 2014 hier im Hohen
Hause gesagt - ich zitiere das einmal -:
Sigmar Gabriel ist die Abrissbirne, die die erneuerbaren Energien in diesem Land kaputt macht …
({2})
Das war eine Unverschämtheit.
Wenn Sie einmal nachgucken würden, was im letzten
Jahr passiert ist - vielleicht haben Sie das ja noch nicht
gelesen, Herr Krischer -, dann wüssten Sie, dass das,
was Sie erzählt haben, Unsinn war.
({3})
Wir haben für neue Investitionen gesorgt, was allein im
Bereich der Onshorewindenergie zu einer Ausweitung
der Kapazität im Umfang von brutto 4 700 Megawatt
und netto 4 300 Megawatt geführt hat. Das ist gewaltig
viel und sogar viel mehr, als wir uns in dem Zielkorridor
von 2 400 Megawatt bis 2 600 Megawatt vorgenommen
hatten.
({4})
Einen Augenblick mal. - Ich bitte um Nachsicht: In
der Zulassung von Zwischenfragen und auch Kurzinterventionen bin ich nachweislich eher großzügig, aber
man muss einem Redner auch die Möglichkeit geben,
drei aufeinanderfolgende Sätze ohne Unterbrechung vorzutragen.
({0})
Wenn Sie nachher also eine Kurzintervention machen
wollen, dann werde ich sie gerne genehmigen; aber im
Augenblick genehmige ich keine weiteren Zwischenfragen.
({1})
Ich bin dem Präsidenten dankbar; denn man muss einen Gedanken ja auch einmal komplett ausformulieren
können. - Wir hatten 2 400 bis 2 600 Megawatt geplant,
und es sind netto 4 300 Megawatt geworden. Das zeigt ja
wohl, dass wir die Energiewende nicht kaputt gemacht,
sondern dass wir, im Gegenteil, in gewaltigem Maße
Möglichkeiten geschaffen haben, in Deutschland in erneuerbare Energien zu investieren.
Ich kann nur sagen: Wir müssen uns schon genau
überlegen, ob das richtig ist. Verehrte Kollegen von den
Grünen, diese zusätzlich gebauten Anlagen kosten
250 Millionen Euro pro Jahr mehr an EEG-Umlage. Wir
liegen zurzeit bei 22 Milliarden Euro. Zu dieser Summe
kommen in diesem Jahr 250 Millionen Euro mehr dazu,
und zwar nur aufgrund der Tatsache, dass wir beim Ausbau der Windenergie deutlich über das selbstgesteckte
Ziel hinausgeschossen sind.
Herr Minister, wir sollten darüber nachdenken, ob wir
den Ausbau in den Folgejahren leicht reduzieren, um
diesen nicht gewollten Anstieg bei den Mitteln zu kompensieren. Ich halte das für eine sinnvolle Maßnahme;
denn wir müssen in irgendeiner Weise die gewaltigen
Mehrausgaben in diesem Bereich kompensieren. Die
Firmen können das nicht bezahlen, und auch die Bürgerinnen und Bürger können das nicht bezahlen.
Ich halte es für vollkommen richtig, dass Sie heute in
diesem Hohen Hause gesagt haben, dass unsere Mehrausgaben bei den Energiekosten gedeckelt werden müssen, dass wir aufhören müssen, zu glauben, wir könnten
die Energiekosten immer und immer weiter steigen lassen. Das gilt für KWK. Das gilt aber auch für alles, was
erneuerbare Energien in diesem Zusammenhang ausmacht.
Ich meine, es ist allerhöchste Zeit, das zu tun; denn in
vielen Bereichen hat der Ausbau nichts gebracht. Mittlerweile gibt es mehr chinesische PV-Module auf deutschen Dächern als Module aus Deutschland. Das wird
nicht zu unserer Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Der
Ausbau hat zwar für Bayern ein erfreuliches Ergebnis erzielt, weil es dadurch zu einer Umkehr des Länderfinanzausgleichs gekommen ist. Aber ob das sinnvoll ist,
müssen wir noch einmal diskutieren.
Auch der Netzausbau muss mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in irgendeiner Art synchronisiert
werden. Es macht keinen Sinn, wenn wir ständig weitere
Anlagen im Norden bauen, aber den Strom nicht in den
Süden transportieren können.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. In
Schleswig-Holstein werden wir Ende dieses Jahres
wahrscheinlich eine installierte Leistung von 12 Gigawatt bei den erneuerbaren Energien erreichen. In Schleswig-Holstein werden aber maximal 2,8 bis 3 Gigawatt
an installierter Leistung gebraucht. Das heißt, dort gibt
es 9 Gigawatt zu viel. Wohin mit dieser Leistung? Sie
muss wegtransportiert werden. Wenn es uns nicht gelingt, diese wegzutransportieren, dann haben wir ein
Problem. Dann müssen diese Anlagen nämlich permanent abgeschaltet werden - das können Sie jetzt schon
beobachten -, und das kostet enorm viel Geld. Das müssen alle Verbraucher bezahlen. Das kann nicht unser Ziel
sein. Deswegen muss das gesamte Hohe Haus dafür sorgen, dass der Netzausbau so schnell wie möglich vorankommt. Das dauert mir bei weitem zu lange.
({0})
Das kann so nicht weitergehen. Ich bin der Meinung,
dass wir auf diesem Sektor Defizite haben, und zwar in
allen Bundesländern, auch in Bayern.
Es ist klar - ich bin dankbar, dass der Bundesminister
das eben sehr deutlich erwähnt hat -, dass wir nur dann,
wenn wir ein vernünftiges Freihandelsabkommen mit
den Amerikanern aushandeln,
({1})
in der Zukunft Standards und Normen setzen. Die Amerikaner verhandeln zurzeit sehr intensiv mit den
ASEAN-Staaten über TPP. Wer die State-of-the-UnionRede von Obama gelesen hat, der wird feststellen, dass
sich Obama mehr um TPP als um TTIP kümmert. Wenn
es so sein sollte, dass dieses Abkommen zuerst geschlossen wird, dann werden die Amerikaner mit den ASEANStaaten Normen und Standards setzen, an denen wir
dann nicht mehr vorbeikommen. Das ist nicht meine
Vorstellung.
Meine Vorstellung ist, dass wir mit den Amerikanern
europäische Standards aushandeln und dass diese dann
anschließend auf Asien übertragen werden. Das wäre für
die deutsche Wirtschaft eine Chance. Daran sollten wir
gemeinsam arbeiten.
({2})
Deswegen ärgere ich mich so, wenn alle NGOs, die
Linke sowieso und auch Teile der Grünen
({3})
das TTIP-Abkommen schlechtreden. Dahinter steckt
Ideologie, dahinter steckt Antiamerikanismus.
({4})
Dagegen wehren wir uns. Wir wollen nämlich genau
das Gegenteil. Wir wollen, dass ein vernünftiges Freihandelsabkommen zwischen unseren Ländern geschlossen wird, das den Menschen hilft und das auch den Unternehmen bessere Chancen ermöglicht.
({5})
Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Kollege
Krischer das Wort.
Herr Kollege Fuchs, Sie haben darauf hingewiesen,
dass ich vor einem guten halben Jahr Sigmar Gabriel bei
der Verabschiedung der EEG-Novelle als „Abrissbirne“
der Energiewende bezeichnet habe. Das ist richtig.
({0})
Ein halbes Jahr danach muss ich leider feststellen
- Herr Fuchs, Sie sind offensichtlich nicht über die Entwicklungen in der Branche beim Ausbau der erneuerbaren Energien informiert -, dass die Voraussage, dass
Sigmar Gabriel mit dieser EEG-Novelle die Abrissbirne
der Energiewende ist, genau so eingetreten ist. Die Biomassebranche hat null Zubau in Deutschland.
({1})
In den Fachmagazinen der Branche finden Sie nur noch
Artikel darüber, wie man im Ausland investieren kann
und dass Deutschland keinen Zukunftsmarkt hat.
({2})
Bei der Photovoltaikbranche ist es genauso. Im letzten Jahr, 2014, ist Ihr eigener Ausbaukorridor deutlich
unterschritten worden,
({3})
und im Jahr 2015 wird der Ausbau gegen null gehen.
Das Einzige, was noch kommt, ist Ihr merkwürdiges
Ausschreibungsprogramm für Solar-Freiflächenanlagen. Ansonsten passiert gar nichts.
Gestern hat SMA, ehemals Weltmarktführer in der
Wechselrichtertechnologie, den Abbau von 1 600 Arbeitsplätzen angekündigt. Sie treiben diese Industrie aus
dem Land.
({4})
Dass wir derzeit bei der Windenergie noch einen guten Zubau haben, liegt daran, dass die rot-grün regierten
Bundesländer dafür gesorgt haben, dass im EEG wenigstens noch bis 2017 eine angemessene Vergütung vorgesehen ist. Das wollten Sie auch ändern. Das wollten Sie
auch kaputtmachen.
Aber hier kommt es zum Schlussverkaufeffekt. Das
ist in Kürze vorbei. Der Marktführer Enercon beispielsweise, der Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland
sichert, hat ab 2017 in Deutschland keinen einzigen Auftrag mehr, weil Sie dann, ohne irgendwie benennen zu
können, wie Sie es machen wollen, das Vergütungssystem auf Ausschreibung umstellen wollen. Sie haben aber
keine Vorstellung davon, wie Sie das machen wollen.
({5})
Sie machen die erneuerbare Industrie kaputt, statt Industriepolitik zu betreiben. Der Bundesminister hat das
eben sehr deutlich bestätigt, als er über alles Mögliche
geredet hat, aber nicht über Klimaschutz, die Energiewende und den Ausbau der Erneuerbaren.
({6})
Das ist zu wenig für ein Land, das die Energiewende
will.
({7})
Zur Erwiderung Herr Kollege Fuchs.
Verehrter Herr Krischer, ich habe versucht, es Ihnen
zu erklären.
({0})
Wir hatten einen Ausbau der Windenergie auf 2 400 bis
2 600 Megawatt geplant. Es sind inklusive des Repowering 4 700 Megawatt geworden. Angesichts dessen
trifft es nicht zu, dass wir etwas abgerissen haben. Es ist
doch mehr aufgebaut worden, als wir selbst gewollt haben.
Die Zahlen für die Photovoltaik liegen noch gar nicht
vor. Sie mögen sie schon alle haben, weil Sie permanent
mit diesen Herrschaften reden. Ich habe sie noch nicht.
Ich habe heute Morgen noch einmal bei den ÜbertraDr. Michael Fuchs
gungsnetzbetreibern angerufen und gefragt, ob es irgendwelche Zahlen gibt. Sie sind nicht vorhanden. Reden Sie nicht über etwas, das noch gar nicht vorliegt!
Bis Anfang November waren schon rund 1 800 Megawatt installiert. Wir sind also nicht weit von dem Korridor, den wir uns selbst gegeben haben, entfernt, und
wir haben obendrein ein vernünftiges Ausschreibungsverfahren für Freiflächen auf den Weg gebracht. Wir
wollen aber nicht, dass alles in Deutschland verspiegelt
wird. Wir wollen auch noch Landwirtschaft haben.
({1})
Deswegen sind wir bei dem ganzen Thema Biomasse
sehr zurückhaltend.
Zu einer direkten Erwiderung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erhält der Kollege Gabriel jetzt das Wort.
Meine Damen und Herren! Ich habe dem Präsidenten
versprochen, dass ich mit nur einem Satz antworte. Den
muss ich jetzt hinbekommen.
Ich wollte nur, weil Sie an das Stichwort „Abrissbirne“ erinnert haben, an ein zweites Wort in der damaligen Debatte erinnern: Damals habe ich Ihnen gesagt,
dass man Sie mit guten Gründen davor bewahren muss,
zum Pinocchio dieses Bundestages zu werden;
({0})
denn auch Ihre heutige Darstellung der Entwicklung der
erneuerbaren Energien ist falsch, und der Abbau des Personals bei der Firma SMA hat etwas mit Billigimporten
aus China und Dumping zu tun, aber nichts mit der Entwicklung der erneuerbaren Energien.
({1})
Sie nähern sich immer mehr diesem Ehrentitel.
({2})
Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gabriel, ich erinnere Sie an das dritte Wort der Debatte. Dieses lautete „roter Anorak“.
({0})
Sie sollten sich an damals erinnern, als Sie als Bundesumweltminister die Klimakrise wirklich ernst genommen haben und im roten Anorak vor den Polarbergen erklärt haben: Wir haben ein Problem, das wir weltweit
angehen müssen. - Das war damals die richtige Haltung.
Diese Haltung sollten Sie auch heute als Bundeswirtschaftsminister einnehmen. Das wäre effektive, sinnvolle Wirtschaftspolitik.
({1})
Sie haben viel von zusätzlich notwendigen Investitionen gesprochen. Wir teilen das ausdrücklich. Ja, wir
brauchen zusätzliche Investitionen. Aber was im Jahreswirtschaftsbericht zu lesen ist, ist nichts anderes als aufgewärmter Kaffee. Sie reden von 5 Milliarden Euro an
Zusatzinvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Aber
der große Teil fließt in alte Projekte. Da wird Ramsauers
Spatenstichpolitik fortgeführt. Hier von Zusatzinvestitionen zu sprechen, ist ein glatter Etikettenschwindel. Von
Zukunftsinvestitionen zu sprechen - dieses Wort wird
auch im Jahreswirtschaftsbericht verwendet -, geht erst
recht nicht. Man könnte nur dann von Zukunftsinvestitionen in den Verkehrsbereich sprechen, wenn das Programm, das zum Ziel hat, 1 Million Elektromobile auf
die Straße zu bringen, forciert angegangen und wenn
eine Infrastruktur aus Ladestationen finanziert würde.
Dann gäbe es eine echte Verkehrswende. Zukunftsinvestitionen bedeuten Umsteuern in Richtung Zukunft und
Nachhaltigkeit unter besonderer Berücksichtigung der
Bedürfnisse zukünftiger Generationen. Das machen Sie
hier nicht.
({2})
Die Mittel dazu wären doch vorhanden. Die wirtschaftliche Lage ist so gut, wie seit langem nicht mehr.
Der niedrige Ölpreis, der teilweise bedauerlich schwache Euro - es ist nicht nur schön, dass der Euro so
schwach ist - und auch die niedrigen Zinsen verschaffen
Ihnen einen Puffer, der es Ihnen ermöglicht, in die Zukunft zu investieren. Sie müssen jetzt handeln, denn der
Ölpreis wird nicht immer so niedrig sein. Die Investitionen nehmen gerade ab. Das heißt, dass auch das Angebot
abnehmen wird und die Preise wieder steigen werden.
Aus Klimaschutzgründen ist es sowieso notwendig, den
Ölverbrauch zu senken; das dürfen Sie nicht vergessen.
Sie müssen nun das Zeitfenster und die steigenden Einnahmen - der niedrige Ölpreis wirkt wie ein Konjunkturpaket von 20 Milliarden Euro - nutzen und dafür sorgen,
dass tatsächlich konsequent Investitionen in den Ausbau
der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz getätigt werden.
({3})
Gerade bei der Energieeffizienz sind Sie weit von
dem entfernt, was wir brauchen. Sie haben auf den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz verwiesen. Aber
was wir fordern und brauchen, sind konsequente Investitionen in Energieeffizienz und Klimaschutz. Der Klimaschutz eröffnet neue Geschäftsfelder. Wir erleben das in
anderen Ländern. In Indien und in China werden die
Subventionen für herkömmliche Energiequellen heruntergefahren. Auch Sie könnten die Mineralölsubventionen zugunsten der chemischen Industrie, die ebenfalls
von dem niedrigen Ölpreis profitiert, herunterfahren.
Klimaschutz ist ein Chancenfaktor und kein Kostenfaktor. Das müsste sich doch durchsetzen lassen.
({4})
Ja, es geht um Deutschlands und um Europas Zukunft. Deutschland muss mehr Verantwortung für Europa übernehmen. Derzeit zieht die Europäische Zentralbank den Karren aus dem Dreck. Sie musste handeln,
weil die Bundesregierung nicht gehandelt hat.
({5})
Die Wahlen in Griechenland zeigen doch nur, dass die
Menschen frustriert sind, Angst haben und keine wirtschaftliche Perspektive und Zukunft für sich sehen.
({6})
Deswegen geht es vor allem darum, hier Investitionen
für wirtschaftliche Perspektiven auf den Weg zu bringen,
die Energienetze auszubauen, die Bildung zu fördern sowie kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen,
aber auch Armut zu bekämpfen.
Herr Gabriel, Sie haben angekündigt, dass sich die
KfW mit 8 Milliarden Euro an der zweiten Stufe der
Projekte beteiligen soll. Das ist nicht der richtige Weg.
Sie haben uns im Haushaltsausschuss gesagt, dass Sie
sich am Investitionsfonds von Herrn Juncker erst dann
beteiligen, wenn die anderen europäischen Länder nachziehen. Wollen Sie wirklich auf Estland und Portugal
warten? Nein, richtig wäre, 12 Milliarden Euro in den
Investitionsfonds von Herrn Juncker einzuzahlen. Das
wäre ein klares, starkes proeuropäisches Signal. Dann
würde Deutschland Verantwortung für Europa übernehmen.
({7})
Führen wir uns einmal die Debatte über den Mindestlohn vor Augen. Sie sagen, dass Sie Erfahrungen sammeln und dann auswerten wollen. Wir haben Ihnen beim
Mindestlohngesetz vorgeschlagen, es genau andersherum zu machen. Evaluieren Sie kontinuierlich mit Beginn des Mindestlohns! Natürlich gibt es am Anfang an
der einen oder anderen Stelle noch gewisse Schwierigkeiten. Wenn aber der Wirtschaftsrat der Union und Sie,
Herr Fuchs, schon zehn Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus versuchen, die Axt anzulegen, dann ist das nichts anderes
als Propaganda gegen den Mindestlohn.
({8})
Wir würden Sie dabei unterstützen, Bürokratie abzubauen.
({9})
Das ist ganz einfach: Lassen Sie diesen CSU-Irrsinn mit
der Ausländermaut. Das ist das größte bürokratische
Programm, das Sie gerade auf den Weg bringen. Lassen
Sie diese Bürokratie weg.
({10})
Im Jahreswirtschaftsbericht wird der demografische
Wandel als Problem erkannt. Die Diskussion über den
Fachkräftemangel gibt es seit vielen Jahren. Ich zitiere:
Der demografische Wandel in Deutschland geht
einher mit einer abnehmenden Zahl von Personen
im erwerbsfähigen Alter.
({11})
Guten Morgen! Genau deshalb ist die Rente mit 63
das falsche Signal an den Arbeitsmarkt gewesen. Es ist
diese Koalition, die mit einem falschen Rentenpaket die
Probleme des demografischen Wandels verschärft hat.
Es ist diese Koalition, die den zukünftigen Generationen
Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro pro Jahr aufbürdet. Das war die bisher teuerste sozialpolitische Fehlentscheidung dieser Koalition.
({12})
Natürlich brauchen wir eine Fachkräftesicherung im
Inland, aber auch Fachkräfte aus dem Ausland. Sie, Herr
Gabriel, haben einen bemerkenswerten Artikel im
Tagesspiegel mit der Überschrift „Mut zur Einwanderergesellschaft“ geschrieben. Da finden Sie unsere volle
Unterstützung. Aber ich würde mir wünschen, dass sich
ein Wirtschaftsminister dieses Landes, der dieses Problem erkennt, auch in einem Jahreswirtschaftsbericht
klar zu einem Einwanderungsgesetz bekennt. Wir brauchen ein Signal, ein Signal für ein weltoffenes, modernes
und zukunftsfähiges Deutschland mit Einwanderung,
mit einem Einwanderungsgesetz. In diesem Jahreswirtschaftsbericht findet sich nichts darüber. Reden Sie sich
nicht damit heraus, dass Thomas de Maizière in seinem
Zuwanderungsbericht schreibt, es sei doch alles in Ordnung, es sei zufriedenstellend, und er ein Einwanderungsgesetz ablehnt.
Sie haben viele Sachen angesprochen, die Sie im Kabinett noch nicht durchbekommen haben oder die Sie
noch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen diskutieren.
Aber ein Wirtschaftsminister muss in der Lage sein, zu
sagen: „Wir werden moderne Bedingungen für Einwanderung schaffen, wir werden ein Einwanderungsgesetz
auf den Weg bringen“,
({13})
und dieses auch im Jahreswirtschaftsbericht benennen
und darf sich nicht auf Placebos beschränken, wie Sie es
hier getan haben.
({14})
Das wäre im Übrigen eine Investition in die Zukunft,
die keinen Pfennig Geld kostet, sondern die im Gegenteil viel Geld bringt. Was sie kostet, ist Mut und Durchsetzungsfähigkeit. Wir fordern Sie jetzt auf: Stellen Sie
die Weichen richtig - für Deutschland und für Europa,
für die Zukunft dieses Landes und für die Zukunft nachfolgender Generationen, nicht nur hier, sondern auch in
Europa!
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich sollten wir über die wirtschaftliche Lage
reden, Frau Kollegin Andreae. Dazu haben Sie kein
Wort gesagt. Man kann sich doch auch einfach einmal
freuen, dass wir eine ordentliche wirtschaftliche Entwicklung haben: 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum,
({0})
Rekordbeschäftigung, zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Einfach einmal sich fröhlich
freuen, würde auch Ihnen den Tag versüßen, sage ich
einmal an dieser Stelle.
({1})
Es ist natürlich richtig - und das ist ein Verdienst des
Bundeswirtschaftsministers -, dass man sich angesichts
dieser guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur hinstellt und sagt: Es ist schön. - Denn klar ist: Es gibt sehr
unterschiedliche Gründe, warum wir so gut aufgestellt
sind. Das ist die Folge von Reformen in der Vergangenheit gewesen, das hat etwas mit der aktuellen internationalen Situation zu tun und auch mit der Arbeit dieser
Bundesregierung, die aktuell im Amt ist. Da kommt vieles zusammen.
Aber es ist vor allen Dingen das Verdienst von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und tüchtigen Unternehmern in diesem Land. Dieser Bundeswirtschaftsminister macht mit dem Jahreswirtschaftsbericht,
im Übrigen auch schon mit dem letzten, Dinge anders
als Vorgänger. Ich finde es richtig, dass er eben nicht nur
sagt, was jetzt ist, sondern auch, was kommen muss, und
ganz offen und ehrlich auch Herausforderungen benennt.
Genau das ist es.
Aber, liebe Kerstin Andreae, eines muss ich doch
noch loswerden: Bei bestimmten Fragen habe ich bei der
Rede, die ich eben gehört habe, das Gefühl gehabt, dass
man geradezu Pappkameraden aufbauen muss, weil es
ganz schön schwierig ist, Dinge zu fordern, die es schon
gibt. Ich finde das ganz schön schwierig. Mich erinnert
das ein bisschen an eine Szene aus den Buddenbrooks,
als Arbeiter vor das Haus des Senators ziehen und rufen:
Wir wollen eine Republik. - Da sagt der Senator: Wir
sind in der Freien und Hansestadt Lübeck, wir sind
schon eine Republik. - Daraufhin sagt einer: Dann wollen wir noch eine Republik. - Das ist ein bisschen problematisch.
Sie fordern zusätzliche Investitionen. Genau die haben wir auf den Weg gebracht.
({2})
Ich kann sie Ihnen im Einzelnen benennen: 5 Milliarden
Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur; 6 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung, weil wir nicht nur in
Beton denken; 3 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung; 10 Milliarden Euro zusätzlich für Investitionen
bringen wir jetzt auf den Weg. Wir entlasten die Kommunen in dieser Legislaturperiode um über 5 Milliarden
Euro. Also einfach mit einer Tonnenideologie immer
mehr zu fordern, ist der falsche Weg. Sie könnten zumindest einmal anerkennen, dass diese Regierung massiv
mehr als Vorgängerregierungen in die Zukunft investiert.
({3})
Wenn wir über Investitionen in diesem Land reden,
dann reden wir zum einen über die Investitionen der öffentlichen Hand, also über die Investitionen von Bund,
Ländern und Kommunen, in die Infrastruktur dieses
Landes. Ich habe vorhin von Investitionen im Bereich
der Bildung gesprochen: Zusätzlich stehen 6 Milliarden
Euro zur Verfügung, vor allen Dingen durch Entlastung
der Länder, damit in Kitas, in Schulen, in Hochschulen
investiert werden kann. Hinzu kommen zusätzlich 3 Milliarden Euro für Forschung. Das ist eine gigantische
Leistung. Man kann immer mehr wünschen - gar keine
Frage -; aber wir wollen es eben schaffen - das ist nachhaltige Politik -, die Balance zwischen Haushaltskonsolidierung und Zukunftsinvestitionen zustande zu bringen. Dieser Weg scheint richtig zu sein.
Wir haben es geschafft, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, und wir haben es geschafft, ihn durchzusetzen und auch durchzuhalten. Natürlich ist das Glück
manchmal auch mit den Tüchtigen; gar keine Frage. Die
internationale Situation ist beschrieben worden, und wir
haben das Glück der Tüchtigen an dieser Stelle. Aber es
ist nicht so, dass sich diese Bundesregierung auf dem Erreichten ausruht; vielmehr gehen wir die Dinge an, die
vor uns liegen. Auch das ist vorhin beschrieben worden.
Mehrere große Herausforderungen liegen vor uns. Es
geht nicht nur darum, dafür zu sorgen, dass wir bei den
öffentlichen Investitionen vorankommen, sondern zum
anderen darum, dass wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass die Privatwirtschaft in Deutschland investiert.
Aber auch da, Kerstin Andreae, ist der Befund, dass weniger investiert wird, falsch. Die Bruttoanlageinvestitionen in diesem Land sind gestiegen. Auch die Investitionen in der Privatwirtschaft in diesem Land sind
gestiegen; auch das ist ein Befund des Jahreswirtschaftsberichts.
Wir haben also einige Aufgaben zu bewältigen. Das
Thema Fachkräftesicherung ist vorhin angesprochen
worden. Hier sind wir - Kollege Fuchs hat es angesprochen - ganz kräftig vorangekommen, auch was die Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit in diesem Land betrifft. Das ist hocherfreulich.
Ich füge hinzu: Es gibt in diesem Bereich noch Potenziale, die wir heben müssen. 50 000 junge Menschen
Hubertus Heil ({4})
verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30
haben keine Ausbildung. Damit darf man sich nicht abfinden; das werden wir auch nicht. Deshalb ist es gut,
dass dieser Bundeswirtschaftsminister im vergangenen
Dezember mit Vertretern der Wirtschaft und der Gewerkschaften die Allianz für Aus- und Weiterbildung geschlossen hat, um dafür zu sorgen, dass wir kein Kind in
diesem Land zurücklassen, dass wir versuchen, jedem,
auch den Benachteiligten in diesem Land, unter die
Arme zu greifen. Das geht nur im Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Ich finde,
auch als Opposition hätte man diese Leistung einfach
einmal anerkennen können, Frau Kollegin Andreae.
({5})
Sie haben über Einwanderung gesprochen. Ich finde,
es ist nicht fair, zu sagen, dass dieser Wirtschaftsminister
dazu keine Vorschläge mache; er hat es nämlich in seiner
Rede vorhin getan. Wir werden uns miteinander darüber
zu unterhalten haben, wie wir das Einwanderungsrecht
in diesem Land modernisieren. Ich finde, das ist eine
ganz wesentliche Botschaft an diejenigen, die glauben,
dass wir unseren Wohlstand national abgeschottet verteidigen können. Das können wir nicht! Wir müssen ein offenes, ein weltoffenes Land sein. Aber die Diskussion
darüber müssen wir miteinander führen.
Ich glaube, dass es neben der Frage der gesetzlichen
Bedingungen für Einwanderung in diesem Land einfach
darum geht, eine offene Gesellschaft zu haben, die Menschen willkommen heißt und die Zuwanderer nicht abstößt. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir müssen
Rechtsradikalen und Rechtspopulisten aus sehr unterschiedlichen Gründen entgegentreten. Wir müssen auch
Ängsten entgegentreten, die es in der Bevölkerung aus
sehr unterschiedlichen Gründen gibt; schließlich geht es
um Menschen, und es ist nicht in Ordnung, gegen Minderheiten zu hetzen. Aber wir müssen auch deswegen
weltoffen sein, weil es sich unser Land ökonomisch
nicht leisten kann, national vernagelt zu sein. Unsere
Wirtschaft ist exportorientiert, und wir brauchen eine
qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland. Dies wollen und werden wir organisieren.
({6})
Ich sage das auch im Hinblick auf den anderen Aspekt der Zukunftsfähigkeit unseres Landes: die digitale
Infrastruktur. Wir haben durch die Haushaltskonsolidierung, durch die wirtschaftliche Entwicklung Spielräume
bekommen: Zusätzlich stehen 10 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung. Wir müssen schauen, wie wir
das vernünftig einsetzen. Auch da geht es darum, mit
knappem Geld vernünftig umzugehen. Es ist richtig,
dass in Energieeffizienz investiert wird; denn gerade in
diesem Bereich können private Investitionen vernünftig
gehebelt werden. Das ist ökologisch und auch wirtschaftlich vernünftig. Wir müssen etwas für die Verkehrsinfrastruktur tun. Auch da gilt unser Prinzip „Erhalt
vor Neubau“, weil wir von der Substanz im Bereich der
Verkehrsinfrastruktur leben; denn es ist für einen Wirtschaftsstandort wichtig, eine gute Verkehrsinfrastruktur
zu haben.
Aber ich füge hinzu: Wir müssen auch mehr in die digitale Infrastruktur in diesem Land investieren.
({7})
Auch das wird Teil der Aufgabe sein: mit öffentlichem
Anstoß privates Kapital in den Ausbau von Breitbandinfrastruktur gerade in ländlichen Räumen in Deutschland
zu bringen.
Nächster Punkt: die Frage der Internationalisierung.
Es ist vorhin angesprochen worden: Wir sind Exportvizeweltmeister. Wir dürfen nicht vernagelt sein. Wir
müssen auch darüber reden, wie die Regeln für einen fairen und freien Welthandel gestaltet werden. Das sind
schwierige Debatten, die wir in Sachen CETA und TTIP
zu führen haben. Aber wir stellen uns den Debatten. Ich
finde, man hätte auch einmal anerkennen können, dass
wir diesen kritischen Diskurs miteinander führen und
aushalten.
({8})
An einem Punkt - da beißt die Maus keinen Faden
ab - dürfen wir nicht national vernagelt sein. Man muss
sich die Entwicklung in Fernost einfach einmal anschauen, um zu begreifen, dass auch unsere Interessen
berührt sind. Es geht darum, welchen Zugang deutsche
Unternehmen, vor allen Dingen mittelständische Unternehmen, auf den Märkten der Welt haben, wenn darüber
verhandelt wird, Zollgrenzen einzureißen und auch
nichttarifäre Handelshemmnisse zu beseitigen. Das ist in
unserem Interesse, und auch das ist wirtschaftlich vernünftig.
Der Kollege Krischer hat vorhin über Energiepolitik
gesprochen.
({9})
Wir haben noch genug Gelegenheit in diesem Jahr, über
Energiepolitik zu diskutieren. Ich finde, Oliver Krischer,
es ist auch nicht unehrenhaft, wenn man Prognosen, die
man bei Reden hier im Bundestag sozusagen im Überschwang abgegeben hat, was den Ausbau der erneuerbaren Energien betrifft, einfach einmal korrigiert und Zahlen zur Kenntnis nimmt.
({10})
Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht in diesem
Land kräftig weiter.
Aber es geht nicht darum, einfach nur kräftig Gas zu
geben, sondern es geht darum, das System vernünftig
weiterzuentwickeln. Die Frage der Bezahlbarkeit scheint
die Grünen nicht so richtig zu interessieren, wenn es um
die Energiewende geht. Das unterscheidet uns möglicherweise.
({11})
Hubertus Heil ({12})
Wir wollen eine sichere, aber auch eine saubere und bezahlbare Energieversorgung in diesem Land.
({13})
Das ist der Weg, den wir fortsetzen werden. Das ist wirtschaftlich vernünftig. Es ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes, dass wir die Energiewende miteinander hinbekommen. Da liegt viel Arbeit
vor uns.
Herr Kollege Heil.
Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt: Wir sind auf dem
richtigen Weg. Wir werden nicht nachlassen, im Interesse unseres Landes weiter daran zu arbeiten, dass wir
wettbewerbsfähig bleiben, dass wir erfolgreich bleiben
und dass möglichst viele Menschen am Wohlstand in
diesem Land teilhaben können.
Herzlichen Dank.
({0})
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren
heute den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung.
Das heißt, es geht darum, einzuordnen: Was wurde erreicht? Wo stehen wir? Vor allem geht es um die Frage:
Wo wollen wir hin? Das ist in diesem Jahreswirtschaftsbericht niedergelegt. Es sind Dutzende von Maßnahmen
angesprochen worden, die wir in diesem Jahr anpacken
wollen. Wir wollen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen.
Wo stehen wir? Deutschland - die Vorredner haben
das angesprochen - steht gut da. Noch vor wenigen Wochen und Monaten wurde uns von linker und grüner
Seite gesagt: „Wir rutschen in eine Rezession, es geht
abwärts, das Wirtschaftswachstum wird zum Erliegen
kommen“, und anderes mehr.
({0})
Die Kassandrarufe habe ich heute nicht mehr gehört,
Gott sei Dank, weil die Realität Sie mal wieder eines
Besseren belehrt hat.
Wir haben 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Noch
vor wenigen Wochen war von maximal 1 Prozent die
Rede, davon, dass es nach unten geht. Das Gegenteil ist
der Fall. Das Konsumklima heute ist auf dem höchsten
Stand seit 13 Jahren. Träger des Wachstums ist neben
dem Export insbesondere die Binnenkonjunktur. Hohe
Einkommenszuwächse - nominal und real - kommen
bei den Menschen an. Sie haben Vertrauen in die Politik,
in diese Regierung und investieren und konsumieren
jetzt. Das ist das Ergebnis verantwortungsvoller Politik
dieser Bundesregierung in den letzten Jahren.
Was sind die Rahmenbedingungen, die wir verändern
wollen, die wir angehen wollen, um uns noch besser zu
machen, um uns auf die demografischen und die technologischen Herausforderungen noch besser einzustellen?
Der digitale Wandel stellt uns vor große Herausforderungen. Wir haben in dieser Woche zusammen mit den Ländern den Startschuss gegeben für die Versteigerung von
Frequenzen - es geht um die sogenannte Digitale Dividende II -, von Funkfrequenzen, die im analogen Bereich nicht mehr benötigt werden und jetzt im Rahmen
des digitalen Wandels für den Breitbandausbau verwendet werden können.
Das heißt, wir können über die Versteigerung der
Funkfrequenzen einen Beitrag dazu leisten, die flächendeckende Versorgung mit 50 Megabit bis 2018 in
Deutschland zu erreichen. 98 Prozent der Haushalte und
98 Prozent der Bundesbürger sollen mit diesen 50 Megabit versorgt werden. In keinem Bundesland sollen es weniger als 97 Prozent sein. Nicht nur flächendeckend in
den Städten und Gemeinden, sondern auch entlang von
Autobahnen und entlang von Schienentrassen soll dieser
Breitbandausbau erfolgen. Er ist kein Selbstzweck; denn
dieser Breitbandausbau ist notwendig für Industrie 4.0,
für neue Anwendungen im Bereich der Mobilität. Selbstfahrende Autos werden nicht ohne Breitbandausbau und
ohne eine entsprechende Netzinfrastruktur funktionieren. Deshalb arbeiten wir daran, dies entsprechend nach
vorn zu bringen.
({1})
Jetzt sind die vermeintlichen Investitionslücken angesprochen worden. Da lohnt es sich, etwas genauer hinzusehen. In der Tat, wenn man die Zahlen oberflächlich betrachtet, dann hat Deutschland heute mit 17 Prozent ein
niedrigeres Investitionsniveau im Vergleich zum Jahr
2000 und auch im Vergleich zu 20 Prozent im OECDDurchschnitt. Das heißt, es gibt eine vermeintliche Investitionslücke von 3 Prozent. Wenn man sich die Zahlen aber genau anschaut, wenn man beispielsweise sieht,
dass in den 90er-Jahren vereinigungsbedingt bei uns viel
gebaut wurde, und wenn man die Baubranche herausrechnet, dann gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, die beispielsweise im Baubereich noch
Nachholbedarf haben, keine Investitionslücke. Das hat
die Bundesbank jüngst klargestellt und dargestellt. Man
muss sich das nur anschauen wollen und sich mit dem
Thema beschäftigen.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht weiter investieren
wollen. Wir wollen jedoch nicht auf Pump investieren.
Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Staaten
sind unsere Investitionen nicht mehr schuldenfinanziert.
Wir haben einen ausgeglichenen Haushalt, keine Neuverschuldung in 2014, keine Neuverschuldung in 2015,
und trotzdem können wir 10 Milliarden Euro mehr investieren, als noch vor einem Jahr geplant war. Das ist
solide Haushaltsfinanzierung, und das ist solides Investieren und nicht Investieren auf Pump.
({2})
Wir werden trotzdem weiter versuchen, privates Kapital für die Infrastruktur zu mobilisieren. Es gibt genug
Geld auf der Welt. Warum sollte es nicht noch mehr in
Deutschland investiert werden? Beispielsweise beim
Ausbau der Stromnetze ist dies gelungen. Warum sollte
es nicht auch an anderer Stelle, bei kommunaler Infrastruktur, bei Straßeninfrastruktur gelingen, dieses Geld
nach Deutschland zu bringen? Das werden wir versuchen.
Dann gilt es auf jeden Fall, Wachstumsfesseln der Bürokratie zu lösen. Da wird manches durcheinandergebracht. Zum einen begrüßen wir ausdrücklich das, was
die Bundesregierung vorschlägt, nämlich das Prinzip
„One in, one out“. Das heißt, dass zukünftig bei jedem
zusätzlichen Bürokratieaufwand an anderer Stelle Bürokratie abgebaut werden muss. Wenn dies konsequent
durchgehalten wird, dann haben wir viel erreicht. Dann
wird nämlich nicht mehr weiter Bürokratie aufgebaut.
Wir haben schon einmal, von 2005 bis 2013, einen Bürokratieabbau von 25 Prozent geschafft. Dieser schlägt sich
natürlich entsprechend in Zahlen nieder. Dies kommt dem
Arbeitsmarkt und der Wirtschaft zugute.
Wir müssen den Mut haben, Dinge, bei denen wir
über das Ziel hinausgeschossen sind, entsprechend zu
korrigieren. In der Tat sind wir bei den Dokumentationspflichten, die jetzt im Rahmen des Mindestlohns eingeführt wurden, über das Ziel hinausgeschossen.
({3})
Es geht nicht darum, den Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro infrage zu stellen.
({4})
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern.
Mit der Einführung des Mindestlohns sind fast
10 Millionen Menschen in Deutschland von Dokumentationspflichten betroffen. Bis zu einem Schwellenwert
des Einkommens in Höhe von 2 958 Euro muss die Arbeitszeit in vielen Branchen minutengenau, halbstundengenau dokumentiert werden. Dabei geht es aber nicht um
den Mindestlohn; denn man müsste an 29 Tagen im Monat zwölf Stunden arbeiten, um mit dem Mindestlohn
2 958 Euro zu verdienen.
({5})
Es geht jetzt nicht darum, den Mindestlohn auszuhebeln,
sondern es geht darum, Millionen von Menschen von
unnötiger Bürokratie zu befreien.
({6})
Ich komme zum Minijobbereich. Die Minijobs sind
ein Erfolg. Sie sind das größte Schwarzarbeitsbekämpfungsprogramm, das wir in den letzten 15 Jahren geschaffen haben. Diese Arbeitsplätze sind zusätzlich entstanden. Da von linker Seite vorhin gesagt wurde, die
Reformen der letzten zehn Jahre hätten den Arbeitsmarkt
zerrüttet, muss ich Sie fragen: Wo leben Sie denn?
({7})
Heute sind 6 Millionen Menschen mehr in Lohn und
Brot - vor allem in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen - als 2005. Das ist die höchste Beschäftigung, die wir jemals in der Geschichte der Bundesrepublik hatten: mit den höchsten Einkommen, mit der
größten Kaufkraft und den höchsten Reallohnzuwächsen.
({8})
Und Sie reden davon, es würde in diesem Land ungerecht zugehen. Das ist absolut nicht nachvollziehbar.
({9})
Wir werden Wachstumsfelder für unseren Binnenmarkt beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit den
USA - TTIP ist schon angesprochen worden - erschließen. Wir werden in diesem Jahr auf nationaler Ebene die
Freiräume schaffen, um den Einstieg in die Abmilderung
der kalten Progression noch in dieser Legislaturperiode,
nämlich 2016/2017, angehen zu können. Das sind Maßnahmen, die den Bürgern nutzen und die Wirtschaft nach
vorne bringen.
({10})
Lassen Sie mich abschließend zum Thema Europa
- auch das wurde schon angesprochen - noch etwas sagen. Viele Länder Europas befinden sich in einer
schwierigen Situation. Nicht der Euro ist in einer Krise,
sondern einige Länder der Europäischen Union befinden
sich nach wie vor in einer Struktur- und Verschuldenskrise. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich, aber
sie sind vor allem hausgemacht. Darauf muss an dieser
Stelle hingewiesen werden. Wir sind alle solidarisch und
haben Rettungsschirme aufgespannt, um Zeit zu gewinnen. Diese Zeit muss von den Ländern genutzt werden,
um Strukturreformen vorzunehmen, die zu Wachstum
und Innovationen führen. Dazu gibt es klare Vereinbarungen. „Pacta sunt servanda“ - das gilt für alle Länder
in Europa, egal wer dort regiert. Dass dieses funktioniert, sehen wir in Irland, in Spanien und Portugal. Die
Mühen haben sich dort gelohnt.
({11})
Bei allem Verständnis für das, was die Menschen in
Griechenland aufgrund der Reformen an Entbehrungen,
Belastungen und Mühsal zu ertragen haben, muss ich sagen: Wenn ich die Stimmen der letzten Tage höre, habe
ich manchmal den Eindruck, dass Ursache und Wirkung
verwechselt werden. Man kann dies mit folgender Situation vergleichen: Ein Alkoholiker, der ins Krankenhaus
eingewiesen wird, damit sein schweres Leberleiden behandelt wird, schimpft darüber, dass es die Schuld des
Arztes ist, dass er ins Krankenhaus musste und dort zu
wenig Alkohol bekommt. Ich glaube, da wird manchmal
Ursache und Wirkung verwechselt.
({12})
Herr Kollege Pfeiffer!
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Es ist nicht
akzeptabel, dass in einem Land Europas neu gewählte
Mitglieder einer Regierung sagen, sie wollten das vierte
Reich in die Knie zwingen und die nationale Souveränität und Würde wiederherstellen. Das ist nicht der Umgang, den wir im Europa der 28 im 21. Jahrhundert miteinander pflegen sollten.
({0})
Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden.
Alles hat seine Grenzen.
Insofern gilt es, in Europa Ruhe zu bewahren, Kurs zu
halten und den eingeschlagenen erfolgreichen Weg weiterzugehen.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Schlecht
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrter Herr Wirtschaftsminister, Sie sind am Anfang Ihrer Rede auf Griechenland eingegangen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso Sie den Griechen eine
Fortsetzung Ihrer Politik vorschreiben wollen, obwohl
wir mittlerweile sehen, dass diese Politik, die den Griechen von außen aufoktroyiert wurde, gescheitert ist.
Aufgrund dieser Politik, die in den letzten vier, fünf Jahren dem griechischen Volk von außen aufgedrängt
wurde, ist in Griechenland die Wirtschaft um ein Viertel
eingebrochen, ist die Arbeitslosigkeit angestiegen, sind
die Löhne gesunken und dergleichen mehr. Ich muss das
nicht alles hier aufzählen. Im Übrigen: Ein Wirtschaftseinbruch von 25 Prozent ist historisch nur vergleichbar
mit der Großen Depression zu Beginn des letzten Jahrhunderts in den USA. Sie hat erhebliche politische Konsequenzen gezeitigt.
Die Griechen haben sich jetzt gewehrt. Sie haben eine
neue Regierung gewählt. Diese Regierung korrigiert im
Kern unmenschliche Maßnahmen: Sie setzt in einem ersten Schritt zum Beispiel den Mindestlohn von 400 Euro
auf 751 Euro herauf, in den Schulen will sie entlassene
Lehrer wieder einstellen, auch Putzfrauen und dergleichen mehr. Das sind die ersten Schritte, und ich finde es
mehr als begrüßenswert, dass sie jetzt von der neuen Regierung sehr schnell angegangen werden.
({0})
Mir ist vollkommen unverständlich, dass Sie das kritisieren. Ich sage noch einmal: Das ist beste sozialdemokratische Politik. Aber man hat sich mittlerweile daran
gewöhnt, dass die SPD das, was sozialdemokratische
Politik ausmacht, schon seit langem vergessen hat.
({1})
Dann sagen Sie: Sie können es gerne machen, aber dann
soll das nicht die Bevölkerung Europas bezahlen müssen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ich glaube,
auch Sie kennen das Programm der neuen Regierung.
Syriza - das ist eine der entscheidenden Neuerungen will zum ersten Mal etwas angehen, was sogar positiv ist
und was die griechischen Regierungen in den letzten
Jahren nicht getan haben - auch von außen wurde es den
griechischen Regierungen nie als Bedingung vorgeschrieben -, nämlich Reiche und Vermögende in Griechenland heranzuziehen. Das Programm, das die Regierung momentan auflegt und mit dem die ersten Schritte
zur Linderung der größten humanitären Krise unternommen werden, hat ein Volumen von 11 Milliarden Euro.
Nach ihren eigenen Rechnungen hat Syriza es gegenfinanziert, indem sie Reiche und Vermögende - in Griechenland gibt es Reiche, die bisher von dieser Krise vollkommen ungeschoren geblieben sind - heranzieht. Es
wäre verdienstvoll gewesen, wenn in den letzten Jahren
bei den Auflagen, die von der deutschen Bundesregierung mittels der Troika gemacht worden sind, der griechischen Regierung aufoktroyiert worden wäre, die Reichen heranzuziehen.
({2})
Ich will noch einige Punkte zum Jahreswirtschaftsbericht sagen. Der wichtigste Punkt, über den überhaupt
noch nicht geredet wurde, ist: Im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass das glorreiche Wachstum in Höhe von
1,5 Prozent in diesem Jahr erfordert, einen Außenhandelsüberschuss von über 200 Milliarden Euro zu generieren. Das heißt im Klartext - ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist, ob Sie es vielleicht so laufen lassen und
stolz darauf sind -, dass Sie eine Politik betreiben, wonach Deutschland einen Überschuss von 200 Milliarden
Euro erwirtschaftet, der zu den 1,8 Billionen Euro Überschuss, die seit 2000 entstanden sind, hinzukommt.
Diese 1,8 Billionen Euro bzw. die neuen 200 Milliarden
Euro bedeuten faktisch eine Verschuldung des Auslands,
auch eine Verschuldung der anderen europäischen Partnerländer.
Auf der anderen Seite sagen Sie immer: Die müssen
ihre Verschuldung abbauen. Sie selbst praktizieren aber
eine Politik - sie heißen sie gut, sie beschreiben sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht -, die zu einer weiteren
Verschuldung Europas, der Krisenländer und der übrigen
Welt beiträgt. Wie sollen es die betroffenen Ländern eigentlich jemals schaffen, von der Neuverschuldung he7772
runterzukommen, wenn Deutschland eine Politik betreibt, die zur Folge hat, dass die Binnenwirtschaft so
schwach ist, dass am Ende immer wieder ein Außenhandelsüberschuss entsteht?
Herr Kollege.
Mein letzter Satz. - Wir brauchen eine Stärkung der
Binnennachfrage, damit in Deutschland der Außenhandelsüberschuss endlich umgekehrt wird. Wir brauchen
Außenhandelsdefizite und eine Stärkung der Binnennachfrage; denn nur so besteht die Chance, dass Verschuldung abgebaut wird.
({0})
Aber ich sehe an Ihrer Reaktion:
Nein, nein, Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum
Schluss kommen.
Die einfachsten ökonomischen Zusammenhänge sind
in diesem Hause nicht besonders verbreitet.
Danke schön.
({0})
Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die
deutsche Wirtschaft ist in guter Verfassung“ - so lautet
ein Kernsatz des Jahreswirtschaftsberichts 2015.
({0})
Ein Garant dafür sind der deutsche Mittelstand und das
Handwerk. Hierzu zählen 99 Prozent der Unternehmen
in Deutschland. Hier werden nicht nur die meisten Arbeitnehmer beschäftigt, sondern auch die meisten jungen
Menschen ausgebildet. Zudem findet im Mittelstand
mehr als die Hälfte der Wertschöpfung statt. Dies muss,
meine ich, Grund genug sein, uns speziell diesem Bereich wirtschaftspolitisch mehr zu widmen. Dabei darf
es nicht darum gehen, dass wir die besseren Unternehmer sein möchten, sondern es muss darum gehen, dass
wir die Rahmenbedingungen mittelstandsfreundlich gestalten, und natürlich hängen gerade im Mittelstand viele
Aufträge davon ab, wie investitionsfreudig Bund, Länder und Kommunen sind. Deshalb ist es wichtig, dass
wir mehr investieren.
Der Anfang ist gemacht. Mit dem neuen EEG war unter anderem das Ziel verbunden, die stetig steigenden
Energiekosten zu bremsen. Dies ist nicht nur für den
Verbraucher wichtig, sondern auch für kleine und mittelständische Unternehmen; denn in Bäckereien oder in der
mittelständischen textilverarbeitenden Industrie bilden
die Stromkosten einen Großteil der Herstellungskosten.
Auch die Zahlungsverzugsrichtlinie konnten wir mittelstandsfreundlich gestalten. Unternehmen haben nun
einen rechtlichen Anspruch auf eine zügige Bezahlung
ihrer Leistungen.
({1})
Die teilweise schlechte Zahlungsmoral von Großunternehmen, aber auch - das müssen wir zugeben - der öffentlichen Hand, haben bisher das eine oder andere kleinere Unternehmen in Schwierigkeiten gebracht. Dem
treten wir mit dem neuen Gesetz entgegen.
({2})
Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung ist das
Eckpunktepapier zum Bürokratieabbau. Darin ist unter
anderem vorgesehen, Start-ups und Gründer in den ersten drei Jahren von Berichts- und Informationspflichten
zu entlasten. Zudem sollen Anlaufstellen eingerichtet
werden, bei denen Gründer alle nötigen Formalitäten
elektronisch einreichen. Damit sparen sie mehrfache Antragstellung und somit viel Zeit. Wichtig ist aber, dass es
nicht bei dem Eckpunktepapier bleibt, sondern dass die
Maßnahmen zügig - möglichst in diesem Jahr - durch
praxistaugliche Gesetze und Verordnungen umgesetzt
werden.
({3})
Weitere Reformen - das wissen Sie - sind in der Pipeline, zum Beispiel das Insolvenzanfechtungsrecht, das
gerade den Mittelstand betrifft. Nach unseren Vorstellungen soll die Frist verkürzt werden, in der ein Insolvenzverwalter Zahlungen zurückfordern kann. Damit gewährleisten wir die notwendige Planungssicherheit und
erhalten übliche und wichtige Geschäftspraktiken wie
Stundungen und Ratenzahlungen.
Eine Herausforderung der nächsten Monate wird für
uns die Neuregelung der Erbschaftsteuer sein. Betriebsübergänge dürfen durch die veränderten Regelungen
nicht gefährdet werden.
({4})
Daher brauchen wir eine mittelstandsfreundliche Ausgestaltung. Gleiches gilt auch für das Vergaberecht. Mittelständische Unternehmen müssen eine reelle Chance haben, bei öffentlichen Aufträgen zum Zug zu kommen.
Der Jahreswirtschaftsbericht geht auf eine weitere
Aufgabe ein, die vor uns liegt - wir hatten das Thema
heute schon -, auf den Fachkräftemangel, der sich, wenn
auch nicht in allen, so doch in einigen Branchen schon
abzeichnet. Auch diesbezüglich waren Regierung und
Koalitionsfraktionen nicht untätig. Mit Investitionen in
Bildung, in den Kitaausbau sowie die Nach- und Weiterqualifizierung treten wir ihm entgegen. In unserem Koalitionsantrag, den wir vor einem Monat hier beraten haben, stellen wir zudem klar, dass der Meisterbrief für uns
nicht zur Disposition steht; denn der Meisterbrief steht
für gut ausgebildete Fachkräfte, die Deutschland braucht,
um nachhaltig, innovativ und wettbewerbsfähig zu sein.
({5})
Wir müssen in diesem Zusammenhang aber auch dafür sorgen, dass akademische und nichtakademische Bildung gleichgesetzt werden. Das Aufstiegsfortbildungsgesetz bzw. das sogenannte Meister-BAföG muss daher
reformiert werden. Wir müssen stärkere Anreize für
Weiterbildung setzen, aber wir müssen auch bestehende
Ungleichheiten auflösen. Die Streichung der Studiengebühren muss eine Entlastung bei der Fortbildung für
Meister und Techniker nach sich ziehen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Katharina
Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
- Extra langsam für Sie! - Für Herrn Pfeiffer spreche
ich extra langsam.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, Sie haben gestern im Wirtschaftsausschuss ein Bild benutzt,
das mir eigentlich ganz gut gefallen hat und das ich Ihnen deshalb heute klauen möchte. Sie haben gesagt, dass
die EZB, dass Mario Draghi in der europäischen Wirtschaftspolitik, im Kampf gegen die erschreckende Preisentwicklung in Europa, im Kampf gegen sinkende Preise
zum Last Man Standing in Europa geworden ist. Ich
muss Ihnen sagen: Das stimmt. Wenn die EZB ihr letztes
geldpolitisches Instrument einsetzt und Staatsanleihen
ankauft, dann macht sie das nicht, weil sie das super findet, sondern weil sonst wirklich niemand in Europa etwas Wirksames gegen die Deflationstendenzen, gegen
die Gefahr dauerhaft stagnierender oder sogar fallender
Preise und gegen eine dauerhafte Lähmung der Konjunktur tut.
({1})
Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich finde es richtig,
dass Sie diese Situation mit Besorgnis betrachten, wie
Sie das gestern im Wirtschaftsausschuss gesagt haben.
Wir können wirklich nur hoffen, dass die Maßnahmen
der EZB wirken und Europa nicht in eine Deflation
rutscht.
Erstaunlich finde ich aber, dass solche Worte von der
Bundesregierung kommen; denn in diesem Spiel sind
Sie einer der Akteure, die Mario Draghi in seiner Politik
unterstützen könnten. Wenn Mario Draghi der Last Man
Standing ist, dann frage ich: Warum stellt sich die Bundesregierung nicht einfach neben ihn?
({2})
Sie könnten - das wäre dringend notwendig - eine aktive
Fiskalpolitik betreiben. Aber statt eine starke Rolle in
Europa einzunehmen, statt als deutsche Bundesregierung voranzugehen, bleiben Sie auf Ihrer Insel sitzen
und ignorieren die Mahnungen und die Forderungen
nach mehr Investitionen.
Jetzt hat Herr Juncker einen ersten Vorschlag für einen Europäischen Investitionsfonds vorgelegt. Das ist
erst einmal eine Chance für uns in Europa, darüber zu
diskutieren, dass Investitionen in Europa notwendig
sind. Doch statt dafür zu sorgen, dass in den Bereichen
Forschung, Bildung und Klimaschutz europäische Projekte finanziert werden, statt Vorschläge für eine vernünftige Wirtschaftspolitik, für die Bekämpfung von
Steuerflucht, für den Abbau umweltschädlicher Investitionen und für nachhaltige Investitionen zu unterbreiten,
statt Geld in die Hand zu nehmen, mit dem der Europäische Investitionsfonds wirklich unterstützt werden
könnte, statt dafür zu kämpfen, dass die Mittel in die
Länder fließen, in denen sie wirklich gebraucht werden,
statt dafür zu sorgen, dass es öffentliche Investitionen
gibt, schicken Sie auf die Schnelle eine merkwürdige
90-Milliarden-Euro-Liste nach Brüssel - ohne Plan und
ohne roten Faden -, die Ihnen selbst gestern im Ausschuss so peinlich war, dass Sie sie uns nicht erklären
wollten.
({3})
Jetzt zum Thema TTIP, weil das in der Debatte eine
große Rolle gespielt hat.
({4})
Ich erwarte von Ihnen als Bundesregierung schon, dass
Sie nicht einfach so, aus Angst vor der Konkurrenz aus
China oder anderen asiatischen Ländern in ein Handelsabkommen stolpern, das Sie nicht gestalten können und
für das Sie keinen Plan haben.
({5})
Ihr Auftritt hier im Bundestag hat mit Gestalten ebenso
wenig etwas zu tun, wie Ihre Wirtschaftspolitik etwas
mit Zukunft zu tun hat.
({6})
Sie stolpern seit einem Jahr durch das Parlament und
versprechen uns, dass Sie die Standards schützen wollen.
Sie wissen aber nicht, wie. Sie sagen, dass Sie Probleme
mit dem Investitionsschutzabkommen haben - die einen
mehr, die anderen weniger. Sie wollen das irgendwie
gerne raushaben, wissen aber nicht, wie Sie das hinkriegen können. Sie, liebe CDU/CSU, wollen die Bürgerinnen und Bürger von einem Projekt überzeugen, indem
Ihre Kollegen hier im Deutschen Bundestag die Bürger,
die sich beteiligen, die kritische Stellungnahmen abgeben, als Empörungsindustrie beschimpfen. Ich sage Ihnen: Viel Glück mit dieser Politik.
({7})
Liebe Bundesregierung, statt sich aus Angst vor einem drohenden Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit in ein Handelsabkommen zu flüchten, das Sie
nicht gestalten können und für das Sie auch keinen Plan
haben, sollten Sie die Chance nutzen, die deutsche Wirtschaft und den internationalen Handel tatsächlich zukunftsfähig zu gestalten.
({8})
Wenn Sie die Förderung erneuerbarer Energien oder
den Klimaschutz als Priorität definieren würden, dann
würden Sie etwas für die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standortes tun. Wenn Sie in die Infrastruktur investieren würden, die in diesem Land verrottet, dann
würden Sie etwas für die Zukunft Deutschlands tun.
Wenn Sie endlich genug Geld für Bildung und für die
Betreuung von Kindern in die Hand nehmen würden,
dann würden Sie Deutschland zukunftsfähig machen.
All das tun Sie nicht.
({9})
Auf internationaler Ebene machen Sie dies auch nicht.
Statt sich für vernünftige Klimaschutzziele einzusetzen,
statt sich für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards oder für die Zertifizierung von ILO-Kernarbeitsnormen einzusetzen, verhandeln Sie Handelsabkommen,
die sich einseitig auf Deregulierung, auf den Abbau von
Standards und auf Investitionsschutzabkommen konzentrieren. Das alles ist keine vernünftige zukunftsfähige
Politik, weder in Deutschland noch in Europa. Da haben
Sie Ihren eigenen Arbeitsauftrag einfach verfehlt.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben gerade überlegt, Frau Dröge, wenn Herr
Krischer der Pinocchio ist, was dann die weibliche Form
wäre. Wir sind auf Pinocchia gekommen. Diese Diskussion können wir ja beizeiten noch vertiefen.
({0})
86 Prozent der Deutschen blicken laut einer Studie
optimistisch in die Zukunft. Schaut man sich die Zahlen
der wirtschaftlichen Entwicklung an, dann sieht man,
dass die Menschen in Deutschland zu Recht optimistisch
sind. Doch die größte Gefahr für die Zukunft ist bekanntlich der Erfolg der Gegenwart. Wir müssen also
jetzt die Grundlagen für eine langfristig positive wirtschaftliche Entwicklung legen. Die Investitionen von
heute sind das Fundament für Wachstum, Wohlstand und
Arbeitsplätze von morgen.
({1})
Deshalb trägt der Jahreswirtschaftsbericht nicht grundlos den Titel: Investieren in Deutschlands und Europas
Zukunft. Die deutsche Wirtschaft konnte den zahlreichen geopolitischen Krisen des vergangenen Jahres trotzen und stieg real um 1,5 Prozent. Die Prognose für die
wirtschaftliche Entwicklung ist weiter positiv. Dazu trägt
auch der gesunkene Rohölpreis bei, der voraussichtlich
für Einsparungen von rund 30 Milliarden Euro sorgen
wird. Auch deshalb erhöht die Bundesregierung ihre
Wachstumsprognose für 2015 auf 1,5 Prozent. Deutschland ist damit weiter der Stabilitätsanker in Europa.
Die Zahl der Beschäftigten steigt 2015 vermutlich um
170 000. Damit stehen wir vor einem erneuten Beschäftigungsrekord. 2015 werden 42,8 Millionen Menschen
erwerbstätig sein, so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Vor allem gilt es dabei zu
betonen, dass auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in der letzten Dekade angestiegen ist. Mehr als 3,5 Millionen Menschen
haben seit 2005 einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz angenommen. Auf diese Entwicklung können
wir stolz sein.
({2})
Besonders stark stieg der Anteil der Beschäftigung
von ausländischen Mitbürgern. Diese trugen im letzten
Jahr zu annähernd 40 Prozent des Beschäftigungswachstums bei. Die Bekämpfung von Missbrauch beim Bezug
von Sozialleistungen durch EU-Ausländer in Deutschland bleibt jedoch gerade auch deshalb richtig.
Ebenso wichtig ist das Bekenntnis zu einem flexiblen
Arbeitsmarkt. Trotz der hohen Flexibilität unseres Arbeitsmarktes stieg das Vertrauen in die Jobsicherheit auf ein
Rekordniveau. 91 Prozent halten ihren Arbeitsplatz für
sicher. Flexibilität und Vertrauen müssen also kein Gegensatz sein. Mit einem Bruttolohnzuwachs von 3,2 Prozent und einem Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent haben
wir den größten Lohnzuwachs seit 2010. Die Lohnentwicklung trägt so wesentlich zu einem höheren Binnenkonsum bei.
Bei der letzten Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts, des Jahreswirtschaftsberichts 2014 im letzten
Jahr, meinte der Bundeswirtschaftsminister noch, man
müsse bei der Lohnentwicklung die Produktivität beachten. „Verkehrte Welt“ titelten damals die Zeitungen.
Diese Feststellung ist schlicht richtig. Wir übernehmen
in diesem Jahr gerne den Hinweis, dass die Lohnstückkosten moderat steigen und wir diese Entwicklung hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit beobachten müssen.
Allerdings sind wir uns auch hier einig. Das haben wir
gestern im Ausschuss schon besprochen. Jetzt müssen
wir nur noch die Opposition davon überzeugen.
({3})
Dann sind wir schon ein Stück weiter.
Um Wohlstand und Beschäftigung zu sichern, brauchen wir Investitionen in die Zukunft. Hierzu tragen die
verstärkten Investitionen des Bundes in die öffentliche
Infrastruktur bei. Tausende Kilometer Straßen, Schienen
und Wasserwege werden schwerpunktmäßig instand gehalten und verbessert. In den Jahren 2014 bis 2017 stellt
der Bund insgesamt 5 Milliarden Euro zusätzlich für den
Erhalt und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zur
Verfügung. Allein für 2015 haben wir den Verkehrshaushalt um weitere 410 Millionen Euro erhöht. Ja, Frau
Andreae, auch die Pkw-Maut wird zur stärkeren Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur beitragen; auch
darauf können wir stolz sein.
({4})
Von 2016 bis 2018 stellt der Bund zusätzliche Mittel
in Höhe von 10 Milliarden Euro für weitere Investitionen zur Verfügung. Diese müssen zielgerichtet in nachhaltige Wohlstandstreiber investiert werden. Dazu
gehören vor allem Investitionen in Infrastruktur, Energieeffizienz und Digitalisierung. Auch Formen der öffentlich-privaten Partnerschaften sollten nicht verteufelt
werden. Dabei muss natürlich ein Rahmen geschaffen
werden, der langfristige Rechtssicherheit für beide Vertragsparteien gewährleistet.
({5})
Auch die Unternehmen sind gefordert. Es geht am
Ende um mehr Investitionen für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Es nutzt insgesamt jedoch wenig, durch konkrete Maßnahmen private Investitionen zu fördern, wenn
Unternehmen Zweifel an der grundsätzlichen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik haben. Auch deshalb ist es
wichtig, eine unternehmensfreundliche Regelung im
Hinblick auf die anstehende Änderung bei der Erbschaftsteuer zu treffen, und dies möglichst ohne bürokratischen Mehraufwand. Die Aufzeichnungspflichten bei
der Umsetzung des Mindestlohns - wir haben das vorhin
schon gehört - schießen in vielen Fällen über das Ziel
hinaus. Ich danke dem Minister, dass er einer Überprüfung zustimmt. Wir dürfen unsere Unternehmer nicht
unter staatlichen Generalverdacht stellen.
({6})
Genauso wichtig wie der Bürokratieabbau ist es, dass
wir keine neue Bürokratie aufbauen.
({7})
Das gilt für Pläne hinsichtlich einer Anti-Stress-Verordnung, die abzulehnen sind, genauso wie für die anstehende Arbeitsstättenverordnung.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir in
Bildung, insbesondere in die berufliche Bildung, investieren, dann sind auch dies Zukunftsinvestitionen. Eine
solide Fachkräftebasis ist die Grundlage für Wachstum
und Investitionen. Eine Ausbildung ist dabei nicht
schlechter als ein Studium; das kann man nicht oft genug
betonen. Unser betriebliches Ausbildungssystem ist jedem anderen Ausbildungssystem überlegen. Die Ausbildungsinhalte richten sich nach dem betrieblichen Bedarf.
Was vermittelt wird, wird auch gebraucht. In Anbetracht
der demografischen Entwicklung dürfen wir auf keinen
Schulabgänger verzichten. Jeder Mensch ist uns wichtig.
({9})
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag eine Ausbildungsgarantie für jeden Jugendlichen abgegeben. Diese
wird im Rahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildung
eingelöst. Die renditestärksten Investitionen sind im Bereich der Innovation, der Digitalisierung und der Hochtechnologie zu erwarten. Deshalb ist es wichtig, den
Rahmen für Unternehmensgründungen weiter zu stärken. Wir müssen durch gezielte Förderung von Wagniskapital Wachstumsfinanzierungen ermöglichen.
Der ausgeglichene Haushalt 2015 bzw. schon 2014 ist
eine historische Leistung. Langfristig entstehen so Spielräume für mehr staatliche Investitionen. Darüber hinaus
werden die Länder und Kommunen entlastet. So werden
auch deren Investitionsspielräume erhöht. Der ausgeglichene Haushalt ist ein Beitrag zu einer generationengerechten Politik.
Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen bedürfen einer
Neuregelung. In diesem Zusammenhang gilt es, auch
den Länderfinanzausgleich in einer Weise zu ändern,
dass die richtigen Anreize für mehr Eigenverantwortung
gesetzt werden.
Steuervereinfachung bleibt ein Dauerthema. Wünschenswert wäre dabei auch eine Steuerstrukturreform.
Es ist zu begrüßen, dass im Jahreswirtschaftsbericht erstmalig das Ziel des Abbaus der kalten Progression genannt wird. Ziel muss es sein, dass wir hier noch in dieser Legislaturperiode Fortschritte erzielen.
Die Unternehmen brauchen einen berechenbaren
Rahmen hinsichtlich der Entwicklung der Energiepreise.
Maßstab ist das energiepolitische Dreieck einer umweltverträglichen, sicheren, aber eben auch bezahlbaren
Energieversorgung. Das neue Strommarktdesign wird in
puncto Versorgungssicherheit einen entscheidenden
Schritt bringen. Wir sollten hier Mut zu marktwirtschaftlichen Ansätzen zeigen.
Für den Wohlstand und die Lebensqualität der
Menschen in Deutschland und Europa ist nicht nur
ein dynamisches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts entscheidend, sondern auch gesellschaftlicher
Zusammenhalt und eine nachhaltige Entwicklung,
heißt es treffend im Jahreswirtschaftsbericht.
Die geopolitischen Krisenherde bergen erhebliche Risiken, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ebenso treibt
die Menschen die Frage nach der Stabilität unserer Währung um. Auch deshalb müssen die Strukturreformen in
den Krisenländern weitergehen. Gleichzeitig müssen wir
die europäischen Strukturen stärken, und zwar mehr
denn je. Es gilt, den Blick in die Zukunft zu richten.
Ludwig Erhard sagte: Den Wohlstand zu bewahren, ist
noch schwerer, als ihn zu erwerben. - Mit dem Jahreswirtschaftsbericht schaffen wir die Basis dafür, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Packen wir’s
an!
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das
Wort Dirk Becker.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich mich
mit dem Kernthema befasse, möchte ich doch noch mal
ganz kurz auf den Kollegen Schlecht eingehen. Herr
Schlecht - wenn Sie mir kurz zuhören könnten, wäre das
nett -, Sie haben sich in der Debatte zweimal veranlasst
gesehen, die Sozialdemokraten an ihre Werte zu erinnern, haben uns vorgeworfen, dass wir unsere Werte teilweise verloren hätten. Wenn ich mir angucke, mit welchen Argumenten Sie zu relativieren versuchen, was da
in Griechenland passiert, kann ich Ihnen als Beispiel für
unsere sozialdemokratischen Werte nur mit auf den Weg
geben: Als eine unserer Schwesterparteien mit Rechten
eine Koalition gebildet hat, haben wir sie aus der europäischen Familie der Sozialdemokraten ausgeschlossen.
Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen! Oder sind
Sie auf dem rechten Auge blind?
({0})
- Wir können das gleich diskutieren.
Ich möchte zum Jahreswirtschaftsbericht kommen.
Ich danke dem Wirtschaftsminister, der heute - ich
glaube, für uns alle - klargemacht hat, was die Gründe
für diese robuste wirtschaftliche Situation sind, aber
auch auf die Risiken und auf die Herausforderungen hingewiesen hat. Ich will nur vier Punkte im Kontext der
letzten zehn Jahre erwähnen:
Da wären die Arbeitsmarktreformen, die gerade für
Sozialdemokraten schwierig waren, die auch teilweise
fehlerbehaftet waren. Es gibt Fehler, die wir korrigiert
haben, und Fehler, die wir aktuell noch korrigieren.
({1})
Wir haben in Zeiten der letzten Großen Koalition, als
wir in der Wirtschaftskrise waren, reagiert: Wir haben
investiert. Wir haben dem Arbeitsmarkt durch die Verlängerung des Bezugs von Kurzarbeitergeld wichtige
Impulse gegeben.
Wir haben im Weiteren eine Konsolidierung des
Staatshaushaltes vorangetrieben; wir haben jetzt eine
Basis, auf der wir aufbauen können.
Wir haben aber auch die Nachfrage gestärkt. Wir haben erkannt: Ja, die Binnennachfrage muss gestärkt werden. Wir haben das durch bessere Lohnabschlüsse, aber
auch durch den Mindestlohn und eine entsprechende
Rentenpolitik hinbekommen.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer vorausschauend betrachtet: Wie müssen wir Deutschland aufstellen, um weiter erfolgreich wirtschaften zu können?
Ich will auf ein paar Bereiche eingehen - einige sind
schon angeklungen -, die diese Große Koalition in den
nächsten Jahren beschäftigen werden, wo wir die Weichen für die Zukunft stellen wollen:
Dass die Investitionstätigkeit mangelhaft ist, ist mehrfach angeklungen. Herr Minister, ich danke Ihnen und
auch dem Finanzminister, dass Sie nun gemeinsam dabei
sind, bis, ich glaube, Ende März in einer Arbeitsgruppe
Vorschläge zu diesem Bereich zu erarbeiten. Wir werden
uns damit auseinandersetzen. Das ist ein wichtiges
Signal für die Kommunen. Wir wissen schließlich: Der
wichtigste Investitionsbereich sind die Kommunen. Wir werden die Rahmenbedingungen dafür schaffen,
dass die Investitionsmöglichkeiten der Kommunen gestärkt werden.
({2})
Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich
({0})
von der Fraktion Die Linke?
Bitte.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ich verstehe, dass Fragen an die neue
griechische Koalition gerichtet werden, weil das ja keine
Selbstverständlichkeit ist.
Ich habe da keine Fragen.
Ja. - Sie haben dazu ja eine klare Haltung formuliert,
die allerdings nicht auf dem Blick in die eigene Vergangenheit basiert. Es war ja die Pasok, also Ihr sozialdemokratischer Partner, die im griechischen Kabinett im Jahr
2012 mit der Partei Laos - einer rechtspopulistischen,
zum Teil sogar ultrarechten Partei - zusammen regiert
hat. Das heißt, diese Diskussionen, die wir hier führen
müssen, die wir auch führen, sollten Sie nicht vom hohen Ross herunter führen.
Mache ich auch nicht.
Vielmehr sollten Sie sich Ihre eigene Geschichte in
Griechenland anschauen. Da gäbe es eine ganze Menge
zu sagen. Aber diesen Aspekt wollte ich hier wenigstens
hinzugefügt haben.
({0})
Herr Kollege Liebich, erwarten Sie eine Antwort?
Ja, bitte.
Dann bleiben Sie bitte stehen. - Bitte schön.
Herr Liebich, ich habe Folgendes getan: Herr
Schlecht hat hier versucht, an unsere Werte zu erinnern.
({0})
Und ein Grundwert der Sozialdemokratie ist, dass wir
Rechtspopulisten in unserer Geschichte immer eine Absage erteilt haben.
({1})
Meine Frage war nur noch: Was haben Sie unternommen? Haben Sie mit Ihren griechischen Brüdern und
Schwestern einmal gesprochen, haben gesagt: „Leute,
das ist ein Problem“?
Die Aussage, die Herr Ernst gemacht hat, war nur:
Sonst hätte es Neuwahlen geben müssen. - Ich finde, das
ist ein relativ schwaches Argument.
({2})
Wir wollen jetzt weiter über den Jahreswirtschaftsbericht reden
({3})
und über die Frage: Wie geht es in diesem Land weiter?
Ich habe die Investitionen angesprochen. Das zweite
Thema ist: Wie sichern wir, dass hinreichend qualifizierte Beschäftigte für unsere Unternehmen zur Verfügung stehen? Denn anders als die Linkspartei wünschen
wir uns kein Außenhandelsdefizit, sondern wir wissen:
Eine Stärke der deutschen Unternehmen, der deutschen
Industrie, ist der Außenhandel. Von daher, Herr
Schlecht: Wir sehen es anders, und daher wollen wir
auch in bessere Bildung und in Arbeitskräfte investieren.
({4})
Das heißt aber auch, dass wir - wie schon in den letzten
Jahren; der Kollege Lenz hat das eben angesprochen Zuwanderung brauchen, diese Menschen qualifizieren
müssen, um bei den Arbeitskräften unsere Möglichkeiten zu erhalten.
Ich finde es ganz interessant für die Debatte: Wenn
man sich die Zahlen anguckt, muss man zur Kenntnis
nehmen, dass auch die sozialen Sicherungssysteme in
unserem Land von der Zuwanderung profitiert haben.
({5})
Wir haben auch unsere sozialen Sicherungssysteme
durch Zuwanderung zukunftsfest gemacht.
Lieber Herr Kollege Becker, darf ich noch einmal unterbrechen? Der Herr Kollege Schlecht würde Ihnen
gern noch eine Frage stellen.
Nein, wenn es wieder um Griechenland geht. Ich rede
jetzt zum Jahreswirtschaftsbericht weiter.
({0})
Nein, nein, zur Wirtschaft, hat er gesagt, nicht zu
Griechenland.
Wenn er zum Wirtschaftsthema fragt, dann lasse ich
es zu.
({0})
Bitte schön, Herr Kollege Schlecht.
Das finde ich jetzt sehr nett, dass Sie mir die Zwischenfrage ermöglichen. - Sie sprachen eben über das
Problem des Außenhandelsüberschusses oder des Außenhandelsdefizits. Ich will Sie noch einmal darauf hinweisen: Deutschland erzielt ungefähr seit dem Jahr 2000
Jahr für Jahr einen Außenhandelsüberschuss. Deutschland verkauft dem Rest der Welt jedes Jahr mehr Waren
und Dienstleistungen, als Deutschland aus dem Ausland
kauft.
({0})
Mit dem voraussichtlichen Außenhandelsüberschuss von
200 Milliarden Euro in diesem Jahr werden wir am Ende
dieses Jahres kumuliert - also aufsummiert seit 2000 einen Außenhandelsüberschuss von 2 Billionen Euro haben. Das heißt, wenn Deutschland in diesen 15 Jahren im
Ausland für 2 Billionen Euro mehr verkauft, als es von
denen kauft: Womit sollen die denn unseren Überschuss
überhaupt bezahlen? Sind Sie denn mit mir nicht einer
Meinung, dass das Ausland diesen Überschuss nur mit
einer permanenten Verschuldung bei uns überhaupt bezahlen kann? Glauben Sie, dass ein derartiges Außenhandelsungleichgewicht langfristig wirklich störungsfrei
bleiben kann?
Wenn Sie mir dann antworten, würde ich Sie zuvor
gern noch an das Stabilitätsgesetz von 1968 - glaube ich von Karl Schiller
({1})
- oder von 1967 - erinnern, in dem festgelegt wurde,
dass wir auf längere Sicht ein Außenhandelsgleichgewicht brauchen. Wir sollten also nicht über 15 Jahre beständige Überschüsse von - ich sage es noch einmal 2 Billionen Euro auflaufen lassen. Das ist ja ein Betrag,
den sich kaum jemand vorstellen kann.
Danke schön.
({2})
Herr Schlecht, ich habe ein einigermaßen gutes Gedächtnis. Eine ähnliche Frage haben Sie dem Wirtschaftsminister vor ungefähr einem Jahr im Wirtschaftsausschuss gestellt. Der Wirtschaftsminister hat damals
gesagt: Ja, wir wollen die Binnennachfrage, bei der wir
Defizite haben, stärken, die Nachfrage im Inland also
voranbringen.
({0})
Das haben wir geschafft.
({1})
Er hat auch gesagt, dass wir natürlich auch darauf achten
müssen, dass wir den Überschuss, den wir nach wie vor
haben, nicht ausufern lassen, und dass wir verantwortungsvoll damit umgehen.
Aber noch einmal: Wir sind nicht in einer weltweiten
Planwirtschaft. Es gibt eine starke Nachfrage nach deutschen Produkten, und das ist eine Stärke unseres Landes.
({2})
Nur wenn die Wirtschaft erfolgreich ist, haben wir das
Geld, um das zu finanzieren, was auch Sie von uns fordern. Man kann nicht das eine nicht wollen und alles andere fordern.
({3})
Wir wollen dafür sorgen, dass Deutschland als Exportnation erfolgreich bleibt, damit die Menschen in diesem
Land Arbeit haben.
({4})
Zurück zu den Herausforderungen. Neben den Fachkräften - ich habe das eben angesprochen - und den Investitionen müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die Versorgung der deutschen Industrie
mit Ressourcen in Zukunft sicherstellen können. Wir
kennen die Probleme - Stichworte: Ressourcenverantwortung und Ressourcenverwertung. Ich denke, wir haben hier wichtige Dinge zu regeln.
Aufgrund der Zeit kann ich nur noch einen letzten
Punkt kurz ansprechen: Wir wollen unter Beweis stellen,
dass in einem Industrieland eine Energiewende möglich
ist. Von daher ist der Bundeswirtschaftsminister dabei,
diese Energiewende mit Augenmaß zum Ziel zu führen
und bis 2050 umzusetzen,
({5})
ohne dass wir die Stärke der deutschen Wirtschaft in Gefahr bringen. So und nicht anders sieht eine verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik aus.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion erhält
jetzt der Kollege Andreas Lämmel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und
von den Grünen, es ist Mist, wenn man in der Opposition sitzt. Selbst bei besten Wirtschaftsdaten muss man
die Regierung irgendwie kritisieren und an allen Dingen
herumnörgeln, die überhaupt gar keinen Grund dafür geben. Das tut mir zwar sehr leid, aber das ist nun einmal
Ihre Rolle. Man kann hier auch nichts anderes erwarten;
das wissen wir ja. Wir haben das auch gestern im Ausschuss schon erlebt. Dort mussten wir einiges über uns
ergehen lassen.
({0})
Herr Schlecht, Ihr Name ist Programm.
({1})
Wenn man Ihre Reden hört, dann wird einem schlecht.
({2})
Dazu nur eines: Sie haben die neue griechische Regierung so gelobt, weil sie Lehrer einstellt, Tausende Beamte zurückholen will und weitere Großtaten plant. Eines haben Sie aber nicht beantwortet, nämlich die Frage,
woher das Geld dafür kommen soll. Sie arbeiten ja nicht
umsonst.
Aber ich kann Ihnen da einen Tipp geben, wissen Sie?
Am besten reden Sie noch einmal mit Ihrem Kollegen
Gysi. Er soll wissen, wohin das ganze SED-Vermögen
verschwunden ist.
({3})
Das könnten Sie Ihren Genossinnen und Genossen in
Griechenland doch zur Verfügung stellen. Damit könnten sie diese Leistungen auch bezahlen.
({4})
Sie können aber nicht davon ausgehen, dass der deutsche
Steuerzahler das bezahlen wird, was Sie vorschlagen
und wozu Sie sagen: Es ist wunderbar, dass die neue Regierung Griechenlands genau das tut.
({5})
Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht hat ja eigentlich zwei Funktionen: Zum einen wird
noch einmal auf die wirtschaftliche Lage zurückgeblickt,
zum anderen wird ein Ausblick auf das gegeben, was die
Regierung in den nächsten Monaten beabsichtigt, zu tun,
um die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland voranzubringen.
Von den Oppositionsrednern habe ich überhaupt
nichts dazu gehört, wie sie die Maßnahmen der Bundesregierung einschätzen.
({6})
Wahrscheinlich ist Ihnen entgangen, dass es zu dem Jahreswirtschaftsbericht noch den Anhang „Maßnahmen
der Bundesregierung“ gibt. Darauf sind Sie überhaupt
nicht eingegangen. Daraus muss ich schließen, dass Sie
bei Ihrem Studium des Jahreswirtschaftsberichts nur bis
zur Seite 10 gekommen sind.
Auf diese Maßnahmen möchte ich noch eingehen,
weil sie die Grundlage für den zukünftigen Erfolg
Deutschlands sein werden:
In diesem Maßnahmenkatalog finden sich zwei Themen sehr stark wieder: Das eine Thema ist Digitalisierung; darauf ist heute schon verschiedentlich eingegangen worden. Die Digitalisierung der Wirtschaft, aber
genauso die Digitalisierung der Verwaltung sind für
mich genau die Felder, auf denen sich der zukünftige Erfolg Deutschlands entscheiden wird.
Schauen wir uns das einmal an: Wir haben in den letzten Jahren große Projekte auf den Weg gebracht. Ein
Stichwort ist die Gesundheitskarte. Das Verfahren läuft
bis heute noch nicht reibungslos.
({7})
Wir haben als anderes großes Projekt den elektronischen
Personalausweis eingeführt. Mit den vielen Funktionen,
die dieser Personalausweis haben sollte, sollten eine Vereinfachung und eine Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen einhergehen.
Diese großen Projekte, die mit großen Hoffnungen
verbunden waren, wurden zumindest bisher nicht zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Das darf natürlich bei den weiteren Projekten der Digitalisierung nicht
passieren. So wie die Projekte vorangehen, ist das einfach zu langsam. Ich nenne hier das Stichwort „Störerhaftung bei öffentlichen WLAN-Netzen“. Es ist doch
kein Zustand, dass wir schon seit Jahren über das Thema
diskutieren und die Nutzung der öffentlichen WLANNetze blockiert wird.
({8})
- Ihre Ideen lassen wir einmal außen vor.
({9})
Sie wollen ja immer noch, dass andere die Kommunikation in öffentlichen WLAN-Netzen mithören. Das wollen wir nicht.
({10})
Noch einmal: Wir müssen jetzt sehen, dass wir diese
Prozesse beschleunigen. Dass wir das können und dass
wir solche Projekte gut voranbringen können, zeigt sich
bei der Versteigerung der Frequenzen für das mobile Internet, die wir am Montag beschlossen haben. Hier ist
Deutschland spitze. Hieraus entstehen viele neue Geschäftsmodelle und viele neue Ideen für die Neugründungen von Firmen. Deswegen müssen die Digitalisierung der Volkswirtschaft und die Digitalisierung der
Verwaltung im Vordergrund unserer Überlegungen stehen.
Das zweite Thema, das heute kurz in verschiedenen
Facetten angesprochen wurde, ist die Außenwirtschaft.
Wir sind Exportweltmeister. Wenn man es auf das Volu7780
men umrechnet, werden wir manchmal von China überholt. Wenn man es aber auf die Exportleistung pro Kopf
der Bevölkerung umrechnet, dann sieht man: Deutschland ist eindeutig Exportweltmeister.
Dadurch sind wir aber auch von großen Absatzgebieten abhängig. Natürlich sind China und andere asiatische
Länder ein großer Markt für deutsche Firmen. Wenn in
China die Konjunktur schwächelt, dann schwächelt bei
uns der Export. Wir müssen also neue Exportmärkte erschließen.
({11})
Ich denke zum Beispiel an einen Kontinent, der in der
wirtschaftlichen Debatte fast völlig vergessen wird:
Afrika. Wir müssen uns in den nächsten Jahren verstärkt
anstrengen, die wirtschaftlichen Märkte in Afrika zu erschließen. Ich weiß ganz genau, dass das nicht so einfach
ist, dass das viel Mühe kostet und dass die Bedingungen
in vielen afrikanischen Staaten nicht optimal sind. Aber
letztendlich müssen wir versuchen, beim Außenhandel,
bei der Außenwirtschaft zu diversifizieren, um nicht von
einem Markt abhängig zu werden.
Ich komme noch auf das Thema TTIP. In der gestrigen Sitzung des Ausschusses haben die Grünen und die
Linken wieder eine Glanzvorstellung gegeben.
({12})
Wir hatten heute früh vor der Debatte hier im Deutschen
Bundestag ein Gespräch mit einem mittelständischen
Unternehmer, der uns eindeutig klargemacht hat, wie er
die Sache mit seinen Exporten in die USA sieht. Unser
Kollege Ernst war mit auf der Reise nach Kanada. Auch
von der SPD waren Kollegen dabei. Wir haben zusammen Firmen besucht. Dass Sie trotz allem und obwohl
Sie wissen, dass dieses Freihandelsabkommen für den
Mittelstand sehr wichtig ist, dass Sie also trotz besseren
Wissens immer nur ihre Ideologie verkaufen, kann ich
einfach nicht nachvollziehen.
({13})
Wir brauchen ein Freihandelsabkommen. Wir brauchen
für beide großen Wirtschaftsräume, für die Vereinigten
Staaten und für Europa,
({14})
die Annäherung von Standards und von Prüfverfahren,
ganz einfach deshalb, um Export überhaupt zu ermöglichen.
({15})
Reden Sie doch einmal mit deutschen Mittelständlern,
warum sie ihre Exportchancen in den USA jetzt nicht
nutzen. Das hängt genau an den Dingen, die jetzt im
Rahmen von TTIP verhandelt werden.
({16})
Deswegen wollen wir, dass die Verhandlungen erfolgreich sind.
Ein letzter Punkt zum Thema Außenwirtschaft. Ich
meine die Sanktionen - darüber haben wir auch gestern
im Ausschuss kurz diskutiert - gegen Russland.
Wir sind uns darüber klar: Solange von russischer
Seite keinerlei Zeichen zu einer Entspannung in der
Ukraine kommt, werden die Sanktionen beibehalten.
Aber Sanktionen sind immer eine Einschränkung von
freiem Handel. Auch wenn die Sanktionen gegen Russland für Gesamtdeutschland nicht so einschneidend sind:
Ich komme aus Sachsen;
({17})
da ist die Lage schon ganz anders.
Deswegen muss man, wenn man Sanktionen beschließt, auch immer bedenken, wie man wieder aus den
Sanktionen herauskommt. Das ist für mich noch eine offene Frage, über die diskutiert werden muss. Auch die
Verschärfung von Sanktionen erfordert eine Diskussion
darüber, gegen wen die Sanktionen gerichtet sind, wer
damit getroffen werden soll und wie man sie effizient
anwenden kann.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt die positive Entwicklung der deutschen Wirtschaft auf, und er zeigt eindeutig, dass die
Bundesregierung mit ihrem Maßnahmenpaket auf einem
hervorragenden Weg ist, um diese Entwicklung auch in
Zukunft positiv zu begleiten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, man kann, ohne in Schwarzmalerei zu verfallen, feststellen, dass die Lage in Europa in dieser Woche
komplizierter geworden ist, nicht weil wir das Wahlergebnis bedauerten; ich jedenfalls tue das nicht. Die Abwahl der beiden Parteien, die die Regierung gestellt
haben, ist aus Sicht der griechischen Bevölkerung nachvollziehbar. Aber was uns dieses Wahlergebnis beschert
hat, wirkt sich in verschiedene Richtungen aus - das
sieht man ja auch in der Debatte über Sanktionen -, und
das in einer Situation, in der die Europäische Union im
Interesse der Arbeitslosen und insbesondere der jugendlichen Arbeitslosen eine größere Handlungsfähigkeit
braucht, um mehr Investitionen und Strukturreformen in
Bildung und Ausbildung und zugunsten einer funktionierenden Verwaltung durchzuführen; in einer Situation,
in der wir vorangekommen sind und die neue Kommission die Aufgaben mit einem gewissen neuen Schwung
in Angriff nimmt. Wir führen die Diskussion auch auf
europäischer Ebene - nicht nur in Griechenland -, um
den Widerspruch zwischen Austerity, also einer übertriebenen Sparsamkeit, auf der einen Seite und Investitionen
auf der anderen Seite aufzulösen.
Wir führen zurzeit diese Debatte. Europa braucht die
Auflösung dieses Widerspruchs. Wir müssen im Interesse der europäischen Bürger an einem Strang ziehen.
({0})
Deswegen macht diese Komplikation so, wie sie sich
derzeit abzeichnet, die Lage schwierig.
Es ist auch nicht in Ordnung, dass wir - nicht nur in
Griechenland, auch in anderen europäischen Ländern erlebt man das - in eine Sündenbockfunktion gebracht
werden: Deutschland, die EU oder die Troika.
({1})
Das ist kontraproduktiv. So ist zum Beispiel die Behauptung des neuen griechischen Finanzministers, dass die
EU für den Klientelismus und die Vetternwirtschaft in
Griechenland verantwortlich ist,
({2})
schlicht absurd.
({3})
Wenn man solche absurden Analysen trifft, dann kann
man auch keine vernünftigen Schlussfolgerungen mit
Blick auf das ziehen, was jetzt erforderlich ist. Auf der
Grundlage solcher Analysen kann man keinen Staat,
keine Gesellschaft und keine Wirtschaft aufbauen. Das
heißt, linker und rechter Populismus helfen den oft verzweifelten Menschen in Griechenland oder auch anderswo in der Europäischen Union nicht.
({4})
Unsere konkrete Antwort auf diese Situation ist: Wir
reden nicht nur über Investitionen in Deutschland und
Europa, sondern wir sorgen in den nächsten Monaten dafür, dass in Deutschland und Europa tatsächlich mehr investiert wird.
({5})
Das ist unsere Antwort, und darauf kommt es an.
Im Übrigen sind wir keine Illusionisten. Nur so können wir auch der schwindenden politischen Akzeptanz,
die die Europäische Union in der europäischen Bevölkerung hat, entgegenwirken. Denn wir sehen ja die Wahlergebnisse; ich denke dabei nicht nur an Griechenland,
sondern auch an andere Trends.
Erfolge - zum Beispiel im Kampf gegen Steuerdumping, und zwar nicht nur in Luxemburg - brauchen wir
in Europa aus Gerechtigkeitsgründen und aus finanziellen Gründen. Schließlich brauchen wir auch eine vernünftige Finanztransaktionsteuer.
Das sind drei wichtige Punkte, in denen sich die
Kommission, das Europaparlament und auch die nationalen Parlamente, auch wir, beweisen müssen, indem sie
sagen: Das ist unser europäisches Projekt; daran arbeiten
wir, und wir erreichen Fortschritte. - Diese messbaren
Fortschritte müssen wir in diesem Jahr schaffen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und zwar mit deutscher Unterstützung und einer breiten Mehrheit.
({6})
Es muss in Deutschland auch verstanden werden: Die
wirtschaftliche und die soziale Stabilität der Euro-Zone
wird nur dann zu erreichen sein, wenn die Länder mit
den größten Problemen wieder auf die Beine kommen.
Das liegt in unserem ureigensten Interesse. Es ist gesunder Egoismus, wenn wir vielleicht mehr als bisher investieren, um für Stabilität in ganz Europa zu sorgen. Das
versteht man hier in Deutschland noch nicht ausreichend.
({7})
Dazu gehört auch, dass wir in Europa und Deutschland erkennen müssen, dass wachsende Ungleichheit
nicht nur ein soziales Problem ist, sondern zunehmend
auch zum wirtschaftlichen Problem wird. Deshalb ist
Verteilungsgerechtigkeit - Kollege Fuchs musste schon
gehen; ich hatte ihm das angekündigt - auch für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig; das gehört inzwischen
zum Standardrepertoire der wichtigsten Ökonomen der
Welt.
({8})
Das ist kein Gegensatz. Verteilungsgerechtigkeit ist auch
für die ökonomische Entwicklung wichtig. In diesem
Sinne wollen wir jedenfalls Europa gestalten.
({9})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Bernd Westphal,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielen Dank, Herr Minister Gabriel, für den
Jahreswirtschaftsbericht 2015. Er gibt einen Überblick
über die aktuelle wirtschaftliche Situation und zeigt
gleichzeitig die zukünftigen Handlungsfelder auf. Wir
haben eine sehr gute ökonomische Situation in Deutschland. Das bestätigt die Richtigkeit der wirtschafts- und
arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen dieser Regierungskoalition. Grundlage dieser ökonomischen Stärke
sind vor allem engagierte und hoch motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Es sind
die Schicht- und Fabrikarbeiter, die Pflegekräfte, die
Handwerker, die Ingenieure, die Techniker, die Meister,
die Programmierer und viele andere, die mit ihrer Arbeit
erst zu diesem Wohlstand beigetragen haben. Es sind
aber auch mutige Unternehmer.
({0})
Diese Leistungen sind nur durch gute Arbeit möglich.
Erst wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hergestellt ist, wenn Aus- und Weiterbildung sichergestellt
sind und wenn es Wertschätzung im Arbeitsprozess gibt,
kann man sagen, dass Arbeit zufrieden und nicht krank
macht. Dazu gehört natürlich auch eine angemessene
Bezahlung. Dort, wo das Verhältnis zwischen den Tarifpartnern im Rahmen der Tarifautonomie gut ist, entwickeln sich die Löhne sehr positiv. Dort, wo die Tarifpartnerschaft nicht funktioniert, haben wir als Gesetzgeber
die Verpflichtung, einzugreifen. Deshalb ist der Mindestlohn der richtige Weg. Ich verstehe überhaupt nicht, dass
hier ein Popanz aufgebaut wird, bevor die ersten Lohnabrechnungen nach Einführung des Mindestlohns vorliegen.
({1})
Große Bedeutung für unseren Erfolg und die Gestaltung der Zukunft hat vor allen Dingen die Industrie. Sie
hat einen erheblichen Anteil an dieser positiven Bilanz,
und ihr kommt deshalb ein besonderes Gewicht zu. Eine
aktive Industriepolitik hat Relevanz für die Schaffung
von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, für Investitionen
in neue Produkte und für eine starke Exportwirtschaft,
aber auch für Innovationen im Bereich des Umwelt- und
Klimaschutzes. Für die zukünftigen Herausforderungen
gibt es eine ganze Reihe von Politikfeldern. Ich will nur
einige kurz nennen.
Über Investitionen wurde schon vieles gesagt. Der
Weg, den die Bundesregierung beschreitet, ist richtig.
Wir brauchen Planungs- und Rechtssicherheit. Nur dann
werden Investitionen getätigt. Hier kommt der Politik
eine besondere Verantwortung zu. Gerade im Bereich
von Start-ups, also von jungen Unternehmen, die sich
gründen, brauchen wir mehr Venture Capital, um die
Startvoraussetzungen für junge Unternehmen zu gewährleisten. Aber auch darüber hinaus, wenn es nach der
Startphase darum geht, eine gewisse Marktrelevanz zu
erreichen, müssen die Unterstützungen ausgebaut werden.
({2})
Wir brauchen neben Investitionen aber auch eine neue
Offenheit in der Gesellschaft, eine neue Offenheit für
Zuwanderung, eine neue Offenheit bei der Gestaltung
der Globalisierung mit Freihandelsabkommen, aber auch
eine neue Offenheit gegenüber großen Infrastrukturprojekten und eine neue Offenheit gegenüber dem technischen Fortschritt.
({3})
Ich will das an den Punkten Energieversorgung und
Energiepolitik festmachen. Eine sichere, saubere und bezahlbare Energieversorgung ist nach wie vor das Ziel aller politischen Parteien, denke ich. Für den Industriestandort Deutschland ist die Versorgungssicherheit von
großer Bedeutung. Das gilt für Menge und für Preis. Die
Energiewende muss erfolgreich und kosteneffizient weitergeführt werden, um Deutschland als wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort zu erhalten. Dazu gehören auch
effiziente, moderne Kohlekraftwerke, um eine sichere
Brücke in das regenerative Zeitalter bauen zu können.
({4})
Eine weitere Herausforderung wird die Gestaltung
des demografischen Wandels und natürlich auch die Deckung des Fachkräftebedarfs werden. Einiges ist dazu
hier schon gesagt worden. Natürlich müssen wir die Investitionen in Bildung verstärken. Aber auch das, was
Andrea Nahles als Arbeitsministerin angestoßen hat,
nämlich dass man mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten versucht, die vermeintlich Außenstehenden der
Gesellschaft wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren,
ist der richtige Weg. Dabei werden wir sie positiv begleiten.
Infrastrukturausbau ist viel genannt worden. Was wir
mit der digitalen Agenda beschlossen haben, zum Beispiel der Breitbandausbau, ist vor allen Dingen im ländlichen Raum wichtig. Wir brauchen diese Kapazitäten
für die Übertragung. Das gilt nicht nur für die Industrie,
sondern auch für das Handwerk und den Mittelstand.
Wenn ein Handwerksmeister ein Angebot verschicken
will, aber nicht genug Kapazitäten im Internet hat, kann
das nicht zukunftsfähig sein.
Als Letztes: Ich glaube, dass wir eine Akzeptanz für
den dynamischen Fortschritt, den wir brauchen, nur erreichen, wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen und
Umweltaspekte gleichrangig berücksichtigen. Dies sorgt
dann für die Motivation und positive Stimmung im
Land, die wir für ein wirtschaftspolitisch erfolgreiches
Umfeld benötigen. Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik trägt schon nach einem Jahr Früchte. Wir werden
den Kurs des Wirtschaftsministers kritisch, solidarisch
und konstruktiv begleiten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. Tagesord-
nungspunkt 3 a: Abstimmung über den Entschließungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/3841. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 18/3840 und 18/3265 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Soziale Wohnungswirtschaft entwickeln
Drucksache 18/3744
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,
Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Marktmacht brechen - Wohnungsnot durch
Sozialen Wohnungsbau beseitigen
Drucksachen 18/506, 18/3854
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung ist nun nicht
mehr neu; die Schonzeit ist vorbei.
({0})
Aber leider ist sie in der Frage des sozialen Wohnungsbaus immer noch im Ankündigungsmodus. Selbst unter
den wohnungspolitisch und mietenpolitisch hoffnungsvollen Euphorikern machen sich langsam die Ernüchterung und die Enttäuschung breit. Man fragt sich nämlich
zu Recht: Was ist denn nun mit der wohnungspolitischen
Offensive? Wo bleibt denn nun der mehrfach angekündigte Dreiklang aus Stärkung der Investitionstätigkeit,
Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus und der
ausgewogenen mietrechtlichen und sozialpolitischen
Flankierung? So steht es ja auf Seite 80 des Koalitionsvertrages, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition.
Vielleicht sollten Sie den Koalitionsvertrag ab und zu
wieder einmal in die Hand nehmen.
({1})
Ein Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen ist
gegründet worden. Schön! Das haben wir auch begrüßt.
Aber was tut dieses Bündnis eigentlich? Nach seiner
Gründung haben wir nichts weiter davon gehört. Selbst
die lange angekündigte und schon fast wieder zerredete
Mietpreisbremse schwimmt noch immer in parlamentarischen Gewässern. Es ist zu befürchten, dass am Ende
nicht der Mietanstieg, sondern das Gesetz gedämpft
wird, und zwar so lange, bis die Mietpreisbremse vollständig verdampft zu sein scheint.
({2})
In der gestrigen Ausschusssitzung vermittelten die
Koalitionsredner den Eindruck, als sei das Gesetz schon
in Kraft. Nein, meine Damen und Herren, Sie haben
noch nicht geliefert. Die Kolleginnen und Kollegen von
CDU und CSU versuchten auch im Ausschuss, uns weiszumachen, dass die Mietpreisbremse und die Wohngelderhöhung geeignet seien, mehr bezahlbaren Wohnraum
zu schaffen.
({3})
- Sie nicht, Frau Nissen. Ich habe gerade die CDU/CSU
angesprochen. ({4})
Wer hat Sie bloß beraten, dass Sie zu dieser Erkenntnis
kommen?
Zwischenzeitlich haben wir, die Linke, mit den heute
hier zu behandelnden Anträgen schon vier Anträge zum
sozialen Wohnungsbau und zur Mietpreisbegrenzung zur
Beratung und Abstimmung vorgelegt. Während wir hier
Monat um Monat debattieren, nutzen Vermieterinnen
und Vermieter fleißig die Gelegenheit, jede Mieterhöhungsmöglichkeit auszuschöpfen und ihre juristischen
Batterien in Stellung zu bringen, bevor das Gesetz irgendwann das Licht der Welt erblickt. So wird das nichts
mit der wohnungspolitischen Offensive dieser Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit ordnungspolitischen Maßnahmen zu beginnen, ohne die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine solide Wohnungspolitik
grundlegend zu verändern, heißt, ein Pferd von hinten
aufzuzäumen. Wir alle wissen, dass das meistens nicht
gelingt.
({5})
Es wird also Zeit, dass sich endlich etwas dreht. Eine
wirkliche wohnungspolitische Offensive unter marktwirtschaftlichen Bedingungen müsste damit beginnen,
das Verhältnis von Angebot und Nachfrage vor allem in
angespannten Wohnungsmärkten in Ordnung zu bringen.
Jetzt ist es nämlich so, dass gerade dort jede Wohnung,
egal ob energetisch saniert oder nicht, egal ob Familienwohnung, Studentenwohnung oder altersgerechte Wohnung, zu Höchstrenditen vermietet werden kann. Andererseits gibt es selbst in schrumpfenden oder ländlichen
Regionen mit wachsendem Wohnungsleerstand Wohnungsnot, weil nur noch das gebaut wird, wofür es eine
zahlungskräftige Nachfrage gibt. Wirklich bedarfsgerechte, also für alle bezahlbare, barrierearme, klima- und
altersgerechte Wohnungen fehlen auch hier massenhaft.
Hier ist auch die Bundespolitik gefordert, die im Koalitionsvertrag versprochene „sozialpolitische Flankierung“ tatsächlich praxistauglich zu machen. Auch Herr
Gabriel hat heute Morgen in seiner Rede zur Wirtschaftslage darauf aufmerksam gemacht, dass wir hier,
die Bundesebene, für den sozialen Wohnungsbau verantwortlich sind, Länderverantwortung hin oder her. Wozu
beschließen wir sonst hier Bundesgesetze, und warum
sonst steht die Bundesverantwortung im Koalitionsver7784
trag? Sie können sich also nicht herausreden, wie Sie es
gestern im Ausschuss versucht haben.
Den sozialen Wohnungsbau wiederzubeleben, wie es
die Bundesregierung angekündigt hat, das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Bisher fehlt aber die
Richtung, und von Schritten dahin kann überhaupt keine
Rede sein.
({6})
Unverändert 518 Millionen Euro Kompensationszahlungen seit 2006, seitdem die Föderalismusreform beschlossen ist, befristet bis 2019 und ohne soziale Zweckbindung, das ist doch keine Wiederbelebung, sondern
bestenfalls eine Notbeatmung des Patienten „sozialer
Wohnungsbau“, um ihn vor dem Tode zu retten.
Ein wirklicher Neustart im sozialen Wohnungsbau ist
dringend geboten, und das ist auch das Hauptanliegen
unserer hier vorgelegten Anträge. Es müssen jährlich
mindestens 150 000 Sozialwohnungen - ich betone: Sozialwohnungen - zusätzlich auf den Markt. Sie sind allein erforderlich, um den kontinuierlichen Schwund an
Sozialwohnungen seit den 1970er-Jahren durch den
Wegfall der Sozialbindung zu kompensieren. Mindestens 700 Millionen Euro jährlich, verlässlich, langfristig
durch den Bund bereitgestellt und durch die Länder bedarfsgerecht und dauerhaft zweckgebunden kofinanziert,
sind dafür notwendig. Es muss nicht überall Neubau
sein; es kann auch die Sanierung von vorhandenen Wohnungsbeständen sein. Anderswo ist möglicherweise auch
der Ankauf von Belegungsbindungen die bessere Lösung.
Gute und zudem preiswerte Chancen, wenigstens einen kleinen Beitrag zu einer sozialpolitisch flankierten
wohnungspolitischen Offensive zu leisten, hätte die
Bundesregierung bei einem entsprechenden Umgang mit
ihren eigenen Liegenschaften. Beim Verkauf der TLG
im Jahr 2012 hat die damalige Bundesregierung diese
Chance allerdings gründlich versemmelt. Die jetzige
Bundesregierung würde diesen Fehler wiederholen,
wenn sie beim Verkauf der BImA-Wohnungen stur am
Höchstpreisgebot festhielte.
({7})
Hier in Berlin scheint die Chance zu bestehen, einmal
über den Rand der schwarzen Null hinauszublicken und
einen konzeptgebundenen Verkauf dieser Wohnungen an
kommunale Wohnungsunternehmen - natürlich zu akzeptablen Preisen - zu organisieren.
({8})
Das wäre - das sage ich hier ganz klar - der richtige
Weg.
Wir begleiten die betroffenen Mieterinnen und Mieter
in diesem Prozess nicht nur mit Sympathie, sondern unterstützen auch ihre Forderung nach Erhalt ihrer Wohnungen und ihres Kiezes - gegen den Privatisierungsund Verwertungswahn. Darauf können sich sowohl die
Mieterinnen und Mieter als auch die Bundesregierung
verlassen.
Beides zusammen, der Neustart des sozialen Wohnungsbaus, finanziell gut ausgestattet, dauerhaft zweckgebunden und am besten in kommunalen Wohnungsgesellschaften konzentriert, und ein sozial verantwortlicher
Umgang mit öffentlichem Eigentum an Wohnungen und
für Wohnzwecke geeigneten Liegenschaften, das kann
der bescheidene Anfang für eine grundlegende Korrektur in der heutigen Systematik der Wohnungswirtschaft
sein. Die fast ausschließlich privat dominierte Wohnungswirtschaft mit Gewinnmaximierung muss gebremst werden.
({9})
Die Wohnung darf nicht ausschließlich eine Ware bleiben, sondern muss wieder zu einem hohen, schützenswerten Sozialgut werden und damit ein wirkliches Zuhause für alle sein.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Kai Wegner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem
Frau Bluhm die Anträge der Linken hier nochmals begründet hat, sehe ich mich in meiner Einschätzung bestätigt, zu der ich gekommen bin, als ich die Anträge gelesen habe: Das, was in den Anträgen nicht ganz falsch,
vielleicht sogar gut ist, das ist nicht neu, Frau Bluhm,
und das, was neu ist, das ist definitiv nicht gut.
({0})
Nichtsdestotrotz begrüße ich, dass wir diese Debatte
heute im Hohen Hause führen, da das Thema Wohnen
für die Menschen in unserem Land von ganz großer Bedeutung ist. Liebe Frau Bluhm, vielleicht lernen Sie in
der Debatte noch etwas dazu; denn die Bundesregierung
ist auf diesem Weg sehr erfolgreich und sehr aktiv.
({1})
Wir von der Koalition wissen, dass Wohnen mehr bedeutet, als ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir wissen, dass eine Wohnung der Lebensmittelpunkt für die
Menschen ist. Sie dient als Rückzugs- und Erholungsraum. Die Behaglichkeit der eigenen vier Wände bietet
den Menschen auch Lebensqualität.
In den Problembeschreibungen, liebe Frau Bluhm,
stimme ich den Linken in einigen Punkten durchaus zu.
Ja, wir stehen in der Wohnungspolitik vor großen Herausforderungen. Ja, wir haben eine wachsende Nachfrage nach Wohnraum und deshalb auch steigende Mieten, insbesondere in großen Städten, in Ballungsräumen,
aber auch in kleineren Universitätsstädten.
({2})
Angesichts des demografischen Wandels müssen große
Teile des Wohnungsbestandes altersgerecht umgebaut
werden. Auch müssen wir weiter in die energetische Sanierung des Wohnungsbestandes investieren, um diese
weiter voranzutreiben.
Die Große Koalition hat sich dieser Herausforderungen angenommen und ist längst aktiv geworden. Ja, Frau
Bluhm, wir haben die Mietpreisbremse auf den Weg gebracht. Wir wollen verhindern, dass einige Bevölkerungsgruppen ganze Stadtteile nicht mehr bewohnen
können. Wir wollen verhindern, dass Menschen in Stadtvierteln nach Einkommen getrennt leben. Das zerstört
die Vielfalt in unseren Städten. Das zerstört die Kreativität, und das spaltet auch die Gesellschaft. Meine Damen
und Herren, ich sage es sehr deutlich: Wir wollen keine
Pariser Verhältnisse in unseren Städten. Wir wollen
nicht, dass Menschen einiger Einkommensgruppen an
die Ränder der Städte verdrängt werden. Wir wollen
vielmehr eine gute soziale Durchmischung in unseren
Städten auch auf dem Wohnungsmarkt.
({3})
Frau Bluhm, das beste Mittel gegen steigende Mieten,
gegen Gentrifizierung ist nun einmal der Wohnungsneubau. Nachdem ich Ihre Anträge gelesen habe, freue ich
mich, dass die Linken das ganz offensichtlich auch endlich verstanden haben.
({4})
Wir müssen aber - das sage ich ganz deutlich, und damit
will ich nichts zerreden - darauf aufpassen, dass sich die
Mietpreisbremse gerade vor dem Hintergrund des Wohnungsneubaus nicht zu einer Investitionsbremse entwickelt. Darauf achtet die Koalition, und das werden wir
sicherstellen.
({5})
Ich erwarte auch von den Ländern, dass sie gerade in den
Gebieten, in denen die Mietpreisbremse gelten wird,
dafür Sorge tragen werden, dass dort neuer, bezahlbarer
Wohnraum entsteht. Auch das dient der sozialen Mischung in unseren Städten.
Weiterhin haben wir, Frau Bluhm, das Bündnis für
bezahlbares Wohnen und Bauen ins Leben gerufen. Ich
glaube, dass es wichtig ist, dass wir in diesem Bündnis
die unterschiedlichen Akteure, nämlich Bund, Länder,
Kommunen, aber auch die Verbände, an einen Tisch
bringen; denn die wohnungspolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, werden nur alle Akteure gemeinsam bewältigen können.
Für uns ist es gerade im Rahmen des Bündnisses ganz
wichtig, eine Baukostensenkungskommission einzusetzen. Es geht darum, Kostensteigerungen im Baubereich
zu analysieren. Preistreibende und überdimensionierte
Standards müssen dabei auf den Prüfstand. Wir als Koalition machen uns dafür stark, dass wir beim Bauen
sinkende Kosten haben, dass wir ein investitionsfreundliches Klima erreichen. Dass dies letztlich den Mieterinnen und Mietern dient, davon sind wir felsenfest überzeugt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({6})
Ich würde es in der Tat begrüßen, wenn die Bundesregierung zeitnah einen Zwischenbericht über die bisherigen Aktivitäten dieses Bündnisses vorlegte. Wir brauchen erste Ergebnisse; denn die Herausforderungen sind
groß.
Auch auf den demografischen Wandel reagieren wir.
Sie tun immer so, als würden wir hier gar nichts tun. Wir
haben das Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufgelegt, und dieses leistet einen ganz wichtigen Beitrag für
die älter werdende Gesellschaft in unserem Land. Durch
dieses Programm können gerade ältere Menschen in ihrer vertrauten Umgebung verbleiben, in der sie sich
wohlfühlen und in der sie sozial integriert sind.
({7})
Ich glaube, das ist eine gute Investition, die den Menschen vor Ort ganz konkret hilft.
Meine Damen und Herren von der Linken, ich möchte
mich jetzt mit der einen oder anderen Forderung aus
Ihren Anträgen beschäftigen. Zunächst betrifft dies den
sozialen Wohnungsbau. Frau Bluhm, es ist und bleibt so:
Auch die Länder sind hier in der Verantwortung.
({8})
Der Bund gibt den Ländern für den sozialen Wohnungsbau zusätzlich 518 Millionen Euro.
({9})
Sie fordern jetzt eine Aufstockung auf 700 Millionen
Euro. Meine Damen und Herren, dies rufe ich den Ländern zu: Es würde sehr helfen, wenn die zur Verfügung
gestellten Mittel des Bundes endlich auch für den sozialen Wohnungsbau genutzt würden.
({10})
Es kann doch nicht sein, dass die Mittel in den Länderhaushalten versickern und dann nach dem Bund gerufen
und gesagt wird: Ihr müsst mehr tun. - Nein, die Mittel,
die der Bund jetzt zur Verfügung stellt, müssen die Länder angemessen abfordern. Ich wünschte mir, dass die
Länder zu den 518 Millionen Euro, die der Bund zur
Verfügung stellt, selbst noch etwas drauflegen, damit wir
im sozialen Wohnungsbau mehr tun.
({11})
Sie haben auch das Thema BImA angesprochen, Frau
Bluhm. Am Beispiel Berlin sieht man doch, dass im
Rahmen der bestehenden Gesetze etwas geht. Wir haben
in Berlin knapp 5 000 Wohnungen im BImA-Bestand.
Derzeit gibt es Verhandlungen zwischen der BImA und
dem Land Berlin. Ich wünsche mir sehr, dass der Verkauf der bundeseigenen Liegenschaften und die Verhandlungen mit dem Land Berlin gelingen, und zwar
zum Verkehrswert. Das wäre im Interesse der Mieterinnen und Mieter und sollte ein Stück weit Schule machen
in Bezug auf die restlichen Bestände. Auch das sage ich
sehr deutlich.
({12})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie heben
in Ihren Anträgen die Städtebauförderung hervor. Ja, die
Städtebauförderung ist ein unverzichtbarer Bestandteil
unserer Stadtentwicklungspolitik. Sie ist unverzichtbar
für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unseren
Städten, und sie ist unverzichtbar für die Integration.
Frau Bluhm, dass wir dies auch so sehen und darauf
einen Schwerpunkt setzen, sehen Sie doch an der starken
Erhöhung der Mittel für die Städtebauförderung, nämlich von 455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro.
Wir kritisieren das nicht, wir finden das richtig. Wir haben das ja auch gemacht. Sie von den Linken haben das
nicht gemacht.
({13})
Sie fordern nun in Ihren Anträgen, die Mittel des Programms „Soziale Stadt“ vermehrt für nichtinvestive
Maßnahmen zu verwenden. Das lehne ich entschieden
ab. Gerade die investiven Maßnahmen sind es doch, die
die Lebensqualität in den Städten sichern. Gerade die
investiven Maßnahmen sind es doch, die eine Hebelwirkung haben, die weitere Investitionen nach sich ziehen,
die in die Wohnumfeldverbesserung einfließen, die der
Lebensqualität der Menschen in Ballungsräumen direkt
zugutekommen. Das dient dem Mittelstand und dem
Handwerk und schafft Arbeitsplätze. Deshalb ist es
wichtig, bei der Städtebauförderung gerade die investiven Bereiche nicht zu vernachlässigen.
({14})
Sie sprechen auch von der energetischen Sanierung
und wollen hier die Umlage der Kosten auf die Mieter
begrenzen. Mit Umsetzung Ihrer Forderungen würde erreicht, dass im Bereich der energetischen Gebäudesanierung nichts mehr passiert, Frau Bluhm. Sie würden dafür
sorgen, dass die Vermieter keinen Cent mehr investieren.
Wir hätten dann große Probleme bei der Klimagerechtigkeit. An Ihrem Antrag sieht man einmal mehr:
Was gut gemeint ist, ist nicht immer gut gemacht.
Frau Bluhm, vielleicht erinnern Sie sich einfach einmal: Sie von den Linken haben auch schon Regierungsverantwortung in den Ländern getragen und tragen sie
immer noch, und in Berlin haben Sie zehn Jahre Zeit gehabt. Was passiert, wenn die Linke Verantwortung für
Wohnungsbaupolitik mitträgt? Sie haben in Berlin in
zehn Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung 100 000 Wohnungen privatisiert;
({15})
30 Prozent des Bestandes an öffentlichen Wohnungen
wurden verkauft. In Ihrer Regierungszeit gab es im Wohnungsneubau in Berlin so gut wie keine Investitionen.
Wenn wir in Berlin über steigende Mieten, über die Verdrängung der ortsansässigen Bevölkerung, über die Gefährdung einer guten sozialen Durchmischung sprechen
müssen, dann ist das immer auch zu einem guten Teil auf
die Erblast Ihrer gescheiterten linken Wohnungsbaupolitik zurückzuführen.
({16})
Seitdem Sie nicht mehr in Berlin regieren, entstehen
wieder Wohnungen. Wir haben einen Wohnungsbauförderfonds aufgelegt. 10 000 neue Wohnungen jährlich im
sozialverträglichen Segment werden wir errichten. Es ist
gut, wenn Sie keine Verantwortung für die Wohnungsbaupolitik haben.
({17})
Meine Damen und Herren von der Linken, gerade
kam in einem Zwischenruf von Ihnen zum Ausdruck:
Wir haben es schon immer so gesehen, dass wir Wohnungsneubau brauchen. - Ich erinnere ungern an den
Volksentscheid zum Tempelhofer Feld. Aber auch da haben Sie eine unrühmliche Rolle gespielt. Dort hätten
5 000 neue Wohnungen entstehen können;
({18})
aber Sie haben populistisch dagegengehalten, haben
Wohnungsneubau verhindert. Sie reden in Sonntagsreden von Wohnungsneubau. Da, wo er konkret stattfinden kann, Frau Bluhm, verhindern Sie ihn. Deswegen
sind die Anträge, die Sie heute hier vorgelegt haben,
auch nicht glaubwürdig.
({19})
In der Wohnungspolitik setzt die Koalition auf einen
Dreiklang aus einer Stärkung der Investitionstätigkeit,
einer Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus und
einer ausgewogenen mietrechtlichen und sozialpolitischen Flankierung. Diesen Kurs werden wir entschieden
fortsetzen. Wir sorgen dafür, dass Wohnen für Geringund Durchschnittsverdiener bezahlbar bleibt und dass
ausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt wird. Die
Koalition wird hier die Bemühungen der Bundesministerin Hendricks weiterhin unterstützen. Meine Damen und
Herren von den Linken, ich empfehle Ihnen, das auch zu
tun; denn uns allen hier im Hause sollte doch klar sein,
dass Wohnungen nicht irgendeine Ware sind, sondern
das Zuhause für die Menschen.
({20})
Diese Regierung wird ihren Weg in der Wohnungspolitik
konsequent fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({21})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Christian Kühn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Eigentlich
hatte ich gedacht, dass wir diese Woche im Plenum die
Mietpreisbremse debattieren
({0})
und auch beschließen würden. Wenn man über Wohnungswirtschaft redet, muss man in diesen Tagen über
die Mietpreisbremse reden. Alle, die in der Wohnungspolitik unterwegs sind, haben dieses Thema in den letzten eineinhalb Jahren begleitet.
Nach Ihrer Rede, Herr Wegner, kommt es mir fast so
vor, als ob die Mietpreisbremse schon beschlossen wäre.
Aber sie ist nicht beschlossen. Herr Maas hat letzte Woche in Hamburg gesagt: Die Mietpreisbremse wird bis
zum Sommer in Kraft treten. - Sie wird vielleicht bis
zum Sommer beschlossen werden; aber Kraft wird sie
vor Ort bis zum Sommer nicht entfalten. Das ist Wahlkampfgetöse, ein Ammenmärchen. Die Mietpreisbremse, die Sie auf den Weg bringen werden, wird nicht
schnell eingeführt werden, und sie wird vor Ort nicht
schnell umgesetzt werden. Dies zeigt, dass Sie eigentlich
nicht verstanden haben, was eine Mietpreisbremse ist.
({1})
Die Anhörung im Rechtsausschuss hat gezeigt, dass
es keine schnelle Umsetzung der Mietpreisbremse geben
wird. Sie haben Hürden gebaut und Steine in den Weg
gelegt. Wenn man eineinhalb Jahre braucht, um ein Sofortprogramm auf den Weg zu bringen, dann ist das eine
ziemlich lange Zeit. Jede Woche und jeden Monat geht
bezahlbarer Wohnraum in Deutschland verloren. Das ist
ein Skandal; das ist unsozial und Wählertäuschung.
Angela Merkel hat sich im Wahlkampf für die Mietpreisbremse ausgesprochen.
({2})
Herr Wegner, ich glaube, dass Sie und Frau Merkel guten Willen gezeigt haben, aber - ich zitiere Sie einmal -:
Gut gemeint ist nicht gut gemacht. - Das trifft auf Ihre
Mietpreisbremse zu.
({3})
Die Geltungsdauer der Minimietpreisbremse, die Sie
auf den Weg bringen, ist zu kurz. Sie hätte mindestens
zehn Jahre betragen müssen. Außerdem gibt es große
Schlupflöcher. Mit dem Schlupfloch „umfassende Modernisierungen“ treiben Sie hochpreisige Modernisierung an.
({4})
Sie leisten damit der Gentrifizierung Vorschub, und das
ist ein Skandal.
({5})
Es gibt viel zu viele Ausnahmen, zum Beispiel beim
Neubau. Es hätte völlig ausgereicht, wenn Sie die erstvermieteten Neubauwohnungen ausgenommen hätten.
Die Länder werden die Mietpreisbremse lange nicht umsetzen können. Ich glaube, bis zum Ende dieser Legislaturperiode wird es nicht in allen Städten und Ländern
möglich sein, die Mietpreisbremse umzusetzen, weil es
große Hürden gibt. Eine völlig unsinnige Regelung, die
ich als Skandal empfinde, ist die Rügepflicht.
({6})
Das Mietrecht kennt keine Rügepflicht. Es gibt genug
Juristen in Deutschland, denen sich bei dem, was Sie mit
dem Mietrecht machen, der Magen umdreht. Ändern Sie
das, damit diese Mietpreisbremse auch eine mieterfreundliche Mietpreisbremse wird.
({7})
Anstatt eines schnellen Rettungsschirmes haben Sie eine
Minimietpreisbremse auf den Weg gebracht. Diese Mietpreisbremse wird den wohnungspolitischen Herausforderungen in sozialer Hinsicht nicht gerecht.
Ich komme zum Antrag „Soziale Wohnungswirtschaft
entwickeln“ der Linksfraktion. Auch ich finde, dass das
markige Worte sind. Es gibt einige Maßnahmen, die ich
gut finde, und andere, die ich nicht unterstützen würde.
Eigentlich ist es eine Zusammenstellung unterschiedlicher Punkte.
Mir wird nicht klar, was in der Wohnungswirtschaft
geschehen soll, Frau Bluhm. Wollen Sie eher eine Verstaatlichung der Wohnungswirtschaft, oder wollen Sie
eine öffentlich-gemeinnützige Wohnungswirtschaft? Ich
finde Ihren Antrag für dieses Thema zu schmal und deswegen nicht ganz so gut. Viele Forderungen sind wachsweich. Es sind viele finanzielle Forderungen enthalten.
Eine Forderung hätte man noch hineinschreiben müssen,
nämlich die Forderung, dass wir in Deutschland eine Debatte darüber brauchen, wie wir wieder mehr Gemeinnützigkeit in die Wohnungswirtschaft bringen.
({8})
Christian Kühn ({9})
Wir müssen darüber reden, wie wir vielfältige Akteure ins Spiel bringen, wie wir statt Monopolbildung
und Schrottimmobilien wieder die Mieterinnen und
Mieter in den Blick bekommen. Ich finde, die zentrale
Frage ist: Was ist nach 1988 passiert, als die Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft worden ist? Die Ziele, die
man damit verfolgt hat, sind, wenn ich mir heute die
Wohnungswirtschaft anschaue, nicht erreicht worden.
Ich glaube deshalb, dass wir dringend eine Debatte darüber brauchen, wie wir wieder Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland erreichen können.
({10})
Das Thema BImA wurde bereits von Herrn Wegner
angesprochen. Auch ich finde es gut, dass das Land Berlin die Idee hat, diese Wohnungen aufzukaufen. Aber
Ihre BImA-Politik im Deutschen Bundestag hat ja gerade verhindert, dass das nicht schon früher in Angriff
genommen wurde. Unter anderem wegen Ihrer Politik
sind Wohnungen in der Großgörschenstraße verscherbelt
worden. Im Kern ist das neoliberale Wohnungs- und Liegenschaftspolitik, die wir ganz klar ablehnen.
({11})
Wir brauchen endlich eine Wohnungsgemeinnützigkeitsdebatte in Deutschland. Wir Grünen wollen Spekulation mit Wohnraum verhindern. Wir wollen gemeinwohlorientierte Wohnungswirtschaft. Wir wollen Akteure, die
keine reine Renditelogik haben. Wir müssen Genossenschaften, öffentliche Wohnungsunternehmen, Studentenwerke und Baugruppen unterstützen. Sie müssen ein
größeres Stück vom Kuchen der Wohnungswirtschaft
abbekommen. Darauf müssen wir unser Augenmerk legen.
({12})
Leider beobachte ich genau das Gegenteil. Allein durch
die jüngste Elefantenhochzeit zwischen der GAGFAH und
der Deutschen Annington entsteht ein Wohnungskonzern, der rund 350 000 Wohnungen mit mehr als 1 Million Mieterinnen und Mieter hat. Da frage ich mich
schon: Wie soll der einzelne Mieter oder die einzelne
Mieterin angesichts einer solchen Marktmarkt seine bzw.
ihre Interessen durchsetzen können? Man muss sich nur
einmal im Klagefall vorstellen, welche Macht solch ein
Konzern gegenüber dem einzelnen Mieter hat. Ich frage
mich, ob wir angesichts dieser zu beobachtenden Veränderungen in der Wohnungswirtschaft nicht ein Verbandsklagerecht brauchen.
({13})
Brauchen wir im Kern nicht ein viel sozialeres Mietrecht? Müssen wir die Mietenrechtsnovelle der schwarzgelben Regierung nicht eigentlich wieder rückabwickeln?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine letzten Worte
({14})
- nein, hier jetzt heute; das verspreche ich Ihnen ({15})
zum Bündnis für bezahlbares Wohnen. Das Bündnis für
bezahlbares Wohnen ist eine gute Sache. Herr Wegner,
Sie haben angekündigt, dass Sie sich einen Zwischenbericht wünschen. Auch ich wünsche mir einen Zwischenbericht, aber nach meinen Erkenntnissen würde er jetzt
sehr dünn ausfallen und nur wenige Seiten beinhalten.
Ich hoffe, dass Sie sich im Bündnis für bezahlbares
Wohnen einmal über den sozialen Wohnungsbau und anderes unterhalten. Ab 2019 haben wir ein Riesenproblem; denn dann laufen die Bundesmittel aus. 2020
kommt die Schuldenbremse der Länder hinzu. Ich habe
keine Lust, dass wir in ein Jahrzehnt gehen, in dem der
soziale Wohnungsbau stockt.
Danke schön.
({16})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Florian
Pronold.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bezahlbares
Wohnen, bezahlbares Bauen ist eines der Hauptanliegen
der Menschen in Deutschland. Rentnerinnen und Rentner haben die Sorge, dass sie sich ihre Wohnung von ihrer Rente in Zukunft nicht mehr leisten können. Viele
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen und
mittleren Einkommen haben Angst, dass sie aus den
Städten an den Rand gedrängt werden. Deswegen hat
diese Große Koalition das Thema bezahlbares Bauen
und Wohnen so stark im Koalitionsvertrag verankert wie
lange keine Regierung vorher.
({0})
Liebe Frau Bluhm, ich fand - im Gegensatz zu Ihrem
Antrag und zu den Verhältnissen, wie ich sie sonst
kenne - die Rede, die Sie hier gehalten haben, sehr ausgewogen und moderat.
({1})
- Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als wenn ich Sie einmal lobe. Aber ich bin mir sicher, dass Sie das in Zukunft auch wieder anders können.
Ich finde, eines muss man hier in aller Deutlichkeit
sagen: Durch Ihren Antrag wird die Sicherheit von Mieterinnen und Mietern in Deutschland leider nicht gestärkt. Sie tun auch nichts für den sozialen Wohnungsbau. Das ist die Wahrheit an dieser Stelle.
({2})
Zur Wahrheit gehört auch: Wir haben auf dem Wohnungsmarkt unterschiedliche Akteure - private Investoren, die Kommunen, die Länder und den Bund -, und
wenn wir die nicht zusammen an einen Tisch bekommen
und wenn wir nicht Politik aus einem Guss machen,
dann wird bezahlbares Bauen und Wohnen nicht gelingen. Deswegen können wir das nicht durch Anträge im
Deutschen Bundestag erreichen, sondern nur durch konkretes Handeln.
({3})
Sie haben das Bündnis für bezahlbares Wohnen angesprochen. Gerade in der letzten Woche hat sich die Arbeitsgruppe „Aktive Liegenschaftspolitik“ getroffen.
Eine vernünftige Liegenschaftspolitik ist eine zentrale
Voraussetzung für bezahlbares Wohnen und Bauen.
({4})
Dabei geht es nicht nur um die BImA, sondern auch um
die Grundstückspreise der Kommunen. Es geht darum,
was wir vor Ort zur Verfügung stellen können.
Auch die Baukostensenkungskommission arbeitet
und wird noch vor dem Sommer einen Bericht vorlegen.
({5})
Auch das ist entscheidend; denn nur, wenn die Baukosten bezahlbar sind, kann es nachher auch bezahlbare
Mieten geben. Die Baukosten zu senken, ist ein zentrales
Element des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und
Bauen, das wir auf den Weg gebracht haben.
Zur Wahrheit gehört, dass dieses Haus 2006 eine Föderalismusreform durchgeführt hat und in diesem Zuge
der soziale Wohnungsbau in die Alleinverantwortung
der Länder gegeben wurde.
({6})
Dazu kann man heute stehen, wie man will. Aber das
Grundgesetz ist geändert worden. Der Bund gibt jedes
Jahr eine halbe Milliarde Euro an die Länder, damit sie
sozialen Wohnraum schaffen. Was ist passiert? Zwischen 2002 und heute hat sich die Zahl der Wohnungen
mit Sozialbindung - 2002 waren es noch 2,6 Millionen fast halbiert. Wir stellen fest, dass die Länder mit dem
Geld des Bundes völlig unterschiedlich umgehen.
({7})
In der letzten Legislaturperiode ist mit den Ländern vereinbart worden, dass es keine Verpflichtung gibt, diese
halbe Milliarde Euro vom Bund so und so auszugeben.
Wir wollen die Länder jetzt wieder an den Tisch holen, weil wir neue Wohnungen mit Sozialbindung brauchen. Anders ist bezahlbares Wohnen vor Ort nicht
möglich. Darüber muss man reden. Weil wir kein Druckmittel haben, müssen wir an die Einsicht appellieren. Ich
sehe, wie gut das in Hamburg läuft. Dort gibt es Initiativen, eine entsprechende Grundstückpolitik und städtebauliche Verträge. Ein anderes Beispiel ist München, wo
man auch auf anderem Wege eine Sozialbindung herstellt. Das ist richtig. Diesen Weg müssen viele mitgehen, damit wir wieder mehr preisgünstige Wohnungen
bekommen.
Wir werden eine Wohngeldreform durchführen und
mit der Mietpreisbremse dafür sorgen, dass die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland vor Wucher
geschützt sind. Wir werden dafür Sorge tragen, dass wir
auch beim Neubau vorankommen. Nicht nur Kostensenkung ist wichtig, sondern wir brauchen auch eine Debatte darüber, wie wir als Bund über die Steuerpolitik
zusätzliche Anreize schaffen können, damit in Städten
mit einem angespannten Wohnungsmarkt mehr neuer sozialer, bezahlbarer Wohnraum entsteht. Diesen Wohnraum brauchen wir, weil die Entwicklung vor Ort dramatisch ist.
({8})
Alle bisherigen Redner in dieser Debatte haben gesagt, dass Wohnungen keine Ware sein sollen. Wenn wir
das nicht wollen, müssen wir die Kräfte wieder stärken
- das ist in den letzten zwei Jahrzehnten eben nicht passiert -, die dafür Sorge tragen, dass Wohnungen keine
Ware sind. Das bedeutet, dass wir auch den Neubau
durch Genossenschaften und kommunale Wohnungsbaugesellschaften voranbringen müssen, dass auch dort zusätzliche Aktivitäten entstehen. Schauen wir uns das
Beispiel München an: Dort liegt die durchschnittliche
Kaltmiete heute bereits bei über 12 Euro pro Quadratmeter. In den städtischen Wohnungsbaugesellschaften beträgt sie gerade einmal die Hälfte. Das kann man übrigens auch hier in Berlin feststellen, wenn man sich zum
Beispiel viele Genossenschaften anschaut. Das macht
deutlich, welch wichtige Rolle diejenigen spielen, die
die Gemeinnützigkeit im Hinterkopf haben und einen
genossenschaftlichen Gedanken verfolgen: für bezahlbares Wohnen in der Stadt. Das ist entscheidend, und da
müssen wir wieder hin. Dafür brauchen wir zusätzliche
Initiativen und eine zusätzliche Stärkung. Das können
wir aber nicht im Deutschen Bundestag beschließen. Wir
können das allenfalls unterstützen.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass das Land im Gleichge7790
wicht bleibt. In vielen ländlichen Räumen ziehen die
Leute weg, weil sie den Arbeitsplätzen hinterherziehen.
Dadurch verstärken sich in vielen Städten die Probleme,
auch hinsichtlich der Bezahlbarkeit des Wohnens. Es
muss uns gelingen - das ist aus Nachhaltigkeitsgründen
genauso wie aus sozialen Gründen wichtig -, dieses
Land im Gleichgewicht zu halten. Wir müssen unsere
Politik, zum Beispiel die Infrastrukturpolitik, darauf ausrichten, dass Menschen in ihrer Heimat wohnen bleiben
können, weil sie vor Ort Arbeitsplätze finden oder mit
dem ÖPNV oder auf anderem Wege in die Städte kommen, wo die Arbeitsplätze sind, ohne durch Umzug in
die Städte zusätzlichen Druck auf die Mietwohnungsmärkte dort auszulösen.
Deswegen bedarf es auch einer weiteren Initiative für
den Neubau. Vor wenigen Jahren sind bis auf ein paar
Experten, die aber einsame Rufer in der Wüste waren
- sie haben immer schon darauf hingewiesen, dass man
Neubau braucht -, alle davon ausgegangen, dass das
Thema auf dem Wohnungsmarkt erledigt ist. Die Prognosen haben sich geirrt. Karl Valentin hatte recht: Das
Gefährliche an Prognosen ist, dass sie auf die Zukunft
gerichtet sind. Das ist immer ein Risiko. Alle haben sich
vertan. Jetzt müssen wir nachholen.
Bei den Städten stellen wir fest, dass die privaten Initiativen bisher nur im hochpreisigen Segment neuen
Wohnungsbau schaffen. Ich bin froh über jede Wohnung,
die gebaut wird. Wir brauchen aber bezahlbaren Wohnraum auch für die Rentnerin, für den Rentner, für die, die
als Polizeibeamte, als Krankenpfleger, als Krankenschwester jeden Tag ihre Arbeit tun und auch in der
Stadt zu bezahlbaren Preisen wohnen wollen. Diese
Bundesregierung hat mit ihrem Koalitionsvertrag, mit
dem, was wir im Bündnis für bezahlbares Wohnen und
Bauen machen, mit der Mietpreisbremse, mit vielen, vielen anderen Initiativen - die Wohngeldreform kommt
demnächst - einen Beitrag dazu geleistet, dass Wohnen
wieder bezahlbarer wird. Wir werden in dieser Wahlperiode noch eine ganze Menge machen. Ich freue mich
auf die Unterstützung auch der Linken und der Grünen
an dieser Stelle.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Sylvia Jörrißen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wohnen ist Leben, Wohnraum ist Lebensraum.
Das ist ein Zitat aus dem Antrag der Linken, über den
wir heute debattieren. Das ist nicht neu.
({0})
- Ja. - Adäquaten Wohnraum zu haben, ist ein Grundbedürfnis menschlichen Lebens. Selbst der Neandertaler
hat sich schon seine Höhle geschaffen. Das ist eine Binsenweisheit, aber es stimmt, Frau Bluhm, und deshalb
stimme ich Ihnen zu. Aber Sie können versichert sein: In
den nächsten elf Minuten - so lange habe ich heute Redezeit - ist das zugleich auch das letzte Mal, dass ich Ihnen zustimme.
({1})
Wir sind uns darüber einig: Wohnen ist ein zentrales
Element unseres Lebens und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für die Politik. Dieser fühle ich mich als
Baupolitikerin verpflichtet. Aus diesem Grund bin ich
sehr froh, dass die Große Koalition dem Thema Wohnen
und Bauen einen solch großen Stellenwert im Koalitionsvertrag beigemessen hat.
Lassen Sie mich auf einige Punkte in Ihrem Antrag
im Detail eingehen. Mit Ihren Forderungen, die Sie an
den sozialen Wohnungsbau stellen, übersehen Sie komplett, dass der Bund überhaupt nicht zuständig ist. Es ist
gerade mehrfach ausgeführt worden: Seit der Föderalismusreform 2006 sind hierfür allein die Länder zuständig. Der Bund stellt Kompensationsmittel zur Verfügung. Aber Ihr Ruf nach immer mehr Geld geht doch ins
Leere, wenn die Länder ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Sie sollten lieber Ihren Landesregierungen auf
die Finger schauen.
({2})
Solange Rot-Rot in Berlin regiert hat, wurden die Mittel
jedenfalls nicht in sozialen Wohnungsbau investiert,
({3})
sondern Schlaglöcher damit gestopft. Vielleicht funktioniert es demnächst in Thüringen ja besser.
({4})
- Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Sie fordern weiterhin eine pauschale Anzahl von
150 000 neuen mietpreisgebundenen Wohnungen und
nennen das bedarfsgerechte Förderung. Ich frage mich:
Was ist daran bedarfsgerecht, wenn die Wohnungen am
Ende an den falschen Stellen gebaut werden?
({5})
Wie kann es bedarfsgerecht sein, wenn Sie vor Beginn
der Bedarfsermittlung bereits wissen, welche Zahl am
Ende dabei herauskommen soll? Das ist für mich eher
Hellseherei. Ich weiß nicht, ob Ihre Erkenntnis aus dem
Legen von Tarotkarten entstanden ist.
({6})
Aber dass Sie ja gerne zur Planwirtschaft zurückkommen möchten, sieht man auch an anderen Stellen in Ihrem Antrag, zum Beispiel wenn Sie eine staatliche ReSylvia Jörrißen
gulierungspolitik auch für die Bereiche Energie, Wasser,
Abwasser und Abfall fordern. Sie scheinen aus Ihrer
Vergangenheit nichts gelernt zu haben.
({7})
Mit uns wird es das jedenfalls nicht geben.
({8})
Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag hat mich ganz besonders betroffen gemacht
({9})
- nein, ich bin fertig -: die Forderungen, die Sie in Bezug auf die Unterbringung von Flüchtlingen stellen.
Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, haben Sie
die aktuelle Notlage der Flüchtlinge immer noch nicht
erkannt? Wir erleben derzeit einen außergewöhnlich großen Zustrom von Flüchtlingen. Die Zahl der Erstanträge
auf Asyl ist im Jahr 2014 um 60 Prozent höher gewesen
als im Vorjahr, und für dieses Jahr ist mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen. 200 000 Flüchtlinge stehen vor
den Toren unserer Stadt.
({10})
Viele Kommunen stoßen angesichts dieser Herausforderungen an das Ende ihrer Kapazität.
({11})
Aber wir befinden uns in einer Situation, die sofortiges
Handeln erfordert.
({12})
Die Unterkünfte müssen heute bereitgestellt werden.
Eine Unterkunft in einem Randgebiet ist doch allemal
besser als keine Unterkunft im Zentrum.
({13})
Ich halte Ihren Antrag an dieser Stelle für eine gewaltige
Missachtung der Leistung der Kommunen, die gerade
ihr Möglichstes tun, um den Zustrom von Flüchtlingen
zu bewältigen.
({14})
Ich halte ihn vor allem auch für eine Missachtung der
Bedürfnisse der Asylsuchenden.
({15})
Meine Damen und Herren, wir nehmen die Menschen
ernst. Die Menschen stehen im Mittelpunkt unserer Politik.
({16})
Deshalb schauen wir genau hin. Wir wollen an den richtigen und an den erforderlichen Stellen die notwendigen
Anreize setzen.
Sie haben vollkommen recht: Wir stehen vor Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt. Wir haben in
Deutschland einen heterogenen Wohnungsmarkt, wir haben in einigen Bereichen mit Leerstand zu kämpfen, und
wir haben Ballungsräume, in denen wir zu wenig Wohnraum haben. Aber wir als Große Koalition sind diese Herausforderungen bereits angegangen. Auch die Große
Koalition möchte die Wiederbelebung der sozialen
Wohnraumförderung. Deshalb haben wir die Kompensationsmittel in Höhe von 518 Millionen Euro bis zum
Jahr 2019 verstetigt. Damit ist es den Ländern möglich,
bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Aber die Länder
müssen ihrer Verantwortung nun auch nachkommen.
Wir haben weitere zielgerichtete Maßnahmen auf den
Weg gebracht. Die Mietpreisbremse wird kommen;
({17})
sie befindet sich bereits im parlamentarischen Verfahren.
Mit der Mietpreisbremse unterbinden wir zielgenau unverhältnismäßig hohe Mieten bei der Weitervermietung
in einigen Ballungsräumen. Aber wir müssen zugleich
im Blick haben, dass die Mietpreisbremse nur die Symptome lindert. Die Mietpreisbremse baut keine einzige
neue Wohnung.
({18})
Des Weiteren werden wir das Wohngeld erhöhen; das
haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Auch hier ist
ein entsprechender Gesetzentwurf auf dem Weg. Damit
stellen wir sicher, dass gerade Menschen mit geringem
Einkommen direkt unterstützt werden.
Mir ist noch ein Punkt wichtig. Gute Wohnungspolitik ist mehr als nur günstige Mieten. Wohnen muss nicht
nur bezahlbar, sondern auch lebenswert sein. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass strukturschwache Ortsteile in ihrer Gesamtheit stabilisiert und aufgewertet
werden. Deshalb hat der Bund die Städtebaufördermittel
auf insgesamt 700 Millionen Euro erhöht. Wir leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Entlastung der Kommunen und zur Schaffung lebenswerter Wohnviertel.
({19})
Meine Damen und Herren, bei allem, was wir tun,
müssen wir die Menschen im Auge haben, aber nicht nur
diejenigen, die mieten, sondern auch diejenigen, die anderen Menschen Wohnraum zur Verfügung stellen. Wir
müssen in Deutschland ein Klima schaffen, das Investitionen in den Bau von Wohnungen zulässt und attraktiv
macht. Attraktiv wird eine Investition durch steuerliche
Förderung.
({20})
Daher sollten wir im Rahmen der Möglichkeiten unseres
Haushaltes auch über eine Sonderabschreibung nachden7792
ken, die auf die Gebiete, in denen die Mietpreisbremse
gilt, beschränkt werden könnte.
({21})
Dann würde wieder zielgenau dort die Investition angekurbelt, wo sie benötigt wird.
Es ist bereits mehrfach gesagt worden: Nur der Neubau bringt mehr Wohnungen, dadurch mehr Angebot
und damit eine Entlastung der Märkte. Aber das Bauen
ist in den letzten Jahren sehr teuer geworden. Aus diesem Grund gehören auch die preistreibenden Faktoren
auf den Prüfstand: Ich nenne als Beispiel die Grunderwerbsteuer. In meinem Heimatland, Nordrhein-Westfalen, ist mit der Erhöhung in diesem Jahr der traurige
Spitzensatz von 6,5 Prozent erreicht. Ich nenne als Beispiel das Bauplanungsrecht: langwierige Umwidmungsverfahren und Baugenehmigungsverfahren, die Stellplatzverordnung. Ist es erforderlich, dass bei der Planung
einer Seniorenwohnanlage die gleiche Anzahl von Stellplätzen vorgehalten wird wie bei der Entwicklung eines
Baugebietes für junge Familien? Ich bin der Meinung:
Nein. Dies treibt die Baukosten in die Höhe und verursacht einen nicht notwendigen Flächenverbrauch.
An diesen Beispielen sehen Sie bereits, dass dies Faktoren sind, die der Bund nicht beeinflussen kann. Der
Bund tut deshalb das, was er kann: Er holt alle Akteure
an einen Tisch. Im Bündnis für bezahlbares Wohnen und
Bauen sind alle politischen Ebenen - auch die Länder
und die Kommunen - und alle handelnden Akteure vertreten: die Bauwirtschaft, die Wohnungswirtschaft und
die Mieter. Jeder muss seinen Teil dazu beitragen. Ich erwarte, dass dieses Bündnis zügig konkrete Ergebnisse
liefert.
({22})
Letztlich müssen sich auch die Bürger entscheiden,
was sie wollen: Wenn sie eine innerstädtische Grünfläche wollen, dann kann an dieser Stelle kein innerstädtisches Baugebiet entstehen; das Tempelhofer Feld hier in
Berlin ist das beste Beispiel dafür.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben die
Problematik erkannt und wir handeln bereits. Die Anträge der Linken sind populistisch, zum Teil blanker Unsinn, und gehen ins Leere.
({23})
Es wird Sie daher nicht wundern, dass wir Ihre Anträge
ablehnen werden.
({24})
Danke schön.
({25})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Kerstin Kassner,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich wage mal ganz einfach die These: Unter uns sind
einfach viel zu wenige Kommunalpolitiker.
({0})
Sonst würden wir über die Situation der Kommunen
nicht nur reden, sondern auch aktiv etwas tun, dass sich
an dieser Situation etwas ändert. Die Situation der Kommunen ist in der Tat sehr unterschiedlich: Es gibt welche, denen es gut geht, die auch tatsächlich gestalten
können für ihre Bürgerinnen und Bürger, und es gibt
Kommunen, denen es nicht gut geht. Ich komme aus
Mecklenburg-Vorpommern; hier gibt es sehr viele Kommunen, denen es nicht gut geht. Ich kenne aus meiner
Zeit als Landrätin die Haushalte der Kommunen auf der
Insel Rügen ausgezeichnet, und ich weiß auch als aktive
Kommunalpolitikerin in meiner Heimatgemeinde, wie die
Lage dort ist. Es braucht also tatsächlich Möglichkeiten
der Gestaltung. Die Kommunen haben mit ihren Vertretungen sehr wohl einen Gestaltungswillen - daran mangelt es nicht -; aber sie haben oft gar keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr, die sie einsetzen können. Deshalb
wäre es gut, wenn wir ein solches soziales Wohnungsprogramm hätten, dass wir wirklich den Kommunen
wieder Gestaltungsspielräume eröffnen.
({1})
Es ist in der Gegenwart tatsächlich zu beobachten
- auf Rügen -, dass Investoren Bebauungspläne bezahlen. Sie wissen ja, wie das ist: Wer die Musik bezahlt, der
sagt auch, was gespielt, in diesem Falle: gebaut wird. Ergebnis sind Wohnungsgebiete, in denen im Winter die
Rollläden heruntergelassen sind und wo die Bauämter
sehr viel zu tun haben damit, Fehlnutzungen von Wohnungen als Ferienwohnungen hinterherzulaufen. Das
darf nicht sein!
Wir wollen, dass die Kommunen das, was für die Bürgerinnen und Bürger und für die Entwicklungsziele der
Kommunen notwendig ist, auch tatsächlich gekonnt einsetzen können. Wir brauchen Möglichkeiten der Stadtentwicklung, dass man eben auf Entwicklungen flexibel
reagieren kann, auf die älter werdende Einwohnerschaft,
auf mögliche Ansiedlung von jungen Familien, natürlich
auch auf Flüchtlingsströme. Dies gilt beispielsweise
auch für die Situation in der Hansestadt Greifswald, die
gleichzeitig eine Universitätsstadt ist. Dort platzt der
Wohnungsmarkt aus den Nähten, weil für die Studierenden keine bezahlbaren Räume zur Verfügung stehen.
Hier brauchen wir Programme, die auf diese Entwicklungen tatsächlich reagieren.
({2})
Nun hat ja der Staatssekretär, Herr Pronold, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Land sehr treffend
beschrieben. Ich sage Ihnen einmal als Beispiel, wie es
bei mir in Mecklenburg-Vorpommern aussieht - übrigens rot-schwarze Regierung. Dort kommen von den
518 Millionen Euro jedes Jahr 21,3 Millionen an.
11,5 Millionen Euro davon packt die Finanzministerin
erst einmal in einen Sparstrumpf. Dort liegen jetzt
50 Millionen Euro, und zwar deshalb, weil 2019 das
Programm ausläuft und man gar nicht weiß, was dann
passiert. Deshalb sagt man: Wir sparen einmal für diese
Zeit nach 2019. - Der Rest wird zu großen Teilen als
Darlehen ausgereicht. Das bedeutet, dadurch wird keinerlei Absenkung der Mieten erreicht. Das ist eine absolute Fehlentwicklung.
Deshalb sage ich: Hier muss man sich dringend an
den Tisch setzen, und man muss die Länder in die Pflicht
nehmen, dass sie das, was ihnen zur Verfügung steht,
wirklich für die Gestaltungskraft der Kommunen einsetzen - das ist meine Forderung -, und das muss schnellstens passieren, nicht erst irgendwann.
({3})
Ein weiterer Bereich, bei dem wir Möglichkeiten haben, etwas aktiv zu tun, ist die BImA. Es gab ja den Verkauf der TLG-Wohnungen. Ich sage Ihnen einmal, was
in Stralsund passiert ist. Damals sind 240 Wohnungen an
die Tegernsee AG verkauft worden. Diese Wohnungen
sind knapp zwei Jahre später weiterverkauft worden.
Und was hat der Vorstandsvorsitzende dazu gesagt, warum er das tut? „Ich wäre ja verrückt, wenn ich das nicht
täte.“ Es ist eine Möglichkeit, ganz schnell Geld zu machen, und das nicht zum Nutzen der Bürgerinnen und
Bürger, sondern zu ihrem Schaden.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir brauchen wieder
Gestaltungsspielräume. Ich wünschte mir, dass wir mit
solch einem sozialen Wohnungsbauprogramm diese
Spielräume tatsächlich wieder bekämen. Tun Sie etwas
dafür!
({4})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Sören Bartol das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Koalition hat das Thema Mieten, Wohnen und Stadtentwicklung oben auf die Tagesordnung
gesetzt. Ich danke den Kollegen von der Linken, dass sie
es heute im Bundestag aufgerufen haben.
({0})
Gutes und bezahlbares Wohnen ist eines der zentralen
Vorhaben in dieser Legislaturperiode. Barbara Hendricks
und Heiko Maas und natürlich auch die gesamte Koalition sorgen dafür, dass es nun auch Schritt für Schritt
umgesetzt wird.
Wir haben schon 2014 die Städtebauförderung von
455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro aufgestockt,
das Programm Soziale Stadt von 40 Millionen Euro auf
150 Millionen Euro.
({1})
Soziale Stadt wird zum ressortübergreifenden Leitprogramm für die soziale Integration in den Städten. Heiko
Maas hat bereits im letzten Jahr auch die Mietpreisbremse und das Bestellerprinzip für Makleraufträge auf
den Weg gebracht. Das parlamentarische Verfahren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, muss jetzt endlich abgeschlossen werden.
({2})
Der Entwurf für die Wohngeldnovelle liegt vor; er geht
in den nächsten Monaten ins Kabinett. Erstmals seit
2009 wird damit das Wohngeld wieder erhöht. Die
Wohngeldreform entlastet über 900 000 Haushalte;
360 000 davon bekommen durch die Reform zum ersten
Mal oder wieder einen Anspruch auf Wohngeld. Wir sorgen dafür, dass Familien und ältere Menschen nicht allein wegen hoher Mieten Arbeitslosengeld oder Grundsicherung im Alter beantragen müssen.
Barbara Hendricks hat das Bündnis für bezahlbares
Wohnen und Bauen gestartet und arbeitet gemeinsam
mit wohnungswirtschaftlichen Verbänden, den Ländern,
dem Mieterbund an Vorschlägen, den Wohnungsbau für
Mieter mit geringem Einkommen anzukurbeln. In diesem ersten Regierungsjahr haben wir eben vieles zur
Entlastung der Mieter und für die lebenswerten Städte
auf den Weg gebracht.
Mit der Mietpreisbremse schaffen wir endlich die
Möglichkeit, exzessive Preissteigerungen bei Wiedervermietungen zu begrenzen. Das ist eine wichtige
Ergänzung zur abgesenkten Kappungsgrenze bei den
Bestandsmieten, die viele Länder wie Hamburg, Berlin,
NRW, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz schon eingeführt haben. Mit der Mietpreisbremse wird es in angespannten Wohnungsmärkten endlich auch bei neuen
Mietverträgen eine Grenze nach oben geben. Maßstab
dafür ist die ortsübliche Vergleichsmiete. Das dämpft zugleich die Dynamik der Mietentwicklung insgesamt.
Die Mietpreisbremse ist ein ausgewogenes Instrument, das Mieterinnen und Mieter schützt. Neubauten
und umfassend modernisierte Wohnungen sind davon
ausgenommen, um Investitionen in den Neubau und den
Werterhalt nicht auszubremsen. Doch das hält leider
manche nicht davon ab, mit einer Verfassungsbeschwerde zu drohen und deutlichen Mieterhöhungen
noch vor dem Inkrafttreten das Wort zu reden. Sie übersehen, dass Eigentum verpflichtet.
Es geht nicht darum, den Mietwohnungsmarkt außer
Kraft zu setzen. Eine angemessene Rendite ist auch mit
Mietpreisbremse weiterhin möglich, überzogene Renditen ohne jede Verbesserung des Wohnwerts aber eben
nicht.
({3})
Die Statistik zeigt: Je länger angespannte Wohnungslagen anhalten, desto mehr entfernen sich die Angebotsmieten vom Mietspiegel - in teuren Städten im Schnitt
um 25 Prozent, sogar in normalen Lagen. Das können
sich dann selbst Haushalte mit mittlerem Einkommen
nicht mehr leisten.
Hier in Berlin ist die Mietpreisspirale in den gehobenen Wohnlagen wie Charlottenburg mittlerweile an die
Grenze dessen geraten, was auch Mieter mit höherem
Einkommen bereit sind, zu zahlen. Sie weichen jetzt in
den Wedding oder nach Lichtenberg aus. Die Angebotsmieten in Charlottenburg sinken, aber der Preisdruck in
den einfachen Wohnlagen steigt.
Für Haushalte mit niedrigen Einkommen macht die
Mietbelastung bis zu 50 Prozent des Einkommens aus.
Das trifft vor allem Alleinlebende und Alleinerziehende,
aber auch Familien. Sie finden in den Innenstädten keinen bezahlbaren Wohnraum mehr, und das hat natürlich
auch Folgen für die soziale Durchmischung der Städte.
Deswegen brauchen wir die Mietpreisbremse, und zwar
jetzt.
({4})
Ich bin optimistisch, dass wir den wichtigen Gesetzentwurf dazu im Bundestag jetzt schnell abschließend
beraten werden, und ich sage es auch ganz deutlich: Ich
baue hier auch auf das Versprechen der Kanzlerin und
das Versprechen dieser Koalition.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt auch für das
Bestellerprinzip bei den Maklergebühren. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Vermieter die Kosten für den
Makler nicht mehr einfach auf den Mieter überwälzen
können. Unbenommen ist es wohnungssuchenden
Mietern natürlich, auf eigene Rechnung einen Makler zu
beauftragen. In jedem Fall muss es ab jetzt einen schriftlichen Vertrag über den Suchauftrag geben, und ich sage
es noch einmal: Wer bestellt, bezahlt. Das ist ein klares
und, wie ich finde, faires marktwirtschaftliches Prinzip.
Wir wollen einen besseren Mieterschutz, gleichzeitig
aber Investitionen in den notwendigen Neubau. Klar ist:
Die Mietpreisbremse alleine bringt keinen bezahlbaren
Wohnraum.
({6})
In den wachsenden Städten brauchen wir Neubau, zumal die Zahl der Haushalte und auch die Ansprüche an
die Wohnfläche zunehmen. Neubau - vor allen Dingen
im unteren und mittleren Preissegment - kann nur gelingen, wenn Bund, Länder und Kommunen an einem
Strang ziehen und mit der Bau- und Wohnungswirtschaft, den Gewerkschaften und dem Mieterbund gemeinsam nach Lösungen dafür suchen, wie Neubau zu
vertretbaren Kosten realisiert werden kann.
Barbara Hendricks hat das mit dem Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen in Angriff genommen und
braucht hier auch die aktive Unterstützung der Länder
und der Wohnungswirtschaft. Vor allem auch genossenschaftliche Wohnungsunternehmen müssen in meinen
Augen verstärkt in den Neubau investieren.
Die Bevölkerung in den großen Städten wächst weiter. In den Uni-Städten sorgen doppelte Abiturjahrgänge
und die Aussetzung der Wehrpflicht für stärkere Bevölkerungszuwächse. Die Flüchtlingszahlen bleiben absehbar hoch, und auch der Zuzug aus dem europäischen
Ausland hält an. Das spricht für die Attraktivität der
Städte, und ich finde, das ist auch gut so.
Knapper Wohnraum und steigende Mieten sind allerdings die Kehrseite. Deswegen hat die soziale Wohnraumförderung der Länder eine hohe Bedeutung. Wir
haben die klare Erwartung, dass die Länder die Bundesmittel für geförderten Neubau oder auch für den Rückkauf von Belegungsrechten in angespannten Wohnungsmärkten einsetzen, und wir brauchen auch eine
Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus, der in den
2000er-Jahren vernachlässigt worden ist.
Inzwischen haben etliche Länder ganz klar umgesteuert - allen voran Olaf Scholz in Hamburg. Über 6 000
Wohnungen, davon 2 000 Sozialwohnungen, wurden im
letzten Jahr fertiggestellt. Ich finde, das ist eine beeindruckende Zahl.
({7})
In Städten und Ballungszentren ist Bauland oft der
entscheidende Engpass. Grundstückskosten machen zum
Teil mehr als 20 Prozent der Kosten von Neubauten aus.
Die Liegenschaften von Bund, Ländern und Kommunen
können deshalb einen Beitrag leisten, Bauland für bezahlbaren Wohnungsbau bereitzustellen. Ich finde, der
Bund muss dort mit gutem Beispiel vorangehen.
({8})
In den Koalitionsverhandlungen haben wir die verbilligte Abgabe von Konversionsliegenschaften, insbesondere für Wohnungsbau, erreicht. Das setzen wir auch mit
dem Haushalt 2015 um. Flüchtlingsunterbringung wird
dabei besonders berücksichtigt. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Aber aus Sicht der SPD gehört die Liegenschaftspolitik insgesamt auf den Prüfstand. Unser Ziel
ist, dass beim Verkauf von bundeseigenen Grundstücken
nicht nur der Erlös, sondern auch soziale, städtebauliche
und auch energetische Belange berücksichtigt werden.
({9})
Konzeptvergaben sind ein bewährtes Instrument.
Hamburg zum Beispiel setzt das erfolgreich um und gibt
damit einen Anteil von Sozialwohnungen von bis zu einem Drittel vor. Wir wollen auch, dass Kommunen ein
verbindliches Erstzugriffsrecht auf Grundlage des natürlich von den örtlichen Gutachterausschüssen ermittelten
Verkehrswertes bekommen.
({10})
Für Mieter von bundeseigenen Wohnungen, die zum
Beispiel in Berlin zum Verkauf stehen, fordern wir einen
vertraglich abgesicherten Schutz vor Umwandlung in Eigentum oder vor Luxusmodernisierung.
({11})
Neben dem Neubau ist der altersgerechte und energieeffiziente Umbau der Wohnungsbestände die große
Aufgabe der kommenden Jahrzehnte. Wir schaffen verlässliche Rahmenbedingungen für die Gebäudesanierung,
({12})
stocken die CO2-Gebäudesanierungsprogramme auf
2 Milliarden Euro auf und entwickeln sie weiter, damit
die Förderung stärker als bisher in die Breite wirkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist zum Erreichen
unserer Klimaschutzziele unverzichtbar.
Auch für Eigentümer von Ein- und Mehrfamilienhäusern und Wohneigentumsgemeinschaften soll die Förderung der energetischen Sanierung attraktiver werden.
Nicht nur das einzelne Haus, sondern das ganze Quartier
haben wir zum Beispiel beim Programm „Energetische
Stadtsanierung“ im Blick. Damit energiesparendes Wohnen für alle bezahlbar bleibt, haben wir im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass Mieterhöhungen aufgrund
von Modernisierungen in Zukunft begrenzt werden. Das
werden wir mit dem zweiten Paket umsetzen.
({13})
Von besonderer Bedeutung ist natürlich das Programm „Soziale Stadt“. Es richtet sich an Städte und
Gemeinden mit Quartieren, in denen Arbeitslosigkeit,
Bildungsarmut, vernachlässigte öffentliche Räume und
soziale Konflikte gehäuft auftreten und die besondere
soziale Integrationsleistungen für die gesamte Stadt erbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht eben nicht
nur um gute und bezahlbare Wohnungen, sondern um ein
gutes Wohnumfeld, um die Zukunftsfähigkeit der Städte
insgesamt. Wir wollen lebendige und intakte Nachbarschaften. Dafür steht diese Koalition. Dafür stehen wir.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Oliver Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben zwar heute von der Union nette wohnungspolitische Worte gehört, aber wenn man mit anderen von
der Union - mir fallen da spontan Michael Fuchs und
Joachim Pfeiffer ein - über Wohnungspolitik redet, dann
merkt man, was ihr Problem ist, warum sie in Großstädten nicht ankommen. Sie selber erkennen ja, dass Sie da
ein Problem haben. Für Sie sind Wohnungen im Kern Ihrer Partei Rendite- und Anlageobjekte und nicht Heimat
und Schutz von Menschen, die dort leben. Genau das ist
Ihr Problem. Das atmen Sie in Ihren Reden aus allen Poren aus. Deshalb verhindern Sie hier auch die Mietpreisbremse.
Es ist doch unglaublich, dass es hier seit anderthalb
Jahren einen politischen Konsens über alle Grenzen hinweg darüber gibt, eine Mietpreisbremse einzuführen.
Auch die Kanzlerin hat vor der Bundestagswahl gemerkt, dass sie sich diesem Thema nähern muss. Sie aber
bringen hier nichts zustande und können nichts abliefern. Das ist unglaublich. Eine seit anderthalb Jahren angekündigte Mietpreisbremse treibt die Mietpreise sogar
noch nach oben. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was
eine Mietpreisbremse machen sollte.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Sören Bartol,
Ihr Beitrag war gerade zur Hälfte eine Oppositionsrede.
({1})
Das Interessante ist, dass sich das Thema sogar in Ihren
Flyern findet, die sich oben vor dem SPD-Fraktionssaal
finden.
({2})
Darin ist von bezahlbarem Wohnen in der Stadt die
Rede. Da steht: „Gesagt“ - sagen tun sie viel -, aber
dann kommt: „getan“ Ich frage mich aber nur: Was haben Sie denn getan? Wo ist die Mietpreisbremse? Schaffen Sie es nicht, die Union dazu zu bewegen? Wo ist die
Erhöhung des Wohngeldes? Wo ist ein vernünftiges Programm zur energetischen Quartierssanierung? Das alles
liefern Sie an dieser Stelle nicht ab.
({3})
Beim Blick in den Flyer wird es dann ganz lustig. Darin heißt es - ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin -:
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert zudem, dass in
angespannten Wohnungsmärkten geeignete Grundstücke des Bundes nur unter der Auflage verkauft
werden, dass auf ihnen zu mindestens 30 Prozent
öffentlich geförderter Wohnraum errichtet wird.
Sehr richtig. Sie haben nur den Satz vergessen: Wir
konnten uns gegen die Union nicht durchsetzen, und
deshalb kommt das Ganze nicht.
({4})
Sie errichten da einen Riesenpopanz. Sie reden viel
und tun so, als würden Sie etwas machen. Am Ende haben Sie zwar die Ressortzuständigkeit, bekommen aber
überhaupt nichts hin. Das ist Ihr Problem, und das sollten Sie wenigstens in Ihre Faltblätter hineinschreiben,
damit den Leuten klar wird, wo das Problem ist.
({5})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Das ist vielleicht auch ein Hinweis an die Linken. Heute ist viel
über die Wohnraumförderung gesprochen worden. Die
SPD - auch Herr Pronold eben - feiert sich für etwas,
was eigentlich gesetzlich verankert ist und für das bis
2019 519 Millionen Euro gezahlt werden. Wohnungspolitik ist aber ein langfristiges Geschäft. Ich habe auf eine
Aussage darüber gewartet, wie es ab 2019 weitergehen
soll. Welche Perspektive gibt es für die Wohnraumförderung? Darauf warten die Länder. Das muss endlich geliefert werden. Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört.
Ganz skurril wird es beim Thema energetische Gebäudesanierung. Sie reden davon, was Sie alles machen
wollen
({6})
und legen einen Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz vor. Fragt man am Ende nach der Substanz, dann
zeigt sich: Sie haben im Haushalt 2015 im Zusammenhang mit dem Energie- und Klimafonds die Mittel sogar
noch abgesenkt. Sie machen weniger als vorher, und genau das ist das Problem Ihrer Wohnungspolitik, meine
Damen und Herren.
({7})
Der Kollege Bartol hat sich eben für die energetische
Quartierssanierung gelobt.
({8})
Mit diesem Programm fördern Sie zwar ein bisschen
was, aber letztlich muss es einen Ansatz geben. Ich
komme aus Nordrhein-Westfalen und kann mir kaum
eine Kommune vorstellen, die dieses Programm in Anspruch nehmen kann, allein was die Eigenanteile angeht,
die vorausgesetzt werden.
({9})
Wir brauchen doch endlich ein Programm - wir Grünen haben dazu den Energieeffizienzfonds vorgeschlagen, der mit 2 Milliarden Euro für die Kommunen
ausgestattet werden soll, damit sie vor Ort die Quartierssanierung durchführen können. Das wäre eine richtige
Antwort. Dazu kommt aber von Ihnen gar nichts. Sie beschränken sich auf Showpolitik und Gerede, aber es gibt
keine Substanz.
({10})
Zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Wir haben
in Deutschland gerade in Großstädten eine Mietentwicklung, bei der sich die Menschen Sorgen machen, ob sie
auch weiterhin in ihren Wohnungen leben können. Wir
erleben Gentrifizierung. Das, was man aus anderen westeuropäischen Großstädten kennt, wollen wir nicht, aber
es droht leider: die Gettobildung.
Was auch droht, ist eine Immobilienblase in Deutschland. Der Bericht der Bundesbank zeigt, was in diesem
Zusammenhang läuft. Es gibt aber keine Antwort der
Bundesregierung zu diesem Thema.
Sie liefern nicht die notwendigen Antworten, die die
Menschen, die auf bezahlbaren und günstigen Wohnraum angewiesen sind, brauchen. Sie liefern keine Antwort auf Immobilienblasen, die entstehen.
Am Ende werden nicht nur die Menschen, die auf
günstigen Wohnraum angewiesen sind, sondern auch die
Volkswirtschaft insgesamt unter Ihrer nicht vorhandenen, sondern nur angekündigten Politik leiden, meine
Damen und Herren.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank. - Die nächste Rednerin ist die Kollegin
Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Kollegen von der Fraktion Die Linke,
Sie haben insofern recht: Auf dem Wohnungsmarkt in
Ballungsgebieten und Universitätsstädten herrscht
Handlungsbedarf. Auch wenn in weiten Teilen Deutschlands die Wohnungsmärkte gut funktionieren, ist es leider so, dass bezahlbarer Wohnraum in manchen Gebieten Deutschlands knapp ist.
Dagegen müssen wir etwas tun, keine Frage. Aber
wie so oft in der Politik im Deutschen Bundestag sind
unsere Vorstellungen, wie man dieses Ziel erreicht, total
unterschiedlich. Sie zeigen mit Ihren Forderungen aufs
Neue, dass Sie noch nicht in der sozialen Marktwirtschaft angekommen sind, meine Damen und Herren.
({0})
Ich möchte hier nur einige Punkte Ihrer Forderungen
herausgreifen: erstens Aufstockung und Verstetigung der
Wohnraumförderung des Bundes bei 700 Millionen Euro
jährlich, zweitens eine haushaltsfinanzierte Investitionsoffensive zugunsten der energetischen Gebäudesanierung in Höhe von 5 Milliarden Euro jährlich, drittens
eine Verstetigung der Städtebauförderung bei 700 Millionen Euro jährlich für die nächsten zehn Jahre - man
höre und staune; da greifen Sie in das Haushaltsrecht des
Bundestages in diesen Jahren ein -,
({1})
viertens Auflegung eines Investitionsprogramms für die
Entwicklung der ländlichen Räume und deren Vernetzung mit städtischen Zentren in relevanter Höhe. Diese
Forderungen, insbesondere die letzte Forderung - das
sage ich als Abgeordnete, die aus dem ländlichen Raum
kommt -, hören sich grundsätzlich ganz gut an, keine
Frage. Aber bei Anträgen der Linken stellt sich immer
wieder die gleiche Frage: Wie wollen Sie das finanzieren?
({2})
Das liest sich nicht wie ein seriöser Antrag, den man umsetzen kann, weil das dafür notwendige Geld vorhanden
ist, sondern wie ein Wunschzettel nach dem Motto
„Wünsch dir was“. So sieht seriöse, verantwortungsvolle
und nachhaltige Politik nicht aus.
({3})
Sie bestätigen einmal mehr, dass Sie ein ganz eigenes
bzw. kein Verhältnis zum Steuergeld haben. Ihnen scheint
es egal zu sein, wie hoch der Schuldenberg des Bundes
anwächst. Wir dagegen haben in diesem Hohen Hause
im November letzten Jahres den ersten ausgeglichenen
Haushalt seit 45 Jahren beschlossen; denn wir wollen
unseren Kindern Chancen statt Schulden vererben. Das
nenne ich verantwortungsvolle und zukunftsgerichtete
Politik.
({4})
Sie dagegen fordern immer mehr. Gleichzeitig werfen
Sie dem Bund vor, im sozialen Wohnungsbau sei in den
letzten Jahren zu wenig passiert. Hier müssen wir aber
auf die Zuständigkeiten blicken. Das heißt, wir müssen
auf die Länder schauen. In unserem föderalen System
sind die Bundesländer für den sozialen Wohnungsbau
zuständig. Das wollen sie auch, und das soll auch so
bleiben. Der Bund stellt ihnen dafür 518 Millionen Euro
zur Verfügung. Dieser Betrag wird in den nächsten Jahren verstetigt. Wenn man aber einen genaueren Blick auf
die Länder wirft, dann zeigt sich ein ganz unterschiedliches Bild. Einige Länder nehmen diese Verantwortung
wahr; Herr Staatssekretär Pronold hat das erwähnt. Frau
Lay, Sie haben vorhin einen Zuruf gemacht - ich habe
ihn genau verstanden - und gefragt, wie denn die Bilanz
in unseren Ländern aussieht. - Frau Lay, würden Sie mir
kurz zuhören?
({5})
- Gut. - Bayern, das Land, aus dem ich komme, ist hier
einmal mehr ein ausgezeichnetes Beispiel. Bayern hat
die Gelder zur Förderung des sozialen Wohnraums verwendet. Wir in Bayern haben zielgerichtet investiert.
Andere Länder haben nichts oder nur sehr wenig investiert. Daher muss ich einmal mehr sagen: Es kann nicht
sein, dass der Bund den Ländern Gelder für den sozialen
Wohnungsbau überweist und dass manche Länder dann
diese Gelder nutzen, um ihre Haushaltslöcher zu stopfen; das geht so nicht.
({6})
In Berlin war das fast ein Jahrzehnt - wen wundert’s? unter Rot-Rot der Fall. Erfreulicherweise hat sich die Situation in Berlin seit der rot-schwarzen Koalition deutlich verbessert; Herr Mindrup hat das bei uns im Ausschuss erwähnt. Dazu kann ich nur sagen: Kaum ist die
Union statt der Linken an der Regierung beteiligt, ändert
sich etwas,
({7})
wenn es um die sinnvolle Verwendung von Steuergeldern geht. Hier kann man das an einem ganz konkreten
Beispiel deutlich machen. Kaum auszudenken ist, was
wäre, wenn in Berlin die Union allein in der Verantwortung stünde. Allerdings ist das wohl eher ein theoretisches Gedankenspiel.
({8})
Wir diskutieren heute darüber, wie viele öffentliche
Gelder in den sozialen Wohnungsbau investiert werden
sollten. Wichtig ist aber auch, dass der Gesetzgeber die
Weichen beim Mietrecht - Stichwort „Mietpreisbremse“ so stellt, dass noch Anreize zum Bauen und Investieren
gesetzt werden. Wenn wir zu diesem Thema anderen Anträgen der Linken folgen würden, dürfte es in Zukunft
Mieterhöhungen nur noch in Höhe der Inflation geben.
Das wäre keine Mietpreisbremse, sondern eine Investitionsbremse. In der aktuellen Diskussion ist es deshalb
entscheidend, dass wir diese Mietpreisbremse klug ausgestalten. Wenn wir hier dem Modell der Linken folgten,
würde niemand in neue Wohnungen investieren. Das
würde die Situation auf den angespannten Wohnungsmärkten noch weiter verschärfen, und das kann auch keiner wollen.
Deshalb haben wir uns in den Verhandlungen dafür
eingesetzt, dass die Vermietung von neu errichteten
Wohnungen aus dem Anwendungsbereich der Mietpreisbremse ausgenommen wird. Das ist jetzt auch so im Gesetzentwurf enthalten, der zurzeit im Parlament diskutiert wird. Diese Ausnahme - auch das möchte ich an
dieser Stelle sagen - wünsche ich mir auch für umfassend modernisierte Wohnungen. Herr Bartol, Sie haben
es vorhin erwähnt. Auch die, hatten Sie gesagt, seien
ausgenommen. Aber bisher ist bei den umfassend modernisierten Wohnungen nur die erste Vermietung aus
der Mietpreisbremse ausgenommen. Eine komplette
Ausnahme wie für Neubauten würde die Anreize für die
Durchführung von solchen Modernisierungsmaßnahmen
noch erhöhen.
Als Klimapolitikerin sage ich: Das ist genau das, was
wir uns auch unter klimapolitischen Gesichtspunkten
wünschen. 40 Prozent des Endenergieverbrauchs und
etwa ein Drittel der CO2-Emissionen in Deutschland fallen im Gebäudebereich an. Diese Einsparpotenziale
müssen wir nutzen. Das kürzlich beschlossene Klimaaktionsprogramm der Bundesregierung schafft mit der
steuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanierung dafür die richtigen Investitionsanreize. Nun sind an
dieser Stelle die Bundesländer am Zug. Aber der Bundesrat hat erneut einen entsprechenden Antrag der Bayern vertagt. Deshalb appelliere ich hier erneut an die
Bundesländer. Herr Krischer, wo sind hier die grünen
Abgeordneten, auch in den Bundesländern?
({9})
Die Grünen müssten doch diesen Prozess noch beschleunigen,
({10})
damit die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung endlich kommt. Machen Sie jetzt endlich mit. Lassen Sie uns gemeinsam diese Chance am
Schopf packen.
({11})
- Bayern hat den Antrag im Bundesrat gestellt. Der ist
vertagt worden. Wenn wir uns gemeinsam an einen
Tisch setzen, finden wir endlich eine Lösung. Wir Klimapolitiker und, wie ich glaube, alle Politiker in diesem
Haus, die meisten jedenfalls, wollen diese energetische
Sanierung und die steuerliche Förderung.
({12})
Auch für Millionen Mieter in unserem Land wäre das
gut; denn sie sparen durch die energetische Modernisierung langfristig bares Geld.
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die Unterbringung
von Flüchtlingen an. Uns allen liegt daran, die schutzbedürftigen Menschen, die zu uns kommen, angemessen
unterzubringen. Ziel dabei ist, die Menschen dezentral
an vielen Orten, auch in leerstehenden Häusern, unterzubringen, auch um zu vermeiden, dass Gemeinden mit
sehr großen Notunterkünften überfordert werden und die
Willkommenskultur, die wir momentan noch in Deutschland haben, dadurch gefährdet wird. Diese Lösungen
müssen wir gemeinsam umsetzen - und das auch kurzfristig.
Genau deshalb haben wir im November, übrigens gegen die Stimmen der Linken, ein Gesetz verabschiedet,
das die Kommunen bei der Flüchtlingsunterbringung unterstützt. Die Änderungen im Baugesetzbuch erweitern
den Handlungsspielraum der Städte und Gemeinden, um
Flüchtlinge schneller und einfacher angemessen unterbringen zu können. Damit helfen wir den Menschen
mehr, als wenn wir immer nur utopische Forderungen
stellen.
({13})
Bei einem Punkt sind wir uns allerdings gar nicht so
fern: der Städtebauförderung. Ich freue mich außerordentlich darüber, dass wir die Mittel der Städtebauförderung auf einem Rekordniveau von 700 Millionen Euro
verstetigt haben, im Hinblick auf unsere Staatsfinanzen
jedoch zunächst nur bis zum Ende der Legislaturperiode.
Das ist ein starkes Signal an unsere Städte und an unsere
Gemeinden, ein starkes Signal auch mit Blick auf die
Herausforderungen, denen sie derzeit gegenüberstehen,
weil immer mehr Menschen in unser Land kommen und
in unserem Land Schutz suchen.
Gerade das Programm „Soziale Stadt“, das wir deutlich aufgewertet haben, kann dazu einen Beitrag leisten.
Diese Mittel können für die Integration der Flüchtlinge
eingesetzt werden, beispielsweise durch Angebote wie
Nachbarschaftstreffen für Flüchtlinge und die örtliche
Bevölkerung. Das trägt auch zur Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für die Zuwanderer bei, die wir dringend brauchen.
({14})
Dennoch bin ich der Meinung, dass das Programm
„Soziale Stadt“ weiterhin in erster Linie für investive
Maßnahmen eingesetzt werden sollte; denn das ist das
Wesen der Städtebauförderung und ihr Erfolgsrezept.
({15})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Ihre Vorschläge
zeigen einmal mehr, dass Ihre Politik weit an der Realität
vorbeigeht. Deshalb kann ich, wie meine gesamte Fraktion, Ihren Antrag nur ablehnen.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Klaus Mindrup.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Karl Valentin ist hier ja eben schon zitiert
worden. Ich kann noch ein Zitat anfügen:
Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.
Ich möchte versuchen, die Richtigkeit dieses Zitats an
dieser Stelle nicht zu bestätigen.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen haben
ein wichtiges Thema auf die Tagesordnung gesetzt; da
sind wir uns hier einig.
({1})
- Sie von der Linken waren das. Entschuldigen Sie, ich
habe gerade in die falsche Richtung geschaut.
Das Thema, das Sie aufgegriffen haben, ist vernünftig. Deutschland hatte im Jahr 2013 einen Einwanderungsüberschuss von ungefähr 430 000 Einwohnern. Allein nach Berlin sind 47 000 Menschen gekommen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Tatsache
kann man nicht länger ignorieren und auch nicht länger
leugnen.
({2})
Das muss natürlich auch eine andere Wohnungspolitik zur Folge haben. Die Menschen, die zu uns kommen,
brauchen Wohnungen, und sie sollen nicht die Mieterinnen und Mieter aus ihren angestammten Wohnungen
verdrängen; deswegen brauchen wir Wohnungsneubau.
Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Aber ich kann Ihnen aus meinem Wahlkreis sagen:
Wenn städtische Gesellschaften, nicht private, oder Genossenschaften neuen Wohnraum schaffen wollen, sind
die Linken im Protest immer vorne dabei, egal ob es um
eine Brache in der Innenstadt oder um eine Bebauung
am Stadtrand geht. Das Argument ist immer dasselbe:
„Anderswo geht es besser.“ Oder: „Wir brauchen das gar
nicht.“
({3})
Insofern kann ich Ihnen für diesen Antrag sehr dankbar
sein. Er ist eine Argumentationshilfe für uns. Das Positivste an diesem Antrag ist, dass darin festgestellt wird,
dass Wohnungsneubau etwas ist, was wir brauchen.
({4})
Aber Wohnungsneubau allein ist nicht die Lösung.
Wir müssen auch die heutigen Bestandsmieter stärker
und besser schützen. Dazu bietet der Koalitionsvertrag
eine hervorragende Handlungsgrundlage. Die müssen
wir jetzt aber umsetzen, und dafür haben wir Tempo aufzunehmen. Ich denke, das ist aus Sicht der SPD ganz
klar.
Das Bündnis für bezahlbares Wohnen ist bereits erwähnt worden. Ich möchte an dieser Stelle einen Punkt
herausgreifen: die Liegenschaftspolitik. Es ist hervorragend, dass sich Berlin und der Bund auf einen Erstzugriff für die 4 600 Geschosswohnungen zum gutachterlichen Verkehrswert geeinigt haben. Diese Einigung ist
bereits an einer Stelle umgesetzt worden: bei den
84 Wohnungen des Quartiers Londoner Straße/Themsestraße. Das zeigt, dass man sich einigen kann, dass
BImA, Bundesrepublik und Kommune, in diesem Fall
Berlin, zum Nutzen der Mieterinnen und Mieter zusammenarbeiten. Außerdem zeigt es - das ist ein ganz wichtiger Hinweis -, dass dies eine Politik ist, die einer
Blasenbildung entgegenwirkt, nämlich weil zum Verkehrswert veräußert wird. Ich hoffe, dass die Verhandlungen über diese 4 600 Wohnungen in diesem Jahr zum
Abschluss gebracht werden können, und ich hoffe, dass
es anschließend auch eine Lösung für das Problem der
Potenzialflächen gibt.
({5})
Alles, was ich höre, und zwar von beiden Seiten, ist,
dass man auf einem guten Weg ist.
Aber eins ist klar: Das, was für Berlin gilt, muss auch
für alle anderen Städte und Gemeinden in Deutschland
gelten. Das ist die Richtschnur, und das muss auch anderswo umgesetzt werden.
({6})
Zu den Konversionsflächen gibt es bereits einen entsprechenden Beschluss des Haushaltsausschusses. Ich
denke, dass die Koalition hier aufgefordert ist - die SPD
unterstützt das -, die BImA auf eine entsprechende Beschlussgrundlage zu stellen, damit sie für ihr Handeln
parlamentarischen Rückhalt hat. Wir müssen an dieser
Stelle liefern. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, sind wir uns hoffentlich bald einig.
Man muss aber auch einräumen, dass für die drei
Häuser in Schöneberg keine Lösung gefunden werden
konnte, zumindest bisher nicht. Hier sagt Berlin, dass
der Erwerb zu den aufgerufenen Konditionen wirtschaftlich nicht möglich ist; Berlin beruft sich auf die Landeshaushaltsordnung. Die BImA sagt: Die Haushaltsordnung des Bundes legt fest, man könne nicht unter
Gutachterwert veräußern. - Irgendetwas stimmt an dieser Stelle nicht. Man muss klar sagen - das sage ich auch
an dieser Stelle -: Das ist der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln. Eins muss man allerdings auch sagen: Wir kennen noch nicht alle Einzelheiten dieses Einzelfalls, insbesondere nicht das Wertgutachten; insofern können wir
das hier nicht beurteilen. Das wird uns sicherlich noch
an anderer Stelle beschäftigen.
Kommen wir zurück zum Antrag. Die Linken fordern, dass die Kompensationszahlungen des Bundes für
die Wohnraumförderung auf 700 Millionen Euro - eine
schöne Zahl - jährlich erhöht werden, begründen aber
nicht, warum. Sind nicht 800 Millionen oder 900 Millionen Euro besser? Das ist hier aber nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist: Wie sieht die
Gesamtstrategie aus? Und dazu hat der Kollege Pronold
schon etwas gesagt. Wir brauchen eine Gemeinschaftsaufgabe, ein gemeinschaftliches Herangehen von Bund,
Ländern und Gemeinden. Wir als Bund sind hier schon
vorangegangen, konkret bei der Aufstockung der Städtebaufördermittel und zum Beispiel auch beim Zuschuss
für das barrierefreie Wohnen; das gehört auch in dieses
Kapitel hinein, und das haben wir auf den Weg gebracht.
({7})
Die energetische Quartierssanierung wurde hier eben
so abgetan, und es wurde gesagt, sie würde nicht funktionieren. Ich habe mir die aktuellen Zahlen geben lassen. Mir wurde gesagt: Der Mittelabruf steigt. - Das ist
etwas Positives. Verbesserungsbedarf besteht noch insofern, als dass Gemeinden in Haushaltsnotlagen einen geringeren Eigenanteil aufbringen müssen. Ich höre aber:
Da ist man auch dran.
Insofern kann ich sagen: Die Koalition ist unterwegs.
Die Richtung stimmt. Aus Sicht der SPD können wir allerdings noch etwas beschleunigen. Das ist vor allen
Dingen ein Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen
aus der Union.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank. - Jetzt hat die Kollegin Yvonne Magwas
von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Vorredner aus der Großen Koalition
haben bereits die wesentlichen Argumente zu den vorliegenden Anträgen der Linksfraktion genannt;
({0})
ich werde mich deshalb vor allem auf zwei, drei Aspekte
konzentrieren, die mir wichtig sind.
Es geht schon los, wenn wir uns die Überschriften der
Anträge anschauen. Die reichen von einem linksrevolutionären „Marktmacht brechen“
({1})
bis hin zu einem etwas milderen „Soziale Wohnungswirtschaft entwickeln“.
({2})
Beide Überschriften erwecken aber den Eindruck, als ob
wir in Deutschland zwei dramatischen Situationen ausgesetzt sind: Erstens. Da herrschten irgendwelche finsteren Mächte des Marktes im Wohnungssektor, und diese
müssten besiegt werden. Zweitens. Eine soziale Wohnungswirtschaft müsse erst einmal entwickelt werden.
Dem Titel nach existiert ja eine solche in Deutschland
überhaupt nicht.
Jetzt kann man einfach anführen, es handele sich nur
um die Überschriften; man solle sich doch einmal den
Text anschauen.
({3})
Doch ist die Überschrift immer auch die Visitenkarte eines Textes. Sie sagt etwas darüber aus, was der Inhalt
des Textes zutage fördern wird und was der Autor im
Sinn hat. In diesem Fall, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken, radikalisieren und bagatellisieren die Überschriften den Wohnungsstandort Deutschland.
({4})
Sie erwecken nämlich einen Anschein, der nichts mit der
Realität und der wirklichen Situation in unserem Land
zu tun hat.
({5})
Und sie lassen darauf schließen - das ist eindeutig erkennbar -, wie grundsätzlich negativ die Linke unser
Land betrachtet.
Im Text der Anträge selber werfen Sie den Koalitionsfraktionen vor, die beschlossenen Maßnahmen würden nicht ausreichen oder seien überhaupt nicht geeignet. Sie bagatellisieren also die Mietpreisbremse,
({6})
Sie bagatellisieren das Bündnis für bezahlbares Wohnen
und Bauen, Sie bagatellisieren die Baukostensenkungskommission,
({7})
und Sie bagatellisieren die Bundeskompensation in
Höhe von 518 Millionen Euro an die Länder. Kein Wort
fällt Ihnen zu der von uns angeschobenen Wohngeldnovelle ein.
({8})
Die Mittel aus dem Bereich der Städtebauförderung reichen Ihnen nicht aus. Und auch, dass wir die Kommunen
um Milliarden entlasten, damit sie wieder Aufgaben im
sozialen Wohnungsbau wahrnehmen können, ignorieren
Sie vollends.
({9})
Sie hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken, bleiben sich durchaus treu. Wie heißt es so oft?
Viel heiße Luft und wenig bis gar nichts dahinter! In
Österreich nennt man diese Vorgehensweise „Dampfplauderei“, und genau das passt zu Ihren Anträgen.
({10})
Stattdessen würde es zu guter Arbeit gehören, wenn
Sie wesentliche Fragen beantworten könnten, etwa: Wie
wollen Sie das Ganze finanzieren?
({11})
Wo wollen Sie sparen? Wen wollen Sie im Gegenzug für
all die Wohltaten, die Sie großzügig verteilen wollen, belasten? - Es ist eine Wunschliste, eine Wunschliste ohne
Gegenfinanzierung. Schauen wir uns einmal die Anträge
an - wir können darin viele schöne Zahlen lesen -:
5 Milliarden Euro hier, 700 Millionen Euro da, 700 Millionen Euro dort. Hinzu kommen ein neues Investitionsprogramm in „relevanter Höhe“ und obendrauf noch
Forschungs- und Förderprogramme zur Entwicklung
neuer Wohnformen. Flankiert wird diese wohnungspolitische Wundertüte natürlich mit nicht praktikablen Vorschlägen wie zum Beispiel dem diffusen „Einfrieren“
von Energie- und Wasserpreisen unter bundeseinheitlicher Aufsicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte es wiederholen: Nichts in den Anträgen halte ich für durchdacht.
({12})
Ihre Anträge sind getragen von einer absurden Ansicht,
und das ist natürlich nicht unser Anliegen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union macht
Politik für alle Menschen im Land und nicht für eine bestimmte Klientel.
({14})
Würdiges Wohnen ist eine Aufgabe, um die sich Bund,
Länder und Kommunen gemeinsam kümmern. Dazu gehört für uns auch die Beachtung eines einfachen Grundsatzes: Ich kann nur das ausgeben, was ich einnehme.
Mit der Schwarzen Null und einem ausgeglichenen
Haushalt betreiben wir eine generationengerechte Politik. Niemand kann heute Wohltaten verteilen, die dann
die nächste Generation schultern muss. Dies verlangt
aber die Linke in ihrem Antrag. Die Leute im Land verdienen, dass man ihnen ehrlich sagt, was man finanzieren kann und was man nicht finanzieren kann.
({15})
Meine Damen und Herren, meine Kollegen haben es
schon angesprochen: Leider wird die vom Bund geleistete Kompensation für den Wegfall der Finanzhilfe für
den sozialen Wohnungsbau in den Bundesländern nicht
immer komplett für den sozialen Wohnungsbau verwendet.
({16})
Das ist zu kritisieren.
({17})
Wir erwarten im Gegenzug für die vom Bund geleisteten
Mittel - so steht es auch im Koalitionsvertrag -, dass die
Länder diese zweckgebunden für den Bau neuer sozialer
Wohnungen einsetzen.
Überhaupt sollten wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf die einzelnen Bundesländer richten. Berlin
war zur Zeit der linken Regierungsbeteiligung komplett
aus dem sozialen Wohnungsbau ausgestiegen.
({18})
Aber auch das mit Ihrer Beteiligung regierte Brandenburg ist ein Sorgenkind in Sachen sozialer Wohnungsbau. Lassen Sie mich kurz aus dem Rechnungshofbericht des Landes Brandenburg aus dem Jahr 2014
zitieren. Da heißt es:
Das Ministerium
- für Infrastruktur und Landesplanung beabsichtigte, bis 2013 für den Neubau von Mietwohnungen in Innenstädten Fördermittel von
30,0 Mio. Euro einzusetzen. Im Jahr 2011 standen
davon 10,0 Mio. Euro zur Verfügung.
So schön, so gut. Es gab dann einen Wettbewerb, und die
Jury wählte 16 Anträge mit insgesamt 336 Wohneinheiten aus.
Ich zitiere weiter:
Nach drei Jahren befanden sich von diesen 16
grundsätzlich bestätigten Projekten lediglich …
vier Vorhaben in der Umsetzung:
…
Damit förderte das MIL letztlich den Neubau von
72 Mietwohnungen im gesamten Land Brandenburg und stellte dafür Fördermittel von 2,2 Mio.
Euro zur Verfügung.
({19})
Das entspricht 1 % der zwischen 2007 und 2013
insgesamt für die Wohnraumförderung bewilligten
Mittel.
Das schreibt der Landesrechnungshof.
Schon allein das ist im Angesicht der vorliegenden
Anträge eine Farce. Aber es kommt noch ein klein wenig
dicker: Das Land Brandenburg hat im vergangenen Jahr
die Kappungsgrenzenverordnung eingeführt. Im Ergebnis wurden 30 Brandenburger Gemeinden ermittelt, in
denen es zu wenige Mietwohnungen zu angemessenen
Bedingungen gibt.
Frau Kollegin Magwas, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich zu?
Ich bin fast fertig, das können wir hinterher bilateral
klären. Danke schön.
({0})
30 Brandenburger Gemeinden wurden ermittelt, in
denen es zu wenige Mietwohnungen zu angemessenen
Bedingungen gibt. Leider ergibt sich daraus auch der
Schluss, dass Brandenburg versucht hat, die Fehlentwicklungen der eigenen Baupolitik zu kaschieren. Das
ist die Realität der linken Politik, meine Damen und Herren.
({1})
Im Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition auf
ein umfangreiches Paket an Maßnahmen verständigt, um
die Wohnsituation in Deutschland weiter zu verbessern.
Diese Maßnahmen sind zum Teil schon verabschiedet,
andere werden auf den Weg gebracht. Lassen Sie mich
die Maßnahmen noch einmal stichpunktartig zusammenfassen: das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen,
hier vor allem die Baukostensenkungskommission, die
Mietpreisbremse, die anstehende Wohngeldnovelle, die
finanzielle Entlastung der Kommunen, die Städtebauförderung und natürlich die Bereitstellung von Finanzmitteln, die wir konkret für den sozialen Wohnungsbau an
die Länder geben.
({2})
Meine Damen und Herren, die Linke gaukelt uns
allzu gerne vor, sie würde die einzig wahre Sozialpolitik
für die Menschen in unserem Land machen. Sozialpolitik ist aber auch das, was die Große Koalition tut, nämlich zum einen durch die bereits erwähnten Maßnahmen
zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, zum anderen
- das ist die wesentliche Grundlage - durch eine solide
und generationengerechte Haushaltspolitik. Nur eine
solche Kombination an Entscheidungen garantiert, dass
es den Menschen in unserem Land gut geht.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Liebich für eine
Kurzintervention.
({0})
Liebe Kollegin, herzlichen Dank für das charmante
Angebot, dass wir das privat klären können.
({0})
Aber ich würde gerne alle hier an den Informationen teilhaben lassen.
Ich habe in der Zeit, über die Sie hier gesprochen haben, als Fraktionsvorsitzender der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin gearbeitet und würde gerne
über einen Punkt informieren. Sicherlich haben wir damals auch Fehler gemacht - das soll ja beim Regierungshandeln vorkommen -, aber der Ausstieg aus dem sogenannten sozialen Wohnungsbau in Berlin war aus meiner
Sicht sehr richtig. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum:
In Berlin war es so, dass das Land Berlin unter der CDUSPD-Regierung, aber auch schon davor, zu Westberliner
Zeiten, einen ganz besonders kreativen Weg gewählt hat,
den sogenannten sozialen Wohnungsbau zu betreiben. Es
war nämlich so, dass die Immobilienfirmen direkt das
Geld bekommen haben und die sogenannten Sozialmieten höher waren als die Vergleichsmieten auf dem freien
Markt. Deshalb hat sich das Land Berlin entschieden,
dort auszusteigen. Dagegen gab es massive Klagen der
Immobilienunternehmen. Am Ende haben wir in allen
Verfahren gewonnen. Ich glaube, dass man damit dem
Landeshaushalt einen Gefallen getan hat und den Mietern nicht geschadet hat.
Vielen Dank.
({1})
Dann hat die Kollegin Ulli Nissen von der SPD-Fraktion als nächste Rednerin das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für mich ist gutes, bezahlbares Wohnen sehr
wichtig. Deshalb ist es schön, dass ich heute dank des
Wünsch-dir-was-Antrags der Linken dazu Stellung nehmen kann.
Wenn wir schon beim Wünschen sind: Ich hätte mir
gewünscht, dass wir heute die Mietpreisbremse debattiert und beschlossen hätten;
({0})
aber es gibt leider noch einige kleine Bremsklötze. Ich
bin mir jedoch sicher, dass die Nöte der Mieterinnen und
Mieter auch meinen lieben Kollegen und Kolleginnen
der CDU/CSU eine Herzensangelegenheit sind und wir
möglichst umgehend eine Lösung finden.
({1})
Viele von uns kommen aus Städten, die einen angespannten Wohnungsmarkt haben. Ich selber komme aus
Frankfurt. Die Stadt wächst jährlich um 15 000 Menschen. Deshalb wissen wir, wie schwer es ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wir nehmen die Sorgen der
Menschen ernst. Wir haben da eine Menge zu tun und
handeln dort, wo wir es auf Bundesebene auch wirklich
können.
Damit Wohnen nicht zum Luxus wird, haben wir als
rot-schwarze Bundesregierung bereits eine Menge in
Angriff genommen. Nur ein kurzer Auszug unserer bereits beschlossenen Maßnahmen: Erhöhung der Mittel
für die Städtebauförderung, deutlich mehr Geld für das
Programm „Soziale Stadt“ und die Schaffung des Bündnisses für bezahlbares Bauen und Wohnen. Natürlich
wäre es super, wenn wir für diese Maßnahmen weitere
Mittel aus dem 10-Milliarden-Euro-Sonderprogramm
bekommen würden. Daran müssen wir alle wirklich arbeiten; das ist notwendig.
Zusätzlich werden wir das Wohngeld erhöhen und die
Warmmiete als Grundlage nehmen. Über 300 000 Menschen werden davon profitieren, und darüber freue ich
mich.
({2})
Im Antrag der Linken wird gefordert, die Unterbringung von Flüchtlingen in Massenunterkünften unverzüglich zu beenden und sie stattdessen in städtische und
ländliche Wohnstrukturen zu integrieren - super Forderung! Das meine ich mit „Wünsch dir was“. Ich würde es
gerne sofort umsetzen. Aber was mache ich in einer
Stadt wie Frankfurt mit einer langen Liste von Menschen
mit Wohnberechtigungsschein, die auf eine Wohnung
warten?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, was
sollen wir tun, wenn wir keinen entsprechenden Wohnraum nach Ihren Vorstellungen anbieten können? Sollen
wir die Menschen auf die Straße setzen? Natürlich versuchen wir, alle Personen menschenwürdig, am besten in
kleinen Wohneinheiten, unterzubringen. Bei uns in
Frankfurt werden Flüchtlinge von der Nachbarschaft
herzlich willkommen geheißen. Ich bedanke mich bei allen für ihr großes Engagement.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wohnungsnot
kann der Bund alleine nicht beseitigen. Auch Kommunen spielen dabei eine wichtige Rolle. Was vor Ort direkt und besser gelöst werden kann, sollte auch dort erledigt werden - auch deshalb haben wir ein föderales
System. Frankfurt nimmt die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum sehr ernst, insbesondere seit Peter Feldmann Oberbürgermeister ist.
Der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, ABG
Frankfurt Holding, gehören gut 50 000 Wohnungen. Sie
nimmt bis 2019 2,4 Milliarden Euro in die Hand, um
6 200 neue Wohnungen zu schaffen, davon 37 Prozent
im geförderten Bereich. Das ist vorbildlich, reicht aber
lange noch nicht aus.
Wir haben nur noch wenig bebaubare Grundstücke;
das Thema ist schon angesprochen worden. Ich denke,
das ist in vielen anderen angespannten Wohnungsmärkten ähnlich. Da müssen die Kommunen vor Ort auch selber nach Lösungen suchen. Das kann der Bund für sie
eben nicht erledigen. Wir denken zum Beispiel in Frankfurt darüber nach, innerstädtische Autobahnen zu überbauen. Damit hätten wir zwei Dinge erreicht: einerseits
neue Bauflächen, andererseits Lärmschutz. Es wäre
schön, wenn der Bund solche Modelle finanziell fördern
könnte; nicht nur in Frankfurt, sondern auch an anderen
Orten.
({4})
Kommunen könnten auch Milieuschutzsatzungen erlassen. In den betroffenen Gebieten müssten dann alle
Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen der Stadt zur
Genehmigung vorgelegt werden. Nicht erlaubt sind dann
beispielsweise Maßnahmen, die zu Luxussanierungen
führen. Damit soll die Verdrängung von Mietern aus gefragten Stadtteilen verhindert werden. Es ist gut, dass
sich vor Ort Bündnisse zusammentun, um sich gegen die
Verdrängung zu wenden. Als vorbildlich in Frankfurt
nenne ich zum Beispiel die „Nachbarschaftsinitiative
Nordend Bornheim Ostend“. Am Samstag werde ich
Mitglieder in einem betroffenen Objekt in der Wingertstraße 21 treffen. Ich freue mich schon heute darauf.
Auch die Länder können viel tun, unter anderem eine
Landesverordnung erlassen, mit der die Umwandlung
von Miet- in Eigentumswohnungen unter Genehmigungsvorbehalt gestellt werden kann. Dies würde uns
nicht nur in Frankfurt helfen, sondern sicherlich auch in
anderen Kommunen. Leider gibt es dies in Hessen unter
der schwarz-grünen Landesregierung nicht. Das bedauere ich sehr.
({5})
Es gibt bekanntermaßen große Probleme für Mieter
durch Eigenbedarfsklagen bei der Umwandlung von
Miet- in Eigentumswohnungen. Auch hier könnten
Länder gemäß § 577 a BGB mit Rechtsverordnungen
Gemeinden festlegen, in denen die Wohnungsversorgung besonders gefährdet ist, und damit einen verlängerten Kündigungsschutz von bis zu zehn Jahren festlegen.
Leider ist auch hier unter Schwarz-Grün in Hessen keine
Verbesserung eingetreten. Es blieb bei fünf Jahren - wie
unter CDU und FDP. Das finde ich sehr peinlich und bedauere ich sehr.
Eine moderne, soziale, zielgerichtete Wohnungspolitik kann also nur im Zusammenspiel aller Beteiligten
- Bund, Länder, Kommunen und Akteure des Wohnungsbaus - gelingen. Lassen Sie uns gemeinsam auf
allen Ebenen kämpfen, um den Menschen zu helfen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank. - Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 18/3744 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 b: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Marktmacht brechen
- Wohnungsnot durch Sozialen Wohnungsbau beseitigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3854, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/506 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? - Die
Linke. Wer enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. April 2014 über Einlagensicherungssysteme ({0})
Drucksache 18/3786
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt haben, eröffne ich die Aussprache.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Als erster Redner in dieser Aussprache hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister das
Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im November vergangenen Jahres haben wir hier ein
großes Gesetzespaket zur Umsetzung der Europäischen
Bankenunion verabschiedet. Mit dem Sanierungs- und
Abwicklungsgesetz sind die Vorschriften für eine Eigentümer- und Gläubigerhaftung im Falle einer Bankenschieflage am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten.
Ich glaube, dass das ein wichtiger Schritt ist, um erstens
dem Haftungsprinzip in Europa zur Durchsetzung zu
verhelfen und um zweitens eine bessere Trennung zwischen der Staatsfinanzierung und der Finanzierung des
Finanzsektors zu gewährleisten. Das war ein wesentlicher Baustein zur Stabilisierung der Finanzsysteme in
Europa.
({0})
Im November vergangenen Jahres ist auch der einheitliche Aufsichtsmechanismus in Kraft getreten. Die
Europäische Zentralbank hat die Aufsicht über die größten und risikoreichsten Banken innerhalb Europas übernommen. Damit ist es, wie ich glaube, gelungen, für eine
qualitativ bessere Aufsicht über diesen Sektor zu sorgen.
Wir haben im Dezember des Weiteren die Befüllung
eines Fonds zur Restrukturierung und Abwicklung von
Banken, den sogenannten Abwicklungsfonds - er wird
im nächsten Jahr in Kraft treten -, vereinbart. Es ist uns
auch dabei gelungen, wie ich glaube, dafür zu sorgen,
dass der Bankensektor in Zukunft selbst fair und ausgewogen an der Finanzierung von Abwicklungs- und Restrukturierungsmaßnahmen beteiligt wird.
Heute diskutieren wir über einen weiteren Baustein,
um das europäische Bankensystem stabiler zu machen.
Das Kabinett hat am 19. November einen Gesetzentwurf
zur Umsetzung der neu gefassten Einlagensicherungsrichtlinie beschlossen. Es geht um einen Rechtsanspruch, damit die Sparer in Zukunft - ganz gleich, was
in Europa passiert - nicht in Schlangen vor den Banken
stehen müssen, sondern sich darauf verlassen können,
dass ihre Ersparnisse gesichert sind und diese ihnen auch
kurzfristig wieder zur Verfügung stehen. Ich glaube, das
ist ein wesentlicher Schritt, um Vertrauen bei den Sparern in Europa und in Deutschland zu erzeugen.
({1})
Meine Damen und Herren, unser Ansatz ist es gewesen, mehr Sicherheit und mehr Vertrauen für die Sparer
in Deutschland zu schaffen. Es ist uns nicht darum gegangen, eine gemeinsame Haftung in Europa zu organisieren. Ja, wir wollen gemeinsame, harmonisierte Regeln für die Einlagensicherung, aber wir wollen keine
gemeinsame Haftung, weil es nicht darum gehen kann,
Sparervermögen in Europa umzuverteilen. Ich glaube,
auch an dieser Stelle haben wir eine grundsätzlich richtige Entscheidung getroffen.
({2})
Wenn über die Einlagensicherung diskutiert wird,
dann erinnern wir uns alle noch an die Bilder aus Großbritannien, als die Menschen im Zuge der großen Finanzkrise - Stichwort: Lehman - im Jahr 2008 in Schlangen
vor den Banken standen. Ich will darauf hinweisen, dass
dasselbe Phänomen im vergangenen Jahr aufgetreten ist,
als wir uns mit der Frage „Wie liquide sind eigentlich
bulgarische Banken?“ befasst haben. Deshalb geht es darum, nicht nur wegen des Phänomens Finanzkrise Vertrauen und Sicherheit aufbauen, sondern dauerhaft dieses Vertrauen und diese Sicherheit zu gewährleisten.
Wir müssen, auch um den Finanzsektor zu stabilisieren, einen massiven Abzug von Spareinlagen vermeiden.
In Deutschland wird es bei den etablierten Strukturen,
die wir kennen, bleiben; aber wir werden mit dem Einlagensicherungsgesetz eine größere Leistungsfähigkeit in
die Systeme bekommen, weil wir dafür sorgen, dass die
Einlagensicherungssysteme mit echtem Geld unterlegt
sein werden. Wir werden sie krisenfester machen; wir
werden dafür sorgen, dass die Sparer unbürokratischer
an ihr Geld kommen; und wir werden dafür sorgen, dass
sie schneller an ihr Geld kommen.
Vielleicht ein paar Bemerkungen im Einzelnen: Alle
Banken müssen in Zukunft einem Einlagensicherungssystem angeschlossen sein. Jeder einzelne Sparer hat einen Rechtsanspruch auf seine Einlagen bis zu einer
Höhe von 100 000 Euro pro Sparer und Bank. Wir haben
in Deutschland die Sondersituation, dass Sparkassen und
Genossenschaftsbanken Institutssicherungssysteme besitzen. Diese sollen dafür sorgen, dass solche Institute
gar nicht erst in eine Schieflage kommen, weil sie von
ihrer Institutsgruppe gegebenenfalls gestützt und abgesichert werden. Wir haben jetzt nicht diese Institutssicherung erhalten, sondern dafür gesorgt, dass diese Institutssicherung - die ist gut und schön - hin zu einer
Einlagensicherung weiterentwickelt werden kann. Damit
wird das, was sich in Deutschland bewährt hat, in dieses
neue, europäische System überführt. Ich glaube, das ist
ein richtiger Ansatz: Wir setzen auf den bewährten
Strukturen auf und sorgen dafür, dass das System noch
kundenfreundlicher und stabiler ausgestaltet wird. Das
ist ein großer Schritt nach vorne, Institutssicherung und
Einlagensicherung vernünftig miteinander zu verbinden.
({3})
Um diese Einlagensicherungssysteme finanziell auszustatten, um eine finanzielle Unterlegung für die Einlagensicherung zu schaffen, müssen über die nächsten
neun Jahre 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen angespart
werden. Wir haben als Bundesregierung in Europa darauf geachtet, dass der Proportionalitätsgrundsatz auch
in dieser Frage gewahrt bleibt und man sich bei der Bemessung der Höhe der Einlage in diesen Fonds an der
Höhe der gedeckten Einlage und am Risiko des Geschäftsmodells des jeweiligen Instituts orientiert. Ich
glaube, das sind zwei vernünftige Parameter, um die
Höhe der Einlage in diesen Fonds zu bestimmen.
Der Sparer soll zukünftig statt nach 20 Arbeitstagen
bereits nach 7 Arbeitstagen den Anspruch haben, seine
Spareinlagen ausgezahlt zu bekommen. Wir hätten die
Möglichkeit gehabt, diese Fristverkürzung über zehn
Jahre zu strecken. Wir schlagen Ihnen aber vor, von dieser Option der Europäischen Richtlinie keinen Gebrauch
zu machen, sondern diese Regelung bereits ab 2016 umzusetzen, sodass dieser Schutz unseren Sparern bereits
ab Mitte kommenden Jahres zur Verfügung steht.
({4})
Wie bisher bleiben Spareinlagen bis 100 000 Euro pro
Kunde und Bank im Sinne dieser Einlagensicherung abgesichert. Wir sind aber der Auffassung, dass wir in einigen Sondersituationen über diese Grundsicherung hinausgehen sollten. Eine solche Sondersituation entsteht
etwa, wenn jemand eine Immobilie veräußert und dadurch kurzfristig einen hohen Mittelzufluss hat. Wenn
diese Mittel für einige Zeit auf seinem Konto stehen,
müsste die Einlagensicherung greifen. In diesem Fall
wäre ein Betrag von 100 000 Euro möglicherweise nicht
ausreichend. Eine ähnliche Situation entsteht, wenn jemand eine größere Auszahlung aus einem Sozialversicherungssystem erhält und aus diesem Grund kurzfristig
eine höhere Einlage als 100 000 Euro auf seinem Konto
hat. Deshalb sind wir der Meinung, dass aus solchen
Gründen bis zu sechs Monate bis zu 500 000 Euro durch
die Einlagensicherung gedeckt sein sollen. Ich glaube,
auch das ist ein vernünftiger Schritt, um Menschen in
solchen Sondersituationen mehr Sicherheit und mehr
Absicherung zukommen zu lassen.
({5})
Ich glaube, dass wir mit der Konstruktion der Europäischen Bankenunion den größten Schritt - ich habe die
verschiedenen Säulen vorhin vorgestellt - seit Einführung des Euros in Europa unternommen haben. Jetzt
wird es darauf ankommen, dass wir die neuen Regelungen mit Leben erfüllen und glaubwürdig leben. Dazu
gehört nach meiner Einschätzung nicht nur, dass wir Regeln schaffen, sondern auch, dass diejenigen, die im Finanzsektor arbeiten, dort mit einem neuen Bewusstsein
und einer neuen Philosophie ihrer Tätigkeit nachgehen.
Denn der erste Teil des Vertrauens entsteht nicht durch
unsere Regeln, sondern durch die Philosophie, mit der
die Verantwortlichen in den Finanzinstituten diese neue
Situation leben.
Ich glaube, wir haben einen Beitrag geleistet für mehr
Stabilität in Europa, für mehr Vertrauen und für die Wiedergeltung von Prinzipien - ich habe das Haftungsprinzip erwähnt -, die wir in Europa dringend benötigen.
Wir haben die Ausschussempfehlung des Bundesrates zu
diesem Gesetzentwurf gesehen. Der Bundesrat hat mit
16 zu 0 gesagt - das ist ein großer Vertrauensbeweis -,
dass er diesen Gesetzentwurf für sinnvoll und zielführend hält. Ich würde mich freuen, wenn die heutige Diskussion und die weitere Beratung im Bundestag auch zu
so viel Zustimmung zu diesem Vorschlag der Bundesregierung führen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und gute
Beratungen.
({6})
Als nächster Redner hat Dr. Axel Troost von der Linken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Programm des Deutschen Bundestages hat sich inzwischen eine Reihe fest etabliert, und zwar die Reihe
„Aufräumen im Bankensektor“. In dieser Reihe diskutieren wir heute über ein Thema, das sich mit alltäglichen
und notwendigen Bankgeschäften befasst. Es geht um
den Schutz von Bankeinlagen.
Für die allermeisten Bankkunden ist ein Bankkonto
dazu da, laufende Zahlungen abzuwickeln und Geld aufzubewahren. Bei Spareinlagen kommt ein Zins knapp
über oder unter der Inflationsrate dazu. Zur Zahlung von
Mieten, zur Abwicklung von Löhnen und Gehältern und
dergleichen ist ein persönliches Bankkonto quasi obligatorisch. Deswegen setzen wir uns als Linke auch seit langem dafür ein, dass jede und jeder einen Zugang zu einem eigenen Bankkonto hat.
({0})
Mit dem Bankkonto vertraut ein Kunde seiner Bank
sein Geld an in der Hoffnung, dass damit vernünftig umgegangen wird. Das lässt sich aber von außen schwer beurteilen. Was passiert, wenn die Bank es nicht tut? Aus
zwei Gründen sollte sichergestellt sein, dass die Einlagen bei einer Pleite der Bank geschützt sind:
Das ist zum einen das Gerechtigkeitsargument. Da
niemand vor der Eröffnung eines Kontos prüfen kann,
ob eine Bank solide ist oder nicht, und man natürlich sicher sein will, dass man sein einmal eingezahltes Geld
jederzeit zurückbekommt, sollte es nicht mit Geldern
von Spekulanten, die hochriskante Produkte einwerben,
in einen Topf geworfen werden.
Zum Zweiten ist der Schutz der Bankeinlagen auch
aus Gründen der Finanzstabilität erforderlich. Wenn
Bankkunden bei jedem Gerücht scharenweise ihre Gelder abräumen würden, hätten wir viele unnötige Bankpleiten und Finanzkrisen. Es ist eben schon angesprochen worden, dass wir das in Deutschland schon erlebt
haben und es auch in der Krise in Großbritannien gemerkt haben. Darum gibt es in Deutschland seit vielen
Jahrzehnten private, öffentlich-rechtliche und gesetzliche Sicherungssysteme, die historisch gewachsen sind.
In Europa - das ist von Herrn Meister dargestellt worden - hat sich während der Finanzkrise gezeigt, dass
Nachbesserungsbedarf existiert. Daher wurde die europäische Einlagensicherungsrichtlinie überarbeitet. Jetzt
geht es darum, diese in nationales Gesetz umzusetzen.
Dabei drohte ursprünglich - auch das ist angesprochen worden -, dass die Sicherungssysteme der Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland plattgewalzt werden. Das ist nun aber nicht der Fall und auch
nicht notwendig, weil in Deutschland sowohl für die
Sparkassen als auch für die Kreditgenossenschaften
schon immer eigene Sicherungssysteme bestanden haben. Diese Institute können nicht einzeln pleitegehen,
sondern werden immer von den anderen Mitgliedern ihres Verbunds gerettet. Es ist gut, dass diese Prinzipien in
die jetzt gefundene Regelung mit eingeflossen sind und
es dort eine einheitliche Regelung gibt. Das ist auch
wichtig und von Bedeutung, weil wir damit - im Gegensatz zur Bankenabgabe - ein System haben, bei dem die
Sparkassen und die Genossenschaften für Kreditrisiken
und Ausfallrisiken der Großen nicht in irgendeiner Form
in die Haftung genommen werden können.
Trotzdem müssen wir aufpassen - das liegt allerdings
außerhalb unserer unmittelbaren parlamentarischen
Möglichkeiten -, dass im Rahmen der Leitlinie zur Beitragsberechnung, die auf Empfehlung der EBA, also der
Europäischen Bankenaufsichtsbehörde in London,
kommt, nicht doch wieder Richtlinien erlassen werden,
die möglicherweise zur Benachteiligung von Sparkassen
und Genossenschaftsbanken führen. Wir müssen in den
nächsten vier Wochen darauf achten - das gilt sowohl
für das Finanzministerium als auch für die BaFin -, dass,
wie schon gesagt, keine Regelungen getroffen werden,
die von den Sparkassen als sehr negativ empfunden werden und zu erheblich höheren Kosten führen könnten.
Ich glaube, dass das machbar ist. Natürlich muss auch
innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems das Verhältnis der Sparkassen zu ihren Landesbanken neu definiert werden. Auch da wird es durchaus noch Reibungspunkte geben. Aber auch das sehen wir als nicht so
problematisch an.
Das deutsche System wird also nicht umgekrempelt,
und das ist auch gut so. Allerdings haben wir schon an
der Lehman-Krise bzw. -Pleite gesehen, dass durchaus
Gefahren bestehen. Wir alle erinnern uns, dass sich die
Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister damals trotz der
bestehenden Sicherungssysteme genötigt sahen, vor die
Kameras zu treten und staatlicherseits Garantien für die
Sparguthaben auszusprechen. Das zeigt natürlich, dass
es auch in Anbetracht der neuen Regelungen notwendig
ist, zu verhindern, dass es zu systemischen großen Krisen kommt. Denn große Krisen stellen Sicherungssysteme, wenn sie einen zu geringen Umfang haben, sofort
wieder infrage. Insofern muss man sicherstellen, dass
massive Vertrauensverluste gar nicht erst entstehen können. Das heißt, man muss das Finanzsystem so krisensicher machen, dass eine Massenpanik verhindert werden kann. Daher sagen wir immer wieder: Die beste
Einlagensicherung besteht darin, ein Finanzsystem zu
schaffen, das die Banken davor bewahrt, aus Renditegier
auf den Abgrund hin zu spekulieren.
({1})
Das ist, glaube ich, nach wie vor die zentrale Aufgabe.
Wir haben in der Reihe „Wir retten die Banken und
helfen, die Banken sicherer zu machen“ jetzt noch eine
große Aufgabe vor uns, nämlich die Schaffung eines
Trennbankensystems. Hier stellt sich die Frage: Kommt
da wirklich etwas in Gang, was zur Stabilisierung des
Systems führt? Ich möchte in diesem Zusammenhang
daran erinnern: Die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolumen von 1,7 Billionen Euro. Damit ist das Bilanzvolumen dieser einen Bank größer als das Bruttoinlandsprodukt von Italien. Diese Dimensionen müssen verkleinert
werden.
Wenn es mit dem Trennbankengesetz nicht gelingt,
die Deutsche Bank in deutlichem Umfang zu verkleinern
und ihre Zockergeschäfte in London und New York von
dem zu sichernden Geschäft in der Bundesrepublik
Deutschland zu trennen, dann sind wir als Tiger losgesprungen, aber letztlich als Bettvorleger gelandet. Es
geht um die Stabilisierung des Systems und um die
Frage, ob Großbanken wirklich verkleinert werden oder
nicht. Wenn dies nicht gelingt, hätte ich, um im Bild zu
bleiben, den Eindruck, dass wir mit all den Bankensicherungspaketen zwar vorhatten, in die Hochseefischerei
einzusteigen, am Schluss aber beim Angeln im Dorfteich
gelandet sind. Wenn wir es nicht schaffen, diese großen
Einheiten zu verkleinern, werden wir es immer wieder
mit großen Instabilitäten im Finanzsystem zu tun bekommen. Dann nutzt die Einlagensicherung alleine, so
gut sie jetzt auch ausgestattet werden soll, nichts. Ich
möchte gerne, dass wir im Hinblick auf die Trennbanken
auch in der Bundesrepublik Deutschland wirklich Veränderungen im Bankensystem hinbekommen.
Danke schön.
({2})
Als nächster Redner hat der Kollege Manfred Zöllmer
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein Bild ist mir im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise in den letzten Jahren in besonderer Erinnerung geblieben: das Bild von den langen Schlangen vor Northern Rock. Northern Rock war 2007 die achtgrößte
Bank von England. Die Menschen wollten dort in einem
Anflug von Panik noch schnell ihre Ersparnisse abheben, da eine Zahlungsunfähigkeit der Bank befürchtet
wurde. Fast 2 Milliarden Pfund wurden in kürzester Zeit
von den Kunden abgehoben. Eine solche Situation, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist eine Horrorvision für jeden Ökonomen; denn in so einer Situation ist die Stabilität des gesamten Finanzsystems gefährdet. Damals
musste die britische Regierung handeln. Sie tat das auch:
Sie verstaatlichte kurzerhand die Bank und garantierte
für alle Einlagen.
Auch in Deutschland gab es schon ähnlich gelagerte
Probleme. Ich kann mich noch gut an den Konkurs der
Herstatt-Bank 1974 erinnern: Ende Juni 1974 beantragte
die Bank die Eröffnung des Konkursverfahrens wegen
Überschuldung. Am selben Tag kam es in Köln zu Tumulten am Hauptsitz der Bank, sodass die Polizei das
Gebäude sichern musste. Die deutschen Aktienkurse
stürzten ab.
Damit solche Szenarien der Vergangenheit angehören, diskutieren wir heute in erster Lesung über einen
Gesetzentwurf zur Einlagensicherung. In Deutschland
geht es immerhin um 2,9 Billionen Euro, die die Kunden
der deutschen Kreditwirtschaft anvertraut haben. Da darf
dann nicht nur der Ruf eines Instituts entscheidend sein
für die Frage: „Wohin bringe ich mein Geld, wo ist es sicher?“, da braucht es klare und verlässliche gesetzliche
Rahmenbedingungen. Wir sprechen hier über einen
wichtigen Baustein - wir haben es eben schon gehört -,
über die dritte Säule der Bankenunion in Europa, nach
Aufsichts- und Abwicklungsregime.
Insgesamt, glaube ich, können wir eine gute Nachricht für alle Sparerinnen und Sparer verkünden: Sie
können sich auf die Sicherheit ihrer Einlagen bei deutschen Banken verlassen; dies gilt bis zu einer Grenze
von 100 000 Euro pro Person, in Ausnahmefällen - wir
haben die Beispiele eben gehört - bis 500 000 Euro. Das
bewährte deutsche System aus gesetzlichen und freiwilligen Sicherungssystemen bleibt auch in Zukunft erhalten.
Das Gesetz dient insgesamt der Umsetzung der in Europa neugefassten Einlagensicherungsrichtlinie in einem
neuen Einlagensicherungsgesetz, um hier für Europa
einheitliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Ziel des
Gesetzes ist der sichere Schutz der Einlagen von Kunden
bei Banken für den Fall, dass eine Bank zahlungsunfähig
wird. Dazu gehört ein Einlagensicherungssystem, das sicherstellt, dass die versprochenen Auszahlungen im Krisenfall auch geleistet werden können. Die Kreditinstitute
müssen dazu entsprechende Einzahlungen in einen
Fonds in Höhe von 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen
bis 2024 leisten. Gedeckte Einlagen sind alle geschützten Kundeneinlagen bei einer Bank bis zu der Garantiegrenze von 100 000 Euro.
Diese 0,8 Prozent waren ein Kompromiss, der im Trilog mit den zuständigen europäischen Gremien erzielt
worden ist. Man kann jetzt lange darüber streiten, ob
eine höhere Einzahlung nicht besser gewesen wäre - es
gab entsprechende Positionen des Europäischen Parlaments -, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass wir jetzt
in Europa eine funktionsfähige Bankenunion etabliert
haben. Die Aufsicht erfolgt durch die EZB. Der Bankenabwicklungsfonds befindet sich im Aufbau; seine Chefin
soll, so hört man, Frau König von der BaFin werden. Damit könnten in Zukunft dann auch große und systemrelevante Banken aufgefangen werden. Zusätzlich haben wir
die Eigenkapitalanforderungen an Banken deutlich verschärft. Damit ist die Stabilität des Bankensystems insgesamt deutlich verbessert worden.
({0})
Für uns Sozialdemokraten war es bei diesem Prozess
von sehr großer Bedeutung, dass die vorhandenen institutsbezogenen Sicherungssysteme der Sparkassen- und
Giroverbände und des Verbandes der Volks- und Raiffeisenbanken als Einlagensicherungssysteme europäisch
anerkannt werden. Ich bin Peter Simon, dem zuständigen
Berichterstatter im Europaparlament, sehr dankbar, dass
er sehr hart dafür gekämpft hat und dies auch erfolgreich
umsetzen konnte. Die bewährte Institutssicherung von
Sparkassen und Genossenschaftsbanken bleibt als eigener Haftungsverbund erhalten. Gerät eine Sparkasse
oder Volksbank in Schieflage, wird sie auch weiterhin
durch die Sicherungseinrichtung ihrer Verbünde aufgefangen.
Auch die beiden gesetzlichen Entschädigungseinrichtungen in Deutschland bleiben erhalten. Daneben gibt es
den freiwilligen Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken. Er soll im Falle einer Insolvenz die Entschädigung jenseits dieser 100 000 Euro
übernehmen, bis zur jeweiligen Sicherungsgrenze, die
von Bank zu Bank unterschiedlich ist und sich an einem
bestimmten Prozentsatz des Eigenkapitals bemisst.
Eine erfreuliche Nachricht gibt es für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Mit der Neuregelung der Einlagensicherung wird die stufenweise Verkürzung der Auszahlungsfrist im Krisenfall auf sieben Arbeitstage
geregelt. Wir haben ja eben von Staatssekretär Meister
gehört, dass dies in Deutschland sozusagen sofort in
Kraft treten soll. Ich glaube, das ist eine sehr gute Nachricht. Damit erhalten Einleger einen besseren und
schnelleren Zugang zu einer Entschädigung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen, es gibt
eine Reihe von guten Nachrichten. Aber auch zu diesem
Gesetzentwurf wird es Verbesserungsvorschläge geben,
die wir dann im Verlauf des Verfahrens genauer analysieren, bewerten und gegebenenfalls in das Verfahren
einbringen werden.
Insgesamt wird dieses Einlagensicherungssystem eine
weitere Säule bei der Bankenunion darstellen und damit
das Vertrauen in die Stabilität des gesamten Finanzsystems festigen. Denn eines ist ganz sicher: Herstatt darf
sich niemals wiederholen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Gerhard
Schick vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wird im Rahmen dieser Debatte deutlich, dass es jetzt
nicht um ein sehr umstrittenes Thema geht.
({0})
Auch die Fraktionen im Europäischen Parlament haben
gemeinsam an der zugrundeliegenden Richtlinie gear7808
beitet - auch unsere grüne Fraktion - und für Verbesserungen gestritten.
Es ist ein wichtiger Baustein der Bankenunion, der
hier jetzt zur Diskussion steht. Jetzt werden nach der gemeinsamen Aufsicht und der gemeinsamen Abwicklung
Regeln für eine einheitliche Einlagensicherung geschaffen, weil in den letzten Jahren deutlich geworden ist,
dass es in der Währungsunion unterschiedliches Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Bankensystems, in
die Einlagensicherungseinrichtungen sowie in die Solvenz der Mitgliedstaaten geben kann. Wir haben gesehen, dass der portugiesische Euro und der deutsche Euro
in den Augen der Sparer und Investoren teilweise nicht
den gleichen Wert hatten. Die Finanzsysteme in Europa
wurden dadurch destabilisiert, dass wir hier keine einheitlichen Regelungen haben.
Wir sollten in Deutschland auch nicht vergessen - die
Bemerkungen vom Kollegen Zöllmer, wir hätten in
Deutschland ein bewährtes System, habe ich natürlich
sehr aufmerksam registriert -: Sehr bewährt hat sich unser System nicht. Der Steuerzahler musste in Deutschland einspringen, weil im Sicherungssystem der privaten
Banken zu großzügige Versprechungen gemacht worden
waren und man deswegen die Rückendeckung des Fiskus brauchte, um beim Lehman-Bankhaus aktiv zu werden. Nachher musste bei der Hypo Real Estate endgültig
der Steuerzahler einspringen. Hinzu kommt natürlich,
dass es auch bei der öffentlich-rechtlichen Institutssicherung, bei den Landesbanken, nicht ohne Steuerzahlermittel ging. Das sollte man hier schon sagen. Es geht
auch für Deutschland darum, diese Systeme stabil und
sicher für die Zukunft aufzustellen. Wir sollten da nicht
immer nur auf die anderen zeigen, sondern auch unsere
eigenen Hausaufgaben im Blick haben.
({1})
Ich will auch bei einem anderen Punkt kurz zurückblicken. Wir hatten 2010 im Bundestag eine Diskussion,
in der dann die CDU/CSU-Fraktion gesagt hat: Da brauchen wir eine Subsidiaritätsrüge. Das sollte Europa gar
nicht machen. - Sie erinnern sich.
Zum Glück haben Sie sich damals mit Ihrem europakritischen Kurs nicht durchgesetzt.
({2})
- Ja, ja, aber es ging damals darum: Geht man damit
konfrontativ um oder nicht? Ihr Weg hat sich als Sackgasse erwiesen, und zum Glück hat sich in Europa der
andere,
({3})
von uns damals vorgeschlagene Weg durchgesetzt, auf
dem Verhandlungsweg mit den anderen darüber eine einvernehmliche Lösung zu finden. Sonst wäre man jetzt
nämlich mit der Konfliktstrategie, die Sie vorgeschlagen
haben, möglicherweise bei einem Ergebnis, das zu massiven Problemen in Deutschland geführt hätte. Zum
Glück haben Sie sich nicht durchgesetzt.
({4})
Richtig ist, dass man jetzt einen Wettbewerb der Sicherungssysteme in Europa durch einheitliche Regeln
unterbindet. Es ist zwar kein europäischer Einlagensicherungsfonds, so wie die USA einen solchen für die
gesamte USA haben; aber es gibt Regeln für die jeweiligen nationalen Systeme und auch die Berechtigung, sich
gegenseitig Kredite einzuräumen. Das macht es umso
unwahrscheinlicher, dass der Steuerzahler künftig bei
Bankenpleiten für die Sicherungssysteme einspringen
muss.
Es ist auch deutlich geworden, dass wir beim Thema
Institutssicherungssysteme eine parteiübergreifende Regelung in Europa durchsetzen konnten. Wir begrüßen
diese Richtlinie also grundsätzlich.
Wichtig war uns dabei, dass die Beitragshöhe der einzelnen Institute das Risikoprofil wirklich abbildet und
dass nicht kleine, risikoarme Institute relativ mehr zahlen müssen, als es ihrem Risiko entspricht. Es ist auch
gut, dass 70 Prozent der Beiträge ex ante gezahlt werden
müssen und ein Teil durch Zahlungsverpflichtungen abgedeckt wird. Das erhöht die Glaubwürdigkeit des Sicherungssystems, weil in Krisenzeiten Geld eben bereits
da ist.
Wichtig ist auch - das ist schon genannt worden -,
dass es für die Verbraucherinnen und Verbraucher dadurch eine Verbesserung gibt, dass sie nicht mehr extra
einen Antrag stellen müssen und dass innerhalb von sieben Tagen ausgezahlt werden muss. Das ist sicher eine
wichtige Verbesserung.
Ich will noch kurz auf zwei Themen eingehen, die mit
der Einlagensicherung verbunden sind und bei denen wir
noch Hausaufgaben zu erledigen haben:
Das erste Thema bezeichnen Experten mit dem Begriff „Asset Encumbrance“. Diesen Begriff muss man
vielleicht nicht kennen, aber das Problem ist unmittelbar
einleuchtend: Einlagen sind für die Banken eine sehr
günstige Form der Refinanzierung. Wenn sie geschützt
sind, müssen die Banken das Risiko nicht selber tragen.
Deswegen gibt es das Problem, dass Risiken auf die Einlagensicherung übertragen werden und damit praktisch
eine neue Möglichkeit geschaffen wird, Risiken auf die
Allgemeinheit abzuwälzen. Dieses Problem ist in anderen Ländern schon gesetzlich gelöst worden, bei uns
noch nicht. Hier besteht Handlungsbedarf.
Zum Zweiten besteht Handlungsbedarf bezüglich der
risikoadäquaten Bepreisung. Hiermit sind wir beim
Thema Trennbankensystem. Gibt es eine Trennung zwischen dem gesicherten Einlagengeschäft auf der einen
Seite und dem Investmentbanking auf der anderen Seite?
({5})
Auch hier ist nach wie vor Handlungsbedarf gegeben
und die Bundesregierung gefordert, sich auch auf europäischer Ebene für das Richtige einzusetzen.
Danke schön.
({6})
Als nächster Redner hat Alexander Radwan von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Wir haben hier heute - das wurde ja schon von
allen Rednern gesagt - eine große Harmonie. Das zeigt,
dass der Entwurf der Bundesregierung
({0})
in die richtige Richtung zielt.
({1})
- Herr Schick, zum Thema Europa werde ich noch kommen. Dort war ich eine Zeit lang, und wir können uns
hier sicherlich gegenseitig gut ergänzen. Das eine oder
andere, was aus grüner Sicht gerade lobend erwähnt
wurde - es ging um die Subsidiaritätsrüge und die Antwort auf die Frage, wie man mit der Institutssicherung
und den kleinen Banken umgeht -, könnte man vielleicht
noch vertiefen - heute oder auch später.
Wir alle haben in unseren Reden mit der Historie angefangen. Der Kollege Zöllmer hat das Thema Herstatt
angesprochen, und der Kollege Troost die damalige Aussage von Frau Merkel. Ich gehe jetzt noch einen Schritt
zurück, nämlich zur Bankenkrise von 1931; ich weiß
nicht, ob irgendeiner von Ihnen persönlich dabei war.
({2})
Jeder, der in die Geschichtsbücher hineinschaut, wird
Bilder von den Schlangen vor den Banken sehen.
Den Herstatt-Fall, wie erwähnt, und die Folgen des
Zusammenbruchs des Finanzunternehmens Northern
Rock in Großbritannien haben wir alle noch bildhaft vor
Augen. Am 5. Oktober 2008 - ich konkretisiere das
jetzt, Herr Troost; Sie hatten das ja erwähnt - sind Kanzlerin Merkel und der damalige Minister Steinbrück während der Hypo-Real-Estate-Krise an die Öffentlichkeit
gegangen und haben erklärt, die Spareinlagen seien sicher. Das war eine politische Aktion, um die Banken und
den Finanzmarkt zu stabilisieren und einen Zusammenbruch der Finanzmärkte über Deutschland hinaus zu verhindern. Ich erinnere zum Beispiel an die Geschehnisse
in Bulgarien.
Wir sind heute beim letzten Baustein der Bankenunion angelangt. Wir hatten nach der Finanzmarktkrise
auf internationaler Ebene, auf europäischer Ebene und
auf nationaler Ebene entsprechende Regularien geschaffen, die jetzt umgesetzt werden. Seit November letzten
Jahres haben wir die gemeinsame Aufsicht unmittelbar
bei der Europäischen Zentralbank und für die kleinen
Banken bei den nationalen Aufsehern installiert, und
zwar so, dass diese Regeln auch angewendet werden.
Wir haben erst vor kurzem die gemeinsame Abwicklung beraten und auf deutscher Ebene umgesetzt. Hier
haben wir dann einen gemeinsamen europäischen Fonds
kreiert, dessen Mittel bei der Abwicklung zur Verfügung
stehen, um den Steuerzahler zu entlasten oder ganz außen vor zu lassen.
Heute beraten wir in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes über die Einlagensicherung, der auch den
Aspekt des Verbraucherschutzes stark berücksichtigt.
Dabei möchte ich betonen: Es ist gut, dass wir, anders
als bei der Abwicklung, zwar europäische Regeln haben,
aber nicht einen europäischen Fonds, also keine grenzüberschreitende europäische Haftung. Jeder Staat soll
selber dafür sorgen, dass er für seine Banken Verantwortung übernimmt.
({3})
Warum brauchen wir überhaupt eine europäische
Richtlinie? Erinnern wir uns: Wo kommen wir her? Vorher galt der Grundsatz der Mindestharmonisierung. Das
heißt, es wurden bestimmte Zielvorgaben genannt. Aber
die Beantwortung der Fragen, wessen Einlagen geschützt werden und wie das Ganze finanziert wird, unterlag den Mitgliedstaaten. Darüber konnten sie selber
entscheiden.
Bei grenzüberschreitend tätigen Unternehmen - die
Deutsche Bank wurde genannt; ich nenne hier einmal die
UniCredit oder die BNP Paribas - wusste am Schluss
keiner, was im Fall einer Abwicklung unter anderem mit
den Einlagen letztendlich passiert. Darum ist die hier
vorliegende Richtlinie, die eine Maximalharmonisierung
beinhaltet, der richtige Ansatz. Maximalharmonisierung
heißt: gleiche Regeln für alle Mitgliedstaaten, aber eben
keine Vergemeinschaftung der Haftung. Das ist der richtige Weg.
Die Regelungen zur Deckungssumme und zu den
Auszahlungsfristen sind bereits angesprochen worden
und führen zu einem verbesserten Verbraucherschutz.
Die Sicherung - das wurde bereits angesprochen - wird
auf 100 000 Euro erhöht. Die Auszahlungsfrist wird auf
Vorschlag der Bundesregierung von drei Monaten auf
sieben Arbeitstage verkürzt. Die europäische Richtlinie
sieht hier einen größeren Spielraum vor. Ich denke, im
Rahmen der Beratungen werden wir darüber diskutieren,
wo es sinnvoll ist, über die Richtlinie hinauszugehen
- da gibt es Punkte, an die wir uns nach unserer Ansicht
nicht eins zu eins halten müssen -, und wo wir den
Spielraum nicht nutzen wollen.
Ich bewerte den erhöhten Schutz bis zu einer Summe
von 500 000 Euro für ein halbes Jahr als sehr positiv.
Dies gilt dann, wenn jemand höhere Einnahmen hatte,
zum Beispiel aus dem Verkauf einer Immobilie - das
sind schnell über 100 000 Euro -, oder sich jemand seine
Rentenansprüche auszahlen lässt. Innerhalb einer gewissen Frist ist es sinnvoll und notwendig, eine höhere
Grenze zuzulassen, nämlich bis zu 500 000 Euro.
Ein Antrag auf Entschädigung ist zukünftig nicht
mehr erforderlich. Die Verjährungsfrist wird entsprechend verlängert. Nach zehn Jahren wollen wir 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen erreicht haben. Auch die
Informationspflichten werden wir prüfen und uns anschauen, inwieweit sie auf der einen Seite den Informationsbedürfnissen der Verbraucher entgegenkommen
und auf der anderen Seite so gestaltet werden, dass der
bürokratische Aufwand nicht wie bei anderen Gesetzen,
die in diesem Hause zurzeit heftig diskutiert werden, die
Bürokratie insgesamt exponentiell nach oben führt.
Wichtig ist mir, dass das ganze System bei uns auf nationaler Ebene und auf europäischer Ebene offen ist.
Was wir nicht brauchen, ist, dass die europäische oder
nationale Gesetzgebung bestimmte Säulen oder Systeme
bevorzugt. Vielmehr soll die Institutssicherung gleichberechtigt neben andere Sicherungssysteme, zum Beispiel
jenes der privaten Banken, gesetzt werden, sodass es
private freiwillige Einrichtungen und öffentliche Einrichtungen gibt. Beides gleichberechtigt nebeneinanderzustellen, ist ein wichtiger Schritt. Ich danke der Bundesregierung, dass sie dieses System entsprechend
implementiert und umgesetzt hat.
({4})
Wir haben es geschafft, die Regulierung und die Aufsicht zu europäisieren und in der nationalen Umsetzung
voranzubringen, um Sicherheit und Vertrauen in die
Märkte und insbesondere beim Verbraucher zu erreichen. Dafür ist das Gesetz ein richtiger und wichtiger
Schritt.
Was das Verfahren angeht, ist als Nächstes die Anhörung vorgesehen. Wir werden redaktionelle Fragen zu
diskutieren haben. Mir ist ein Punkt in dem ganzen System besonders wichtig, nämlich die Frage, in welchem
Rahmen die EBA Kompetenzen bekommt. Kollege
Troost - Sie werden heute ein paar Mal von mir zitiert;
seien Sie nicht irritiert -, Sie haben von vier Wochen gesprochen, aber ich gehe von einem längeren Zeitraum
aus.
({5})
- Ja, aber nach meiner Einschätzung wird die EBA leider Gottes nicht nur bei diesen Punkten eine Rolle spielen. Die Frage ist, welche Kompetenzen auf Level 2 vorgesehen sind.
Sie haben die Methode der Errechnung der Risikoadäquanz angesprochen. Dabei müssen wir als Gesetzgeber aufpassen, dass das, was wir auf der einen Seite loben, zum Beispiel die Institutssicherung, nicht auf der
anderen Seite durch europäische Aufseher konterkariert
wird. Wir haben eine lange Liste von Themen, die dort
abgearbeitet werden, und dabei sehe ich uns alle als Parlamentarier in der Pflicht, das zu kontrollieren und entsprechend den Finger daraufzulegen, wenn sie zu weit
gehen.
Wir sind in der Verantwortung, die nationale Umsetzung so anzugehen, dass es im Wettbewerb zwischen
den Mitgliedstaaten nicht zu einer Schieflage kommt, indem auf der einen Seite härter reguliert wird als auf der
anderen Seite. Wir werden auf das Verhältnis zwischen
Fonds und Banken zum Beispiel beim Wertpapierhandel
achten müssen: Ist dort die Trennung richtig, oder müssen wir entsprechend nachjustieren? Ein großes Paket
- ich nenne hier Regulierung, Aufsicht, Abwicklung und
Einlagensicherung - haben wir bereits abgearbeitet.
Es wurden richtigerweise einige Punkte angesprochen, die in nächster Zeit auf der Agenda stehen. Aber
ich bin der Meinung, dass beim Thema Trennbanken die
deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag
im Lead sind. Wir haben in Deutschland bereits ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Ich denke, wir sind
auch diejenigen, die dafür sorgen, dass es auf europäischer Ebene umgesetzt wird.
Aber wir müssen darauf achten, wie die Regulierung
auf europäischer Ebene erfolgt und wie sie umgesetzt
wird. Deshalb liegt mein Fokus nicht nur darauf, wie es
in Deutschland umgesetzt wird. Das ist notwendig und
richtig, und es ist unsere Aufgabe. Aber ich sehe es auch
als unsere Aufgabe, nachzufragen, wie die europäischen
Regeln in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union umgesetzt und angewendet werden. Haben wir
letztendlich die gleiche Wettbewerbslage? Kommen die
anderen entsprechend nach?
Insofern, denke ich, werden wir in der nächsten Zeit
noch genügend zu tun haben, aber nicht nur mit Blick
auf den deutschen Regulierer, sondern auch auf den europäischen.
Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Christian
Petry für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Spareinlagen sind sicher. Das könnte - in Abwandlung eines berühmten Spruches - auch von Norbert Blüm stammen.
Es hört sich zumindest genauso griffig an, und es ist das
Ziel vieler Maßnahmen, die schon genannt wurden: Die
Spareinlagen werden durch die Gesetzesinitiative, die
wir heute beraten, sicherer.
Seit 1994 existieren in der Europäischen Union Mindestanforderungen an die Einlagensicherung. Die Vorgeschichte ist schon angesprochen worden: Der ZusamChristian Petry
menbruch der Herstatt-Bank 1974 hatte zur Folge, dass
1976 ein Einlagensicherungsfonds eingerichtet wurde,
damit das Risiko abgemildert wird und so etwas in der
Form nicht mehr stattfinden kann.
Aber die globale Finanzmarktkrise hat gezeigt, dass
dies nicht ausreicht und dass für die 8 300 Banken in Europa eine verbesserte, einheitliche Regelung in diesem
Bereich notwendig war. Einlagensicherungssysteme
müssen die Angst vor Verlust nehmen. Das wird hiermit
erreicht.
Der Verbraucherschutz steht im Mittelpunkt. Das ist
sozialdemokratische Politik, die man unterstützen kann.
Der Verbraucherschutz hat einen hohen Stellenwert in
diesem Haus.
({0})
Die Harmonisierung der europäischen Einlagensicherung soll verhindern, dass der Sparer in bestimmten Situationen seine Ersparnisse verliert und sie vielleicht
überhastet abzieht. Die Bankeinlagen werden - das
wurde mehrfach angesprochen - bis zu einem Betrag
von 100 000 Euro durch die Richtlinienumsetzung geschützt. Auch die in besonderen Fällen geltende
500 000-Euro-Grenze wurde genannt. Das ist sehr positiv zu bewerten. Die Bankkunden werden dadurch besser
geschützt.
In Deutschland gilt dieses Einlagensicherungssystem
seit Jahren. Die Besonderheiten, die institutsbezogenen
Sicherungssysteme, gelten weiterhin. Das ist ein großer
Erfolg, und ich bin froh, dass die Richtlinie dies für unsere Sparkassen, Landesbanken, Genossenschaftsbanken
und Landesbausparkassen so vorsieht. Denn diese Sicherungssysteme haben sich bewährt.
Die Höhe des Fonds und der Aufbau bis 2024 wurden
schon angesprochen, genauso wie die Bewertung nach
Größe und Risiko. Das alles findet unsere Unterstützung.
Das ist ein guter Weg, um Verbesserungen im Kundenschutz zu erzielen. Bislang wurden Einlagen bis 100 000
Euro innerhalb von 20 Werktagen zurückgezahlt. Nun
erfolgt eine Rückzahlung antragslos innerhalb von sieben Arbeitstagen. Auch das stellt eine Stärkung des
Verbraucherschutzes dar. Eben wurde zudem kurz angedeutet, dass die länderübergreifende Abwicklung verbessert wurde. Der Schutz des deutschen Kunden einer ausländischen Bank wird dadurch gestärkt und verbessert.
Das ist ebenfalls ein erwähnenswerter Vorteil. Die EURichtlinie kann also auch deutschen Kunden ausländischer Banken weiterhelfen. Das schafft Vertrauen.
Das alles ist im europäischen Kontext zu sehen. Die
Bankenunion, die Aufsichts- und Abwicklungsregime,
die bereits installiert sind oder noch installiert werden,
Restrukturierungsfonds - zukünftige Abwicklungsmaßnahmen werden von den Banken selbst finanziert - und
die Haftungskaskade, all das sind viele Schritte, die nach
der Krise im Finanzwesen dazu geführt haben, dass die
Verursacher stärker in die Verantwortung genommen
werden und dass der Verbraucher, der Anleger, der Sparer stärker geschützt wird.
({1})
Die Harmonisierung der Einlagensicherungssysteme
ist somit ein wichtiger Bestandteil des europäischen
Maßnahmenpakets, das die Banken in Europa krisenfester machen wird. Dies ist also ein weiterer wichtiger
Schritt hin zu einem verbesserten Anlegerschutz im
Finanzbereich. Das stärkt das notwendige Vertrauen in
den europäischen Bankensektor. Die Spareinlagen sind
sicher.
Glück auf!
({2})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Matthias
Hauer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute diskutieren wir in erster Lesung über die
Umsetzung der Richtlinie zur Einlagensicherung. Wir
schützen damit Sparer in Deutschland noch besser vor
dem Verlust ihres Ersparten. Die Systeme zur Einlagensicherung werden finanziell besser ausgestattet. Das Erstattungsverfahren wird unbürokratischer, kundenfreundlicher und transparenter.
Gut ausgestattete und funktionierende Einlagensicherungssysteme sind ein wesentlicher Faktor, um das Vertrauen in das Bankensystem zu stärken. Sie vermeiden
im Krisenfall einen massiven Abzug von Spareinlagen
und tragen somit dazu bei, dass sich eine Krise nicht
weiter verschärft. In England standen die Menschen
2007 vor Bankschaltern Schlange, um Bargeld abzuheben. In der Schweiz musste eine Bank ein Jahr später innerhalb kürzester Zeit 25 Milliarden Schweizer Franken
auszahlen. Wir müssen also nicht weit zurückschauen einige andere Beispiele sind schon genannt worden -,
um einen Eindruck davon zu gewinnen, was fehlendes
Vertrauen in die finanzielle Leistungsfähigkeit von Banken bewirken kann.
Deutschland hat schon lange ein gutes System der
Einlagensicherung. Dieses System hat zur Besonnenheit
der Bevölkerung in Deutschland beim Umgang mit der
Finanzkrise beigetragen. Auch die klaren Worte von
Bundeskanzlerin Merkel und dem damaligen Finanzminister Steinbrück im Jahre 2008, nämlich die Garantie, dass die Einlagen der Sparer in Deutschland sicher
sind, haben Überreaktionen verhindert und waren völlig
richtig.
({0})
Durch die Richtlinie werden nun die Einlagensicherungssysteme EU-weit harmonisiert, und es wird ein einheitliches Schutzniveau für alle Sparer in der EU geschaffen, egal ob es sich um einen Sparer in meinem
Wahlkreis in Essen oder um einen Sparer im EU-Ausland handelt.
({1})
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, bleiben die
etablierten und historisch gewachsenen Strukturen der
deutschen Einlagensicherung erhalten. Dafür hat sich die
CDU/CSU-Fraktion schon in der Vergangenheit kontinuierlich eingesetzt. Die drei Säulen aus den gesetzlichen Entschädigungseinrichtungen, den freiwilligen
Einlagensicherungsfonds der öffentlichen und privaten
Banken und den institutssichernden Einrichtungen des
Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes sowie des
Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und
Raiffeisenbanken sind in Europa einzigartig und haben
sich bewährt.
({2})
Auch künftig haftet die deutsche Einlagensicherung
ausschließlich für Einlagen in Deutschland. Bei Banken
im EU-Ausland greift jeweils das nationale Einlagensicherungssystem. Alle EU-Länder sind fortan verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihre nationalen Einlagensicherungssysteme innerhalb einer Frist von zehn Jahren ein
Mindestvermögen in Höhe von 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen ihrer Kreditinstitute ansparen. Mit der CDU
und der CSU wird es auch künftig kein europäisches
System der Einlagensicherung geben, das eine Vergemeinschaftung der Haftung vorsieht.
({3})
Die Einlagensicherung hat sich für die Sparer in
Deutschland schon in den letzten Jahren deutlich verbessert, von zunächst 20 000 Euro über 50 000 Euro auf
nunmehr 100 000 Euro. Auch die frühere Selbstbeteiligung der Sparer in Höhe von 10 Prozent ist 2009 entfallen. Schon jetzt ist also von der Einlagensicherung geschützt, wer bis zu 100 000 Euro Guthaben hat: auf
seinem Sparbuch, auf seinem Girokonto, auf seinem
Festgeldkonto, auf seinem Tagesgeldkonto, Banksparplan oder Sparbrief.
Ein Girokonto ist heute die Voraussetzung dafür, um
überhaupt am wirtschaftlichen Leben teilnehmen zu
können. Wer ein solches Konto eröffnet, der verbindet
damit nicht automatisch, dass er Gläubiger der Bank
wird und dadurch auch ein Haftungsrisiko trägt. Das ist
vielen Menschen gar nicht bewusst. Gerade vor diesem
Hintergrund ist die gesetzliche Einlagensicherung ein
wichtiges Instrument zum Schutz der Sparer. Sie befreit
den Kontoinhaber bis zur Höhe der Sicherungsgrenze
von diesen Haftungsrisiken. Künftig wird das Geld der
Sparer also noch besser geschützt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Sicherungsgrenze von 100 000 Euro beibehalten. Für einige
Bereiche soll sie sogar deutlich auf 500 000 Euro angehoben werden. Es gibt nun einmal bestimmte Ereignisse,
da werden hohe Beträge üblicherweise auf einmal auf
ein Konto überwiesen. Da wären zum Beispiel der Erlös
aus dem Verkauf einer Eigentumswohnung oder eines
Hauses, die Zahlung zugunsten eines Arbeitnehmers aus
einem Sozialplan, die Versicherungsleistung nach einem
schweren Unfall oder vielleicht auch die Auszahlung einer betrieblichen Altersversorgung zu nennen.
Wer solche hohen, meist einmaligen Zahlungen erhält, die über die Sicherungsgrenze der Einlagensicherung hinausgehen, der soll die Möglichkeit erhalten, sein
Geld in Ruhe neu anzulegen. Dafür bekommt der Kunde
nach dem Gesetzentwurf nunmehr sechs Monate Zeit, in
denen die höhere Sicherungsgrenze für solche bestimmten Ereignisse gilt. Zudem werden die Sparer künftig im
Schadensfall schneller und unbürokratischer an ihr Geld
kommen. Die Entschädigung soll nicht wie bisher nach
20 Tagen, sondern schon nach sieben Arbeitstagen gezahlt werden, künftig ohne einen Antrag stellen zu müssen.
Auch die Transparenz wird erhöht. Die Kreditinstitute
werden nun verpflichtet, ihre Kunden besser über die
Einlagensicherung und vor allem über das Entschädigungsverfahren zu informieren. Zudem muss der Kunde
in Zukunft rechtzeitig über einen Wechsel des Einlagensicherungssystems informiert werden, damit er selbst
entscheiden kann, ob er seine Einlagen bei dem Kreditinstitut belässt oder auf ein anderes überträgt.
Abschließend bleibt festzustellen, dass unser gutes
und funktionierendes System der Einlagensicherung in
Deutschland durch die Umsetzung dieser Richtlinie noch
besser wird. Egal ob in wirtschaftlich besseren oder
schlechteren Zeiten - die Menschen in Deutschland können darauf vertrauen, dass ihre Spareinlagen geschützt
sind.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt
Dr. Carsten Sieling von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
zum Schluss dieser Debatte noch einmal darauf aufmerksam machen, dass wir mit der Einlagensicherung
einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Finanzsystems leisten, aber natürlich auch dazu, dass die Menschen, die ihr Geld zur Bank bringen, dieses wirklich sicher haben. Das ist ein Gebot der Fairness.
Dieses Gebot der Fairness beinhaltet mehrere Punkte.
Ein Punkt, der uns als Sozialdemokraten wichtig war, ist,
dass dieses Geld wirklich in allen Instituten sicher ist,
und dass dabei beachtet wird, dass insbesondere die
Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland
schon eine eigene Institutssicherung haben. Das zeichnet
uns gegenüber vielen anderen Ländern aus. Darum war
uns als Sozialdemokraten die besondere und faire Behandlung dieser Institute wichtig.
({0})
Weil hier die meisten Punkte bereits ausgeführt worden sind, will ich sagen, dass wir eine Reihe weiterer
Aufgaben haben werden, um dieses Ziel der Stabilität
des Finanzsektors zu gewährleisten. Diese haben wir uns
als Koalition vorgenommen.
Ich will zunächst ansprechen, dass es einfach notwendig ist, dafür zu sorgen, dass die Gelder, die die Menschen zu den Banken und Sparkassen bringen, nicht für
riskante Geschäfte verwendet werden. Wir sind sehr dafür, dass das Investmentgeschäft und das Einlagengeschäft, also das normale Kundengeschäft, getrennt werden. Wir haben deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart
- das halte ich für einen wichtigen Schritt -, dass entsprechend den weiter gehenden europäischen Vorgaben
auf Grundlage des Vorschlages des finnischen Zentralbankchefs Liikanen eine Umsetzung durchgeführt wird,
die wirklich zu einer Trennung führt und damit Sicherheit schafft. Auch das ist uns ein wichtiges Anliegen.
({1})
Ein weiteres Thema ist hier in einigen Reden bereits
angesprochen worden, und wir stimmen dem sehr zu: Es
gibt viele Menschen in diesem Land, die kein Konto haben und auch keinen Zugang zu Konten haben. Auch
deshalb haben wir vereinbart, jedermann die Einrichtung
eines Girokontos zu ermöglichen. Das werden wir bald
hier im Hause debattieren. Auch das ist ein wichtiger
Bereich im Zusammenhang mit der Stabilisierung des
Finanzsektors.
({2})
Lassen Sie mich als Allerletztes sagen, quasi als Ausblick auf das, was wir vorhaben und was wir zu tun haben: Die Finanzkrise hat den Steuerzahler viel Geld gekostet. Die Finanzkrise war eine Belastung und hat auch
deshalb Risiken hervorgerufen, weil Geld immer wieder
spekulativ verwendet wurde. Das wird man nicht einfach
abstellen können; aber es gibt Instrumente, um dagegen
vorzugehen, etwa die Besteuerung bestimmter Aktivitäten im Rahmen einer Finanztransaktionsteuer auf europäischer Ebene. Diese Steuer würde dafür sorgen, dass
Spekulationen reduziert werden. Ich bin ganz optimistisch. Ihre Einführung steht in unserem Koalitionsvertrag; uns Sozialdemokraten war das immer eine
Herzensangelegenheit. Die Meldungen der letzten Tage
besagen, dass wir weiterkommen. Die Finanztransaktionsteuer stabilisiert die Finanzmärkte und ist deshalb
ein guter Partner der Einlagensicherung. Ich freue mich
auf die Debatte und die Beratungen im Bundestag und in
den Ausschüssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Interfraktionell wird die Überweisung
des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/3786 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkt 2 auf:
22 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Elfter Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik
Drucksache 18/3494
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesprogramm Modellvorhaben Regionale
Auslastung von Müllverbrennungsanlagen
unter Integration von Klärschlamm auflegen
Drucksache 18/3048
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
15. Mai 2014 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz- und Zollbehörden
Drucksache 18/3696
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
Drucksache 18/3851
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3851,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/3696 anzunehmen. Ich möchte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 23 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 139 zu Petitionen
Drucksache 18/3738
Wer stimmt für die Sammelübersicht 139? - Alle.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 139 einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 140 zu Petitionen
Drucksache 18/3739
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Die Koalition. Wer stimmt dagegen? - Die Linke. Wer enthält
sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammelübersicht 140 mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 141 zu Petitionen
Drucksache 18/3740
Wer stimmt dafür? - Alle. Trotzdem: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? - Auch niemand.
Damit ist die Sammelübersicht 141 einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 142 zu Petitionen
Drucksache 18/3741
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 142 mit den Stimmen der Koalition und der
Linken bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 143 zu Petitionen
Drucksache 18/3742
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand. Dann ist die Sammelübersicht 143
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Opposition angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({8})
Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Drucksache 18/3864
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Alle.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? Auch niemand. Damit ist diese Beschlussempfehlung
einstimmig angenommen worden.
Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 6:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region KurdistanIrak und der irakischen Streitkräfte
Drucksachen 18/3561, 18/3857
- Bericht des Haushaltsausschusses ({10})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3858
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort.
({11})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, es ist ein Hinweis, den man am
Anfang einer Debatte geben muss: dass die Bekämpfung
von ISIS, also des „Islamischen Staats“, auch eine militärische Herausforderung ist. Das, was wir in den letzten
Stunden und Tagen gehört haben, nämlich dass es offensichtlich gelungen ist, Kobane zu befreien und ISIS auch
in diesem Gebiet zurückzudrängen, deutet darauf hin,
dass diese Auseinandersetzung militärisch geführt werden muss.
Wir wissen auch, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung gerade in diesem Gebiet gibt. Deswegen ist es
sehr naheliegend, dass das deutsche Engagement gerade
im kurdischen Teil des Irak stattfindet. Wenn Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sich
ehrlich machen würden, würden Sie es an dieser Stelle
auch einmal sagen. Sie sind in diesem Gebiet unterwegs
- darauf weisen Sie ja oft hin -, wie wir auch. Ohne die
Begleitung oder zumindest ohne die Rahmenbedingungen, die offensichtlich auch durch die Peschmerga und
andere hergestellt werden, würden Sie sich gar nicht in
dieses Gebiet wagen können. Ich finde, das zu sagen, gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu.
({0})
Es ist eine militärische Herausforderung. Aber, liebe
Kolleginnen und Kollegen, es ist genauso eine politische
Herausforderung; das ist wahrscheinlich noch wichtiger,
weil das nämlich langfristig trägt. Letztlich ist in dem
Gebiet, über das wir bei dieser Ausbildungsmission
sprechen, ein regionaler Ansatz geboten; nur so wird
dieser Konflikt am Ende zu lösen sein.
Ich würde gern daran erinnern, dass ISIS offensichtlich auch deshalb so viel Gefolgschaft hat, weil es in den
letzten Jahren Staatsversagen in der Region gegeben hat,
weil die Regierungen nicht in der Lage gewesen sind,
ein Minimalangebot für die Menschen bereitzuhalten.
Korruption und vieles andere haben dazu geführt, dass
ISIS eine Legitimation von der Bevölkerung bekommt.
Das ist eine politische Auseinandersetzung, in der wir
von Deutschland aus durchaus sagen müssen: Es besteht
eine Verpflichtung der dortigen politischen Akteure, zu
einer guten Regierungsführung zu kommen. Der damalige jordanische Kronprinz, Prinz Hassan, hat ja darauf
hingewiesen, dass genau das letztlich das Erfolgsrezept
für die Region ist. Deswegen glaube ich: „ISIS bekämpfen“ umfasst mehr als nur den militärischen Ansatz, aber
ohne den militärischen Ansatz wird es keine Voraussetzungen für politische Lösungen geben.
({1})
Deswegen müssen wir auch von dieser Stelle aus sagen: Natürlich müssen vornehmlich aus der Region Lösungen aufgezeigt werden, müssen sich die auf den Weg
machen, die hoffentlich eine andere Regierungsführung
zeigen. In der Tat müssen wir darauf achten, dass ISIS
nicht mehr diese Gefolgschaft bekommt. Wir wissen,
sunnitische Stämme, auch restliche Teile der Baath-Partei, sind gerade in diese Gruppierungen mit aufgenommen worden, und nur eine Einheitsregierung im Irak
wird es schaffen, diese Kräfte aus der ISIS wieder herauszulösen.
Der Außenminister und sein Haus haben letztlich immer wieder darauf hingewiesen: Insbesondere geht es
um die Delegitimierung des Kalifats. Ich finde, das ist
einer der wichtigen Bestandteile, zu dem man immer
wieder Fragen an den Irak, insbesondere aber an SaudiArabien, richten muss, da offensichtlich von dort eine
gewisse Legitimierung kommt.
Deswegen glaube ich, der Ansatz vonseiten der Bundesregierung und auch der europäischen Partner, dass
die Unterstützung Deutschlands nicht bedingungslos ist,
war richtig gewählt. Voraussetzung ist, dass es in Bagdad zu einer anderen Regierung gekommen ist und dass
diese mit dafür gesorgt hat, dass religiöse und ethnische
Teile mit an den Tisch geholt und in die Regierungsführung einbezogen werden.
Wir sehen ja auch Fortschritte. Wir sehen zum Beispiel die Verwirklichung des Ölgesetzes und die Unterstützung des kurdischen Haushaltes vonseiten der Zentralregierung. Das schafft nach unserem Dafürhalten
möglicherweise ein Umfeld, in dem ein besseres Regieren möglich ist, um so ISIS die Legitimation zu entziehen.
Dazu kommt der zweite Punkt. Auch hier bin ich der
Bundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin, aber
auch dem Außenministerium, sehr dankbar, dass sie dies
immer wieder in Angriff genommen und gesagt hat: Die
regionalen Akteure wie der Iran, wie Saudi-Arabien, wie
Katar und die Türkei haben die Verpflichtung, ein regionales Sicherheitsumfeld zu schaffen, in dem möglicherweise Entwicklung stattfinden kann. Ich glaube, der Iran
ist nicht nur ein Teil des Problems, sondern er bietet
auch eine Möglichkeit, um die Probleme mit lösen zu
können. Daher glaube ich, wir müssen ihn viel stärker
fordern und einbeziehen; und das gilt nicht nur für den
Irak, sondern das gilt genauso für Syrien.
Daher bin ich sehr dankbar, dass zum Beispiel der Beauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen
nicht nur Vorschläge für lokale Waffenstillstände oder
Waffenruhen in Syrien gemacht hat, sondern dass er versucht, die Probleme, die sich daraus ergeben, auch mit
diesen anderen Staaten zu besprechen, und versucht,
dass auch sie möglicherweise im Rahmen von Genf III
am Tisch Platz nehmen, um zu einer Problemlösung zu
kommen.
Meine Damen und Herren, ich würde gern zu dem
rechtlichen Rahmen dieses Mandats kommen, weil wir
in den letzten Tagen und Stunden immer wieder gehört
haben, dass der eine oder andere Zweifel besteht. Erstens
bin ich der Bundesregierung dankbar, dass sie dieses
Parlament im Zweifel mit in die Mandatierung einbezieht. Ich finde, wir sollten es über alle Fraktionen hinweg loben, dass die Bundesregierung den Bundestag
dennoch einbindet - nicht nur in die politische Diskussion, sondern in die Mandatierung -, auch wenn im
Zweifelsfall vielleicht doch kein Mandat erforderlich ist.
Allein die Aufgabe und die Größenordnung machen es
notwendig, dass wir heute als Deutscher Bundestag darüber entscheiden.
({2})
Der zweite Punkt: Die Frage der Mandatsklarheit
finde ich in dem Antrag der Bundesregierung sehr überzeugend ausgeführt. Es ist eine überschaubare Aufgabe.
Sie wird mit verlässlichen Partnern durchgeführt. Es
werden keine Strukturen geschaffen, die selbstbindend
sind oder sozusagen zeitlos wirken werden. Vielmehr
stehen wir insbesondere vor der Möglichkeit, die Führung relativ schnell, nach sechs Monaten, an andere Partner zu übergeben. Gestern hat der Bundesaußenminister
im Auswärtigen Ausschuss von Italien gesprochen. Ich
finde es richtig, dass zum Beispiel die Bundeswehr die
Peschmerga an defensiven Waffensystemen ausbildet.
Die Frage der Minenräumung und andere Dinge spielen
für die Menschen vor Ort die entscheidende Rolle. Wenn
da die Bundeswehr Hilfestellung geben kann, sollte sie
es tun.
Die Beschlüsse der Vereinten Nationen sind klar; sie
müssen aber im Zusammenhang gesehen werden. Ich
vermisse, dass neben der Resolution 2170 zu wenig auf
die Resolutionen 2169 und 2178 eingegangen wird; denn
diese bieten den Rahmen für ein kollektives Sicherheitssystem, in dem es möglich ist, die Aufgabe an die Mitgliedsnationen zu überweisen.
({3})
- Sie stehen im Mandat. - Deswegen bin ich der Meinung, dass Ihr Vorwurf nicht stimmt, es sei ein Novum,
was heute vonseiten des Deutschen Bundestages möglicherweise beschlossen wird. Es gab bereits andere Mandatstexte - da ging es um AFISMA und andere Einsätze -,
die keine unmittelbare Folgewirkung hatten. Wenn Ihre
Kritik glaubwürdig sein soll, dann müssen Sie auch die
damaligen Beschlüsse kritisieren. Auch das gehört zu einer ehrlichen Debatte mit dazu.
({4})
- Sie können fragen oder gleich in der Debatte noch etwas dazu sagen.
Es gibt Ratschläge, die besagen, dass wir den europäischen Rahmen suchen müssen. Das mag sein. Aber der
Außenminister hat gestern im Auswärtigen Ausschuss
angedeutet - auch das sollten wir der Öffentlichkeit
deutlich sagen -, wie schwierig dieser Prozess mit den
europäischen Partnern ist. Das zu erwähnen, gehört zur
Ehrlichkeit mit dazu; denn unterschiedliche Regierungen
verknüpfen unterschiedliche Ziele damit.
Sie diskutieren ja rechtlich; entsprechende Aussagen
hat der Kollege Schmidt in der ersten Beratung gemacht.
Dann müssen Sie aber auch das Lissabon-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts hier zitieren. Aus Sicht des
Bundesverfassungsgerichts ist Europa bis zum jetzigen
Zeitpunkt kein System kollektiver Sicherheit. Sie verlangen immer, dass wir alles tun müssen, um an dieser
Stelle rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Ich glaube,
Sie machen sich mit dieser Forderung nur einen schlanken Fuß, damit Sie an diesem Mandat heute nicht mitwirken müssen.
({5})
Was die Bundesregierung heute vorgelegt hat, ist eine
rechtlich einwandfreie Herleitung. Sie bietet auch Möglichkeiten der Mitberatung. Letztlich besteht das System
auch darin, dass uns eine legitime Regierung und das irakische Parlament gebeten haben, an dieser Ausbildung
mitzuwirken.
Der Beitrag Deutschlands ist in der Tat nicht überragend. Aber er ist das, was wir zurzeit liefern können. Ich
finde, er ist auch richtig begründet. Wir sollten uns in
dieser Debatte selbstbewusst klarmachen, was wir in der
Vergangenheit unternommen haben. Beim gezielten
Aufbau, bei der humanitären Hilfe und bei der Unterstützung der Länder in dieser Region, die die Hauptlast der
Aufnahme von Flüchtlingen tragen, haben wir viel unternommen. Insbesondere haben wir eine Diskussion geführt, die ich vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten habe. Ein Großteil der Menschen in Deutschland
ist bereit, Flüchtlingen in Not eine Art Heimat zu bieten.
Dieses Signal geht von dieser Debatte aus.
Frau Präsidentin, wenn ich das am Schluss noch erwähnen darf: Neben der guten rechtlichen Herleitung,
die die Bundesregierung erarbeitet hat, gehört zu einer
ehrlichen Debatte, dass wir uns demnächst darüber unterhalten müssen, ob die eine oder andere Regierung in
dieser Region nicht erneut möglicherweise eine Situation herbeiführen wird, die bewirkt, dass noch mehr Gewalt in diese Region hineingetragen wird. Mir machen
autoritäre Regierungen große Sorgen, die keine Rücksicht auf die Menschenrechte nehmen. Darüber sollten
wir im Deutschen Bundestag eine ehrliche Diskussion
führen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jan van Aken
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde, wir sollten erst einmal zusammen feiern, dass
diese Woche Kobane befreit worden ist. Mein Dank und
meine ganze Hochachtung gilt den Frauen und Männern,
die in den letzten Monaten gegen die Menschenfeinde
von ISIS gekämpft haben, dabei ihr Leben riskiert und
zum Teil verloren haben. Biji Kobane!
Jetzt zu Ihrem Antrag. Sie wollen 100 Bundeswehrsoldaten in den Nordirak schicken, um dort kurdische Peschmerga auszubilden. Dieser Einsatz ist grundgesetzwidrig, aber er ist auch politisch falsch. Sie
werden damit ISIS auf Dauer stärken und nicht schwächen, weil Sie so die Spaltung des Irak vorantreiben.
Zur rechtlichen Frage muss ich nicht viel sagen. Das
ist in den letzten Tagen alles ausgeführt worden. Auch
viele Abgeordnete der SPD, der CDU und der CSU sind
der Meinung, dass dieser Einsatz gegen das Grundgesetz
verstößt, weil er eben nicht in den Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems passt. Wenn Sie ihn jetzt hier
durchwinken, dann schaffen Sie einen Präzedenzfall, der
uns in den nächsten Jahren immer wieder einholen wird.
({0})
Das allein wäre für uns Grund genug, Ihren Antrag
abzulehnen. Aber er ist, wie gesagt, auch politisch
falsch. Ich bin überzeugt davon - das werde ich gleich
im Detail begründen -, dass Sie damit ISIS auf Dauer
tatsächlich stärker und nicht schwächer machen. Herr
Mützenich, auch das gehört zur Ehrlichkeit: Sie müssen
sehen, dass manchmal ein militärischer Beitrag ein politisches Ziel unterläuft. Genau das ist hier der Fall. Sie
haben es völlig richtig beschrieben. Ich glaube, wir sind
uns hier alle einig: Es gibt einen zentralen Grund, warum
ISIS im Irak so stark ist. Das liegt daran, dass in den
letzten Jahren die sunnitischen Muslime im Nordirak
komplett ausgegrenzt worden sind, dass die Zentralregierung in Bagdad alle lukrativen Posten, die gesamten
Öleinnahmen, den gesamten Reichtum des Landes an
die Schiiten und zum Teil an die Kurden verteilt hat. Die
Sunniten sind völlig leer ausgegangen. Als ich Anfang
des letzten Jahres durch die Region gefahren bin, auch
durch Mossul, schlug mir ein Hass auf die Schiiten entgegen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.
Genau dieser Hass ist der Nährboden dafür, dass ISIS
jetzt militärisch so stark geworden ist. ISIS ist im Nordirak mittlerweile in der Breite verankert und hat die Unterstützung der lokalen Bevölkerung. Wenn Sie ISIS militärisch bekämpfen wollen, dann geht es nur, wenn Sie
den Hass wieder wegbekommen, indem Sie eine inklusive, eine breite, eine faire Regierung in Bagdad installieren, die den Reichtum fair zwischen Kurden, Schiiten
und Sunniten verteilt. Das muss das politische Ziel sein.
({1})
Das große Problem, Herr Mützenich, ist, dass es eine
große Kraft im Irak gibt, die genau dagegen arbeitet, und
das ist Massud Barzani, der Präsident der nordirakischen
kurdischen Autonomieregierung. Barzani lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass er einen eigenen Nationalstaat der Kurden im Nordirak möchte. Er möchte die
Abspaltung vom Restirak. Seit Monaten bringt er eine
Volksabstimmung in der Autonomieregion ins Gespräch.
Wozu das führt, wissen wir alle. Wenn sich der Nordirak
abspaltet, dann zerfällt der Restirak, und wir haben ein
Desaster, von dem wir uns viele Jahre nicht erholen werden.
Genau den Barzani haben Sie mit Waffen beliefert.
Genau den Barzani wollen Sie jetzt weiter militärisch
ausrüsten und ausbilden? Damit treiben Sie doch noch
mehr Sunniten in die Arme von ISIS. Damit werden Sie
ISIS auf Dauer wirklich stärken, weil Sie die Abspaltungstendenzen im Irak stärken und nicht die Vereinigung der drei verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Das
ist Ihr grober Fehler. Selbst wenn Sie für Waffenlieferungen sind, wenn Sie für Bundeswehreinsätze sind, dann
ist dieser Einsatz doch genau der falsche. Sie bilden die
falschen Leute für die falschen Zwecke aus.
({2})
Noch ein letzter Punkt. Es gebe sehr vieles, was Sie
im Moment tun könnten, um ISIS militärisch zu schwächen. Aber all dies Richtige und Gute tun Sie nicht. Sie
könnten zum Beispiel die direkte Unterstützung für ISIS
austrocknen: die Geldquellen, aber auch den Nachschub
an Kämpfern und Waffen. Noch immer können Dschihadisten mit ihren Waffen über die Türkei nach Syrien einreisen. Sie können gar nicht so schnell in Arbil ausbilden, wie ISIS über die Türkei weiter wächst. Dagegen
haben Sie überhaupt keine Chance. Wenn Sie militärisch
effektiv gegen ISIS vorgehen wollen, dann machen Sie
die Grenzen zu und üben Sie Druck auf die Türkei aus.
({3})
Dafür hätten Sie sogar ein UNO-Mandat. Für einen
Bundeswehreinsatz im Nordirak haben Sie keine gesetzliche Grundlage bei den Vereinten Nationen. Es gibt genau eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen, die hier einschlägig ist. In dieser geht es darum, den Zufluss internationaler Terroristen zu behindern. Stoppen Sie endlich den Zufluss der ISIS-Terroristen über die Türkei. Machen Sie endlich Druck auf die
Türkei, die Grenze zu schließen. Damit bekämpfen Sie
ISIS, aber lassen Sie die Bundeswehr da raus.
({4})
Damit sind wir beim Kern des Problems, den Sie immer aussparen. Sie haben über die Golfstaaten, über den
Iran geredet. Warum reden Sie nicht über die Türkei?
Die türkische Regierung ist eines der Hauptprobleme.
Sie sagt bis heute: Unser Hauptfeind ist nicht ISIS, sondern sind Assad und die Kurden. Es ist vorgekommen,
dass schwerverletzte Verteidiger von Kobane an türkischen Grenzposten gestorben sind, weil die Grenze zu
war. Ein paar Kilometer weiter konnte ISIS samt Waffen
über die türkische Grenze gehen. Genau das müssen Sie
verändern. Es ist die Hauptaufgabe des Bundesaußenministers, den Druck auf die Türkei so weit zu erhöhen,
dass ISIS nicht noch weiter stärker wird.
({5})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen exportieren sollte: nicht in den Irak und
auch nicht in die Türkei.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Henning Otte
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am Dienstag sagte unser Bundestagspräsident, Dr. Norbert Lammert, auf der Gedenkveranstaltung
hier im Deutschen Bundestag anlässlich der Befreiung
des KZ Auschwitz:
Verantwortung zu übernehmen, ist … ein persönlicher Akt. Das zu fördern, gehört aber zu den zentralen Aufgaben des Staates.
Meine Damen und Herren, Deutschland übernimmt
Verantwortung, auch als Partner einer Verantwortungsgemeinschaft. Deutschland übernimmt Verantwortung
für das Leben von Christen, Jesiden, Kurden und Moslems. Wir verstecken uns nicht hinter Zweifeln, hinter
einer Ideologie, sondern wir stehen zu unserer Verant7818
wortung. Sie, Herr van Aken - das haben Sie eben deutlich gemacht -, ducken sich weg.
({0})
Der IS-Terrorismus versucht, eine ganze Region unter
Kontrolle zu bringen und Menschen tief zu verunsichern. Männer werden zum Konvertieren gezwungen.
Mädchen werden als Sklaven verkauft. Homosexuelle
werden unter den Augen der verängstigten Bevölkerung
von hohen Gebäuden gestoßen. Davor können wir die
Augen nicht verschließen.
Es ist der kurdischen Peschmerga mit westlicher Hilfe
gelungen, den Vormarsch des IS-Terrors zu stoppen. Die
Herausforderung ist, dass diese Kampfhandlungen auf
einer Frontbreite von 1 000 Kilometern stattfinden. Bei
einem Besuch unserer Verteidigungsministerin Frau von
der Leyen, bei dem ich sie begleitet habe, haben wir
deutlich bestätigt bekommen, dass die westliche Hilfe
einen Beitrag dazu leistet, die von mir beschriebenen
Grausamkeiten zu verhindern. Die Ausbildungsmission
der Bundeswehr ist ein Gradmesser für die Menschlichkeit, für die Verlässlichkeit und auch für die Verantwortung unseres Landes.
Wir wollen ein Ausbildungszentrum betreiben. Das
ist unser Beitrag - 60 weitere Nationen leisten ebenfalls
ihren Beitrag -, damit die Peschmerga-Kämpfer noch effektiver vorgehen können. Dazu gehört die Sanitätsausbildung, weil hohe Verluste durch schwere Verwundungen zu verzeichnen sind. Dazu gehört eine Mission zur
Minenräumung, damit die Menschen, nachdem sie aus
ihren Dörfern vertrieben wurden, wieder zurückkehren
können; denn die IS-Terroristen hinterlassen verbrannte
Erde und verminte Dörfer. Auch hier leisten wir einen
Beitrag. Es gehört auch dazu, dass wir mit militärischem
Know-how einen Beitrag leisten. Es ist doch geradezu
zynisch, den Menschen die Mittel zur Selbstverteidigung
vorenthalten zu wollen. Als Ultima Ratio gehört auch
dazu, Waffen zu liefern, die vonnöten sind, um heranfahrende, mit Sprengstoff beladene Lkw auf Distanz zu halten. Solche Selbstmordkommandos können gestoppt
werden, weil wir beispielsweise die Panzerabwehrrakete
Milan zur Verfügung stellen.
Wir fangen mit dieser Mission rechtzeitig an. Wir
wollen nicht in eine Situation wie in Afghanistan geraten. Das Land war bereits völlig zerrüttet, als man um
Hilfe gebeten hat. Deshalb wollen wir schon jetzt einen
Beitrag dazu leisten, den Irak weiter zu stabilisieren.
Offensichtlich ist der Terrorismus - ob unter al-Qaida
oder IS - wie ein Franchiseunternehmen organisiert. In
allen möglichen Ländern wird versucht, „Filialen“ zu eröffnen. Diesem Geschäftsmodell müssen wir als Verantwortungsgemeinschaft gemeinsam einen Riegel vorschieben. Wer glaubt, dass wir uns heraushalten können,
der irrt. So können wir auf dieser Welt nichts verbessern.
Ja, wir müssen aktiv werden. Wir müssen auch deutlich machen, dass die innere Sicherheit für unser Land
von besonderer Bedeutung ist, und dass wir bereit sind,
die notwendigen Maßnahmen umzusetzen, zum Beispiel
die Vorratsdatenspeicherung zur Ermittlung bei schweren Straftaten und bei terroristischen Anschlägen. Das
sind wir der Sicherheit unseres Landes und auch der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger schuldig.
({1})
Oftmals ist in der Debatte darüber von der 68er-Generation der Eindruck vermittelt worden, dass Freiheit und
Sicherheit sich gegenseitig aufheben bzw. blockieren.
({2})
Ich glaube, nach den Anschlägen von Paris können wir
deutlich feststellen: Freiheit gibt es nur mit Sicherheit
und in Sicherheit. Deswegen ist es gut, dass wir heute
diese Debatte über eine Stärkung der Ausbildungsmission im Irak führen.
Deutschland ist bereit, 100 Soldatinnen und Soldaten
in ein Mandat zu entsenden, das eine Ausbildungsmission ist - verbunden mit 60 Partnerländern. Hier geht es
darum, sich dem Terror entgegenzustellen und einen
Beitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. Der
Theologe Georg Picht sagte einmal:
Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sich
der Last, die sich daraus ergibt, nicht entziehen.
Deswegen handeln wir, und deswegen reden Sie von der
Opposition. Wir bitten um Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Omid
Nouripour von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicher
ist die Nachricht über die Befreiung von Kobane eine
hervorragende. Ich finde es richtig, dass man diese Befreiung feiert,
({0})
auch wenn man weiß, dass ISIS weiterhin ein Drittel des
Territoriums Syriens und des Irak besetzt. Wenn man
sich die humanitäre Katastrophe anschaut, die diese Barbaren verursacht haben, dann fehlen einem manchmal
die Worte, um sie zu beschreiben.
In einer solchen Situation muss man handeln. Darüber
sind wir uns alle einig. Wie man genau handeln sollte,
darüber kann man, darüber muss man streiten. Dass man
dabei zu verschiedenen Meinungen kommen kann, das
verstehen wir. Wir Grüne haben gute Erfahrungen damit
gemacht, und wir haben natürlich Respekt vor der MeiOmid Nouripour
nung derjenigen, die zu einem anderen Ergebnis kommen, egal ob bei uns oder in anderen Fraktionen.
Wir wissen, dass man ISIS nur militärisch stoppen
kann, und wir wissen, dass man dafür auch Ausbildung
braucht. Das ist unsere Meinung. Wir haben das bereits
Anfang September in unserem Entschließungsantrag formuliert, den wir hier eingebracht haben, und wir haben
das auch auf unserem Parteitag beschlossen.
Heute werden wir uns mehrheitlich enthalten. Ich
werde Ihnen sagen, warum. Es gibt vier Gründe, die sehr
viel mit der Art des Mandats, das die Bundesregierung
vorlegt, zu tun haben:
Erstens. Ja, Ausbildung ist notwendig. Aber muss
man nicht vorher sagen, wen man ausbildet? Wir haben
überall nachgefragt. Die Bundesregierung - ich habe es
schriftlich - kann diese Frage nicht beantworten. Muss
man nicht die Frage beantworten, woran ausgebildet
wird? Kollege Mützenich, Sie haben gesagt: an Defensivwaffen. Das kann sein, kann aber auch nicht sein. Ich
weiß es nicht. Ich kann Ihnen vorlesen, was die Bundesregierung dazu sagt. Eine Antwort auf diese Frage wurde
nicht gegeben. Muss man nicht sagen, was das Ziel ist?
Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, dass
Auslandseinsätze ein klares Ziel brauchen, damit man irgendwann einmal weiß, wann man sie beendet?
({1})
Fehlanzeige, komplette Fehlanzeige.
Es gibt ein Novum - das habe ich noch nie erlebt -:
Wir schicken, mandatiert, Soldatinnen und Soldaten.
Das heißt, es kann sein, dass sie in Kampfhandlungen
geraten;
({2})
sonst müssten wir ja nicht mandatieren. Wir schicken
Soldatinnen und Soldaten, aber es gibt noch keine Einsatzregeln. Es gibt noch nicht einmal Einsatzregeln! Ich
finde, das ist den Soldatinnen und Soldaten gegenüber
ein nicht unbedingt verantwortungsbewusstes Verhalten. Wir schicken sie in eine Rechtsunsicherheit. Wir
schicken sie in einen Einsatz, ohne dass es Einsatzregeln
gibt. Das ist schlicht unverantwortlich.
({3})
Der zweite Grund. Alle haben gesagt, dass die irakischen Streitkräfte, dass die irakische Armee in der
Vergangenheit Teil des Problems gewesen ist. Wir brauchen in diesem Land dringend eine gescheite Reform des
Sicherheitssektors; denn die Art und Weise, wie die
Streitkräfte aufgestellt worden sind - dabei geht es nicht
um Geld -, ist Teil des Problems. Die Amerikaner haben
25 Milliarden Dollar in diese Armee investiert. Als es
aber darauf ankam, haben viele Soldaten, wenn sie in
Mossul nicht gleich die Seite gewechselt haben, nicht
nur die Ausrüstung, sondern auch die Uniform hinterlegt. Deshalb muss man da etwas tun. Man muss dafür
sorgen, dass die Korruption in den Streitkräften beendet
wird. Aber was passiert stattdessen? Die irakische Regierung fordert von der EU inoffiziell eine Rechtsstaatsmission. Und die Antwort der Bundesregierung ist:
Nein. Das hat mit einer Reform des Sicherheitssektors
überhaupt nichts zu tun. Sie verschließen die Augen vor
dem, was im Irak dringend notwendig ist.
({4})
Drittens. Die Rechtsgrundlage. Kollege Mützenich,
wenn es mit dem System kollektiver Sicherheit so klar
wäre, dann frage ich mich, warum die Bundesregierung
in zwei Ausschüssen verschiedene Aussagen macht. In
dem einen Ausschuss wird gesagt, die völkerrechtliche
Grundlage sei Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. In dem anderen Ausschuss wird gesagt: Die
Grundlage ist die Einladung der Regierung Iraks. Ich
frage mich noch etwas; das habe ich auch noch nie gesehen. Es gibt jetzt - endlich haben wir es bekommen eine rechtliche Ausfertigung des Auswärtigen Amtes
über die verfassungsgemäße Grundlage dieses Einsatzes.
({5})
Diese haben wir einen Tag vor der Abstimmung bekommen. Das kann man richtig finden, muss man aber nicht.
Ich habe noch nie gesehen, dass eine rechtliche Ausarbeitung über die Grundlage eines Einsatzes eingestuft
wird. Es ist eine vertrauliche Grundlage. Warum darf die
Öffentlichkeit dieses Papier nicht sehen, um sich selbst
ein Bild davon zu machen, ob das jetzt verfassungsgemäß ist oder nicht?
({6})
Wie kommt es, dass der Kollege Mißfelder heute
Morgen im Radio gesagt hat: „Natürlich ist das politische Argument wichtiger als juristische Bedenken“?
Was ist das denn für ein Verständnis von Rechtsstaat,
wenn man sagt, dass man etwas unbedingt will, das
müsse doch möglich sein, auch unabhängig davon, wie
die rechtliche Grundlage ist?
({7})
Sie wissen ganz genau, dass nicht das Lissabon-Urteil
der Grund ist, warum die EU jetzt nicht befasst wird.
Das Lissabon-Urteil ist aus dem Jahr 2009. Es gibt mittlerweile ganz andere Strukturen in der EU. Wir wissen
ganz genau, dass man ein bisschen Angst hat, dass man
weiß, dass man andere Dinge tun müsste, die notwendiger sind, statt reinen Aktionismus zu betreiben.
Der letzte Grund ist: Man kann sich - das machen
wir - darüber streiten, ob Waffenlieferungen Sinn machen oder nicht. Aber in dem Mandat steht auch, dass
der Bundestag absegnen soll, und zwar ganz pauschal,
dass demnächst Waffen geliefert werden. Das steht einfach so in dem Mandat, ohne dass aufgezeigt wird, was
dort passiert, ohne dass darüber nachgedacht wird, was
mit den bisher gelieferten Waffen passiert ist. Uns ist bekannt - es gibt viele Berichte darüber -, dass man nicht
weiß, wo sie sind. Man geht auch nicht der Frage nach,
wie man mit Menschenrechtsverletzungen von kurdischen und irakischen Streitkräften - auch darüber gibt es
einige Berichte - umgehen will. Das ist alles andere als
verantwortlich.
Wir sind für Ausbildung. Das, was die Bundesregierung hier vorlegt, ist für die große Mehrheit meiner
Fraktion nicht zustimmungsfähig. Deshalb werden wir
uns enthalten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Roderich
Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts des millionenfachen Leids, das wir nicht nur medial erleben, sondern über sehr hohe Flüchtlingszahlen
auch in Deutschland tagtäglich in unseren Kommunen
mitbekommen, ist es wichtig, dass wir heute mit der Verabschiedung des Mandats ein Signal des Handelns zeigen. Es ist nicht nur das Mediale, das uns fassungslos
macht, sondern es sind auch die Geschichten syrischer
Familien und irakischer Familien, die uns in den Kommunen tagtäglich vor Augen führen, welches Leid dort
geschieht.
Es ist gerade einmal fast auf den Tag genau ein Jahr
her, dass unsere Bundesverteidigungsministerin und unser Bundesaußenminister bei der Münchener Sicherheitskonferenz deutlich gemacht haben, dass unser Land
nicht dauerhaft gewisse Ereignisse auf der Welt von der
Seitenlinie kommentieren kann,
({0})
sondern dass wir sehr sorgfältig abwägen müssen, wo
wir uns engagieren. Die Münchener Sicherheitskonferenz hat eben nicht dazu geführt, dass sich Deutschland
stärker militärisch engagiert, sondern dazu, dass wir verschiedene Prozesse in unserem Land äußerst besonnen
angestrengt haben. Ich erinnere an den Review-Prozess
des Auswärtigen Amtes. Ich erinnere an den WeißbuchProzess. Ich erinnere an die Einsetzung der Rühe-Kommission. Das alles sind Bereiche, in denen wir uns als
Parlamentarier intensiv Gedanken machen, wie wir unser Land angesichts der außenpolitischen Herausforderungen strategisch besser aufstellen.
({1})
Das führt, lieber Herr Kollege Nouripour, eben auch
dazu, dass wir uns Gedanken über die Mandatierung
machen. Die Einsatzschwelle ist mit der Ausbildungsmission im Nordirak nicht erreicht. Aber wir als Parlamentarier setzen damit ein ganz wichtiges Zeichen, dass
wir bereit sind, eine Ausbildungsmission zu mandatieren, die der Stabilisierung einer Region im Norden des
Irak dient und auf Einladung der irakischen Regierung,
auf Aufforderung der Vereinten Nationen erfolgt. Das
gibt auch die Handlungssicherheit, die wir brauchen.
Das Mandat gibt unseren Soldatinnen und Soldaten, die
dort hingehen, die Rückendeckung, die sie in einer Ausbildungsmission brauchen. Es ist kein Kampfeinsatz,
und es ist keine bewaffnete Auseinandersetzung.
({2})
Für eine Ausbildungsmission gibt es bestimmte Regeln. Auch Eigensicherung ist zulässig. Aber mehr
brauchen wir da im Moment nicht. Entscheidend ist
- wir beraten nachher ja auch die Operation Active
Fence in der Türkei -, dass wir vorbeugende Sicherheitspolitik betreiben. „Vorbeugende Sicherheitspolitik“
heißt, dass wir einen Rahmen schaffen, der bei einer
möglichen Eskalation Rechtssicherheit gewährleistet.
Genau das leisten wir im Rahmen dieser Mission. Deswegen stimmen wir als CDU/CSU zu. Ich bin froh, dass
die gesamte Regierungskoalition geschlossen hinter diesem Einsatz steht.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn die
rechtlichen Voraussetzungen stimmen - ich bin dem
Bundesaußenminister sehr dankbar, dass er gestern im
Auswärtigen Ausschuss für Klarheit gesorgt hat -, müssen wir uns zwei Fragen stellen: Erstens. Wird unser
Einsatz gebraucht? Zweitens. Ist er politisch sinnvoll?
Dass er gebraucht wird, wird schon an der mangelnden Handlungsfähigkeit der irakischen Regierung deutlich. Mit Blick auf die Eroberung von Kobane müssen
wir die Kräfte, die die Staatlichkeit des Irak schützen,
stärken.
Ist er politisch sinnvoll? Als Europäer müssen wir
deutlich machen, dass uns die Region, aus der zurzeit die
meisten Flüchtlinge der Welt kommen, nicht gleichgültig
ist, dass wir diese Region nicht sich selbst überlassen,
dass wir aber auch nicht massiv von außen eingreifen,
wie es im Jahr 2003 der Fall war, sondern Hilfe zur
Selbsthilfe geben. Das müssen wir äußerst engagiert tun.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
uns als Angehörige dieses Parlaments auch Gedanken
darüber machen, wie lange der Entscheidungsprozess
gedauert hat, nämlich vom August letzten Jahres bis in
den Januar dieses Jahres, also fast sechs Monate. In dieser Zeit hat Dänemark versucht, diese Ausbildungsmission mit uns gemeinsam durchzuführen. Unsere Verfahren haben sehr lange gedauert. Daran ist nichts
auszusetzen. Wohl aber sollten wir aufmerken, dass dieses Verfahren engsten Bündnispartnern - sogar Dänemark, einem Land, das der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU äußerst zurückhaltend
gegenübersteht - zu lange gedauert hat. Dänemark hat
sich nun einer gemeinsamen Mission mit Großbritannien
angeschlossen. Ich rege deshalb an, dass wir uns auch
mit Blick auf unseren Koalitionsvertrag Gedanken darüber machen, wie wir die europäische Integration vertiefen können.
Der Vertrag von Lissabon erlaubt die vertiefte Integration einzelner Staaten; derzeit gehören ja acht oder
neun EU-Staaten der Koalition der 60 an. Die Aktivitäten dieser Koalition könnten wir mit einem Instrument,
das der Lissabon-Vertrag zulässt, verknüpfen, nämlich
mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit. Lassen Sie uns gemeinsam ausloten, wie wir die Verantwortung, die wir haben, wahrnehmen, mit Besonnenheit und
Augenmaß agieren und dabei europäische Partner gewinnen können, indem wir gemeinsam Instrumente entwickeln, um die europäische Sicherheitspolitik voranzutreiben, allerdings ohne dabei unsere Rechte als
Parlament zu verlieren. Wir müssen, wie in diesem Falle,
um die jeweiligen Mandate ringen und zur Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes zur Stabilisierung
dieser Region beitragen.
({4})
Es ist, glaube ich, ein gutes Zeichen, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, wenn
wir als Parlament mit einer breiten Mehrheit deutlich
machen, dass wir hinter dieser Ausbildungsmission stehen. Wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten zeigen, dass sie in ein Gesamtkonzept der freien westlichen
Welt eingebunden sind.
Herzlichen Dank.
({5})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Julia
Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vorgestern gedachten wir hier im Hohen Haus
der Opfer des Nationalsozialismus. Der Bundestagspräsident hat in seiner Rede deutlich gemacht, was Auschwitz und die Erinnerung an diesen Völkermord heute bedeuten. Er betonte dabei die besondere Verantwortung
Deutschlands, solche Verbrechen nie und nirgendwo
mehr zuzulassen. Daraus leite ich für die heutige Debatte
ab, dass wir im Irak handeln und helfen müssen.
Die ISIS-Schlächter richten auf menschenverachtende Art tausendfach Tod, Leid und Schmerz an. Amnesty International spricht von einer systematischen ethnischen Säuberung von historischem Ausmaß. ISIS
macht ganze Dörfer dem Erdboden gleich. Die Männer
werden ermordet, Mädchen und Frauen vergewaltigt und
versklavt. Millionen von Menschen sind im Irak und in
Syrien brutalster Verfolgung ausgesetzt. ISIS bedroht
damit nicht nur die Stabilität der gesamten Region, sondern auch die internationale Sicherheitsarchitektur.
Zur Wahrheit gehört leider auch, dass sich diese Terrormiliz nicht durch diplomatische Gespräche stoppen
lässt. In diesem Fall muss die Weltgemeinschaft zur
Ultima Ratio greifen: zu militärischen Mitteln. Deutschland gehört zu den knapp sechzig Staaten, die sich zusammengetan haben, um den Terror von ISIS zu stoppen. Die Beiträge der unterschiedlichen Nationen sind
vielfältig: Die USA, Saudi-Arabien und Frankreich beteiligen sich an Luftschlägen, Kanada beispielsweise hat
Spezialkräfte vor Ort.
In unserem deutschen Beitrag sind wir großzügig mit
Hilfslieferungen, offen für Waffenlieferungen und vorsichtig beim Einsatz von Militär. Deutschland ist einer
der größten Geldgeber für die Flüchtlinge in der Region:
Seit dem Ausbruch der Syrien-Krise 2012 haben wir den
Menschen vor Ort mit über 600 Millionen Euro humanitär geholfen. Aber diese humanitäre Hilfe kann nur in sicheren, ruhigen Gebieten auch ankommen. So haben wir
uns im Sommer nach gründlicher Abwägung für die Lieferung von Waffen, Munition und Ausrüstung entschieden. Damit unterstützen wir die Peschmerga, also diejenigen, die ISIS entgegentreten. Diese Entscheidung
beruhte auf der Überzeugung, unschuldiges Leben zu
schützen.
({0})
Die Richtigkeit dieses Schritts wurde von Papst Franziskus, aber auch von Personen wie Rupert Neudeck gestützt. Das Engagement Deutschlands hat hier bereits einiges bewirkt: Durch die gelieferten Milan-Raketen
können die rollenden Selbstmordkommandos von ISIS
- mit Sprengmaterial beladene Lastwagen - gestoppt
werden. Auch einer der gelieferten Dingos konnte bereits Leben retten.
Doch um gegen ISIS weiter bestehen zu können, benötigen diejenigen, die an vorderster Front kämpfen,
nicht nur das richtige Material, sie brauchen auch die
entsprechende Ausbildung. Dazu gehört zum Beispiel
eine Ausbildung in der Versorgung von Verwundeten.
Etwa 800 Kämpfer der Peschmerga haben ihr Leben verloren, weil sie direkt nach der Verletzung an der Front
nicht die notwendige Wundversorgung erhielten. Eine
Ausbildung in diesem Bereich durch die Bundeswehr
kann Leben retten. Dieses Ziel - Leben retten - verfolgen wir mit diesem Mandat. Es handelt sich dabei um
eine reine Ausbildungsmission, um keinen Kampfeinsatz. Es sind auch keine Partnering-Modelle wie damals
in Afghanistan geplant. Die Mandatsobergrenze ist mit
100 Soldatinnen und Soldaten eng - vielleicht zu eng begrenzt; aber die Mission ist ein wichtiger Teil des
deutschen Beitrags im internationalen Kampf gegen die
ISIS-Terrormiliz. Und wir handeln hier auf Bitte der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Arbil.
Mit dieser Ausbildungsmission wollen wir dazu beitragen, die Region zu stabilisieren, Menschen zu schützen
und insbesondere weitere Massenmorde zu verhindern.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. Ich möchte
Ihnen auch gratulieren zu Ihrem Namenswechsel, weil er
Vizepräsident Johannes Singhammer
einen ganz bestimmten Grund hat: Ihre Heirat. Herzlichen Glückwunsch dazu!
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-
rung zu der Ausbildungsunterstützung der Sicherheits-
kräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der
irakischen Streitkräfte. Dazu liegt mir eine Reihe von
persönlichen Erklärungen gemäß § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3857, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/3561 anzunehmen. Wir stim-
men nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
Ich möchte bereits jetzt darauf hinweisen, dass wir im
Laufe des Nachmittags zu Tagesordnungspunkt 8 eine
weitere namentliche Abstimmung durchführen werden.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind jetzt alle
Plätze an den Abstimmungsurnen besetzt? - Dann er-
öffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfeh-
lung.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Ich sehe, das sind noch
einige, darunter auch der Herr Bundesverkehrsminister. -
Ich sehe jetzt niemanden mehr im Plenarsaal, der seine
Stimme noch nicht abgegeben hat.
Ich schließe hiermit die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Ich bitte
jetzt, die Plätze wieder einzunehmen, weil wir noch eine
weitere Abstimmung durchführen werden und es sonst
schwierig ist, die Mehrheitsverhältnisse mit der notwen-
digen Genauigkeit festzustellen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/3863. Wer für diesen Entschlie-
ßungsantrag stimmen möchte, den bitte ich um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Tom Koenigs, Agnieszka
Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ja zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter -
Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen,
Raif Badawi freilassen
Drucksache 18/3835
1) Anlagen 3 bis 7
2) Ergebnis Seite 7823 D
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Raif Badawi sofort freilassen - Völkerrechtswidrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffen
Drucksache 18/3832
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Raif Badawi, für den im Augenblick vor der
saudi-arabischen Botschaft demonstriert wird und für
den viele von uns demonstriert haben, ist leider nicht der
Einzige. Allein im Jahre 2014 hat der inzwischen verstorbene König zwölf Enthauptungen genehmigt, und sie
sind auch durchgeführt worden. Beim neuen König sind
es schon vier.
Wie sie durchgeführt worden sind, haben wir im Internetvideo von ISIS gesehen. Nur die Fahne war eine
andere. In Saudi-Arabien ist es die Fahne des „Bewahrers der Heiligen Stätten“, bei ISIS ist es die schwarze
Fahne. In der Sache ist es dasselbe.
Raif Badawi ist bekannt. Seine Strafe sind Folter und
zehn Jahre Haft. Diese Folterung - 1 000 Stockhiebe bedeutet den Tod auf Raten. Das haben die Saudis gesehen; denn in Saudi-Arabien gibt es die dritthöchste
Dichte an Smartphones auf der Welt. Dieser Mord auf
Raten wird im Netz kommuniziert.
Warum wurde er verurteilt? Er wurde verurteilt, weil
er angeblich den Propheten beleidigt hat; denn er hat gesagt: Alle Menschen sind gleich viel wert: Muslime, Juden und Christen. - Das ist aber nur fast wörtlich der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Außerdem hat er sich über die Tugendwärter - Mutawa
genannt - lustig gemacht, die darauf geachtet haben,
dass der Valentinstag in Saudi-Arabien nicht mit Schokolade und Blumen gefeiert wird. Er hat geschrieben:
Herzlichen Glückwunsch zu eurer Bereitschaft, allen Mitgliedern der saudischen Öffentlichkeit einen
Platz im Paradies zu sichern.
Das verbietet die „Freiheit“ in Saudi-Arabien.
Ein Wort zur Pressefreiheit. „Reporter ohne Grenzen“
hat Saudi-Arabien in puncto Pressefreiheit auf Platz 174
von 180 Ländern gesetzt. Dahinter kommen dann Länder wie Nordkorea. Am 11. Januar dieses Jahres ist seine
Exzellenz Dr. Nizar bin Obaid Madani, der Vizeaußenminister von Saudi-Arabien, in Paris mit vielen Staatschefs mit dem Schild „Je suis Charlie“ durch die Straßen
gelaufen.
Die Pressefreiheit ist nicht das einzige Menschenrecht, das in Saudi-Arabien mit Füßen getreten wird:
Frauenrechte, politische Rechte, Ausbeutung von Gastarbeitern usw. Dort sind mittelalterliche Zustände; das
Land wird beherrscht von einem Diktatorkönig: Der 90Jährige wurde von dem inzwischen 79-Jährigen abgelöst. Der Altersdurchschnitt im Lande liegt demgegenüber bei 30 Jahren. Wenn es in Saudi-Arabien freie Wahlen geben würde, würde ich nicht zu schätzen wagen,
was dabei herauskäme. Vor fünf Jahren gab es eine
Untersuchung, die das Ergebnis hatte, dass Osama Bin
Laden gewählt worden wäre, populärster Sohn des Landes. Dort im Lande wird Terror produziert.
({0})
Das ist der geostrategische Stabilitätsanker des Westens.
Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland
und Saudi-Arabien sind freundschaftlich und spannungsfrei.
So steht es auf der Website des Außenministers. Das
Handelsvolumen beträgt 11 Milliarden Euro. Deutschland pflegt wirtschaftliche Zusammenarbeit und staatliche Wirtschaftsförderung, gewährt Bürgschaften und erlaubt Waffenexporte. Gleichzeitig macht das Auswärtige
Amt einen Aktionsplan zur menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen.
Deutschland hofiert die königlichen Diktatoren. Zu
den Trauerfeiern hat es den Exbundespräsidenten Wulff
recycelt. Da wird also gerade ein „Held der Pressefreiheit“ mit einem neuen Amt versehen. Wir erinnern uns:
Ruf’ den Chefredakteur an! Das ist Krieg. - Islam gehört
zu Deutschland. - Und Wulff gehört zu Saudi-Arabien.
({1})
- Der Satz, über den ihr gerade gelacht habt, hätte mir in
Saudi-Arabien 1 000 Peitschenhiebe eingebracht.
({2})
Jetzt steht die Reise einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation, begleitet von Ministerpräsidenten, nach
Saudi-Arabien an, angeführt von Wirtschaftsminister
Gabriel. Ich frage: Was wollen Sie da?
({3})
Was sagen Sie da? Für was stehen Sie da? Für wen stehen Sie da? Für mich nicht und für die Bevölkerung
auch nicht. Da gibt es eine Umfrage: 78 Prozent wollen
Waffenexporte nicht. Für welche Reform stehen Sie,
nachdem jahrelang und jahrzehntelang nichts passiert
ist?
Gehen Sie, wenn Sie schon dahin fahren, zu den wenigen Demokraten! Gehen Sie zu den „Writers in Prison“! Gehen Sie zu den Menschen in die Gefängnisse!
Gehen Sie zu den Bloggern! Und gehen Sie zu den wenigen oder vielen Menschen - die Sie erreichen -, die unsere Werte vertreten! Im Nahen Osten werden unsere
Werte gegen die Werte von ISIS gesetzt. Da findet der
ideologische Kampf statt.
Und im allergrößten Notfall: Bieten Sie den Menschen Asyl an,
({4})
wenn sie sich in der Deutschen Botschaft in Riad melden! Bieten Sie auch Raif Badawi Asyl an! Sollte seine
Exzellenz, die Königliche Hoheit, Ihnen, Herr Gabriel,
im Nebensatz anbieten: „Ihren Raif Badawi können Sie
mitnehmen“, vergessen Sie nicht, dass auch sein Anwalt
im Gefängnis sitzt.
({5})
Bevor ich dem Kollegen Frank Heinrich das Wort erteile, darf ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der eben durchgeführten namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung „Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region
Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte“, Drucksachen 18/3561 und 18/3857, bekannt geben: abgegebene Stimmen 590. Mit Ja haben gestimmt 457, mit Nein
haben gestimmt 79, Enthaltungen 54. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 590;
davon
ja: 457
nein: 79
enthalten: 54
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
({4})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({8})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Ronja Schmitt ({12})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({13})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({14})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Stritzl
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({16})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({17})
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({20})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Vizepräsident Johannes Singhammer
Lothar Binding ({21})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({22})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({23})
Marcus Held
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Michelle Müntefering
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({26})
Aydan Özoğuz
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Carsten Schneider ({33})
Ursula Schulte
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
SPD
Ulrike Bahr
Klaus Barthel
Marco Bülow
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
Swen Schulz ({34})
Rüdiger Veit
({35})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Norbert Müller ({36})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({37})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({38})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Irene Mihalic
Corinna Rüffer
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({39})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Volker Beck ({40})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Vizepräsident Johannes Singhammer
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({41})
Christian Kühn ({42})
Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({43})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Wir fahren jetzt in der Beratung dieses Tagesordnungspunktes fort. Ich darf dem Kollegen Frank
Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.
({44})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute vielleicht auch besonders: Geschätzte
Vertreter von Menschenrechtsorganisationen! Bevor ich
zum Thema komme, möchte ich zunächst den Bürgerinnen und Bürgern von Saudi-Arabien zum Tod des
Königs Abdullah am 23. Januar kondolieren und zum
Zweiten auch Glückwünsche an den neuen König Salman
aussprechen. Dies ist unter anderem auch deswegen ein
guter Zeitpunkt, darüber zu diskutieren. Denn am Anfang einer Regierungszeit lassen sich Zeichen setzen, sowohl von ihm - das wird heute angesprochen; Herr
Koenigs, Sie haben das sehr deutlich gemacht - als auch
von uns, von außen.
König Abdullah sah die Förderung der Menschenrechte als wichtigen Teil seiner Reformpolitik, vor allem
in den Bereichen Bildung, Justiz und Frauenrechte. So
kündigte er im September 2011 die Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts bei den Kommunalwahlen 2015, also in diesem Jahr, an. Wir wünschen
bzw. fordern - ich denke, darin sind wir alle uns einig von Saudi-Arabien unter dem neuen König, diese angekündigten Reformen umzusetzen und weiterzuführen,
Menschenrechte ernst zu nehmen und zu garantieren.
Um ein positives Beispiel zu setzen, fordern wir die
Freilassung von Raif Badawi. Das ist auch Anlass der
Anträge vom Bündnis 90/Die Grünen und von den Linken und der heutigen Debatte.
Im Juni 2012 wurde - das wurde bereits gesagt - der
Blogger und Internetaktivist Raif Badawi wegen Beleidigung des Islam verhaftet. Im November letzten Jahres
wurde er zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe, einer
Geldstrafe und zu den schon angesprochenen 1 000
Stock- und Peitschenhieben verurteilt.
Nachdem die erste Einheit von 50 Peitschenhieben
am 9. Januar 2015 öffentlich vollstreckt wurde, ist die
weitere Vollstreckung aufgrund von nicht verheilenden
Wunden - und aufgrund der internationalen Proteste,
wie die Ehefrau Badawis gegenüber einer deutschen Zeitung bestätigt hat - zumindest momentan ausgesetzt.
Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte - das
fand ich bemerkenswert, und dafür bin ich ihm sehr
dankbar - in seiner Rede in diesem Hause vor 14 Tagen
nach den Attentaten von Paris und den Reaktionen darauf, wem unter den Muslimen über rhetorische Floskeln
hinaus tatsächlich an Aufklärung gelegen sei, müsse sich
als Muslim mit der Frage auseinandersetzen, warum
noch immer im Namen Allahs Menschen verfolgt,
drangsaliert und getötet werden.
Auch mit staatlicher Autorität werde im Namen Gottes gegen Mindeststandards der Menschlichkeit verstoßen. Saudi-Arabien habe das Attentat in Paris „als feigen
Terrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“, und zwei Tage später den Blogger Raif Badawi in
Dschidda öffentlich auspeitschen lassen.
Menschenrechtsverletzungen sind in Saudi-Arabien
an der Tagesordnung. Wir haben es gerade gehört: Das
ist kein Einzelfall. Die Behörden schränkten die Rechte
auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit durch entsprechende Gesetze 2012
empfindlich ein. Andersdenkende wurden rücksichtslos
unterdrückt. Regierungskritiker und politische Aktivisten befanden sich ohne Anklageerhebung in Haft oder
wurden äußerst unfairen Verfahren ausgesetzt und dann
verurteilt. Sie werden im Alltag - auch durch Gesetze diskriminiert.
Die Todesstrafe wurde 2013 mindestens - soweit es
draußen bekannt wurde - 79-mal vollstreckt, Körperstrafen wie Auspeitschen oder Stockhiebe wie im Fall
Badawis werden regelmäßig vollzogen. Dissidenten
werden inhaftiert und Geständnisse erzwungen. Frauen
werden wesentliche Menschenrechte vorenthalten, minderjährige Mädchen zwangsverheiratet. Freie Meinungsäußerung ist nur teilweise möglich, die öffentliche
Religionsausübung für nichtmuslimische Religionen
verboten. Das heißt, es ist lebensgefährlich, mit dem
Heiligen Buch der Christen in der Stadt herumzulaufen.
Die schiitische Minderheit im Osten des Landes wird
diskriminiert. Ausländische Arbeitnehmer können ihre
Rechte häufig nicht durchsetzen usw. Ich könnte diese
Reihe noch fortsetzen.
Auf der anderen Seite ist Saudi-Arabien - Sie haben
das sehr lautstark kritisiert, Herr Kollege Koenigs - ein
wichtiger Partner Deutschlands. Wie wichtig, darüber
müssen wir natürlich reden. Saudi-Arabien ist ein Wirtschaftspartner nicht nur bei Rüstungsgütern. Nach den
USA und China ist die BRD drittgrößtes Lieferland. Es
handelt sich dabei um verschiedene Wirtschaftsfelder
wie Maschinenbau und Eisenbahnen. 2013 belief sich
Frank Heinrich ({0})
das bilaterale Handelsvolumen auf rund 11 Milliarden
Euro. Hinzu kommen internationale Zusammenarbeit
und Entwicklungszusammenarbeit mit Saudi-Arabien.
Seit 1980 ist die GIZ - damals hieß sie noch GTZ - in
Saudi-Arabien tätig. Berufliche Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, biologische Landwirtschaft, Wasserwirtschaft und Lebensmittelsicherheit sind nur ein
paar Stichworte, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind.
Eine wichtige Säule in der Entwicklungszusammenarbeit mit Saudi-Arabien sind Dreieckskooperationen, in
denen die GIZ saudische Entwicklungsprojekte in Drittländern als Durchführungsorganisation abwickelt. So
führt die GIZ im Auftrag des Saudi Fund for Development ein Brunnenbauprogramm in zwölf Ländern Afrikas bereits in der vierten Phase durch.
Außenminister Steinmeier hat das wahhabitische
Königreich als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen
die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ bezeichnet.
Gerade von einem solchen Partner - deshalb habe ich
das so ausführlich dargelegt - muss Deutschland, müssen wir die Achtung der Menschenrechte fordern. Wenn
Saudi-Arabien einen exponierten Platz in der Weltgemeinschaft einnehmen will - das will dieses Land, und
einen solche Platz soll es auch haben -, dann muss es die
Menschenrechte, die die Grundlage bilden, auf der wir
stehen, achten, respektieren und durchsetzen.
({1})
Daher begrüße ich die Stellungnahme der Bundesregierung. Der Außenminister hat die Prügelstrafe für den
saudischen Blogger verurteilt und gesagt, dass die Regierung alles tun werde, um eine Lösung zu finden. Die
Auspeitschung des 30-Jährigen sei grausam, falsch, ungerecht und völlig unverhältnismäßig. Die Bundesregierung werde hier weiterhin alles tun, was möglich sei, um
eine Lösung zu befördern. Unabhängig vom Fall des
Bloggers spiele das Thema Menschenrechte in allen Gesprächen mit den Verantwortlichen in Riad - es sind
viele Gespräche, da es um viel Geld und viele Projekte
geht - eine wichtige Rolle. Das versicherte Steinmeier.
Heute in der Zeit sagt Ensaf Haidar, die Ehefrau des
Bloggers Raif Badawi, über den wir heute reden:
Deutschland könnte seinen Einfluss aber weiter geltend machen und „seine Stärke für meinen Mann
und die Menschenrechte einsetzen“ …
Diesen Auftrag nehmen wir gerne an.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Inge Höger.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den
Solidaritätskundgebungen nach den Attentaten in Paris
war die saudische Regierung mit einem Vertreter präsent; das wurde schon erwähnt. Nur zwei Tage nach diesen Bluttaten ließ die saudische Justiz den ersten Teil der
Prügelstrafe gegen den kritischen Blogger Raif Badawi
vollziehen. So viel Heuchelei und Doppelmoral ist kaum
zu überbieten, außer vielleicht von den westlichen Staaten, für die Saudi-Arabien ein wichtiger Verbündeter ist
und die dieses Land mit allem ausstatten, was für den
Machterhalt nötig ist. Um es klar zu sagen: 1 000 Peitschenhiebe sind nichts anderes als Folter und wahrscheinlich die Todesstrafe auf Raten. Diese barbarische
Praxis muss ein Ende haben.
({0})
Das gilt für Raif Badawi, aber auch für alle anderen, die
in Saudi-Arabien zu unmenschlichen Strafen verurteilt
werden.
Wenn die Bundesregierung Menschenrechte in der
Außenpolitik tatsächlich ernst nehmen will und wenn sie
Raif Badawi beispielhaft helfen will, dann gibt es hierfür
eine Reihe von ganz konkreten Schritten, die möglich
und nötig wären. Sowohl der Antrag der Grünen als auch
unserer nennen dafür Beispiele. Es fängt an bei Botschafterbesuchen im Gefängnis, geht über die Entsendung einer hochrangigen Delegation bis hin zur Ermöglichung von Asyl in Deutschland. Ich fordere die
Bundesregierung auf, hier tätig zu werden.
({1})
Allerdings darf neben dem Entsetzen über das
Schicksal dieses Bloggers nicht vergessen werden, dass
das kein Einzelfall ist. Das saudische Justizsystem operiert generell weit jenseits rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards. Allein im letzten Jahr wurden 87 Menschen in Saudi-Arabien hingerichtet. Es ist
kaum möglich, einen angemessenen Rechtsbeistand im
Verfahren zu bekommen. Anwälte geraten meist selbst
ins Visier der Justiz. Auch der Anwalt von Raif Badawi
wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch er
braucht unsere Hilfe.
({2})
Solange das Justizsystem in Saudi-Arabien nicht
grundlegend geändert wird, ist es nicht akzeptabel, das
saudische Unterdrückungssystem auch noch durch den
Verkauf deutscher Überwachungstechnik und die Entsendung deutscher Soldaten und Polizisten zu stabilisieren. Die Gewerkschaft der Polizei hat sich sehr deutlich
zu Wort gemeldet. Sie hat dagegen protestiert, dass deutsche Polizei in einer undurchsichtigen - Zitat - „Gemengelange politischer und wirtschaftlicher Interessen“ eingesetzt wird. Diesem Protest kann ich mich nur
anschließen.
({3})
Die Sicherheitskooperation mit Saudi-Arabien muss
umgehend gestoppt werden. Das gilt für die polizeiliche,
die geheimdienstliche und die militärische Zusammenarbeit.
({4})
Ich freue mich, wenn das, was in den Medien zu lesen
war, tatsächlich stimmt, nämlich dass in der jüngsten Sitzung des Bundessicherheitsrates beschlossen worden ist,
keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien zu liefern. Es
wäre ein wichtiger Schritt, zukünftig auf die Lieferung
von Waffen nach Saudi-Arabien zu verzichten. Die „Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel“ kommentierte diese Berichte über einen möglichen Kurswechsel
wie folgt:
Wer dem Frieden dienen und Menschenrechte achten will, darf keine Rüstungsgüter und insbesondere
keine Kleinwaffen von Heckler & Koch mehr an
Diktatoren und kriegsführende Staaten liefern.
({5})
Allerdings verweigerte die Bundesregierung gestern in
der Fragestunde Antworten zu der weiteren Praxis von
Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien. Deshalb bleibt
zu befürchten, dass es hier nicht zu einer wirklichen
Kursänderung gekommen ist. Ich befürchte, dass nur gewartet wird, bis das öffentliche Interesse etwas erlahmt,
um dann wieder ungebremst Rüstungsgeschäfte mit
Saudi-Arabien machen zu können. Waffenlieferungen
bringen jedoch weder Stabilität noch Frieden, nicht im
Innern eines Landes und auch nicht nach außen. Beenden Sie die Waffenlieferungen - vollständig und dauerhaft.
({6})
Lassen Sie mich abschließend noch auf ein anderes
großes und sehr grundsätzliches Problem hinweisen.
Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz in der UNMenschenrechtskommission. Der Kampf für Menschenrechte ist jedoch nur dann glaubwürdig, wenn er auch
Selbstkritik beinhaltet, wenn auch im eigenen Land die
Menschenrechte beachtet werden und dafür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. Genau hier
droht Deutschland eine gigantische Blamage. Wenn das
Deutsche Institut für Menschenrechte nicht bis März
eine gesetzliche Grundlage erhält, die seine Unabhängigkeit sichert, dann wird Deutschland vom UN-Akkreditierungsausschuss der sogenannte A-Status aberkannt.
Dadurch würde Deutschland wichtige Einflusskanäle
verlieren. Es würde aber vor allem dem globalen Kampf
für Menschenrechte massiv schaden, wenn hier offensichtlich Angst davor herrscht, auch die Menschenrechte
im eigenen Land kritisch untersuchen zu lassen.
({7})
Lassen Sie uns deswegen gemeinsam für eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik eintreten. Wir kämpfen
für die Rechte von Bloggern wie Raif Badawi und genauso für die Menschenrechte in allen Regionen der
Welt. Wir dürfen darüber aber nie die Hausaufgaben im
eigenen Land, die Beachtung der Menschenrechte, vernachlässigen. Lassen Sie uns die Menschenrechte immer
und überall verteidigen!
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ute FinckhKrämer für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen!
Saudi-Arabien ist eines der Gründungsmitglieder der
Vereinten Nationen. Es war also schon Mitglied der Vereinten Nationen, als 1948 die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte als Grundsatzdokument der Vereinten
Nationen verabschiedet wurde. Saudi-Arabien hat sich
damals bei der Abstimmung enthalten, und zwar nicht
wegen der Menschenrechte, um die es im Augenblick im
Fall von Raif Badawi, seinem Anwalt und vielen anderen geht - also wegen des Verbots grausamer Strafen
oder der Einschränkung der Meinungsfreiheit -, sondern
aus zwei anderen Gründen: Saudi-Arabien hatte Bedenken wegen der in dieser Erklärung enthaltenen Religionsfreiheit und wegen der Gleichberechtigung von
Männern und Frauen in Bezug auf die Ehe. Das heißt, in
Saudi-Arabien hat sich etwas verschlimmert seit 1948.
Den Zivilpakt, in dem zentrale Artikel der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte im Hinblick auf persönliche Freiheitsrechte in einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag gegossen sind, hat Saudi-Arabien bis heute
weder ratifiziert noch in anderer Weise völkerrechtlich
verbindlich anerkannt. Dies ist ein echter Ausnahmetatbestand; denn von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten
Nationen haben immerhin 168 den Zivilpakt unterzeichnet und ratifiziert.
Frau Höger, in einem Punkt bin ich mit Ihnen einer
Meinung. Ich hoffe sehr, dass sich die Presseinformationen, die wir in den letzten Tagen lesen konnten, nämlich
dass Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien bis auf Weiteres gestoppt sind, als wahr erweisen.
({0})
Was wir nachweisen können, ist, dass im ersten Halbjahr
2014 wesentlich weniger Waffen nach Saudi-Arabien
exportiert wurden als in den Jahren davor. Insofern hoffe
ich, dass wir dort den Anfang eines Trends sehen, der in
die Richtung weitergeht, die Sie skizziert haben.
Es wurde bereits erwähnt, dass wir es in Bezug auf
Saudi-Arabien nicht mit Einzelfällen zu tun haben, sondern mit einer ganzen Serie von Verurteilungen von
Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung
wahrgenommen haben. Wir haben auch schon gehört,
wie jung die Bevölkerung im Schnitt ist.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Keul?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben gerade gesagt, es sei deutlich, dass bereits 2014 weniger Waffen an Saudi-Arabien geliefert
worden sind als in den Jahren zuvor. Nun liegt uns der
Rüstungsexportbericht für 2014 noch gar nicht vor.
Alles, was wir haben, sind einzelne Erklärungen über
erteilte Genehmigungen im Bundessicherheitsrat, die
aber keinesfalls vollständig sind. Die ministeriellen
Genehmigungen sind nicht enthalten. Was das BAFA genehmigt hat, wissen wir nicht. Deswegen frage ich Sie:
Woher haben Sie diese Informationen?
({0})
Ich habe über das erste Halbjahr 2014 gesprochen,
und dafür liegt ein Zwischenbericht vor.
({0})
Ich komme zurück auf das Rechtssystem von SaudiArabien. Seit 2011 nehmen dort Zensur, Einschüchterungsmaßnahmen, Festnahmen wegen politischer Meinungsäußerungen zu, und das in einem Land, wo ein
Großteil der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist. Das
heißt, dass ein Großteil der Bevölkerung dort wie in anderen Ländern auch, etwa in unserem Land, das Internet
nutzt. Zum Teil wird gebloggt; zum Teil gibt es Einträge
bei Facebook usw. Ich habe mich zwischendurch gefragt, wie viele von uns angesichts der drakonischen
Strafen, die dort aufgrund bestimmter Meinungsäußerungen verhängt werden, den Mut hätten, ihre Meinung
so frei zu äußern, wie es Raif Badawi getan hat.
Ein Punkt noch, der vielleicht für die weitere Diskussion wichtig ist: Die drakonischen Strafen, die Unrechtstatbestände in Saudi-Arabien, die uns im Augenblick zu
Recht so empören, sind größtenteils Vorgänge, die in der
Vergangenheit auch in Deutschland üblich waren. Das
geht bis hin dazu, dass in Saudi-Arabien bis heute Menschen wegen Hexerei verurteilt werden - etwas, was in
Deutschland zum letzten Mal im 18. Jahrhundert vorgekommen ist. Die Hoffnung, die wir haben - Herr
Heinrich hatte erwähnt, dass es an manchen Stellen ganz
winzige Fortschritte gibt -, ist, dass Saudi-Arabien genauso, wie das Deutschland und viele andere Länder der
Welt in den letzten Jahrzehnten, zum Teil sogar Jahrhunderten getan haben, auch erkennt, dass bestimmte Strafen, dass bestimmte Rechtssysteme nicht menschenwürdig sind und nicht aufrechterhalten werden sollten, dass
Saudi-Arabien auf diesem Weg weitergeht und sich in
die gleiche Richtung entwickelt wie fast alle Länder der
Welt, die den Zivilpakt und den Sozialpakt unterschrieben und damit in ihren Ländern die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen rechtsverbindlich gemacht
haben.
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Schicksal von Raif Badawi bewegt die
Welt. Seine Verurteilung und Bestrafung lösen Wut und
Empörung aus. Ihm gehören unsere Solidarität und Unterstützung. Seine Geschichte ist aufrüttelnd, weil sie
aufzeigt, wie zerbrechlich die Freiheit sein kann und wie
mutig und verzweifelt Menschen wie Raif Badawi in so
vielen Teilen der Welt für ihr Recht kämpfen, ihre Meinung frei äußern zu dürfen.
Raif Badawi ist ein mutiger Mann mit einer klaren
Haltung und starken Werten. Er gründete das Forum
„Freie Saudische Liberale“, um eine, wie ich meine, sehr
notwendige und richtige Debatte über das Verhältnis
zwischen Religion und Staat in Saudi-Arabien zu führen.
Sein angebliches Vergehen bestand in der Forderung
nach der Gleichwertigkeit von Christen, Juden, Moslems
und Atheisten. Dafür wurde er bestraft.
Damit ist in aller Deutlichkeit zu sagen: SaudiArabien pervertiert eine unumstößliche Wahrheit zum
Verbrechen. Es gibt keine Gründe, die die Strafe für Badawi erklären oder rechtfertigen könnten. Sie ist als das
zu bezeichnen, was sie ist: grausame Folter.
({0})
Jeder der 50 bereits verabreichten Peitschenhiebe ist
auch ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die sich für
die Freiheit und die Würde des Menschen einsetzen. Unverständlich und zynisch ist in diesem Zusammenhang,
dass der Vertreter Saudi-Arabiens in Paris für Meinungsfreiheit demonstriert, während in der gleichen Woche
Raif Badawi ausgepeitscht wird.
Der Protest gegen diesen Akt der Barbarei ist aber in
Teilen erfolgreich. Ohne den Protest wären vermutlich
weitere Auspeitschungen vollstreckt worden. Damit geht
der Dank auch an die Bundesregierung und unseren
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der den
deutlichen Protest und die klare Haltung Deutschlands
zum Ausdruck gebracht hat. Das ist ein gutes und entscheidendes Zeichen.
({1})
Wichtig ist aber auch: Für Raif Badawi und für den
ebenfalls verurteilten Rechtsanwalt Walid Abu al-Chair
kann es nur einen Weg geben: den Weg der sofortigen
Begnadigung und Freilassung.
({2})
Raif Badawi und Walid Abu al-Chair sind aber nur
zwei aufrüttelnde Beispiele für die insgesamt erschüt7830
ternde Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien. Menschen werden auf offener Straße geköpft, Gliedmaßen
werden amputiert, Frauen unterdrückt, Homosexuelle
verfolgt, und die Äußerung von kritischen Gedanken
wird hart bestraft. Das ist unter keinen Umständen hinnehmbar.
Wirtschaftlich nimmt Saudi-Arabien am freien Welthandel teil und profitiert mit seinem Wohlstand von den
grundlegenden Ideen der Freiheitsrechte, ohne sie selbst
in entsprechender Art und Weise im eigenen Land zu garantieren. Hinter den hellen Glitzerfassaden von Riad
und Dschidda verbirgt sich auch der Schatten einer unfreien und unterdrückten Gesellschaft. Saudi-Arabien
hat die Pflicht, diesen Widerspruch aufzulösen und den
Weg zur Geltung der Menschenrechte zu beschreiten.
Das ist eindeutig zu formulieren; auch unsere Außenpolitik muss sich daran messen lassen, wie wir dieses
Ziel einfordern.
Die universelle Geltung der Menschenrechte kann
niemals einem religiösen Gesetz untergeordnet werden.
Vielmehr kann die Geltung von religiösen Geboten nur
so weit reichen, wie diese mit den Menschenrechten und
der Würde des Menschen in Einklang zu bringen sind.
Nicht die Menschenrechte sind an den Vorgaben der
Scharia zu messen, wie es noch in der Kairoer Erklärung
der Menschenrechte heißt, sondern die Scharia kann und
darf nur im Rahmen der Menschenrechte interpretiert
und gelebt werden.
({3})
Diese Erkenntnis wird zum Inhalt eines großen und langen Reformprozesses in Saudi-Arabien werden müssen.
Wir fordern dabei nicht etwas, was uns nicht zusteht; wir
mischen uns nicht unzulässigerweise in innere Angelegenheiten eines Staates ein. Die Geltung von Menschenrechten ist keine innere Angelegenheit eines Staates.
({4})
Sie entfalten ihre Wirkung nicht, weil sie staatlicherseits
zugestanden werden oder zum kulturellen Zusammenhang passen. Menschenrechte gelten für alle Menschen,
({5})
gleich welcher Herkunft, Religion oder sozialen Stellung, weil wir Menschen sind - unbedingt und überall.
({6})
Johannes Rau hat es so formuliert - ich zitiere -:
Kritik am Stand der Menschenrechte in anderen
Staaten ist daher keine Einmischung in deren innere
Angelegenheiten. Sie verletzt ihre Souveränität
nicht.
… Man darf das Eintreten für Menschenrechte
nicht dahin gehend missverstehen, dass es sich um
ein spezifisch „westliches“ Anliegen handele, mit
dem „westliches“ Gedankengut der übrigen Welt
aufgedrängt werden soll.
Saudi-Arabien wird daher keinen anderen Weg beschreiten können als den Weg des Umdenkens. Das Ziel
für Saudi-Arabien entspricht der Idee von Raif Badawi
selbst. Seine Ehefrau Ensaf Haidar hat es in der heutigen
Ausgabe der Zeit so formuliert:
Seine Vision ist eine liberale Gesellschaft, die auf
einem friedlichen Zusammenleben aller Mitglieder
fußt.
Bevor Raif Badawi verhaftet wurde, hat er auf seinem
Blog Albert Camus mit seinem berühmten Ausspruch
zur Freiheit bemüht:
Die einzige Möglichkeit, mit einer unfreien Welt
umzugehen, ist, so absolut frei zu werden, dass die
eigene bloße Existenz ein Akt der Rebellion ist.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auf der Welt
eine Rebellion im Sinne eines mutigen Eintretens für die
Freiheit und die Würde des Menschen, für Blogger und
für freie Meinungsäußerungen. Der Erfolg wird am Ende
sicher sein, weil keine Gewalt, keine Unterdrückung und
kein Terror den Menschen das Recht nehmen werden,
ihre Meinung frei zu äußern.
({7})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Achim Post, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will einmal versuchen, die Debatte, die wir hier gerade
führen, mit einem anderen wichtigen Ereignis zusammenzubringen, nämlich dem Besuch von Präsident
Obama vor zwei Tagen in Riad.
Worüber haben wir hier geredet? Wir haben darüber
geredet, dass es in Saudi-Arabien massive Menschenrechtsverletzungen gibt. Da ist auch kein Ende abzusehen. Wir haben darüber geredet, dass es dort barbarische
Strafen gibt, und wir haben darüber geredet, welche
Auswirkungen das auf Deutschland haben könnte und
haben sollte. Ich finde, diese gute und kritische Debatte
ist notwendig.
({0})
Worüber hat Präsident Obama in Riad mit dem neuen
König geredet? Auch über Menschenrechte, über ISIS,
Syrien, Iran, die Lage im Nahen Osten und natürlich
über den Ölpreis.
Zu den Menschenrechten. Ich kann nur hoffen, dass
Präsident Obama in seinen Äußerungen genauso klar
war wie unser Außenminister, der zu der Verurteilung
des Bloggers gesagt hat, sie sei grausam, falsch und unAchim Post ({1})
gerecht. Wenn ich mich in Europa umschaue, dann sehe
ich nur wenige Parlamente und nur wenige Regierungen
in anderen EU-Ländern, die die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien klarer und deutlicher kritisieren, als wir es tun. Das wir das tun, ist gut so.
Zu ISIS. Dies ist ein Problem, über das wir lange und
intensiv geredet haben. Man muss sagen, dass SaudiArabien eine der wichtigsten Nationen im Kampf gegen
ISIS ist und einen großen Beitrag dazu leistet. SaudiArabien beteiligt sich an Bombardierungen und hat eine
wichtige Konferenz der Golfstaaten gegen ISIS ausgerichtet. Saudi-Arabien hilft nicht nur mit Taten, sondern
geht auch ideologisch gegen ISIS vor. Der verstorbene
König hat klipp und klar gesagt: Die größte Gefahr für
den Islam ist ISIS. ISIS sei geradezu eine Pervertierung
des Islam.
Das erwähne ich nicht - verstehen Sie mich nicht
falsch -, um anzudeuten, dass das, was die Saudis machen, auf der Grundlage einer werteorientierten Außenpolitik und auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten passiert. Das hat damit nichts zu tun; da
gibt es ganz andere Interessen, wie Sie alle wissen. Viele
Beispiele zeigen, welche Interessen Saudi-Arabien mit
seinen außenpolitischen Beziehungen verfolgt. Was den
Arabischen Frühling angeht, so kann man sagen, dass
Saudi-Arabien von Anfang an jede Demokratisierungsbewegung in der Region bekämpft hat. Saudi-Arabien
hat die Militärs in Ägypten vorbehaltlos unterstützt. Ich
könnte noch weitere Beispiele anführen.
Über andere Interessen dieser großen Mittelmacht in
der Region sollten wir hingegen reden. Syrien: Oberste
Priorität für Saudi-Arabien hat der Kampf gegen Assad.
Wenn ich das richtig sehe, bekämpfen auch wir ihn.
({2})
Flüchtlingshilfe: Saudi-Arabien ist einer der größten
Geldgeber, wenn es um Hilfe für Flüchtlinge aus dem
Irak und aus Syrien geht. Nahostkonflikt: Saudi-Arabien
ist eindeutig für die Zweistaatenlösung und hilft im Gazastreifen. Das alles sind Punkte, über die wir - bei aller
massiven Kritik - mit Saudi-Arabien weiter im Gespräch
bleiben sollten.
Zusammengefasst sind für mich drei Punkte ganz
klar: Erstens. Wir müssen mit unserer Kritik an der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien so weitermachen wie
bisher, nämlich klar, eindeutig, umfassend und nachhaltig.
({3})
Zweitens. Wir dürfen Dialoge und die entsprechenden
Strukturen nicht abbauen, sondern müssen sie - im Gegenteil - erweitern, und zwar nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch und gerade auf der Ebene der Zivilgesellschaft. Drittens. Unsere Haltung und unser
Handeln werden in Saudi-Arabien wahrgenommen,
nicht nur in der Führung, sondern auch im Volk. Deshalb
ist die Debatte hier im Deutschen Bundestag so wichtig.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den beiden antragstellenden Fraktionen, den Linken und den Grünen, dafür, dass sie es ermöglicht haben, dass wir diese Debatte
heute so führen konnten, wie wir das getan haben.
Schönen Dank.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/
3835 und den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3832. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke wünschen jeweils Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen
jeweils Überweisung zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Menschenreche und humanitäre Hilfe
und mitberatend an den Auswärtigen Ausschuss, an den
Ausschuss für Wirtschaft und Energie sowie an den Verteidigungsausschuss.
Nach ständiger Übung stimmen wir zunächst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Wer für die beantragten Überweisungen stimmt, den bitte ich um ein
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit sind die Überweisungen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen so beschlossen. Deshalb stimmen wir heute über die Anträge auf
den Drucksachen 18/3835 und 18/3832 nicht in der Sache ab.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der
Integrierten Luftverteidigung der NATO auf
Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des
Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({1})
sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates
vom 4. Dezember 2012
Drucksachen 18/3698, 18/3859
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3860
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Da sich kein
Widerspruch erhebt, ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Niels Annen, SPD, das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag befasst sich heute zum
dritten Mal mit der Verlängerung des Mandats Active
Fence, in dem es um einen Beitrag der NATO zur integrierten Luftverteidigung in der Türkei geht.
Vor dem Hintergrund der dramatischen Lage in Syrien ist die NATO der Bitte ihres Bündnispartners Türkei
nachgekommen, eine Lücke in der türkischen Luftverteidigung zu schließen. Es geht hier also um die Solidarität
im Bündnis. Es geht aber auch um die Sicherheit der
Türkei. Die Stationierung der Patriot-Raketen dient dabei weder der Bekämpfung des Assad-Regimes noch der
Vorbereitung oder Durchsetzung einer Flugverbotszone.
Die Kommandogewalt - darüber werden wir Sie in dieser Debatte vermutlich wieder reden hören - liegt bei der
NATO und nicht bei der Türkei. Es geht also nicht um
eine militärische Einmischung in den Bürgerkrieg, sondern um den Schutz für einen Bündnispartner, einen
Schutz - das darf man an dieser Stelle erwähnen -, der
übrigens auch den vielen Flüchtlingen dient, die wegen
der mörderischen Kriegsauseinandersetzung in der syrischen Republik in die Türkei geflohen sind.
({0})
Die Zahl der Flüchtlinge, die von Syrien in die Türkei
geflohen sind, beläuft sich mittlerweile auf über 1,5 Millionen Menschen. Die Türkei leistet hier Außergewöhnliches. Die Hilfsbereitschaft und die Großzügigkeit der
türkischen Regierung, der türkischen Zivilgesellschaft
und der türkischen Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen verdienen unsere Anerkennung.
({1})
Die Solidarität mit der Türkei innerhalb des NATOBündnisses bedeutet jedoch nicht - auch das will ich sagen -, dass wir uns mit allen Aspekten der türkischen
Syrien-Politik identifizieren. Es gibt gute Gründe, die
Politik der türkischen Regierung kritisch zu betrachten.
Es gibt leider zahlreiche Hinweise, Vorfälle und Zeugenaussagen, die besagen, dass die türkischen Behörden ein
ziemlich nachlässiges, wenn nicht gar zum Teil auch
wohlwollendes Verhalten gegenüber ausländischen
Kämpfern an den Tag legen. Offenbar gelingt es ausländischen Kämpfern weiterhin, aus Europa nach Syrien
einzureisen. Offensichtlich ist auch der umgekehrte Weg
relativ problemlos möglich. Deswegen sei an dieser
Stelle daran erinnert, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 24. September des vergangenen Jahres
eine Resolution - die Foreign-Fighter-Resolution - verabschiedet hat, in der er bekräftigt - ich will daraus zitieren -: „… dass alle Staaten gehalten sind, Bewegungen
von Terroristen oder terroristischen Gruppen zu verhindern, indem sie wirksame Grenzkontrollen durchführen
…“. Wir erwarten von der Türkei die komplette Umsetzung dieser Resolution.
({2})
So wie sich die Lage in Syrien derzeit darstellt - das
muss man ganz nüchtern feststellen -, werden wir uns
vermutlich auf einen langjährigen Konflikt mit weiteren
unschuldigen Opfern einstellen müssen; denn bisher
spricht nichts dafür, dass irgendjemand von dem Ziel abgerückt ist, diesen Krieg mit militärischen Mitteln für
sich zu entscheiden. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass das gelingen kann, ausgesprochen gering.
Außenminister Steinmeier hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht nur einen Anlauf für eine politische Lösung benötigen, sondern wir brauchen gerade
jetzt neue Ideen und neue Ansätze. Wir müssen denjenigen ausdauernde politische Unterstützung zukommen
lassen, die sich darum kümmern.
Wir wissen, dass Russland seit einigen Monaten versucht, mit der syrischen Opposition ins Gespräch zu
kommen. Das ist erst einmal positiv. Die Verhandlungen
verlaufen allerdings schleppend. Über die genauen Vorschläge wissen wir relativ wenig. Ein wenig mehr Transparenz, Kooperation und Kommunikation an dieser
Stelle wären daher wünschenswert.
({3})
Der neuernannte Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Staffan de Mistura, versucht - auch das wissen
wir - etwas über eine neue Strategie zu erreichen. Er
nennt das „incremental local freezes“, also ein lokales
Einfrieren des Konfliktes. Sie wissen vielleicht, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen, dass es die Versuche
gibt, in der Stadt Aleppo einen lokalen Waffenstillstand
auszuhandeln. Das ist in gewisser Weise das Eingeständnis, dass mit den Genfer Verhandlungen nicht der große
Wurf gelungen ist. Vielleicht ist das jetzt der richtige
Ansatz. Ich bin jedenfalls froh darüber, dass diese Bundesregierung die Bemühungen von Herrn de Mistura
nachhaltig unterstützt; dieses Parlament sollte das auch
tun.
({4})
Staffan de Mistura hat den VN-Sicherheitsrat unterrichtet und entsprechende Empfehlungen vorgetragen,
wie die Wiederaufnahme eines politischen Prozesses
funktionieren könnte. Ich glaube, dass er recht hat, wenn
er sagt - ich zitiere ihn -:
Wir haben den Eindruck, dass niemand diesen
Krieg gewinnen kann … Die einzigen, die derzeit
den Krieg verlieren, sind die Syrer.
({5})
Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Türkei in einer ausgesprochen schwierigen strategischen und auch
geografischen Situation befindet. In der heutigen Debatte ist auf die Befreiung von Kobane hingewiesen worden. Auch wir in der SPD-Fraktion freuen uns darüber.
Es hat zum ersten Mal Kooperationen vonseiten der türkischen Regierung gegeben, Kämpfern aus den kurdischen Gebieten die Möglichkeit zu geben, sich am
Kampf in Kobane zu beteiligen. Jeder, der sich mit der
Politik in der Türkei beschäftigt, weiß, dass das innenNiels Annen
politisch hochbrisant und kompliziert ist, weil es einen
ungelösten Konflikt mit der PKK und den Kurden gibt.
Lassen Sie mich zum Abschluss darauf hinweisen:
Die Türkei ist und bleibt der zentrale Akteur in der Region. Ja, wir haben Kritik am Verhalten der türkischen
Regierung, aber wir brauchen die Türkei zur Lösung des
Syrien-Konfliktes. Deswegen brauchen wir die Bereitschaft zur Solidarität mit der Türkei.
({6})
Deswegen stimmen wir heute dem Antrag der Bundesregierung zu.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Katrin Kunert.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz der Patriot-Abwehrraketen in der Türkei soll um ein weiteres Jahr verlängert werden. Die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler soll dieser Einsatz
weitere 20,5 Millionen Euro kosten.
Ich will hier noch einmal festhalten, wie es zu diesem
Einsatz gekommen ist. Der Krieg in Syrien stellte nach
Angaben der türkischen Regierung eine Gefahr für die
territoriale Unversehrtheit des Landes dar. Einschläge
fehlgeleiteter Granaten wurden als Grund genannt, die
NATO um Beistand zu bitten. Allerdings räumte die
Türkei selbst ein, dass die Granaten nicht gezielt auf ihr
Territorium abgefeuert wurden. Es gab also Anfang
2013 keine Bedrohungssituation, die den Bündnisfall
- auch nach Ihrer Logik - gerechtfertigt hätte.
Heute, im Januar 2015, schätzt die Bundesregierung
die Bedrohungslage als niedrig ein; sie konstruiert aber
Gefahren wie einen Angriff mit eventuell noch vorhandenen Chemiewaffen oder ballistischen Raketen. Was
die Bundesregierung in der Öffentlichkeit allerdings
nicht sagt, ist, dass diese Patriot-Abwehrraketen bei
Chemiewaffen völlig wirkungslos sind. Deshalb sagen
wir: Ihre Raketen haben bisher keine Entspannung und
keinen Frieden gebracht. Im Gegenteil: Sie riskieren,
dass Deutschland in diesen Konflikt hineingezogen
wird, und das lehnt die Linke ab.
({0})
Die Türkei wurde und wird von Syrien nicht bedroht.
Syriens Präsident Assad hat doch ganz andere Probleme,
als die Türkei anzugreifen und sich dann auch noch die
NATO zum Gegner zu machen. Das muss doch auch Ihnen klar sein.
({1})
Die türkische Armee ist die zweitgrößte in der NATO.
Und diese Armee soll nicht in der Lage sein, die eigenen
Grenzen zu sichern?
Die Türkei ist nach wie vor Teil des Konflikts. Sie unterstützt islamistische Gotteskrieger und ermöglicht den
Waffennachschub für den Krieg in Syrien. Schlimmer
noch, nach türkischen Medienberichten wollte der Militärgeheimdienst 2014 sogar eigene Waffen an islamistische Terrorgruppen in Syrien liefern. Und dafür wollen
Sie der Türkei auch noch Rückendeckung geben? Für
den Krieg ist die Grenze zu Syrien geöffnet, für humanitäre Hilfe und für den Wiederaufbau bleibt sie geschlossen. Die Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung sind
systematisch abgeriegelt, und das sagt aus unserer Sicht
wirklich alles.
({2})
Die kurdischen Verteidiger von Kobane haben jetzt
nach mehreren Monaten die Stadt vom „Islamischen
Staat“ befreit. Hierfür gab es kaum Unterstützung von
der Türkei. Im Gegenteil: Die Versuche demokratischer
Selbstverwaltung sind der Regierung in Ankara ein Dorn
im Auge. Sie möchte dieses demokratische Experiment
am liebsten ersticken. Es ermutigt die Kurden und andere Minderheiten im eigenen Land dazu, mehr Demokratie zu fordern - und das ist dringend notwendig.
({3})
Wir halten es für völlig falsch, dass die Bundeswehr
auch wegen einer angeblichen innerpolitischen Bedrohungssituation in der Türkei bleiben soll, wie Ihr Kollege Mißfelder es in der ersten Lesung hier im Haus gesagt hat. Ich bitte Sie: Beenden Sie dieses Mandat, und
ziehen Sie die Raketen zurück!
({4})
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für einen Waffenstillstand und Verhandlungen in Syrien einzusetzen.
({5})
- Sie sagen: „Machen wir doch!“ Aber mit welchem Erfolg? - Tragen Sie dazu bei, dass die Finanzquellen des
„Islamischen Staates“ ausgetrocknet werden! Solange der
IS sein Öl über die Türkei verkaufen kann, schwimmt er
im Geld. Beenden Sie Ihre Kumpanei mit der türkischen
Regierung! Fordern Sie sie auf, die Grenzen zu den syrischen Kurdengebieten zu öffnen, um ganz normalen
wirtschaftlichen Handel und humanitäre Hilfe zuzulassen, damit mit dem Wiederaufbau im Land begonnen
werden kann! Lassen Sie uns die 20,5 Millionen Euro,
die der Patriot-Einsatz kosten würde, für die Versorgung
der Bevölkerung und der Flüchtlinge, für Lebensmittel,
für wichtige Medikamente und Unterkünfte ausgeben!
Das wäre humanitäre Hilfe.
({6})
Was wir jetzt brauchen, sind Diplomatie und Verhandlungen, um die Lage im Nahen Osten zu stabilisie7834
ren. Deshalb lehnen wir eine weitere Verlängerung dieses Einsatzes ab.
Schönen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege
Dr. Andreas Nick.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Türkei ist in besonderer Weise von dem schrecklichen
Bürgerkrieg in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, in Syrien, betroffen. In den letzten Jahren hat das Land über
1,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen und
trägt gemeinsam mit dem Libanon und Jordanien die
Hauptlast. Sie stellt sich dieser humanitären Verantwortung in vorbildlicher Weise.
Das Mandat zur Mission Active Fence, über dessen
Verlängerung wir heute entscheiden, soll unserem
NATO-Partner Türkei weiterhin Schutz bieten - Schutz
seiner Bevölkerung, Schutz seines Territoriums, aber
auch Schutz der aufgenommenen Flüchtlinge -; denn
auch zwei Jahre nach Entsendung der ersten Patriot-Systeme ist die Türkei weiterhin Bedrohungen ausgesetzt.
Syrische Kurzstreckenraketen können auch heute noch
Ziele auf nahezu dem gesamten türkischen Staatsgebiet
erreichen. Die Türkei selbst verfügt derzeit über keine
eigene Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Raketen und
ist somit zwingend auf die Unterstützung ihrer Verbündeten angewiesen. Im Bündnis ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir im Bedrohungsfall einem Partner
notwendige militärische Fähigkeiten zum Schutz seines
Territoriums und seiner Bevölkerung zur Verfügung stellen.
Als Deutscher Bundestag stehen wir hier in einer besonderen Verantwortung, zum einen gegenüber unseren
Bündnispartnern, die sehr genau darauf achten, wie wir
mit unserem Parlamentsvorbehalt im Rahmen von Bündnisverpflichtungen umgehen. Dieses Thema beschäftigt
ja auch die Rühe-Kommission, weil Verlässlichkeit unbedingte Voraussetzung für mehr Pooling und Sharing
im Bündnis ist. Zum anderen stehen wir natürlich in der
Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, denen ich herzlich für ihren engagierten Einsatz
danke.
({0})
Im Rahmen eines Türkeibesuchs im März werde ich voraussichtlich die Gelegenheit haben, mich vor Ort bei
den Soldaten des Patriot-Einsatzes ebenso zu informieren wie über die Situation der Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Syrien.
Der Patriot-Einsatz hat rein defensiven Charakter und
bedeutet keine Involvierung Deutschlands oder der
NATO in den syrischen Bürgerkrieg. Aber eine Stabilisierung der Region liegt nicht nur aus humanitären
Gründen - dies ganz überwiegend -, sondern natürlich
auch mit Blick auf die andauernde Notwendigkeit dieses
Einsatzes in unserem Interesse.
Im Hinblick auf die Tragödie des syrischen Bürgerkrieges gibt es sicher zwischen der Türkei und uns unterschiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen bezüglich
einzelner Akteure in dieser komplexen Lage. Der türkische Ministerpräsident Davutoglu bemängelte bei seinem Besuch in Berlin nicht ganz zu Unrecht eine mangelnde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft
bei der Beendigung des Assad-Regimes, das Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt.
Unabhängig davon erwarten wir jedoch künftig von
der Türkei eine unzweideutige Haltung gegenüber ISIS.
In jedem Fall brauchen wir eine verbesserte Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden, um den
Transit von Extremisten aus Europa nach Syrien und in
den Irak und zurück wirksamer kontrollieren und möglichst unterbinden zu können.
Dass sich die Türkei mit kurdischen Autonomiebestrebungen schwertut, kann nicht überraschen. Aber
dass die Türkei eine konstruktive Rolle einnehmen kann,
hat sie bereits im Norden des Irak gezeigt, denn ohne
türkische Mitwirkung wäre die positive Entwicklung der
autonomen Region Kurdistan in Arbil nicht möglich gewesen.
Herr Kollege Dr. Nick, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen?
Bitte schön.
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident und Herr Kollege. - Ich wollte Sie etwas fragen, weil Sie sagten, man
müsse die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der
Türkei verstärken. Davutoglu habe sich beschwert. Sie
haben gesagt, man müsse auf jeden Fall die Zusammenarbeit verstärken, um gegen IS vorzugehen. In diesem
Zusammenhang möchte ich Sie gerne etwas fragen. Gestern Abend ging die Nachricht herum, dass Deutschland
gerade mit der Türkei in Verhandlungen über ein Geheimdienstabkommen ist. Der BND soll durch dieses
Abkommen, über das verhandelt wird, mit dem türkischen Geheimdienst enger zusammenarbeiten, um den
Terror besser bekämpfen zu können.
Ich möchte Sie gerne fragen: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ein Whistleblower vor kurzer Zeit Dokumente
veröffentlicht hat, laut denen im Januar 2014 der türkische Geheimdienst, mit dem Deutschland jetzt ein Abkommen schließen möchte, eine Lkw-Ladung Waffen
direkt an islamistische Terrormilizen an der Grenze geliefert hat? Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass es Unterstützung nicht nur in Form von Waffen gibt, sondern
zum Beispiel auch durch die Behandlung von verletzten
Dschihadisten in türkischen Krankenhäusern? Dies findet laut vielen Berichten, auch Bildberichten, statt.
Glauben Sie ernsthaft, dass es wirklich ein Schritt in
die richtige Richtung ist, mit dem Geheimdienst der Türkei, die den „Islamischen Staat“, aber auch andere Terrorgruppen wie die Al-Nusra-Front nachweislich mit unterstützt hat, enger zu kooperieren und ein Abkommen
abzuschließen, oder wird es bei diesem Abkommen eher
darum gehen, diejenigen, die gegen IS teilweise erfolgreich gekämpft haben, zu bekämpfen, Stichwort PKK?
({0})
Frau Kollegin Dağdelen, ich darf zwei Dinge unterstreichen - ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen -:
Erstens. Ich habe gesagt: Wir erwarten von der Türkei
eine unzweideutige Haltung, auch gegenüber ISIS. Zum
Zweiten. Es ist in unserem unmittelbaren und elementaren Interesse, den Transit von Extremisten aus Deutschland und Europa in die Kampfgebiete in Syrien und im
Irak, der über die Türkei führt, zu unterbinden. Es gibt
keinen anderen plausiblen Weg, dies zu tun, als in Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden,
nicht gegen sie. - Ich glaube, damit ist die Frage hinreichend beantwortet.
({0})
Meine Damen und Herren, gerade mit Blick auf die
Brandherde im Mittleren Osten und in Nordafrika
kommt der Türkei eine entscheidende Rolle zu. Die Türkei liegt darüber hinaus an einer geostrategischen
Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Durch ihre
NATO-Mitgliedschaft ist die Türkei eng an den Westen
gebunden. Seit Jahrzehnten hat sie sich als verlässlicher
Partner innerhalb des Bündnisses erwiesen. Aber es ist
richtig: Gerade als Freunde der Türkei beobachten wir
manche innenpolitischen Entwicklungen, etwa im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und des Umgangs mit Minderheiten, mit Aufmerksamkeit und manchmal durchaus auch mit Sorge.
Manches an der politischen Rhetorik in der Türkei wirkt
auf uns befremdlich und gelegentlich leider auch verstörend.
({1})
Aber die Türkei ist und bleibt für uns ein wichtiger
strategischer Partner. Dies gilt nicht nur im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch in den Fragen von Wirtschaft, Handel und Energie. Es gilt nicht
zuletzt im Hinblick auf die Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, die in unserem Land zu Hause sind. Es
ist daher in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse,
die strategische Partnerschaft mit der Türkei zu pflegen
und weiterzuentwickeln.
Ministerpräsident Davutoğlu hat bei seinem Besuch
in Berlin erneut bekräftigt, dass Europa zentraler Bezugspunkt türkischer Außenpolitik bleibt. Wir sollten in
diesem Zusammenhang aufmerksam zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei eine stärkere Anbindung an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union sucht. Dabei kann es nicht darum gehen,
das Ergebnis von EU-Beitrittsverhandlungen vorwegzunehmen, sondern es geht weitgehend um die Wiederherstellung eines Status, wie es ihn zu Zeiten der Westeuropäischen Union bereits gab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit unseren Partnern werden wir immer wieder neu zu prüfen
haben, wie lange eine Fortsetzung des Patriot-Einsatzes
noch notwendig und umsetzbar ist. Auf lange Sicht wäre
sicherlich der Aufbau eigener Fähigkeiten der Türkei zu
erwägen, um diesen Einsatz der Verbündeten abzulösen.
Heute gilt jedoch, dass die Mission weiterhin einen
wichtigen Beitrag zum Schutz unseres Verbündeten
leistet. Meine Fraktion stimmt der Verlängerung der
Mission Active Fence daher zu.
Vielen Dank.
({2})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Omid Nouripour.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der katastrophale Krieg in Syrien droht auch viele Nachbarstaaten des Landes ins Chaos zu ziehen. Nirgendwo ist das
derzeit so sichtbar wie im Irak. Wir wissen aber, dass es
auch eine Bedrohungslage für die Türkei gibt. Meine
Fraktion hat diesem Mandat vor drei Jahren und seitdem
immer wieder mit Bauchschmerzen zugestimmt. Wir haben das gemacht, weil wir immer wieder versichert bekommen haben, dass die Patriots zu rein defensiven
Zwecken aufgestellt sind, dass es ein NATO-Kommando
gibt, dass sie weit weg von der Grenze sind und nicht
von Agents Provocateurs auf der anderen Seite der
Grenze beschossen werden können. Die Bedrohungslage
ist heute nicht wesentlich anders. Die ballistischen Raketen befinden sich weiterhin in Syrien. Es gibt mindestens
fünf Anlagen, in denen Chemiewaffen produziert werden können, die bisher nicht zerstört worden sind. Artikel 4 des NATO-Vertrages ist gerade in diesen Zeiten ein
wichtiges Gut. Deshalb wird meine Fraktion auch diesmal mehrheitlich zustimmen.
Nichtsdestotrotz ist das Mandat das eine und das
ganze Umfeld etwas anders; auch darüber muss man
sprechen. Ja, wir haben einen Riesenrespekt davor, dass
die Türkei 1,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat.
Das ist eine unglaubliche Leistung, die die Menschen in
der Türkei erbringen.
({0})
Aber es ist auch Kritik notwendig. Es ist gerade gesagt
worden, dass es einen Bericht gibt - von Hackern veröffentlicht; es ist bei weitem nicht der erste Bericht -, dass
Anfang letzten Jahres Gendarmen einen Konvoi aufgehalten haben, der unter dem Schutz des damaligen
Ministerpräsidenten stand. Im Konvoi befanden sich Raketen, Munition und Waffen, wahrscheinlich für die
Nusra-Front in Syrien. Darüber gibt es in der Türkei eine
Nachrichtensperre. Noch bemerkenswerter ist, dass die
13 Gendarmen, die daran beteiligt waren, derzeit wegen
Spionage angeklagt sind. Das ist eine ungeheuerliche
Geschichte. Deshalb ist es notwendig, dass man dort laut
die Stimme der Kritik erhebt und nicht - wie die Bundesregierung in der Begründung des Mandatstextes - behauptet, die Politik der Türkei in Syrien wäre eine besonnene; das ist einfach nicht richtig.
({1})
Es gibt Krankenschwestern, die Briefe an die Parlamentarier der Türkei schreiben, weil sie es nicht mehr
aushalten: Sie betreuen ISIS-Kämpfer - das ist Teil des
hippokratischen Eides: dass man alle Versehrten betreut -,
während die Flüchtlinge nicht in die Krankenhäuser
kommen. Diese Kämpfer werden nach ihrer Entlassung
nicht von Polizisten abgeführt und ins Gefängnis gebracht, sondern werden in den Krankenhäusern fit gemacht, damit sie weiterkämpfen können. Das ist ein
wahrer Skandal.
({2})
Ich bin sehr froh, dass die Krankenschwestern trotz der
großen Bedrohung bereit sind, über diese Ungeheuerlichkeiten zu sprechen.
Aber auch innenpolitisch gibt es einiges, worüber
man wirklich laut reden muss. Die Pressefreiheit - dieser
Tage zu Recht ein großes Thema - steht in der Türkei
massiv unter Druck. Allein im Dezember sind dort
25 Journalistinnen und Journalisten verhaftet worden.
Freedom House sagt, die Pressefreiheit sei in der Türkei
mittlerweile nicht mehr gegeben; die Einstufung ist: unfrei. Gleichzeitig stehen Fußballfans von Carsi, einem
Fanklub von Besiktas Istanbul, die bei den Demonstrationen zur Rettung der Bäume im Gezi-Park auf der
Straße waren, jetzt vor Gericht und sind wegen Terrorismus und Umsturz anklagt - das hat mit Rechtsstaat überhaupt nichts mehr zu tun -,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD und des Abg. Michael Brand ({3})
während gleichzeitig der Korruptionsskandal um den
Präsidenten einfach ausgesessen wird. Da hat die Kollegin Dağdelen, mit der ich nicht häufig einer Meinung
bin, einfach recht: Und das ist das Umfeld, in dem jetzt
ein Geheimdienstabkommen verhandelt werden soll? Es mag Gründe dafür geben, ein solches Abkommen anzustreben; aber was nicht geht, ist, dass man in diesem
Umfeld ein Abkommen verhandelt und über diese Missstände in der Türkei schlicht schweigt; das ist einfach
nicht hinnehmbar.
({4})
Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder
auch im Zusammenhang mit Bündnissolidarität über dieses Mandat gesprochen. Bündnissolidarität hat einen
großen Wert - das sehen wir auch -; aber Bündnissolidarität ist kein Automatismus. Vor diesem Hintergrund und
bei diesem Umfeld, das ja täglich schlechter wird, kann
ich Ihnen nur sagen: Ich kann meiner Fraktion vielleicht
ein letztes Mal empfehlen, dem Mandat zuzustimmen;
aber angesichts der Vorzeichen, die wir derzeit haben,
wüsste ich nicht, ob das nächstes Jahr noch möglich ist.
Ich kann nur hoffen, dass die Bundesregierung aus den
Geschehnissen wirklich etwas lernt: Mit der Türkei - ja,
ein Partner; ja, ein Bündnispartner - offen und geradeheraus eine Aussprache zu suchen, ist so notwendig wie
seit langer, langer Zeit nicht mehr. Bitte gehen Sie diesen
Weg!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Hellmich,
SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt Situationen in der parlamentarischen Beratung, da nimmt man seine Blätter, legt sie zur Seite
und geht auf die Diskussion ein, die hier geführt wird.
Vorab, um das von vornherein klar zu sagen: Wir werden der Verlängerung eines solchen Mandates - des Einsatzes von Patriot-Raketen zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung - zustimmen. Es gibt an dieser
Stelle keine Alternative dazu, der Türkei als unserem
Partner in der NATO die nötige Unterstützung zu geben,
wohlwissend, dass dies in einer Zeit passiert, in der sich
die Situation in der Region bei weitem nicht verbessert,
sondern im Wesentlichen verschlechtert hat.
Es ist auf die Zahlen hingewiesen worden: Als wir
vor etwas mehr als einem Jahr hier diskutiert und debattiert haben, redeten wir über 200 000 Flüchtlinge in der
Türkei. Heute reden wir über 1,6 bis 1,7 Millionen
Flüchtlinge in der Türkei. Die WHO und andere haben
die Türkei sehr dafür gelobt, wie sie mit den Flüchtlingen aus Syrien umgeht, wie sie die Versorgung organisiert, wie sie sich um die Flüchtlinge kümmert. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei an dieser
Stelle ihrer Verantwortung für die Menschen in der Region nachkommt, indem sie in diesem gesamten Konflikt den Menschen als Fluchtort zur Verfügung steht und
ihnen den nötigen Schutz gibt.
Diesen Flüchtlingen wollen wir genauso wie allen anderen Menschen in der Türkei denselben Schutz vor
möglichen syrischen Raketen - von wem auch immer
abgeschossen - geben. Wir wollen den bedrohten Menschen in der Türkei diesen Schutz geben, damit sie sich
sicher fühlen können und damit sie an der Stelle auch
wissen, dass wir an ihrer Seite stehen und wir mit zu
denjenigen gehören, die ihnen helfen wollen, in der Region für Frieden zu sorgen, für eine Entspannung der Situation zu sorgen, dazu beizutragen, dass der Konflikt
gelöst wird. Dabei spielt nach wie vor die Türkei eine
ganz wesentliche, eine ganz entscheidende Rolle.
({0})
Deshalb werden wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln helfen, genauso wie nämlich die Türkei
auch anderen NATO-Partnern an anderen Stellen geholfen hat. Ich erinnere an das Engagement in Afghanistan
im Rahmen von ISAF, als die Türkei eine wesentliche
Stütze des Einsatzes war.
({1})
- Dass Sie den nicht wollen, das weiß ich ja; das können
Sie hier auch noch ein anderes Mal sagen. - Genauso
wie die Türkei mit 380 Soldatinnen und Soldaten bei
KFOR im Kosovo unterwegs ist und dort hilft, für eine
sichere Situation im Kosovo zu sorgen, oder mit Fregatten bei UNIFIL, muss sie - jetzt vielleicht auch mit einer
gesteigerten, wieder höher werdenden Bedeutung - ihren Aufgaben im Rahmen der Regulierung eines Konflikts zwischen Israel und dem Libanon nachkommen.
An dieser Stelle müssen wir auch mit der Türkei sprechen, wie sie ihren Einfluss da einsetzt, damit es einen
solchen Konflikt und eine Eskalation nicht gibt. Das
Gleiche gilt dafür, wie sie uns im Golf von Aden und am
Horn von Afrika bei der Bekämpfung der Piraterie hilft.
Es ist der Geist dieses Vertrages der NATO, den Türken in der Situation, in der sie sind, zu helfen. Mit Fug
und Recht können sie sagen, dass sie bedroht sind. Die
Zahlen sind genannt, die Strukturen sind genannt.
Gleichzeitig wissen wir natürlich auch um die innere
Situation, die in der Türkei herrscht und die hier vielfach
- gerade am ausführlichsten von dem Kollegen
Nouripour - beschrieben und bezeichnet worden ist.
Sie von der Linken müssen sich entscheiden, was Sie
mit der Türkei machen wollen: reden und verhandeln,
damit die Situation besser wird, oder sie herausschmeißen und gar nicht mehr mit ihr reden. Auf der einen Seite
Grenzen öffnen und auf der anderen Seite Grenzen
schließen. Wenn Sie einmal zu einer konsistenten Position kommen würden, dann wären Sie an dieser Stelle
vielleicht auch ein Stück glaubwürdiger, als Sie das im
Moment sind.
({2})
Die Türkei kann sich mit Fug und Recht bedroht fühlen, und an dieser Stelle werden wir ihr helfen. Die türkische Regierung hat trotz allem in diesem Konflikt besonnen und verantwortungsvoll gehandelt. Sie hat in diesen
Konflikt nicht offensiv eingegriffen, obwohl die Beschlüsse des Parlaments das zugelassen hätten. Nein, sie
spielt da eine andere Rolle.
Wir wissen um die schwierige Situation der Türkei,
um ihre schwierige Rolle, die sie dort spielt, und wir sagen ihr das. Viele Parlamentarier waren da und haben
vor Ort mit all denjenigen gesprochen, die beteiligt sind.
Die haben auf den Plätzen gestanden und haben auch in
der Türkei deutlich gemacht, dass das so nicht geht und
dass man mit Menschenrechten, mit demokratischen
Rechten anders umgehen muss.
Wir haben ein ureigenes Interesse, dass es in Verhandlungen mit der Türkei dazu kommt, dass Foreign
Fighters über die Türkei nicht hinein- und nicht herauskommen können.
Ich wünsche der Bundesregierung bei den Verhandlungen nicht, dass sie scheitern, sondern den vollen Erfolg dieser Verhandlungen über Abkommen, um an dieser Stelle dafür zu sorgen, dass wir auch beschützt
werden. Unser eigenes Interesse ist das, und deshalb
geht es auch um unsere eigenen Sicherheitsinteressen.
Es geht auch darum, dass die Verhandlungen über das
Atomprogramm mit dem Iran, die unter Beteiligung der
Türkei gerade in Istanbul laufen, zu einem guten Ergebnis kommen.
Also: Wir brauchen die Türkei in der Region, wir
brauchen sie als unseren starken Partner an der Seite und
im Bündnis der NATO. Wir sehen die Türkei als stabilisierenden Faktor und werden beides tun: sagen, was verbessert werden muss, was anders werden muss, und
gleichzeitig dieser Verlängerung des Mandats zustimmen, damit es in der Region vorwärtsgeht und wir einen
guten Beitrag dazu leisten können.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl Lamers für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um
es gleich vorweg zu sagen - insbesondere mit Blick auf
die Fraktion Die Linke -: Die Lage an der türkisch-syrischen Grenze ist noch längst nicht so stabil, dass wir uns
bereits jetzt aus dem Mandat Active Fence zurückziehen
könnten, erst recht dann nicht, wenn ein NATO-Partner
um Hilfe bittet und Bündnissolidarität gefordert ist.
Seit Januar 2013 schützen amerikanische, niederländische und deutsche Patriot-Staffeln die Bevölkerung
und das türkische Territorium gegenüber möglichen
Angriffen aus dem syrischen Luftraum. Anstelle der
Niederländer, die sich in diesen Tagen aus dem Mandat
zurückziehen, rücken jetzt spanische Soldaten nach. Ich
stelle fest: Der Luftabwehrschirm an der türkischen Südgrenze bleibt intakt. Das ist eine gute Nachricht.
({0})
Der Einsatz hat sich seit Beginn als sehr effizient erwiesen.
Heute geht es darum, das Mandat um ein Jahr, bis
zum 31. Januar 2016, zu verlängern. Damit gehen wir in
das dritte Jahr.
Bei jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr stellen
sich uns die Fragen: Ist er notwendig? Warum sind wir
da? - Sie alle kennen den Grund für den seinerzeit beschlossenen NATO-Einsatz. Die Konflikte in Syrien und
im Irak drohten damals die ganze Region zu destabilisieren. Es bestand die Gefahr, dass sie irgendwann auf die
Türkei übergreifen. Wir haben mit dieser Mission in
schwierigster Zeit für ein Stück Stabilität in einer instabilen Region gesorgt, und genau das war unsere Absicht.
({1})
Und heute? Noch immer sieht der NATO-Oberbefehlshaber eine Bedrohung der Türkei als glaubhaft und
begründet an, und die Türkei selbst fühlt sich bedroht:
durch die Kämpfe im benachbarten Syrien und im Irak
sowie durch das Wüten und den Furor der IS-Miliz, über
den wir heute ja schon so viel Schreckliches gehört
haben, durch das syrische Regime, das nicht nur eine eigene Luftwaffe hat, sondern auch über ballistische Flugkörper mit einer Reichweite von bis zu 700 Kilometern
und über Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügt, die
jederzeit nahezu das gesamte türkische Staatsgebiet erreichen können, und durch ein mögliches Risiko durch
Restbestände an chemischen Waffen. Ich meine, das alles sind sehr nachvollziehbare Gründe.
Seit Beginn des Einsatzes hat es in der Tat keinen
Luft- oder Raketenangriff auf die Türkei mehr gegeben.
Heißt das, dass wir den Luftabwehrschirm jetzt nicht
mehr brauchen? Nein, im Gegenteil. Dass nichts passiert
ist, bedeutet: Die Abschreckung durch das Bündnis hat
voll funktioniert. Der Konflikt ist nicht auf den Nachbarn Türkei übergeschwappt.
Übrigens: Wir beschränken uns auf rein defensive
Waffen, auf eine Luftverteidigung, die das Territorium
und vor allem die Menschen schützt, ohne über die
Grenze zu wirken. Das möchte ich hier einmal ausdrücklich betonen.
Die Türkei braucht weiterhin Sicherheit an ihrer Südgrenze - aus eigenem Interesse, aber auch im Hinblick
auf die 1,5 Millionen Flüchtlinge, die auf ihrem Territorium untergebracht sind. Frau Kunert, ich glaube, dass
der deutsche Steuerzahler genau das akzeptiert. Hier
geht es nämlich darum, genau diese Flüchtlinge zu
schützen, also um Menschlichkeit.
({2})
Es geht hier in der Tat aber auch - der Kollege
Nouripour hat es angesprochen - um Bündnissolidarität.
Die Türkei hält ihr Ersuchen an die NATO, Flug- und
Raketenabwehreinheiten an der Südgrenze des Landes
zu stationieren, nach wie vor aufrecht. Bündnissolidarität ist ein Schlüsselwort. Jeder muss wissen, dass wir
keinen NATO-Partner im Stich lassen. Das sollen sich
insbesondere diejenigen merken, oder soll ich sagen:
derjenige, der in diesen Tagen in anderen Teilen der Welt
die Kraft und Bündnisstärke der NATO testen und ausloten will? Wir sind hellwach!
({3})
Wir wissen: Für unsere Bundeswehrsoldaten ist dieser
Einsatz nicht leicht zu schultern. Um die Durchhaltefähigkeit sicherzustellen, werden sie bis an die Grenze
ihrer Belastbarkeit gefordert. Deswegen möchte ich den
am Einsatz beteiligten Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle meinen tiefen Dank und meine Anerkennung
aussprechen.
({4})
Wir alle, die gesamte NATO, bleiben gefordert, stets
aufs Neue die Grundlage und die Basis für die NATOOperation Active Fence zu prüfen und zu evaluieren.
Wir stimmen der Verlängerung des Mandats für die Operation Active Fence unter Führung der NATO zu.
Vielen Dank.
({5})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich war vergangenen Sommer in Kilis in der Türkei.
Herr Kollege, darf ich eine Bemerkung machen, die
vielen bekannt erscheint, weil sie regelmäßig beim letzten Redner vor einer namentlichen Abstimmung erfolgt.
Ich bitte einfach die Kolleginnen und Kollegen, dem
Kollegen Brandl als letztem Redner zuzuhören und die
Gespräche, wenn sie notwendig sind, nach draußen zu
verlegen. - Jetzt haben Sie wieder das Wort.
Herr Präsident, vielen Dank. - Ich war letzten
Sommer in Kilis in der Türkei in einem Flüchtlingslager,
in dem 14 000 Menschen untergebracht sind und das
etwa 50 Kilometer Luftlinie von Aleppo entfernt ist. Die
Menschen in diesem Lager können die Kämpfe und die
Raketeneinschläge auf der syrischen Seite zum Teil hören. Ich habe die Flüchtlinge und die Mitarbeiter der Leitung des Lagers gefragt, ob sie denn keine Angst haben,
so nah an dem Konfliktort untergebracht zu sein. Die
Antwort war immer die gleiche. Die Menschen haben
gesagt, sie haben keine Angst, weil es keine der KonDr. Reinhard Brandl
fliktparteien wagen würde, einen NATO-Partner anzugreifen.
Wir reden hier viel über Beistandsverpflichtung, Artikel 5 des NATO-Vertrages, Abschreckung und Rückversicherung. Aber wenn man mit den Menschen vor Ort
spricht und erlebt, wie beruhigend es für sie ist und welche Sicherheit sie daraus ziehen, in einem NATO-Land
zu sein, dann merkt man erst, was das wirklich bedeutet.
Das Ganze funktioniert aber nur, wenn die NATO
glaubwürdig ist, wenn kein Zweifel daran besteht, dass
wir im Falle eines Angriffs zu Hilfe eilen würden. Meine
Damen und Herren, das gilt sowohl für die baltischen
Staaten, in denen wir im Moment auch Rückversicherung betreiben, als auch für die Türkei. Das gilt unabhängig davon, ob wir die türkische Regierung oder die
aktuelle Politik der türkischen Regierung gut finden. Ich
finde sie nicht gut. Aber das tut hier nichts zur Sache. Es
geht darum, dass wir klarmachen, dass wir in einer Konfliktsituation oder Bedrohungssituation zu unseren Partnern in der NATO stehen.
Meine Damen und Herren, deswegen muss man den
Einsatz der Patriot-Raketen unter zwei Gesichtspunkten
beurteilen. Zum einen bieten die Raketen Schutz gegen
ballistische Raketen, zum anderen sind sie aber auch ein
Element der Rückversicherung mit Wirkung in die türkische Bevölkerung hinein. Dafür eignen sie sich gut. Wer
vor Ort ist und die Raketen auf Hügeln vor großen Städten stehen sieht, dem wird klar sein, dass diese Raketen
der Bevölkerung Tag für Tag demonstrieren: Wir, eure
Partner in der NATO, sind hier, um euch zu schützen.
({0})
Diese beruhigende Wirkung dürfen wir nicht unterschätzen.
Diese Wirkung kommt aber nur dann zustande, wenn
der erste Punkt, den ich vorhin angesprochen habe, nämlich das Vorliegen einer Bedrohung, glaubhaft ist. Das
muss man immer wieder neu beurteilen, das kann man
auch hinterfragen. Mein Kollege Florian Hahn hat das in
der letzten Lesung ausgeführt. Die NATO beurteilt die
Bedrohungssituation alle 90 Tage. Sie kam bei ihrem
letzten Review zu dem Ergebnis: low but credible; niedrig, aber dennoch glaubhaft. Ich halte diese Bewertung
für nachvollziehbar. Wir haben im letzten halben Jahr erlebt, dass etwa 50 Raketen aus Damaskus in Richtung
türkische Grenze abgeschossen wurden. Keine dieser
Raketen ist auf türkischem Gebiet eingeschlagen, alle
sind in Syrien niedergegangen. Aber jede dieser Raketen
hätte theoretisch in der Türkei einschlagen können.
Wir haben viel über die Chemiewaffen debattiert. Es
ist in der Debatte angesprochen worden: Es gibt natürlich noch ein Restrisiko, dass die Chemiewaffen nicht
vollständig vernichtet worden sind. Uns liegen zwar im
Moment keinerlei Anzeichen vor, dass ein Konfliktpartner die Türkei angreifen will. Aber auch das müssen wir
immer wieder neu beurteilen.
Wir verfolgen diese Entwicklung sehr aufmerksam,
weil wir das auch unseren Soldatinnen und Soldaten
schuldig sind. In der Bundeswehr gibt es nur noch ein
Flugabwehrraketengeschwader Patriot. Die Soldaten
bleiben in der Regel in diesem Einsatz. Das heißt, bei
70 Prozent der Soldaten halten wir es ein, dass sie in einem Zeitraum von zwei Jahren nur vier Monate im Einsatz sind. Bei 30 Prozent halten wir das nicht ein, weil es
Spezialisten sind, die länger gebraucht werden; denn
ohne sie ist das System nicht durchhaltefähig bzw. betreibbar.
Uns ist das sehr wohl bewusst. Wir haben vor allem
mit Blick auf die Soldatinnen und Soldaten auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion sehr um unsere Zustimmung zu diesem Mandat gerungen. Wir halten gegenwärtig den Einsatz für notwendig und gerechtfertigt. Wir
werden ihm auch zustimmen. Wir werden das aber auch
in Zukunft aufmerksam verfolgen. Die Soldatinnen und
Soldaten können sich sicher sein, dass wir sie nicht in einem Einsatz belassen, den wir nicht für sinnvoll und notwendig halten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftvertei-
digung der NATO auf Ersuchen der Türkei. Dazu liegen
mir mehrere persönliche Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3859, den Antrag der Bundes-
regierung auf Drucksache 18/3698 anzunehmen. Wir
stimmen über diese Beschlussempfehlung namentlich
ab.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze an den Abstimmungsurnen ein-
zunehmen. - Jetzt sehe ich, dass alle Abstimmungsurnen
vorschriftsmäßig besetzt sind. Damit eröffne ich die na-
mentliche Abstimmung über die Beschlussempfeh-
lung. - Gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen hier
im Haus, die oder der abstimmen möchte, dies aber noch
nicht getan hat? - Ich sehe, dass alle Kolleginnen und
Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben haben. Ich schließe
damit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird später be-
kannt gegeben.2)
1) Anlagen 8 und 9
2) Ergebnis Seite 7842 C
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
Drucksache 18/2231
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Einen Änderungswunsch kann ich nirgendwo entdecken. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Katarina Barley das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Schuldrechtsanpassungsgesetz
ist ein sehr emotionales Thema. Hinter diesem sperrigen
Titel verbirgt sich das Anliegen, zwei sehr verschiedene
Rechtssysteme zusammenzuführen. Das Gesetz stammt
aus dem Jahr 1994 und hat ein klares Ziel. Es sollte die
Nutzungsverhältnisse betreffend Grundstücke aus DDRZeiten in das Miet- und Pachtrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches überleiten. Das ist zugegebenermaßen eine
ziemlich schwierige, aber auch eine wichtige Aufgabe.
Im 25. Jahr des vereinten Deutschlands sollten parallel
bestehende Rechtsordnungen langsam der Vergangenheit angehören.
({0})
Es ging 1994 im Wesentlichen um Datschengrundstücke, Garagen und Campinggrundstücke. Bezüglich der
Garagen hat sich 1999 die Rechtslage erledigt. Den
Campinggrundstücken wird sich nachher mein Kollege
widmen. Ich werde mich im Wesentlichen auf die Datschen beschränken. Wichtig ist, zu sagen, dass es dabei
nicht um die ostdeutschen Kleingärten geht; das ist ein
weitverbreiteter Irrtum. Diese fallen schon lange unter
das Bundeskleingartengesetz. Hier geht es ausdrücklich
um die sogenannten Datschen.
Bei der Betrachtung dieses Gesetzes stehen sich naturgemäß zwei Interessen gegenüber. Das sind auf der
einen Seite die Datschennutzer. Nach DDR-Recht waren
die damaligen Pachtverhältnisse faktisch unkündbar. Die
Pächter haben viel Zeit und Arbeit in ihre Datschen gesteckt. Deshalb ist dieses Thema logischerweise so
hochemotional. Auf der anderen Seite stehen die Grundstückseigentümer, deren Interessen sehr vielfältig sein
können. Im Vergleich zum Rechtssystem der DDR hat
das Eigentum im gesamtdeutschen Rechtssystem einen
anderen, einen höheren Stellenwert. Es wird in Artikel 14 des Grundgesetzes garantiert. Seit der Wiedervereinigung gilt das grundsätzlich auch für die Erholungsgrundstücke auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz hat der Gesetzgeber versucht, diese beiden widerstreitenden Interessen in Ausgleich zu bringen. Ich finde, dass das sehr
umsichtig gelungen ist. Es wurde ein weitgehender Kündigungsschutz vereinbart. Bis zum 31. Dezember 1999
waren ordentliche Kündigungen ausgeschlossen. Seit
dem 1. Januar 2000 sind solche Kündigungen nur in einigen Fällen zulässig, zum Beispiel bei Eigenbedarf oder
dann, wenn eine geplante andere Nutzung nach Bebauungsplan erfolgen soll. Wer am 3. Oktober 1990 60 Jahre
oder älter war, kann seine Datsche bis zum Lebensende
nutzen. Nutzungsentgelte wurden begrenzt. Für die Entschädigung wurde eine sehr differenzierte Regelung gefunden. Abbruchkosten müssen die Nutzer frühesten ab
2022 tragen, also 32 Jahre nach der deutschen Einheit
und 27 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes.
Was wir auch haben, ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1999. Die spielt in
diesem Zusammenhang eine ziemlich große Rolle; denn
das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass im Großen und Ganzen, mit einigen Ausnahmen, dieser Ausgleich der Interessen gelungen ist, aber dass eben die
Privilegierung der Nutzer gegenüber den Eigentümern
zeitlich befristet sein muss und dass diese Befristung
auch verlässlich sein muss.
Der Bundesrat möchte nun an zwei Stellen eine Änderung dieses Gesetzes erwirken. Erstens soll der Kündigungsschutz um drei Jahre, bis zum 3. Oktober 2018,
verlängert werden. Dazu muss man jetzt natürlich sagen:
Das heißt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt die Leute ihre
Datschen verlassen müssen, sondern dass ab diesem
Zeitpunkt eine ordentliche Kündigung ausgesprochen
werden kann, natürlich nicht muss. Wir gehen deshalb
davon aus, dass bei den meisten ohnehin alles beim Alten bleiben wird; denn die Eigentümer, die Eigenbedarf
geltend machen wollten, oder die Eigentümer der
Grundstücke, deren Nutzung sich insgesamt verändert
hat, die konnten bereits seit dem Jahr 2000 kündigen.
Zweitens möchte der Bundesrat die Regelungen zu
den Abbruchkosten ändern. Er möchte, dass diese Kosten nur bei grober Unbilligkeit - das soll also auf Härtefälle beschränkt werden - von den Nutzern getragen
werden sollen. Das soll generell auch nach 2022 gelten,
im Unterschied zur bisherigen Rechtslage.
Diese Sonderregelung gegenüber dem Bürgerlichen
Gesetzbuch würde also fortgeschrieben. Dabei müssen
wir aber wirklich berücksichtigen, dass viele Grundstückseigentümer Kommunen sind. Wenn wir sehen, wie
viele Grundstücke teilweise einzelnen Kommunen zufallen, dann würden die ostdeutschen Kommunen damit finanziellen Belastungen ausgesetzt, die wir heute noch
gar nicht absehen können.
Ich möchte deshalb festhalten, dass die Verschiebung
des Kündigungszeitpunkts um drei Jahre uns in drei Jahren wieder vor dasselbe Problem stellen würde, diese
Verschiebung also inhaltlich nicht wirklich etwas bringt.
Daraus ergeben sich vor allen Dingen Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit, weil gemäß der vom Bundesverfassungsgericht geforderten verlässlichen Rechtsposition
der Eigentümer irgendwann nach 25 Jahren wissen
muss, wann er sein Grundstück wird nutzen können.
Dieser Position kommt also ein verfassungsrechtlich geschützter Rang zu.
({1})
Alle Fristen im Schuldrechtsanpassungsgesetz sind
seit 1994 bekannt. Sie haben die Ausgewogenheit der Interessen zwischen Nutzern und Eigentümern sichergestellt. Deshalb sehen wir keine Notwendigkeit, das
Schuldrechtsanpassungsgesetz zu ändern.
Vielen Dank.
({2})
Von der Fraktion Die Linke aus der Mitte des Bundesrats benannt, hat jetzt Herr Landesminister Dr. Helmuth
Markov das Wort.
({0})
Dr. Helmuth Markov, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat der
Bundesrat mit überwältigender Mehrheit - das möchte
ich Ihnen gerne sagen, weil hier Regierungen unterschiedlichster Couleur vertreten sind - beschlossen, das
Schuldrechtsanpassungsgesetz neu auszutarieren. Im
Mittelpunkt - das hat meine Vorrednerin gesagt - steht
ein Phänomen, das es nur in Ostdeutschland gibt. Es betrifft die sogenannten Datschengrundstücke.
Die Grundstückseigentümer und die Nutzer haben vor
der Wende Vereinbarungen über Erholungsgrundstücke
getroffen. Damit ist den Nutzern ein sehr weitreichendes
Recht, eine schutzwürdige Position eingeräumt worden.
Anders als bei den gewöhnlichen Miet- und Pachtverträgen der DDR war der nach diesen Regeln geschlossene
Nutzungsvertrag im Prinzip nahezu unkündbar. Deswegen, weil es so war, war der Nutzer auch berechtigt, das
Grundstück mit eigenen Mitteln zu bebauen, und er erwarb an den Baulichkeiten sogar ein gesondertes Gebäudeeigentum. Das darf man nicht vergessen. Regelmäßig
haben dann die Nutzer, natürlich im Vertrauen darauf,
dass sie im Prinzip unkündbar sind, mit hohem finanziellem und persönlichem Einsatz Bauten auf den Wochenendgrundstücken errichtet. Das sind die sogenannten
Datschen.
Die Aufgabe des Schuldrechtsanpassungsgesetzes das ist schon gesagt worden - war und ist es, diese spezifischen, nach DDR-Recht begründeten Nutzungsverträge in bundesdeutsches Recht überzuleiten. Dabei gilt
es - es stimmt -, den widerstreitenden Interessen zwischen Nutzern und Grundstückseigentümern zu einem
gerechten Ausgleich zu verhelfen.
Warum hat sich nun der Bundesrat 20 Jahre danach
entschlossen, den Kompromiss, der 1994 vereinbart
wurde, nachzubessern? Zum einen sollen die Kündigungsschutzfristen - das ist gesagt worden - um drei
Jahre verlängert werden, nämlich bis zum 3. Oktober
2018, und zum anderen ist die Frage der Abbruchkosten
neu zu bewerten.
Die Problematik, mit der wir es dabei zu tun haben,
besteht ganz einfach darin, dass sich der damalige Gesetzgeber - vielleicht waren einige von Ihnen noch
dabei - hat von einer Prognose leiten lassen, die besagte,
dass im Jahre 2015 der Bedarf an Datschennutzungen
nicht mehr in dem Maße bestehen wird, weil es ein verändertes Freizeitverhalten der Bürger der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik gibt und weil natürlich auch eine zunehmende berufliche Mobilität dazu
beiträgt, dass viele Leute am Wochenende ihre Datsche
nicht mehr nutzen werden.
Aber die Lebenswirklichkeit hat gezeigt: Es ist anders. Nach wie vor gibt es ungefähr eine halbe Million
Nutzer von Datschengrundstücken in Ostdeutschland.
Das bedeutet, dass die Nutzung dieser Grundstücke auch
heute noch einen besonderen sozialen Stellenwert hat. In
Anbetracht dessen hat der Bundesrat beschlossen, einen
Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem der Kündigungsschutz für drei Jahre verlängert werden soll.
({2})
In diesem Gesetzentwurf wird außerdem die Beteiligung an den Abbruchkosten neu geregelt. Erinnern Sie
sich: Damals ist eine sehr fragwürdige Regelung getroffen worden; allein schon an den Zahlen kann man das
nachvollziehen. Diese Regelung besagt nämlich: Wenn
ein Vertrag bis Anfang Oktober 2022 endet, dann trägt
der Grundstückseigentümer alle Abbruchkosten. Wenn
ein Vertrag zwischen Oktober 2022 und Ende Dezember
2022 endet, dann werden die Abbruchkosten hälftig geteilt. Wenn ein Nutzer sein Grundstück ab 2023 abgibt,
dann muss er ganz allein die Abbruchkosten tragen. Das erscheint dem Bundesrat nicht nachvollziehbar und
auch nicht begründbar.
Diese Regelung ist misslungen. Deshalb sagt der
Bundesrat: Die Abbruchkosten sollen dem Grundstückseigentümer grundsätzlich übertragen werden. Es gibt
Ausnahmen, etwa für den Fall, dass ein Gebäude nicht
mehr genutzt wird, da es in einem allzu schlechten Zustand ist. Das hat auch deswegen einen Sinn, weil mit
dem Übergang des Grundstücks auch das Gebäude des
Nutzers, das er mit seinen eigenen Mitteln errichtet hat,
auf den neuen Grundstückseigentümer übergeht. Er hat
also einen Wertzuwachs.
Es ist angesprochen worden, dass es verfassungsrechtliche Bedenken gibt. Ich glaube, diese verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Privatnützigkeit des
Eigentums überzeugen nicht; denn die Privatnützigkeit
bleibt auch in Zukunft gewährleistet; sie wird überhaupt
nicht angegriffen. Die bestehenden Kündigungsmöglichkeiten des Eigentümers, insbesondere für den Fall, dass
er das Grundstück für den eigenen Bedarf, etwa zu
Wohnzwecken, nutzen will, bleiben bestehen; sie werden durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes nicht verändert. Darüber hinaus kann der Eigentümer, wenn er es will, auch heute schon die
Nutzungsentgelte entsprechend den ortsüblichen Entgelten beanspruchen.
Insofern bitte ich Sie, ernsthaft zu überprüfen, ob Sie
diesem Gesetzentwurf, der - ich wiederhole es - im
Bundesrat eine absolut überwältigende Mehrheit bekom7842
Minister Dr. Helmuth Markov ({3})
men hat, nicht doch Ihre Zustimmung geben können. Ich
finde, das wäre 25 Jahre nach dem Mauerfall ein Zeichen für ein gutes Zusammenwachsen von Ost und West.
Danke schön.
({4})
Herr Landesminister Dr. Markov, vielen Dank. - Bevor der Kollege Steineke das Wort erhält, darf ich das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der letzten namentlichen Abstimmung über den
Antrag „Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf
Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung“, Drucksachen 18/3698 und 18/3859, bekannt geben: abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt
503, mit Nein haben gestimmt 70, Enthaltungen 7. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 503
nein: 70
enthalten: 7
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({0})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich
({1})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({2})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann
({3})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Reiner Meier
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({4})
Stefan Müller ({5})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alois Rainer
Vizepräsident Johannes Singhammer
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({6})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({7})
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({8})
Gabriele Schmidt ({9})
Ronja Schmitt ({10})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({11})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({12})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Stritzl
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({13})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({14})
Peter Weiß ({15})
Sabine Weiss ({16})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({17})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({18})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({19})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({20})
Marcus Held
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({21})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({22})
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({23})
Aydan Özoğuz
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Florian Post
Achim Post ({24})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({25})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Axel Schäfer ({26})
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Ursula Schulte
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Volker Beck ({31})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Vizepräsident Johannes Singhammer
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Sven-Christian Kindler
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn ({32})
Christian Kühn ({33})
Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({34})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
SPD
Ulrike Bahr
Klaus Barthel
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Swen Schulz ({35})
({36})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Norbert Müller ({37})
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({38})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({39})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Uwe Kekeritz
Monika Lazar
Lisa Paus
Corinna Rüffer
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
Marco Bülow
Petra Hinz ({40})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Maria Klein-Schmeink
Özcan Mutlu
Dr. Harald Terpe
Dr. Julia Verlinden
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Sebastian
Steineke, CDU/CSU.
({41})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der ehemaligen DDR - wir haben es gehört - konnten
die Bürgerinnen und Bürger nach den Regeln des ZGB
Nutzungsverträge über Bodenflächen zu anderen persönlichen Zwecken als zu Wohnzwecken abschließen, die
nahezu unkündbar waren. Wir reden hier allein von
Grundstücken, die zur kleingärtnerischen Nutzung oder
zur Erholung oder Freizeitgestaltung dienen, den sogenannten Datschengrundstücken.
Im Zuge der Wiedervereinigung - Sie haben es gehört musste man den Fortbestand dieser Rechtsverhältnisse
selbstverständlich neu regeln. Ziel war es dabei, eine angemessene Überleitung in das Miet- und Pachtrecht des
BGB der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten.
Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz ist das aus unserer Sicht hervorragend gelungen.
Sinn und Zweck des Gesetzes war von Anfang an die
Schaffung eines geeigneten Interessenausgleichs zwischen den Rechtspositionen von Nutzer und Eigentümer.
Ziel der Regelungen ist aber auch die schrittweise Herstellung der Rechtseinheit in unserem Land für derartige
Nutzungsverträge auf dem Gebiet des Miet- und Pachtrechts. Hierfür sieht das Schuldrechtsanpassungsgesetz,
wie mehrfach gehört, bislang eine 25-jährige Vertrauensschutzregelung vor sowie eine 32-jährige Investitionsschutzregelung im Bereich der Tragung der Abrisskosten.
Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates will
zum einen die Kündigungsschutzfrist um drei Jahre verlängern und zum anderen eine praktisch vollständige Befreiung der Nutzer von der Beteiligung an den Abrisskosten für die Bauwerke erreichen. Meine Damen und
Herren, aus unserer Sicht sind die aktuellen Regelungen
völlig ausreichend, und daher können wir der Argumentation des Bundesrates auch nicht folgen.
({0})
Ich möchte aber gern noch ein paar Dinge im Detail
erläutern. Erlauben Sie mir zuvor noch eine Bemerkung
zu dem Hinweis des Landesministers zur Beschlussfassung des Bundesrates. Pünktlich vor den Landtagswahlen im letzten Jahr, pünktlich vor den Landtagswahlen in
Sachsen, Brandenburg und Thüringen - und damit in
Bundesländern, in denen die Bürger am meisten davon
betroffen sind -, kam dieser Gesetzentwurf wie Kai aus
der Kiste; so könnte man sagen. Dieser Gesetzentwurf
hatte also von Anfang an auch das klare Ziel, Wahlkampf zu machen, nicht mehr und nicht weniger.
({1})
- Genau so ist es gewesen. Der Zeitpunkt spricht Bände.
Natürlich ist das Anliegen der betroffenen Nutzer im
Grunde nachvollziehbar; das ist gar keine Frage.
({2})
Jedoch gehören zu Vertragsverhältnissen immer zwei
Seiten, nicht nur eine. Auch die Eigentümer mussten auf
die Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
vertrauen können, nicht nur die Nutzer.
Mit Ablauf der Kündigungsschutzfrist in diesem Jahr
ist nunmehr ein Vierteljahrhundert vergangen. Nutzer
und Eigentümer konnten sich in dieser Zeit auf das bevorstehende Auslaufen der Frist einstellen und haben in
der Regel auch Dispositionen und Vorbereitungen getroffen. Eine weitere Verlängerung der Kündigungsschutzfrist würde insoweit für die Betroffenen auf beiden Seiten negative Folgen nach sich ziehen.
({3})
Im Übrigen: Was verspricht sich der Urheber des Entwurfs, das Land Brandenburg, von einer weiteren Verlängerung um drei Jahre? Warum sollten die jetzt herrschenden Tatsachen in drei Jahren andere sein? Das
erschließt sich aus der schlichten Begründung, dass die
- ich zitiere - Interessenlage für den betroffenen Personenkreis weitgehend fortbesteht, in keiner Weise. Auch
in drei Jahren würden wir uns genau die gleichen Fragen
wie heute stellen. Es drängt sich daher der Eindruck auf,
dass schlussendlich eine andauernde Spaltung der
Rechtslage in Ost und West geplant ist.
({4})
Ein zweiter wesentlicher Punkt des Gesetzentwurfs
- neben der Verlängerung der Kündigungsschutzfrist ist die faktisch vollständige Befreiung der Nutzerinnen
und Nutzer von den Abrisskosten für die von ihnen errichteten Bauwerke. Bislang besteht für die Nutzer
grundsätzlich keine Pflicht zur Beseitigung. Erst nach
Ablauf einer 32-jährigen Investitionsschutzfrist haben
die Nutzer bei einer Kündigung durch den Eigentümer
nach dem 3. Oktober 2022 die Hälfte der Abrisskosten
zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Kosten
der Nutzer vollständig amortisiert, meine Damen und
Herren.
Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Befreiung der Nutzer von der Kostentragungspflicht vor. Lediglich in Fällen unbilliger Härte soll eine Kostenbeteiligung der Nutzer in Betracht kommen. Nach unserem
heute geltenden Miet- und Pachtrecht müssen die Nutzer
bei Vertragsbeendigung das Grundstück in dem Zustand
zurückgeben, in dem sie es erhalten haben. Mit der vorgesehenen Regelung würde allein der Eigentümer für
den Abriss aufkommen. Es drohen erhebliche finanzielle
Belastungen für den Eigentümer, bei denen es sich im
Übrigen mehrheitlich um unsere Kommunen handelt.
Wir beraten in diesem Hause regelmäßig, wie wir unsere Kommunen entlasten, und das wird auch immer
wieder gerade von den Linken gefordert. Dieses Gesetz
hätte nun mitunter schwerwiegende finanzielle Folgen
für die Städte und Kommunen und würde unser weiteres
Bestreben nach kommunaler Entlastung vollständig konterkarieren.
({5})
Eine einseitige Kostenabwälzung auf die Grundstückseigentümer kann und darf nicht der Ansatz sein.
Das hat im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht
bereits im Jahr 1999 festgestellt. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist den Grundstückseigentümern eine
freie wirtschaftliche Nutzung und Verwertung ihrer
Grundstücke nach wie vor verwehrt. Dass dies ab dem
3. Oktober 2015 wieder möglich sein wird, ist daher
mehr als geboten.
Der Gesetzentwurf sieht im Übrigen eine Ausnahme
bei der Kostentragung durch den Eigentümer bei Vorliegen einer sogenannten unbilligen Härte vor. In der Gesetzesbegründung werden beispielhaft genannt:
Fälle …, in denen Abbruchkosten im Verhältnis
zum Verkehrswert … unverhältnismäßig hoch sind
oder der Nutzer durch unterlassene Instandhaltung
des Bauwerks die Ursache für die erforderliche Beseitigung der Anlage gesetzt hat …
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese Billigkeitsklausel
wird in der Praxis schlicht ins Leere laufen.
({6})
Es wird zu zahlreichen Prozessen kommen, die eine Klärung bezüglich Vorliegen einer unbilligen Härte herbeiführen sollen. Das bedeutet nicht nur eine zu erwartende
Flut an entsprechenden Klagen, sondern gefährdet auch
den inneren sozialen Frieden in den betroffenen Gebieten, den Sie mit diesem Gesetzentwurf gerade fördern
wollen.
({7})
Auch diese Ausnahmeregelung führt nicht zu einem angemessenen Interessenausgleich.
Schon nach jetziger Rechtslage sind die Nutzer im
Verhältnis zu anderen privilegiert. Das Tragen der hälftigen Abbruchkosten tritt erst ab dem 3. Oktober 2022 ein.
Dies war schon während der Gesetzesberatungen 1994
lediglich ein Kompromiss. Hinzuweisen ist auch auf den
vielfach stattgefundenen Nutzerwechsel in den vergangenen Jahren. In Bezug auf die neuen Nutzer besteht erst
recht kein Handlungsbedarf. Gerade diese konnten sich
auf die aktuelle und geltende Rechtslage bestens einstellen.
Wir haben natürlich alle im Vorfeld unserer parlamentarischen Beratungen viele Gespräche zu diesem nicht
einfachen Thema geführt, auch mit Nutzerinnen und
Nutzern. Hier gibt es interessante Aussagen, die man
sich durchaus anhören sollte.
Es gibt durchaus Nutzer - und das sind nicht wenige -,
die, sei es aus Alters- oder aus wirtschaftlichen Gründen,
ein erhebliches Interesse daran haben, dass das Nutzungsverhältnis jetzt beendet wird. Bei einer eigenen
Kündigung müssten sie sich nach der geltenden Rechtslage an den Abrisskosten beteiligen. Werden sie allerdings vom Eigentümer nach dem 3. Oktober 2015 gekündigt, trägt der Nutzer nach der jetzigen Rechtslage
keine Abbruchkosten. Mit der vom Bundesrat vorgeschlagenen Billigkeitsklausel könnte dies jedoch auf einmal der Fall sein. Insbesondere drohen zusätzlich ungewollte Gerichtsprozesse, die zeitaufwendig und teuer
werden, um in diesen Fällen das Vorliegen einer unbilligen Härte feststellen zu lassen. Das ist insoweit eine
klare Schlechterstellung im Vergleich zur bisherigen
Rechtsprechung. Sie tun demnach mit diesem Gesetzentwurf vielen Nutzerinnen und Nutzern keinen Gefallen.
Zuletzt sollte man - es ist schon darüber gesprochen
worden - noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass
wir auch starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des
Entwurfs haben.
({8})
Wir haben hier einen sehr hohen Eingriff in das Eigentumsrecht nach Artikel 14 Grundgesetz, durch den die
soziale Bindung des Eigentums massiv gedehnt wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich vor 16 Jahren,
1999, in einer Entscheidung bereits mit dem Gesetz befasst. Es hat damals klar zum Ausdruck gebracht, dass
die Kündigungsschutzregelungen, insbesondere die Einschränkungen des Kündigungsschutzrechts durch den
Eigentümer, bis zu dem heutigen Zeitpunkt gerade noch
mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Privatnützigkeit und Verfügungsfreiheit des Eigentums vereinbar sind. Daraufhin sind abgestufte Kündigungsmöglichkeiten in Kraft getreten; Kollegin Barley hat darauf
hingewiesen. Weiterhin hat das Bundesverfassungsgericht verfassungskonforme Auslegungen angemahnt.
Wenn man dies im Zusammenspiel mit den im Gesetzentwurf geplanten Abbruchkostenregelungen sieht, ist
aus unserer Sicht erkennbar, dass ein solches Gesetz
nicht verfassungsgemäß wäre. Wir können auch daher
nicht zustimmen.
Im vergangenen Jahr haben wir das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls gefeiert. 2015 jährt sich auch die
deutsche Wiedervereinigung zum 25. Mal. Die Übergangsregelungen waren richtig und notwendig, doch irgendwann ist es weder sachgerecht noch zeitgemäß, die
Herstellung der Rechtseinheit zu blockieren.
({9})
Aus den vorgenannten Gründen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als am 20. September 1990 der Einigungsvertrag durch Volkskammer und Deutschen Bundestag
angenommen wurde, haben wohl nur die wenigsten Datschenbesitzer in der ehemaligen DDR darüber nachgedacht, wem das kleine Stück Land gehört, auf dem sie
ihre Feierabend- oder Wochenendidylle geschaffen hatten. Noch weniger dieser Datschenbesitzer werden sich
ausgemalt haben, dass die Frage sie auch noch über das
Jahr 2015 hinaus beschäftigen wird.
Die Eigentumsordnungen von DDR und Bundesrepublik waren und sind nicht leicht zusammenzuführen. Im
Grundgesetz und im Bürgerlichen Gesetzbuch ist das Eigentumsrecht als starke individuelle Rechtsposition ausgestaltet. Dies kann man von den in der Rechtsordnung
der damaligen DDR vorherrschenden Eigentumsvorstellungen nicht gerade sagen. Vorrang hatte nach der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik immer
das sozialistische Eigentum. Alle anderen Eigentumsformen mussten sich dem unterordnen.
({0})
Die Erbauer der Datschen hatten das Grundstück, auf
dem ihr kleines Wochenendhaus stand, in der Regel
nicht eigentumsrechtlich erworben, sondern lediglich
zur Nutzung überlassen bekommen. Das bedeutete im
real existierenden Sozialismus jedoch eine de facto eigentumsrechtliche Stellung. Im Vertrauen auf den Fortbestand des Sozialismus oder zumindest der DDR haben
sie daher mitunter viel Mühe und vergleichsweise hohe
Investitionen in ihre Wochenendhäuser gesteckt. Mit der
Einheit wurde dieses stark ausgeprägte Nutzungsrecht,
zumindest aus der Perspektive des BGB, vom Kopf auf
die Füße gestellt. Der Eigentümer einer Sache oder eines
Grundstückes konnte jetzt mit diesem grundsätzlich so
verfahren, wie es ihm beliebt.
Den Übergang von der starken Stellung des Nutzungsrechts hin zum übergeordneten Eigentumsrecht zu
vollziehen, ist Aufgabe des Schuldrechtsanpassungsgesetzes von 1994. Der dort vorgesehene Kündigungsschutz in § 23 endet allerdings am 3. Oktober 2015.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates
liegt die Befürchtung zugrunde, dass mit dem Ablauf der
Kündigungsschutzfrist viele Eigentümerinnen und Eigentümer von ihrer Kündigungsmöglichkeit Gebrauch
machen werden und damit auf die Datschenerrichter die
von ihnen als ungerecht empfundene Kostentragungspflicht zukommen könnte. Entschließt sich nämlich der
Eigentümer nach der Beendigung des Nutzungsverhältnisses zur Beseitigung des einst vom Nutzer errichteten
Gebäudes, so kann er von diesem unter bestimmten Voraussetzungen die Hälfte der Abbruchkosten verlangen.
Die besondere Kündigungsschutzfrist soll um drei
Jahre bis zum 31. Oktober 2018 verlängert werden, und
die Pflicht des Nutzers zur Übernahme der Abbruchkosten soll generell nur noch auf Härtefälle, sogenannte
grobe Unbilligkeiten, beschränkt sein. Da fragt man sich
natürlich schon, ob das nicht zu mehr Rechtsunsicherheit
führt als bisher.
({1})
Was ein Härtefall und was eine Unbilligkeit ist - da
muss ich dem Kollegen von der Union recht geben -,
werden wohl in der Regel erst die Gerichte entscheiden
müssen.
Eine ausgewogene Regelung zu haben, die die Rechte
und Pflichten der Eigentümer und Nutzer gut ausbalanciert, ist zweifelslos erstrebenswert. Jedoch muss man
sich auch bewusst sein, dass es nicht möglich ist, sowohl
Eigentümer - in dem Fall häufig die Kommunen - als
auch Nutzer zu begünstigen. Eine endgültige Regelung
wird zwangsläufig irgendwann irgendjemand belasten.
Die Frage ist nur, wann dieser Zeitpunkt eintreten soll.
Es ist ja richtig, dass den hohen finanziellen Aufwendungen bei der Datschenerrichtung Rechnung getragen
werden muss. Deswegen gibt es ja das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Die Nutzer werden aber auch in drei
Jahren höchstwahrscheinlich noch dieselben sein. Es
stellt sich dann die Frage, wie oft die Frist in Zukunft erneut verlängert werden muss, um den getätigten Investitionen der Nutzer ordnungsgemäß Rechnung zu tragen.
Es ist wichtig, eine endgültige Regelung zu schaffen,
auf die sich die Datschennutzer einstellen können, um
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu schaffen. Die
verschiedenen Fristen, die für die Frage der Übernahmepflicht von Abbruchkosten gelten sollen, sind in der Tat
nur für Spezialisten aus dem Gesetz herauszulesen. Hier
wäre durchaus mehr Rechtsklarheit wünschenswert.
Wir werden diesen Fragen in den anstehenden Ausschussberatungen nachgehen und prüfen, ob der hier
vorgelegte Vorschlag wirklich der Weisheit letzter
Schluss ist. Aber die Härte, mit der die Union den Gesetzentwurf heute an dieser Stelle ablehnt, überrascht
mich schon ein bisschen; denn die Bundesregierung hat
dem Gesetzentwurf des Bundesrates eine Stellungnahme
beigefügt, in der eigentlich eine relativ offene Position
vertreten wird. Dort wird zumindest betont:
Die Bundesregierung ist sich des Stellenwertes bewusst, den diese der Erholung dienenden Grundstücke im Beitrittsgebiet für die Nutzerinnen und
Nutzer haben. Die Grundstücke wurden mit hohem
finanziellem und persönlichem Einsatz bebaut und
gepflegt. Dem Interesse der Nutzerinnen und Nutzer am Fortbestand dieser Nutzungsverhältnisse
stehen die schutzwürdige Rechtsposition der
Grundstückseigentümerinnen und -eigentümer …
gegenüber. Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung prüfen, ob und inwieweit dem Begehren … Rechnung getragen werden kann.
Ich frage Sie an dieser Stelle, ob das alles schon erledigt ist und Sie sich schon entschieden haben. So hat es
sich vorhin jedenfalls angehört. Wir werden die Sache
jedenfalls noch einmal ergebnisoffen prüfen.
Vielen Dank.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Stefan Zierke, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Reiseverhalten
hat sich geändert. Da gebe ich Ihnen recht. Ich möchte
Ihnen auch erläutern, wie es sich gerade hier in diesem
Bereich geändert hat. Früher sind viele aus Sachsen,
Thüringen und dem heutigen Sachsen-Anhalt zu Campingplätzen nach Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gefahren, um dort Erholung zu finden. Sie haben dort Dauercampingplätze - damals mit Verträgen
aus der DDR - gemietet und konnten da das ganze Jahr
lang Urlaub machen. Das Reiseverhalten hat sich geändert. Heute kommen deren Kinder auf diese Campingplätze.
Wie ist die Situation heute auf den Campingplätzen?
Das Reiseverhalten hat sich so geändert, dass meistens
die Kinder wirklich dorthin reisen, wo ihre Eltern Urlaub
machten. So finden sie heute auf unseren Campingplätzen eine Zweiklassengesellschaft vor. Es gibt nämlich
die Dauercampingplatzbesitzer, die diesen Dauercampingplatz zu DDR-Recht, zu DDR-Mark und zu DDRKonditionen erworben haben, und es gibt die Dauercampingplatzbesitzer, die ihn nach neuem Recht, nach dem
BGB, gemietet haben: schnell kündbar und zu anderen
Konditionen.
({0})
- Ja, Sie rufen „Datschen“ herein, liebe Kollegin von
den Linken; da müssen Sie einmal genau schauen. Auch
diese Campingplätze sind im Sinne des Gesetzes „Datschen“. Ich will nur die Betroffenheit in diese Richtung
lenken, damit Sie wissen, wem Sie mit diesem Gesetz
auch wehtun.
Diese Datschen - ich nenne es jetzt Datschen; die
Kollegen wissen ja, dass wir über Dauercampingplätze
reden ({1})
sind der Punkt, an dem Ungerechtigkeit herrscht und
keine Rechtssicherheit besteht. Campingplätze müssen
eigenwirtschaftlich geführt werden, sie sind im kommu7848
nalen Besitz, sie sind in privatem Besitz. Die Campingplatzbesitzer wissen, dass sie nach 25 Jahren mit diesen
Dauercampingplätzen neu wirtschaften können. Für Sie
zur Information: Dauercampingplätze sind kleine
Grundstücke, auf denen kleine Wagen stehen. Zugleich
kann man die Infrastruktur des Campingplatzes nutzen:
Toilette, Sicherheit, Bäder - all diese Einrichtungen.
Dauercampingplatzbesitzer, die noch unter dieses Gesetz
fallen, bezahlen heute im Durchschnitt 100 Euro. Dauercampingplatzbesitzer, die nicht unter dieses Gesetz fallen, zahlen circa 1 000 Euro. Das heißt also: Die eine
Gruppe subventioniert für die andere Gruppe all die genannten Einrichtungen. „Ist das gerecht?“, frage ich jetzt
die Linke. Ich finde, es ist nicht gerecht und auch nicht
rechtssicher.
({2})
Was soll man einem Campingplatzinhaber sagen? Bis
heute war das Recht, dass er eine Investition tätigen
konnte. Er konnte überlegen: Okay, bis zu dem Zeitpunkt ist Rechtssicherheit durch Bundesgesetz gegeben,
und dann kann ich neu verhandeln. - Wenn wir dem Gesetzentwurf zustimmen, sagen wir: Lieber Campingplatzbesitzer, Pustekuchen, wir verlängern noch einmal
drei Jahre. Drei weitere Jahre finanzieren die einen die
anderen mit.
Jetzt zur Betroffenheit. Wir können gemeinsam zu einem Campingplatz gehen und zwei Campingstellplätze
ähnlicher Couleur betrachten.
({3})
- Richtig, danke schön der Kollegin von den Grünen:
Das ist Zweiklassengesellschaft. - Wir können zusammen auf den Campingplatz gehen und uns fragen, ob es
gerecht ist, dass das gut situierte Rentnerpaar für den
Campingplatz 100 Euro im Jahr bezahlt und die vierköpfige Familie mit einem Einkommen, die sich davon Urlaub leistet, 1 000 Euro bezahlt. Ist das gerecht, dass die
vierköpfige Familie 1 000 Euro zahlt und das Rentnerpaar 100 Euro? Wenn Sie der Meinung sind, dass das gerecht ist, dann müssen wir das Gesetz ändern. Wenn Sie
der Meinung sind, dass es nicht gerecht ist, sollten Sie in
dem Fall die Finger davon lassen und damit Rechtssicherheit herstellen, Betriebswirtschaftlichkeit für Campingplätze sichern und Gerechtigkeit im Blick auf das
Reiseverhalten der ostdeutschen Bürger wiederherstellen. Dann wären wir zusammen. Das wäre die Lösung.
Vielen Dank.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Hinter dem Titel „Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes“ verbirgt sich in der Tat die
rechtliche Abwicklung von Tausenden Wochenend- oder
Datschengrundstücken auf dem Gebiet der ehemaligen
DDR.
Es geht aber um viel mehr als nur um Freizeitgrundstücke. Es geht bei der heutigen Debatte um zwei zentrale Fragen der Rechtspolitik. Diese möchte ich aufzeigen. Die erste Frage ist: Wie geht der Gesetzgeber im
Eigentumsgrundrecht mit dem Spannungsfeld zwischen
dem Anspruch des Nutzers auf weitere Nutzung und
dem Wunsch des Eigentümers auf wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks um? Die zweite Frage ist: Wie
gelingt es uns im Jahre 25 nach Vollendung der deutschen Einheit, Rechtssicherheit und Rechtseinheit in einem Bereich zu erlangen, in dem sie noch nicht erlangt
wurden?
({0})
Ich verhehle nicht, dass im Bereich der Datschengrundstücke die Lebenswirklichkeit der ehemaligen
DDR abgebildet wurde. Aber zur rechtlichen Lebenswirklichkeit der DDR gehörte auch eine sozialistisch
orientierte Bodenpolitik, die durch den Einigungsvertrag
revidiert wurde. Es ging darum, sozialistische Bodenverhältnisse in Verhältnisse des bürgerlichen Rechts zu
überführen. Dies ist ein wichtiges Ziel.
({1})
Die lange Kündigungsfrist von 25 Jahren dient dazu,
diesen Übergang sozial abgemildert und in Form eines
Interessenausgleichs zwischen allen Beteiligten zu ermöglichen.
Der Bundestag selbst hat sich in den vergangenen Legislaturperioden mit diesen Kündigungsfristen beschäftigt. Der Bundestag hat sich sehr wohl Gedanken über
die Frage gemacht: Wie kann dieses Spannungsverhältnis aufgelöst werden? - Die getroffene Regelung, die einen Kündigungsschutz von 25 Jahren nach der deutschen Einheit vorsieht, ist eine sehr gute Regelung. Ich
meine, das ist eine Regelung, an der wir nichts ändern
sollten.
Das Verfassungsgericht hat selbst gesagt: Die Kündigungsfristen dürfen nicht überspannt werden. Mit Ihrer
Regelung überspannen Sie diese Kündigungsfristen. Es
gibt, meine Damen und Herren, auch keinen sachlichen
Grund, ausgerechnet drei Jahre anzunehmen. Wieso
nicht zwei oder vier Jahre?
({2})
Wenn man neun Monate vor Ablauf einer Frist ohne
sachlichen Grund durch eine rechtliche Regelung in bestehende Rechtsverhältnisse eingreifen will, dann führt
das zu Rechtsunsicherheit. Das ist mit uns nicht zu machen.
({3})
Auch die Neuregelung bei den Abbruchkosten weckt
juristische Bedenken. Die bisherige Regelung sieht eine
Art Schutzfrist von 32 Jahren vor; das ist, wie ich meine,
eine ausreichende und ordentliche Frist. Sie müssen sich
vor Augen führen, dass das bürgerliche Recht eine absolute Verjährungsfrist von 30 Jahren vorsieht. Hier haben
Sie sogar eine Kostentragungspflicht von 32 Jahren. Warum wollen Sie noch weiter über diese Frist von 30 Jahren hinausgehen? Das ist mit Rechtssicherheit nicht zu
vereinbaren.
Sie setzen unbestimmte Rechtsbegriffe an die Stelle
einer klaren Regelung. Wer soll denn entscheiden, was
„angemessen“ bedeutet? Wer soll entscheiden, was
„grobe Unbilligkeit“ ist? Das sind Fragen, die Sie den
Gerichten anheimstellen. Sie treiben so die Bürger der
ehemaligen DDR, die ein entsprechendes Grundstück
haben, in Gerichtsverfahren. Sie schaffen für diese Bürger Rechtsunsicherheit. Das hat mit sozialem Frieden
und mit deutscher Einheit nichts zu tun. Sie spalten; Sie
führen nicht zusammen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Verwirklichung der
deutschen Einheit im Bereich des Zivilrechts ist ein
Stein im Gesamtgefüge der gelungenen Geschichte der
deutschen Wiedervereinigung der letzten 25 Jahre. Wir
sollten in den Bereichen, zum Beispiel im Zivilrecht, in
denen es Rechtsunterschiede gibt, diese Unterschiede
aufheben und zu einer einheitlichen Regelung kommen.
Diesem Anspruch trägt der Gesetzentwurf nicht Rechnung. Deswegen werden wir ihn ablehnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2231 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Regionalisierungsgesetzes
Drucksache 18/3785
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Regionalisierungsgesetzes
Drucksache 18/3563
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner für die Bundesregierung der Parlamentarische
Staatssekretär Enak Ferlemann. - Bitte schön, Herr
Staatssekretär.
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Landesminister, schön, dass Sie
auch einmal an einer Debatte des Deutschen Bundestages teilnehmen.
({0})
Wir bringen als Bundesregierung heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes ein.
Bevor wir uns nachher wahrscheinlich wie die Kesselflicker um das Geld streiten, möchte ich für die vielen
Zuschauerinnen und Zuschauer ein wenig erläutern, worum es bei dem Regionalisierungsgesetz inhaltlich geht.
Im vergangenen Jahr haben wir das 20-jährige Jubiläum
der Bahnreform gefeiert. Die Bahnreform war - das lässt
sich wohl ohne Übertreibung behaupten - eines der
größten Reformprojekte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Neben der Änderung des Grundgesetzes wurden damals sieben neue Gesetze erlassen sowie sage und schreibe 130 weitere Gesetze geändert.
Inhaltlich fußte die Bahnreform auf drei Grundprinzipien: Umwandlung von Bundes- und Reichsbahn in eine
privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des
Bundes, die DB AG, Schaffung eines diskriminierungsfreien Zugangs zum Eisenbahnnetz für private Eisenbahnunternehmen, die sogenannte Öffnung des Marktes,
und Übertragung der Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr auf die Bundesländer, einschließlich
der finanziellen Verantwortung, die sogenannte Regionalisierung.
Die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre hat gezeigt, dass sich dieser politische und organisatorische
Kraftakt wahrlich gelohnt hat. Nach Jahren des Niedergangs mit kontinuierlich sinkenden Marktanteilen erlebt
der Schienenverkehr seitdem einen enormen Aufschwung. Ohne die anderen Teile der Bahnreform
geringschätzen zu wollen, behaupte ich, dass die Übertragung der Planungs-, Organisations- und Finanzierungsverantwortung für den Schienenpersonennahver7850
kehr auf die Bundesländer zum 1. Januar 1996 und die
Schaffung einer finanziellen Grundlage durch die Regionalisierungsmittel zentrale Elemente der Erfolgsgeschichte der Bahnreform sind.
({1})
Aus dem Mineralölsteueraufkommen des Bundes erhalten die Länder seitdem auf Grundlage des Regionalisierungsgesetzes jährliche Beiträge zur Finanzierung der
Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr, die
sie aber zum Teil auch investiv zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs einsetzen können. Allein im Zeitraum von 2008 bis 2014 erhielten die Länder
auf diesem Weg knapp 50 Milliarden Euro. Allein 2014
flossen insgesamt rund 7,3 Milliarden Euro vom Bund
an die Länder - eine sagenhafte Summe.
Der Bund schafft also die Voraussetzungen, indem er
die finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Auf Landesebene bzw. in der Region wird dann entschieden, wie
diese Mittel sinnvoll eingesetzt werden können, wie der
öffentliche Verkehr vor Ort, in der Region oder auch länderübergreifend bedarfsgerecht gestaltet werden kann.
Darüber hinaus wird die Verwendung der Mittel über die
Transparenznachweise
({2})
- na ja, im weitestgehenden Sinne sind es Transparenznachweise -, die die Länder seit 2008 erbringen, belegt.
({3})
Meine Damen und Herren, die durch die Regionalisierung eingeführte Arbeitsteilung zwischen Bund und
Ländern hat sich bewährt. Die Zugkilometer im Schienenpersonennahverkehr konnten um über 28 Prozent
und die Verkehrsleistung in Personenkilometern um über
50 Prozent gesteigert werden. Besseres Material, neue
Fahrzeugflotten sowie integrierte Taktfahrpläne haben
zudem dafür gesorgt, dass es beim Komfort und bei der
Qualität des Angebots einen Quantensprung gegeben
hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung - das betone ich ausdrücklich - hat ein elementares Interesse daran, die mit der Regionalisierung
verbundene Erfolgsgeschichte weiter fortzuschreiben.
Zum einen ist und bleibt ein bedarfsgerechtes Angebot
im Schienenpersonennahverkehr ein zentrales Element
der Daseinsvorsorge, zu dem sich die Bundesregierung
ganz ausdrücklich bekennt. Zum anderen ist ein bedarfsgerechtes Angebot im Schienenpersonennahverkehr
auch aus ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten ein Gebot der Stunde. Unsere Gesellschaft und
auch das Mobilitätsverhalten der Menschen haben sich
deutlich verändert. Von den Menschen wird heute mehr
berufliche Mobilität erwartet, gleichzeitig können und
wollen viele Menschen diesen gesteigerten Erfordernissen nicht mehr ausschließlich mit dem Auto nachkommen. Deswegen ist ein attraktiver Schienenpersonennahverkehr in den Ballungsräumen und genauso natürlich in
der Fläche ein unverzichtbarer Bestandteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Um die Mittel auf den zukünftig zu erwartenden Bedarf ausrichten zu können, ist gemäß § 5 Absatz 5
Regionalisierungsgesetz für den Zeitraum ab 2015 eine
Neufestsetzung vorgesehen. Diese anstehende Revision
der Regionalisierungsmittel tangiert nach Auffassung
der Bundesregierung aber auch in erheblichem Maße die
Bund-Länder-Finanzbeziehungen auf grundsätzliche Art
und Weise. Daher ist die Bundesregierung der Auffassung, dass diese Revision im Rahmen der Reform der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen beraten und beschlossen werden soll.
Mit der heutigen Vorlage eines Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes
sollen die bisher geltenden Regelungen des Gesetzes um
ein Jahr fortgeschrieben werden. Damit ist sichergestellt,
dass die Mittel auch 2015 um 1,5 Prozent dynamisiert
werden. Den Ländern steht unter diesen Voraussetzungen für 2015 insgesamt ein Betrag von rund 7,4 Milliarden Euro zu. Das sind rund 100 Millionen Euro mehr, als
ursprünglich im Haushaltsgesetz 2015 vorgesehen.
({4})
Die Bundesregierung demonstriert damit ihre Bereitschaft, den schienengebundenen Personennahverkehr
weiterhin bedarfsgerecht auszustatten, ohne den laufenden Beratungen und Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen entscheidend vorgreifen zu wollen.
Nun hat auch der Bundesrat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dazu kann man sagen: Wenn ich unter den Bundesländern Streit über die Verteilung der Mittel habe, ist
es einfach, dem Bund links tief in die Tasche zu greifen
und rechts tief in die Tasche zu greifen, sodass alle mit
dem Mehr, was verteilt wird, zufrieden sind.
({5})
Das ist nicht besonders intelligent. Für die Länder ist es
vielleicht gut, aber es ist sehr teuer für den Bund. Von
daher werden wir das Problem so nicht lösen können.
Gleichwohl wollen wir uns gerne an den Diskussionen
beteiligen.
Ich hoffe, dass wir den Entwurf, den wir vorgelegt haben und der ein gutes Gesetz beinhaltet, zügig im Parlament beraten, damit die Verkehrsdienstleister in diesem
Jahr das ihnen zustehende Geld und auch die Erhöhung
der Mittel bekommen. Ich hoffe auch, dass wir in diesem
Jahr eine Regelung finden, die eine dauerhafte Finanzierung des schienengebundenen Personennahverkehrs in
Deutschland zur Freude aller Beteiligten sicherstellt.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Wir reden heute über die Finanzierung des
öffentlichen Nahverkehrs. Das ist ein wirklich bedeutender volkswirtschaftlicher Sektor: Ein Drittel der Bevölkerung nutzt täglich Bus oder Bahn, und 500 000 Beschäftigte sind im Einsatz, damit die Bürgerinnen und
Bürger auf diese Weise mobil sein können. Hohe Lebensqualität in den Städten, Klimaschutz und Mobilität
für alle sind Ziele, die nur mit mehr und besserem
ÖPNV erreicht werden können.
({0})
Eine ganz wesentliche Säule zur Finanzierung sind
die Regionalisierungsmittel, über die jetzt hier gestritten
wird, die der Bund an die Länder überweist und die sie
insbesondere - das ist im Gesetz so festgelegt - für den
Schienennahverkehr zu verwenden haben. 20 Jahre lang
galt das Regionalisierungsgesetz fast unverändert. Es ist
2014 planmäßig ausgelaufen. Jetzt ist immer noch unklar, wie es weitergehen soll. Die ganze künftige Finanzierung des ÖPNV ist unsicher. Ich finde, dies ist ein
echtes Armutszeugnis für den amtierenden Verkehrsminister Dobrindt, aber auch für seinen Vorgänger Herrn
Ramsauer. Sie haben sich wahlweise mit Nummernschildern, mit Flensburg-Punkten oder mit einer Ausländermaut beschäftigt, aber diese zentrale verkehrspolitische Aufgabe haben Sie bis heute nicht gemeistert.
({1})
Die Beschäftigten, die Kommunen und rund 11 Milliarden Fahrgäste pro Jahr erwarten eine dauerhafte und
auskömmliche Finanzierung des gesamten ÖPNV, und
das mit Recht. Die Bundesländer haben einen Vorschlag
vorgelegt, wie die Verteilung der Mittel sinnvoller organisiert werden kann, und das ist gut so. Der große Streit
zwischen Bund und Ländern geht allerdings um die Erhöhung der Regionalisierungsmittel und um die Zuverlässigkeit. Darüber werden die anwesenden Minister sicherlich gleich noch mehr erzählen. Nur so viel: Die
Regierung will 7,4 Milliarden Euro zahlen - das haben
Sie gerade gesagt -, aber in dem Gutachten, dass der
Bund selber in Auftrag gegeben hat, wird ein Bedarf von
7,7 Milliarden Euro festgestellt. Das sind 300 Millionen
Euro mehr. Die Länder weisen in ihrem Gutachten nach,
dass 8,5 Milliarden Euro nötig sind, damit die Preissteigerungen ausgeglichen werden können und Geld für
dringend notwendige Investitionen da ist. Mit diesen
Fragen werden wir uns in der Anhörung im Verkehrsausschuss am 23. Februar dieses Jahres intensiv beschäftigen.
Wir als Linke sind der Meinung: Das reicht nicht.
Mehr Geld ist notwendig. Es ist nötig, dass Geld in den
Regionen vorhanden ist, damit der Schienenverkehr erhalten und ausgebaut werden kann. Aber wir brauchen
auch Qualitätsstandards und -kriterien für einen guten
öffentlichen Nahverkehr für alle und dafür, wie gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten verankert werden können.
({2})
Die Allianz pro Schiene hat eine schöne Broschüre
veröffentlicht, in der sie 13 Beispiele für im Nahverkehr
sehr erfolgreiche Bahnen vorstellt. Darin werden die Zutaten für Erfolgsrezepte ganz explizit genannt: Investitionen in Haltestellen, Gleise und Bahnhöfe, ein dichter
Fahrplan, gute Anschlüsse, hochwertige Fahrzeuge, einfache Preis- und Tarifsysteme, Kundenorientierung, regionale Verankerung der Unternehmen und - das möchte
ich ergänzen - gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Daran sollte die Politik anknüpfen und solche
Qualitätsstandards vereinbaren, wenn wieder über die
Regionalisierungsmittel gesprochen wird.
({3})
Schließlich möchte ich noch etwas zu der Frage, woher das Geld kommen soll, sagen. Ich teile ja nicht das
Mantra von der sogenannten Schwarzen Null. Denn
wenn Sie heute nicht die U-Bahn-Tunnel in Berlin sanieren, weil Geld gespart werden soll, dann werden Sie in
10 oder 20 Jahren gar nicht mehr U-Bahn fahren können,
weil das ganze System abrissreif ist. Allerdings könnten
Sie auch einfach mehr Geld einnehmen. Herr Schäuble
verzichtet jedes Jahr auf 7 Milliarden Euro, weil Diesel
und damit der Lkw-Verkehr steuerlich begünstigt werden. Hinzu kommen rund 10 Milliarden Euro, die nicht
eingenommen werden, weil der Flugverkehr im Hinblick
auf Kerosin und Mehrwertsteuer begünstigt wird. Warum das? Warum immer noch so viele klimaschädliche
Subventionen? Das ist völlig unverständlich.
({4})
Die Linke steht für Umverteilen und Gerechtigkeit,
auch im Verkehrsbereich. Deshalb schlagen wir vor, den
Lkw- und Flugverkehr schrittweise so zu besteuern, wie
es bei der Bahn schon heute der Fall ist, und zwar zugunsten von öffentlicher Mobilität, zugunsten von Umwelt- und Klimaschutz.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Landesminister von Schleswig-Holstein, Reinhard Meyer. Bitte schön.
({0})
Reinhard Meyer, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Bundestag liegen zwei Gesetzentwürfe zur Revision der Regionalisierungsmittel vor: der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Gesetzentwurf der Länder. Es wird
Sie kaum verwundern, welchen Vorschlag ich für den
besseren halte, nämlich den der Länder.
Minister Reinhard Meyer ({2})
Die Länder haben dem Gesamtkompromiss zur Bahnreform vor mehr als 20 Jahren nur unter der Bedingung
zugestimmt, dass die mit der Regionalisierung verbundenen Lasten voll ausgeglichen werden. Dies ist aber
schon lange nicht mehr der Fall. Besonders die Stationsund Trassenpreise der Deutschen Bahn AG steigen seit
Jahren deutlich stärker als die Dynamisierung der Regionalisierungsmittel.
Aus gutem Grunde beinhaltet das Regionalisierungsgesetz eine Revisionsklausel. So kann in regelmäßigen
Abständen überprüft werden, ob die bisherigen Mittel
noch auskömmlich sind. Seit 2008 - Herr Ferlemann hat
darauf hingewiesen - liefern die Länder zudem Transparenznachweise. Deswegen geht der Vorwurf, der gelegentlich aus dem BMF zu hören ist, ins Leere: Wir als
Länder legen alles offen.
Die Länder haben sich frühzeitig mit der anstehenden
Revision auseinandergesetzt. Sie haben in einem Gutachten transparent und nachvollziehbar dargestellt, welche Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr in
Deutschland zukünftig zur Verfügung stehen müssen,
damit Umfang und Qualität des Angebots erhalten bleiben. Ergebnis: Wir benötigen eine Aufstockung auf
8,5 Milliarden Euro jährlich. Um Planungssicherheit im
Hinblick auf die langfristigen Verträge und Investitionen
zu bekommen, brauchen wir eine Festschreibung dieser
Mittel für die nächsten 15 Jahre sowie angesichts weiterer Kostensteigerungen einen jährlichen Aufwuchs um
mindestens 2 Prozent. Darüber hinaus benötigen wir
aber - das dürfte unser gemeinsames Interesse sein eine gemeinsame Anstrengung, um bei den Stations- und
Trassenpreisen mehr Kosteneffizienz zu erreichen.
Die Länder haben sich auch mit der horizontalen Verteilung intensiv befasst; denn wir wollen die Mittel den
tatsächlichen Bedarfen anpassen. Dazu mussten einige
Länder etwas abgeben, andere gewannen etwas hinzu.
16 berechtigte Einzelinteressen mussten in der Verkehrsministerkonferenz unter einen Hut gebracht werden.
Deswegen sind wir als Verkehrsminister der Länder stolz
darauf, dass es uns gemeinsam geglückt ist, als Kompromiss den sogenannten Kieler Schlüssel zu finden. Ich
glaube, manche - auch von Ihnen hier im Bundestag haben immer darauf gehofft, dass die Länder sich nicht
über den horizontalen Verteilungsschlüssel einigen werden; aber dies ist geschehen.
Umso unverständlicher ist es, meine Damen und Herren, dass die Bundesregierung so lange braucht, um ihre
Hausaufgaben zu machen. Die im Koalitionsvertrag versprochene zügige Einigung mit den Ländern hat leider
nicht begonnen. Ein Gutachten des Bundes ließ lange
auf sich warten, jetzt liegt es vor. Vielmehr beabsichtigt
die Bundesregierung mit dem von ihr eingebrachten Gesetzentwurf, die Revision der Regionalisierungsmittel,
wie ich es formulieren muss, ein wenig auf die lange
Bank zu schieben und die Finanzierung des Nahverkehrs
erst im Rahmen der Neuregelung der Bund-LänderFinanzbeziehungen neu zu ordnen. Ich sage sehr deutlich: Die Bahnreform hatte nie etwas mit der Bund-Länder-Finanzordnung zu tun. Es ist falsch, zu warten - das
dauert auch zu lange -; denn die Länder brauchen jetzt
Planungssicherheit.
Wir reden bei den Regionalisierungsmitteln über eine
Erfolgsgeschichte: Die Betriebsleistung im Schienenpersonennahverkehr wurde in 18 Jahren bundesweit von
einst rund 490 Millionen auf heute 650 Millionen Zugkilometer gesteigert - ein Zuwachs um ein Drittel. Vor
allem qualitativ hat sich einiges getan. Diese Erfolgsgeschichte der Regionalisierungsmittel sollte unbedingt
fortgeschrieben werden.
Stattdessen droht Folgendes: Einige Länder werden
bald Verkehrsleistungen abbestellen müssen, wenn die
nötigen Mittel nicht vorhanden sind. Viele Länder stehen
zudem unmittelbar davor, neue langfristige Verkehrsverträge auszuschreiben. Aber wie soll das gehen ohne die
notwendige Planungssicherheit? Eine Verschlechterung
des Bahnangebots führt automatisch zu einer Verlagerung hin zum motorisierten Individualverkehr, gerade
wenn die Benzin- und Dieselpreise so niedrig bleiben.
Ich frage Sie: Wollen wir das? Ich sage ganz klar: Nein,
meine Damen und Herren.
({3})
Der Bundesverkehrsminister verweist auf das BMF.
Gleichzeitig hören wir, es soll in allen Zügen WLAN geben. Das können wir gerne machen, meine Damen und
Herren - wenn es denn auch mehr Regionalisierungsmittel gibt. Insofern ist dieser Wunsch sicherlich ein gutes
Argument, mehr Regionalisierungsmittel zur Verfügung
zu stellen.
Zum Thema „Schwarze Null“ muss ich sagen: Sie
werden die Schwarze Null halten können, weil das, was
hier finanziert wird, wie ursprünglich bestimmt, ja auch
aus dem Energiesteueraufkommen bezahlt wird. Ich
halte das für finanzierbar, auch was die Wünsche der
Länder angeht.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass der bundesdeutsche Föderalismus immer dann stark ist, wenn er
auf Kooperation setzt. Bei den Regionalisierungsmitteln
liegen alle Fakten auf dem Tisch. Lassen Sie uns also sofort anfangen - ich sage: sofort -, miteinander zu reden,
miteinander zu verhandeln! Wir Länder sind dazu bereit.
Wir wollen die Erfolgsgeschichte des Nahverkehrs in
Deutschland fortschreiben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Landesminister Winfried Hermann, Baden-Württemberg.
Winfried Hermann, Minister ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass ich nach dreieinhalb Jahren
hier zum ersten Mal wieder sprechen darf. Es ist ein
Minister Winfried Hermann ({1})
wichtiges Thema: Es geht nicht nur, wie angekündigt,
um Länderinteressen, sondern es geht um die Zukunft
des Schienenpersonennahverkehrs - um nicht mehr und
auch nicht weniger. Es geht auch nicht darum, ob die
Länder mehr Geld haben wollen, sondern es geht darum,
wie viel Geld wir zur Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs einsetzen.
Mein Kollege hat es soeben angesprochen: Die Bahnreform war insgesamt ein Erfolgsprojekt. Aber das
größte Erfolgsprojekt der Bahnreform war die Regionalisierung, die Übertragung der Zuständigkeit für den
Nahverkehr auf die Länder. Die Länder haben mit dem
Geld, das über Jahre sehr auskömmlich vom Bund gekommen ist, ein gutes Angebot im Nahverkehr gemacht.
Das hat dazu geführt, dass zunehmend mehr Menschen
mit dem Zug zur Arbeit fahren, dass man also den
ÖPNV wirklich nutzt. Wir haben bessere Züge, wir haben bessere Takte, es ist wirklich ein deutlich besseres
Angebot als vor zwanzig Jahren.
Deswegen können wir auch sagen: Wir haben einen
großen Erfolg zu vermelden. Beispielsweise BadenWürttemberg hat 60 Prozent mehr Fahrgäste als noch
vor 15 Jahren.
({2})
Alle Länder - Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen,
wo auch immer - können diese Belege vorweisen. Aber
das ist natürlich nicht aus dem Nichts gekommen, sondern kommt daher, dass wir investiert und auskömmliche Mittel bekommen haben, um Züge zu bestellen.
Genau das ist jetzt gefährdet. Das betrifft nicht nur
den Bestand, sondern auch die Chance auf Ausbau.
Auch der Bund bzw. auch diese Koalition will ja etwas
für den Klimaschutz und zur Staubekämpfung tun. Wenn
man dies will, dann muss man auch den öffentlichen
Personennahverkehr, insbesondere den Schienenpersonennahverkehr, ausbauen.
({3})
Meine Damen und Herren, die Große Koalition, insbesondere der Finanzminister, verweist dieses Projekt
immer in die Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Das ist,
mit Verlaub, grottenfalsch.
({4})
In den 90er-Jahren ist die Bahnreform durchgeführt
und zugleich das Grundgesetz geändert worden, und
zwar unabhängig von den Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Man hat eine neue Zuständigkeit und eine neue
Finanzierungsgrundlage geschaffen; ich verweise auf
Artikel 106 a Grundgesetz. In diesem Zusammenhang
ist der Bund verpflichtet, den Ländern eine auskömmliche Finanzierung zur Verfügung zu stellen. Das ist die
Wahrheit, das ist der Punkt, um den es geht, und eben
nicht um die Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
({5})
Ich erspare mir jetzt verfassungsrechtliche Texte, die
das noch einmal untermauern; aber ganz eindeutig ist der
Bund verpflichtet, die Länder auskömmlich auszustatten. Dessen sind Sie sich ja durchaus bewusst. Nur, Sie
pokern. Aber Sie pokern nicht gegenüber den Ländern,
sondern Sie pokern gegenüber den Kunden des Nahverkehrs, gegenüber den Menschen, die im Alltag pendeln
müssen. Die Züge sind übervoll oder müssen abbestellt
werden.
({6})
Das, was der Bund jetzt den Ländern anbietet - eine
Verlängerung der bisherigen Regelung um ein Jahr bei
gleichen Bedingungen -, das ist für manche der Spatz in
der Hand. Ich sage Ihnen aber: Das ist Spatzendreck in
der Hand. Denn die Situation für die Länder ist ja völlig
anders. Wir sind in einer ganz prekären Situation.
Nur damit Sie sich das einmal klarmachen, beschreibe
ich Ihnen die Situation in Baden-Württemberg - andere
Länder haben vergleichbare Situationen -: Wir müssen
im Laufe des nächsten Jahres im Volumen von etwa
10 Milliarden Euro Nahverkehrsnetze ausschreiben 10 Milliarden Euro! Wir müssen Verträge machen, die
mindestens 8, 10, 15 Jahre laufen; denn Kurzverträge
sind extrem teuer, sie würden uns und den Bund sehr
teuer zu stehen kommen. Wir können doch jetzt nicht
einfach die Ausschreibung abbrechen. Übrigens: Die
CDU im Land treibt mich, dass ich noch schneller mache. Eigentlich müsste ich sagen: Stillhalten. Ich weiß
gar nicht, ob ich Geld bekomme. Welche prekäre Situation haben Sie geschaffen, obwohl Sie seit 15 Jahren
wissen, dass dieses Gesetz rechtzeitig hätte novelliert
werden müssen!
({7})
Der Bund selbst ist sich offenbar gar nicht bewusst,
was er tut. Denn auf der einen Seite sagen Sie, es ist
rechtlich alles in Ordnung. Wir haben aber diese Woche
vom Finanzministerium den Hinweis bekommen: Sie
bekommen Geld, aber wir zahlen nur unter Vorbehalt. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden als Länder die
DB unter Vorbehalt bezahlen. Dann würde die sagen:
Pfeifendeckel, dann fahren wir nicht mehr!
Also, welche Situation haben Sie geschaffen - das ist
doch völlig absurd -, nur weil Sie pokern wollen, weil
Sie glauben, wenn Sie alles in einen Topf schmeißen,
werden Sie am Ende weniger bezahlen müssen! Aber
das können die Länder nicht akzeptieren. Wir können
das nicht puffern. Die Länder haben nicht die Möglichkeit, das auszufinanzieren, was Aufgabe des Bundes ist.
Dazu sind wir nicht in der Lage.
Minister Winfried Hermann ({8})
Das hat übrigens auch etwas mit den Kosten zu tun.
({9})
Beim Bund haben manche noch das Bewusstsein, es
herrschten bei den Regionalisierungsmitteln die Zustände wie vor Jahren. Da war es so: Man hatte phasenweise auskömmlich viel Mittel. Aber dann sind im Rahmen der Koch/Steinbrück-Liste die Mittel über fünf
Jahre gekürzt worden. Darunter leiden wir heute noch.
Die Mittel sind schon lange nicht mehr auskömmlich.
Wir haben Preissteigerungen beim DB-Infrastrukturunternehmen von fast 40 Prozent. Das, was wir zusätzlich
bekommen haben, war deutlich weniger.
Wir zahlen heute - das müssen Sie sich einmal vorstellen - 55 Prozent der Regionalisierungsmittel direkt
an das DB-Unternehmen für Infrastruktur. Mit anderen
Worten: Nicht die Länder greifen dem Bund in die Tasche, sondern die Länder finanzieren die Infrastruktur
des Bundes.
({10})
Daraus nimmt der Bund übrigens in den letzten Jahren
noch die Rendite für seinen Haushalt. Das ist die Wahrheit; so ist die Situation.
({11})
Wenn wir als Länder mit einem eigenen Gutachten
belegen, was wir brauchen, dann tun wir das nicht, weil
wir einfach mehr Geld wollen, sondern dann tun wir das,
weil wir meinen, der Verkehr muss zukunftsfähig ausgebaut werden. Wir brauchen mehr Züge, bessere Züge,
bessere Qualität, wenn wir in der Konkurrenz mit dem
Auto mithalten wollen.
Insofern haben die Länder einen guten und gut begründeten Gesetzentwurf vorgelegt, der übrigens nicht
über die Maßen ausgestaltet ist. Übrigens: Der Vorschlag
des Bundes wird noch nicht einmal mit dem eigenen
Gutachten begründet. In dem eigenen Gutachten werden
ja mehr Ausgaben gefordert, als der Bund uns vorschlägt.
Meine Damen und Herren, Sie haben hier also noch
einiges zu tun. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Länder
können Ihr Angebot nicht annehmen. Wenn Sie wollen,
dann werden wir das Vermittlungsverfahren suchen. Wir
können aber auch gerne zusammen eine bessere Lösung
finden.
Ich sage Ihnen: Die Forderung von 8,5 Milliarden
Euro nach 15 Jahren ist kein übergriffiger Wunsch, sondern gut begründet. Dass wir uns zusammengeschlossen
und gesagt haben: „Wir verteilen unter den Ländern
neu“, war solidarisch. Sie müssen wissen: Wir wollten
nicht, dass Länder im Osten Züge abbestellen müssen.
Das wäre die Konsequenz, wenn wir hierfür nicht mehr
Mittel bekommen würden. Das ist eben so!
Das Land Baden-Württemberg zahlt schon in diesem
Jahr 100 Millionen Euro drauf, damit wir keine Züge abbestellen müssen. Verlangen Sie das einmal von armen
ostdeutschen Ländern! Diese können dann nur Züge abbestellen.
Wer also Verantwortung hat, der muss jetzt springen
und endlich etwas für den Schienenpersonennahverkehr
tun. Sie hatten jahrelang Zeit dafür. Mindestens zwei
Koalitionen haben dieses Thema verpennt. Jetzt wird es
allerhöchste Zeit. Regeln Sie das!
Wir, die Länder, sind bereit. Wir wollen eine gute Lösung, und ich glaube, wir haben einen guten Vorschlag
gemacht.
Vielen Dank.
({12})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Dezember haben wir über die 20-Jahres-Bilanz der
Bahnreform debattiert. In dieser Debatte hier knüpfen
wir mit den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen unmittelbar an die Debatte im Dezember an.
Auf die Inhalte der Reform ist ja schon hingewiesen
worden: Die Verantwortung für den Schienenpersonennahverkehr ging vom Bund auf die Länder über. Sie war
beim Bund ordnungspolitisch eigentlich immer falsch
angesiedelt. Das hatte etwas mit der Bundesbahn als monopolistisches Unternehmen zu tun. Ich erinnere mich
daran, dass schon Hans Matthöfer als Finanzminister gesagt hat, dass es eigentlich ein Unding sei, wie das geregelt ist. Das haben wir dann mit der Bahnreform korrigiert.
({0})
Aber natürlich haben die Länder die Verantwortung
nicht ohne finanzielle Begleitmusik übernommen. Man
muss für jeden Verständnis haben, der für seine Sache
mit Leidenschaft eintritt, vor allem dann, wenn es darum
geht, die finanziellen Mittel zu erhöhen.
Viele sagen - das ist heute schon gesagt worden -, die
Regionalisierung des SPNV sei im Ergebnis der erfolgreichste Teil der Bahnreform gewesen. Das sehe ich ähnlich, aber natürlich sehe ich noch weitere positive Effekte der Bahnreform.
Die bestellten Zugkilometer im SPNV konnten bis
heute um 28 Prozent und die Verkehrsleistung, also die
Personenkilometer, um über 50 Prozent gesteigert werden. Nutzten vor 20 Jahren 4 Millionen Fahrgäste täglich die Nahverkehrszüge, so sind wir im Moment bei
7 Millionen. Das ist eine dynamische Entwicklung und
eine höchst erfreuliche Steigerung.
Die Veränderungen kommen bei den Fahrgästen an:
verbesserte, ausgeweitete Angebote bei Bahnen und Bussen, vernetzte Taktsysteme, neue Strecken und Stationen,
modernere Fahrzeuge, regional integrierte Tarifsysteme,
ein verbesserter Service, kundengerechtere InformatioDirk Fischer ({1})
nen und inzwischen auch immer mehr elektronische und
mobile Ticketangebote.
Zur Finanzierung gibt der Bund einen hohen Milliardenbetrag aus, der jährlich um 1,5 Prozent gesteigert
worden ist. So war die bisherige Regelung. Wir wissen,
wo wir im Moment sind, nämlich bei 7,3 Milliarden
Euro.
Von der letzten Anpassung des Regionalisierungsgesetzes im Jahr 2008 bis 2012 hat der Bund hierfür insgesamt 34,5 Milliarden Euro ausgegeben. Dies ist aus
Sicht des Bundes sicherlich ein sehr starkes Engagement
in diesem Bereich.
({2})
Damit die Länder ihre Aufgaben als Besteller des
Nahverkehrs auch zukünftig erfüllen können, brauchen
sie natürlich weiterhin eine verlässliche finanzielle Unterstützung. Ich denke, in diesem Punkt sind wir uns alle
einig.
Natürlich sollte das Gesetz bis 2014 reformiert werden. Dazu ist es nicht gekommen, weil es im Bund-Länder-Finanzverhältnis mehrere Baustellen gibt. Auf der
anderen Seite muss man natürlich auch sehen, dass der
Finanzminister sagt, er müsse alles verhandeln. Der eine
gibt hier mal nach, der andere ist dort weiter vorn. Auch
andere zur Verhandlung stehende Dinge, die, Herr Kollege Hermann, genauso berechtigt sind, können von ihrer Entwicklung und von ihrer Verpflichtung her als besonders begründet dargestellt werden.
Lieber Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hajduk von Bündnis 90/
Die Grünen?
Jederzeit, natürlich.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Kollege Fischer, Sie kennen ja die
äußerst positive Entwicklung in Form einer enormen
Auslastung im öffentlichen Nahverkehr bei uns in Hamburg, aber auch - das ist dargestellt worden - in den anderen Regionen. Sie haben gerade gesagt: „Ich denke,
wir sind uns da alle einig“, als Sie über die Entwicklung
der Regionalisierungsmittel gesprochen haben.
Darf ich diese Einigkeit so verstehen, dass Sie den
Antrag der Länder plausibel finden? Darf ich Sie auch so
verstehen, dass die schon abgelaufene Frist zur Anpassung des entsprechenden Gesetzes nahelegt, dass wir für
die Entwicklung in diesem Bereich bei den Regionalisierungsmitteln schnell eine Zusage brauchen und dass vom
materiellen Kern her eine deutliche Erhöhung angemessen ist?
Frau Kollegin Hajduk, natürlich hat der Bund die Forderung nach 8,5 Milliarden Euro nicht akzeptiert. Darüber wird jetzt verhandelt. Da muss ein Weg gefunden
werden, sich zu verständigen.
Die Länder haben gesagt - das hat der Staatssekretär
dargestellt -: Wir wollen ein System, bei dem im Rahmen der horizontalen Prüfung niemand etwas verliert,
sondern alle gewinnen. Dann hat man zusammengerechnet und ist auf die Zahl von 8,5 Milliarden Euro gekommen. Das kann aber aus der Sicht des Bundes nicht das
Entscheidende sein, sondern der Bund muss seine eigene
Position vertreten. Das wird in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern auch geschehen müssen.
({0})
- Dass wir als Verkehrspolitiker ein gutes und schnelles
Ergebnis positiv bewerten würden, braucht man nicht zu
unterstreichen. Aber die Verhandlungen müssen geführt
werden.
({1})
Ich will darauf hinweisen, dass die Länder ihre Wünsche im Gesetzentwurf des Bundesrates formuliert haben; das haben wir zur Kenntnis genommen. Dabei ging
es um die Anpassung des Betrags auf 8,5 Milliarden
Euro, die Erhöhung der Dynamisierungsrate, die Übernahme des Risikos von Steigerungen der Stations- und
Trassenpreise zusätzlich durch den Bund über die Dynamisierungsrate hinaus, eine Laufzeit der Neuregelung
bis 2030 und die Vereinbarung einer notwendigen Revision im Jahre 2026.
Ich denke, dass aus der Sicht des Bundes erhebliche
finanz- und haushaltspolitische Bedenken gegen den Gesetzentwurf des Bundesrates bestehen. Für den Bund
würde das eine jährliche Mehrbelastung von über 1 Milliarde Euro bedeuten, ein Betrag, bei dem die Dynamisierung noch gar nicht eingerechnet worden ist. Das
würde die Finanzplanung des Bundes sicherlich ein bisschen durcheinanderbringen.
({2})
Die Länder sollten im Hinblick auf eine Einigung natürlich auch bedenken, dass der Bund in der Verantwortung steht, Haushalte ohne neue Schulden zu machen.
Diese Vorgabe verfolgen wir alle mit großem Ernst, und
dabei muss es bleiben.
({3})
Deswegen, Herr Minister Meyer: Kooperation ja, selbstverständlich; aber bitte immer in beide Richtungen und
nicht nach dem Motto: Beim Geld hört die Freundschaft
auf. Ich glaube, da müssen wir im Sinne von Geben und
Nehmen vernünftig miteinander umgehen und uns aufeinander zu bewegen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll die Gültigkeit des bestehenden Gesetzes nur
als eine Zwischenlösung um ein Jahr verlängert werden.
Damit wird die notwendige Zeit gewonnen, um eine
Dirk Fischer ({4})
langfristige Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten leben können. Außerdem erhöhen wir - das ist dargestellt
worden - für 2015 auf der Grundlage der jetzigen Dynamisierungsrate von 1,5 Prozent die Mittel um 109 Millionen Euro. Ich kann den Ländern nur empfehlen, dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.
Diese Summe wäre für die Länder deutlich vorteilhafter,
als auf die 109 Millionen Euro zu verzichten und damit,
Herr Minister Hermann, die Not der Länder, die Sie beschrieben haben, durch Ihre Blockade noch zu verstärken.
Deswegen kann ich nur sagen: Sagen Sie Ja zu einer
Zwischenlösung. Dann haben wir Zeit und Raum,
({5})
um für eine gute und langfristige Lösung Verhandlungen
zu führen: im Sinne des Bundes, der Länder und unserer
Fahrgäste.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Sören Bartol, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es immer beeindruckend, wenn der Kollege
Fischer als absolut Dienstältester in diesem Hause - er
ist seit 1980 im Bundestag und hat die ganze Bahnreform mitgestaltet - eine Rede hält. Herzlichen Dank!
Ihr habt euch damals gemeinsam sehr gut entschieden.
Das war übrigens auch eine Meisterleistung zusammen
mit den Ländern. Ihr habt damals eine gute Arbeit gemacht.
({0})
- Genau, da kann man auch mal klatschen. Der Beifall ist für dich, Dirk.
Der Regionalverkehr auf der Schiene, meine Kolleginnen und Kollegen, ist für Millionen von Pendlern auf
ihrem täglichen Weg zum Arbeitsplatz unverzichtbar.
Regionalbahnen sichern die Anbindung des Umlands an
die Ballungsräume. Sie entlasten die Straßen und sind
damit auch aktiver Umwelt- und Klimaschutz.
Regionalbahnen sichern auch die Erreichbarkeit von
Regionen, in denen es keinen starken Fernverkehr gibt,
und sind damit das unverzichtbare Rückgrat des öffentlichen Verkehrsangebots. Der öffentliche Nahverkehr ist
eine staatliche Aufgabe der Daseinsvorsorge.
({1})
Genau so definiert es auch das Regionalisierungsgesetz, über dessen Novellierung wir heute beraten. Mit
Bahnreform und Regionalisierungsgesetz - das wurde
schon gesagt - ist die Verantwortung für die Finanzierung und Organisation des SPNV an die Länder übergegangen. Der Bund schafft die Grundlage, indem er den
Ländern die Regionalisierungsmittel gibt. Das ist verfassungsrechtlich auch so verbrieft.
Die Revision der Mittel hätte, so will es das Gesetz,
schon zu Jahresbeginn 2015 erfolgen müssen. Die Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen
laufen aber noch, und es zeichnet sich bisher auch zu den
Regionalisierungsmitteln noch keine Einigung ab.
Die Regionalisierungsmittel waren schon immer zwischen Bund und Ländern, Verkehrspolitikern und Haushältern heftig umstritten. In den 2000er-Jahren haben
zwei Ministerpräsidenten zum Leidwesen aller Verkehrspolitiker Subventionen identifiziert und Kürzungspotenzial ausgemacht. Nach den Einschnitten 2007 und
2008 sind aber die Regionalisierungsmittel seit 2009
wieder gestiegen, mit dem Faktor 1,5 Prozent jährlich
dynamisiert, und lagen 2014 bei 7,3 Milliarden Euro.
Diese 7,3 Milliarden Euro hatte der Bundesfinanzminister im Haushalt 2015 ohne Dynamisierung schlicht fortgeschrieben. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf sichert
zum einen die Rechtsgrundlage für 2015 und zum anderen die Dynamisierung um 1,5 Prozent. Ich finde, damit
gehen wir einen kleinen, aber unverzichtbaren ersten
Schritt.
({2})
Ich bin sicher, uns allen ist klar: Die grundlegende
Revision ist damit nicht erledigt. Die vom Bund und von
den Ländern vorgelegten Gutachten kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine Erhöhung der Mittel und eine höhere Dynamisierung erforderlich sind,
wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung.
({3})
Ich füge hinzu: Die grundlegende Revision muss zügig
erfolgen, um endlich Planungssicherheit zu schaffen. Es
darf keine weitere Hängepartie geben.
({4})
Man muss auch wissen: Nur wenn der Bund die Regionalisierungsmittel weiter gewährt, kann er sicherstellen, dass die Länder weiterhin überall in Deutschland
Züge auch für den Nahverkehr bestellen. Es ist auch die
Verantwortung des Bundes, dass in allen Regionen - von
Kiel bis München, von Köln bis Frankfurt an der Oder die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die
wirtschaftliche Entwicklung gesichert werden. Ein leistungsfähiger Nahverkehr ist dafür unverzichtbar.
Die Regionalisierungsmittel sind deshalb mehr als
eine finanzpolitische Verschiebemasse. Deswegen ist
mein Appell an alle Beteiligten auf Bundes-, aber auch
auf Länderseite: Suchen wir endlich einen Weg für eine
Lösung bei den Regionalisierungsmitteln unabhängig
von den Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzen.
({5})
Die Länder haben schon im letzten Jahr einstimmig
einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Erhöhung auf
8,5 Milliarden Euro, eine Dynamisierung um 2 Prozent
und die Übernahme der Trassen- und Stationspreise
durch den Bund vorsieht. Das ist sehr leicht, wenn andere bezahlen müssen - das wurde schon mehrfach gesagt -, und selbstverständlich müssen wir darüber noch
reden.
Aber, Kollege Ferlemann, in schwierigen Diskussionen haben sich die Länder auch auf eine Neuverteilung
der Mittel untereinander geeinigt. Bei allem, was man
vielleicht auch lustig gemeint sagen kann, finde ich: Das
verdient große Anerkennung.
({6})
Denn der sogenannte Kieler Schlüssel berücksichtigt sowohl die Region mit deutlich gestiegener Verkehrsnachfrage als auch den Bestandsschutz in Regionen mit sinkender Bevölkerungszahl.
Jetzt liegt uns auch das Gutachten im Auftrag des
Bundesverkehrsministeriums vor, das einen Bedarf von
7,7 Milliarden Euro und eine Dynamisierung um
2,7 Prozent ermittelt hat, um auch Trassen- und Stationspreise zu berücksichtigen. Ich finde, liebe Kolleginnen
und Kollegen, der Rat dieser Fachexperten sollte uns
helfen, zügig über die zukünftige Höhe der Regionalisierungsmittel zu verhandeln und zu entscheiden. Wichtig
ist doch am Ende, dass wir in Deutschland weiterhin einen guten Nahverkehr haben.
Seit der Bahnreform und der Regionalisierung des
SPNV haben Regionalzüge massiv an Attraktivität und
deutlich messbar Fahrgäste hinzugewonnen; das wurde
schon gesagt. So ist bei den Zugkilometern eine Zunahme von 28 Prozent und bei der Verkehrsleistung, also
bei den Personenkilometern, sogar eine Zunahme von
über 50 Prozent zu verzeichnen. Unverzichtbar für diesen Erfolg ist eine gesicherte Finanzierungsgrundlage.
Bund und Länder sind aufgefordert, sich schnell zusammenzusetzen und sich endlich zu einigen. Ansonsten bekommen wir sehr große Probleme in diesem Land.
Vielen Dank.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Eckhardt Rehberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Herr Minister Meyer, der Koalitionsvertrag hat zwei Teile. Der eine Teil besagt, dass
wir sobald wie möglich - eigentlich schon 2014 - eine
zügige Einigung mit den Ländern bei der Revision der
Regionalisierungsmittel anstreben. Der zweite Teil besagt:
Um die Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs langfristig zu sichern, werden wir die Regionalisierungsmittel für den Zeitraum ab 2019 in der
Bund-Länder-Finanzkommission auf eine neue
Grundlage stellen.
Nach meiner Information saß Ihr Ministerpräsident, Herr
Albig, mit in der Arbeitsgruppe „Verkehr“. Für uns ist
der Koalitionsvertrag zumindest an dieser Stelle noch
bindend.
({0})
- Herr Kollege Bartol, wenn das die Großkopferten beschlossen haben, dann waren auch die SPD-Ministerpräsidenten mit dabei. Insoweit hat dieses Dokument für die
Koalition verbindlichen Charakter. Zumindest für die
Union ist das so.
({1})
Sie haben von Kooperation geredet und legen einen
Gesetzentwurf vor, der einen Aufwuchs von 1,2 Milliarden Euro vorsieht. Sie gehen offenbar leicht über die
Schwarze Null hinweg. Wir tun das nicht; denn die
Schwarze Null stellt für uns die Basis dar. Wir haben uns
damit Spielräume für die Zukunft erarbeitet. Ich will einmal die Entwicklung für die nächsten drei bzw. vier
Jahre skizzieren: 8 Milliarden Euro mehr für die Kommunen - Stichworte: „Eingliederungshilfe“, „Erhöhung
des kommunalen Mehrwertsteueranteils“, „KdU-Bundesbeteiligung“; im Rahmen des BAföG für die Länder
zusätzlich 1,7 Milliarden Euro für Hochschulen und
Schulen. Allein in der letzten Legislaturperiode haben
wir Ländern und Kommunen 60 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Vor diesem Hintergrund darf
man eine Lösung bei den Regionalisierungsmitteln für
die nächsten 15 Jahre nicht isoliert betrachten. Das muss
in den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen berücksichtigt werden.
({2})
Da es hier um Kooperation geht, kann man auch fragen: Gehörte die Verlängerung bei den Entflechtungsmitteln sachlich und inhaltlich zum Fiskalvertrag? Sie
haben sich das erstritten, abgetrotzt und erkauft. Aber in
der Föderalismuskommission war ursprünglich vereinbart worden, die degressive Ausgestaltung der Entflechtungsmittel bis 2019 auslaufen zu lassen. Nun ist etwas
anderes vereinbart worden. Ich habe nachgesehen, wie
die Mittel für den ÖPNV in den Jahren von 2010 bis
2012 eingesetzt wurden, als die ursprüngliche Vereinbarung noch Bestand hatte. Nur zwei kleine Länder, das
Saarland und Mecklenburg-Vorpommern, haben 50 Prozent der Mittel für den ÖPNV eingesetzt. Alle anderen
14 Länder haben noch nicht einmal 50 Prozent für den
ÖPNV eingesetzt.
({3})
Das ist die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen auf
der Bundesratsbank.
({4})
- Herr Kollege, das ist das, was auf Nachfrage der Bundesregierung offiziell verwendet worden ist.
Es stimmt zwar, dass die Länder seit 2008 Verwendungsnachweise erbringen müssen. Aber die Regionalisierungsmittel sind weitestgehend der parlamentarischen
Kontrolle entzogen.
({5})
Schauen Sie sich einmal die Haushalte der Landtage an.
Dann stellen Sie fest, dass es Einnahmetitel und Ausgabetitel gibt. In aller Regel werden die Mittel aber nicht
durch das Verkehrsministerium, sondern durch Verkehrsverbünde verwaltet und verwendet. In den Beiräten
dieser Verbünde sitzen nach meiner Kenntnis keine
Landtagsabgeordneten.
Jetzt sage ich es einmal etwas derb: Die Länder können uns aufschreiben, was sie wollen. Wir können es
nicht kontrollieren, geschweige denn sanktionieren. Das
ist aus meiner Sicht ein großes Manko der Regionalisierungsmittel. Das heißt, hier werden von uns 8,5 Milliarden Euro, aufwachsend für die nächsten 15 Jahre gefordert. Es wird gefordert, diese Mittel unkontrolliert an die
Länder zu geben. Auch in den Ländern ist die Kontrolle
relativ mangelhaft.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Hermann, lassen Sie mich ein letztes Wort zu dem
Kompromiss sagen. Herr Minister Meyer, ich schließe
Sie dabei ein. Ja, das ist eine 16: 0-Entscheidung. Das ist
richtig. Wenn Sie aber in den Vertrag schauen, stellen
Sie fest, dass das ein Vertrag zulasten eines Dritten, des
Bundes - Stichwort: vertikale Verteilung -, ist. Und das
ist eine Vereinbarung zulasten von fünf neuen Ländern.
Mecklenburg-Vorpommern bekommt heute 242 Millionen Euro und soll im Jahr 2030 258 Millionen Euro
bekommen. Sie können mir doch nicht erzählen, dass damit grob das Angebot von heute gehalten werden kann.
Wenn Sie die Trassenpreise und die Inflationsrate in
Rechnung stellen, dann sind die 258 Millionen Euro
deutlich weniger wert als die 242 Millionen Euro heute.
({7})
Meine letzte Bemerkung: Es ist sehr einfach, Verträge
und Vereinbarungen zulasten Dritter und Vierter zu
schließen. Fünf Länder bleiben dabei auf der Strecke.
Ein bisschen mehr Solidarität hätte ich mir als Vertreter
eines neuen Bundeslandes, der den größten Flächenwahlkreis in Deutschland hat, schon gewünscht.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/3785 und 18/3563 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Katja Keul, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräte
braucht das Land
Drucksache 18/2750
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Es wäre nett, wenn sich die Kollegen jetzt bitte hinsetzen und der Debatte folgen würden. Wer zwingend
daran gehindert ist, möge bitte den Saal verlassen. Es ist
nicht nett, bei einem neuen Tagesordnungspunkt die
Rednerin daran zu hindern, ihre Argumente darzulegen.
Jetzt können wir beginnen. Als erster Rednerin erteile
ich der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mitbestimmung bedeutet für die
Beschäftigten Augenhöhe im Betrieb und für die Arbeitgeber entsteht Vertrauen in die Belegschaft. Die Mitbestimmung ist gelebte Partizipation und Demokratie.
Auch der Gesetzgeber hat sich im Betriebsverfassungsgesetz ganz eindeutig positioniert. Dort steht nicht „sollen“ oder „können“, nein, Betriebsräte „werden“ gewählt. Die Mitbestimmung ist anerkannt, und darüber
besteht auch ein breiter gesellschaftlicher Konsens.
Wenn dieser Konsens aber brüchig wird, dann muss
Politik handeln - und deshalb heute unser Antrag.
({0})
„Brüchig“ meint, dass die Arbeit oder die Wahlen von
Betriebsräten immer häufiger behindert werden. Ein
Beispiel zeigte das ARD-Magazin Report. Da ging es
um einen Mann, der 26 Jahre im gleichen Betrieb gearbeitet hat. Das war seine Lebensaufgabe. Dann war von
heute auf morgen Schluss. Ihm wurde gekündigt, nur
deshalb, weil er zusammen mit Kollegen einen Betriebsrat gründen wollte. Das ist nicht die Regel, aber das ist
auch kein Einzelfall. Fakt ist aber: Manche Arbeitgeber
verhindern Betriebsratswahlen. Das geht nicht. Deshalb
fordern wir mehr Schutz für die Beschäftigten; denn die
betriebliche Mitbestimmung ist immerhin ihr verbrieftes
Recht.
({1})
Auf drei Forderungen möchte ich ganz kurz eingehen.
Erstens. Die schwierigste Phase ist, wenn sich Beschäftigte auf den Weg machen, um einen Betriebsrat zu gründen, insbesondere in einem mitbestimmungsfeindlichen
Betrieb. In dieser Zeit brauchen die Beschäftigten Unterstützung. Deshalb sollen sie die Möglichkeit erhalten,
ihre Absicht bei einer neutralen Stelle zu melden. Dann
erhalten sie auch den besonderen Schutz nach § 78 Betriebsverfassungsgesetz. So werden die Beschäftigten
vor Benachteiligungen und Schikanen geschützt. Wenn
Arbeitgeber Betriebsräte tatsächlich verhindern wollen,
dann müssen wir ganz eindeutig an der Seite der Beschäftigten stehen.
({2})
Zweitens. Es ist bekannt: Heute stellen viele Betriebe
und sogar manche Branchen in großer Zahl nur noch befristet ein. Häufig werden die Befristungen genutzt, um
unerwünschte Betriebsräte zu zerschlagen. In diesen Betrieben muss häufig schon nach kürzester Zeit wieder
neu gewählt werden, weil die befristet beschäftigten Betriebsräte die Ersten sind, die wieder gehen müssen, und
das ist nicht akzeptabel. Deshalb sollen diese Betriebsräte übernommen werden wie Auszubildende auch,
wenn keine triftigen Gründe dagegen sprechen. Der besondere Schutz nach § 78 a Betriebsverfassungsgesetz
funktioniert bei den Auszubildenden gut. Dann geht das
auch bei Befristungen; denn die Arbeit von Betriebsräten
braucht Kontinuität.
({3})
Drittens. Wenn Betriebsräte nicht erwünscht sind,
dann gibt es Kündigungen. Die Beschäftigten werden
gemobbt, es hagelt Abmahnungen. Es gibt Schikane und
Benachteiligungen. Das alles sind Straftaten nach § 119
Betriebsverfassungsgesetz. Dazu sagte ein Fachanwalt
in der besagten Report-Sendung - ich zitiere -:
Verfahren verlaufen im Sande, werden eingestellt
… So … haben Arbeitgeber eigentlich gar nichts zu
befürchten.
Hier läuft wirklich etwas gewaltig schief. Es muss
endlich geprüft werden, welche strukturellen Defizite
bei der Verfolgung von Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz bestehen. Hier brauchen wir dringend
Lösungen. Das sind keine Kavaliersdelikte. Bestehendes
Recht muss endlich durchgesetzt werden.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt eindeutige Hinweise, dass die Mitbestimmung mittlerweile
strategisch bekämpft wird. Diese Hinweise bezeichnen
die Autoren einer WSI-Studie als „Spitze des Eisbergs“.
Deshalb muss die Politik vorausschauend tätig werden.
Die Beschäftigten brauchen mehr Schutz und auch mehr
Unterstützung; denn wir brauchen mehr und nicht weniger Demokratie in den Betrieben.
Vielen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uwe Lagosky, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt sicherlich immer noch Menschen, die
die betriebliche Mitbestimmung für einen Irrtum der Geschichte halten. Das ist falsch.
({0})
Denn unter anderem während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bis 2010 wurde besonders deutlich,
dass Betriebsräte verlässliche, kompetente Sozialpartner
sind. Da ich selbst einige Jahre Betriebsratsvorsitzender
sein durfte, ist es mir eine Herzensangelegenheit, für Betriebsratsgründungen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wie auch bei Arbeitgebern zu werben.
Denn ich bin überzeugt davon, dass Betriebsräte eine
wichtige Rolle in unserer sozialen Marktwirtschaft spielen. Mit dieser Überzeugung fühle ich mich in unserer
Union gut aufgehoben. Es waren nämlich Christdemokraten und von ihnen geführte Bundesregierungen, die
die deutsche Mitbestimmung entscheidend prägten.
({1})
Aber zu Ihrem Antrag. Der prozentuale Anteil der Betriebe mit Betriebsrat nimmt bei steigender Betriebsgröße zu. Nach den aktuellsten Daten wiesen Betriebe
mit 5 bis 50 Beschäftigten eine Quote in Ost- und in
Westdeutschland von 6 Prozent auf. Bei Großbetrieben
mit über 500 Beschäftigten sind es im Westen 86 Prozent und im Osten 92 Prozent. Generell ist ein Streben
nach mehr Betriebsräten daher sinnvoll.
Die Frage ist: Erreicht man das auf der Grundlage Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen? Die von Ihnen herangezogene Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, die die
Grundlage Ihres Antrags ist und Behinderungen von Betriebsratswahlen untersucht, stellt wichtige Fragen, hat
aber leider eine recht dünne Datenbasis: Von 347 Fragebögen wurden 184 beantwortet, also 53 Prozent. In
59 Prozent dieser Fragebögen wurde angegeben, dass
man von Be- oder Verhinderungsversuchen bei Betriebsratswahlen weiß.
({2})
- Immerhin.
Im ersten Moment gut klingt hingegen Ihre Forderung, das vereinfachte Wahlverfahren bei Erstwahlen
von Betrieben mit bis zu 50 wahlberechtigten Mitarbeitern auf Betriebe mit bis zu 100 wahlberechtigten Mitarbeitern auszuweiten. Möglich ist das nach Vereinbarung
mit Wahlvorstand und Arbeitgeber heute schon. Genau
diese Regelung wollen Sie ändern.
Trotz des vereinfachten Wahlverfahrens bei Kleinbetrieben blieb der Anteil der Betriebsräte in dieser Gruppe
in den letzten Jahren konstant. Es ist daher fraglich, ob
durch die Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrens
mehr Betriebsräte gegründet werden.
Dann wollen Sie die Mitglieder des Wahlvorstands
und Beschäftigte, die erstmals die Wahl eines Betriebsrats einleiten, unter die Schutzbestimmung des § 78 Betriebsverfassungsgesetz stellen. Dieser Paragraf regelt
im Wesentlichen, dass die hier aufgeführten Gruppen
weder benachteiligt noch bevorteilt werden dürfen.
Darüber hinaus sollen die gleichen Gruppen unter den
Schutz des § 119 Betriebsverfassungsgesetz - Straftaten
gegen Betriebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder gestellt werden. Meines Erachtens sind Beschäftigte, die
Wahlen einleiten oder in Wahlvorständen arbeiten, über
das Betriebsverfassungsgesetz bereits heute geschützt:
§ 20 Betriebsverfassungsgesetz in Verbindung mit § 119.
({3})
Darüber hinaus fallen die Beschäftigtengruppen unter einen besonderen Kündigungsschutz nach § 15 Kündigungsschutzgesetz.
Sie wollen weiterhin befristet Beschäftigte, die in den
Betriebsrat gewählt wurden, unter den Schutz des § 78 a
Betriebsverfassungsgesetz stellen, um damit einen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu begründen. Ob das der richtige Weg ist, darf angezweifelt werden, da Betriebsräte nicht benachteiligt oder - wie in
diesem Fall - begünstigt werden dürfen.
({4})
Zusammenfassend können wir feststellen, dass Betriebsräte in Deutschland gut geschützt sind. Dort, wo es
noch keine gibt, werden wir dafür werben.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 21. Januar fand vor dem Arbeitsgericht in
Magdeburg ein Kündigungsschutzprozess gegen den Betriebsratsvorsitzenden einer Tochterfirma von Enercon
statt. Nils-Holger Böttger hat sich für Leiharbeitnehmer
in seiner Firma eingesetzt. Er hat das gemacht, was Beschäftigte von ihrem Betriebsrat erwarten. Deshalb haben sie ihn gewählt, auch die Leiharbeitnehmer.
Die Firma sieht das anders. Sie will seine Kündigung.
Enercon ist Hersteller von Windkraftanlagen, verbunden
mit einem Saubermann-Image. Dabei hat Enercon offensichtlich ein Demokratiedefizit. Wer Betriebsräten kündigt, ist im Grunde nichts anderes als ein Vertreter einer
Schmuddelbranche.
Wir Linken begrüßen den Antrag der Grünen. Er löst
eine längst überfällige Debatte über die Stärkung der
Rechte von Betriebsräten aus.
({0})
So finde ich richtig, dass befristet Beschäftigte, die in einen Betriebsrat gewählt werden, dem besonderen Kündigungsschutz unterliegen sollen.
Heute ist es keine Selbstverständlichkeit, in Betrieben
Betriebsräte zu wählen. Die Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrens kann in Zukunft eine Hilfe sein. Als
Gewerkschaftssekretärin weiß ich, dass in jedem Betrieb
ein Betriebsrat zu bestehen hat. Schwierig wird es, wenn
man mit Chefs konfrontiert wird, die sich mit Händen
und Füßen gegen Betriebsräte wehren. Aktive Beschäftigte werden zu Opfern einer knallharten Arbeitgeberstrategie. Damit muss endlich Schluss sein!
({1})
Ganz schwierig wird es, wenn Firmen sich Rechtsanwälte nehmen, deren erklärtes Ziel es ist, einzelnen Betriebsräten zu kündigen. Ärzte leisten den hippokratischen Eid, dass sie ihre Qualifikation einsetzen, um
Leben zu erhalten. Diese Juristen aber nutzen ihre Qualifikation dazu, Gesetze zu brechen, zu umgehen oder zu
missachten. Solchen Juristen gehört die Zulassung entzogen!
({2})
Die systematische Bekämpfung von Betriebsräten ist
mittlerweile eine professionelle Dienstleistung in
Deutschland geworden. Betriebsräte werden gemobbt
und mit Kündigungen bedroht. Sie sollen mürbe gemacht und gebrochen werden. Das ist im Grunde unerträglich. Die Forderung nach einer Prüfung durch die
Bundesregierung, ob strukturelle Defizite bei der Verfolgung von Straftaten gegen Arbeitgeber bestehen, ist aus
meiner Sicht überflüssig, liebe Grüne. Offensichtliches
muss nicht noch einmal geprüft werden, sondern es muss
endlich gehandelt und bestraft werden.
Ja, mehr Betriebsräte braucht das Land, aber die Forderung nach mehr Betriebsräten allein reicht uns Linken
im Grunde nicht.
({3})
Wir müssen endlich die Durchführung von Betriebsratswahlen wirklich erleichtern, und wir müssen bestehende
Betriebsräte effektiv vor Bedrohungen schützen. Uns
Linken geht es um Anforderungen an eine kämpferische
Mitbestimmung in den Betrieben; eine Mitbestimmung
von unten, weg von Stellvertreterpolitik.
({4})
Die Linke will die Mitbestimmung auf betrieblicher
Ebene durch Elemente direkter Beteiligung ergänzen
und weiterentwickeln. Es geht um die Demokratisierung
in der Arbeitswelt. Gute Arbeit verlangt demokratische
Bedingungen. Demokratie darf nicht am Werkstor
enden. Das muss drin sein.
Vielen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Bernd Rützel, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sie von den Grünen wollen Betriebsräte
stärken, da sind Sie bei mir genau an der richtigen Stelle.
({0})
Ich freue mich, dass wir heute darüber reden,
({1})
und ich stelle hier eine breite Übereinstimmung fest. Ich
bin gespannt, wie sich das entwickelt.
({2})
Tarifpolitisch, gesellschaftlich und auch für die Betriebe selbst ist die Mitbestimmung von enormer Bedeutung. Ich war selbst lange Jugend- und Auszubildendenvertreter. Ich war freigestellt, später war ich freigestellter
Betriebsrat, und ich weiß um die gesetzlichen Regelungen und um die Schutzmöglichkeiten für Betriebsräte.
Aber ich weiß aus der Praxis auch, dass diese oft nicht
ausreichen. Wir brauchen einen Kündigungsschutz bereits für die Beschäftigten, die sich in der Kaffeeküche
treffen und über die Bildung eines Betriebsrats nachdenken. Wir haben das heute schon gehört. Da muss der
Kündigungsschutz schon ansetzen;
({3})
denn nicht selten ist es so, dass der Arbeitgeber, wenn er
davon Wind bekommt, versucht, die Wahl zu verhindern.
Liebe Grüne, das Wahlverfahren haben wir 2001 mit
Rot-Grün eingeführt. 2001 war dies ein wichtiges Anliegen, als wir das Betriebsverfassungsgesetz verändert
haben. Ziel war hauptsächlich, die Wahl schneller durchführen zu können, damit die Reaktionszeiten der Arbeitgeber kürzer wurden, um Steine in den Weg zu legen.
Ich will an dieser Stelle aber auch einmal für die Arbeitgeber sprechen. Viele Arbeitgeber wissen zu schätzen, dass sie einen Betriebsrat haben. Er ist sozusagen
eine interne Beratungsfirma, ein Verbindungselement
und -instrument, eine Konfliktlösungsstelle. Sie wissen,
dass sie mit Betriebsräten produktiver sind und dann,
wenn es Krisen gibt, auch besser über die Runden kommen. Betriebsräte hängen an ihren Unternehmen. Sie
wollen das Beste für das Unternehmen, aber natürlich
auch für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und sie
sind oft viel länger im Unternehmen als mancher Manager.
Dass manche Betriebe den Betriebsrat fürchten wie
der Teufel das Weihwasser, liegt in der Natur der Sache,
auch wenn ich dies natürlich nicht nachvollziehen kann.
Wir haben es gehört: Dass manche Unternehmen viel
Geld in die Hand nehmen, viel Aufwand betreiben und
Kanzleien mit Betriebsratskillern beauftragen, die ihnen
den Betriebsrat vom Hals schaffen sollen, verurteile ich
scharf. Ich habe dies letztes Jahr in meinem Wahlkreis
miterlebt, als eine Großbäckerei ihren gewählten Betriebsratsvorsitzenden entlassen hat. Trotz Unterstützung
durch die Gewerkschaft NGG, durch viele Mandatsträgerinnen und Mandatsträger und aus der Öffentlichkeit
- die Zeitungen waren wochenlang voll -, hat sich der
Firmeninhaber letztendlich im Gerichtsverfahren durchgesetzt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Herz ist voll,
meine Redezeit aber fast vorbei. Lassen Sie mich deshalb ganz kurz und auch nicht vollumfassend auf ein
paar Punkte eingehen, die uns Sozialdemokraten sehr am
Herzen liegen.
Leiharbeitnehmer müssen hinsichtlich der Betriebsratsgröße Berücksichtigung finden. Das entspricht dem
Bundesarbeitsgerichtsurteil, das im letzten Jahr bereits
bei vielen Betriebsratswahlen umgesetzt worden ist.
Ein Betriebsrat darf nicht nur ein Informationsrecht
nach § 80 des Betriebsverfassungsgesetzes erhalten, sondern er braucht weitergehende Informations- und Unterrichtungsrechte. Das heißt, dass er nicht wie ein Detektiv
durch seinen Betrieb laufen muss und in der Einkaufsabteilung nachfragen muss, wie viele Leiharbeiter eingekauft werden - Leiharbeiter werden eingekauft, man
findet sie nicht auf der Payroll - und wie viel Fremdpersonal tätig ist. Der Arbeitsschutz muss auch im psychischen Bereich ausgeweitet werden. Wir müssen bei
Werkverträgen viel unternehmen.
Die Babyboomer - um den Jahrgang 1964 - gehen in
gut zehn Jahren in Rente. Wir wissen von unserem Fachkräftemangel, den wir immer wieder wie eine Monstranz
vor uns hertragen. Insofern brauchen wir Mitbestimmung. Mitbestimmung ist wichtig. Deutschland geht es
gut - nicht trotz der Mitbestimmung, sondern wegen der
Mitbestimmung.
({5})
Ganz zum Schluss will ich sagen: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, weisen
zu Recht darauf hin, dass die Quote derjenigen Beschäftigten, die nicht durch einen Betriebsrat vertreten werden, erschreckend hoch ist. Hierüber brauchen wir eine
breite politische, aber auch gesellschaftliche Debatte.
Nur mitbestimmte Arbeit ist gute Arbeit.
Vielen Dank.
({6})
Es ist eine beliebte Technik, den Schluss anzukündigen und dann nicht zum Schluss zu kommen.
({0})
Wir haben es jetzt noch mal akzeptiert. Aber ich bitte
doch alle, sich an die Redezeit zu halten.
Der nächste Redner ist Matthäus Strebl, CDU/CSUFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Vor gut einem Dreivierteljahr waren die Beschäftigten in unserem Land zu Betriebsratswahlen aufgerufen, und sie haben sich daran zahlreich beteiligt. Die
Wahlbeteiligung lag bei durchschnittlich 77 Prozent und
war damit zufriedenstellend. Dabei fiel auf: In Betrieben, die unternehmens- oder gesellschaftsnahe Dienstleistungen anbieten, war die Beteiligungsquote erheblich
niedriger als in der Industrie. Vor diesem Hintergrund ist
die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach
mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräten durchaus nachvollziehbar. Auf den ersten Blick könnte man also dem
Antrag etwas abgewinnen, doch der Teufel steckt wie so
oft im Detail.
Zweifellos ist das deutsche Betriebsverfassungsgesetz
eine Errungenschaft, die ganz wesentlich zum sozialen
Frieden in unserem Land beiträgt. Es ist ohne Abstriche
ein Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft. Auch für
die meisten Arbeitgeber, so möchte ich behaupten, sind
Betriebsräte kein rotes Tuch; denn sie garantieren die
Stabilität innerhalb des Unternehmens. Umso erstaunlicher ist es, dass von knapp 16 000 Arbeitgebern nur rund
4 300 die Frage, ob es in ihrem Unternehmen einen Betriebs- oder Personalrat gibt, mit Ja beantworteten. Das
jedenfalls haben Untersuchungen im Rahmen des Betriebspanels 2011 des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ergeben, und die Zahlen,
werte Kolleginnen und Kollegen, dürften sich seitdem
nicht wesentlich verändert haben. Insofern hat die Forderung nach mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräten sicherlich ihre Berechtigung.
Die Frage ist jedoch, auf welchem Weg ein solches
Ziel erreicht werden könnte. Die Grünen machen es sich
einfach und stellen ganz auf die §§ 78 und 119 des Betriebsverfassungsgesetzes ab. Mit ihnen sollen die Schutzbestimmungen für die Betriebsräte bzw. für die Betriebsratskandidatinnen und -kandidaten noch detaillierter als
bisher geregelt werden.
In den Genuss der Regelungen des § 78 sollen gemäß
dem Antrag Wahlvorstände und auch diejenigen kommen, die erstmalig die Wahl eines Betriebsrates einleiten so, wie Sie es vorgetragen haben. Gleiches soll für die
befristet Beschäftigten gelten, sofern sie für einen Betriebsrat kandidieren oder ihm angehören.
({0})
Damit nicht genug: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, die sonst gegen den Bürokratismus
wettern, wollen nun im Betriebsverfassungsgesetz eine
Meldepflicht einführen. Damit wollen Sie - ich zitiere
aus Ihrem Antrag -:
„betriebliche Interessenvertretungen statistisch an
geeigneter Stelle erfassen“.
Diese neuen Meldestellen sollen unter anderem Behinderungen der Betriebsratsarbeit oder Fälle, in denen
Betriebsratswahlen verhindert wurden, registrieren. Beides ist ohnehin nicht zulässig, und Verstöße können jetzt
schon gemeldet werden. Dafür braucht man aber keine
neuen Meldestellen.
({1})
Und überhaupt - so frage ich -: Wo sollen denn die Meldestellen eingerichtet werden? Mit wie vielen Planstellen? Wer trägt die Kosten? Welche Kompetenzen sollen
die Meldestellen erhalten? - Die bloße Erfassung von
Behinderungen der Betriebsratsarbeiten zu statistischen
Zwecken ohne Konsequenzen hat daher wenig Sinn.
Bei jedem Gesetz müssen wir uns überlegen: Wem
nützt es? Wir brauchen kein neues Gesetz, sondern wir
sollten gemeinsam in unserer Gesellschaft ein Denken
fördern, das Betriebs- und Personalräte als Selbstverständlichkeiten ansieht. Arbeitgeber und Betriebsräte
müssen sich als natürliche Verbündete betrachten, von
denen jeder für sein eigenes Wohlergehen den jeweils
anderen braucht. Mein Kollege Uwe Lagosky hat bereits
darauf aufmerksam gemacht, dass etliche Forderungen
insofern hinfällig sind, als die Gruppen, die Sie schützen
wollen, nach dem Kündigungsschutzgesetz ohnehin bereits geschützt sind.
Jede Initiative, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen, die Arbeitnehmerinteressen fördert, ist zu begrüßen und unterstützen wir von der Union. Mit dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird dieses
Ziel allerdings verfehlt. Ich sage sogar: Bürokratie wird
damit aufgebaut. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Markus Paschke, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Immer mal wieder hört man von Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Betriebsrat? Brauchen wir nicht, bei uns läuft
es gut. - Ich sage dann immer: Ja, das finde ich super,
aber mit einem Betriebsrat läuft es nicht schlechter. - Im
Gegenteil, man ist viel besser aufgestellt, wenn es mal
nicht so läuft. Meine Erfahrung als langjähriger Gewerkschaftssekretär: Mit einem Betriebsrat gibt es immer einen Interessenausgleich zum Vorteil von Unternehmen
und Beschäftigten.
({0})
In einigen Branchen, wie zum Beispiel der Leiharbeit,
im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Landwirtschaft
oder im Einzelhandel gibt es kaum Betriebsräte, weil
diese von kurzfristiger Beschäftigung oder prekären Beschäftigungsformen wie 450-Euro-Jobs oder Saisonarbeit geprägt sind. Wer da nicht das Glück hat, einen verantwortungsvollen Arbeitgeber zu haben, hat häufig
Nachteile. Für mich ist klar: Wir dürfen nicht zulassen,
dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim
Arbeitsschutz und vielen anderen Dingen Beschäftigte
zweiter Klasse sind.
({1})
Und dann gibt es noch Betriebe, die aktiv die Arbeit
oder sogar die Wahl eines Betriebsrates behindern. Sie
sind leider keine Randerscheinung. Sogar große Unternehmen aus Zukunftsbranchen wie den erneuerbaren
Energien benehmen sich wie kleine Feudalherren aus
dem Mittelalter.
({2})
- Genau. - Sie weigern sich komplett, überhaupt Gespräche mit Betriebsräten oder Gewerkschaften zu führen, oder behindern mehr oder weniger offen freie Wahlen. Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: Das
dürfen wir in der Politik nicht ignorieren.
({3})
Es geht um nichts Geringeres als ein Grundrecht in
Deutschland: das Recht, sich zu organisieren und gemeinsam Interessen zu vertreten. Viele Beispiele zeigen,
dass Betriebe mit gelebter Mitbestimmung mittelfristig
auch wirtschaftlich erfolgreicher sind. Mitbestimmung
ist also ein Standortvorteil. Das ist in einigen Köpfen leider noch nicht verankert. Die soziale Marktwirtschaft
und die gelebte Sozialpartnerschaft in Betrieben haben
uns so erfolgreich gemacht. Wer will, dass Deutschland
auch zukünftig erfolgreich ist, der muss sagen: Ja, mehr
Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land!
({4})
Mein Fazit, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen: Ihr Antrag geht inhaltlich in die richtige
Richtung.
({5})
- Er geht in die richtige Richtung. Es gibt ja nichts, was
man nicht noch verbessern könnte.
({6})
Wir sollten ihn zum Anlass nehmen für den Start einer
breiten gesellschaftlichen Debatte zum Thema: Wie wollen wir Deutschland gemeinsam für die Zukunft aufstellen?
({7})
In dieser Debatte würde ich noch gerne einige Punkte
ergänzen, die mir in dem vorliegenden Antrag fehlen.
Herr Paschke, bedenken Sie bitte, dass Sie Ihre Redezeit überzogen haben. Ihr Kollege Rützel hat seine Redezeit bereits dramatisch überzogen, aber wir haben Ihnen
die Überschreitung nicht von Ihrer Redezeit abgezogen,
sonst wären Sie schon lange nicht mehr am Pult. Kommen Sie also bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Unsere Stärken in Deutschland waren immer Innovation, Beteiligung und sozialer
Ausgleich. Lassen Sie uns Deutschlands Stärken ausbauen. „Gemeinsam sind wir stark“ ist nicht nur das
Motto der Gewerkschaften, sondern auch das Motto einer zukunftsfähigen Gesellschaft.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 18/2750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Peter Hintze
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Dezember 2014 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen
für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind
Drucksache 18/3787
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller. Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor zwei Tagen haben wir
hier im Deutschen Bundestag in einer beeindruckenden
Gedenkstunde der Befreiung des Konzentrationslagers
Auschwitz vor 70 Jahren und der Millionen von Opfern
gedacht, die aus einer verbrecherischen Ideologie heraus
im Namen unseres Volkes ermordet, gepeinigt und verfolgt wurden. Das sind Momente, in denen uns unsere
Geschichte und die Verantwortung, die wir Deutsche tragen, ganz besonders nahe und bewusst sind.
Dieses Bewusstsein hat auch getragen, als wir am
5. Juni des vergangenen Jahres in diesem Haus einstimmig den Beschluss gefasst haben, das Ghettorentengesetz zu ändern. Wir haben den Weg freigemacht, damit
Menschen, die in der Zeit der nationalsozialistischen
Terrorherrschaft Arbeit in Ghettos verrichtet haben, ihre
Rente ohne Einschränkungen rückwirkend ab Juli 1997
erhalten können.
Das neue deutsch-polnische Abkommen ergänzt das
Abkommen von 1975 und ermöglicht es, dass eine deutsche Rente aufgrund von Beschäftigung in einem Ghetto
auch an Personen ausgezahlt werden kann, die in der Republik Polen leben.
Die letzten Berechtigten sind hochbetagt, und unser
festes Ziel ist es, den Betroffenen schnell zu ihren Ansprüchen zu verhelfen.
({0})
Zwei von ihnen durfte ich unlängst bei der Vertragsunterzeichnung des Abkommens in Warschau kennenlernen. Sie stehen an der Spitze von zwei Verbänden ehemaliger Ghettoopfer. Die Begegnung mit ihnen hat mich
tief berührt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun bitte ich Sie
herzlich, dem Gesetz zum Abkommen in einem beschleunigten parlamentarischen Verfahren zuzustimmen.
Wir haben diese Bitte auch an den Bundesrat gerichtet,
um so möglichst bald mit unseren polnischen Partnern
gleichziehen zu können; denn dort genügt für den Abschluss des Ratifizierungsverfahrens ein Kabinettsbeschluss. Dieser ist für Ende Februar terminiert. Unser gemeinsames Ziel sollte es also sein, dafür zu sorgen, dass
das Abkommen zügig in Kraft treten kann.
Die Rentenversicherungsträger sind schon jetzt mit
großem Engagement dabei, alles in die Wege zu leiten,
damit die Berechtigten in Polen nach dem Inkrafttreten
umgehend ihre rückwirkenden und laufenden Renten erhalten können. Ich füge hinzu: Neben Informationen und
Antragsformularen in polnischer Sprache im Internet
wollen die Rentenversicherungsträger beider Länder gemeinsam aktiv auf potenziell Berechtigte zugehen und
auf mögliche Ansprüche nach dem neuen Abkommen
hinweisen. Kein Anspruch und keine Zeit sollen mehr
verloren gehen.
Für dieses große Engagement danke ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der deutschen und polnischen
Rentenversicherung sehr herzlich. Ich möchte an dieser
Stelle auch unseren polnischen Partnern und Freunden
aus dem polnischen Arbeitsministerium ganz herzlich
Dank sagen. Ich freue mich außerordentlich, dass zu unserer Debatte der Gesandte der Botschaft Polens, Herr
Janusz Styczek, in den Bundestag gekommen ist. - Wir
freuen uns alle miteinander sehr, dass Sie hier sind.
({1})
Die kooperativen, schnellen und freundschaftlichen Verhandlungen reihen sich ein in die vielen wegweisenden
Aktivitäten unserer praktizierten guten Nachbarschaft.
Der Ort der Unterzeichnung hätte nicht besser gewählt werden können. Im vor wenigen Monaten eröffneten Museum der Geschichte der polnischen Juden, das
sich unmittelbar neben dem Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand befindet, wird auf beeindruckende Weise augenfällig, wie eng jüdische, polnische
und deutsche Geschichte miteinander verwoben sind.
Gleichzeitig ist es ein Ort, der auf beeindruckende Weise
ins Gedächtnis ruft, dass es bei diesem Abkommen mit
dem etwas sperrigen Namen nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um Menschen geht, die bald endlich
die verdiente Anerkennung für geleistete Arbeit erhalten
können.
({2})
Das ist ein Stück Gerechtigkeit, auf deren Grundlage unsere Partnerschaft weiter gedeihen soll, ohne jemals die
Vergangenheit zu vergessen.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Azize Tank von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorgestern haben wir an den 70. Jahrestag der Befreiung
des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau
durch die Rote Armee erinnert. Wir gedachten damit aller Opfer des deutschen Faschismus. Wir gedachten der
Schoah, der industriellen Vernichtung von mehr als
6 Millionen europäischen Jüdinnen und Juden. Wir erinnerten gleichzeitig an Hundertausende ermordete Sinti
und Roma, ebenso an die lange vergessenen Opfergruppen, die als sogenannte Asoziale verleumdeten Menschen, die Homosexuellen und andere.
Wenn wir an die Opfer der Massenmorde von Birkenau, Sobibor oder Treblinka erinnern, dürfen wir jedoch
eines nicht vergessen: Vor der Vernichtung wurden diese
Menschen rassistisch diskriminiert, entrechtet, misshandelt, beraubt und ausgebeutet.
Nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Erst dank
dem Einsatz engagierter Überlebender, Historiker, Richter und Rechtsanwälte wissen wir, was lange nicht anerkannt wurde: Für Ghettoarbeit wurden Beiträge zur Sozialversicherung eingezogen. Das Bundessozialgericht
hat diese Rentenansprüche erst infolge der Bemühungen
von Überlebenden anerkannt. Dafür gebührt den Überlebenden unser höchster Respekt.
({0})
Beschämen sollte uns, dass anfangs 90 Prozent der
Anträge auf Ghettorenten abgelehnt wurden. Beschämen
sollte uns, dass Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz in Polen von Anfang an ausgeschlossen wurden. Erst das neue
Abkommen beendet diesen Zustand. In enger Zusammenarbeit mit den Betroffenen hat die Fraktion Die
Linke das Thema in den Bundestag getragen.
({1})
Erlauben Sie mir, Tomasz Miedziński aus Warschau
zu zitieren, worum er mich gebeten hat. Als Vorsitzender
der Vereinigung der Jüdischen Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs kämpfte er seit mehr
als zehn Jahren für die Rechte der Ghettobeschäftigten
aus Polen, unterstützt wurde er dabei von Herrn Marian
Kalwary, dem Vorsitzenden der Vereinigung Kinder des
Holocaust in Polen. Am Tag der Unterzeichnung des
vorliegenden deutsch-polnischen Abkommens in Warschau erklärte Herr Miedziński - ich zitiere -: „Ich sollte
Freude empfinden über dieses Abkommen. Aber Freude
empfinde ich nicht. Während der vielen Jahre des
Kampfes gegen den Widerstand der deutschen Behörden
und ihre Bürokratie ist mehr als die Hälfte der Berechtigten verstorben.“
Zehn Jahre! Eine Lösung wurde immer wieder als
rechtlich nicht umsetzbar abgelehnt.
Durch gemeinsame Anstrengungen im Bundestag gelang es uns, in acht Monaten den Abschluss eines Abkommens herbeizuführen. Die Diskriminierung konnte
dadurch beendet werden.
({2})
Mit Freude habe ich gehört, dass unsere Staatssekretärin
eine ebenso zügige Umsetzung des Abkommens fordert.
Wir alle wissen: Es geht hier nicht um eine Drucksache,
sondern um die Wiedererlangung von Würde, um Gerechtigkeit.
Erlauben Sie mir, dabei etwas zu unterstreichen, was
in Deutschland oft ausgeblendet wird. Ja, auch Jüdinnen
und Juden waren aktiv an dem bewaffneten Widerstand
gegen deutschen Faschismus beteiligt. Auch sie haben
ihren Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Ihnen gebührt nicht nur Respekt für das erlittene Leid, sondern auch Dankbarkeit für ihren Widerstand. Sie haben sich um einen demokratischen
Neuanfang verdient gemacht.
({3})
Angesichts des Alters der letzten Zeugen der Schoah
sind wir verpflichtet, deren Vermächtnis weiterzutragen:
Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Unser Bundestagspräsident Nobert Lammert hat am
Dienstag die Gedenkstunde anlässlich des 70. Jahrestags
der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz mit
einer bemerkenswerten Rede eingeleitet, in der er daran
erinnert hat, dass zur nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nicht nur die Konzentrationslager gehörten, sondern auch eine ganze Reihe von Maßnahmen
und Einrichtungen, insbesondere auch die Einrichtung
von Ghettos. In den Ghettos wurden die Menschen mit
dem Willen, sie zu vernichten, zusammengepfercht. Die
Menschen in den Ghettos, die die Nationalsozialisten
eingerichtet haben, haben dort in vielfältiger Weise versucht, ihr Leben, ihr Überleben zu sichern.
Deswegen war es wichtig, dass der Deutsche Bundestag mit dem Instrument der Ghettorente eine eigene Rentenart geschaffen hat. Endlich haben wir die Arbeit, die
Bürgerinnen und Bürger dort im Kampf ums Überleben
geleistet haben, mit einem eigenen Rentenanspruch ausgestattet. Am 14. Juni vergangenen Jahres haben wir das
Ghettorentengesetz verändert und reformiert. Nun gibt
Peter Weiß ({0})
es die Möglichkeit - die Frau Staatssekretärin hat es dargestellt -, dass weitere Berechtigte noch Ghettorente beantragen können und dass vor allem diejenigen, die bereits eine Ghettorente beziehen, die Möglichkeit
erhalten, sich zwischen zwei Formen zu entscheiden, je
nachdem, was ihnen geeigneter erscheint, und dass Berechtigte eventuell auch einen rückwirkenden Ghettorentenbezug ab dem Jahr 1997 erhalten können.
Ich glaube, das war ein wichtiger Akt, mit dem wir
zeigen: Jawohl, wir stehen zu unserer historischen Verantwortung. Wir wollen, dass Arbeit, die in einem
Ghetto geleistet wurde, so bewertet wird wie Arbeit irgendwo anders und einen eigenen Rentenanspruch begründet.
({1})
Uns war schon früher und ist auch heute klar, dass
aufgrund des Sozialversicherungsabkommens, das bereits im Jahr 1974 zwischen Polen und Deutschland abgeschlossen worden ist, gilt, dass der jeweilige Rentenanspruch nur an das jeweilige Land, also in Polen nur an
die polnischen Behörden und in Deutschland nur an die
deutschen Behörden, gerichtet werden kann. Dies ist
eine an und für sich nicht unkluge Regelung in einem
Sozialversicherungsabkommen. Aber das hat zur Folge
gehabt, dass jemand, der in Polen lebt, aufgrund dieses
Sozialversicherungsabkommens bei der Deutschen Rentenversicherung keine Ghettorente beantragen kann.
Wir haben dieses Problem anlässlich der Beratungen
der Änderung des Ghettorentengesetzes miteinander besprochen und es auch in den Berichterstattergesprächen
mit der Bundesregierung für sinnvoll erachtet, nicht zu
versuchen, das alte Sozialversicherungsabkommen zu
verändern - es hat seine Berechtigung -, sondern zu versuchen, mit einem zusätzlichen Sozialversicherungsabkommen diese Frage so zu lösen, dass auch ein in Polen
lebender Bürger einen Anspruch an die Deutsche Rentenversicherung stellen kann.
Am 14. Juni letzten Jahres haben wir den entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet. Ich möchte mich
bei den Fachbeamten des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales herzlich dafür bedanken, dass sie so schnell
über dieses zusätzliche Sozialversicherungsabkommen
verhandelt haben, sodass es dem Parlament heute vorgelegt werden kann. Ein herzliches Dankeschön dafür, dass
hier ein so außergewöhnlich schnelles Verhandlungsergebnis erzielt worden ist!
({2})
Ich hoffe - Frau Staatssekretärin, Sie haben es angekündigt -, dass die Rentenversicherungen in Polen und
in Deutschland nach der Ratifizierung für eine schnelle
Umsetzung sorgen und die Texte auch in polnischer
Sprache vorgelegt werden können, sodass diejenigen,
die einen Anspruch auf eine Ghettorente haben, sie
schnellstmöglich beantragen können. Ich glaube, auch
das ist wichtig. Unmittelbar nach der Ratifizierung muss
mit der Umsetzung begonnen werden. Darum bitte ich
herzlich.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir,
daran zu erinnern, dass im November dieses Jahres der
50. Jahrestag eines bemerkenswerten Briefwechsels begangen wird. Ich meine den Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Mitbrüder, in dem der berühmte Satz „Wir vergeben und bitten um Vergebung“
stand. Damals, 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs und nach einer schlimmen, gewaltbelasteten
Vergangenheit zwischen Polen und Deutschland, war
dies ein mutiger und von der Kraft der Versöhnungsbereitschaft getragener Schritt. Übrigens werden am
18. November dieses Jahres aus diesem Anlass sowohl
in Berlin als auch zeitgleich in Breslau Ausstellungen
eröffnet, in denen dieses Ereignisses gedacht wird, in denen aber auch der gesamte Prozess der deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt wird.
Wir sind heute froh, dass uns die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen gelungen ist und wir gute
Nachbarn sind. Das heute vorgelegte zusätzliche Sozialversicherungsabkommen ist für diese Politik der Versöhnung und der Aussöhnung ein weiterer wichtiger Beweis
und Baustein.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Gesandter! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Wort des
Dankes an die Bundesregierung beginnen, dass dieses
Sozialversicherungsabkommen auf dem Tisch liegt. Es
ist alles verdammt spät. 13 Jahre nachdem wir das Ghettorentengesetz unter Rot-Grün verabschiedet haben,
wird dem gesetzgeberischen Willen von damals nun
endlich Rechnung getragen. Das ist aber auch ein Grund,
zu trauern, nicht nur um die Opfer von damals, sondern
auch um die vielen Opfer, die in der Zwischenzeit verstorben sind und die von den Leistungen, die dieses Abkommen heute ermöglicht, nichts mehr haben, weil sie
diesen Tag nicht erlebt haben.
Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das Entschädigungsrecht der Bundesrepublik Deutschland insgesamt.
Wenn wir auf das Abkommen mit Israel unter Adenauer
zurückblicken, wenn wir an das Bundesentschädigungsgesetz denken, das damals gegen Widerstände in der Koalition nur mit Unterstützung der SPD-Fraktion eine
Mehrheit im Deutschen Bundestag fand, wenn wir uns
an die Diskussionen der 80er-Jahre über die vergessenen
Opfer des Nationalsozialismus erinnern, deren Anliegen
man in Regelungen zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz mühsam in Härtefonds aufgenommen hat, dann stelVolker Beck ({0})
len wir fest: Die ganze Entschädigungsgesetzgebung ist
im Hinblick auf unsere Haltung gegenüber den vielen
Millionen Opfern des Nationalsozialismus kein Ruhmesblatt.
({1})
Ich bin zufrieden, dass wir heute einen Schritt nachholen. Trotzdem ist das Ganze nicht ohne Bitternis.
({2})
Deshalb sichere ich Ihnen zu: Unsere Fraktion wird alles
tun, damit das hier schnell über die Bühne geht. Auf
Fristeinreden und Anhörungsrechte verzichten wir
gerne. Wir wollen, dass die Leistungen nun so schnell
wie möglich bei den Opfern in Polen ankommen.
({3})
Wir haben diese Woche, am 70. Jahrestag, der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht. Ich
war mit dem Bundespräsidenten selbst in Auschwitz bei
der Gedenkfeier. Wir werden dieses Jahr auch noch des
70. Jahrestages der Befreiung des europäischen Kontinents vom nationalsozialistischen Terror gedenken. Ich
will Ihnen sagen, auch da gibt es noch offene Fragen
- das beschämt mich -, derer wir uns dringend annehmen sollten.
({4})
Bis zum heutigen Tag sind die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Bis zum heutigen Tag haben sowjetische
Kriegsgefangene, die den Terror der Russenlager überlebt haben, keinen Cent von Deutschland gesehen. Ich
finde, es wäre gerade in diesen Tagen - mit dem Konflikt, den es mit Putin gibt - ein Zeichen der Völkerverständigung und der Annahme der historischen Verantwortung, wenn wir den Völkern der ehemaligen
Sowjetunion - den Russen, den Weißrussen und den
Ukrainern, den Kasachen und allen anderen Völkern sagen: „Die, die in Deutschland gelitten haben, waren
Opfer des Nationalsozialismus, sie sollten vernichtet
werden; wir erkennen das als Verbrechen an“, und diesen Menschen, die es überlebt haben, mit einer humanitären Geste und der Bitte um Verzeihung und Vergebung
die Hand geben.
({5})
Für die sowjetischen Kriegsgefangenen galt das gesamte
Kriegsvölkerrecht der Genfer Konvention nicht - durch
Sonderbefehle war außer Kraft gesetzt, was für westalliierte Gefangene galt -, sie sind zu Millionen - 2 bis
3 Millionen Opfer gab es, wird geschätzt - in Deutschland verhungert, an Krankheiten gestorben, elendig zugrunde gegangen, weil die nationalsozialistische Vernichtungspolitik es darauf abgesehen hatte. Lassen Sie
uns in diesem 70. Jahr der Befreiung diese Frage im
Deutschen Bundestag gemeinsam zwischen allen Fraktionen klären!
Noch einen Satz zu einer anderen Frage der historischen Verantwortung, die auch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenhängt: Nach Deutschland kamen viele Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten. Es
kamen viele Deutsche aus den Staaten Osteuropas, weil
sie als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil
für die Verbrechen des Hitlerfaschismus verantwortlich
gemacht wurden und deshalb fliehen mussten. 1990 haben wir aus ähnlichen historischen Gründen - wegen des
Antisemitismus in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion - uns entschieden, jüdische Kontingentflüchtlinge
hier in Deutschland aufzunehmen - ein Grund, warum
wir wieder ein blühendes jüdisches Leben in Deutschland haben.
Aber anders als bei den deutschen Aussiedlern, die zu
uns kommen, werden die Rentenansprüche, die diese
Menschen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion
erworben haben, in unserem Rentensystem nicht berücksichtigt. Aussiedler bekommen diese Zeiten nach dem
Fremdrentengesetz anerkannt. Lassen Sie uns endlich
die jüdischen Kontingentflüchtlinge wie die Aussiedler
in das Fremdrentengesetz aufnehmen! Das kostet am
Ende nicht viel Geld; aber es macht einen Unterschied
gerade für diese Menschen mit ihren schweren Schicksalen, ob sie Grundsicherung im Alter beziehen müssen
oder eine Rente bekommen, die würdigt, was sie in ihrem Leben geleistet haben, und ihnen aus eigenem Recht
zugesprochen wird.
Frau Staatssekretärin, es wäre schön, wenn Sie das in
Ihrem Haus erwägen könnten, sodass wir diese Frage
bald lösen; denn das sind hochbetagte Menschen, die
schwer gearbeitet haben, oftmals Verfolgungen ausgesetzt waren und mit ihren Familien vor dem Hitlerfaschismus geflohen sind. Denen ging es auch in der
Sowjetunion und im späteren Russland oder der Ukraine
nicht immer gut: weil sie Juden waren. Wir haben sie
deshalb aufgenommen. Lassen Sie sie uns im Rentenrecht endlich deutschen Aussiedlern gleichstellen! Sie
sind Deutsche oder gehören zum deutschen Volk, sie gehören zu uns, sie sollen gleichberechtigt werden.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor 70 Jahren wurde das
Vernichtungslager Auschwitz befreit; wir hatten am
Dienstag die Gedenkstunde hier im Deutschen Bundestag. Auschwitz steht für die Ausrottung von Menschen nur weil sie Juden waren, Kommunisten, Homosexuelle
oder weil sie mit einer Behinderung lebten.
Auschwitz ist nicht nur für mich, sondern sicherlich
auch für Sie das Symbol für die systematische Vernichtung von Menschen, denen letztendlich das Menschsein
Waltraud Wolff ({0})
abgesprochen worden ist. Ich bin glücklicherweise nach
1945 geboren, und ich könnte sagen: Ich persönlich
trage keine Schuld. - Aber mir geht es immer wieder so,
dass ich diese Fassungslosigkeit fühle über das, was in
dem Land unserer Mütter und Väter passiert ist.
Wir alle - darüber bin ich auch besonders froh - sind
heute einig darin, dass wir schnell auf den Weg bringen,
dass Menschen, die in Ghettos gearbeitet und unter den
Nazis gelitten haben, zu ihrem Recht verholfen wird.
Das sind Menschen, die heute in Polen leben.
Wir haben schon gehört, wie schwierig das in der
letzten Zeit gewesen ist. Nach mehreren Anläufen und
Rückschlägen haben wir im Sommer diese Veränderung
hinbekommen, die Rückwirkungsfrist ab Juli 1997 beschlossen. Das erforderliche Sozialabkommen mit Polen
- dafür bedanke ich mich auch ganz besonders bei Frau
Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller, die heute
dazu Stellung genommen hat - wurde schnell auf den
Weg gebracht, und wir können heute mit der ersten Lesung hier auch zu einem Abschluss kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Uri Chanoch hat in
einer Stellungnahme an den Bundestag aus Sicht der Betroffenen Folgendes formuliert - Zitat -:
Für mich und jeden Ghettoüberlebenden bedeutet
die Anerkennung der Arbeitsleistung im Ghetto,
dass endlich auch dieser Teil der Geschichte zur
Kenntnis genommen … wird.
Dieses Abkommen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
ein Zeichen dafür. Uri Chanoch wurde 1941 ins Ghetto
Kauna und später über das Konzentrationslager Stutthof
ins Außenlager Landsberg/Lech deportiert. Wir können
das Leid, das ihm und vielen, vielen anderen zugefügt
wurde, nicht ungeschehen machen, wir müssen es aber
als Teil unserer Geschichte anerkennen.
Es kann unter die Unmenschlichkeit des Holocaust
einfach kein Schlussstrich gezogen werden. Geschichte
kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber nur,
wenn wir uns aktiv mit ihr auseinandersetzen, können
wir dazu beitragen, dass Geschichte so nicht noch einmal passiert.
({1})
Die Ghettos, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleiben
Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Wir
zeigen heute, dass wir den Menschen, die noch am Leben sind, den wenigen Überlebenden - da schließe ich
noch einmal an Herrn Beck an; ich war auch schon im
Bundestag, als wir unter Rot-Grün dieses Gesetz beschlossen haben -, zum Recht verhelfen - darüber können wir froh sein -, spät, aber hoffentlich nicht zu spät.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Astrid Freudenstein für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Gesandter! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine
kleine Delegation der CSU-Landesgruppe war vor vier
Monaten zu Gast in Polen - ich war auch dabei -, und in
den Gesprächen mit dem deutschen Botschafter in Warschau, Rolf Nikel, und mit dem polnischen Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Marek Bucior, waren die
Ghettorenten immer auch ein Thema. Es wurde sehr
deutlich, wie sehr es der polnischen Regierung daran
liegt, die Auszahlung der Ghettorenten an Polen möglich
zu machen. Ich möchte mich deshalb auch ausdrücklich
bei unserem Arbeits- und Sozialministerium dafür bedanken, dass die Sache angepackt und jetzt auch zu einem guten Abschluss gebracht wurde.
Das Warschauer Ghetto war gerade einmal 3 Quadratkilometer groß. Auf dieser Fläche wurden von 1940 an
zeitweise mehr als 400 000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen eingepfercht - mehrheitlich deutsche
und polnische Juden, aber auch Roma. Eine ganze Großstadtbevölkerung lebte also auf einer Fläche, die ungefähr so groß war wie der ehemalige Berliner Flugplatz
Tempelhof. Der Alltag war von Unterversorgung, Diskriminierung und Gewalt geprägt.
Die Menschen waren im Ghetto eingesperrt. Ihren Lebensunterhalt mussten sie dennoch selbst bestreiten. Ihnen blieb also meist gar nichts anderes übrig, als unter
unwürdigen Bedingungen für die örtlichen Firmen zu arbeiten.
Viele wurden ab 1942 in ein Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht. Nur wenige Tausend überlebten. Einer von ihnen, den wir alle kennen, war Marcel
Reich-Ranicki. Er war damals Anfang 20. Seine Eltern
jedoch wurden ebenso ermordet wie sein Bruder. Vor
drei Jahren hat Marcel Reich-Ranicki seine Erinnerungen an das Warschauer Ghetto ja auch in diesem Haus
eindrucksvoll geschildert.
Erst am Dienstag haben wir hier in einer gemeinsamen Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismus
gedacht. Auch 70 Jahre später bleibt das Leid, das von
deutschem Boden ausging, unvorstellbar. Aber wir haben uns ebenso eindeutig zur historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den Opfern bekannt auch im Hinblick auf die Wiedergutmachung.
Das Leid kann natürlich nicht durch Geld- oder Sozialleistungen abgegolten und schon gar nicht im eigentlichen Sinne in irgendeiner Form wiedergutgemacht
werden. Unsere Bemühungen gehen dahin, zumindest
die Folgen des erlittenen Unrechts etwas zu mildern. Es
sind insofern Gesten, und auch der vorliegende Gesetzentwurf ist eine solche Geste an die Arbeiter aus den
Ghettos.
Die allermeisten, die die Schoa überlebten, wanderten
danach nach Israel oder in die USA aus. Ghettorenten
können an sie seit mehr als zehn Jahren grundsätzlich
ausbezahlt werden. Einige aber blieben in Polen oder
gingen dorthin zurück, und das Sozialversicherungsabkommen zwischen Polen und Deutschland von 1975 hat
es bisher unmöglich gemacht, auch an sie eine Rente aus
Deutschland zu zahlen. Der Rentenexport war also ausgerechnet in jenes Land unmöglich, in dem die deutschen Besatzer die größten Ghettos errichtet hatten.
Das jetzt vorliegende Abkommen zum Export besonderer Leistungen an Berechtigte in Polen macht es der
Rentenversicherung möglich, Renten an Überlebende
aus polnischen Ghettos zu exportieren. Das ist keine
Entschädigung, sondern eine Rente für geleistete Arbeit.
Für viele - das wurde schon erwähnt - kommt dieser
Schritt zu spät - für die allermeisten sogar. Es sind wohl
nur noch wenige Hundert, die diese Rente nun beziehen
können, und ich würde mir deswegen wünschen, dass
die Auszahlung rasch erfolgen kann.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3787 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundestagsmehrheit nutzen - Pille danach
jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht
entlassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Cornelia Möhring, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien
Pille danach schnell umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Ulle Schauws, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Selbstbestimmung bei der Notfallverhütung stärken - Pille danach mit Wirkstoff
Levonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht entlassen
Drucksachen 18/1617, 18/2630, 18/303, 18/492,
18/3825
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlassung der Pille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Ermöglichung der
kostenlosen Abgabe an junge Frauen ({3})
Drucksache 18/3834
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen zügig
vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns nun ja schon seit längerer Zeit und in vielen Debatten und Anhörungen mit der sogenannten Pille
danach
({0})
und vor allen Dingen mit der Entlassung aus der Rezeptpflicht für das in Deutschland zugelassene Präparat beschäftigt.
Mir persönlich ist die Beibehaltung der Rezeptpflicht
für das in Deutschland zugelassene Präparat ein Anliegen, und zwar aus mehreren Gründen. Ich habe mich immer für eine Beratung dahin gehend stark gemacht, ob
überhaupt ein und gegebenenfalls welches Notfallkontrazeptivum im konkreten Fall passt. Mir war immer die
informierte Entscheidung wichtig. Die Anhörungen
- auch darauf habe ich an dieser Stelle schon mehrfach
hingewiesen - haben ergeben - das haben viele Einzelsachverständige, aber auch die Vertreter der Bundesärztekammer und des GKV-Spitzenverbandes so erläutert -,
dass gerade die Beratung sehr wichtig ist.
Dabei geht es mir zuerst darum, die Gesundheit der
Frauen zu schützen, nicht um irgendeine vermeintliche
Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Zum anderen habe ich an dieser Stelle immer darauf verwiesen,
wie wichtig es ist, dass wir für beide Notfallkontrazeptiva die gleichen Rahmenbedingungen erreichen, also
nicht für das EU-Präparat die Rezeptpflicht und für das
deutsche Präparat den freien Verkauf haben.
Wenn nun das effektivere Arzneimittel - das Wort
„effektiv“ kommt nicht von mir, sondern das hat der
Sachverständige Professor Wallwiener bei der letzten
Anhörung verwendet - nur verschreibungspflichtig erhältlich wäre und das weniger effektive aber rezeptfrei in
der Apotheke, dann würden wir den betroffenen Frauen
den falschen Weg weisen, nämlich hin zum schnell verfügbaren, aber im jeweiligen Einzelfall möglicherweise
weniger wirksamen Präparat.
Genau darum haben wir in den letzten Monaten und
in den vergangenen Wochen gerungen. Nehmen wir
diese ungleichen Rahmenbedingungen in Kauf? Legen
wir weiterhin Wert auf die informierte Entscheidung?
Wie können wir gegebenenfalls die Beratung auch ohne
Rezeptpflicht sicherstellen? Diese Überlegungen mögen
nun manche als überflüssig ansehen. Für mich jedenfalls
war die schnellere Lösung nicht immer die bessere.
Genau deswegen bin ich heute umso zufriedener, dass
sich dieses Ringen gelohnt hat. Die Entscheidung der
Europäischen Kommission, ellaOne mit dem Wirkstoff
Ulipristalacetat aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, hat uns natürlich die Entscheidung erleichtert.
({1})
Jetzt haben wir für das in Deutschland zugelassene Präparat eine neue Ausgangslage.
Eines war für mich immer klar: Selbstverständlich
brauchen die Frauen in Deutschland einheitliche Rahmenbedingungen für beide Notfallkontrazeptiva. Nachdem die Gefahr, dass das schneller verfügbare Präparat
gekauft wird, gebannt ist, ist uns auch die Entscheidung
leichter gefallen. Wir werden selbstverständlich auch das
deutsche Präparat mit dem Wirkstoff Levonorgestrel aus
der Verschreibungspflicht entlassen.
Das BMG hat dafür die notwendigen Änderungen der
Arzneimittelverschreibungsverordnung veranlasst. Diese
14. Änderungsverordnung wurde sehr zügig auf den
Weg gebracht. Herzlichen Dank übrigens an das BMG
für dieses schnelle Vorgehen.
({2})
In der Sitzung des Bundesrats am 6. März wird hierüber
abschließend beraten. Mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung können dann Frauen beide Notfallkontrazeptiva
kostenpflichtig in der Apotheke beziehen, und zwar
ohne zuvor den Arzt konsultiert zu haben. Bis dahin ist
ellaOne mit einer OTC-Packungsbeilage im Handel;
auch dafür hat das BMG bereits gesorgt.
Jetzt noch einmal zum Thema Beratung. Frauen, die
befürchten, nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr
schwanger geworden zu sein, brauchen natürlich eine
kompetente Beratung; das haben auch die Grünen in ihrem Gesetzentwurf so gesehen. Vor allen Dingen bin ich
froh, dass wir uns in der Koalition einig sind. Uns ist gemeinsam wichtig, dass für alle betroffenen Frauen ein
hohes Beratungsniveau beibehalten wird.
Genau deswegen haben sich das BMG und viele Gremien wie das BfArM, die Bundesärztekammer, die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, die
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Berufsverband der Frauenärzte, die ABDA, die
Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker und
der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller zusammengesetzt, um das weitere Vorgehen zu erörtern, und
zwar unmittelbar und direkt nach der Freigabe des einen
Mittels durch die EU. Schneller geht es nicht.
Kurz das Ergebnis: Es wird auch künftig auf der Basis
einer Leitlinie, die von der Apothekerschaft erarbeitet
wird, eine standardisierte Beratung in den Apotheken
geben. Die ABDA hat zugesagt, dass sie die entsprechenden Handlungsempfehlungen möglichst zeitnah erstellt. Sie hat den Entwurf bereits geliefert, und sie wird
in den nächsten Wochen mit der Schulung beginnen. Die
künftige Leitlinie wird selbstverständlich mit den genannten Gremien und vor allen Dingen mit dem BMG
abgestimmt.
Genauso selbstverständlich wird übrigens die Expertise der qualifizierten Schwangerschaftsberatung einbezogen.
Ich gehe davon aus, dass ebenfalls im März die qualifizierte und standardisierte Beratung in der Apotheke sichergestellt ist, und ich hoffe, dass diese Beratung weiterhin auf so hohem Niveau erfolgt wie bisher bei den
Ärzten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entlassung aus
der Verschreibungspflicht hätte auch grundsätzlich Folgen für die Kostenübernahme durch die gesetzliche
Krankenversicherung. Denn bisher haben die Versicherten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr auch Anspruch
auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln,
aber nur dann, wenn sie ärztlich verordnet werden. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
bin ich bei Ihrem Gesetzentwurf. Sie wollen verständlicherweise weiterhin die kostenlose Abgabe der Pille danach an die jungen Frauen ermöglichen. Auch wenn die
Begründung holprig ist: Das Anliegen eint uns. In der
Zielsetzung sind wir uns fast einig. Dennoch werden wir
Ihren Gesetzentwurf ablehnen, weil wir die schnellere
und bessere Lösung haben.
({3})
Mit einer Änderung des § 24 a Absatz 2 SGB V
schaffen wir eine Ausnahmeregelung für die nicht verschreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva. Auch Kosten für diese nicht verschreibungspflichtigen Präparate
müssen künftig für die unter 20-jährigen Frauen von den
Krankenkassen übernommen werden, sofern eine ärztliche Verordnung vorliegt. Damit helfen wir den jungen
Frauen, die vielleicht auch weniger Geld zur Verfügung
haben und sich den direkten Kauf in der Apotheke nicht
leisten können. Den notwendigen Änderungsantrag haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales mit dem
5. Änderungsgesetz zum SGB IV als Omnibus bereits
eingebracht.
Auch diese Regelung wird voraussichtlich noch im
März vorliegen. Damit sind wir deutlich schneller, als
dies mit einer Richtlinienanpassung über den G-BA, wie
Sie es vorschlagen, zu bewältigen gewesen wäre.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin zuversichtlich, dass wir mit den neuen Regeln bzw. unseren Änderungen die für die Frauen bestmögliche Lösung schaffen.
Anträge und Gesetzentwürfe der Opposition brauchen
wir dazu, wie immer, nicht.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es gibt ja in Zeiten der Großen Koalition
nicht sehr häufig gute Nachrichten für die Bürgerinnen
und Bürger, aber ich bin sehr froh, dass wir heute eine
Ausnahme machen können: Die Pille danach wird endlich rezeptfrei.
({0})
Damit werden unnötige Hürden für Frauen abgebaut,
die sich nach einer Verhütungspanne vor einer Schwangerschaft schützen wollen. Künftig müssen sie in solchen Fällen nicht mehr zuerst in eine Arztpraxis oder ins
Krankenhaus, sondern können gleich in die Apotheke
gehen. Damit kehrt in Deutschland endlich ein Stück europäischer Normalität ein, das von den Unionsparteien
leider lange verhindert wurde.
({1})
Das ist wirklich eine gute Nachricht für die Frauen;
denn die Pille danach wirkt umso sicherer, je eher sie
eingenommen wird. Gerade am Wochenende oder auf
dem Land war es für Frauen manchmal schwierig, rechtzeitig erst ein Rezept und dann auch noch das Medikament zu bekommen. Es gibt also Grund zur Freude.
Traurig ist nur, dass die Frauen so lange auf diese Entscheidung warten mussten. Das war auch völlig unnötig.
Schon vor über zwei Jahren, am 16. Januar 2013 - also
noch in der alten Wahlperiode -, hat die Linke einen Antrag dazu in den Bundestag eingebracht. Damals gab es
bereits seit zehn Jahren eine entsprechende wissenschaftlich begründete Empfehlung des zuständigen Ausschusses beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Im Februar 2014 erneuerte das Institut
seine Entscheidung. Doch keine Bundesregierung bisher
hat diese Empfehlung aufgegriffen, weder Ulla Schmidt
von der SPD noch Philipp Rösler oder Daniel Bahr von
der FDP und natürlich erst recht nicht Hermann Gröhe
von der CDU.
({2})
Im Bundestag gibt es zwar schon lange eine Mehrheit
für die Verschreibungsfreiheit der Pille danach. Denn
nicht nur die Linke und die Grünen, die heute Anträge
vorgelegt haben, sondern auch die SPD hat sich immer
wieder deutlich dafür ausgesprochen. Aber leider werden Sie auch heute unseren Anträgen erneut nicht zustimmen; denn das dürfen Sie wegen der Koalitionsdisziplin nicht.
({3})
Schade! Dabei mussten die Sozialdemokratinnen das
eine oder andere Mal wohl die Faust in der Tasche ballen,
({4})
etwa als der Kollege Jens Spahn von der Union den
Frauen unterstellt hat, sie würden diese Notfallkontrazeptiva wie Smarties schlucken, wenn diese Arzneimittel nicht mehr verschreibungspflichtig wären. Derartige
Frauenfeindlichkeit und Frauenverachtung kann man
kaum ertragen.
({5})
Der plötzliche Erkenntniszuwachs beim Gesundheitsminister ist nicht vom Himmel gefallen. Das kam ganz
einfach: Gegen den Widerstand aus Berlin hat die EUKommission den Wirkstoff Ulipristal europaweit aus der
Verschreibungspflicht genommen. Dieser Wirkstoff bewirkt dasselbe wie Levonorgestrel, über den wir heute
debattieren und für den noch allein die Bundesregierung
zuständig wäre. Unterschiedliche Regelungen für diese
beiden Wirkstoffe? Das kann selbst ein Herr Gröhe der
Öffentlichkeit nicht mehr verkaufen. So hat er nun nach
langem Widerstreben endlich aufgegeben und die nötige
Verordnung auf den Weg gebracht, übrigens genau an
dem Tag in der letzten Sitzungswoche, an dem unsere
Anträge im Gesundheitsausschuss zur abschließenden
Debatte standen. Ich freue mich, dass wir diese Entscheidung endlich erleben dürfen; denn diese Entscheidung
stärkt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Sie entspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen und hilft vielleicht sogar, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern.
Deswegen begrüßen wir sie.
({6})
Auch unsere zweite Forderung haben Sie aufgegriffen, nämlich dass jüngere Frauen unter 20 weiterhin auf
Kosten der Krankenkassen mit diesen Verhütungsmitteln
versorgt werden können, wenn sie ärztlich verordnet
werden. Auch das ist gut und das unterstützen wir. Das
zeigt wieder einmal, dass sich beharrliche Oppositionsarbeit doch lohnt.
({7})
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Martina
Stamm-Fibich das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der lange Atem, den wir als SPD-Bundestagsfraktion beim Thema Pille danach bewiesen haben,
hat sich gelohnt.
({0})
Er hat sich gelohnt vor allem für die Frauen in Deutschland. Sie werden die Pille danach schon bald ohne Rezept in der Apotheke erhalten. Gut, dass wir so beharrlich waren. 2012 haben wir als SPD-Fraktion den ersten
Antrag gestellt und damit als erste Fraktion im Deutschen Bundestag die Rezeptfreiheit der Pille danach gefordert.
({1})
Mit dieser Forderung standen wir schon damals nicht
allein. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat schon 2003 empfohlen, die Verschreibungspflicht aufzuheben. Auch die Europäische Arzneimittel-Agentur vertritt seit Jahren die Meinung, dass die
Pille danach auch ohne ärztliche Verschreibung sicher
und effektiv ist. Die Weltgesundheitsorganisation rät seit
2010 dazu, die Pille danach rezeptfrei abzugeben. Die
Pille danach ist gut erforscht und weitgehend frei von
Nebenwirkungen, und zwar unabhängig vom Wirkstoff.
Alle bisherigen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass
die beiden Wirkstoffe Ulipristal und Levonorgestrel ein
vergleichbares Sicherheitsprofil haben.
Es gibt also gute Gründe dafür, dass in rund 80 Staaten der Welt die Pille danach ohne Rezept erhältlich ist.
Auch in den meisten europäischen Staaten ist die Pille
danach bereits rezeptfrei zu bekommen. Viele unserer
Nachbarländer wie zum Beispiel Belgien, Frankreich
und die Niederlande machen damit gute Erfahrungen.
Dass jetzt endlich auch in Deutschland unsere Forderung
erfüllt wird, dass die Pille danach schon bald auch hierzulande rezeptfrei abgegeben wird, freut mich sehr.
({2})
Ein längst überfälliger und wichtiger Schritt für das
Selbstbestimmungsrecht moderner Frauen ist damit vollzogen. Ich hoffe, dass bereits im Frühjahr Frauen von
der getroffenen Entscheidung profitieren. Künftig kommen sie bei Bedarf unkompliziert und schnell an die
Pille danach. Die meisten Verhütungspannen passieren
schließlich am Wochenende oder dann, wenn der vertraute Frauenarzt gerade keine Sprechstunde hat. Bislang
war der Gang in die Notaufnahme dann der einzige Weg,
um rechtzeitig die Pille danach zu erhalten. Dieser Gang
in die Notaufnahme bedeutete oft enorme Wartezeiten
und konnte durchaus zu einem Spießrutenlauf geraten,
bei dem sich die betroffenen Frauen unangemessene Bemerkungen anhören mussten. Das alles gehört nun, so
hoffe ich, der Vergangenheit an.
({3})
Die Befreiung der Pille danach von der Rezeptpflicht
ist ein Erfolg unserer Hartnäckigkeit, und dieses Eigenlob, liebe Genossinnen und Genossen, haben wir uns
redlich verdient.
({4})
Im jahrelangen politischen Tauziehen haben wir als
SPD-Bundestagsfraktion einen kühlen Kopf bewahrt, für
unseren Standpunkt geworben und die Skeptiker überzeugt. Dem einen oder anderen Skeptiker half - das will
ich hier nicht verschweigen - zu guter Letzt noch ein Impuls aus Brüssel auf die Sprünge.
Am 7. Januar 2015 entschied die EU-Kommission,
die Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristal aus der Rezeptpflicht zu entlassen. Damit markierte die Kommission einen Wendepunkt im Kampf für die Rezeptfreiheit
und hat im Gesundheitsministerium ein erfreuliches Umdenken bewirkt. Das Gesundheitsministerium will diese
europäische Entscheidung jetzt im Rahmen der 14. Verordnung zur Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung zügig umsetzen. Ich begrüße dies ausdrücklich. Die neue Verordnung sieht auch vor, dass die Pille
danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel künftig nicht
mehr verschreibungspflichtig ist.
Ich begrüße auch die Regelungen zur Erstattung. Hier
ist Folgendes vorgesehen: Für unter 20-jährige Frauen
soll die Pille danach weiterhin kostenlos sein. Bisher haben Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung
bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln, wenn sie
ärztlich verordnet werden. Um auch nach der Entlassung
der Pille danach aus der Verschreibungspflicht sicherzustellen, dass für Frauen, die das 20. Lebensjahr noch
nicht vollendet haben, die Kosten nicht nur für herkömmliche empfängnisverhütende Mittel, sondern auch
für Notfallkontrazeptiva durch die GKV übernommen
werden, wird der Artikel 1 § 24 a SGB V entsprechend
geändert. Der neue Satz 2 dieses Paragrafen sieht eine
entsprechende Ausnahmeregelung für die nicht verschreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva vor. Die
Regelung bestimmt, dass die Kosten für diese nicht verschreibungspflichtigen empfängnisverhütenden Mittel
durch die Krankenkassen zu tragen sind, sofern eine
ärztliche Verordnung vorliegt.
Uns allen ist klar: Die Pille danach ist ein Notfallmedikament. Sie ist kein Ersatz für die Antibabypille. Sie
wirkt nicht, wenn sich die befruchtete Eizelle bereits eingenistet hat. Die Pille danach ist demnach kein Präparat,
das einen Schwangerschaftsabbruch zur Folge hat. Die
Pille danach ist ein wichtiges Mittel zur Prävention ungewollter Schwangerschaften und ihre Freigabe damit
eine große Erleichterung für Frauen.
Mit der Aufhebung der Rezeptpflicht stellt sich allerdings auch die Frage der medizinischen Beratung und
Aufklärung neu. Beides darf auf keinen Fall vernachlässigt werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass Frauen
auch in Apotheken fachkundig beraten und ausführlich
über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt werden.
({5})
Auf keinen Fall darf der Eindruck aufkommen, die Pille
danach könne man so bedenkenlos wie eine Kopfschmerztablette einnehmen.
({6})
Eine gute Beratung bei der Abgabe der Pille danach
muss also auf jeden Fall sichergestellt werden. In diesem
Punkt besteht weithin Einigkeit. Wie die Dokumentation
im Einzelnen ausgestaltet werden soll und wie Beratung
und Aufklärung vergütet werden können, ist dagegen
noch offen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Apotheker eine
qualitativ gute Beratung leisten können. Schließlich ist
die Beratung zur Einnahme von Arzneimitteln für die
Apotheker kein Neuland, sondern eine Kernkompetenz.
({7})
Sie beweisen tagtäglich, dass sie die nötige Fachkenntnis
und auch das wünschenswerte Fingerspitzengefühl haben.
Gemeinsam mit Frauenärzten, Apothekern und dem
BfArM werden derzeit fachliche Kriterien dafür entwickelt, wie Beratungsgespräche diskret gestaltet werden
können. Von allen Seiten höre ich, dass diese Gespräche
sehr konstruktiv verlaufen. Ob am Ende nun ein standardisierter Dokumentationsbogen oder eine Art Checkliste
mit Fragen stehen wird, ist gegenwärtig noch offen.
Zu klären sind auch noch einige offene Fragen, wie
zum Beispiel die, ob auch Versandapotheken der Versand erlaubt werden kann und ob es eine Mindestaltersgrenze für die Abgabe für die Pille danach geben kann.
Ich hoffe, dass diese Fragen rasch geklärt werden, damit
für die betroffenen Frauen keine unnötigen Unsicherheiten entstehen.
Die Rezeptfreiheit der Pille danach war von Anfang
an ein Herzensthema der SPD-Bundestagsfraktion. Gesundheitsminister Gröhe hat mit der Eilverordnung
schnell und richtig reagiert und kommt damit den Forderungen nach, die wir als SPD-Bundestagsfraktion seit
langer Zeit stellen.
Kollegin Stamm-Fibich, Sie müssen zum Schluss
kommen.
Ich komme zum Ende. - Die Anträge von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen sowie deren Gesetzentwurf haben sich mit der Eilverordnung erübrigt und werden daher von uns abgelehnt.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gesundheitsminister Hermann Gröhe hat endlich angekündigt - wir haben es mittlerweile mehrfach
gehört -, die Pille danach aus der Rezeptpflicht zu entlassen. Das ist eigentlich eine gute Nachricht für die
Frauen in diesem Land. Aber ich finde, es bleibt ein bitterer Nachgeschmack; denn die Entscheidung war keine
freiwillige. Die EU-Kommission musste den Minister
erst zur Vernunft zwingen. Sie hat klar entschieden, die
Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat europaweit ohne Verschreibung freizugeben. Ohne das wäre
meiner Ansicht nach nichts passiert.
({0})
- Ja, das mag sein. Aber sonst wäre nichts passiert. Auch
Sie hätten daran nicht viel geändert.
Dass er jetzt auch den zweiten, weitaus besser geprüften Wirkstoff Levonorgestrel aus der Verschreibungspflicht entlassen will, ist mehr als folgerichtig. Das war
seit langem eine grüne Forderung.
({1})
Für dieses unnötige Geziehe und Gezerre kann Minister
Gröhe von uns keinen Applaus erwarten.
({2})
Die Aufhebung der Rezeptpflicht war längst überfällig. Sie von der Union haben mehr als zehn Jahre verhindert, dass es dazu kam, erst zu rot-grünen Zeiten durch
Ihre Blockade im Bundesrat und in den letzten Jahren als
Regierungsfraktion. Sie blieben bei dem Kurs; auch Sie
ignorierten den ausdrücklichen Rat der zuständigen Behörden. Warum? Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei
Gründe: Zum einen waren Sie von der Union aus ideologischen Gründen dagegen, die Pille danach freizugeben.
({3})
Mir scheint, Sie haben nach wie vor ein Problem damit,
die reproduktiven Freiheiten von Frauen ohne Wenn und
Aber zu stärken.
({4})
Zum anderen - das finde ich genauso fatal - haben Sie
sich dem Druck der Ärztelobby gebeugt. Die Gynäkologen haben nämlich kein Interesse daran, dass die Pille
danach direkt in Apotheken verkauft wird. Sie wollen,
dass die Frauen in ihre Praxis kommen und sie Rezepte
verschreiben können. Damit verdienen sie ihr Geld.
Ich muss hier einmal anmerken - ich habe mir die
letzte Debatte noch einmal sehr genau angesehen -: Es
war wirklich schwer erträglich, wie Sie von der Union
sich ausschließlich für die Interessen der Ärzteschaft
starkgemacht haben. Sie haben das Selbstbestimmungsrecht der Frauen diesen untergeordnet. Nun hat der
Minister erfreulicherweise die Seite gewechselt, und Sie
müssen jetzt zusehen, wie Sie auf die neue Linie kommen.
({5})
Sie, Kollegin Maag, haben das heute schon ganz gut unter Beweis gestellt.
({6})
Ich finde, der Minister hätte die Urteile der Expertinnen und Experten von vornherein ernst nehmen müssen.
Der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht sprach sich wiederholt für die Rezeptfreiheit aus;
aber der Minister hielt viel zu lange daran fest, und zwar
gegen die Vernunft und auch gegen Lösungen für Frauen
in Notsituationen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich betone noch
einmal ausdrücklich: Bei einer Verhütungspanne oder
gar nach einer Vergewaltigung zählt für die Frau jede
Stunde, vor allem am Wochenende. Ich bin davon überzeugt, dass Frauen verantwortungsvoll mit dem Präparat
umgehen. Es wäre gut, wenn Sie von der Union das endlich auch so sähen.
({7})
Außerdem geht es jetzt darum, dass junge Frauen die
Möglichkeit erhalten, wie bisher die Pille danach kostenfrei bzw. gegen Zuzahlung zu bekommen. Mit unserem
Gesetzentwurf wollen wir das Sozialgesetzbuch V ändern, damit junge Frauen entscheiden können: Pille danach entweder kostenlos mit ärztlicher Verschreibung
oder selbst zahlen direkt in der Apotheke.
({8})
- Ja, jetzt machen Sie es. Aber unser Gesetzentwurf lag
ein bisschen eher vor. - Das nenne ich Selbstbestimmtheit und echte Wahlfreiheit für junge Frauen.
Weiterhin setzen wir darauf, die qualifizierte Beratung durch die gut ausgebildeten Apothekerinnen und
Apotheker zu stärken. Wir wollen auch Entscheidungshilfen im Internet anbieten. Wir wollen den Frauen ermöglichen, eine informierte Entscheidung zu treffen.
({9})
Ich meine, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eigentlich ganz einfach. Sie haben jetzt einen Vorschlag
vorgelegt. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie
können dem eigentlich zustimmen. Wir sind dann gemeinsam auf der Zielgeraden. Für die Frauen ist das auf
jeden Fall eine gute Entscheidung.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 18/3825. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1617
mit dem Titel „Bundestagsmehrheit nutzen - Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2630 mit dem
Titel „Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/303 mit
dem Titel „Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien
Pille danach schnell umsetzen“ für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/492 mit dem Titel „Selbstbestimmung bei der
Notfallverhütung stärken - Pille danach mit Wirkstoff
Levonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht entlassen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSUFraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3834 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({1})
Climate Engineering
Drucksache 18/2121
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich nehme an,
dass der Geräuschpegel keinen Widerspruch zu dieser
Vereinbarung bedeutet, sondern nur das Bemühen ausdrückt, möglichst zügig die Weiterführung der Verhandlungen zu ermöglichen.
Es fällt mir auf, Kollege Lengsfeld, dass wir öfter die
Situation haben, dass ich erst einmal für Ruhe sorgen
muss, damit Sie hier sprechen können.
({3})
- Ja, auch aus der eigenen Fraktion.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Philipp Lengsfeld.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor uns liegt ein besonders
interessanter Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung. Er handelt vom Aufregerthema Klimawandel
und ist aus meiner Sicht Technikfolgenabschätzung im
besten Sinne.
Die momentane Grundstrategie beim Thema Klimawandel fokussiert auf die Minderung des Ausstoßes von
Treibhausgasen. Diese Strategie ist die Mitigation, also
Dämpfung. Sie steht auch im Zentrum unserer aktuellen
politischen Diskussion in Deutschland. In dem vorliegenden Bericht geht es dagegen um Intervention, also
um ein aktives großtechnisches globales Gegensteuern.
Die international üblichen Fachtermini heißen Climate
oder Geoengineering. Der Bericht behandelt die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen von solchen Interventionstechniken, die momentan aber nur diskutiert
und noch nicht angewendet werden. Technikfolgenabschätzung ist hier so wichtig;
({0})
denn wir reden von hochmanipulativen globalen Eingriffen des Menschen in die Natur mit dem Ziel, befürchtete
Klimaveränderungen zu verhindern.
Mein Fazit aus dem Bericht möchte ich gleich an den
Anfang stellen: Wir sollten vom Climate Engineering
auf jeden Fall die Finger lassen. Ich will dies natürlich
kurz begründen.
Was wird konkret unter dem Terminus Climate Engineering diskutiert? Zunächst einmal gibt es eine ganz
zentrale Grundannahme, die man verstehen muss. Diese
zentrale Grundannahme besagt, dass der CO2-Ausstoß in
die Luft und die damit verbundene Erderwärmung einen
Punkt erreicht haben oder bald erreichen werden, an dem
nur durch manipulative Eingriffe, also durch Climate
Engineering, der gewünschte stabile klimatische Zustand bewahrt werden kann.
Die diskutierten manipulativen Maßnahmen gliedern
sich in zwei Hauptgruppen. Eine Hauptgruppe sind direkte Interventionen zur Dämpfung der Erderwärmung
durch Temperaturmanipulation, zum Beispiel - und das
ist kein Witz - durch die Anbringung großer Spiegel im
All oder durch großflächige Aufhellung der Wolken
durch Aerosole, um deren Reflexionseigenschaften zu
erhöhen. Ziel ist es natürlich, den Wärmeeintrag in die
Atmosphäre zu verringern und so die Erdtemperatur zu
senken. Hier ist eigentlich intuitiv schon klar, dass diese
Arten der Manipulation zu gefährlich, zu teuer und in ihrer Wirkung äußerst zweifelhaft sind.
({1})
Insgesamt etwas gefälliger wirken die indirekten Interventionen. Dies sind Vorschläge zum Entzug von CO2
aus der Atmosphäre. Ich will ein größeres Beispiel kurz
näher diskutieren: Eine Idee, die, wie ich finde, zumindest oberflächlich betrachtet relativ attraktiv wirkt, ist
die großflächige Aufforstung von Wüstenflächen, zum
Beispiel die Aufforstung der Sahara. Bei näherer Betrachtung sind aber auch hier ungeheure lokale und globale Risiken verborgen; denn für eine großflächige Wüstenaufforstung braucht man Unmengen von Wasser. Hier
möchte ich an ein warnendes historisches Beispiel für
Geoengineering erinnern, unter dessen Folgen die betroffene Region noch heute ganz massiv leidet. Ich rede
vom Aralsee. Das ist ein Beispiel für menschgemachte
Naturmanipulationen mit katastrophalen Folgen. Damals
ging es zwar nicht um die Rettung des Weltklimas, sondern um den Siegeszug des Kommunismus; aber die Methoden waren ähnlich. Man hat riesige Mengen Wasser
in die Wüste umgeleitet, um eine extensive Baumwollproduktion zu ermöglichen. Leider ging darüber der
Aralsee kaputt, wurde das Herz einer großen Region zerstört.
Damit könnten wir es bewenden lassen. Wir haben,
was die Kommunisten nicht interessiert hat, nämlich
eine Abschätzung der Technikfolgen. Der Bericht zeigt
uns, dass die Technologien zu unkontrollierbar sind, also
lassen wir es. Climate Engineering zur Klimarettung ist
keine Option.
({2})
Das heißt ja nicht, dass wir auf dem Gebiet nicht mehr
forschen sollen. Aber wir können und müssen vielleicht
noch mehr lernen; denn der Bericht macht deutlich, dass
die momentanen Vorgaben in der internationalen Klimaforschung durch Mitigation vermutlich gar nicht mehr zu
erreichen sind.
Darüber muss man aber aus meiner Sicht nicht verzweifeln. Vielmehr sollten wir daraus die richtigen
Schlüsse ziehen; denn es gibt eine dritte Strategie, und
das ist die Adaption. Wir konzentrieren global mehr
Kräfte auf das Verständnis der kommenden Veränderungen und die Entwicklung nachhaltiger Strategien zur Anpassung, zur Adaption an diese Veränderungen. Hier
sind unsere Kräfte richtig verwendet. Darauf sollten wir
uns konzentrieren, meine Damen und Herren. Diesen
Weg weist uns dieser Bericht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich mich bei den Wissenschaftlern des
Büros für Technikfolgen-Abschätzung für den Bericht
bedanken,
({0})
einen Bericht, der sehr lesenswert ist, für alle Klimabewegten ein Muss.
Worum geht es bei Climate Engineering? Ich denke,
das ist ganz schnell erklärt: Mit technischen Eingriffen
in das globale Klima soll die Erderwärmung gestoppt
werden. Diese einfache Idee steckt hinter dem Begriff.
Für manche Wissenschaftler, Politiker und Manager von
Energiekonzernen ist das anscheinend ein sehr betörender Gedanke. Mit technischen Eingriffen, nämlich durch
das Versprühen von Schwefelpartikeln in der Atmosphäre, soll die Sonne verdunkelt und dadurch die Erde
abgekühlt werden. Und mit technischen Eingriffen, nämlich durch das Einleiten von Chemikalien in die Ozeane,
soll das Wachstum von Algen beschleunigt werden, damit diese mehr klimaschädliches CO2 aufnehmen. Eine
Journalistin des RBB hat es so kommentiert:
Die Idee scheint verlockend. Anstatt seine Gewohnheiten zu verändern, um die Erderwärmung zu
stoppen, könnte der Mensch das Klima einfach
künstlich überlisten. Ein bisschen Gott spielen.
Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass sich die
Öffentlichkeit, genau wie die Linke, vor diesen
Frankenstein-Klimaingenieuren gruselt.
({1})
Wir werden uns aber nicht nur fürchten. Die Linke wird
sich auch in Zukunft gegen das Rumschrauben am Weltwetter stellen, Vorhaben beobachten und sich notfalls für
Verbote einsetzen - auch bei CCS, das Frau Umweltministerin Hendricks jüngst leider wieder ins Spiel gebracht hat.
({2})
Eigentlich reden wir heute nicht über Klima; es geht
um die Beherrschbarkeit von Technik. Ich kann Ihnen
sagen: Ich bin keine Technikfeindin; Umweltschützerinnen und Umweltschützern wird das ja ständig vorgehalten. Ich habe in einem hoch technisierten Unternehmen
gearbeitet, für einen Maschinenbauer aus meiner Heimat
Ingolstadt, der Baumwollspinnereimaschinen herstellt.
({3})
Wir alle sind von Technik, die unser Leben erleichtert,
umgeben. Aber lassen Sie es mich auf den Punkt bringen: Climate Engineering birgt zu viele Risiken. Warum? Es gibt zu viele unbekannte Variablen im Hinblick
auf das Klima, das Wasser, die Luft, den Untergrund,
den Menschen, für Flora und Fauna. Das Klima ist ein
hochkomplexes System. Es ist keine Klimaanlage, die
man einfach an- und abstellt.
Ich möchte zwei Stimmen zu Wort kommen lassen.
Erstens, zur Vorhersagbarkeit. Sie kennen die Fragestellung des US-Meteorologen Edward Lorenz - es ist eine
interessante Frage -: Kann der Flügelschlag eines
Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Ja, er kann. Das Weltklima ist kein lineares
System wie eine Maschine oder ein Lichtschalter. Die
Verfechter der Sonnenstrahlungsbeeinflussung durch
Schwefelpartikel setzen vor allem auf Computermodelle. Lorenz würde darüber den Kopf schütteln. Klima
und Wetter sind chaotisch, Eingriffe nicht berechenbar.
Alles andere ist gefährliche Hybris.
Zweitens, zur Zielstellung. Statt, wie es die Linke fordert, einen Kohleausstieg einzuleiten und auf Erneuerbare umzusteigen, bliebe unsere fossile Lebensweise unangetastet. Darum schließe ich mit Albert Einstein. In
seinem gerne vergessenen Aufsatz „Warum Sozialismus?“
({4})
erklärt der vielleicht wichtigste Wissenschaftler der Moderne, man solle sich davor hüten, „die Wissenschaft
und wissenschaftliche Methoden zu überschätzen, wenn
es um Menschheitsprobleme geht“. An anderer Stelle
schreibt er:
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe vier Vertreter des deutschen Volkes auf
der Besuchertribüne!
({0})
Seien Sie herzlich gegrüßt! Der französische Romanautor Jules Verne - die Älteren unter uns kennen noch
Kapitän Nemo und die Nautilus - hat 1889 den Roman
Der Schuss am Kilimandscharo veröffentlicht. Dort beschreibt er im Prinzip das erste Geoengineering-Projekt
der Welt. Seine Protagonisten versprechen den Menschen, die Jahreszeiten abzuschaffen, damit man es immer schön warm hat, jedenfalls auf der Nordhalbkugel.
Sie arbeiten an einem Plan, den sie auch ausführen. Sie
bauen eine große Kanone am Kilimandscharo und hoffen, dass sie mit dem Rückstoß beim Abschuss die Erdachse verschieben, sodass die Nordhalbkugel immer in
der Sonne liegt. Das geht alles schief. Am Ende heiratet
der Held wenigstens.
({1})
Das kann auch schief gegangen sein. Aber soweit ich
mich erinnere, ist es das erste Mal, dass ein Romanautor
einen technischen Eingriff in das Klima beschreibt.
Es hat mehr als 100 Jahre gedauert, bis die Überlegung von Climate Engineering, also die Veränderung des
Klimas, durch eine Umweltkatastrophe wieder Eingang
in die öffentliche Diskussion fand. 1991 - auch daran erinnern sich vielleicht die Älteren unter uns - brach der
Vulkan Pinatubo auf den Philippinen aus. Dadurch wurden 17 Millionen Tonnen Schwefeldioxid in die Stratosphäre getragen. Dies führte dazu, dass die Sonnenstrahlen in Teilen reflektiert wurden und die Erde sich
weniger stark erwärmte. In den darauffolgenden zwei
Jahren hat man tatsächlich eine Absenkung der globalen
Temperatur um fast ein halbes Grad gemessen. Das
heißt, die Partikel, die sich in der Stratosphäre infolge
des Vulkanausbruches befanden, haben dazu geführt,
dass weniger Sonnenlicht den Boden erreichte und erwärmte.
Der Nobelpreisträger für Chemie Paul Crutzen hat
das im Jahr 2006 in einer wissenschaftlichen Arbeit aufgegriffen und überlegt, ob man den Klimawandel, der
schon damals diskutiert wurde, nicht über eine solche
Methode beeinflussen könnte. Er hat vorgeschlagen,
Schwefeldioxid in großen Mengen in die Stratosphäre
einzubringen, um die Erderwärmung zu reduzieren.
In Deutschland hat 2009 ein deutsch-indisches Projekt die Diskussion um Climate Engineering öffentlich
gemacht und beschleunigt, nämlich das deutsch-indische
Eisendüngungsprojet Lohafex. Das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“ hat im südatlantischen Raum
20 Tonnen Eisensulfat ausgebracht. Eisensulfat ist ein
Mikronährstoff für Algen, den sie zum Wachstum brauchen. Man hat über die Ausbringung in einem begrenzten Gebiet versucht, das Algenwachstum anzuregen mit
dem Hintergedanken: Wo Algen wachsen - das ist ein
natürlicher Prozess -, binden sie Kohlendioxid aus dem
Wasser und damit indirekt aus der Atmosphäre; wenn sie
zu Boden sinken, nehmen sie das gebundene CO2 mit
und reduzieren so den Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre.
Damals erschien ein Spiegel-Artikel dazu. Sowohl die
Wissenschaft als auch die Politik waren von dieser Methode sehr überrascht, und in der Gesellschaft begann
eine Diskussion darüber, ob man so etwas darf und welche Auswirkungen es hat. Dies führte am Ende zur Beauftragung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung
des Deutschen Bundestages, das ein sehr bewährtes Instrument ist. Ich bedanke mich für die Gelegenheit, dass
erstmals in den letzten Jahren ein TAB-Bericht einzeln
diskutiert wird und nicht angehängt an ein anderes
Thema. Dieser TAB-Bericht zeigt, welche Auswirkungen, welche Folgen und welche Potenziale Climate
Engineering haben kann bzw. hat.
Neben den beiden genannten Beispielen möchte ich
die beiden Methoden ansprechen, die im Vordergrund
stehen: Das eine ist die Strahlungsabschirmung, Radiation Management, also Strahlungsmanagement. Das andere ist das Einfangen von Kohlendioxid, wie es bei
Lohafex geplant war, dass man also versucht, Kohlendioxid aus der Atmosphäre oder dem Wasser zu binden
und dann zu entfernen. Bei beiden Arten von Climate
Engineering wissen wir, bestätigt durch den TAB-Bericht, dass die Auswirkungen völlig unklar sind.
Es gibt zwar keine Anwendung solcher Ideen bzw.
Projekte. Aber wir wissen überhaupt nicht, was passiert,
wenn wir in großem Maße Kohlendioxid, beispielsweise
über Eisendüngung im Ozean, binden. Wir verzeichnen
seit dem Klimawandel, seit dem Anstieg der Temperatur
eine zunehmende Versäuerung der Ozeane. Wir wissen
nicht, welche ökologischen Katastrophen es nach sich
zieht, wenn die Ozeane nicht mehr als Brutstätte, als Geburtsort für Fische und andere Lebewesen zur Verfügung
stehen, weil die natürlichen Bedingungen nicht mehr
existieren.
Beim Radiation Management vermuten wir, dass eine
der Auswirkungen sein könnte, dass zum Beispiel die
mittleren Niederschläge nachlassen. Das wird einige Regionen freuen - Lüdenscheid wird sich freuen, weil es
im Sauerland weniger regnen wird -, aber in anderen
Breitengraden wird es katastrophale Folgen haben, wenn
weniger Regen fällt.
Eine Schlussfolgerung des vorliegenden Berichtes ist,
dass die Fragen, die wir haben, völlig ungeklärt sind.
Wir wissen nicht, was im internationalen Kontext passiert, wenn ein Land Climate Engineering betreibt, aber
die Auswirkungen in einem anderen Land zutage treten.
Was bedeutet das völkerrechtlich? Wie ist das zu regeln?
Im vorliegenden TA-Bericht werden entsprechende Vor7878
schläge aufgeführt. Wir sollten uns überlegen, wie wir
uns in Deutschland gegenüber Anwendungen wappnen
können, und Verhandlungen auf internationaler Ebene
aufnehmen, um dies endlich zu regeln.
Im TA-Bericht wird dazu aufgefordert, dass Deutschland im Bereich Climate Engineering weiter forschen
sollte, aber nicht, um Anwendungen voranzutreiben.
Vielmehr geht es darum, die Auswirkungen besser beurteilen zu können, um bei Diskussionen im internationalen Kontext kompetent mitreden zu können. Diese Aufforderung nehmen wir an.
Die größte Gefahr von Climate Engineering, die ich
sehe, ist allerdings - damit komme ich zum Schluss -,
dass wir uns in Sicherheit wiegen könnten, dass es irgendwann eine Anwendung gibt, mit der wir den Klimawandel, der sich bereits vollzieht, beherrschen können.
Das Konzept, dass man für den Notfall gewappnet sein
und bestimmte Technologien vorhalten sollte, ist der falsche Weg.
Uns allen sollte klar sein, dass es nur eine Lösung zur
Begrenzung des Klimawandels gibt: die Vermeidung von
Kohlendioxid und die Vermeidung von Treibhausgasen.
Das heißt, mehr Investitionen in erneuerbare Energien,
in Energieeffizienz und einen Umstieg in eine andere
Energiepolitik. Das sind wir den künftigen Generationen
schuldig. Das ist auch die Schlussfolgerung aus diesem
Bericht.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Harald Ebner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Zahllose Krisenherde zwingen derzeit so
viele Menschen wie nie zuvor, ihre Heimat zu verlassen.
Unbemerkt davon wächst sich eine globale Krise zu einem Haupttreiber von Flucht aus, und das ist die Klimakrise.
({0})
Wetterkatastrophen wie Fluten und Stürme haben
dazu geführt, dass seit dem Jahr 2008 mehr als 140 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, so der
UNHCR. Im Jahr 2050 müssen wir mit bis zu 1 Milliarde an Klima- und Umweltflüchtlingen rechnen. Wenn
wir das Aufheizen der Welt um 2 Grad und damit das
Flüchtlingsleid begrenzen wollen, muss mehr als die
Hälfte der fossilen Ressourcen in der Erde bleiben. Das
war in Lima Konsens der Weltgemeinschaft.
Um sein Klimaziel zu erreichen, muss Deutschland
beispielsweise seine Emissionen bis 2050 auf 5 bis
7 Prozent seines heutigen Niveaus zurückfahren. Vor unserem grünen Fraktionssaal - Sie alle können einmal
vorbeischauen - befindet sich eine Klima-Uhr,
({1})
die sekündlich den Ausstoß an Treibhausgasen in
Deutschland aufsummiert. Sie zeigt: Schon in den ersten
drei Wochen dieses jungen Jahres hat Deutschland bereits die Menge an Treibhausgasen emittiert, die wir
2050 während des gesamten Jahres ausstoßen dürfen,
wenn wir das Klimaziel nicht verfehlen wollen. - Das ist
nicht zukunftsfähig.
Keine Frage, die Herausforderung ist gewaltig und
verlangt uns unbequeme Veränderungen ab. Aber gerade
weil es sich um eine solch große Aufgabe handelt, erscheint die Idee des Climate Engineering - es wurde
schon erklärt - auf den ersten Blick sehr verlockend:
eine gezielte Beeinflussung des Klimas, ohne mühsam
Treibhausgase zu reduzieren. Aber der TA-Bericht zeigt,
das ist eine Seifenblase. Eine einfache technologische
Weltrettung wird so nicht möglich sein. Wir wissen bislang noch viel zu wenig darüber, ob das jemals in der
Praxis funktionieren könnte und welche Risiken, welche
Nebenwirkungen und welche Kosten dadurch entstehen.
Wir brauchen natürlich - Kollege Röspel hat es gesagt eine umfassende Risikoabschätzung. Die heutige Debatte mag dazu ein Anfang sein.
Gerade angesichts dieser großen Fragezeichen dürfen
wir bei den Klimaschutzanstrengungen auf keinen Fall
nachlassen. Ich bin froh, dass sich in diesem Punkt, wie
ich gehört habe, hier alle einig sind. Ich möchte das Gesagte bestätigen: Wir brauchen auch international eine
Verständigung darüber, wie wir mit diesen Risikotechnologien umgehen. Laut Bericht lassen sich unerwünschte
Entwicklungen nur anhand völkerrechtlicher Vorgaben
effektiv vermeiden. Und da, glaube ich, dürfen wir
schon erwarten, dass die Bundesregierung tätig wird;
denn wir dürfen nicht zulassen, dass irgendwer beginnt,
am Klima herumzupfuschen.
({2})
Der Bericht macht auch Folgendes deutlich: Selbst
wenn diese Technologie jemals ohne erhebliche Nebenwirkungen zuverlässig und zu vertretbaren Kosten funktionieren könnte, wird es noch viele Jahrzehnte dauern,
bis sie überhaupt einsatzbereit wäre. Unsere Klima-Uhr
zeigt aber: Wir haben keine Zeit.
Ministerin Hendricks - sie ist, glaube ich, gar nicht
anwesend; das wäre aber gar nicht schlecht gewesen hat in Lima zu Recht den Appell: „Act now!“, an die
Staatengemeinschaft gerichtet; aber leider liegen bei der
Bundesregierung - es sei mir erlaubt, das hier zu sagen Worte und Taten so weit auseinander wie die schmelzenden Polkappen.
({3})
- Natürlich kommt hier Widerspruch von Ihnen. - Es
widerspricht klar dem Klimaschutzziel, wenn die Kanzlerin in Brüssel strengere Verbrauchsvorgaben für Pkws
untergräbt und Bundeswirtschaftsminister Gabriel den
Ausbau der erneuerbaren Energien deckelt und Werbung
für Braunkohletagebaue macht, und es passt auch nicht
zum Klimaschutz, wenn Fracking in Deutschland ermöglicht wird und nach wie vor jedes Jahr 50 Milliarden
Euro umweltschädliche Subventionen verteilt werden.
({4})
Klimafreundliches Wirtschaften darf eben nicht als
Last, sondern muss als Chance begriffen werden. Deshalb sollten wir uns, wenn wir unserer globalen Verantwortung gerecht werden wollen, davon verabschieden,
als einzelnes Land das Klima jedes Jahr stärker aufzuheizen als die 105 ärmsten Länder dieser Welt. Wir kommen deshalb nicht darum herum, beim Klimaschutz
unsere Hausaufgaben zu machen. Weder die Wunschvorstellung Climate Engineering noch die Schönrechnerei und auch die Mutlosigkeit der Bundesregierung bringen uns hier weiter.
Wir haben einen Aktionsplan zum Klimaschutz vorgelegt. Sie dürfen gerne daraus abschreiben. Das Klima
in diesem Haus wird es nicht stören.
Danke schön.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Sybille
Benning des Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Zum Ende dieser technischen, wissenschaftshistorischen und literarischen Debatte jetzt noch
ein Beitrag: Climate Engineering und die Klimapolitik.
Oder: Steht die Büchse der Pandora in Mutters Porzellankiste?
Manche Analysten wie die Verfasser des sogenannten
Hartwell Papers plädieren für eine völlige Umkehr in der
Klimapolitik. Noch immer wird kontrovers darüber diskutiert, wie die Staatengemeinschaft das angestrebte
2-Grad-Ziel noch erreichen kann. Eine Verengung auf
die CO2-Reduktion halte auch ich für falsch, weil das
nicht sachgerecht ist. Langfristig darf man sich nicht auf
CO2-Reduktion beschränken, sondern man muss zum
Beispiel auch deutlich machen, dass Wirtschaft und
Nachhaltigkeit kein Widerspruch sind. Eine unserer
wichtigsten Aufgaben ist es darum, Wege zu einer Green
Economy zu finden. So viel zu „Act now!“: We do.
({0})
Jetzt könnte man auch klatschen.
({1})
Das neue Forschungsprogramm zur Green Economy
hat unsere Ministerin gerade erst vorgestellt. Es geht um
Nachhaltigkeit, und Nachhaltigkeit heißt Verantwortung
für die nächste Generation übernehmen. Wenn Paul
Crutzen, der eben schon erwähnt wurde, der Träger des
Nobelpreises für Chemie, vom Anthropozän spricht, also
vom Menschenzeitalter, dann stellt er damit den bedeutenden Einfluss des Menschen auf die Umwelt heraus.
Damit verbunden ist die besondere Pflicht zum verantwortlichen Handeln. Für die Forschung zum Climate Engineering ergeben sich für mich daraus drei zentrale Fragen:
Erstens. Inwieweit ersticken wir die Bemühungen um
Energieeffizienz und CO2-Reduktion, wenn wir in CE
investieren? Würde ein Aktionsprogramm Klimaschutz
noch mit gleicher Energie verfolgt, wenn die Aussicht
darauf bestünde, CO2 wieder aus der Atmosphäre oder
den Ozeanen zu filtern?
Der TA-Bericht bemängelt hier, dass die wissenschaftlichen Diskurse über Klimaschutz und CE-Technologien getrennt voneinander ablaufen und empfiehlt
eine „niedrig dosierte CE-Intervention“, so wie es auch
im letzten IPCC-Bericht steht. Ich bin aber der Meinung,
dass wir über Climate Engineering zu wenig wissen, um
es zu diesem Zeitpunkt im Kontext der gesamten Klimadebatte zu diskutieren. Die Gefahr besteht nämlich auch
darin, dass dadurch falsch Signale ausgesendet würden,
zum Beispiel, eine Emissionsreduktion sei weniger
wichtig.
Manche sagen ja: Wenn sich die internationale Staatengemeinschaft doch so schwer tut, die Klimaziele zu
erreichen, sollte man dann nicht doch besser über einen
Plan B verfügen, über eine Technologie, die man wie ein
Notfallkit gebrauchsfertig in der Tasche hat, wenn die
Luft im wahrsten Sinne des Wortes zu dünn wird? Dieser
TA-Bericht empfiehlt dazu mehr Wissen und mehr Forschung, um eine bessere Bewertung vornehmen zu können.
Wir sollten dabei auch nicht vergessen, uns die wissenschaftlichen Schwierigkeiten von Climate Engineering vor Augen zu führen. Die zweite zentrale Frage
lautet darum: Ist eine adäquate Bewertung der CE-Technologien allein mit Modellen und Szenarien überhaupt
machbar, oder kann man ohne empirische Forschung
nicht alle Aspekte und Folgen einer Anwendung von
CE-Technologien genau bestimmen? Hier habe ich allerdings die Befürchtung, dass durch den Einsatz von großskaliger Feldforschung eine Infrastruktur geschaffen
werden könnte und Netzwerke entstehen könnten, aus
denen sich eine gewisse Pfadabhängigkeit ergeben
würde. Es wäre der falsche Weg, auf diese Weise Fakten
schaffen zu wollen. Und: Einmal geöffnet - die Büchse
der Pandora schließt nicht mehr so leicht.
Das führt mich zu meiner dritten Frage: Wie kann
man politische Regelungen für Forschung und Einsatz
von CE-Technologien finden? In Anbetracht der Zeit
mache ich es kurz: Wir leben nicht auf einer Insel, sondern auf einer schützenswerten Kugel. Wir wissen: Andere Staaten erforschen diese Technologien, die keine
Staatsgrenzen kennen. In der Arena der internationalen
Klimapolitik drängen Länder wie Russland und China
auf eine stärkere Einbeziehung der CE-Technologien.
Meine Damen und Herren, im Ergebnis sehe ich alle
drei Fragen ungenügend beantwortet, eben weil Climate
Engineering nicht ausreichend erforscht ist, weder was
die Effektivität betrifft noch was die Risiken betrifft.
Auch ethische und gesellschaftliche Implikationen sind
nicht absehbar. Hier sollten wir darum ansetzen - auf
dass die Büchse der Pandora gut bewacht bleibt.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2121 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Nicole Maisch, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freisetzung von Mikroplastik beenden
Drucksache 18/3734
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Meiwald für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen Sie sich vor, Sie essen genüsslich einen Fisch.
Der Fisch sieht gut aus, doch er hat einen komischen
Beigeschmack, einen Plastikbeigeschmack. Der Fisch ist
möglicherweise - mittlerweile sogar recht wahrscheinlich - voller Acrylate, Polyethylen und anderer Mikroplastikstoffe. Wir haben das Glück, dass die meisten dieser Stoffe im Moment diesen fiesen Beigeschmack nicht
produzieren. Das ist aber auch das einzige Glück, das
wir dabei haben. Letztlich sind diese Stoffe dort drin.
Drei Viertel des Meeresmülls besteht nach Erkenntnissen des UBA mittlerweile aus Kunststoffen. Davon
ist Mikroplastik - das ist ganz klar - nur ein kleiner Teil.
Aber Mikroplastik wird überflüssigerweise Produkten
künstlich hinzugefügt, bei denen man es eigentlich nicht
braucht. Mikroplastik wird Peelings, Shampoos und
Duschgel ganz bewusst beigemischt. Wir Grünen wollen
dies stoppen. Deswegen haben wir den Antrag eingebracht und hoffen, hier eine große Mehrheit dafür zu finden.
({0})
Die kleinen Plastikkügelchen landen am Ende des Tages in unseren Flüssen und dann im Meer. Dort
schwimmt bereits viel zu viel Plastik herum, das nicht
oder erst nach sehr langen Zeiträumen abgebaut wird ein vermeidbares Umweltproblem. Mikroplastik aus
Sonnencreme und Lippenstiften landet nach Gebrauch
im Abwasser, kann aber in unseren Kläranlagen, zumindest mit der heutigen Technologie, nur unter sehr großem Aufwand und hohen Kosten entfernt werden. Das
heißt, der größte Teil des Plastiks bleibt im Wasser, gelangt in die Flüsse und ins Meer. Der andere Teil, der abgesondert wird, landet im Klärschlamm; das ist letztlich
auch nicht besser. Auch aktuelle Untersuchungen des
AWI belegen: Wir haben hier einen großen Bedarf, etwas zu tun.
Warum? Tiere verwechseln die kleinen Plastikkügelchen mit Nahrung. Nachgewiesen ist, dass Tiere deshalb
verenden. Sie haben zwar ihr Hungergefühl bekämpft
- es ist ja etwas in ihrem Bauch -, ihnen fehlen aber die
Nährstoffe. Giftstoffe lagern sich an den kleinen Plastikpartikeln ab und gelangen dann in unsere Nahrungskette.
In Honig, Trinkwasser und Bier lassen sich diese Plastikpartikel mittlerweile nachweisen. Welche gesundheitlichen Auswirkungen das auf uns Menschen hat, ist noch
viel zu wenig erforscht.
Was unternimmt die Bundesregierung dagegen? Das
Problem ist seit einigen Jahren bekannt. Wir Grüne haben bereits im November 2012 kritische Fragen dazu gestellt und im Oktober 2014 eine Kleine Anfrage gestellt.
Das Umweltministerium hat uns darauf geantwortet,
dass Mikroplastik mittlerweile in mehr als 250 marinen
Lebewesen gefunden wurde. Einige davon werden auch
von uns gegessen. Es ist also kein Horrorszenario, sondern es ist schon Realität: Das Plastik landet am Ende
des Tages auf unseren Tellern. Trotz immer mehr Plastik
in Kosmetik und Reinigungsmitteln - das Umweltministerium nennt allein für PE eine Menge von 500 Tonnen
in Deutschland - unternimmt die Regierung zu wenig,
die Umwelt davor zu schützen.
({1})
Wir hören: Unsere Regierung führt Gespräche mit
den Herstellern. Das haben auch wir im vergangenen
Mai getan. Es ist in der Tat ganz erfreulich, dass es den
einen oder anderen Hersteller gibt, der aus dieser Technologie schon ausgestiegen ist. Aber es gibt, gerade im
Weihnachtsgeschäft, immer noch Hersteller, die neue
Produkte auf den Markt bringen, bei denen sie wiederum
mit primärem Mikroplastik arbeiten. Das heißt, offensichtlich ist Freiwilligkeit nicht ausreichend.
({2})
Wir beobachten, um es in ein einfaches Bild zu bringen, bei ganz vielen Umweltfragen immer wieder den
gleichen Effekt. Wenn wir fragen: „Who wants change?“,
dann sagen alle: „We“ oder „us“ oder „wir“ oder „wir
alle“ und „selbstverständlich“. Aber wenn man die Frage
stellt: „Who wants to change?“ - wer will wirklich etwas
verändern? -, dann wird man sehr kleinlaut. Das ist,
glaube ich, ein Teil unseres Problems, auch wenn es um
Mikroplastik geht.
Was können wir tun? Auf der EU-Ebene können wir
Initiativen ergreifen, um die Abfallgesetzgebung zu verändern, Kosmetika in die Rahmenrichtlinien aufzunehmen - Stichwort „Kreislaufwirtschaft“ - und ähnliche
Dinge. Es ist an der Zeit, zu handeln, und nicht nur zu reden.
({3})
Es ist an der Zeit, dieses sinnlose Einbringen umweltschädlicher Stoffe einfach an der Quelle zu bekämpfen,
statt uns hinterher unter Einsatz von sehr viel Geld daran
abzuarbeiten, das Mikroplastik wieder aus der Umwelt
herauszubekommen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gebhart für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sind uns sicherlich alle einig: Wir wollen
saubere Gewässer, Meere und Strände. Wir alle wollen,
dass von solchen Kunststoffabfällen, die sich nur langsam abbauen, so wenig wie möglich in der Umwelt und
im Meer landen. Das gilt selbstverständlich auch für die
kleinen, festen Kunststoffpartikel, über die wir heute
Abend diese Debatte führen. Wir sehen: Es gibt in diesem Bereich erheblichen Forschungsbedarf. Es ist gut,
dass dies erkannt ist. Es ist auch gut, dass inzwischen
von privater wie von staatlicher Seite viele Forschungsaktivitäten betrieben werden.
Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Welchen Handlungsbedarf haben wir heute? Um diese Frage sauber beantworten zu können, müssen wir zunächst einmal wissen: Woher kommen die sogenannten Mikrokunststoffe?
Was ist die Quelle dieser Mikrokunststoffe? Hier müssen
wir zwei Bereiche klar voneinander unterscheiden: Der
erste Bereich - er betrifft den weitaus kleineren Teil, die
kleinere Menge - umfasst kleine Kunststoffpartikel, die
als Bestandteil von Produkten eingesetzt werden, zum
Beispiel in Reinigungspasten im kosmetischen Bereich.
Die werden für diese Produkte gebraucht und landen
dann mit dem Abwasser in den Flüssen und zum Teil im
Meer. Das Ziel ist es, diese Kunststoffpartikel möglichst
zu ersetzen. Das Umweltministerium war hier bereits
aktiv - schon in der Zeit von Umweltminister Peter
Altmaier -, man ist ins Gespräch eingetreten mit der
Kosmetikindustrie mit dem Ziel eines Ausstiegs aus der
Verwendung dieser Stoffe im Bereich der Kosmetik.
Eine ganze Reihe von Herstellern hat erklärt, sie suchen
nach Alternativen. Andere haben erklärt, sie werden umstellen. Wiederum andere haben erklärt, sie haben umgestellt. Auch ist bekannt geworden: In unserer Zahnpasta
sind diese Mikrokunststoffe nicht mehr drin. Sie können
also, meine Damen und Herren, mit gutem Gewissen
weiterhin regelmäßig Ihre Zähne putzen.
({0})
Aber im Ernst: Tatsächlich sind wir viel weiter, als dieser Grünenantrag den Anschein erweckt.
({1})
Meine Damen und Herren, ich komme zurück zu der
Frage: Woher kommen diese Mikrokunststoffe in der
Umwelt, im Meer, was ist die Quelle? Ich habe einen
Bereich genannt; dieser Bereich ist für den weitaus kleineren Teil verantwortlich. Kommen wir also zu dem
zweiten Bereich, der für den weitaus größeren Teil verantwortlich ist: Das sind Abfälle, die unsachgemäß entsorgt werden und über Umwege dann zum Teil im Meer
landen. Mit der Zeit entstehen aus diesen größeren
Kunststoffteilen kleinere und kleinste Kunststoffteile.
Darüber trifft dieser Grünenantrag überhaupt keine Aussage.
({2})
Das verwundert total; denn natürlich gehört das in die
Debatte hinein.
Deswegen will ich wenigstens an dieser Stelle zwei
Punkte dazu sagen: Erstens. Wir brauchen effektiv funktionierende Abfallwirtschaftssysteme, und zwar nicht
nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und möglichst über Europa hinaus, weltweit.
({3})
Wir haben in Deutschland ein funktionierendes Abfallwirtschaftssystem.
({4})
Wir brauchen uns an dieser Stelle überhaupt nicht zu
verstecken. Dennoch wollen wir dieses Abfallwirtschaftssystem weiterentwickeln, wir wollen es noch besser machen.
Das führt mich zu dem zweiten Punkt: Wir haben uns
aufgemacht, ein neues Wertstoffgesetz hier in Deutschland auf den Weg zu bringen und umzusetzen. Wir wollen noch stärker als heute Abfälle vermeiden.
({5})
Wir wollen Kreisläufe besser schließen, mehr Recycling,
besseres Recycling. Wir wollen über Technologie, über
Innovation neue Verfahren, neue Produkte anreizen. Wir
wollen mehr Produktverantwortung nach dem marktwirtschaftlichen Prinzip, dass die Hersteller Verantwortung für den gesamten Lebensweg ihres Produktes übernehmen. Meine Damen und Herren, dafür steht die
Union: soziale Marktwirtschaft und Umweltschutz vernünftig miteinander zusammenbringen, in Einklang
bringen. Ich kann mich nur wundern, dass die Grünen
diesen Punkt völlig ignorieren
({6})
und dass das bei Ihnen überhaupt keine Rolle spielt.
({7})
Hier müssen wir ansetzen, das ist eine echte Herausforderung, aber auch eine Riesenchance; dann kommen wir
langfristig wirklich voran.
Herzlichen Dank.
({8})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen Sie sich vor, dieser Plenarsaal bis zur Kuppel komplett gefüllt mit Plastikmüll, und dann multiplizieren Sie
das mit 24: Das allein ist die Menge Plastikmüll, die
Schätzungen zufolge in der Nordsee treibt: 600 000 Kubikmeter. Dieser Müll wird kleingerieben, zerfetzt und
landet als Mikroplastikpartikel in der maritimen Nahrungskette, also in Fischen usw. Hinzu kommen tonnenweise Mikroplastikpartikel, Kosmetika, die über geklärte
Abwässer in Flüssen landen und in die Meere fließen.
Wenn Tiere diese Mikroplastikkügelchen aus Kosmetika und die Kleinstplastikteile aus Müll in sich aufnehmen, führt dies zu entzündlichen Veränderungen. Denn
Mikroplastik kann toxische, krebserregende und hormonverändernde Substanzen enthalten, in sich aufnehmen und an seiner Oberfläche anlagern, allen voran
Weichmacher, Kohlenwasserstoffe, Flammschutzmittel
und Insektizide. Alles das befindet sich wie gesagt in der
Nahrungskette und landet auch wieder auf dem Teller
oder in den Mägen von Meerestieren. Wer einen Vogel,
der solche Nahrung hatte, schon einmal auf einem Foto
gesehen hat, der weiß, worum es da geht. Aber es ist ein
jahrzehntelanges Prinzip: Probleme, die man nicht sehen
kann, werden so lange ignoriert, bis sie existenziell oder
irreversibel werden.
Mikroplastikpartikel in Kosmetika? Was haben die da
eigentlich zu suchen? Als Schleifmittel, Füllstoffe oder
Filmbildner gibt es seit geraumer Zeit ökologisch unbedenkliche Alternativen, und die gibt es schon lange.
Trotzdem werden sie weiter verwendet, weil das eben
wieder billiger ist.
Bei den großen Kosmetikkonzernen findet halt nur
allmählich ein Umdenken statt. Das beruht weniger auf
Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Umwelt als
vielmehr auf der Angst vor Boykottaufrufen gegen ihre
Produkte. Ich habe den Eindruck: Nur das hilft überhaupt. Es ist nämlich erst Umweltorganisationen und
Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern zu
verdanken, dass es bei den Kosmetikherstellern allmählich zu einem Umdenken kommt. Da frage ich mich halt,
warum dieses Problem wieder einmal nur über die Freiwilligkeit der Konzerne gelöst werden soll.
Ich meine, es muss Verbote geben. Wir wissen das.
Ich kann mich erinnern, vor zwanzig Jahren haben wir
hier die Debatte über hormonelle Einträge ins Grundwasser gehabt. Da ist auch nur über Freiwilligkeit gesprochen worden. Sehr viel passiert ist bis jetzt nicht.
Also, da müssen wir eben Boykottaufrufe machen.
({0})
Während die Verbraucherinnen und Verbraucher aufgefordert sind, nur Kosmetika zu kaufen, in denen kein
Polyethylen oder Polypropylen oder andere Kunststoffe
enthalten sind, wäre das Problem - ich sage es noch einmal - ordnungsrechtlich wirklich lösbar. Denn man kann
Dinge wirklich per Gesetz verbieten, dafür sind wir doch
eigentlich auch gewählt worden. Das sagen uns unsere
Wähler. Über alle Parteien hinweg wollen die das. Wir
sagen: Wir wollen dieses Verbot, wir unterstützen euren
Antrag.
Wenn Herr Gebhart sagt, das sei zu wenig, dann sage
ich: Dann legt doch etwas anderes vor!
({1})
Ich glaube, dafür gibt es sicherlich Mehrheiten, für Plastiktütenverbot und so weiter. Da immer zu sagen: „Ja, da
müssen wir auf Europa schauen, auf die Welt schauen“
und so weiter, immer zu warten, bis die anderen etwas
machen, damit werden wir unserer Verantwortung, die
wir haben, nicht gerecht. Dieser Verantwortung müssen
wir jedoch wirklich gerecht werden.
({2})
Unsere Wählerinnen und Wähler erwarten das.
Glauben Sie mir, ich kenne viele CSU-Wähler, die
das genauso wollen wie die Linken-, die Grünen- und
die Sozi-Wähler.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege - Entschuldigung -, die Kollegin Ulli Nissen das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin, das „Ulli“ irritiert immer wieder. Ich fand es immer spannend, wenn ich Post
mit „Herrn Ulli Nissen, Bankkauffrau“ bekommen habe;
denn dabei war ja besonders viel nachgedacht worden.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal einen herzlichen Dank an die
Grünen für ihren Antrag. Es ist gut, dass wir dieses
Thema heute debattieren. Das Thema hat es zwar nicht
in die Kernzeit geschafft, aber immerhin haben wir Zeit,
heute den Antrag „Freisetzung von Mikroplastik beenden“ zu besprechen. Ich fand es auch wirklich sehr interessant: Ich habe mich gestern Abend, als es so doll geregnet hat, doch entschlossen, mit dem Taxi nach Hause
zu fahren und nicht mit dem Fahrrad. Ich habe dem Taxifahrer gesagt, wozu ich heute rede. Da hat er gesagt: Oh,
darf ich überhaupt noch Fleecejacken tragen? - Denn
auch das ist ja ein Problem. Ich fand es wirklich sehr
spannend, wie viele Menschen bei diesem Thema schon
sensibilisiert sind. Deshalb ist es gut, dass wir darüber
reden.
Was ist denn überhaupt Mikroplastik? Plastik in
Makroform, also große Plastiktüten, sind uns bekannt,
auch die damit verbundenen Probleme. Plastiktüten,
Kunststoffflaschen und -verpackungen sind sichtbar. Im
Gegensatz dazu ist Mikroplastik kaum zu erkennen. Das
sind winzige Kunststoffpartikel, kleine Kunststoffkügelchen, Kunststofffasern, die kleiner als 5 Millimeter
sind. Das sind so kleine Teile, dass wir oft gar nicht
wissen, wo sie verwendet werden und - vor allem was für Folgen sie haben. Auch meine Kollegen haben
gesagt, als wir darüber gesprochen haben: Uff, wusste
ich gar nicht.
Diese kleinen Teilchen werden beispielsweise in Kosmetik- und Körperpflegeprodukten verwendet, also Dingen des täglichen Gebrauchs. Sie befinden sich in Haarshampoos, Spülungen, Duschgels und auch in
dekorativer Kosmetik. Wenn wir uns also die Haare waschen oder duschen, dann spülen wir die Inhaltsstoffe
und damit auch die kleinen Plastikteilchen ab. So gelangen sie in den Abfluss und eben auch in den Wasserkreislauf. Dieses Problem sehen wir wirklich auch.
Die meisten Kläranlagen haben keine Filter, die diese
kleinen Partikel zurückhalten könnten. Das heißt, dass
die Teilchen, wie schon gesagt, in die Flüsse und am
Ende in die Meere gelangen. Das bedeutet - wie für so
viel Plastikmüll -: Endstation Meer, Endstation auf der
größten Müllkippe der Welt.
Je kleiner die Plastikteile sind, desto eher gelangen sie
in die Nahrungskette. Der Fisch ist schon angesprochen
worden, und ich denke, auf solche Fische haben wir alle
keinen Appetit. Sie sind aber auch in Seehunden und in
Muscheln nachgewiesen worden. Welche Folgen das alles haben wird, ist noch gar nicht endgültig erforscht.
Wir müssen aber auch beachten, dass es sowohl primäre Mikroplastik - das sind die kleinen Teile, die in
Reinigungs- und Körperpflegeprodukten aktiv zugesetzt
werden - als auch sekundäre Mikroplastik - das ist ganz
wichtig, Herr Meiwald - gibt, die durch Abrieb und auch
bei der Zersetzung und dem Zerfall von Makroplastik
entsteht. Die Auswirkungen sind aber die gleichen. Ich
denke, deshalb sind wir uns alle einig: Mikroplastik ist
ein Problem.
In Ihrem Antrag geht es aber eben nur um die Reduzierung von Mikroplastik in Reinigungs- und Kosmetikprodukten. Das ist mir zu wenig.
In Bezug auf die Reduzierung von Mikroplastik in
Kosmetik sehe ich allerdings schon Erfolge. Es ist schon
angesprochen worden, dass es diverse Unternehmen
gibt, die darauf verzichten. dm und Rossmann sagen
zum Beispiel, dass sie das in ihren eigenen Produkten
nicht mehr wollen, und die sind auch gut. Sie sagen
auch: Wir machen keine Tierversuche. Diese Dinge können wir also durchaus annehmen.
Ich bin dem BUND sehr dankbar dafür, dass er eine
klare Negativliste aufgestellt hat, die man sich im Internet anschauen kann. Ich fordere Sie alle auf: Gucken Sie
einmal nach. Ich denke, auch die lieben Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen und von den Linken werden
noch zig Produkte zu Hause haben, die entsprechende
Inhaltsstoffe haben.
({0})
Ich sage es ganz deutlich: Mir wäre der freiwillige
Verzicht natürlich am liebsten, und es ist gut, dass das
BMUB Gespräche mit den Herstellern und den Verbänden führt. Ich mache hier aber eine ganz klare Ansage:
Wenn nicht umgehend etwas passiert, dann bin ich für
eine gesetzliche Regelung.
Mikroplastik in Kosmetikprodukten ist aber nur ein
kleiner Teil dieser Gesamtproblematik, und ich möchte
nicht, dass wir dabei das große Ganze aus den Augen
verlieren. Wir müssen natürlich lokal handeln, wo wir
können, aber die Vermüllung der Meere geschieht nicht
allein durch die Mikroplastik. Die Makroplastik ist ein
sehr viel größeres Problem. Deshalb müssen wir das
auch zusammen behandeln.
Wenn ich die Zahlen betrachte, dann sehe ich eine
deutliche Relation. Wir sprechen von jährlich 500 Tonnen Mikroplastik in Deutschland, die durch Kosmetikprodukte auf den Markt kommen. Was ist aber mit der
Mikroplastik, die in der Industrie eingesetzt wird? Die
Einsatzmenge von Mikropartikeln in Kunststoffwachsen
zum Beispiel wird auf ungefähr 100 000 Tonnen geschätzt. Das ist das 200-Fache. Deshalb steht mir in Ihrem Antrag an dieser Stelle zu wenig.
({1})
- Ich kann Ihnen sagen: Ich werde mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU zusammensetzen, und wir werden Ihnen einen Entwurf vorlegen.
({2})
Auf 100 Millionen Tonnen wird der Meeresmüll geschätzt. 75 Prozent davon sind Kunststoffe, und jährlich
kommen 6,4 Millionen Tonnen dazu. Das muss uns allen
klar sein. Hier müssen wir wirklich dringend handeln,
und ich freue mich darauf, dass wir Ihnen, wie ich
denke, in Bälde etwas dazu vorlegen werden.
Das Umweltbundesamt wird in Kürze eine Studie
dazu vorlegen. Ich denke, auch das werden wir nutzen,
um daraus etwas zu machen.
({3})
Für uns gehört auch die EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie dazu. Sie soll bis 2020 umgesetzt werden. Mir
wäre es lieb, wenn wir dies noch deutlich schneller
schaffen würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns der
Problematik bewusst und gehen sie auch an. Ihr Antrag
war auf jeden Fall ein guter Anlass, einen weiteren Aufschlag zu machen. Es hilft der Sache aber nicht weiter,
wenn wir uns auf einen Teilaspekt konzentrieren und lediglich eine einzelne Branche herausgreifen.
({4})
- Ich habe Ihnen ja zugesagt, dass etwas kommt.
({5})
Ich bin Ihnen aber wirklich dankbar, dass Sie das zum
Thema gemacht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen kein
kleines Plastik und kein großes Plastik im Meer. Wir
wollen dort Plastik überhaupt nicht mehr haben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf eine gute Zusammenarbeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Josef Göppel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Mikroplastik berührt und beschäftigt inzwischen Millionen
Menschen in Deutschland. Ich denke, wir sind jetzt an
einem Punkt, an dem wir uns an der Bekämpfung des
Ozons in der Atmosphäre ein Beispiel nehmen müssen.
Ich kann mich als einer der Älteren hier in der Runde
noch gut daran erinnern, wie diskutiert wurde: Muss
denn da hoheitlich vorgegangen werden? Ab einem bestimmten Moment hat man dann gemerkt: Ohne ein hoheitliches Vorgehen geht es nicht.
({0})
Ich meine, die Gesundheitsgefahren für die Menschen, für die Lebewelt und für unsere gesamte Biosphäre liegen so klar auf der Hand, dass wir hier eine Alternative finden müssen. Ich möchte konkret etwas
vorschlagen. Wir beraten zurzeit das Wertstoffgesetz,
und der entsprechende Gesetzentwurf soll noch in dieser
Legislaturperiode verabschiedet werden. Da ist noch ein
bisschen Zeit für freiwilliges Handeln. Frau Staatssekretärin, ich erwarte namens der Union, dass die Gespräche
mit den Herstellern in der Richtung mit Nachdruck fortgeführt werden, dass das Parlament dann eventuell Regelungen hierzu im Wertstoffgesetz verankert.
Das betrifft zu einem noch größeren Teil - das wurde
hier schon mehrfach angesprochen - die Plastiktüten.
Von den 76 Plastiktüten, die ein Deutscher im Jahr verwendet, sind 64 Tüten Tragetaschen. All die Leute, die
sich darüber empören, vergessen oft, zum Einkaufen
eine eigene Tasche mitzunehmen.
({1})
Also, das Handeln ist im Leben eben sehr viel schwerer
als die Erkenntnis.
Deswegen brauchen wir da eine gewisse Richtschnur.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal das
Wertstoffgesetz ansprechen. Man könnte sagen: Wenn
wir es nicht schaffen, dass kein Geschäft mehr eine Tüte
kostenlos abgibt, dann müssen wir im Wertstoffgesetz
die Regelung für eine Abgabe verankern.
({2})
Ich habe gar nichts dagegen, wenn die Geschäfte das
freiwillig machen; dieses Geld dürfen sie behalten. Aber
ich habe erst jetzt wieder in Berlin beim Einkaufen von
Lebensmitteln jemanden an der Kasse vor mir ohne Tasche gesehen. Als die Kassiererin sagte: „Eine Tasche
kostet 20 Cent“, hat dieser Mensch geantwortet: „Ich
brauche sie nicht.“
Eine solche Abgabe von 20 Cent haben zum Beispiel
die Iren eingeführt. Das hat dazu geführt, dass die Zahl
von 328 Tüten pro Einwohner auf 16 Tüten pro Einwohner im Jahr gesunken ist. Übrigens sind in der Debatte ja
schon andere Länder dieser Welt angesprochen worden.
Hier ist Ruanda zu nennen, das uns in diesem Bereich
beschämt: Ruanda hat Plastiktüten verboten.
Mir ist das vor kurzem richtig deutlich geworden, als
eine kirchliche Jugendgruppe aus meinem Wahlkreis aus
Ruanda zurückkam und die Jugendlichen gesagt haben:
In der ganzen Hauptstadt fliegt keine einzige Plastiktüte
auf den Straßen herum. - Das haben die jungen Leute
gemerkt. Ich denke, wir müssen auf jeden Fall in Aussicht stellen, im Rahmen des Wertstoffgesetzes zu handeln.
Ich darf abschließend das Thema Pfand erwähnen. Es
gehört auch dazu, dass wir die Ausnahmen beim Pfand,
also Fruchtsäfte, Nektare und milchhaltige Produkte, zurückführen.
({3})
Weil ich jetzt die Grünen so schön im Auge habe,
({4})
darf ich daran erinnern, dass 2003 der Freistaat Bayern
unter der Regierung von Edmund Stoiber der Einführung
des Pfandes mit der ausschließlichen Begründung zugestimmt hat: Wir wollen weniger Weggeworfenes in der
Landschaft.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3734 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2015,
9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute. Danke für die Zusammenarbeit in den
letzten anderthalb Stunden bei diesen letzten sehr lebensnahen Themen.