Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 80. Plenarsitzung und rufe gleich die
Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 d auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Bildungsbericht - Bildung in
Deutschland 2014
und
Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksache 18/2990
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Bildung in Deutschland gemeinsam voranbringen, Lehren aus dem Nationalen Bildungsbericht 2014 ziehen, Chancen der Inklusion nutzen
Drucksache 18/3546
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildung schafft Teilhabe und Chancengleichheit - Empfehlungen des Nationalen Bildungsberichts 2014 zügig umsetzen
Drucksache 18/3412
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Sabine
Zimmermann ({3}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Bildungsverantwortung gemeinsam wahrnehmen - Konsequenzen aus dem Bildungsbericht ziehen
Drucksache 18/3728
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es
offenkundig keinen Dissens. Dann können wir so verfahren.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Frau Professor Wanka.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Deutschland ist mittlerweile ein
Land, in dem Bildung großgeschrieben wird. Deutschland ist eine Bildungsrepublik. Die massiven Investitionen der letzten Jahre, sowohl an Geld als auch an Ideen,
in den Bereich der Bildung haben sich ausgezahlt. Das
ist kein Verdienst, mit dem wir uns allein schmücken
können, sondern das ist eine gemeinsame Anstrengung
des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Sozialpartner, aber vor allen Dingen der Lehrerinnen und Lehrer
und der Erzieherinnen und Erzieher, die hervorragende
Arbeit leisten.
({0})
Wenn man sich den Bericht anschaut, dann erkennt
man die zeitliche Entwicklung. Das Entscheidende an
dem Bericht ist ja, dass seit 2006 Daten zu denselben Indikatoren erhoben werden. Damit gibt es in Deutschland
endlich einmal eine Längsschnittbetrachtung, also eine
Darstellung der Entwicklung im Zeitverlauf. Dieser Bildungsbericht zeigt die positive Entwicklung auf. Wenn
ich in die Anträge schaue, dann stelle ich fest, dass die
grüne Fraktion sagt: „Ja, positive Entwicklung, aber zu
gering und zu langsam“, und die linke Fraktion sagt: Nur
leichte Fortschritte erkennbar. - Nein, meine Damen und
Herren, es sind große Steigerungen erkennbar.
Ich will einmal einige wenige Punkte herausgreifen.
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die
Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, lag einmal
bei 8 oder 9 Prozent. Ich erinnere mich noch, dass dieser
Anteil ursprünglich sogar bei 12 Prozent lag. Jetzt liegt
er bei 5,9 Prozent. Diese Zahl umfasst auch diejenigen,
die eine Förderschule besuchen, was nicht als Abschluss
gerechnet wird. Natürlich wollen wir eine weitere Senkung, aber hinter dem jetzt erreichten Ergebnis steckt
bereits eine enorme Anstrengung.
Nehmen wir den Übergangsbereich: Jahrelang hatten
wir - Sie hier im Bundestag; wir in allen Landtagen darüber diskutiert, dass sich immer mehr junge Menschen in diesem Übergangsbereich, also in Warteschleifen, befinden. Zum ersten Mal in den letzten Jahren hat
sich die Zahl der jungen Menschen in diesem Übergangsbereich verringert. 2013 - das steht in diesem Bericht - wurde ein absoluter Tiefstand erreicht. Trotzdem
muss noch viel getan werden; das ist völlig unstrittig.
Auch über die Studienanfängerquote wird viel diskutiert. Sie liegt bei über 50 Prozent, wobei - kleiner Nebensatz - bei dieser Studienanfängerquote auch alle ausländischen Studierenden erfasst werden. Es sind also
nicht über 50 Prozent eines Altersjahrgangs, die hier leben und die ein Studium beginnen, sondern es werden
auch alle ausländischen Studierenden hinzugerechnet.
Im Moment gibt es einen riesigen Run aus dem Ausland.
Wir sind in einer Spitzenposition, was die Zahl ausländischer Studierender betrifft. Was mich besonders freut,
ist, dass wir auch in den MINT-Fächern einen Zuwachs
an Studierenden zu verzeichnen haben, und da ist ein
überproportionaler Zuwachs des Anteils von jungen
Frauen festzustellen, vor allem dann - das wundert uns
nicht -, wenn es um die Abschlüsse geht.
Stichwort Weiterbildungsangebote. Dieser Bericht
macht deutlich: Seit 15 Jahren haben erstmals 49 Prozent der 16- bis 64-Jährigen an einer Weiterbildung teilgenommen.
Viel diskutiert wurde auch der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für die unter Dreijährigen. Das Fazit des Bildungsberichts lautet, dass dieser Rechtsanspruch umgesetzt wurde und dass ein bedarfsgerechtes
Angebot an Betreuungsplätzen vorhanden ist. Wenn ich
mir einmal die Studien ansehe, dann bin ich immer wieder verblüfft, dass in Deutschland 96 Prozent aller Kinder, die vier Jahre alt sind, in eine Betreuungseinrichtung
gehen. Das vermutet man gar nicht; denn im OECDDurchschnitt sind es 82 Prozent. In diesem Bereich hat
Deutschland in den letzten Jahren eine enorme Veränderung erfahren.
Der Bericht zeigt noch etwas anderes sehr deutlich. In
dem Bericht steht - das möchte ich zitieren -, dass im
Zusammenhang mit dem Ausbau „keine Abstriche bei
der Qualifikation des in Kindestageseinrichtungen tätigen pädagogischen Personals oder den Personalschlüsseln erkennbar sind“.
Dieser kleine Ausschnitt - wir werden noch andere
Zahlen hören - zeigt, dass es richtig war, dass sich die
Bundeskanzlerin zusammen mit den Ministerpräsidenten
auf dem Bildungsgipfel 2008 konkrete Zahlenziele gesetzt hat, auch wenn das immer ein bisschen gefährlich
ist. Wir gehen in die richtige Richtung. Auf dem Bildungsgipfel wurde vereinbart, dass man die Ziele bis
2015 erreichen will. Das heißt, der Bildungsbericht, der
uns 2016 vorliegen wird, wird zeigen, ob wir die Ziele
erreicht haben und wo wir stehen. Ich glaube, es kommt
nicht so sehr darauf an, jedes Ziel zu erreichen. Ich
kenne keinen Gipfel, egal zu welchem Thema, auf dem
so viel geschafft wurde wie im Zusammenhang mit dem
Bildungsgipfel.
({1})
Anders als die Grünen das in ihrem Antrag formulieren, ist Aufstieg durch Bildung kein „uneingelöstes Versprechen“. Schauen Sie sich einmal an, wo wir hinsichtlich der sozialen Mobilität im internationalen Vergleich
liegen: Im Vergleich mit vergleichbaren Ländern sind
wir unter den Besten.
Wenn Sie diese Zahlen hören, denken Sie vielleicht,
dass wir sehr selbstzufrieden sind. Selbstzufriedenheit
wäre falsch, aber ich denke, dass man sich auch in der
Politik einmal freuen kann. Man kann sagen: „Es ist etwas geschafft worden“, ohne dabei zu verkennen, dass
noch eine Wegstrecke vor uns liegt und noch ganz viel
zu tun ist.
({2})
Zentrales Anliegen ist natürlich die Verbesserung der
Bildungschancen und der Teilhabechancen für alle Kinder und Jugendlichen. Ein guter Start ins Leben ist wichtig. Dieser Bereich ist aber auch mit Blick auf das
Thema Integration außerordentlich wichtig. Wenn man
sich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund anschaut, stellt man fest, dass laut
PISA-Studien diese Gruppe zwischen 2003 und 2012 einen Kompetenzzuwachs von 24 Punkten verzeichnen
konnte. Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund konnten während desselben Zeitraums einen
Kompetenzzuwachs von 3,6 Punkten verzeichnen. Das
heißt, dass sich in diesem Bereich Anstrengungen auszahlen und die jungen Leute motiviert sind. Wir können
also sagen: Die jungen Leute mit Migrationshintergrund
holen auf,
({3})
auch wenn sie noch nicht das Niveau erreicht haben, das
wir uns wünschen. Dass man aufseiten der Linken in
diesem Zusammenhang von einer „hohen Ausgrenzung
von Lernenden mit Zuwanderungshintergrund“ spricht,
kann ich nicht verstehen; denn dafür gibt es überhaupt
keine Belege
({4})
in dem dicken Bildungsbericht, im Gegenteil.
({5})
Entscheidend ist die Sprachförderung. Diesbezüglich
wird in den Ländern viel gemacht. 2013 haben wir das
Programm BISS, Bildung durch Sprache und Schrift,
aufgelegt. Es kommt da darauf an, dass die Millionen,
die auch von den Ländern zur Verfügung gestellt werden, effektiv eingesetzt werden. Das passiert aber an vielen Stellen nicht. Man muss gemeinsam mit den Ländern
die Wirksamkeit dieses Programms überprüfen und
Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Meine Damen und Herren, was soll in den nächsten
Jahren wichtig sein? Entscheidend ist, dass die Qualität
von Bildungsprozessen verbessert wird. Die zentralen
Figuren in Bildungsprozessen sind natürlich die Erzieherinnen und Erzieher sowie die Lehrerinnen und Lehrer.
Zur Verbesserung der Qualität der frühen Bildung unterstützt unser Ministerium die Weiterbildungsinitiative
Frühpädagogische Fachkräfte. Sie sollte eigentlich bis
2014 laufen, wurde aber verlängert, erst einmal bis 2018.
Ich habe mich gefreut, dass die Linken sagen, dass diese
Weiterbildungsinitiative einen Vorbildcharakter hat.
({6})
- Ja, das kann man auch einmal sagen.
Ärgerlich ist aber, dass in Ihrem Antrag behauptet
wird, wir würden eigentlich nicht viel machen und es
würde alles nur ein bisschen weiterentwickelt. Als Beispiel führen Sie die Bildungsketten an. An dieser Stelle
kriege ich wirklich Zustände.
({7})
- Ja.
({8})
Bildungsketten bedeuten - das habe ich hier schon einmal erläutert -: siebente, achte Klasse, Potenzialanalyse,
individuelle Ansprache, dann Entscheidung für Berufe,
Berufseinstiegsbegleitung etc. Ich habe bei all meinen
Besuchen in unterschiedlichsten Einrichtungen, auch
schon als Landesministerin, von den Lehrern, von den
Erziehern, von den betreffenden Jugendlichen und von
den Eltern nur Positives gehört. Das funktioniert. Aber:
Modellversuche sind das eine, wichtig ist, dass die
Dinge auch einmal im großen Maßstab, in der Fläche
funktionieren.
({9})
Da entwickeln wir nicht nur ein bisschen weiter, sondern Frau Nahles und ich haben uns darauf verständigt,
dass in den nächsten Jahren 1 Milliarde Euro für diesen
Bereich ausgegeben wird. So können wir 500 000 Jugendliche erreichen; bei der Berufseinstiegsbegleitung
sind es über 100 000. Das gab es noch nie. Wir brauchen
nicht alle fünf Minuten einen neuen Vorschlag, ein neues
Modell, sondern das, was funktioniert, muss in der Fläche verstärkt angewendet werden.
({10})
Wir wissen, dass wir im Bereich der dualen Ausbildung Probleme haben. Wir müssen die Attraktivität erhöhen. Es geht vor allen Dingen um die Passgenauigkeit,
also darum, dass jeder den für sich geeigneten Beruf findet. Wir können es uns nicht mehr erlauben, dass wie
noch vor Jahren nur mit Abitur eingestellt wird und Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss keine Chance haben. Das ist aber auch in der
Wirtschaft angekommen. Wir haben uns im Ministerium
überlegt, wie man jetzt dort das Rad ein Stück weiterdrehen kann, und haben dann alles, was uns eingefallen ist,
und auch die Vorschläge, die von den Regierungsfraktionen gekommen sind, in das große Paket „Chance Beruf“
gepackt. Es soll dafür sorgen, dass wir mit unserer dualen Ausbildung nicht nur international wertgeschätzt
werden, sondern dass auch genügend junge Leute eine
duale Ausbildung machen.
({11})
Das Thema Weiterbildung habe ich bereits genannt.
49 Prozent sind eine gute Zahl. Wir haben beim Bund Instrumente, um Weiterbildung individuell zu befördern,
zum Beispiel die Weiterbildungsprämie. Dieses Instrument haben wir jetzt evaluiert, um zu schauen, wer es
nutzt. Das Ergebnis ist sehr schön. Diese Weiterbildungsprämie wird entgegen dem sonstigen Trend in der
Weiterbildung gerade von denen genutzt, die wir sonst
nicht erreichen, die aus finanziellen Gründen oder weil
sie bildungsfern sind nicht in Weiterbildung gehen. Deswegen ist dieses Instrument so wichtig. Wir haben seit
dem 1. Januar einen Telefonservice freigeschaltet, damit
in dem großen Bereich der Weiterbildung gute Informationen für jeden Bürger bereitgestellt werden, damit sich
jeder zurechtfindet und die Möglichkeiten nutzen kann.
Noch ein paar weitere Stichpunkte. Über den Hochschulpakt haben wir schon öfter gesprochen. Ich muss
hier nicht noch einmal die Milliarden, die investiert werden, und all die anderen Punkte nennen. Aber zwei Sachen sind mir wichtig. Der Hochschulpakt ist aus meiner
Sicht die größte Leistung in der Bundesrepublik Deutschland für die Bewältigung der demografischen Entwicklung. Zweitens ist es ein Rieseninstrument für Chancengerechtigkeit. Ohne den Hochschulpakt hätten die
jungen Leute, die in den Jahren von 2005 bis 2020
18 geworden sind bzw. werden, geringere Chancen. Wir
haben dafür gesorgt, dass sie genau die Chancen haben
wie die jugendlichen Generationen vor ihnen. Gerade
Chancengerechtigkeit ist mir ein wichtiges Thema. Aber
es geht nicht nur um Quantitäten, sondern auch um die
Qualität. Ich denke hier an den Qualitätspakt Lehre und
anderes.
({12})
Es gibt keinen Königsweg, aber die Durchlässigkeit
zwischen den unterschiedlichen Bildungsgängen wird
verbessert. Ich denke zum Beispiel an berufliche Bildung, Studieren mit beruflicher Qualifikation und an
Studienabbrecher, die in Meisterberufe oder andere Ausbildungen wechseln. In einem Ihrer Anträge las ich: Na
ja, da gibt es ANKOM und Bundesprojekte. Das betrifft
20 Hochschulen, an denen der Bund Maßnahmen gefördert habe. - Erst einmal muss ich sagen, dass es um viel
Geld geht. Die TU Braunschweig beispielsweise bekommt 8 Millionen Euro; das ist eine beachtliche
Summe.
Es geht aber nicht darum, ein einzelnes Modell zu haben. Wir haben uns im letzten Jahr auf einer Konferenz
damit befasst. Die Oldenburger Uni hatte die Förderung
für ein Projekt bekommen - hier wurden wichtige Ergebnisse erzielt -, bei dem es um die Anrechenbarkeit
ging: Was ist denn ein IHK-Abschluss in unterschiedlichen Studiengängen an Credits wert? Die Ergebnisse
gelten natürlich nicht nur für Oldenburg oder Umgebung, sondern sie sind - das wurde bei der Tagung deutlich - auch für andere interessant und verwendbar. Das
ist deswegen wichtig, weil es das ist, was wir als Bund
oft machen, was wir können: Initiativwirkung. Natürlich
spielt Geld auch eine Rolle; es fließen Millionen. Aber
damit wird auch eine Anregung gegeben, die weit über
das hinausgeht, was vielleicht ein einzelnes Bundesland
macht.
Im Bildungsbericht gibt es immer ein Schwerpunktkapitel. Diesmal geht es um die Situation von Menschen
mit Behinderung. Die Analyse, die dort vorgelegt wird,
ist einzigartig. So etwas gab es noch nicht. Es wird analysiert, wie die Situation von Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland im frühkindlichen Bereich, im Studium usw. ist. Sonst haben wir
immer nur partiell Zahlen und Daten. Es ist auch ein
Sinn des Bildungsberichts, im Schwerpunktkapitel ein
Thema flächendeckend ganz genau zu untersuchen. Im
nächsten Bildungsbericht wird der Schwerpunkt auf
Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere im
Bildungsprozess, liegen.
Wenn man sich das Kapitel im aktuellen Bericht bezüglich der Inklusion der Menschen mit Behinderung
- es geht natürlich um mehr - durchliest, dann muss man
sagen: Ich war sehr erfreut über die Einschätzung, dass
es ein hochdifferenziertes ausgebautes System im rechtlichen und im sozialen Sinn für Menschen mit Behinderung gibt. Aber was die Abstimmung zwischen den einzelnen Bildungsbereichen angeht, funktioniert es nicht.
Wir haben es manchmal falsch gemacht und etwas in
Deutschland eingeführt, nur weil wir gesehen haben,
dass es in Großbritannien oder in Asien gut funktioniert,
ohne dabei die gewachsene historische Situation in
Deutschland zu berücksichtigen. Man kann aus dem Bildungsbericht herauslesen - das finde ich gut -: Wir haben in Deutschland ein System der Förderschulen, wir
haben geschützte Werkstätten, und wir wollen Inklusion.
Wir müssen zwar Änderungen vornehmen. Wir dürfen
dies aber nicht tun, indem wir einfach die Rezepte von
woanders übernehmen. Vielmehr müssen wir uns fragen:
Wie können wir im Rahmen unseres gewachsenen Systems klug - und nicht vor allen Dingen schnell - für Inklusion sorgen? Weil wir nicht einfach die Rezepte von
woanders übernehmen können, besteht hier viel Forschungsbedarf.
Wir starten in diesem Jahr das Forschungsförderprogramm „Inklusion im Bildungssystem“, das sehr breit
angelegt ist.
({13})
Daraus werden sich Empfehlungen für konkrete Maßnahmen ergeben. 70 Prozent aller Grundschullehrer sagen laut Bildungsbericht, dass sie sich nicht gerüstet fühlen. Sie brauchen in diesem Bereich Kompetenzen, zum
Beispiel Diagnostikmöglichkeiten. Diese werden wir effektiv auf der Basis der Forschungsergebnisse entwickeln. Ich glaube, dass es auch im Hinblick auf die
„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“, die schon läuft,
Möglichkeiten gibt, diese Dinge im Rahmen der Lehrerbildung schon jetzt zu verankern oder zu erproben.
({14})
Wir haben große Fortschritte gemacht. Wir müssen
aber immer daran denken: Es dauert lange, bis Fortschritte im Bildungsbereich ihren Niederschlag finden.
Änderungen, die man heute vornimmt, zeigen vielleicht
erst in 15 Jahren ihre Wirkung. Das heißt, das wird nicht
fix gehen. Man braucht also einen langen Atem, und
man braucht lange Zeit Geld. Die Bildungsfinanzierung
muss auf hohem Niveau fortgesetzt werden.
Meine letzte Bemerkung. Heute ist der 16. Januar
2015. Das heißt, seit 16 Tagen liegt auf dem Tisch der
Länder ein schönes Geldpaket; ich meine die BAföGMittel. Mit diesem Geld können sie das, was von einzelnen Rednern, wie ich annehme, nachher bestimmt gefordert wird, machen. Sie können, wenn sie es wollen,
Schulsozialarbeiter, Personal für Ganztagsschulen, Juniorprofessoren, Professoren, Laboringenieure und weiteres Personal für Hochschulen einstellen. Das ist Geld,
das dauerhaft zur Verfügung steht, und zwar für Dauerstellen; so etwas gab es noch nie, jedenfalls nicht, solange ich mich erinnern kann. Diese Mittel müssen
natürlich genutzt werden; denn es war eine große Kraftanstrengung, sie zur Verfügung zu stellen.
({15})
Wir haben die Weichen richtig gestellt. Aber es gibt
noch viel zu tun.
Danke.
({16})
Das Wort hat nun die Kollegin Rosemarie Hein für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
fünfte nationale Bildungsbericht gibt erneut Anlass, den
Zustand des Bildungssystems in Deutschland kritisch zu
beleuchten. Das will ich tun. Vor allen Dingen müssen
wir die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Bericht finde ich ausgesprochen enttäuschend. Sie macht
vor allem das, was sie in Sachen Bildung seit Jahren tut:
Sie lobt sich
({0})
- das finde ich nicht -, und sie setzt auf ein „Weiter so“.
Doch mit einem „Weiter so“ werden wir die gravierenden Defizite, die es im deutschen Bildungssystem auf allen Ebenen nach wie vor gibt, nicht beheben können.
({1})
Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen.
Das Bildungssystem in Deutschland ist insgesamt nach
wie vor von einer großen sozialen Ungleichheit geprägt.
Kinder von Eltern, die keinen akademischen Abschluss
haben, besuchen um ein Vielfaches seltener ein Gymnasium als Kinder aus Akademikerelternhäuser. Das Ziel
der Hochschulreife erreichen sie häufiger als andere
- auch wenn das besser geworden ist - erst über den längeren Weg der berufsbildenden Schulen. Ein deutlich geringerer Anteil von ihnen nimmt ein Hochschulstudium
auf. Sechsmal häufiger landen sie an Hauptschulen. Ich
finde, das ist ein Ausweis, dass es, was das Bildungssystem in Deutschland betrifft, so nicht weitergehen kann.
({2})
Probleme gibt es nach wie vor auch im Bereich der
beruflichen Bildung. Ende des vergangenen Jahres - inzwischen liegen auch neuere Zahlen vor - wurde festgestellt, dass wieder weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden als im Jahr zuvor, in dem schon ein
Tiefststand zu verzeichnen war. Das ist nicht mit
Passungsproblemen zu erklären, wie es die Bundesregierung und Sie, Frau Ministerin, immer wieder tun.
Es fehlt eindeutig ein Ausbildungsangebot. Es gibt genügend Bewerberinnen und Bewerber, die einen Beruf erlernen wollen. Sie bekommen aber keinen Ausbildungsplatz; das ist das Problem. 81 000 Bewerberinnen und
Bewerber sind im vergangenen Jahr ohne Ausbildungsvertrag geblieben. Das sind zwar 2 400 weniger als im
Jahr zuvor; aber wenn das Abbautempo so weitergeht,
werden wir nicht 10 oder 15, sondern 34 Jahre brauchen,
um dieses Defizit auszugleichen.
Vor allem fehlt Geld, viel Geld. Sie haben zum wiederholten Male auf die 1,2 Milliarden Euro verwiesen,
die der Bund den Ländern zur Verfügung stellt. Ich frage
mich, was von diesem Betrag noch alles finanziert werden soll.
({3})
Sie haben angekündigt, dass Sie in den nächsten vier
Jahren insgesamt 6 Milliarden Euro mehr in die Bildung
geben werden.
({4})
Es gibt aber Studien, die belegen, dass jährlich zwischen
20 und 40 Milliarden Euro zusätzlich nötig wären, um
die Defizite im Bildungsbereich insgesamt auszugleichen.
({5})
Sie können nicht immer nur auf die Länder verweisen,
({6})
Sie müssen die Länder auch entsprechend ausstatten; anders funktioniert das nicht.
({7})
Ich habe 15 Jahre Bildungspolitik in den Ländern gemacht. Ich weiß, was dort in den Bildungshaushalten
steht. Ich weiß, was das für ein Kampf ist,
({8})
und ich weiß, wo dann das Ende der Fahnenstange erreicht ist.
Wir wollen nicht verhehlen, dass es auch positive
Entwicklungen gibt.
({9})
Aber wie das so ist: Auch bei den positiven Entwicklungen gibt es Defizite. Obwohl die Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige stark gestiegen ist, wurden
vor allen Dingen in den westlichen Bundesländern die
Zielzahlen gar nicht erreicht.
Sie haben uns zitiert, weil wir die WiFF-Initiative loben. Wir loben sie, weil diese Weiterbildungsinitiative
geeignet ist, bei ausgebildeten Fachkräften sonderpädagogische Sachkompetenz zu entwickeln. Was diese Initiative jedoch nicht leisten kann, ist die Ausbildung von
Erzieherinnen und Erziehern. Man darf nicht verkennen,
dass die WiFF-Initiative ein Weiterbildungsprogramm
ist. Ihre Arbeit ist aller Ehren wert, reicht aber nicht aus
für eine vernünftige Versorgung mit ausgebildetem Erziehungspersonal.
({10})
Zu den positiven Trends gehört auch der Wunsch
nach höheren Bildungsabschlüssen. Der Realschulabschluss - das steht auch im Bildungsbericht - wird zum
neuen Regelabschluss; das ist sehr schön. Bei Lernförderung im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes der
Bundesregierung ist das Ziel, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, jedoch nicht vorgesehen. Dies
sei kein Grund, Lernförderung zu beantragen, hat uns die
Bundesregierung schriftlich erklärt. Wenn der Realschulabschluss aber ein solch anerkannter und erstrebenswerter
Abschluss wird - wir wissen, dass man dadurch deutlich
besser einen Ausbildungsplatz bekommt -, dann muss
auch er Ziel von Lernförderung sein. Ich kann Ihnen versichern: Die Schulen könnten mit dem Geld, was man in
die Lernförderung steckt, etwas Besseres anfangen. Aber
die Schulen bekommen das Geld nicht und das gehört zu
den Grundstrickfehlern in unserem Bildungssystem.
Gut ist auch, dass immer mehr junge Leute ein Studium aufnehmen; hier wurden die Zielzahlen des Bildungsgipfels in der Tat überboten. Doch die Lehre an
den öffentlichen Hochschulen wird vor allem durch befristet eingestelltes Lehrpersonal abgesichert.
({11})
- 1,2 Milliarden Euro; ich hoffe, Sie können rechnen.
({12})
Es ist keine zukunftsfähige Entwicklung, wenn man
durch prekär Beschäftigte die Lehre absichern will. Da
muss etwas passieren! Das können Sie jetzt im Übrigen
auch leisten.
({13})
Besondere Probleme weist der Bildungsbericht bei
der schulischen Bildung aus. Es wurde schon gesagt:
2012 haben immer noch 5,9 Prozent der Schülerinnen
und Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. An
den Förderschulen besteht in den Ländern sehr oft nicht
einmal die Möglichkeit, einen Hauptschulabschluss zu
erwerben; auch das gehört zu den Defiziten.
({14})
Problematisch ist, dass die Entwicklung neuer Schulformen - die es gibt in den Ländern, und zwar zuhauf von den Autoren des Bildungsberichtes so eingeschätzt
wird, dass dies die Übersichtlichkeit im Bildungssystem
nicht erhöht, im Gegenteil, es wird unübersichtlicher.
Familien werden immer mehr verunsichert und sind dadurch auch in ihrer Mobilität eingeschränkt.
({15})
Besonders nachdenklich gemacht hat mich die Feststellung, dass die Zahl der allgemeinbildenden Schulen
in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen ist und
dass es nicht mehr möglich ist, überall ein wohnortnahes
Angebot zu machen. Die Schulwege werden länger. Darüber verliert die Bundesregierung leider kein Wort. Das
sei nicht ihr Bier, dafür sei der Bund nicht zuständig,
nicht für die Schulsanierung, nicht für die Schulsozialarbeit, nicht für die Ausstattung mit Lehrkräften usf. alles Ländersache.
({16})
- Wissen Sie, ich bin Lehrerin. Ich weiß, was es heißt,
jeden Schultag fünf bis sechs Stunden das Interesse von
Schülerinnen und Schülern wachzuhalten. Es steht im
Bildungsbericht, wir sind heute bei diesem Thema. Dann
lassen Sie mich auch darüber reden! Sie können sich dort
nicht einfach rausmogeln!
({17})
- Herr Kauder, ich mache mal einfach weiter, ja?
({18})
- Das kennen Sie noch nicht. - Seit meiner Schulzeit hat
sich die Lebenswelt von Kindern gravierend verändert.
Ich habe große Hochachtung vor dem, was die Lehrenden zurzeit leisten.
({19})
Die Bundespolitik erfindet in ihrer Unzuständigkeit
Programme, mit denen sie an der Schule vorbei versucht,
die Defizite, die es im schulischen Bereich gibt, zu beseitigen. Das sind durchaus vernünftige Programme, wie
„Kultur macht stark“, die als Ergänzung von uns sehr
wohl durchaus anerkannt werden.
({20})
- Wir haben nicht wegen des Programms dagegen gestimmt, sondern weil es einen Ersatz leisten soll, was
nicht möglich ist.
({21})
Das können diese Programme einfach nicht leisten auch nicht die Berufseinstiegsbegleitung. Das alles kann
die Situation an Schulen nicht verbessern.
Über die inklusive Bildung wird meine Kollegin
nachher reden; ein paar Minuten Redezeit wird sie noch
haben. Wir haben uns entschlossen, einen entsprechenden Antrag einzureichen, weil die Bundesregierung eben
nicht die Konsequenzen zieht, von denen wir glauben,
dass sie gezogen werden müssen.
Wir fordern deshalb erneut die Einführung einer Gemeinschaftsaufgabe „Bildung“, damit wir hier nicht immer darüber debattieren müssen, wer zuständig ist;
({22})
denn die Bildung unterliegt laut Grundgesetz der staatlichen Aufsicht, und Staat sind wir bitte schön auch.
Zu dieser Gemeinschaftsaufgabe gehören eine bessere Ausfinanzierung des Bildungssystems und ein
Rechtsanspruch auf Ausbildung.
({23})
Die hohe Betreuungsqualität im frühkindlichen Bereich
und die hohen Betreuungszahlen haben auch etwas damit zu tun, dass es hier einen Rechtsanspruch gibt. Das
darf man nicht vergessen.
Daneben ist auch eine inhaltliche und strukturelle Debatte notwendig. Hier könnte ein Bildungsrat helfen, den
wir schon 2012 vorgeschlagen haben. Ich freue mich,
dass die SPD dem jetzt zustimmt. Vielleicht finden wir
ja noch mehr Gemeinsamkeiten. Ich freue mich auf die
Debatte im Ausschuss.
Vielen Dank.
({24})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit jeher wissen
wir: Bildung ist der Schlüssel und die Eintrittskarte zu
einem selbstbestimmten Leben, zu gesellschaftlicher
Teilhabe und zu ökonomischer Unabhängigkeit. Weder
die soziale oder ethnische Herkunft noch die religiöse
Weltanschauung, das Geschlecht, das Alter, die Sexualität oder der Umstand einer Behinderung sollen hier beeinflussend wirken. Deshalb möchte ich mich in meiner
Rede auf das Schwerpunktthema des Berichtes fokussieren, nämlich auf die Menschen mit Behinderung.
({0})
Schauen wir uns die aktuelle Datenlage an, so sehen
wir, dass wir in unserer Verantwortungsgemeinschaft
beim Umgang mit Menschen mit Behinderung, bei der
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und
hinsichtlich eines inklusiven Bildungssystems noch einen langen Weg vor uns haben.
35 Prozent der Kindertagesstätten in Deutschland arbeiten im Moment inklusiv, das heißt, dort werden Kinder mit und ohne Behinderung gemeinschaftlich betreut,
erzogen und gebildet. 35 Prozent: Diese Zahl ist nicht
klein, aber deutlich ausbaufähig.
Im Bereich der Schule haben 6,6 Prozent der Kinder
einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Das sind eine
halbe Million Kinder und Jugendliche. 72 Prozent von
ihnen gehen in die Förderschule. Lediglich 28 Prozent
werden also in einer allgemeinbildenden Schule beschult. Auch das ist deutlich steigerungsfähig.
Zwar besuchen immer mehr Kinder und Jugendliche
mit und ohne Behinderung gemeinsam unsere Kitas und
Schulen, doch diese Zahl nimmt mit steigendem Alter
ab, das heißt, vom Besuch einer Kita an wird mit jedem
weiteren Übergang - von der Kita zur Grundschule, von
der Grundschule zur weiterführenden Schule - erneut selektiert, wodurch junge Menschen - insbesondere mit
Behinderung - aus dem Bildungssystem herausfallen.
Das kann nicht unser Anspruch an ein inklusives, gemeinsames Bilden und Lernen in Schulen sein.
({1})
Fast drei Viertel der Förderschülerinnen und -schüler
haben überhaupt keinen Schulabschluss. Auch da ist unser Anspruch ein anderer.
Ein großes Defizit - Frau Wanka hat es erwähnt - besteht auch in der Fortbildung der Lehrkräfte. Obwohl
70 Prozent der Grundschullehrkräfte - Sie hatten es erwähnt - einen Bedarf an Fort- und Weiterbildung angemeldet haben, haben real aber nur 9,5 Prozent ein
solches Angebot angenommen. Bei den Gymnasiallehrkräften sind es gerade einmal 2 Prozent. Das heißt, selbst
wenn eine Schule Fortbildung anbietet, so ist die Wahrnehmung dieses Angebots doch immer noch sehr überschaubar.
Ausbildungsuchende junge Menschen müssen eine
doppelte Einschränkung hinnehmen. Zum einen gingen
zwischen 2009 und 2012 sowohl die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge als auch das Angebot
und die Nachfrage nach Ausbildungsverhältnissen um
jeweils circa 30 Prozent zurück. Zum anderen steht ihnen sowieso nur ein begrenztes, institutionell definiertes
Berufsspektrum zur Verfügung.
Im Bereich der akademischen Ausbildung waren
2012 lediglich ein Siebtel aller Studierenden durch eine
Behinderung oder eine chronische Erkrankung beeinträchtigt und haben aufgrund ihrer Beeinträchtigung
Nachteile im Studium erfahren. Häufig wechseln sie die
Hochschule und ihr Studienfach. Häufig kommt es zu
Abbrüchen, und es gibt Schwierigkeiten bei den Prüfungsordnungen. Häufig brauchen sie mehr Zeit, um ihr
Studium zu absolvieren. Die Prüfungssituation erleben
sie als schwieriger, als es für Studierende ohne Beeinträchtigung der Fall ist. Deshalb muss die Unterstützung
für diese Studierenden eine ganz besondere sein.
({2})
Wir sehen also: Wir sind im Bildungssystem noch
eine ganze Ecke von den von uns erklärten Zielen entfernt. Ich denke, es reicht auch nicht, ein Kind aus einer
Förderschule in eine allgemeinbildende Schule zu stecken und ihm einige wenige Förderstunden zu geben.
Das ist, wenn man es bei Lichte betrachtet, nicht mehr
als eine Einzelintegration. Was wir wollen, ist Inklusion.
Wir wollen die Veränderung der Systeme. Wir wollen,
dass durch unsere Systeme allen Kindern und Jugendlichen eine gute Förderung organisiert wird, eine gute Unterstützung, die jedem, völlig unabhängig davon, ob mit
oder ohne Behinderung, einen erfolgreichen Bildungsweg ermöglicht.
({3})
Aber wir sehen - das macht auch der Bericht deutlich -:
Es gibt Hürden bei der Umsetzung. Natürlich sind die
unterschiedlichen Regelungen in den Schulsystemen der
Bundesländer nicht immer hilfreich. Es ist kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir uns als SPD-Fraktion hier
eine stärkere Beteiligung des Bundes bei der Standardsetzung, aber auch bei der finanziellen Unterstützung der
Umsetzung wünschen.
({4})
Sosehr wir uns über den Wegfall des Kooperationsverbotes im Hochschulbereich freuen, so sehr wünschen wir
uns natürlich, dass weiter gehende Maßnahmen ergriffen
werden.
({5})
Die Definition von inklusiver Bildung ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Das ist ein Problem,
wenn wir unsere einheitlichen Standards, die wir für
richtig halten, umsetzen wollen. Auch die sehr uneinheitlichen Diagnoseverfahren führen in der Regel dazu,
dass es wenig einheitliche Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen im deutschen
Bildungssystem gibt. Deshalb möchten wir einen
Schwerpunkt in der Bildungsforschung setzen, insbesondere wenn es darum geht, gute Rahmenbedingungen für
eine erfolgreiche inklusive Bildung zu definieren und sie
über alle Länder hinweg in einer Gemeinschaftsverantwortung umzusetzen.
Wir brauchen dringend auch eine Forschung dahin
gehend, welche digitalen und analogen Instrumente hilfreich sind, um Menschen mit Behinderung im Bildungssystem eine gute Chance zu gewährleisten.
Wir brauchen eine andere Form der Vernetzung der
Akteure: der Ärztinnen und Ärzte, der Pädagoginnen
und Pädagogen, der Logopädinnen und Logopäden und
anderer, die in Schulen gemeinschaftlich wirken sollen,
um für die Begleitung der Kinder konzeptionell das
Bestmögliche herausarbeiten zu können.
Klar ist aber auch: Auch Betriebe und Unternehmen
müssen sich stärker in der Ausbildung für Jugendliche
mit Behinderungen öffnen.
({6})
Wir nehmen wahr: Es gibt große Defizite in dem Wissen
darüber, welche Unterstützung ein Unternehmer bekommt, wenn er sich entscheidet, einem jungen Menschen mit Beeinträchtigung in seinem Unternehmen eine
Ausbildung zu ermöglichen. Das heißt, wir haben ein
Aufklärungsproblem. Wir haben aber auch das Problem,
dass viele Betriebe das immer noch als Benachteiligung,
teilweise sogar als Belastung erleben. Wir haben die gesellschaftliche Aufgabe, verstärkt über dieses Thema zu
informieren und den Wert der Vielfalt in Unternehmen
viel deutlicher herauszustellen.
({7})
Die Initiative Bildungsketten - auch sie hat Frau
Wanka bereits erwähnt - wollen wir gerne fortgeführt
sehen. Aber wir wissen auch, dass bei Menschen mit Behinderung, die in Ausbildung sind, die Abbrecherquote
sehr hoch ist. Daraus leiten wir den Auftrag ab, genauer
darauf zu achten, welcher Ausbildungsbereich für die jeweilige Person der richtige ist und was zu schaffen, zu
leisten und mit einer guten Unterstützung und gegebenenfalls auch mit ausbildungsbegleitenden Hilfen dann
auch bis zum Ende durchhaltbar ist.
Im Hochschulbereich stehen wir vor der Herausforderung, andere Formen der Studienangebote und Studienbedingungen zu ermöglichen. Die Möglichkeiten der
Nachteilsausgleiche müssen flexibler eingesetzt werden.
({8})
Zum Schluss möchte ich mich ganz herzlich bei all
den Fachkräften und Lehrkräften bedanken, die sich
trotz manchmal unzureichender Rahmenbedingungen
tagtäglich darum bemühen, dass Inklusion durch gemeinsame Beschulung und konzeptionelle Arbeit in den
Einrichtungen möglich ist. Diesen Anstrengungen gilt
mein ganz herzlicher Dank.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den fünften Nationalen Bildungsbericht. Das
ist zugleich die erste Debatte zur Bildungspolitik im
Deutschen Bundestag seit der vergebenen Chance zur
Abschaffung des unsäglichen Kooperationsverbotes in
der Bildungspolitik. Das sage ich insbesondere mit Blick
auf die SPD.
({0})
Diese Debatte passt auch zeitlich sehr gut, finde ich.
Erst in der vergangenen Woche hat der Bildungsforscher
Professor Klaus Klemm die vom DGB in Auftrag gegebene Bilanz des Bildungsgipfels der Bundesregierung
von 2008 vorgestellt. Ich empfehle Ihnen, vor allem der
GroKo, diese Bilanz genau anzuschauen. Diese Analyse
bringt Bemerkenswertes zutage.
Sie wollten die Schulabbrecherquote von 8 auf 4 Prozent halbieren. Aktuell liegt die Quote bei 5,9 Prozent.
Ziel verfehlt!
({1})
Sie wollten die Quote der jungen Erwachsenen ohne
Berufsausbildung von 17 auf 8,5 Prozent halbieren. Aktuell liegt die Quote bei 13,8 Prozent. Ziel deutlich verfehlt!
({2})
Sie wollten die Ausgaben für die Bildung auf 10 Prozent des BIP erhöhen. Auch hier Ziel verfehlt!
Damit sind Sie in den Kernbereichen des Bildungsgipfels gescheitert. Wenn ich Ihr Lehrer wäre, hätten Sie
jetzt eine fette Sechs dafür bekommen.
({3})
Liebe Frau Ministerin, ich will nicht verhehlen, dass
es auch Lichtblicke gibt, ohne Frage. Sie haben die Studienanfängerquote und die Weiterbildungsquote erwähnt. Wenn man sich das Ganze aber genauer anschaut,
dann kommt man zu dem Schluss, dass diejenigen, die
zur Risikogruppe gehören, erneut abgehängt werden.
Herr Kollege Mutlu, darf der Kollege Rupprecht eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte sehr.
Der Kollege Rupprecht befindet sich scharf rechts
von Ihnen, Herr Mutlu.
({0})
Herr Kollege Mutlu, wenn Sie den Bildungsbericht
richtig gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass das Erreichen der Ziele für 2015 angestrebt wird. Die Zahlen, die
Sie genannt haben, wurden 2013 erhoben. Deswegen
lautet meine Frage an Sie: Kann es sein, dass Sie in der
Bewertung falsch liegen?
({0})
Lieber Kollege Rupprecht, wenn Sie meinen, dass Sie
innerhalb eines Jahres das alles aufholen, was Sie in den
letzten vier, fünf Jahren nicht geschafft haben, dann sage
ich Ihnen: Wenn Sie das schaffen, gratuliere ich Ihnen
als Erster.
({0})
Ihre Bildungspolitik beruht auf dem Matthäus-Effekt
und manifestiert meiner Ansicht nach Bildungsungerechtigkeit von Generation zu Generation. Aufstieg
durch Bildung ist noch immer ein uneingelöstes Versprechen dieser Koalition.
({1})
Ihre vollmundig ausgerufene Bildungsrepublik ist
sechs Jahre nach dem Bildungsgipfel nichts anderes als
eine Republik der Bildungsungerechtigkeit. So lesen
sich auch die Ergebnisse des Bildungsberichtes 2014.
Bereits beim Bildungsbericht 2010 hat meine Fraktion
hier in diesem Hause gefordert, dass der Bericht auch
konkrete Handlungsempfehlungen enthalten soll, um
- ich zitiere aus unserem Antrag auf Drucksache 17/4436 „aus den Analysen der Fachleute einen möglichst hohen
Gewinn für die Bildungspolitik zu ziehen“. Im Gegensatz zu den ersten Berichten enthält der vorliegende Bericht neben einer aktuellen Bestandsaufnahme nun endlich konkrete Handlungsempfehlungen. Diese konkreten
Handlungsempfehlungen sind Ihnen aber anscheinend
egal. Denn ein Blick auf Ihren Antrag zeigt: Viele Worte,
aber kaum Taten! - Das reicht nicht.
({2})
Man fragt sich mitunter schon, wie es sein kann, dass
trotz klarer Handlungsempfehlungen nichts, aber auch
gar nichts von diesen Empfehlungen Einzug in Ihr politisches Handeln findet.
Meine Damen und Herren, der Königsweg - ich bemühe ihn nun genauso wie die Ministerin - zu mehr
Teilhabe und damit zu mehr Bildungsgerechtigkeit ist
Inklusion. Das ist auch der Schwerpunkt des Bildungsberichtes. Aber Inklusion ist nicht kostenneutral und
zum Nulltarif zu haben. Das wissen Sie genauso gut wie
ich, wie ich Ihrer Rede, Frau Kollegin Tack - das war
beinahe eine Oppositionsrede -, entnommen habe.
({3})
Denn die Kommunen und die Länder können die bildungspolitische Mammutaufgabe, zu der wir seit der Ratifizierung der UN-Konvention 2009 verpflichtet sind,
nicht alleine stemmen. Der Bildungsbericht 2014 und
die Bilanz des DGB zeigen: Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit, Frau Ministerin.
Deshalb sage ich: Leere Worte reichen nicht. Lassen Sie
uns gemeinsam einen erneuten Anlauf nehmen und das
Kooperationsverbot in Gänze abschaffen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Bund, Länder und Kommunen müssen eine gemeinsame Bildungsstrategie entwickeln, und zwar mit klaren Zielen und Zuständigkeiten.
Es geht nicht darum, den Ländern die Kompetenz in der
Bildung zu nehmen, sondern darüber nachzudenken, wie
wir gemeinsam an einem Strang ziehen können, damit
die Bildungsrepublik tatsächlich Realität wird. Wir sind
gerne bereit, Ihnen dabei zu helfen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Xaver Jung das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher!
Liebe Schüler auf der Tribüne, macht euch keine Gedanken. Eure Schule ist nicht so schlecht, wie Herr Mutlu
eben behauptet hat.
({0})
Liebe Frau Hein, Sie können nicht alle Aufgaben, die
den Ländern per Verfassung gegeben sind, vom Bund
bezahlen lassen. So einfach können wir es uns nicht machen, und das tun wir auch nicht.
({1})
Wir sind auf einem guten Weg. Die Bildung in
Deutschland hat sich auf allen Ebenen verbessert. Zu
diesem Ergebnis kommt sowohl die aktuelle OECD-Studie als auch die nun vorliegende Ausgabe des Nationalen
Bildungsberichts.
({2})
Man kann es nicht oft genug sagen: Die gemeinsamen
Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen, der
Bildungsträger aus Wirtschaft und Gesellschaft sowie
der Pädagoginnen und Pädagogen in den unterschiedlichsten Bildungsbereichen zeigen eine positive Entwicklung. Dies sind einmal mehr gute Nachrichten für
dieses Haus. Ich möchte unserer Bildungsministerin einen herzlichen Dank aussprechen. Mit viel persönlichem
Einsatz und Ausdauer kämpfen Sie, liebe Frau Wanka,
stets für moderne und bessere Bildung. Die Aufwüchse
im Bildungsetat in den letzten Jahren sind ein großartiges Zeichen dafür.
({3})
Ich möchte mich auch ausdrücklich bei allen beteiligten Autoren und Instituten für die Ausarbeitung und die
Vorlage des ausführlichen Berichts bedanken. Das Ergebnis ist die Bestätigung für eine vorausschauende Bildungspolitik. Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter
Dreijährige ist weit vorangeschritten und geht weiter voran. Immer mehr junge Menschen erlangen einen Berufsabschluss. Wir sollten auch die berufliche Bildung
nicht schlechtreden. Auch junge Menschen mit Migrationshintergrund werden besser integriert. Das sagt der
Bericht.
Unser duales Ausbildungssystem und unsere Hochschulen genießen einen sehr guten Ruf in der Welt. Immer mehr beginnen ein Studium, immer mehr höherwertige Abschlüsse werden erreicht. Auch für Studierende
aus dem Ausland sind unsere Hochschulen attraktiver
denn je. Die Möglichkeiten der Weiterbildung werden
gut aufgenommen. Wir freuen uns über all diese guten
Ergebnisse.
({4})
Wir erkennen auch den verstärkten Bedarf an Nachwuchs im MINT-Bereich. Dazu unterstützen wir die Initiative der Helmholtz-Stiftung „Haus der kleinen Forscher“. Das ist eine tolle Initiative, die Kindern im
Kindergarten und künftig auch in der Grundschule den
Spaß am Entdecken und an den Naturwissenschaften näherbringt. Wir freuen uns über die Aufstockung der Mittel in diesem Bereich ebenso wie über die zusätzlichen
Mittel im Bereich der Grundbildung.
Der Bildungsbericht zeigt uns aber auch klar auf, wo
wir noch besser werden können. Wir werden den Vorschlägen gerne nachkommen.
({5})
Wir wollen eine verbesserte Qualität der Betreuung,
die nach dem Kindertagesstättenausbau nun verstärkt angegangen wird. Wir treten auch weiterhin für ein möglichst wohnortnahes, differenziertes Schulsystem ein.
Wir setzen uns für mehr qualifizierte Aus- und Weiterbildung von Erziehern und Erzieherinnen ein. Dieser Beruf verdient mehr Wertschätzung.
({6})
In der Lehrerbildung rüsten wir mit der Qualitätsoffensive Lehrerbildung bereits auf. Trotz Haushaltskonsolidierung entlasten wir die Länder im Bereich der Kitas, Schulen und Hochschulen in dieser Wahlperiode um
6 Milliarden Euro. Bereits in diesem Jahr stehen den
Ländern zusätzlich, wie gesagt, 1,2 Milliarden Euro aus
den BAföG-Mitteln für Bildung und Wissenschaft zur
Verfügung. Wir ruhen uns also nicht auf dem Erreichten
aus, wie mancher hier heute Morgen schon gesagt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, frühkindliche Bildung hilft, Sprachbarrieren abzubauen und den Grundstein zu einer guten, weiterführenden Bildung zu legen.
Deshalb wollen wir mit unserem Antrag, dass es zwischen
den Ländern vergleichbare und frühzeitige Sprachtests
von Kindern in jungen Jahren gibt. So können wir früh
reagieren, sozialen Disparitäten entgegenwirken und individuelle Förderung garantieren.
Immer weniger Jugendliche verlassen die Schule
ohne Abschluss. Dennoch sehen wir hier weiteren Handlungsbedarf und werden uns darum kümmern. Ähnlich
wie im Bereich der dualen Ausbildung muss die Abbrecherquote weiter gesenkt werden. Wir schaffen dies
durch eine frühzeitige Berufsorientierung und Praktika
sowie ausbildungsbegleitende Hilfen bis hin zur Ausbildungsassistenz.
Der Schwerpunkt des Berichts lag dieses Mal auf Inklusion. Auch hier haben wir Handlungsanweisungen,
die wir gerne aufgreifen. Seit Jahren haben viele Schulen
erfolgreich eigene inklusive Konzepte verfolgt, trotz der
teilweise fehlenden personellen, sachlichen und räumlichen Voraussetzungen. Wir wollen diese Erfolgsmodelle
anerkennen und kommunizieren.
Nahezu alle Bundesländer verfolgen bereits eigene
Modelle bei der Umsetzung in die Praxis. In unserem
Antrag fordern wir deshalb einen runden Tisch. Gemeinsam mit den Bundesländern muss in einem regelmäßigen
Fachkongress - alle zwei Jahre - mit Politikern, Wissenschaftlern, Pädagogen, Eltern und Schülern sowie Vertretern der Behindertenverbände und der Selbsthilfe eine
Bestandsaufnahme generiert und an konkreten Handlungsempfehlungen gearbeitet werden.
({7})
Dabei ist die immer wieder aufkommende, ideologisch geprägte und wenig sachliche Diskussion darüber,
die Förderschulen abzuschaffen, fehl am Platz. Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
({8})
Im Hinblick auf elf verschiedene Förderschultypen ist
es wichtig, die Diskussion im Bereich der inklusiven
Bildung differenziert zu führen; denn viele junge Menschen mit Beeinträchtigungen sind auf die individuelle
Begleitung von erfahrenen Fachkräften sowie auf die zusätzliche Ausstattung an diesen Schulen angewiesen.
Wir brauchen auch in Zukunft Förderschulen.
({9})
Auch im Bereich der Diagnostik von sonderpädagogischem Förderbedarf zeigt uns die Studie Handlungsbedarf auf. Denn es gibt weder einen Konsens darüber,
was „sonderpädagogischer Förderbedarf“ meint, noch darüber, wie er festgestellt werden soll. So kommt es, dass
sich die Betroffenen für die ihnen zustehenden zusätzlichen Ressourcen teils halbjährlich diagnostizieren lassen
müssen. Da kann man sich vieles sparen. Inklusion zielt
doch darauf ab, die Verschiedenartigkeit der Schülerinnen
und Schüler als selbstverständlich anzusehen. Damit verbunden wäre ein sinnvoller Bürokratieabbau.
({10})
Wir wollen auch prüfen, wie digitale Lernmaterialien
und Medien sowie technologische Unterrichtshilfen den
Bildungszugang für Menschen mit Beeinträchtigungen
erleichtern können und welche Voraussetzungen für den
Einsatz in allen Schularten geschaffen werden müssen.
Meine Damen und Herren, wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden den Reformkurs für mehr Vergleichbarkeit und Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich weiterverfolgen. Trotz aller Freude über die
Erfolge der letzten Jahre sind wir uns in der Koalition
der vielfältigen Herausforderungen sehr bewusst und
werden sie gerne gemeinsam mit den Ländern angehen.
({11})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Werner für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ja, Frau Bundesministerin
Dr. Wanka, die Analyse ist einzigartig, und der Bericht
ist umfangreich. Die Stellungnahme der Bundesregierung zum fünften Nationalen Bildungsbericht mit dem
Schwerpunkt „Bildung von Menschen mit Behinderung“
zeigt aber recht deutlich, wie wenig wichtig der Bundesregierung die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist: Nur eine einzige Seite widmen Sie Menschen mit Behinderung im Bildungssystem, und das bei
einem Bericht, der 342 Seiten umfasst.
({0})
Das ist wirklich traurig.
({1})
- Lesen Sie einmal Ihre Stellungnahme.
({2})
Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht, das niemandem verwehrt werden darf. Deshalb ist es für uns mehr
als wichtig, dass jeder Mensch in diesem Land die Möglichkeit zur Teilhabe an einem inklusiven Bildungssystem hat, und zwar nicht irgendwann in ferner Zukunft,
sondern jetzt und sofort.
({3})
Das Bildungssystem braucht hierzu mehr Geld. Die
Länder und Kommunen brauchen die Unterstützung
vom Bund. Es ist völlig unmöglich, dass der Bund beim
Fachkräftemangel im Bereich Bildung, Erziehung und
Pflege die Augen schließt und die Kommunen ihrem eigenen Schicksal überlässt. Inklusion darf kein Sparmodell werden.
({4})
Inklusion ist wichtiger als die schwarze Null des Finanzministers.
({5})
Denn:
Wer die Felder nicht bestellt, der kann nachher auch
nicht ernten.
Das waren Worte Ihrer Kollegin in der Aktuellen Stunde
am Mittwoch dieser Woche. Bestellen Sie die Felder;
dann können Sie auch die Zukunft ernten!
({6})
Am 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, mussten wir uns hier im Plenum
von einer Kollegin aus der CSU anhören - ich zitiere -:
Die Mutter, die ihr Kind mit Downsyndrom an das
Gymnasium bringen will, tut dem Kind, so meine
ich, nichts Gutes.
Das ist Blödsinn.
({7})
Ich verstehe nicht, warum bei so einem Zitat hier in der
Regierung niemand aufschreit.
So verwundert es aber auch nicht, dass die Bundesregierung eine absolut oberflächliche, inhaltslose Stellungnahme zur inklusiven Bildung für Menschen mit Behinderung abgibt. Es gibt keinerlei neue Maßnahmen.
({8})
Dass Sie sagen, dass Inklusion eine Herausforderung
ist und weiter erforscht werden müsse, ist echt zu wenig.
({9})
Die vor knapp sechs Jahren in Deutschland in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention ist geltendes
Recht und verpflichtet die Politik zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems. Ich möchte nicht in Ihrer
Haut stecken, wenn die UN Ende März Deutschland unter die Lupe nehmen. Die Kritik wird heftig.
Sie sagen: Es mangelt an für ein inklusives Schulsystem gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern. Sie sagen: Es gibt nicht die richtigen Räume. Sie sagen: Es
gibt nicht ausreichend Geld. Ich sage Ihnen: Es mangelt
an Ihrem politischen Willen,
({10})
endlich die Ärmel hochzukrempeln und etwas in Richtung inklusiver Bildung zu tun.
({11})
Wir fordern erstens die sofortige Erstellung eines gesonderten Aktionsplans zur inklusiven Bildung - selbstverständlich unter Einbeziehung der Menschen mit Behinderung.
Wir fordern zweitens, dass Bund und Länder zusammen die Bildungsarbeit angehen.
Wir fordern drittens, dass Bund, Länder und Kommunen ein unabhängiges Beratungs- und Unterstützungssystem vor Ort befördern.
Wir fordern viertens eine Qualitätsoffensive bei der
Aus- und Weiterbildung für das gesamte Bildungs- und
Ausbildungspersonal.
Wir fordern fünftens den breiten Einsatz pädagogischer Fachkräfte mit Behinderung im Bereich der inklusiven Bildung. Damit treten Sie übrigens auch dem
Fachkräftemangel entgegen.
Wir fordern sechstens einkommens- und vermögensunabhängige sowie bedarfsgerechte Assistenzleistungen
für Menschen mit Behinderung an den Unis und Schulen - und das auch über den ersten berufsqualifizierenden Abschluss hinaus.
Und wir fordern siebtens die Verankerung einer Berufsausbildungsquote für junge Menschen mit Behinderung in Betrieben.
Wenn Sie etwas gegen das weitere Auseinanderdriften dieser Gesellschaft tun wollen, müssen Sie die
Ängste und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen abbauen. Sie müssen endlich begreifen, dass
der Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention und
der Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit
Behinderung „Nichts über uns ohne uns!“ die Grundlage
jeder positiven Veränderung ist.
Danke.
({12})
Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Nationale Bildungsbericht sollte eigentlich eine
Chance sein, eine realistische Debatte über den Zustand
unseres Bildungssystems zu führen; das heißt, Frau Kollegin Hein, Herr Kollege Mutlu, weder alles in Grund
und Boden zu reden
({0})
noch Dinge, die schwierig sind, zu beschönigen. - Wenn
Sie einen Moment zuhören,
({1})
kriegen wir das miteinander hin, glaube ich.
Sie werden denjenigen, die im Bildungssystem tätig
sind, die dort als Erzieherinnen und Erzieher arbeiten,
den Eltern, den Kindern, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern, den Ausbildern, den
Prüfern, denen, die in den Hochschulen im wissenschaftlichen Mittelbau oder als Professorinnen und Professoren arbeiten, all denjenigen, die in der Weiterbildung tätig sind, nicht gerecht, wenn Sie alles in diesem Land im
Bereich der Bildung in Grund und Boden reden.
({2})
Wir werden ihnen aber auch nicht gerecht, wenn wir
objektive Probleme im Alltag des Bildungssystems
schönreden; auch regierungsamtlich sollten wir das nicht
tun. Ich bin der Ministerin sehr dankbar, dass sie darauf
hingewiesen hat, dass wir auch vor großen Herausforderungen stehen. Aber es hat sich in den letzten Jahren
auch verdammt viel bewegt, und das hat Gründe.
({3})
Ich kann mich erinnern, dass es in den letzten 15 Jahren zwei Dinge gab, die uns alle wachgerüttelt haben. Da
war natürlich der PISA-Schock 2000. Was für die Amerikaner Ende der 50er-Jahre der Sputnik-Schock war, der
zu Anstrengungen in der Luft- und Raumfahrt geführt
hat - bis zur Mondlandung -, war für unser Bildungssystem der PISA-Schock. Der PISA-Schock war aus meiner
Sicht deshalb heilsam, weil durch ihn ideologische Gräben in der bildungspolitischen Debatte überwunden worden sind.
Was haben wir uns in diesem Land jahrelang gestritten - ich sage mal: Konservative und Sozialdemokraten - über die Frage, ob Leistung wichtig ist oder Chancengleichheit! PISA hat uns vor 15 Jahren bescheinigt,
dass wir an beiden Ecken im Bildungssystem massive
Probleme hatten: beim Zugang, bei der Chancengleichheit und bei der Leistungsfähigkeit, bei der Qualität in
der Breite und der Exzellenz in der Spitze. Da hat sich in
den letzten Jahren dank vielfältiger Anstrengungen vom
Bund, aber vor allen Dingen auch von Ländern und
Kommunen, die nach wie vor in unserem Bildungssystem hauptverantwortlich und zuständig sind, eine ganze
Menge getan. Wir haben einen Aufbruch in den Ländern
erlebt. Wir haben den Kitaausbau erlebt. Wir haben Ländervergleiche, Ganztagsschulprogramme, Bildungsstandards. Das Ganze braucht Zeit, zu wirken; das ist gar
keine Frage. Bildung ist manchmal eine langfristige Investition, auch über Legislaturperioden hinaus. Das, was
Sie heute säen, kann man dann eben erst in 10 oder
15 Jahren im Bildungssystem wirklich sehen. Natürlich
ist vieles noch nicht so weit, wie wir es haben wollen.
Nicht alle Ziele sind erreicht. Aber es hat sich doch eine
ganze Menge getan.
Ein zweiter Aufbruch, der im Bildungssystem stattgefunden hat, ist in den 2000er-Jahren der Aufbruch im
Bereich der Hochschulen gewesen. Das war ein massiver Aufbruch; ich nenne an dieser Stelle die Stichworte
Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Pakt für Forschung
und Innovation. Das war ein Riesenaufbruch, vergleichbar der Bildungsexpansion Ende der 60er- und Anfang
der 70er-Jahre im Bereich der Hochschulen. Auch das ist
ein Riesenerfolg.
({4})
Trotzdem müssen wir angesichts dieses Bildungsberichts auch über die objektiven Herausforderungen und
Probleme im System reden. Es geht dabei um drei Themen.
Erstens geht es nach wie vor um die Frage, wie es um
die Chancengleichheit bestellt ist. Bei allen Verbesserungen - ich komme gleich darauf - ist es für uns Sozialdemokraten nicht erträglich, dass nach wie vor auch in
unserem Land Herkunft, Migrationshintergrund, Geldbeutel der Eltern stärker über die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen entscheiden als
in anderen Ländern. Wir wollen nicht, dass die Herkunft
entscheidet, sondern wir wollen, dass sich Talente entfalten können, dass Leistung in diesem Land zählt und
nicht Herkunft, dass Menschen selbstbestimmt leben
können, dass sie ihren eigenen Lebensweg gehen können.
({5})
Deshalb ist der Befund so, dass sich zwar einiges getan hat, aber wir in diesem Bereich, wenn wir einmal
ganz ehrlich sind, nach wie vor weit von Chancengleichheit entfernt sind, wenn es beispielsweise um Kinder und
Jugendliche mit dem berühmten Migrationshintergrund
geht. Da liegt noch eine ganze Menge im Argen.
({6})
Die Zahl derjenigen, die ohne Schulabschluss dastehen, hat sich zwar insgesamt reduziert, aber noch immerhin 50 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne jeden Schulabschluss. 1,5 Millionen
Menschen zwischen 20 und 30 stehen ohne berufliche
Erstausbildung da. Unter diesen sind ganz viele, die
Hubertus Heil ({7})
Wurzeln außerhalb unseres Landes haben. Aber dafür
können die Kinder und Jugendlichen nichts. Sie sind hier
in dieser Gesellschaft aufgewachsen. Hier geht es um
eine Frage der Gerechtigkeit. Ich füge aber hinzu: Es ist
auch eine Frage der ökonomischen Vernunft. Wir können nicht über Fachkräftemangel klagen und diese Potenziale in unserem Land ungenutzt lassen. Jeder braucht
eine Chance auf Teilhabe in diesem Land.
({8})
Deshalb, Herr Kollege Mutlu, sind wir beim Befund
gar nicht anderer Meinung. Wir stehen hier vor einer riesigen Herausforderung. Nur zu glauben, dass das der
Bund alleine stemmen könne, ist illusorisch. Wir brauchen vielmehr eine Kraftanstrengung von Bund, Ländern, Kommunen, von Gewerkschaften, Arbeitgebern,
um dieses Thema anzugehen.
({9})
Zu sagen, dass wir inzwischen angefangen haben, das
miteinander anzugehen, gehört auch dazu.
({10})
Zweitens. Wir müssen, auch wenn Geld im Bildungssystem nicht alles ist, natürlich über Geld reden. Wir haben da eine ganze Menge bewegt, zum Beispiel im letzten Jahr auf Bundesebene. Ich sage, da hat sich in einem
Jahr mehr bewegt als in vielen Jahren davor. In diesem
einen Jahr haben wir es geschafft, die Länder massiv zu
entlasten - 6 Milliarden Euro haben wir da auf den Weg
gebracht -, damit sie stärker in Bildung investieren können, wir haben den Hochschulpakt verlängert, das
BAföG erhöht usw. usf. Wir haben seit 1995 als Gesamtstaat auch massiv die Bildungsausgaben um sage und
schreibe 42 Prozent gesteigert. Ich gebe aber zu: Das
reicht noch nicht. Es geht allerdings nicht um solche
Mondzahlen, wie Sie sie, Frau Kollegin Hein, in die
Welt setzen, in Höhe von 40 Milliarden Euro. Ich weiß
nicht, woher Sie das nehmen,
({11})
möglicherweise aus einer Gelddruckerei. Das ist aber
nicht das, was wir brauchen.
({12})
Wir müssen natürlich über die Frage reden, was wir
an zusätzlichen Geldmitteln organisieren müssen, aber
auch darüber, wo wir es einsetzen, um die Qualität zu
verbessern. Da sage ich: Wenn uns die erste PISA-Studie
etwas gelehrt hat, dann das, dass die frühe und individuelle Förderung von Kindern und längeres gemeinsames
Lernen vernünftig sind. In der frühkindlichen Förderung
ist nach wie vor das Problem, dass wir zwar beim Ausbau vorangekommen sind, aber weitere Anstrengungen
brauchen, um zu mehr Qualität zu kommen.
({13})
Daran arbeitet diese Bundesregierung, insbesondere
Frau Ministerin Schwesig. Ich glaube, das ist der richtige
Weg. Wir müssen mehr in die frühkindliche Förderung
investieren. Mit „wir“ meine ich Bund, Länder und
Kommunen, also den Gesamtstaat. Wir müssen den Erzieherinnen und Erziehern den Rücken stärken. Wir
müssen Weiterbildung ermöglichen. Dann werden wir in
diesem Bereich den Primat der Herkunft als Grund für
Bildungschancen stärker durchbrechen. Die frühe und
individuelle Förderung von Kindern braucht mehr Investitionen. Das müssen wir uns alle miteinander vornehmen.
({14})
Drittens. Neben der Frage von Chancengleichheit und
neben der Geldfrage müssen wir auch über Zuständigkeiten reden. Ich will keine alten Schlachten schlagen.
Ich will nur versuchen, mit einigen Missverständnissen
aufzuräumen. Ein Missverständnis ist: Diejenigen, die
sich nach wie vor dafür einsetzen, dass das Kooperationsverbot nicht nur im Bereich der Wissenschaft fällt
- das haben wir gemeinsam geschafft -, sondern auch im
Bereich der allgemeinen Bildung, der schulischen Bildung, sind nicht diejenigen - in ihrer überwiegenden
Zahl; wir jedenfalls nicht -, die auf Zentralismus setzen,
denen es darum geht, dass sich der Bund neue Kompetenzen anmaßt. Es geht um Gemeinsamkeit, um Kooperation und um gemeinsame Kraftanstrengung.
({15})
Ich weiß, dass es im Moment in diesem Hause, gerade
bei unserem Koalitionspartner - auch wenn der Bundesrat dem offen gegenübersteht -, keine Zweitdrittelmehrheit für eine entsprechende Verfassungsänderung gibt.
Gleichwohl müssen wir aus meiner Sicht mit Blick darauf daran arbeiten und darüber diskutieren, dass wir uns
für zusätzliche Anstrengungen auf diesen Weg machen
müssen. Ich werde dazu gleich zwei Beispiele nennen.
({16})
Herr Kollege Kauder, erinnern wir uns daran, welche
Klimmzüge wir oft machen müssen. In der letzten Großen Koalition haben wir beispielsweise aufgrund wirtschaftlicher Not versucht, mithilfe des Konjunkturpaketes in den Kommunen Geld an vernünftiger Stelle
einzusetzen. Wir haben versucht, Umwege zu finden.
Über energetische Gebäudesanierung durften wir dann
auch Schulen sanieren. Aber warum, meine Damen und
Herren, ist es eigentlich nicht möglich, dass wir mit
Bund und Ländern zum Beispiel im Bereich der Ganztagsschulen vorangehen, wenn dafür Geld vorhanden
wäre?
({17})
Warum ist es so, dass wir beim Thema „Haus der kleinen Forscher“ - ein ganz wichtiges Projekt zur FördeHubertus Heil ({18})
rung beispielsweise der MINT-Berufe, über die Helmholtz-Gemeinschaft gefördert - zwar im Kitabereich
eine ganze Menge fordern können, um die Neugier von
Kindern und ihren Forschergeist zu wecken, wenn es
aber darum geht, das Ganze auf den Bereich der Grundschulen auszudehnen, wir an Grenzen stoßen, weil wir
mit Geld des Bundes keine Dinge machen können, bei
denen der Bund im gesetzgeberischen Bereich keine
Kompetenz hat? Noch einmal: Mir geht es nicht um Zentralismus. Man kann von Berlin ganz schlecht Bildungspolitik für ganz Deutschland machen, auch wenn man
die alleinige Zuständigkeit hat.
({19})
Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine
gemeinsame Kraftanstrengung brauchen. Deshalb sage
ich: Auch für die Grünen gibt es im Übrigen keinen
Grund zur Häme. Wenn ihr es schaffen würdet, euren
einzigen Ministerpräsidenten in Stuttgart, Herrn
Kretschmann, davon zu überzeugen, dass eine Änderung
der Verfassung in diesem Bereich zielführend ist, dann
arbeiten wir weiter daran, unseren Koalitionspartner in
Berlin zu überzeugen. Das ist doch ein Deal, den wir eingehen können.
({20})
Meine Damen und Herren, Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß braucht auch die Bildungspolitik.
Ich spreche der Opposition nicht ab, dass sie auch Leidenschaft für dieses Thema hat. Das ist gut. Ich spreche
Ihnen aber an der einen oder anderen Stelle das Augenmaß ab. Ich richte das ganz deutlich an die Kollegin, die
vorhin gesprochen hat. Es ist nicht in Ordnung, wenn wir
uns wechselseitig unterstellen, dass wir die Herausforderungen von Inklusion nicht begriffen haben. Sie haben
die Rede meiner Kollegin Tack vielleicht gehört. Es ist
ein gemeinsames Ziel, dafür zu sorgen, dass Menschen
mit und ohne Behinderung in diesem Land gleichberechtigte Teilhabe am Leben haben. Das gilt vor allen Dingen auch in der Bildung. Nur eines ist auch ganz klar: Zu
glauben, dass man das mit der Brechstange hinbekommt,
dass man das mit einem Fingerschnipp hinbekommt, unterschätzt die Lebensrealität von Eltern, von Kindern,
von denjenigen, die an den Schulen lehren. In diesem
Bereich haben wir Riesenprobleme.
Herr Kollege.
Aber das Ziel eint uns. Wir haben viel zu viele Kinder
an Förderschulen, die dort nicht hingehören, auch wenn
wir, wie gesagt, einen Übergang brauchen. Sie gehören
in die Regelschulen. Das ist ganz klar. Das geht aber
nicht ohne Assistenz, ohne Unterstützung und ohne Umsteuern. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir müssen aufpassen, dass das Thema Inklusion die Gesellschaft nicht spaltet, sondern dass wir Inklusion in diesem
Land hinbekommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Katja Dörner erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Angesichts der Ereignisse in Frankreich
fällt es mir ehrlich gesagt schwer, in unserer herkömmlichen Manier über den Nationalen Bildungsbericht zu debattieren; und das vor dem Hintergrund - ich denke, darin sind wir uns alle einig -, welche zentrale Rolle
unsere Bildungsinstitutionen in unserem Land für eine
gelingende Integration spielen.
({0})
Die aktuellen Ereignisse müssen für uns ein besonderer Ansporn sein, uns mit aller Kraft dafür einzusetzen,
Kitas, Schulen, Hochschulen, aber auch die Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Einrichtungen für Jugendliche darin zu unterstützen, dieser wichtigen und zentralen Aufgabe gerecht werden zu können. Das ist aus
meiner Sicht sehr wichtig.
Gestern hat die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung erneut bekräftigt, dass der Islam zu Deutschland gehört. Ich halte das für eine Selbstverständlichkeit.
Aber leider muss das offensichtlich bekräftigt und betont
werden.
Was heißt das für unsere Bildungsinstitutionen? Ich
möchte hier auf eine ganz konkrete Fragestellung zu
sprechen kommen. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, und Nordrhein-Westfalen ist das erste Bundesland,
das - im Schuljahr 2012/2013 - islamischen Religionsunterricht eingeführt hat, einen islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache nach modernen religionspädagogischen Grundsätzen.
({1})
Die grüne Schulministerin von Nordrhein-Westfalen,
Sylvia Löhrmann, hat gestern gesagt, dass der islamische
Religionsunterricht auch „ein Zeichen der Anerkennung
und Wertschätzung“ für die Muslime in unserem Land
ist. Ich finde, heute ist eine gute Gelegenheit, diesen Satz
hier ganz dick zu unterstreichen.
({2})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, islamischer Religionsunterricht ist gelebte Integration und auch gerade
aktuell ein Beitrag zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Nun ist mir ja hinlänglich bekannt, dass wir
hier auf Bundesebene - der Bundestag, die Bundesregierung - in diesem Zusammenhang keine Handlungskompetenzen haben. Aber ich weiß, hier sitzen Kolleginnen
und Kollegen aus der ganzen Bundesrepublik, aus allen
Bundesländern. Ich möchte Sie einladen, sich einmal anzuschauen, welche Erfahrungen wir mit dem islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen gemacht haben.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will natürlich
auch auf den Nationalen Bildungsbericht im engeren
Sinne eingehen. Da muss ich sagen: Ich muss mich doch
sehr wundern. Der Bildungsbericht beschreibt die frühkindliche Bildung als ein zentrales Handlungsfeld. Frühkindliche Bildung in der Kita ist - neben der Familie die Grundlage für alles. Aber ich habe heute seitens der
Koalitionsfraktionen noch niemanden gehört, der dazu
gesprochen hat.
({4})
Die Ministerin hat zwei Sätze dazu gesagt, aber die waren eher retrospektiv. Ich finde das wirklich bitter. Es bestätigt mich leider in meinem Eindruck, dass die Kitas,
dass die frühkindliche Bildung bei dieser Bundesregierung ganz schlechte Karten hat. Wir halten das für
falsch.
({5})
Schon bei der Verteilung der berühmt-berüchtigten
6 Milliarden Euro wurden die Kitas mit eher mickrigen
Summen abgespeist: Gerade einmal 550 Millionen Euro
zusätzlich gibt es für die gesamte Legislaturperiode. Das
ist, wenn man nur den Ausbau der Plätze betrachtet, eher
ein Tropfen auf den heißen Stein, und für die dringend
notwendige Qualitätsverbesserung bleibt da natürlich
überhaupt nichts mehr übrig. Eine Verbesserung der
Fachkraft-Kind-Relation ist der Schlüssel für mehr Qualität in der Kita; das schreiben Sie selbst in Ihrem Antrag. Also die dringende Aufforderung an die Bundesregierung: Tun Sie endlich etwas dafür, dass es hier zu
Verbesserungen kommt.
({6})
In den letzten Tagen haben wir von Vertretern der
Union und auch der SPD viele Äußerungen dazu gehört,
wie die Spielräume im Haushalt auch für familienpolitische Leistungen genutzt werden sollten. Das Stichwort
„Kita“ ist dabei gar nicht gefallen. Ich finde das schade;
ich halte das auch für falsch. Wir brauchen dringend
mehr Geld für die Kitas, insbesondere - ich habe es
schon gesagt - für Qualitätsverbesserungen. Das sind
zentrale bildungspolitische Investitionen, und es ist
überhaupt nicht einsichtig, zumindest für uns Grüne
nicht, dass das für die Regierungsfraktionen überhaupt
keine Rolle spielt.
({7})
Im kompletten Forderungsteil Ihres Antrags kommt die
ganze Thematik der frühkindlichen Bildung und des
Kitaausbaus gar nicht vor. Ich muss konstatieren: Das
sind sehr schlechte Aussichten für die frühkindliche Bildung in dieser Legislaturperiode.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Uwe Schummer erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Liebe Kollegin Werner, welchen Stellenwert die Frage
der Behindertenpolitik und der Inklusion bei den Linken
hat, sieht man daran, dass der profilierteste Sprecher, den
Sie in dem Bereich haben, Herr Ilja Seifert, nicht mehr
dem Parlament und Ihrer Fraktion angehört. Sie haben
ihn nicht ausreichend abgesichert; er war Ihnen nicht
mehr wichtig.
({0})
Insofern ist es eine ganz politische Frage, ob man letztendlich bereit ist, in der eigenen Truppe Konsequenzen
zu ziehen, oder man sie immer nur von anderen einfordert, aber selber versagt.
({1})
40 Prozent derer, die in einer Förderschule unterrichtet werden, gelten als lernbehindert. Ich denke, dass wir
uns mit Blick auf unsere Bildungslandschaft angesichts
der offenkundig steigenden Zahl der Menschen mit
Lernbehinderung selber einmal fragen müssen, ob nicht
manchmal auch die Bildungsmethoden und -systeme
falsch sind. Der Nürnberger Trichter und die Schwerpunktsetzung auf eine rein theoretische Herangehensweise können nach meiner Überzeugung vermeintliche
Lernbehinderungen produzieren. Denn es ist nicht immer ein Kind lernbehindert, sondern es sind oftmals die
Methoden, die Systeme, die das Lernen behindern.
({2})
Begreifen kommt auch von greifen.
Der Weg aus der praktischen Erfahrung zum Verständnis wurde in der allgemeinen Bildung weitgehend
verbaut. Praxis und Theorie in der dualen Berufsausbildung zeigen auch der allgemeinen Bildung, wie es besser gehen kann: wie man auf der einen Seite von der
Theorie zur Praxis gelangt und auf der anderen Seite
über die Praxis zum theoretischen Verständnis kommt.
Beide Wege müssen möglich sein; beide Wege sind
gleichberechtigt in der Bildung.
({3})
Berufsschulen und überbetriebliche Werkstätten können im Verbund mit den allgemeinbildenden Schulen
diese praktischen Wege wieder freilegen. Der Bildungsbericht empfiehlt auch, dass dort, wo sonderpädagogischer Förderbedarf vorhanden ist, dieser mit den Bildungsakteuren besser abgestimmt wird. Eine Assistenz
sollte in der Schule, in den Bildungseinrichtungen nicht
isoliert mitlaufen, sondern Assistenz und Bildungspersonal sollten eng miteinander verzahnt sein.
Jährlich verlassen etwa 50 000 Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Schule. Nur wenige
finden eine Berufsausbildung. Nur 10 Prozent der Betriebe im dualen System bieten auch für behinderte Jugendliche Ausbildungsplätze an. In meinem Bundestagsbüro war ein Vertreter des Verbandes der Floristen zu
Besuch, der sich darüber beklagte, dass die Floristen
keine Auszubildenden mehr finden. Ich habe ihn gefragt:
Haben Sie es denn auch einmal mit behinderten Jugendlichen versucht? - Man konnte schon an seinen Augen
sehen, dass das nicht so richtig sein Thema war. Schließlich kam die Antwort: Die Kunden, die zu uns kommen
und Blumen kaufen, haben nie Zeit, sie müssen sofort
weiter. - In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht
einmal über Entschleunigung nachdenken.
({4})
Wir sollten uns mit der Frage beschäftigen, ob man nicht
Arbeitsprozesse und -strukturen so organisieren kann,
dass sie menschengerecht sind und dass dadurch auch
behinderte junge Menschen ein Stück weit die Chance
bekommen, mitzuarbeiten.
({5})
Da kann einiges im Hintergrund geschaffen werden.
Man hat auch entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten für den Umbau von Arbeitsplätzen. Es gibt auch
Kunden, die Zeit haben und die froh sind, wenn sie ein
Käffchen bekommen und mit dem Floristen ein Gespräch führen können. Entschleunigung ist etwas, was
uns allen guttut. Deshalb ist das ein Thema, das wir sowohl in der Arbeitswelt als auch in der Politik aufgreifen
sollten.
Ich war am Montag in einer katholischen Grundschule in Neuzelle in Brandenburg. Ich fand es spannend, zu sehen, wie hier eine Regelgrundschule aus einer
Förderschule entwickelt worden ist, eine Regelgrundschule in Vielfalt, wie sie sich selber nennt. Zwei Drittel
der Kinder sind ohne Förderbedarf, ein Drittel benötigt
Sonderförderung. Die Klassengröße liegt bei 16. Von der
ersten Klasse an lernen Kinder, behindert oder nicht, gemeinsam. Es gibt ausreichend finanziertes geschultes
Personal und Räume für den Fall, dass sich Schüler mit
ihrer Assistenz zurückziehen wollen.
Wir wissen, dass die Zahl der Schüler mit besonderem
Förderbedarf seit vielen Jahren konstant bei 500 000 liegt,
bei einer allerdings insgesamt sinkenden Schülerzahl.
Wir wissen auch, dass im Grundschulbereich die inklusive Beschulung bei etwa 44 Prozent liegt, im Sekundarbereich sinkt sie auf 23 Prozent.
Deshalb ist es wichtig, auf der einen Seite Zielsetzungen für die Inklusion zu entwickeln. Auf der anderen
Seite müssen aber auch die Voraussetzungen geschaffen
werden. Die wunderbare, fabelhafte grüne Bildungspolitik von Frau Löhrmann in Nordrhein-Westfalen hingegen sorgt erstens dafür, dass ein Unterrichtsstundenausfall überhaupt nicht erfasst werden kann.
({6})
Man hat sich für 700 000 Euro ein Gutachten erstellen
lassen, in dem festgestellt wird, weshalb man Ausfallstunden nicht addieren kann. Zweitens wird jeder Schüler in Nordrhein-Westfalen mit 2 800 Euro weniger im
Jahr gefördert, als das beispielsweise in Thüringen der
Fall ist. Damit wird im Grunde die Zielsetzung erkennbar: Wir schaffen die Förderschulen ab und übertragen
die Mittel auf die Regelschulen; das wird schon irgendwie klappen. - Auf diese Weise fährt man Inklusion krachend gegen die Wand!
({7})
Die Eltern und Lehrer in Nordrhein-Westfalen sind dann
bedauerlicherweise sauer und regen sich auf über Inklusion, obwohl die Auswirkungen offenkundig auf eine
falsche, alles über Bord werfende Bildungspolitik von
Frau Löhrmann zurückzuführen sind.
({8})
Das beschädigt die Inklusion.
({9})
Deshalb kann ich nur empfehlen, die katholische Regelschule in Neuzelle in Brandenburg als Vorbild zu sehen, sie einmal zu besuchen und davon zu lernen.
Es ist gut, dass wir in diesem Bildungsbericht gemeinsam - Bund und Bundesländer - Konsequenzen
entwickelt haben. Das ist auch ein gutes Zeichen, dass
wir als Bund mit den Ländern diese Aufgabe bewältigen.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Rossmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vom Bildungsgipfel 2008 bis zu den Bildungsberichten
geht es immer um strategische Bildungspolitik. Anliegen
einer strategischen Bildungspolitik muss dabei sein, zum
einen möglichst viele Kräfte zu bündeln, zum anderen
möglichst zu einer gemeinsamen Analyse zu kommen
und daraus auch Handlungen abzuleiten. Ich finde, dazu
gehört auch eine Differenzierung. Wenn wir das aufnehmen, was in den Beiträgen, von dem unserer Ministerin
bis zu dem meines Vorredners, geäußert wurde, dann
sind wir doch schon weitergekommen: in Licht und
Schatten, in Prioritäten und Posterioritäten. Aber dieser
Bildungsbericht und die Diskussion dazu zeigen doch
auch, dass es so etwas wie einen „Spirit“ geben kann, ge7636
meinsam mit Kommunen, Ländern, Bund, Sozialpartnern und Wissenschaft an wichtigen Schlüsselstellen anzusetzen. Aber ich bitte dann auch alle Seiten darum,
dabei mitzugehen.
Natürlich kann man einem Antrag der Koalitionsfraktionen vorwerfen, dass darin nicht ausgiebig etwas zu
Hochschulen gesagt wird. Aber das war auch nicht die
Absicht. Wir haben uns, weil es - der Kollege Heil und
die Ministerin haben es gesagt - um Bildungschancen
für alle geht, vorgenommen, diese Forderung auch einmal auf die rund 500 000 Kinder, die eine Schule besuchen, auf eine noch größere Zahl von Kindern, die hoffentlich eine Kindertagesstätte besuchen, und auf
diejenigen, die mit einer Behinderung eine Berufsbildungseinrichtung oder Hochschule besuchen, zu beziehen. Herr Mutlu, dann lässt man anderes eben weg. Wir
finden, dass das eine Ausfüllung einer strategischen,
politischen Schwerpunktsetzung ist.
Herr Jung, noch einmal vielen Dank dafür, dass wir
dort auch viele differenzierte Vorschläge machen konnten. Aber es soll ja nicht nur bei den Vorschlägen bleiben, sondern entscheidend ist auch die Tat.
({0})
In diesem Zusammenhang will ich nur darauf aufmerksam machen: Wenn Sie sich jetzt die Vereinbarungen der Allianz für Aus- und Weiterbildung anschauen,
die diese Bundesregierung mit initiiert hat, dann finden
Sie dort über das hinaus, was im berufsbildenden Bereich schon gemacht worden ist, sehr präzise Verabredungen, speziell für junge Menschen mit Behinderung in
der beruflichen Ausbildung mehr zu tun, angefangen bei
400 000 Praktikumsplätzen, bei denen sich die Wirtschaft verpflichtet hat, diese bewusst auf Menschen mit
einer Behinderung auszurichten, bis hin zur assistierten
Ausbildung. Die assistierte Ausbildung soll ja auch ein
Pfund sein, mit dem man wuchern kann. Es wurde sogar
verabredet, zusätzliche Ausbildungsplätze für diesen Bereich zur Verfügung zu stellen. Das macht doch das Strategische aus: etwas zu erkennen, gemeinsam zu verabreden und dann auch umzusetzen. Das macht uns dann
auch in Teilen zufrieden hiermit.
({1})
Ich will gerne in der Logik des Bildungsberichtes
bleiben und noch sagen: Das gibt uns ja auch die
Chance, tiefer zu graben. Was die frühkindliche Bildung
angeht, müssen wir uns - Kollege Heil hat es angesprochen; die Ministerin hat es auch angesprochen -, wenn
wir den Bildungsbericht lesen, auch selbstkritische Fragen stellen. Im Bildungsbericht steht in einem Kapitel,
dass ausgerechnet bei Kindern aus Migrationsfamilien,
von denen wir alle uns wünschen, dass sie besonders gut
Sprache lernen, ein zu großer Anteil eben nicht in eine
Kindertagesstätte geht. Ich will nicht versäumen, darauf
hinzuweisen, dass es ja auch verwirren muss, wenn es
ein Betreuungsgeld dafür gibt, dass ein Kind keine Kindertagesstätte besucht, und wir gleichzeitig erwarten,
dass dort Sprache gelernt werden soll. Wir müssen aus
dem Bildungsbericht diagnostizieren: Da fehlen zwei
Jahre im Spracherwerb, die über gute Kindertagesstätten
für Migrantenkinder ermöglicht werden könnten. Vielleicht können wir auch an so etwas arbeiten.
Ein zweiter Punkt. Der Bildungsbericht stellt die
Schlüsselstellung der Ganztagsschule heraus, sagt aber
auch, dass die Entwicklung auf diesem Gebiet stagniert.
Muss uns nicht die im Bildungsbericht festgestellte Stagnation beim Ausbau guter Ganztagsschulen veranlassen, noch einmal zwischen Kommunen, Bund und Ländern darüber nachzudenken, wie man gemeinsam eine
Fortsetzung der Ganztagsschulentwicklung mit Qualität
und auch mehr Quantität erreichen kann? Die Eltern
wünschen sich das. Das ist aber auch strategisch wichtig
in Bezug auf die Anforderungen, die der moderne Arbeitsmarkt stellt. Es soll doch möglich sein, dass Frauen
wie Männer zur qualifizierten Wertschöpfung ausreichend beitragen. Dafür bleibt die Ganztagsschule eine
Schlüsselstelle, und wenn es eine Schlüsselstelle ist,
dann ist sie es auch für eine strategische Bildungsverantwortung aller Kräfte.
({2})
Das Dritte, was durch den Nationalen Bildungsbericht
als Schwerpunkt herausgearbeitet wird, ist der Übergang
von der allgemeinen Bildung zur beruflichen Bildung.
Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich herausstellen, wie wichtig es ist - Kollege Rupprecht, wir haben als Parlamentsfraktionen das verstärkt, was die Regierung im Auge hatte -, Berufsorientierung nicht nur
verstärkt auf Gymnasiasten auszuweiten, sondern
schwerpunktmäßig auch für Menschen mit Behinderung,
für Förderschüler und andere. Der Bericht und die praktischen Erfahrungen mit der Berufsorientierung bestätigen, dass wir alle im Blick haben müssen und nicht nur
die Abiturienten. Wir müssen alle ernst nehmen. Kollege
Schummer, ich fand Ihre Ausführungen über die Floristen sehr gut, weil das ein praktisches Beispiel war. Das,
was Sie zu Nordrhein-Westfalen gesagt haben, wird
gleich noch gekontert, aber jetzt erst einmal zum praktischen Bezug: Praktische Hilfen sind wichtig, und diesen
Bereich müssen wir ausbauen.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
Verbindung von Berufs- und Hochschulausbildung. Wir
können uns darüber freuen, dass wir laut Bildungsbericht viele Master haben. Der Bildungsbericht sagt uns
aber auch, dass wir uns erst recht freuen können, wenn
wir viele Meister haben. Diese Gleichwertigkeit ist
wichtig. Priorität darf nicht die akademische Bildung haben, sondern die Priorität muss auf einem erfolgreichen
Abschluss im beruflichen oder akademischen Bereich
liegen. Das ist eine Botschaft des Bildungsberichts, die
zu Handlungen führen kann, die zu Handlungen führen
muss.
({3})
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung: Strategisch
sind wir gut aufgestellt: mit volatilen Bildungsgipfeln,
mit einem kontinuierlich erscheinenden Bildungsbericht,
mit einer KMK, die sich zunehmend konsensorientiert
und strategisch ausrichtet. Wir werben nach wie vor dafür, die Weisheit, die in einem CDU-Parteitagsbeschluss
zum Ausdruck kommt - Beschluss C 13 und C 53, Parteitag 2014 in Köln - aufzugreifen und einen nationalen
Bildungsrat, den uns die vormalige Bildungsministerin,
Frau Schavan, anempfohlen hatte, nicht von vornherein
auszuschließen, sondern offen darüber nachzudenken,
ob ein solcher nationaler Bildungsrat die Bildungsrepublik Deutschland durch einen Konsens und die strategische Bündelung aller Kräfte weiter befördern könnte.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis
es Chancen für alle gibt, ist noch viel zu tun. Das ist das
Kernergebnis des Bildungsberichts 2014 und auch mein
Zwischenfazit in dieser Debatte.
Der Reformstau ist auch deswegen so groß, weil zwei
CDU-Bundesbildungsministerinnen zu wenig für Bildungsgerechtigkeit getan haben. Ein Kurswechsel hin zu
einem inklusiven Bildungsaufsteigerland tut not.
({0})
Sieben Jahre nach dem Bildungsgipfel brechen immer
noch zu viele die Schule ab, bleiben zu viele ohne Berufsabschluss, bleiben Geringqualifizierte abgehängt.
Dieser Chancenmangel und die soziale Spaltung im Bildungssystem verschwinden nicht durch föderale Kleinstaaterei und nicht durch Unterfinanzierung.
({1})
Sie werden nur durch gemeinsames Handeln von Bund,
Ländern und Kommunen für alle Bereiche der Bildungskette von der Kita bis zur Weiterbildung überwunden:
für U 3, für Ganztagsschulen, für Inklusion, für Schulsozialarbeit und eine Ausbildungsgarantie. Das ist notwendig.
({2})
Ob gemeinsames Handeln dann zu einem nationalen
Bildungsrat führt, darüber müssen wir diskutieren, und
zwar fraktionsübergreifend, mit den Verbänden und vor
allem entlang der Frage nach seinem Mehrwert. Falsch
dagegen ist es, die Idee zu vereinnahmen und vorzupreschen, wie die SPD es gerade macht. Mit solchen Kaperfahrten riskiert man, dass eine genauso alte wie interessante Idee baden geht. Notwendiger als ein neues
Gremium ist es aus unserer Sicht, mehr Kooperation in
der Bildung überhaupt zu ermöglichen.
({3})
Das bildungsfeindliche Kooperationsverbot muss fallen.
Das hat uns die Große Koalition 2006 eingebrockt und
2014 nicht behoben. Dieses Kooperationsverbot muss
fallen, und deswegen muss vor allem die Union endlich
ihren Widerstand aufgeben.
({4})
Solange Bund und Ländern eine echte Bildungszusammenarbeit verbaut bleibt, bliebe ein neues Strategiegremium wie der nationale Bildungsrat nur eine lahme
Ente.
Zu alten Fehlern kommen neue Versäumnisse hinzu.
Es ist zwar wunderbar, dass Bund und Länder die Wissenschaftspakte fortsetzen, aber wo bleibt der Vorschlag
der Koalition, wie die neuen Kooperationsmöglichkeiten
in der Wissenschaft, also die neue Verfassungsrealität
seit dem 1. Januar 2015, genutzt werden können? Fehlanzeige! Da sind Sie blank, Sie haben keinen zusätzlichen Cent und keine neue Idee - das ist mau für unsere
Wissensgesellschaft.
({5})
Anstatt substanziell für bessere Studien-, Lehr- und
Arbeitsbedingungen zu sorgen, diskutieren die Kollegen
aus der Koalition seit Monaten lieber über eine angebliche Akademikerschwemme. Dabei übersehen sie, dass
wir durch den demografischen Wandel vor einem verschärften Fachkräftemangel sowohl an beruflich als auch
an akademisch Qualifizierten stehen. Unser Land
braucht mehr Meister und mehr Master. Wir als Grüne
wollen es den jungen Menschen selber überlassen, ob sie
ein Studium oder eine Ausbildung wählen.
({6})
Für Fachkräftesicherung ist unerlässlich, niemanden
zurückzulassen, keine Bildungsverlierer zu produzieren
und Hürden für qualifizierte Einwanderung einzureißen.
In unserer global vernetzten und wissensbasierten Volkswirtschaft kommt es auf Vielfalt, auf Kreativität, auf Internationalität und auf Ideenreichtum an. Deutschland ist
auf Einwanderung als Innovationstreiber in Wissenschaft und Arbeitswelt angewiesen. Die Liste der Mangelberufe muss daher jetzt erweitert werden. Auch junge
Flüchtlinge und Asylbewerber brauchen eine Ausbildungsgarantie mit gesichertem Aufenthaltsstatus, intensiver Sprachförderung und gleichberechtigtem Zugang
zur Ausbildungsförderung. Das sagen Ihnen auch jedes
Unternehmen und jeder Betrieb.
({7})
Gerechte Chancen und gute Bildung für alle - beides
ist konstitutiv für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung und eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Gute Bildung immunisiert gegen Fundamentalisierung und Fanatisierung und gleichzeitig auch gegen
jede Form von Vorurteilen und Menschenfeindlichkeit.
Deshalb ist gute Bildung eine Antwort auf Islamismus
und Islamophobie, also auch ein wirksames Therapeutikum gegen gesellschaftliche Spaltpilze wie Pegida und
Co. Auch deswegen muss eine chancengerechte Bildungspolitik bei dieser Regierung einen höheren Stellenwert bekommen. Das ist auch für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land unerlässlich.
({8})
Die Kollegin Benning erhält nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Dieser Nationale Bildungsbericht
untersucht die einzelnen Stationen des Bildungsweges,
von der Kita bis zur beruflichen Ausbildung, bis zum
Studium. Jede Station baut dabei auf der vorherigen auf.
Je besser ein Bildungsschritt gelingt, desto günstiger ist
es für den folgenden. Unter Führung der Union sind wir
in den letzten Jahren bei der Verbesserung jeder einzelnen Stufe deutlich vorangekommen.
({0})
Bildung bedeutet neben dem Erwerb von Wissen immer auch die Entwicklung der Persönlichkeit. Am Beginn des Bildungsweges geschieht Entscheidendes. In
unserem Antrag verweisen wir auf die Studie der Leopoldina zur frühkindlichen Sozialisation. Erfahrungen,
die in der frühen Kindheit gemacht werden, prägen den
gesamten weiteren Lebensweg. Dies gilt zum Beispiel
auch für den Spracherwerb; das wurde eben bereits
mehrfach gesagt. Eine sichere Beherrschung der deutschen Sprache ist eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Bildungsweg in Deutschland. Kinder aus
nicht deutschsprachigen Familien sollten daher so früh
wie möglich Kontakt zu deutschen Muttersprachlern bekommen.
({1})
Sehr erfolgreich wirkt hier das Bundesprogramm
„Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“.
({2})
Wichtig wäre ein früherer Sprachtest möglichst bei allen
Kindern jedes Jahrgangs, um bei Nachholbedarf gezielt
nachsteuern zu können.
In der frühen Kindheit entwickelt sich auch das
Selbstkonzept eines Menschen. Er entwickelt hier Strategien, um seine Ziele zu erreichen, und lernt, mit Belastungen umzugehen. Je mehr Kompetenzen in dieser Zeit
erworben werden, umso besser sind die Prognosen für
die gesamte weitere Entwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter, sowohl für den Schul- und Berufserfolg
als auch für Gesundheit und Wohlstand. Die enorme Bedeutung der frühkindlichen Bildung ist daher offenkundig.
Hier ist in den letzten Jahren viel passiert. Die Beteiligung der unter Dreijährigen an frühkindlicher Bildung,
Betreuung und Erziehung hat sich in Westdeutschland
seit 2006 verdreifacht und betrug im März 2013 deutschlandweit 29 Prozent.
({3})
Bei den drei- bis sechsjährigen Kindern beträgt die Bildungsbeteiligung insgesamt 96 Prozent. Quantitativ ist
der Ausbau also gut gelungen. Jetzt muss verstärkt auf
die Qualität geschaut werden. Nach wie vor sind es die
Eltern, die in dieser Zeit entscheiden, welche Angebote
ihr Kind wahrnimmt. Besonders für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern kommt es daher entscheidend darauf an, die Eltern anzusprechen und einzubeziehen. Ich kenne viele gute Beispiele dafür.
({4})
Meine Damen und Herren, Deutschland lebt von seinen Köpfen. Flapsig ausgedrückt kann man auch sagen:
Was man nicht im Boden hat, muss man in der Birne haben.
({5})
- Ein guter Spruch.
({6})
- Das gilt nicht nur im Münsterland; das gilt bundesweit.
- Wir sollten uns daran halten. Unser Wissen macht uns
nämlich auch wirtschaftlich stark. Dabei haben wir einen
wachsenden Bedarf in den sogenannten MINT-Fächern:
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik.
({7})
Wir brauchen mehr junge Menschen, die sich hier ausbilden lassen, auch und gerade mehr junge Frauen.
({8})
Der Nationale Pakt für Frauen in MINT-Berufen
wirkt hier bereits. Immer mehr Frauen folgen der Aufforderung: „Komm, mach MINT“. 2012 gab es nämlich
schon 57 Prozent mehr MINT-Studienanfängerinnen als
2008. Es geht darum, in jungen Jahren Interesse zu wecken und eigene Erfahrungen zu ermöglichen, mit dem
Ziel, aus diesem Grundwissen einen Nährboden für spätere technische und naturwissenschaftliche Berufsausbildungen wachsen zu lassen.
Genau hier setzt die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ an. 2006 gegründet und vom Bundesbildungsministerium gefördert, hat sie sich mittlerweile zur größten
frühkindlichen Bildungsinitiative entwickelt, die es in
Deutschland je gegeben hat. Wussten Sie das?
({9})
- Das ist gut.
({10})
Was zunächst auf Kitas ausgerichtet war, wird seit 2011
auch auf die Grundschulen ausgeweitet. Unser Ziel ist
es, die kleinen Forscher in 80 Prozent aller Kitas experimentieren zu sehen.
({11})
Bei älteren Schülern muss man noch mehr für die
MINT-Fächer werben. Dazu gehört zum Beispiel, Lehrerinnen und Lehrer als Botschafter für Naturwissenschaften zu gewinnen. Nötig ist auch mehr Spielraum für
vertiefende Erfahrungen und Experimente über die regulären Lehrpläne hinaus. Hier kommt den Ganztagsschulen eine besondere Bedeutung zu. Das Angebot wurde in
den letzten Jahren massiv ausgebaut. Mittlerweile geht
schon jeder dritte Schüler ganztags zur Schule. Der Bedarf ist noch größer.
({12})
Ganztagsschulen erhöhen nachweislich die Bildungschancen. Studien belegen, dass Kinder, die regelmäßig
an Ganztagsangeboten teilnehmen, bessere Lernerfolge
erzielen. Der Erfolg schulischer Ganztagsbetreuung bestimmt sich maßgeblich durch die pädagogischen Konzepte. Hier müssen innovative Lösungen gefunden werden.
Meine Damen und Herren, das formale Ziel jeder
Schulausbildung ist der Schulabschluss. Noch immer ist
die Zahl derer, die ihn nicht schaffen, leider zu hoch. Der
Übergang zum nächsten Schritt, zur Ausbildung, wird
damit deutlich erschwert. Denn nicht jeder, der eine
Ausbildung oder ein Studium anfängt, schafft den angestrebten Abschluss. Aber auch hier passiert sehr viel. Die
Initiative Bildungsketten zur Berufseinstiegsbegleitung
verzeichnet seit Jahren große Erfolge.
Gerade haben Bund, Länder und Sozialpartner die Allianz für Aus- und Weiterbildung unterzeichnet. Das
Konzept der assistierten Ausbildung sieht vor, dass sowohl die Auszubildenden als auch die Betriebe während
der Ausbildung Ansprechpartner haben, die bei Schwierigkeiten vermitteln können. Dies alles ist ein entscheidender Beitrag zur Stärkung der beruflichen Bildung im
deutschen Mittelstand, dem Rückgrat unserer Wirtschaft. Denn wir brauchen beides: Wir brauchen berufliche und akademische Bildung.
({13})
Das sage ich bewusst, weil ich die Verzahnung beider
Systeme für unabdingbar halte.
({14})
Die Anzahl der Studienanfängerinnen und -anfänger
übersteigt bei weitem die von Bund und Ländern angestrebte Zielmarke von 40 Prozent. Sie lag 2012 bei
51,4 Prozent. Gerade in den MINT-Fächern sind jedoch
zu viele Abbrüche zu verzeichnen. Gemeinsam mit den
Hochschulen und Kammern suchen wir nach neuen Lösungen, wie es weitergehen kann, wenn ein begonnener
Bildungsweg nicht abgeschlossen wurde. Damit es weitergeht und aus dem scheinbaren Scheitern eine genutzte
Chance wird, müssen wir klären, was angerechnet werden kann: von einer Ausbildung für eine andere, von einem begonnenen Studium für eine Ausbildung und von
auf dem Ausbildungsweg erworbenen Qualifikationen
für ein Studium.
Die Gründe für einen Abbruch liegen oft nicht im
fachlichen Bereich, sondern in den sogenannten Sekundärtugenden. Wesentliche Kompetenzen dafür werden
bereits in der frühen Kindheit erworben. Hier sind wir
dann wieder bei der Bedeutung der frühkindlichen Bildung für den gesamten Bildungsweg.
Meine Damen und Herren, das Schwerpunktthema
des Bildungsberichtes 2014 - die Inklusion und die
Frage, was wir für Menschen mit Behinderung im Bildungsbereich tun müssen - wurde in dieser Debatte bereits umfangreich erörtert. Mir ist wichtig, dass wir mit
den Verbesserungen im gesamten Bildungsbereich gerade diejenigen erreichen, die vielleicht keinen anerkannten besonderen Förderbedarf haben, aber dringend
eine bessere individuelle Förderung benötigen.
({15})
Betonen möchte ich: Für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen ist das Zusammenwirken
aller Akteure zwingend erforderlich. Bund, Länder,
Kommunen und Bildungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft müssen zusammenarbeiten.
({16})
Der Bund stellt in dieser Legislaturperiode zusätzlich
6 Milliarden Euro für Bildung und Betreuung zur Verfügung. Durch die freiwerdenden BAföG-Mittel können
- und sollten - die Länder insgesamt 1,2 Milliarden Euro
jährlich in Schulen und Hochschulen investieren. Wenn
die darin liegenden Chancen jetzt gut genutzt werden,
kommen wir alle einen Riesenschritt voran. Wir kennen
unsere Aufgaben, und wir gehen sie entschlossen an.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Willi Brase für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin meiner Vorrednerin ausgesprochen dankbar, dass sie auf die Bedeutung
von MINT hingewiesen hat. Wir haben mal ein bisschen
geschaut: Wie sieht es denn in den Bundesländern aus,
was passiert dort? Ich erinnere daran, dass wir 2008
beim Bildungsgipfel Maßnahmen beschlossen haben,
die für Bund, Länder und Kommunen, vor allen Dingen
aber für Bund und Länder gelten, Herr Mutlu. Wenn Sie
beklagen, dass zu wenige einen Schulabschluss haben,
dann müssen Sie die Länder genauso adressieren.
Bei den Abschlüssen in MINT-Fächern können wir
eine wunderbare Statistik zur Kenntnis nehmen: Bezogen auf 1 000 erwerbstätige MINT-Akademiker hatte
Nordrhein-Westfalen 2013 74 Abschlüsse vorzuweisen,
Niedersachsen und Bremen 68, Schlusslicht war Hessen
mit 54; der Durchschnitt in Deutschland lag bei 63.
Also: Wenn man Bundesländer kritisieren will, dann
muss man anerkennen, dass Nordrhein-Westfalen und
Niedersachsen hier sehr gut im Feld liegen.
({0})
- Kauder, hör up!
({1})
Ich fand es auch sehr interessant, zu erfahren, dass
das Bundesland Sachsen einen Bildungsplan für Kitas
vorgelegt hat - auch ein Ausdruck der gemeinsamen
Verabredung 2008: Wir machen einen Plan, damit das
mit den Kitas vernünftig läuft und immer mehr junge
Kinder eine Chance haben.
({2})
Auch das, was die Bundesländer hier machen,
({3})
ist eine gute Sache.
({4})
Lieber Uwe Schummer, wenn ich mir anschaue, was
die Regierung Rüttgers - Herr Rüttgers war ja mal Bildungsminister in der Bundesregierung - in NordrheinWestfalen hinterlassen hat, muss ich feststellen: Da blieb
einiges unerledigt. Wir haben in Nordrhein-Westfalen
seit 2010/2011 den Ausbau der U-3-Betreuung um
75 Prozent gesteigert.
({5})
Wir haben die Zahl der Ganztagsplätze seit diesem Datum von 225 000 auf 280 000 Plätze erhöht - eine Steigerung um 25 Prozent. Wir haben die Zahl der Studienanfänger ebenfalls um 25 Prozent gesteigert, in den
MINT-Fächern sogar um 50 Prozent.
({6})
Das ist Ausdruck einer richtigen Politik, die aber nicht
erst 2011 oder 2012 begonnen hat, sondern teilweise
Jahre zurückgeht. Das Beste, was Nordrhein-Westfalen
passiert ist, war, dass man Ende der 60er-Jahre den Ausbau der Hochschulen und Fachhochschulen massiv vorangetrieben hat. Auch Herr Rüttgers hat etwas getan;
das wollen wir nicht außen vor lassen. Also: Die Länder
machen schon gute Sachen.
({7})
Für Inklusion nimmt NRW zwischen 2012 bis 2017
750 Millionen Euro zusätzlich in die Hand für über
3 800 Lehrerstellen; auch das geht also gut voran.
Im Bildungsbericht - ich will doch noch mal kurz darauf zurückkommen - wurde auch beschrieben, dass wir
in dieser Republik nach wie vor das Problem haben, dass
junge Leute mit sozial schwierigem oder bildungsfernem
Hintergrund wesentlich schlechtere Chancen haben, einen
höheren Abschluss zu erreichen. Das ist leider immer
noch so. Das betrifft den Bund, das betrifft die Länder,
das betrifft die Kommunen. Deshalb will ich eine Initiative erwähnen, mit deren Vertretern ich in den letzten Tagen
habe sprechen können, die Initiative ArbeiterKind.de. Es
handelt sich hierbei um freiwilliges Engagement von
jungen Leuten, die sagen: Wir wollen Informationen
auch in diese Familien hineinbringen, damit auch Kinder
aus diesen Familien eine Chance haben - mit den Bedingungen, die wir als Gesellschaft schon lange zur Verfügung stellen -, zu studieren, wenn sie dies wollen.
30 000 Schülerinnen und Schüler werden von dieser Initiative jedes Jahr angesprochen. Mir war es ein Bedürfnis, von dieser Stelle auch zu sagen: Danke, dass hier
auch junge Menschen sich Gedanken machen, wie man
es erreicht, dass alle eine Chance bekommen, auf dem
Weg nach vorne zu gehen.
({8})
Leider habe ich nicht mehr viel Redezeit, Herr Präsident, aber eine Bemerkung darf ich noch machen: Mit
der Allianz für Aus- und Weiterbildung wollen wir nicht
nur für mehr Ausbildungsplätze für junge Leute und für
mehr Berufsorientierung sorgen, sondern auch noch einmal die Gleichwertigkeit von allgemeiner und akademischer Bildung deutlich machen. Das kann man nicht oft
genug sagen. Wir bieten den jungen Menschen zwei
Wege an, die sie ganz nach oben führen, und wer das
möchte, muss und wird alle Unterstützung bekommen.
Vielen Dank für Ihr Zuhören.
({9})
Sven Volmering ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als letzter Redner dieser Debatte möchte ich
noch einmal die Gelegenheit nutzen, allen Menschen,
die im Bildungssektor arbeiten, zu danken. Sie leisten in
unseren Kitas, Schulen, Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen wirklich Großartiges.
({0})
Im Nationalen Bildungsbericht 2014 wird festgestellt,
dass es positive Entwicklungen in allen Bildungsbereichen gibt und dass die Bildungsbeteiligung sowie der
Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland verbessert wurden. Das ist ein Erfolg,
({1})
und ich freue mich, dass die Grünen und Linken in ihren Anträgen versteckt ebenfalls von Verbesserungen
sprechen.
({2})
Inhaltlich erinnern Sie hingegen an Scheinriesen, die
meinen, in wenigen Schritten, bestehend aus Rechtsansprüchen und neuen Gesetzen, das Ziel einer perfekten
Bildungsrepublik sofort erreichen zu können. Das funktioniert so nicht. Mit dem Antrag unserer Koalition, der
viele konkrete Punkte enthält, werden wir erfolgreicher
für das Bildungssystem sein, weil er realistischer ist, als
es Ihre allgemeinen Forderungen sind.
({3})
Das Ceterum censeo eines neuen Artikels 91 b Absatz 2 des Grundgesetzes, von dem wir in dieser Debatte
auch immer wieder gehört haben, ändert nichts, aber
auch gar nichts an dem Befund, dass der Bund in enger
Kooperation mit Ländern und Kommunen sehr viel in
der Bildungspolitik leistet, von dem die Schulen direkt
und indirekt profitieren.
Frau Dörner, Sie haben bemängelt, es gebe in der
frühkindlichen Bildung nichts, was stützend wirkt. Für
meine einjährige Tochter habe ich letztens bei der Kinderärztin zum Beispiel das Starterset des Programms
„Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“ bekommen. Die Stiftung Lesen hat hier mit Mitteln des BMBF
etwas wirklich Ausgezeichnetes geschaffen. Mit insgesamt drei Sets, die bis zur Einschulung wirken, wird eine
gute Leistung angeboten und letztendlich Lust aufs Lesen gemacht. Das kommt in Deutschland jedem Kind aus allen Bevölkerungsschichten und mit jedem Hintergrund - zugute.
({4})
Als weitere Maßnahmen nenne ich die vielen Wettbewerbe, die der Bund fördert. „Jugend forscht“ wird in
diesem Jahr beispielsweise 50 Jahre alt, und die Qualitätsoffensive Lehrerbildung wurde in dieser Debatte
auch schon zigmal angesprochen.
Das Engagement des Bundes in der Bildungsforschung ist hier letztendlich heruntergeredet worden. Das
ist ein falsches Signal. Wir fördern insgesamt 300 Forschungsprojekte mit 165 Millionen Euro. Diese liefern
uns sehr deutlich Erkenntnisse darüber, wo wir auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren müssen.
({5})
Wir müssen endlich von der reinen Zahlen- und Quotenfixierung wegkommen
({6})
und auch von der Qualität sowie der inhaltlichen Ausgestaltung der Angebote in der Bildungspolitik sprechen.
Die Bildungsforscherin Fabienne Becker-Stoll hat in
der FAS vom 2. August 2014 darüber gesprochen, dass
Kinder aller Schichten und Bevölkerungsgruppen besser
zu Hause bei ihren Eltern bleiben sollten, bevor sie eine
schlechte Einrichtung besuchen. Das verdeutlicht den
Spagat, den wir in der Politik zwischen Qualität, Quantität und politischen Zielen vollziehen müssen. An dieser
Stelle bin ich froh - das sage ich auch deutlich -, dass
wir das Betreuungsgeld haben.
({7})
- Nein, nicht „oh wei, oh wei“; das ist doch richtig!
Die Fragen nach der Qualität stellen sich auch bei anderen Themen, zum Beispiel beim Thema Inklusion und
beim Thema Ganztag. Die gesellschaftliche Antwort, die
manchmal gegeben wird - weniger Leistung, keine
Hausaufgaben, keine Noten -, ist hier sicherlich auch
kein Lösungsweg.
({8})
Die Schülerinnen und Schüler müssen abseits der
Schule Zeit für sich haben, sie müssen Zeit haben, Gelerntes zu wiederholen, neue Hürden zu meistern und
Leistungen zu zeigen. Herr Heil, darin sind wir uns ja
auch durchaus einig, wie wir gerade gehört haben.
Aber natürlich gilt es, Verbesserungsvorschläge zu
diskutieren. Das betrifft beispielsweise unterrichtliche
Belastung am Mittag. Das betrifft die Inhalte, wie wir in
den letzten Tagen auf Twitter gelernt haben. Aber das
betrifft auch die Erfahrungen von Vereinen, dass Kinder
und Jugendliche weniger Zeit für außerschulisches
Engagement haben.
Wenn Lehrerverbände und Studien davor warnen,
dass der psychische Druck für manche Schüler immer
größer wird, weil Abitur und Studium als alleinseligmachende Königswege der Bildung angesehen werden,
dann muss reagiert werden. Angesichts des demografischen Wandels und der steigenden Zahl der Studierenden brauchen wir uns nicht zu wundern, dass bei
49 Fachkräftegattungen, bei denen eine duale Ausbildung möglich wäre, dramatische Engpässe in Millionenhöhe bestehen.
Wir müssen das Bildungssystem stärker mit der Lebensrealität verbinden. Eine Tatsache ist, dass es Informationsdefizite bei der Berufsorientierung gibt,
({9})
bei allen Schulformen und in allen gesellschaftlichen
Schichten, wie durch eine Allensbach-Studie herausgefunden wurde. Daher ist es gut, dass in dem Antrag der
Großen Koalition allein zu dieser Thematik acht Punkte
benannt werden. Von den Grünen gab es im gesamten
Antrag insgesamt nur neun Forderungen. Von daher können Sie sich Ihre Kritik in diesem Bereich eindeutig sparen.
({10})
Die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Unternehmen und Behörden muss intensiviert werden. Die Aussage, dass nur ein Viertel der Schüler die Angebote der
Bundesagentur für Arbeit im Bereich der Berufsorientierung nutzt und für hilfreich hält, ist erschreckend. Genauso erschreckend ist es, wenn man von Schülern immer wieder hört, dass es bei der Berufsberatung den Tipp
gebe, Model zu werden, weil man so gut aussehe. Diese
Punkte beweisen, dass da noch nicht der Weisheit letzter
Schluss erreicht ist.
Von daher ist es kein Wunder, dass sich die Jugendlichen vor allem mit ihren Eltern über Berufsfragen unterhalten, was mal positiv, mal negativ sein kann. Es ist
deshalb gemeinsames Ziel der Großen Koalition - das
wird auch in dem Antrag festgehalten -: Wir wollen jungen Menschen und ihren Eltern realistische Zukunftsperspektiven aufzeigen, um die Abbrecherquoten zu senken
und jedem Jugendlichen, wie es die Allianz für Aus- und
Weiterbildung vorsieht, eine Ausbildungsgarantie zu geben.
({11})
Diese Intensivierung der Berufsorientierung, die unser Ziel ist, bedeutet natürlich eine Herausforderung für
die Schulen. Deshalb brauchen sie Entlastungen. Über
dieses Thema sollte in der KMK einmal geredet werden;
denn die Kollegen an den Schulen ächzen natürlich
schon unter einem enormen Bürokratieaufwand in
Deutschland: Dokumentationspflichten, das Schreiben
von Papieren für die Schublade und auch die Erhebung
manch unwichtiger Statistiken rauben Zeit für die Schülerinnen und Schüler. Deshalb muss Bürokratie im deutschen Bildungssystem reduziert werden. Nicht alles
muss bis ins letzte Detail geregelt und standardisiert
werden.
({12})
Da muss Schulen einmal die Freiheit gewährt werden,
stärker auf aktuelle Entwicklungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft einzugehen, ohne durch zentrale Vorhaben und Vorgaben gelähmt zu werden.
({13})
Warum sollten Schulen, die beispielsweise Vorreiter bei
der Inklusion sind, nicht die Möglichkeit haben, in Eigenverantwortung von Klassenfrequenzrichtlinien abzuweichen? Es ist gerade das Hohe Lied auf NordrheinWestfalen gesungen worden. Aber in Dinslaken ist genau diese Abweichung von der Landesregierung verboten worden, als eine Vorreiterschule im Bereich der Inklusion diese dringende Bitte geäußert hatte. Auch in
NRW ist also nicht alles Gold, was glänzt. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
({14})
Wir müssen bereit sein, neue Strategien zuzulassen.
Das Handwerk hat die Idee des dualen Abiturs vorgestellt, um Abiturienten in entsprechende Berufe zu locken. Auch mit diesem interessanten Ansatz sollten wir
uns beschäftigen. Ebenso werden uns die Themen digitale Bildung und Inklusion in diesem Jahr verfolgen.
Nichtsdestoweniger will ich zum Abschluss zitieren.
In der Bibel steht: „Gelassenheit bewahrt vor großen
Fehlern.“ - Ein großer Fehler wäre es, Herr Präsident,
die Redezeit zu überziehen. Allerdings wäre es ein anderer Fehler, es so zu machen, wie es der DGB in der letzten Woche getan hat, nämlich teilweise überdramatisch
alles schlechtzureden.
Deutschland ist in der Bildung auf einem guten Weg.
Die Koalition hat einen starken Antrag vorgelegt, den
der Bundestag in aller Gelassenheit annehmen kann.
({15})
Darüber entscheiden wir dann später. - Zunächst
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2990, 18/3546, 18/3412 und
18/3728 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen
feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 19 a und
19 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsultationsergebnisse beherzigen - Klage-
privilegien zurückweisen
Drucksache 18/3747
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Interessengeleitetes Gutachten zu Investorenschutz zurückweisen
Drucksache 18/3729
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 96 Minuten dauern. - Ich stelle
dazu Einvernehmen fest und eröffne hiermit die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst die Kollegin Katharina
Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben im Deutschen Bundestag schon das
eine oder andere Mal über die Schiedsgerichte im TTIPAbkommen diskutiert: über die Gefahren von unklaren
Rechtsbegriffen, die mangelnde Unabhängigkeit von
Schiedsrichtern, intransparente Schiedsverfahren, mangelnde Berufungsinstanzen oder ganz grundsätzlich über
den Sinn oder Unsinn dieses Konzeptes.
Ich bin froh, dass wir auch heute wieder darüber sprechen. Denn nach wie vor sind die Klageprivilegien für
Konzerne eine der entscheidenden Fragen, wenn es um
das Für und Wider von TTIP geht.
({0})
Seit dieser Woche gibt es allerdings noch eine neue
Tatsache, die wir in der Debatte berücksichtigen müssen,
und zwar die Entscheidung der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Die Kommission hat nämlich endlich,
nach Monaten der Auswertungszeit, die Ergebnisse der
EU-weiten Bürgerbefragung zu den Schiedsgerichten
veröffentlicht.
Das Ergebnis spricht eine eindeutige Sprache: Über
97 Prozent der Befragten sagen Nein zu den Schiedsgerichten im TTIP-Abkommen.
({1})
Über 97 Prozent halten die Schiedsgerichte für gefährlich und unnötig. Sie wollen sie grundsätzlich nicht. Das
heißt, sie lehnen sie nicht nur im Detail ab, sondern sie
wollen sie gar nicht.
Das Ergebnis ist auch deshalb so klar und eindeutig,
weil fast 150 000 Stellungnahmen zu diesem Thema in
Brüssel eingegangen sind. Das ist eine enorme Zahl im
Vergleich zu den vielen anderen Befragungen, die die
EU ansonsten durchführt.
({2})
Ich glaube, angesichts dieser Zahlen ist es jetzt unsere
Verantwortung als Politiker, hierauf eine ebenso eindeutige Antwort zu geben.
({3})
Wir Grünen haben mit unserem Antrag einen konkreten Vorschlag gemacht. Aus unserer Sicht ist es nun endlich notwendig, dass wir als Deutscher Bundestag sagen,
dass wir keine Schiedsgerichte in TTIP und CETA akzeptieren werden.
({4})
Diesen Vorschlag wollen wir gerne mit Ihnen diskutieren, und zwar ernsthaft und ehrlich. Aber man führt
keine ehrliche Debatte, und man nimmt die Bürgerbefragung nicht ernst, wenn man das Ergebnis nur freundlich
entgegennimmt und es dann, bildlich gesprochen, in den
Aktenschrank stellt, um es dort verstauben zu lassen.
Genau das scheinen Sie als Bundesregierung leider vorzuhaben. Denn so müssen es die Menschen verstehen,
dass Herr Gabriel in einer Pressemitteilung diese Woche
angekündigt hat: Zur Frage der Schiedsgerichte wird
sich die Bundesregierung erst dann abschließend äußern,
wenn auch das ganze Verhandlungsverfahren abgeschlossen ist, also in vier oder fünf Jahren oder noch später, je nachdem, wann TTIP ausverhandelt ist.
({5})
Weil wir gerade beim Thema Wahrheit und Klarheit
sind: Nicht ernst nimmt man die Bürgerinnen und Bürger übrigens auch dann, wenn man, wie Landwirtschaftsminister Schmidt letzte Woche im Spiegel,
erklärt, man könne unter TTIP nicht mehr die Herkunftsangabe zu jeder Wurst oder jedem Käse schützen,
({6})
nur um dann schleunigst zurückzurudern, wenn man
merkt, wie viel Ärger man sich damit einhandelt.
({7})
Sehr geehrte Bundesregierung, die Bürgerinnen und
Bürger wollen wissen, ob das Kölsch künftig noch aus
Köln kommt oder, was ich nicht hoffen will, auch in
Düsseldorf gebraut werden kann.
({8})
- Sie können Herrn Schmidt sagen, dass das ein schlechtes Beispiel ist. Denn genau so wird er im Spiegel zitiert.
Damit stiftet die Bundesregierung bei diesem Thema
Verwirrung.
Sie wollen auch wissen, ob Konzerne uns unter TTIP
vor intransparenten Schiedsgerichten verklagen können
oder ob sie sich weiter an normale staatliche Gerichte
wenden müssen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der SPD, ich finde, die Bürgerinnen und Bürger haben es verdient, dass die Bundesregierung endlich, nachdem wir so oft darüber diskutiert haben, klar sagt, was
sie an den Schiedsgerichten akzeptiert. Sagen Sie uns
doch einfach, welche Regeln Sie gut und welche Sie
schlecht finden bzw. wann Sie zu den Schiedsgerichten
Ja und ab wann Sie Nein sagen. Wir haben das schon oft
diskutiert. Sie sagen immer nur: Wir werden prüfen. Wir
werden vielleicht nachverhandeln, vielleicht werden wir
aber auch nicht nachverhandeln. Vor allem aber werden
wir den Bürgerinnen und Bürgern nicht sagen, was die
Bundesregierung will. - Das geht nicht. So nimmt man
die Bürgerinnen und Bürger nicht ernst.
({10})
Zur Ehrlichkeit in der Debatte gehört im Übrigen
auch, dass wir die Chance nutzen und jetzt klären, wer in
dieser Bundesregierung die Schiedsgerichte und das Abkommen will und wer nicht; denn auch hier liefern Sie
als Bundesregierung eine ziemlich verwirrende Performance ab.
({11})
Auf der einen Seite gibt es einen Parteitagsbeschluss der
SPD, der ziemlich klar ist. Es gibt diverse öffentliche
Äußerungen der Minister der Bundesregierung. Außerdem gibt es sogar einen kritischen Parteitagsbeschluss
der CSU zu den Schiedsgerichten, wie ich mit Freude
zur Kenntnis genommen habe. Auf der anderen Seite ist
da Frau Merkel, die eigentliche Erfinderin des TTIPProjekts und vielleicht die Einzige, die das Ganze wirklich will.
({12})
Doch auch Frau Merkel äußert sich zu TTIP nur dann,
wenn sie gar nicht darum herumkommt. Ansonsten geht
sie lieber auf Tauchstation und freut sich darüber, dass
das Thema TTIP nicht so wirklich mit ihr in Verbindung
gebracht wird. Man hat das Gefühl, es wäre Frau Merkel
sehr recht, wenn das so unbeliebte Thema TTIP letztendlich nicht mit der CDU/CSU, sondern mit Herrn Gabriel
und der SPD in Verbindung gebracht würde.
({13})
Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ob Sie bzw. Ihr Minister das wirklich wollen sollten.
({14})
Was Sie aber auf jeden Fall wollen sollten - das ist
mein dringender Appell an Sie -, ist, dass die Bürgerinnen und Bürger, die sich mit dem Thema TTIP beschäftigen, endlich wissen, woran sie bei Ihnen sind. Hier haben Sie eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder
hören Sie auf die 150 000 Bürgerinnen und Bürger, die
nun abgestimmt haben, und auf die 1,3 Millionen Menschen, die die Resolution gegen TTIP unterschrieben haben,
({15})
und geben den Kirchen, den Gewerkschaften sowie den
Umwelt- und Sozialverbänden in Europa eine Stimme,
oder eben nicht. Es ist Ihr gutes Recht, das frei zu entscheiden. Aber es ist auch Ihre Pflicht, zu sagen, wo Sie
stehen; das schulden Sie den Bürgerinnen und Bürgern.
Damit müssen Sie heute endlich anfangen.
({16})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht sollten wir eingangs kurz darüber sprechen, worüber wir eigentlich reden.
({0})
- Das Thema Kölsch wird der Kölner Abgeordnete Herr
Professor Hirte nachher mit Frau Dröge persönlich besprechen. Da will ich mich nicht einmischen. Ich fühle
mich eher für den Wein zuständig. Aber dieser wurde
heute nicht angesprochen.
Es geht darum, wer im 21. Jahrhundert im internationalen Handel die Standards setzen wird.
({1})
Setzen wir in Europa zusammen mit den USA und Kanada - das Abkommen CETA ist quasi ausverhandelt;
hier sind wir auf der Zielgeraden angekommen - die
Standards nicht nur für Europa - das ist wahrscheinlich
die letzte Chance, unsere Standards in Technik, im Verbraucherschutz, im Arbeitsschutz und in anderen Bereichen weltweit zu setzen -, oder schaffen wir es nicht?
Wenn wir es nicht schaffen, wird es trotzdem eine Regelung geben. Was wird passieren? Dann werden andere
das Vakuum, das durch die Nicht-Regulierung entstanden ist, ausfüllen. Die USA verhandeln parallel zu TTIP
mit 13 asiatischen Staaten über die Trans-Pacific Partnership. China hat nun angekündigt, ein Freihandelsabkommen mit den USA abzuschließen.
Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollege Gambke?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Pfeiffer, dass Sie meine
Frage zulassen. - Ich glaube, wir sind an einer ganz entscheidenden Stelle. Sie haben davon gesprochen, dass
Standards gesetzt werden sollen. Ist Ihnen bewusst, dass
die Bruttowertschöpfung, die China bei den produzierten
Waren erreicht, bei 25 Prozent liegt, während Amerika
nur 19 Prozent erreicht? Ist Ihnen bewusst, dass der pazifische Raum dabei ist, Handelsabkommen abzuschließen? Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Erfolgsaussichten, auf atlantischer Ebene - die Amerikaner
sind im zudem im pazifischen Raum aktiv, wir nicht Dr. Thomas Gambke
die Trends zu setzen, sowie die Tatsache, dass China ein
gerade gefälltes Schiedsgerichtsurteil der WTO umgesetzt hat? Dieses Urteil betreffend den Export Seltener
Erden zeigt, dass es durchaus möglich ist, auf WTOEbene Schiedsgerichte und Appellationsgerichte, also
Berufungsgerichte, einzurichten.
Wie bewerten Sie dann die sehr singuläre und übrigens in der Fachwelt sehr umstrittene Art und Weise, mit
der jetzt versucht wird, auf atlantischer Ebene Schiedsgerichte zu etablieren?
Das ist eine umfangreiche Frage, die ich auch umfangreich zu beantworten versuchen werde. - In der Tat
- da sind wir uns einig - wären multilaterale Lösungen
im Rahmen der WTO am besten. Leider sind die WTOVerhandlungen in den letzten Jahren nicht so schnell vorangekommen - das gilt insbesondere für die DohaRunde -, wie wir uns das alle gemeinsam in Europa erhofft haben. Weil die Verhandlungen nicht so schnell vorankommen, wurde begonnen, bilaterale Abkommen zu
verhandeln und auch abzuschließen.
Im Übrigen hat nicht Europa mit diesen bilateralen
Verhandlungen begonnen, sondern Europa hat sehr lange
versucht, den multilateralen Ansatz weiterzuverfolgen
und alle Staaten einzubinden. Erst als andere mit diesen
bilateralen Verhandlungen begonnen haben, konnten wir
in der EU nicht außen vor bleiben und mussten unsere
Interessen entsprechend vertreten. Selbstverständlich ist
es aber immer noch das europäische Ziel und das Ziel
dieser Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion, die
WTO an erster Stelle zu stärken.
Es gab, wie Sie wissen, im letzten Jahr in Bali einen
Fortschritt, dem jetzt auch die Inder zugestimmt haben.
Es geht also im Schneckentempo weiter. Ich sehe auch
die Abkommen zwischen Europa und Kanada und Europa und den USA nicht im Gegensatz zur WTO; vielmehr können diese Abkommen Standards setzen, die wir
im Rahmen der WTO aufgreifen. Genau das ist doch das
Thema, das Sie beschrieben haben.
({0})
Das ist die Herausforderung: Wer wird zukünftig multilateral diese Standards setzen? Werden es europäischamerikanische Standards sein, oder werden es asiatische
Standards sein? Die Interessen, um die es hier geht, sind
ganz unterschiedlich.
Wenn Sie jetzt die Frage nach den Gewichten stellen,
dann muss ich sagen: Es ist in der Tat so, dass die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika
mit TTIP einen Markt von über 800 Millionen Menschen schaffen würden, in dem weit über 50 Prozent der
Weltexporte stattfinden. Die aufstrebenden Länder in
Asien werden natürlich an Exportstärke gewinnen, insbesondere China und die ASEAN-Staaten, die wir alle
gut kennen, weil wir uns mit dem Thema intensiv auseinandersetzen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir
gerade jetzt auf transatlantischer Ebene versuchen, unsere Standards als Weltstandards zu implementieren.
Zu den Schiedsgerichtsverfahren will ich an dieser
Stelle auch gleich etwas einflechten. Diese sind ein Instrument, die es im Rahmen der WTO und im Rahmen
von Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit
anderen Staaten gibt, und Investitionsschutzabkommen
und Schiedsgerichte gibt es selbstverständlich auch auf
nationaler Ebene. Wie Sie wissen, hat Deutschland vor
50 Jahren diese Schiedsgerichte und diese Investitionsschutzabkommen quasi erfunden. Wir haben 130 Abkommen abgeschlossen. Im Übrigen wurden über 20
dieser Abkommen unter Rot-Grün zwischen 1998 und
2005 abgeschlossen.
({1})
Deshalb kann ich auch gar nicht erkennen, weshalb
Investitionsschutzabkommen per se schlecht sein sollen.
Sie haben solche Abkommen während Ihrer Regierungszeit abgeschlossen.
({2})
- Herr Kollege, ich bin eigentlich noch immer bei der
Beantwortung Ihrer Frage.
({3})
Er scheint mit der Antwort zufrieden zu sein.
({4})
Ich möchte aber den Gedanken fortsetzen. Die 23 Abkommen, die in rot-grüner Regierungszeit abgeschlossen
wurden, und die weiteren fünf, die in rot-grüner Zeit ratifiziert wurden, betreffen bei weitem nicht nur Entwicklungsländer oder Schwellenländer. In Ihrer Regierungszeit ist zum Beispiel das Abkommen mit Polen
abgeschlossen und das Abkommen mit Kroatien ratifiziert worden, und es sind Abkommen mit Mexiko und
anderen Staaten abgeschlossen worden.
Insofern wird auch an dieser Stelle deutlich - eigentlich wollte ich das erst später ausführen -, dass das, was
immer gesagt wird, nämlich dass Schiedsgerichtsverfahren nichts für entwickelte Staaten seien, sondern nur im
Umgang mit Entwicklungsländern oder Schwellenländern sinnvoll seien, nicht richtig ist. Das ist mitnichten
der Fall.
Ich will Ihnen dazu gerne ein paar Zahlen nennen:
Deutschland hat, wie bereits erwähnt, 130 Abkommen
geschlossen. Im Übrigen gab es nach meinen Informationen überhaupt erst drei Klagen gegen Deutschland,
von denen bisher keine erfolgreich war. Das heißt, bisher
gab es hier - es wird ja immer unterstellt: es kommen irgendwelche finsteren Konzerne und Mächte von irgendwoher und klagen in Deutschland gegen Standards keine erfolgreiche Klage.
Im Gegenteil, umgekehrt wird ein Schuh daraus.
Wenn Sie sich die aktuelle Situation anschauen, dann erkennen Sie, dass die Mehrzahl der weltweit anhängigen
Schiedsgerichtsverfahren von EU-Staaten gegen andere
Staaten geführt wird; 53 Prozent aller Schiedsgerichtsverfahren werden von EU-Staaten angestrengt, während
nur 22 Prozent aus den USA kommen.
Wenn wir die jüngste Entwicklung, die des Jahres
2014, betrachten, dann zeigt sich, dass Schiedsgerichtsverfahren sogar von Staaten der Europäischen Union gegen andere Staaten der Europäischen Union angestrengt
werden - Verfahren, die es nach Ihrer Einschätzung ja
gar nicht geben dürfte. Welche sind es? Im letzten Jahr
gab es Schiedsgerichtsklagen gegen Spanien und gegen
Tschechien.
Hinzu kamen - das müssten Sie eigentlich wissen;
aber vielleicht verschweigen Sie es - Schiedsgerichtsklagen aus der Ökostrombranche, aus dem Bereich erneuerbare Energien. Neun Investoren aus den Niederlanden, aus Großbritannien, aus Luxemburg, aber auch aus
Deutschland, zum Beispiel die Stadtwerke München
oder die STEAG, klagen in Washington vor einem internationalen Schiedsgericht gegen Spanien, das die Regeln
für Ökostromförderung in Spanien rückwirkend geändert und damit bereits getätigte Investitionen beeinträchtigt hat.
Genau darum geht es. Solche Rechtsstreitigkeiten gibt
es nicht nur zwischen Entwicklungsländern und Schwellenländern einerseits und den entwickelten Staaten andererseits; auch in entwickelten Staaten gibt es ab und zu
den Fall, dass Rechtsgrundlagen für getätigte Investitionen verändert werden. Genau dann kommen solche Klagen vor. Da helfen uns auch der europäische Binnenmarkt und das bestehende Rechtssystem bisher nicht im
notwendigen Umfang weiter.
Insofern kann ich nur davor warnen, Schiedsgerichtsverfahren von vornherein zu verdammen. Es geht vielmehr darum, jetzt mit dem Abkommen mit den USA einen Standard zu setzen, der nachher weltweit Vorbild für
andere Freihandelsabkommen werden kann und werden
wird und dann hoffentlich multilateral in der WTO umgesetzt werden kann.
({5})
Das ist das Ziel, das wir als Union und die Bundesregierung in Europa verfolgen.
Frau Dröge, Sie haben eben das Konsultationsverfahren, das die EU auf diesem Gebiet durchgeführt hat, angesprochen. Sie haben ein paar Zahlen genannt. Diese
Zahlen sind richtig;
({6})
aber sie sind doch etwas lückenhaft. Sie haben von einer
Volksbefragung gesprochen. Ein Konsultationsverfahren
der EU ist keine Volksbefragung, auch keine Bürgerbefragung,
({7})
sondern quasi eine Fachumfrage bei denen, die von solchen Themen betroffen sind. Diese Personen sind aufgefordert, sich zu äußern. Jetzt nehmen wir einmal an, alle
500 Millionen Bürger wären betroffen; das gab es bisher
übrigens noch nie.
Zumindest wir gehen so vor - ich weiß nicht, wie Sie
es machen -: Wenn im Deutschen Bundestag eine Anhörung stattfindet, dann setzen wir uns mit den Sachargumenten auseinander und entscheiden nicht anhand der
Zahl der Eingaben darüber, wer Recht hat und wer nicht
Recht hat; wir setzen uns vielmehr inhaltlich mit den Argumenten auseinander.
({8})
Für uns geht ganz klar Qualität vor Quantität.
Was ist bei den Stellungnahmen passiert?
({9})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen - Zwischenrufe verstehe ich schlecht -, stehe ich zu deren Beantwortung gerne zur Verfügung.
({10})
- Okay.
Herr Kollege Pfeiffer, möglicherweise hat Ihre eben
etwas länger dauernde Antwort auf eine Zwischenfrage
abschreckend gewirkt.
Wenn man sich nicht mit den Fakten auseinandersetzen will, dann ist das natürlich immer schade.
Die Fakten sind - lassen Sie mich jetzt zur Konsultation kommen -: Von 500 Millionen Bürgern in Europa Sie sagen ja: es war eine Bürgerumfrage ({0})
haben 150 000 sozusagen teilgenommen.
({1})
Davon haben 145 000 Vordruckexemplare, Postkarten
({2})
oder Standard-E-Mails der einschlägigen Organisationen
der Empörungsindustrie an die EU geschickt.
({3})
145 000 der 150 000 waren Standardformulare, waren
genau gleich.
({4})
Deshalb sage ich: Es kann sicher nicht danach gehen:
Wer schickt am schnellsten die meisten E-Mails, und
wer schickt am schnellsten die meisten Postkarten? Das
ist nicht Aufgabe eines Konsultationsverfahrens, sondern Aufgabe ist die inhaltliche Auseinandersetzung.
({5})
Es haben 3 000 Personen und 450 Organisationen entsprechende Eingaben gemacht. Die werden jetzt selbstverständlich fachlich vertieft und fundiert geprüft, und
es wird geschaut, inwieweit diese berücksichtigt werden
können, berücksichtigt werden müssen. Das ist der ganz
normale Vorgang, der da abläuft.
Wenn Sie davon sprechen, 97 Prozent seien dagegen,
sage ich: Es waren in der Tat 97 Prozent, nämlich die
Empörungsindustrie, die dazu aufgerufen hat, E-Mails
und Postkarten zu schicken. Das ist aus unserer Sicht
wirklich keine ernsthafte Auseinandersetzung.
({6})
Man wird sich selbstverständlich auch mit diesem Vordruck beschäftigen. Aber es hätte gereicht, den einmal
zu schicken; den hätte man nicht gleich 145 000-mal
schicken müssen.
({7})
Aber das hat man gemacht.
({8})
Das wird jetzt ausgewertet.
Wie gesagt, ich bin mal gespannt, ob wir es bei der
nächsten Anhörung im Ausschuss auch von der Zahl der
Eingaben zur Anhörung abhängig machen, wie wir uns
inhaltlich positionieren. Ich glaube, das kann nicht unser
Ziel sein.
Es geht darum - ich will das noch einmal deutlich
machen -, jetzt die Chance zu nutzen, zu definieren, wie
die zukünftigen Standards sind.
Im Übrigen geht es auch darum, den Wildwuchs, den
wir bisher haben, zu bereinigen. Ich hatte Ihnen vorher
schon gesagt: Wir haben in Deutschland 130 Investitionsschutzabkommen; in der gesamten EU sind es
1 400, und zwar liegen ihnen unterschiedliche Standards
zugrunde.
({9})
Einige haben einzelne Länder mit einzelnen anderen
Ländern abgeschlossen. Dann hat die EU Abkommen
mit anderen Ländern oder mit anderen Regionen abgeschlossen. Das heißt, wir haben jetzt die Chance, von
den 1 400 Abkommen mit sehr unterschiedlichen Standards im technischen Bereich, aber auch bei der Rechtsetzung wegzukommen und einheitliche europäische
Standards zu schaffen. Das müssten Sie eigentlich begrüßen, weil das Rechtsklarheit, Rechtssicherheit schafft
für die Bürger und für die Unternehmen. Wir arbeiten
daran, diese Standards jetzt zu entwickeln.
Deshalb kann ich überhaupt nicht erkennen, warum
wir zum jetzigen Zeitpunkt sagen sollen: Es soll keine
Investitionsschutzabkommen geben. Ich wage einmal
die Prognose: Wenn wir uns am Ende des Tages damit
auseinandersetzen - ich habe Ihnen vorher die Zahlen
genannt und gesagt, wer weltweit Schiedsgerichtsverfahren betreibt -, werden wir feststellen, dass im Zweifel
wir in Europa ein größeres Interesse an solchen Schiedsverfahren und -instanzen haben als die USA.
Wir haben eine vor allem mittelständisch geprägte Industrie, gerade in Deutschland, die auch exportiert. Ich
denke an den Fall, dass ein Mittelständler irgendwo in
einem amerikanischen Bundesstaat, in einem County im
Süden der USA einer Laienjury - die Mitglieder sind in
dem County direkt gewählt - gegenübersteht und es um
spezielle Medizintechnikprodukte geht. Ich bin mir nicht
ganz sicher, ob wir gut beraten sind, wenn wir für solche
Fälle keine Expertengremien haben.
Diese Gremien ersetzen nicht das bestehende Rechtssystem, sondern sie sind quasi ein Auffangnetz, ein Notfallnetz für den Fall, dass die Dinge aus dem Ruder laufen.
({10})
- Nein, es ist weder eine Parallelgesetzgebung noch eine
Parallelwelt. Das stimmt doch alles nicht.
({11})
- Ich stehe gern für Zwischenfragen zur Verfügung, Herr
Ernst. Dann kann ich Ihnen gern ausführlich erläutern,
wie da der Sachverhalt ist.
({12})
Lieber Kollege Dr. Pfeiffer, da die vereinbarten Redezeiten keine ungefähren Richtwerte sind, sondern präzise Vorgaben, würde ich Sie bitten, jetzt zum Ende zu
kommen.
({0})
Ich bin ja eigentlich immer noch bei der Beantwortung der Zwischenfrage. Ich will es aber in der Tat auch
nicht überstrapazieren.
({0})
Ich rate, dass wir uns mit dem Thema ohne Hysterie
auseinandersetzen. Lassen Sie uns die Fakten betrachten! Lassen Sie uns das beste Freihandelsabkommen und
das beste Investitionsschutzabkommen, das es bisher auf
der Welt gibt, mit den USA zusammen entwickeln und
damit weltweit Standards setzen. Daran arbeiten zumindest wir.
({1})
Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege
Klaus Ernst.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Pfeiffer, machen wir es gleich am Anfang:
Sie haben davon gesprochen, die Europäer müssten ein
Interesse an solchen Schiedsverfahren haben, weil es
auch entsprechende europäische Verfahren gibt. Es gibt
eines, da werden wir, die Bundesrepublik Deutschland,
von Vattenfall wegen des Atomausstiegs verklagt. Können Sie mir bitte sagen, welches Interesse der deutsche
Bürger an so einem Verfahren haben soll? Welches Interesse?
({0})
- Sie können mir gerne eine Zwischenfrage stellen,
wenn Sie wollen. - Es geht aber nicht einmal darum,
sondern es geht darum, dass nicht der Bürger klagen
darf, weil das in den Schiedsverfahren gar nicht vorgesehen ist. Bei diesen Verfahren hat der Bürger kein Klagerecht, übrigens hat auch die Bundesrepublik Deutschland kein Klagerecht, auch kein Verband hat ein
Klagerecht, sondern ausschließlich die Unternehmen haben ein Klagerecht gegen die Staaten. Warum ein Staat
daran Interesse haben sollte, entzieht sich wirklich meiner Logik, Herr Pfeiffer.
({1})
Jetzt kommen wir gleich zum nächsten Punkt. Sie sagen: Sie mit Ihrer Angstmacherei! Die ist ja unerträglich! - Wir werden abgehängt, weil die Chinesen Abkommen schließen. - Ja, glauben Sie wirklich, dass der
deutsche Export von den Regelungen zwischen China
und den Amerikanern abhängt?
({2})
Ich sage Ihnen: Wenn das so wäre, dann dürften ja die
Amerikaner ohne entsprechende Abkommen gar nicht
erst bei uns investiert haben und wir ohne entsprechende
Abkommen nicht in den USA. Aber das läuft.
Ich sage Ihnen, was den Fortschritt ausmacht - das
sind nicht die Abkommen -: Innovationen, vernünftig
ausgebildete Leute, neue Technologien. Das macht aus,
ob wir Handel treiben können, und nicht das Aufgeben
von Prinzipien des deutschen Rechtsstaats in Form von
solchen Handelsabkommen, meine Damen und Herren.
({3})
Das musste einfach einmal gesagt werden, weil es mir
langsam wirklich auf den Senkel geht, wie hier argumentiert wird.
Meine Damen und Herren, wo ist das Neue bei diesen
Schiedsverfahren? Sie sagen immer, wir hätten ja inzwischen Abkommen mit Kroatien und mit was weiß ich für
Ländern. Ich sage Ihnen: Das Neue ist, dass wir zwischen Wirtschaftsblöcken mit Rechtssystemen, die funktionieren, Abkommen schließen wollen. Ich möchte
gerne von Ihnen wissen, warum wir unter solchen Voraussetzungen eine Paralleljustiz brauchen.
({4})
Aber genau darum geht es: um den Aufbau einer Paralleljustiz, bei der der Bürger selbst ausschließlich der Benachteiligte ist, weil er als Steuerzahler zahlt, aber selber
gar nicht klagen darf.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie haben vor, den Anwendungsbereich dieser Schiedsgerichte massiv gegenüber dem zu erweitern, was vorher war. Massiv! Ich sage
Ihnen: Da gibt es berechtigte Kritik. Eine Kritik stammt
von der Neuen Richtervereinigung. Das interessiert Sie
vielleicht nicht, weil - diesen Eindruck habe ich - Sie
eher Interessenvertretung für die Großindustrie und die
Exportindustrie machen.
({6})
Aber hören Sie sich einmal an, was die Richter dazu sagen. Sie sagen, dass sie gegen solche Schiedsgerichte
sind,
weil hierdurch demokratisch legitimierte Schutzgesetze ohne Einhaltung grundlegender Verfahrensprinzipien und ohne wirksame Kontrolle in Frage
gestellt werden.
Unabhängigkeit, Öffentlichkeit, rechtliches Gehör
und Überprüfbarkeit von Entscheidungen sind elementare Errungenschaften unseres Rechtsstaats.
Diese dürfen nicht durch Schiedsgerichtsklauseln
ausgehöhlt werden.
Recht haben die Richter! Recht haben sie, die Richter,
Herr Pfeiffer!
({7})
Der DGB und seine Einzelgewerkschaften sind strikt
dagegen. Selbst Heiko Maas, der Justizminister, hat sich
in der Süddeutschen Zeitung positioniert - ich möchte
das zitieren -:
Ich bin eindeutig gegen diese Schiedsgerichte. Wir
brauchen so etwas zwischen OECD-Staaten nicht.
Recht hat er.
({8})
Frau Hendricks, die Bundesumweltministerin, hat
sich positioniert. Sie sagt - Zitat -:
Ein solches Schlupfloch würde die Errungenschaften von 150 Jahren Arbeiterbewegung, 100 Jahren
Frauenbewegung und 50 Jahren Umweltbewegung
mit einem Federstrich zerstören.
Auch sie hat recht.
({9})
Meine Damen und Herren, Ihre Ministerin hat an dieser
Stelle vollkommen recht.
Jetzt haben wir das Problem, dass die SPD-Basis dem
Braten nicht so richtig traut. Deshalb der Beschluss auf
dem SPD-Konvent, wo gesagt wird: Es sind Schiedsverfahren abzulehnen und Begriffe wie „faire und gerechte
Behandlung“ oder „indirekte Enteignung“. - Jetzt sind
Schiedsverfahren und diese Begriffe aber enthalten, wie
man bei CETA lesen kann. Das ist Bestandteil von
CETA. Deshalb müsste eigentlich logischerweise -
Herr Kollege Ernst, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Heider?
Ja, von wem auch immer. - Bitte schön.
({0})
Herr Kollege Ernst, vielen Dank, dass Sie die Frage
zulassen. - Sie haben gerade die deutsche Richterschaft
zitiert. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass in der deutschen Zivilprozessordnung seit 1897 Verfahren über die
Schiedsgerichtsbarkeit, über die vorläufige Vollstreckbarkeit von Schiedsgerichtssprüchen enthalten sind und
dass noch nie ein Richter daran Zweifel gehabt hat, dass
es seine Berechtigung hat?
Tja.
({0})
Das ist genau das Problem. Sie machen Politik nach dem
Motto: Das war schon immer so. Dann machen wir so
weiter.
({1})
Sie sind nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
ein wesentlicher Unterschied ist, ob es um Schiedsverfahren geht, an denen Gleiche mit gleichen Rechten beteiligt sind - was in vielen Schiedsverfahren üblicherweise der Fall ist, übrigens auch bei anderen in der Justiz
üblichen Verfahren.
({2})
Es geht hier um Sonderrechte für eine kleine Gruppe.
({3})
- Natürlich, wenn es nicht um Sonderrechte für eine
kleine Gruppe gehen würde, dann sagen Sie mir, warum
nur Unternehmen in diesen Verfahren Klagerecht haben.
({4})
- Ich bin noch nicht fertig, Herr Heider. Ich bin immer
noch bei der Beantwortung Ihrer Frage. Sie dürfen sich
aber gerne setzen. Stehen ist ja auch fade. - Ich sage Ihnen nur: Genau das ist das Problem. Es sind vollkommen
andere Verfahren als die, die Sie ansprechen. Es geht
ausschließlich um ein Recht für die großen Unternehmen. - So, jetzt bin ich mit der Beantwortung Ihrer
Frage fertig.
Meine Damen und Herren, ich habe gerade angesprochen, dass große Teile der Bundesregierung selbst Bedenken gegen diese Abkommen haben. Das ist gut und
richtig. Aber ich muss ehrlich sagen: Ich kenne mich
nicht mehr mit dem aus, was Herr Gabriel eigentlich
will. Einmal sagt er so, dann sagt er wieder das Gegenteil. Ich frage mich: Wo ist die Haltung der Bundesregierung in dieser Frage, Frau Zypries?
({5})
Ich habe den Eindruck, die Aussagen unseres Bundeswirtschaftsministers in der Frage der Handelsabkommen
haben die Halbwertszeit von Einwegunterwäsche.
({6})
So schnell kann man gar nicht gucken, dann ist die Position geändert. Die SPD-Basis muss sich doch veräppelt
vorkommen bei dem, was sie beschließt, was aber in der
praktischen Frage keine Bedeutung hat.
Meine Damen und Herren, 97 Prozent derjenigen, die
sich an der Debatte beteiligt haben, die von der Europäischen Union angeregt wurde, lehnen die Verfahren ab.
Jetzt spielen Sie das herunter, Herr Pfeiffer, und sagen:
Es waren nur 150 000, die sich beteiligt haben, und es
war auch keine Volksbefragung.
({7})
Kennen Sie den Unterschied? Ich kann es Ihnen sagen.
Schon der frühere Handelskommissar hat gesagt: Ich
verhandele für 500 Millionen Europäer. Und es gibt nur
400 000 Unterschriften dagegen. - Was soll denn das?
Sie nehmen den Bürger nicht ernst. Die 500 Millionen in
Europa hat niemand gefragt, ob sie solche Abkommen
wollen. Das will ich Ihnen nur sagen.
({8})
Nun heißt es von der Bundesregierung mit Blick auf
TTIP:
Die endgültige Entscheidung über die Einbeziehung von Investitionsschutz und Investor-StaatSchiedsverfahren in TTIP wird erst nach Abschluss
der Verhandlungen und Prüfung des Verhandlungsergebnisses getroffen werden.
Dann läuft es im Ergebnis genauso wie bei CETA. Dort
ist es enthalten; dort steht es drin. Trotzdem hat die Bundesregierung keine vernünftige Haltung. Meine Damen
und Herren, Sie veräppeln nicht nur Ihre Mitglieder, sie
veräppeln die ganze Republik, wenn Sie so herumeiern.
({9})
- Wollen Sie noch eine Frage stellen? Bitte.
Selbst der Beirat der Bundesregierung, Ihr Beirat, den
Sie vom Wirtschaftsministerium ins Leben gerufen haben, hat sich zu dem, was dort läuft, sehr deutlich kritisch geäußert.
({10})
- Nein, nein, dafür ist er nicht da. Er stellt nämlich das
Verfahren infrage, dass Sie sich nämlich festgelegt haben, ohne den Beirat ernst zu nehmen.
({11})
In diesem Brief steht - ich zitiere es -:
Eine solch apodiktische Haltung löst bei uns die
Frage aus, welche Funktion ein TTIP-Beirat hat,
wenn die Bundesregierung entweder sich den Entscheidungen der anderen Mitgliedstaaten anschließt
oder aber in ihrer Haltung bereits festgelegt ist.
Das ist der Eindruck des Rates, der offensichtlich kritisiert, was dort eigentlich läuft.
Im Übrigen wird immer wieder argumentiert: Die
Bundesrepublik Deutschland ist das einzige Land, das
dagegen ist. Wie ist es denn wirklich? In den Niederlanden, in Österreich, in Frankreich und in anderen Ländern
gibt es massive substanzielle Vorbehalte gegen diese Abkommen. Die Regierungen von Australien, Argentinien,
Bolivien, Brasilien, Ecuador, Indien, Südafrika und Venezuela zeigen, wie man es machen kann.
({12})
Sie haben entweder Investitionsschutzverträge aufgekündigt, gar nicht erst unterschrieben oder bekannt gegeben, keine weiteren Abkommen zu unterzeichnen.
({13})
Meine Damen und Herren, der Bundesminister verläuft sich momentan in eine fragwürdige Argumentation.
Wenn auch noch ein Gutachter beauftragt wird, der auf
der Schlichterliste bei internationalen Schiedsverfahren
ist, dann fragt man sich doch: Ist der denn unabhängig? Sie fragen doch auch keinen Metzger wegen eines Gutachtens,
({14})
ob Vegetarismus vielleicht besser ist als Fleischkonsum.
Aber Sie nehmen hier einen Gutachter, der selber an
Schiedsverfahren beteiligt ist! Der ist wirklich sehr unabhängig.
({15})
Meine Damen und Herren, selbst Ihre eigenen Sachverständigen haben bezogen auf die Schiedsgerichte massive Bedenken gehabt.
({16})
Angeblich geht es bei den Abkommen um mehr Investitionen. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür,
dass dem so ist. Aber es gibt eine Frage, die wir als Abgeordnete ernst nehmen sollten.
Herr Kollege Ernst, nachdem leider trotz mehrfacher
Aufforderung keine Zwischenfragen mehr eingelaufen
sind, muss ich Sie an das Ende der Redezeit erinnern.
Danke für den Hinweis; ich bin gleich fertig. - Der
Volksmund sagt: Vor dem Gesetz sind alle gleich, aber
einige sind gleicher.
({0})
Dass man diesen Gleichen aber auch noch ein eigenes
Rechtssystem gibt, ist unerträglich.
({1})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Klaus Barthel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
gerade beim Veräppeln sind, Herr Kollege Ernst, müssen
wir doch erst einmal schauen, was für einen Antrag die
Linke in diese Debatte eingebracht hat. Dazu haben Sie
nur ganz zum Schluss etwas gesagt. Ich will auf diesen
Antrag eingehen, aber vorher noch sagen: Soweit Sie
hier Argumente vorgebracht haben, haben Sie Richter,
den Beirat und Sozialdemokraten zitiert.
({0})
Insoweit kann man Ihnen nur recht geben: Das waren
Argumente, mit denen man sich auseinandersetzen
muss.
Was Sie hier beantragen, ist aber etwas ganz anderes.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem Gefälligkeitsgutachten, von nicht gegebener Neutralität und fordern
dann, kein Geld „für tendenziöse Gutachten zu verschwenden“.
({1})
Dann frage ich Sie einmal: Wo auf dieser Welt gibt es
absolute Neutralität? Warum sollte man einer Bundesregierung, einer Bundestagsfraktion oder wem auch immer das Recht nehmen, Gutachten in Auftrag zu geben,
bei denen man damit rechnet, dass die eigene Position
unterstützt wird, wenn man doch weiß, dass es - gerade
bei dieser Frage - keine absolute Wahrheit, keine absolute Neutralität und Interessenfreiheit gibt? Herr Kollege
Ernst, warum geben Sie von der Fraktion Die Linke bei
Herrn Professor Däubler ein Gutachten zum Tarifeinheitsgesetz in Auftrag, übrigens auch mit Steuergeldern
finanziert, das Ihre Position bei der Tarifeinheit stützt?
Das ist doch in Ordnung. Entscheidend ist nur, dass man
sich mit diesen Gutachten auseinandersetzen muss.
({2})
Wenn einem nichts Besseres einfällt, als andere wegen
ihres Interessenhintergrunds anzupissen, dann zeigt das
nur, dass man selber keine Argumente hat und deshalb
versuchen muss, mit Lobbyismus zu kommen.
Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Gleich. Lassen Sie mich den Gedanken zu Ende führen. - Es geht hier um Transparenz, darum, sichtbar zu
machen: Welche Argumente werden von wem vorgebracht? Dann ist es völlig legitim, diese Leute zu Anhörungen einzuladen und sich von ihnen Gutachten erstellen zu lassen. Sie haben ja in der Anhörung Gelegenheit
gehabt, Herrn Schill zu befragen, und er hat Ihre Fragen
ganz offen beantwortet. Dann gibt es aber kein Problem
mehr.
({0})
Ansonsten müssten wir alle uns nämlich fragen, was wir
hier eigentlich machen. Sie, Kollege Ernst, und ich, wir
kommen aus den Gewerkschaften. Wir machen auch
kein Geheimnis daraus: Natürlich haben wir einen Interessenhintergrund. Dementsprechend argumentieren wir
und holen wir Gutachten ein. Das ist völlig legitim. Sich
aber nicht mit den Inhalten auseinanderzusetzen, spricht
für geistige Armut, und das haben Sie heute hier mit Ihrem Antrag geliefert.
({1})
Herr Kollege Barthel, ich habe Sie so verstanden,
dass der Kollege Ernst jetzt eine Zwischenfrage stellen
darf. Deshalb erteile ich ihm dazu das Wort.
Herzlichen Dank. - Die Behauptung, dass wir uns
hier nicht mit Inhalten auseinandersetzen, muss ich in aller Deutlichkeit zurückweisen. Wir haben uns mit diesem Thema schon auseinandergesetzt, als der Großteil
der SPD mit diesem Thema noch gar nicht vertraut war,
als Sie noch gar nicht wussten, was da überhaupt laufen
soll. Die Art und Weise, wie die Diskussion geführt
wird, ärgert mich.
Um was geht es eigentlich? Es geht um die Frage:
Welche Art von Gutachten lassen Sie erstellen? Ich habe
nichts dagegen, dass man mit Interesse ein Gutachten erwartet; das macht jeder. Aber das Wirtschaftsministerium ist nicht einmal in der Lage, einen neutralen Gutachter zu benennen. Wissen Sie denn, was Herr Schill
gemacht hat, wo er gearbeitet hat? Wissen Sie, dass er
indirekt über seinen früheren Chef selber an Verfahren
beteiligt war? Können Sie sich vorstellen, dass jemand,
der auf einer Schlichterliste eines internationalen
Schiedsgerichts steht, keinesfalls der Auffassung sein
wird, dass ein Schiedsgericht überflüssig ist? Er lebt
doch davon. Er verdient sein Geld damit, und wie Sie
wissen, verdienen Schiedsrichter ausgezeichnet. Angesichts dieser Tatsache, Herr Barthel, können Sie doch
nicht behaupten, das sei seriös.
Natürlich versucht man, auf der wissenschaftlichen
Ebene Experten zu finden, die alle Aspekte berücksichtigen. Aber wenn jemand selber an diesem Verfahren beteiligt ist, dann ist er doch nicht neutral. Das ist die Kritik, die wir in unserem Antrag formuliert haben. Herr
Barthel, wir sagen klipp und klar: Neutral ist Ihr Gutachten nicht. Nehmen Sie andere, wirklich neutrale Gutachter! Dann werden Sie zu einem ganz anderen Ergebnis
kommen.
({0})
Ich würde gerne von Ihnen wissen, wo es absolute
Neutralität gibt. Da bin ich gespannt. Sie sagen, das sei
unseriös. Setzen Sie sich doch einmal mit den Argumenten von Professor Schill auseinander! Sein Interessenhintergrund ist bekannt. Aber das ist doch kein Grund,
uns nicht mit den Argumenten von jemandem auseinanderzusetzen, der Erfahrung mit solchen Verfahren hat.
Man muss mit Fakten argumentieren, und genau hier
liegt das Problem. In Ihrer Rede haben Sie sich zu
99 Prozent nicht mit Ihrem Antrag beschäftigt. Aber darüber müssen wir eine Debatte führen. Ich bin gespannt,
wann die Linken einen Antrag vorlegen, so wie es die
Grünen gemacht haben, in dem sie sich ernsthaft mit der
Sache auseinandersetzen und die Frage klären, wie die
Linken in Zukunft Welthandel und Weltwirtschaft gestalten wollen. Aber Sie wollen sich auf Debatten über
Handelsverträge nicht einlassen. Stattdessen bringen Sie
konfuse Kritik vor.
({0})
Herr Ernst, ich muss schon sagen: Sie betreiben platte
Stimmungsmache, und das können wir überhaupt nicht
brauchen.
Schauen wir uns doch die Kampagnen der letzten Wochen an. Erst wird gezetert, der Konventsbeschluss der
SPD sei Verrat, weil er Tür und Tor öffne und keine Ablehnung von TTIP und CETA beinhalte. Ein paar Tage
später ziehen Sie den Konventsbeschluss der SPD aus
der Tasche als Bestätigung für Ihre Position; denn darin
steht: Wir wollen keine Schiedsgerichte. - Wieder ein
paar Tage später wird Sigmar Gabriel kritisiert, weil er
den Konventsbeschluss angeblich aufgegeben habe. Das
wird daran festgemacht, dass er hier darauf hingewiesen
hat, dass wir nicht nur in Deutschland, sondern auch auf
europäischer Ebene eine breitere Diskussion brauchen,
wenn wir in Bezug auf TTIP, CETA und Investorenschutz noch etwas verändern wollen.
({1})
Genau deswegen ist Sigmar Gabriel zurzeit in Europa
unterwegs: Er will anderen Ländern unsere Position
deutlich machen. Er macht deutlich, was wir wollen,
({2})
nämlich Bewegung in die Verhandlungen über TTIP und
CETA bringen. Das ist schon ein Stück weit gelungen.
Dann gibt es Kampagnen - hier komme ich auf die
Grünen zu sprechen -, mit denen die Bürgerinnen und
Bürger durch Informationen, die einfach nicht stimmen,
auf die Palme gebracht werden.
({3})
Es wurde zum Beispiel behauptet, dass die SPD-Fraktion am letzten Dienstag vor Weihnachten gezwungen
werde, irgendeine Entscheidung über TTIP oder CETA
zu treffen. Die Folge war, dass Hunderte von Bürgerinnen und Bürgern bei uns Abgeordneten der SPD anrufen
und uns bewegen wollen, das nicht zu tun.
({4})
Es ist richtig: Am Ende kommt es auf die Sozialdemokratie an. Es ist schon klar, dass sich die Blicke auf uns
richten. Aber die Bürgerinnen und Bürger durch unwahre Behauptungen auf die Palme zu bringen, das ist
nicht in Ordnung. Ich frage Sie alle: Wem nützt das eigentlich? Wem hilft das?
({5})
Hilft das den Grünen? Hilft das Campact? Hilft das der
Linken? - Nein, es bewirkt nichts anderes, als die Politikverdrossenheit zu erhöhen, Misstrauen zu säen und
die Politikferne zu unterstützen.
({6})
Deswegen haben auch Sie von den Grünen heute in der
weiteren Debatte die Gelegenheit, sich von solchen
Kampagnen zu distanzieren, anstatt sie draußen in der
Öffentlichkeit zu unterstützen.
({7})
Ich bin gespannt, wie die Grünen die heutige Debatte
kommentieren werden,
({8})
weil ich gehört habe, dass Sie ursprünglich gefordert haben, dass wir heute über Ihren Antrag abstimmen. Wir
haben das ja schon einige Male erlebt: Wenn wir einen
Antrag zum Investorenschutz ablehnen, wird im Umkehrschluss behauptet, wir seien für den Investorenschutz und für Schiedsgerichte.
({9})
Wir sind dafür, dass wir Ihren durchaus seriösen Antrag
überweisen, in den Ausschüssen behandeln und weiter
diskutieren, weil wir ihn nicht einfach ablehnen, sondern
in der Sache darüber diskutieren wollen.
({10})
Zur Sache komme ich jetzt; es besteht ja leider immer
das Problem, dass man sich zuerst mit anderen Dingen
auseinandersetzen muss. Es ist doch klar, dass das Bundeswirtschaftsministerium, die SPD und im Übrigen
schon die alte Bundesregierung der Auffassung waren,
dass wir keine Schiedsgerichtsverfahren und keinen Investorenschutz brauchen. Das ist zu TTIP zu Protokoll
gegeben worden. Im Übrigen gilt der alte Spruch - weil
es ein ordoliberaler Spruch ist, dachte ich immer, dass er
von Ludwig Erhard ist; ich habe aber gelesen, dass er
von Montesquieu ist -: Wenn ein Gesetz nicht nötig ist,
ist es nötig, kein Gesetz zu machen. - Das heißt für
mich: Wenn ISDS nicht nötig ist, dann ist es nötig, kein
ISDS zu machen. Das ist die Position des Wirtschaftsministeriums, das ist die Position der Sozialdemokraten,
und das war auch schon die Position von Schwarz-Gelb.
Das Konsultationsverfahren hatte das gleiche Ergebnis:
({11})
Es gibt ein neues Nachdenken in der Kommission. Dazu
wird mein Kollege Dirk Wiese, der heute hier als neues
Mitglied des Wirtschaftsausschusses reden wird, sicher
noch etwas sagen.
Ich will zum Schluss noch einmal sagen: Es geht bei
dieser Debatte um mehr als nur die Abwehr von Schiedsgerichtsverfahren.
({12})
Es geht um mehr als die Frage, wer die Verträge zum internationalen Handel und zum Investorenschutz aushandelt. Vorrangig geht es um die Frage, welche Abkommen
mit welcher Qualität und welchen Inhalten wir international aushandeln.
({13})
Unsere Kriterien sind: Können wir die Daseinsvorsorge
sichern? Können wir die Standards auf der Welt verbessern? Können wir einklagbare Rechte für Verbraucher,
für Umweltschutzverbände, für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer schaffen? Können wir Datenschutz- und
Verbraucherrechte verankern? Können wir die Finanzmärkte regulieren? Können wir Steuerdumping unterbinden?
Lieber Kollege Barthel, leider ist die Redezeit begrenzt. Deshalb bitte ich Sie, zum Schluss zu kommen.
Jawohl. - Es geht also nicht nur um einen Abwehrkampf, sondern auch um Gestaltung. Derjenige, der an
dieser Auseinandersetzung um die Gestaltung solcher
Handelsabkommen teilnimmt, ist nicht ängstlich, sondern mutig.
({0})
Der Mut besteht darin, so etwas vernünftig auszuarbeiten und nach vorne zu treiben. Ich hoffe, dass wir in den
nächsten Wochen und Monaten dabei weiterkommen.
({1})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Max
Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Letztendlich ist eine angeregte Debatte über die beiden
Anträge der Bundestagsfraktionen der Grünen und der
Linken entstanden. Die einen fordern, wir sollten überhaupt keine Gutachten mehr in Auftrag geben, und wenn
doch, dann müssten die Auftraggeber aus der Linkenfraktion kommen und die Bundesregierung dafür bezahlen, damit das Ergebnis stimmt.
({0})
- Das ist doch völlig klar, Kollege Ernst. Ich kenne ja
dein Ansinnen, also darf ich beim Du bleiben. - Dasselbe gilt auch für die Bundestagsfraktion der Grünen,
die grundsätzlich die Verhandlungen zu den Freihandelsabkommen ablehnt. Ich bin aber dankbar für die Wortmeldung und die Frage des Kollegen Gambke; denn es
schien durch, dass Ihrer Meinung nach Schiedsgerichte
unter Umständen gar nicht so schlecht sind, ja sogar notwendig, wenn es um internationale Investitionen von
Unternehmen geht.
Ein Grund für Freihandelsabkommen ist, dass wir
Möglichkeiten schaffen wollen, um in der Weltwirtschaft weiter voranzukommen; denn die Weltwirtschaft
ist für die deutsche Wirtschaft elementar, ebenso wie für
die europäische und die amerikanische. Letzten Endes
sind sie ein Segen; denn damit sind die Arbeitsplätze
vieler Menschen verbunden. Wenn wir in Ländern mit
unterschiedlichen, auch schwierigen Rechtssystemen
keine Investitionen mehr tätigen würden, dann würden
dort - davon bin ich überzeugt - gar keine Investitionen
getätigt. Damit würden wir aber auch unsere eigenen
wirtschaftlichen Möglichkeiten beschneiden. Im abgelaufenen Jahr konnten wir 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum verzeichnen. Ein Grund dafür ist, dass wir
eine großartige exportorientierte Industrie haben, die in
vielen Ländern der Welt Investitionen getätigt hat. Diese
Investitionen haben nicht zum Abbau von Arbeitsplätzen
in unserem Land geführt, sondern dazu, dass in unserem
Land Arbeitsplätze entstanden sind bzw. gefestigt wurden.
({1})
Deshalb sind Freihandelsabkommen notwendig und zu
befürworten. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die EU
und Kanada ein Freihandelsabkommen ausgehandelt haben; abgeschlossen ist es noch nicht. Zu begrüßen ist
auch, dass die Europäische Union und die USA ein Freihandelsabkommen anstreben. Letztlich ist das ein Segen
für die Menschen in beiden Erdteilen.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Janecek?
Ja, gerne.
Herr Kollege Straubinger, Sie sind jetzt der dritte
Redner für die Große Koalition in dieser Debatte. Können wir erwarten, dass Sie sich in Ihrer zehnminütigen
Rede auch einmal zum Thema äußern, was in den beiden
ersten Reden nicht der Fall war?
({0})
Wie gedenken Sie, mit dem Ergebnis des Konsultationsverfahrens - 97 Prozent sind dagegen - umzugehen?
Wenn die EU ein solches Verfahren durchführt, haben
Sie die Pflicht, darauf zu reagieren und zu beschreiben,
wie Sie damit umgehen wollen. Wollen Sie zum Beispiel
verhindern, dass Schiedsgerichtsverfahren zukünftig in
private Hände gegeben werden? Wollen Sie einen Prozess in Gang setzen, der die Sache in staatliche Verfahren überführt? Das wäre ja einmal ein konstruktiver Ansatz. Ich bitte Sie einfach, die Fragen, die sich hier
stellen, zu behandeln.
({1})
Lieber Herr Kollege Janecek, es ist so, dass wir uns
damit befassen. Wir setzen uns mit der Fragestellung
und der Kritik auseinander. Die Intention Ihrer Anträge
ist aber meistens, ein Freihandelsabkommen zwischen
den USA und der EU zu verhindern.
({0})
In Ihren Anträgen beziehen Sie sich ja immer nur auf einen kleinen Teil. Sie filetieren das Gesamtabkommen.
Einmal werden die Schiedsgerichte herausgestellt und
kritisiert, dann wird uns ein Antrag vorgelegt, in dem es
um den Schutz der Daseinsvorsorge geht, und dann
kommt ein Antrag, in dem es darum geht, ob die Regionalmarken geschützt sind usw.
({1})
Damit wollen Sie für eine immerwährende Diskussion
sorgen und Sand ins Getriebe streuen.
Ich bin überzeugt, Herr Kollege Janecek, dass das
Konsultationsverfahren eines gezeigt hat: 500 Millionen
Menschen hätten sich beteiligen können. 150 000 Einwendungen gab es; die Kollegen haben das vorhin schon
dargelegt. Ich will das nicht geringschätzen, aber doch
sagen: Wenn 145 000 Einwendungen letztendlich gleichlautende Postkarten sind, die von Interessenverbänden
verschickt wurden, um Unterstützung zu erfahren, muss
ich annehmen, dass die Einsender nicht in die Tiefe eines
solchen Abkommens und der daraus resultierenden Fragen vorgedrungen sind; das muss ich unterstellen. Das
zeigt, dass dieses Konsultationsverfahren entsprechend
bewertet werden muss. Eine solche Bewertung nehmen
wir übrigens auch in anderen Bereichen vor. Auch ich
bekomme in der Regel Unterschriftenlisten zu einem
Thema: einmal dafür und einmal dagegen. Der Politiker
muss dann auswählen, was er im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung unseres Landes für das Richtige
hält. Das ist ein sehr komplexer Vorgang, Herr Kollege
Janecek.
({2})
Um was geht es? Es geht letztendlich um den Schutz
von Investitionen unserer Firmen. Wenn Kollege Ernst
anprangert, hier würden nur die Interessen von Firmeninhabern geschützt, muss ich sagen, dass das völlig klar
ist; denn sie tätigen die Investitionen in anderen Ländern. Es geht nicht darum, Arbeitnehmerrechte in den
USA einzuklagen, sondern es geht darum, dass Investitionen, die in anderen Ländern getätigt werden, vor Diskriminierung oder möglicherweise auch vor unbilliger
Enteignung geschützt sind.
Sie haben vorhin gefragt: Was kann Deutschland für
ein Interesse daran haben, dass Vattenfall oder die deutschen Bürger vor einem Schiedsgericht klagen? Da stelle
ich die Gegenfrage: Warum haben wir ein Interesse daran, dass RWE, Eon und auch EnBW in einem ordentlichen Rechtsstaat auf Schadensersatz klagen können,
({3})
weil wir den Atomausstieg beschlossen haben? Das ist in
einem Rechtsstaat in Ordnung. Daher kann man daran
überhaupt keine Kritik üben.
({4})
Ich glaube, dass es ein entscheidendes Moment ist, dass
wir hier keine großen Unterschiede haben.
({5})
Es geht hier um den Punkt: Wir brauchen Schiedsgerichte, damit eine Firma ihre Interessen durchsetzen
kann. Was nützt mir ein Gerichtsurteil, wenn ich hinterher zwar einen Schein, einen Anspruch habe, dieser aber
nicht befriedigt wird? Mit diesem internationalen Abkommen wird durch die Schiedsgerichtsverfahren gewährleistet, dass es eine Befriedigung des berechtigten
Anspruchs gibt. Deshalb ist es zum Schutz unserer Firmen und unserer Unternehmen und damit auch der Arbeitsplätze in unserem Land.
Herr Kollege Straubinger, der Kollege Ernst möchte
noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön. Dem kann ich überhaupt nichts abschlagen.
Dann haben Sie das Wort. Ich bitte aber, darauf zu
achten, dass die Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen präzise sind und nicht zu lang werden.
Vizepräsident Johannes Singhammer
({0})
Kollege Straubinger, das, was Sie eben angesprochen
haben, ist genau der Punkt: Wer kann wo klagen? Während deutsche Unternehmen vor den deutschen Gerichten klagen müssen, wenn sie glauben, ungerecht behandelt worden zu sein, können ausländische Unternehmen
vor Schiedsgerichte ziehen, und zwar ohne die Möglichkeit, dass der Staat dagegen in Revision gehen kann.
({0})
Im Übrigen verlaufen die Verfahren dort, wie wir gerade
bei Vattenfall sehen, unter sehr großer Geheimhaltung.
Selbst wir als Abgeordnete sind bis heute nicht alle umfassend informiert worden, was genau in der Klageschrift steht usw. Genau das ist der Unterschied. Ich bin
ja wie Sie der Auffassung - da sind wir uns vollkommen
einig -, dass ein Unternehmen in einem Rechtsstaat auch
das Recht hat, gegen staatliche Entscheidungen zu klagen.
({1})
Die Frage ist allerdings, wo. Wir debattieren hier über
diese unterschiedliche Gerichtsbarkeit und nicht darüber,
dass es Unternehmen nicht mehr möglich sein soll, eine
Klage gegen einen Staat zu führen.
Sie haben zum Schluss gesagt, dass es keine großen
Unterschiede gibt. Dann haben Sie gesagt: Wenn jemand
vor ein ordentliches Gericht geht, dann bekommt er einen Schein. Dieser Schein ist üblicherweise ein Urteil,
und in Rechtsstaaten werden Urteile vollstreckt. Das
heißt, wenn funktionierende Rechtssysteme vorhanden
sind, reicht das aus. Denn wenn es anders wäre, Kollege
Straubinger, müssten wir uns und müsste sich das ganze
Hohe Haus sehr schnell Gedanken darüber machen, wie
wir unser Rechtssystem so verändern können, dass Richtersprüche auch durchgesetzt werden.
Um gleich beim letzten Punkt zu bleiben: Herr Kollege Ernst, es ist für ein Unternehmen wahrscheinlich
leichter, Ansprüche gegenüber einem Staat geltend zu
machen als gegenüber einem Vertragspartner, der vielleicht pleitegegangen ist und bei dem nichts mehr zu holen ist. Das ist der große Unterschied bei dem gesamten
Verfahren.
({0})
Es geht darum, seine Rechte durchzusetzen, und zwar
so, dass dies auch eine Wirkung hat.
({1})
- Natürlich geht es auch darum.
({2})
Hinzu kommt: Auch was die Rechtspflege in
Deutschland angeht, gibt es unterschiedliche Urteile zu
gleichen Sachverhalten. Deshalb bin ich sehr dafür, dass
im Hinblick auf Schiedsgerichte unter Umständen auch
über die Möglichkeit von Berufungen diskutiert wird.
({3})
Dazu finden derzeit ja Verhandlungen statt. Aber Sie
lehnen im Grunde genommen Verhandlungen zu dem
gesamten Komplex ab.
({4})
Das ist letztendlich der Denkfehler, den Sie bei diesem
Thema machen, liebe Kollegen.
({5})
Der nächste Punkt. Hier heißt es immer, multinationale Konzerne würden diese Regelung ausnutzen, Staaten zwingen, ihre Gesetzgebung zu ändern, und dergleichen mehr.
({6})
Die Praxis zeigt, dass die Schiedsgerichtsverfahren, die
bisher angeleiert worden sind, in der Regel vom Mittelstand ausgegangen sind.
({7})
- Ja, natürlich; die meisten Verfahren sind bisher von
mittelständischen Unternehmen angestrengt worden. Warum das so ist, kann man nachvollziehen: Ein multinationaler Konzern hat in den jeweiligen Ländern sicherlich wesentlich leichter den nötigen Zugang, um seine
Position entsprechend zu verdeutlichen.
({8})
Aber ein kleiner Automobilzulieferer,
({9})
der zum Beispiel im Zuge der Expansion eines großen
Automobilherstellers - ich sage es einmal so - gebeten
worden ist, in dem entsprechenden Land Investitionen
zu tätigen,
({10})
mit der Folge, dass diese Investitionen dann möglicherweise nicht mehr so gut geschützt sind, kommt unter die
Räder. Deshalb kommt das Ansinnen, Investitionsschutzabkommen mit Schiedsgerichten zu versehen, eher aus
den Reihen des Mittelstandes. Auch der Bayerische Bauernverband hat sich erst jüngst dafür ausgesprochen,
Freihandelsabkommen mit Schiedsgerichten anzustreben.
({11})
Dasselbe gilt für den Zentralverband des Deutschen
Handwerks, der sich ebenfalls positiv zum Abschluss
dieses Freihandelsabkommens geäußert hat.
Werte Kolleginnen und Kollegen, der Grund dafür ist,
dass damit viele Arbeitsplätze, auch in der mittelständischen Wirtschaft, verbunden sind. Natürlich kann man in
dieser Debatte immer wieder die multinationalen Konzerne als großes Gespenst erwähnen. Tatsache ist aber:
Wir brauchen unsere großen Weltfirmen, die bereit sind,
in verschiedensten Ländern Risiken einzugehen,
({12})
wobei sie große Erfolge erzielen, manchmal aber auch
Niederlagen erleiden. Wenn wir diese Unternehmen
nicht hätten, hätten wir auch nicht die Exportmöglichkeiten, die wir haben und von denen viele mittelständische Betriebe und viele Handwerksbetriebe profitieren.
In Dingolfing - das ist in meinem Wahlkreis; ich kann
das also beurteilen - steht das größte Automobilwerk
von BMW. Viele mittelständische und kleine Handwerksbetriebe erhalten von BMW Aufträge, zum Beispiel im Rahmen von Werkverträgen, oder sie erledigen
die Reparatur von Maschinen und Anlagen. Stellen Sie
sich einmal vor, welche Situation wir hätten, wenn es
solche exportorientierten Werke nicht gäbe, wenn sie
nicht gebaut worden wären. Über 20 Prozent der dort
produzierten Autos werden in die USA geliefert, und
etwa 80 Prozent kommen auf den Weltmarkt; das muss
man sich einmal vorstellen. Daran hängen viele Arbeitsplätze in unserem Land.
Man darf keine Ängste vor Freihandelsabkommen
schüren, sondern es gilt, Freihandelsabkommen positiv
zu begleiten. Handelsabkommen waren für unser Land
bisher immer großartige Erfolge. Ich bitte Sie, die zukünftigen Diskussionen über dieses Thema auch unter
diesem Gesichtspunkt zu führen, dieses Vorhaben mit
positiver Kritik zu begleiten und von der ablehnenden
Haltung, die die linke Fraktion und die grüne Fraktion in
ihren Anträgen heute wieder einmal zum Ausdruck gebracht haben, Abstand zu nehmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist für die Fraktion
Die Linke der Kollege Alexander Ulrich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
TTIP und CETA sind Angriffe auf unsere Lebensweise,
auf unsere Standards, auf unsere Demokratie und
({0})
auf unsere Rechtsstaatlichkeit und müssen deshalb gestoppt werden!
({1})
Ein Großbündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbänden, Kirchen, Diakonie, Umweltverbänden, Verbraucherschützern, vielen Kommunalpolitikern - auch mit
CDU-, CSU- oder SPD-Parteibuch -, vielen Landwirten,
sogar den Bierbrauern - Herr Kauder, der Bier-Botschafter, ist nicht da -, Kulturschaffenden, vielen, vielen
- täglich werden es mehr - ist gegen diese Verträge, wie
sie jetzt vorliegen.
Wenn Sie davon sprechen, das sei eine Empörungsindustrie, dann haben hoffentlich all die vielen Menschen
in diesem Land, die Angst haben um unsere Standards,
gehört, dass sie von Ihnen auf diese Weise in eine Ecke
gestellt werden. Wenn Sie diese Proteste nicht ernst nehmen, sind Sie mit schuld daran, wenn sich Bürger von
der Demokratie verabschieden.
({2})
Wenn hier gesagt wird, fast 150 000 kritische Einwände gegen TTIP, das sei ja nichts, rufe ich in Erinnerung, dass wir als Linke schon immer sagen: Wir wollen,
dass bei wichtigen europapolitischen Entscheidungen
Volksabstimmungen abgehalten werden. Herr Seehofer
sagt das auch manchmal, wenn Europawahlen anstehen.
Lassen Sie uns doch über diese Verträge eine Volksabstimmung machen! Das Thema wäre morgen beendet,
({3})
weil die Bürgerinnen und Bürger wissen: Das, was da
verhandelt wird, ist nicht in ihrem Interesse.
Jetzt komme ich zur „Empörungsindustrie“, Herr
Pfeiffer. Ich möchte etwas zitieren, was gestern, am
15. Januar, veröffentlicht worden ist:
Wir lehnen die angedachten Regelungen zum Investitionsschutz … ab. Sie beschädigen rechtsstaatliche Prinzipien und schränken die demokratische
Entscheidungsgewalt ein.
Wer war denn das? Haben Sie Vorstellungen? Das
stammt aus einer gemeinsamen Erklärung von CDA und
Katholischer Arbeitnehmer-Bewegung,
({4})
gestern hier in Berlin verabschiedet. Wollen Sie Ihre eigenen Leute zu einem Teil der „Empörungsindustrie“ erklären? Wunderbar!
({5})
Hoffentlich haben alle gehört, dass diese Erklärung in
der Bundestagsfraktion der CDU/CSU nicht ernst genommen wird.
Ein weiteres Beispiel für die „Empörungsindustrie“:
Investitionsschutzvorschriften sind in einem Abkommen zwischen den USA und der EU grundsätzlich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIP
eingeführt werden.
({6})
Wer hat das verabschiedet? Die „Empörungsindustrie“
kommt diesmal aus dem Parteikonvent der SPD. Tun Sie
doch einmal, was Ihr Parteikonvent beschlossen hat! Tun
Sie nicht so, als wäre das alles Schnee von gestern! Machen Sie uns keine Vorwürfe, weil wir euch an dieser
Stelle ernst nehmen!
({7})
Eine SPD, die Sozialstandards gefährden will, Verbraucherschutzstandards gefährden will und andere Dinge
auch, braucht man nicht in einer Bundesregierung. Wenn
Sie nur den Job der FDP erledigen wollen, dann gehen
Sie lieber wieder in die Opposition; dort sind Sie besser
aufgehoben.
({8})
Als gewählte Volksvertreter haben wir die Aufgabe,
die Demokratie zu verteidigen. Mit der Zustimmung zu
CETA würden wir das nicht tun. Ich sage es noch einmal: Warum sollen diese Abkommen eigentlich abgeschlossen werden? Hat hier tatsächlich jemand Angst,
dass wir auch nur ein Automobil weniger nach Kanada
oder in die USA verkaufen, wenn wir diese Abkommen
nicht abschließen? Hat hier wirklich jemand Angst, dass
die BASF oder andere auch nur ein Produkt weniger
dorthin verkaufen, wenn wir diese Abkommen nicht abschließen? Hat hier jemand Angst, dass ein kanadisches
Gericht oder ein amerikanisches Gericht möglicherweise
nicht zur gleichen Rechtsprechung kommen könnte wie
ein solches Schiedsgericht, bei dem es nur darum geht,
Großkonzerne zu schützen? Dann sagen Sie das! Sagen
Sie, Sie glauben nicht, dass die Justiz in Kanada oder in
den USA zu einer Rechtsprechung kommt, die tatsächlich sinnvoll ist.
Sie machen auch immer wieder den gleichen Fehler:
Sie tun so, als würden alle diejenigen, die mit diesen
Verträgen Ängste verbinden, mit dieser Haltung die
deutschen Exporte gefährden. Exportieren wir heute
nichts? Wir sind eine der Exportnationen dieser Welt.
Und wir haben Angst, zu sagen: „Wir wollen solche Investorenschutzklagen nicht“? Das soll irgendjemand
ernst nehmen? Noch einmal: Wir sind eine der Exportnationen. Wenn wir als die Exportnation auf europäischer Ebene sagen: „Wir wollen den Investorenschutz
raushaben aus CETA und wollen ihn auch nicht reinverhandelt haben bei TTIP“,
({9})
dann, bin ich mir sicher, könnten diese Verträge auch
verändert werden. Deshalb ist die Frage, ob sich Sigmar
Gabriel tatsächlich zum Handlanger der Großindustrie
machen will oder ob er seine eigene Partei ernst nimmt.
Deshalb: TTIP und CETA können noch verhindert werden, auch dieser Investorenschutz kann verhindert werden.
Ich rufe alle auf, die auch morgen hier in Berlin auf
die Straße gehen: Machen Sie weiter Druck! Sie haben
schon viel erreicht. Noch einmal: Die SPD wird schon
noch rechtzeitig einknicken.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Dirk Wiese spricht jetzt für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viel zu lange wurden Freihandelsabkommen
einfach nur verhandelt und beschlossen, ohne dass die
Öffentlichkeit daran teilnahm. Dass sich dies jetzt endlich ändert und wir hier im Parlament darüber diskutieren, wie wir Freihandel gestalten und unter den Primat
der Rechtsstaatlichkeit stellen wollen, ist gut und richtig.
({0})
Warum ist Freihandel eigentlich gut und richtig für
unser Land und für unsere Bürgerinnen und Bürger? Erstens. Wir wollen Arbeitsplätze sichern und neue Arbeit
ermöglichen. Zweitens. Wir wollen Exportweltmeister
bleiben und Wohlstand sichern. Drittens. Wir wollen die
Menschen mitnehmen und unsere Entscheidungen transparent machen.
({1})
Bedauerlicherweise interessieren Sie von den Linken
sich nicht für die Ziele und die Zukunft der Menschen,
sondern für Gutachter.
({2})
Das wäre auch gar nicht schlimm, wenn es nicht so
durchschaubar wäre. Warum? Weil Experten nicht im
luftleeren Raum leben, sondern mitten in der Gesellschaft. Jemanden zu fragen, der sich auskennt, ist, ehrlich gesagt, besser, als substanzlose Anträge zu stellen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wirtschaftsministerium hat einen anerkannten Experten beauftragt mehr nicht. Oder in aller Klarheit: Wenn Sie ein Haus
bauen und die Statik stimmen soll, dann fragen Sie einen
Architekten und nicht Ihren Nachbarn von nebenan.
({4})
- Es ist immer schlimm, wenn man den Spiegel vorgehalten bekommt.
Ich komme jetzt zum Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen. Sie gehen auf einige wichtige Punkte fundiert
ein, und ich bin für Ihre klare Positionierung in der Debatte dankbar; denn bisher wusste ich nicht so recht, wo
Sie bei TTIP und CETA eigentlich stehen und was Sie
wollen bzw. noch geändert haben wollen bzw. noch
hineinverhandelt bzw. erst gar nicht hineinverhandelt haben möchten. Aus Ihren heutigen Forderungen ist endlich zu entnehmen, dass Sie für die Ratifizierung von
CETA und TTIP sind, wenn die EU-Kommission die
ISDS-Klauseln bei CETA noch herausnimmt und sie bei
TTIP erst gar nicht hineinnimmt. Das war heute eine
klare Positionierung.
({5})
Die Menschen müssen wissen, was wir verhandeln
und was unsere Ziele sind. Nur dann können wir sie mitnehmen und für die Potenziale des gerechten Freihandels
gewinnen.
Mehr Transparenz zu schaffen, muss unser Anspruch
in Deutschland und vor Ort in den Regionen sein. Es ist
von höchster Wichtigkeit, dass wir als Deutscher Bundestag, als Fraktion, mit den Regierungen der anderen
Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament und der
Zivilgesellschaft eine offene und ehrliche Diskussion darüber führen, was möglich ist.
Wir als Sozialdemokraten gehen mit gutem Beispiel
voran. Am 23. Februar 2015 wird es eine öffentliche
Veranstaltung zu den transatlantischen Freihandelsabkommen im Willy-Brandt-Haus geben, bei der unter anderem Sigmar Gabriel, Cecilia Malmström, Martin
Schulz und Bernd Lange auch zu dem Investitionsschutz
und den ISDS-Bestimmungen sprechen werden.
({6})
Unser Fahrplan ist dabei klar: Wir setzen uns dafür
ein, dass ein Freihandelsabkommen ausgehandelt wird,
das gut für die Arbeitsplätze vor Ort in Deutschland und
in Europa ist, primär einen Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger darstellt und mit dem versucht wird,
weiter unsere hohen Standards in vielen Bereichen zu einem Exportschlager zu machen. Dafür müssen wir uns
einsetzen.
({7})
Freihandel heißt aber auch ein Geben und Nehmen
- gerade auch in den Gesprächen dazu -; denn in einigen
Bereichen - da müssen wir als Parlament auch ehrlich
sein - sind die US-Standards durchaus höher. Ich erinnere zum Beispiel an den Finanzmarktbereich.
Um zu einem Abkommen für die Menschen zu kommen, dürfen wir nicht immer nur sagen, was wir nicht
wollen, sondern wir müssen auch einmal offensiv sagen,
was wir wollen. Das ist unter anderem die Aufhebung
der Buy-American-Clause, damit unsere kleinen und
mittelständischen Unternehmen die Möglichkeit bekommen, sich auf dem US-Beschaffungsmarkt dem Wettbewerb zu stellen.
({8})
Wenn ein ausgehandeltes Freihandelsabkommen dann
am Ende gute Arbeit schafft und gute Arbeitsplätze erhält und sichert, ist das ein Mehrwert, auf den wir alle
stolz sein können und mit dem wir unsere weltweite
Position als Exportweltmeister sichern können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Abschluss vier Punkte ansprechen, die auch über
TTIP und CETA hinausgehen:
Erstens. Das öffentliche Konsultationsverfahren der
EU-Kommission hat mir wieder einmal verdeutlicht,
dass das Recht des internationalen Investitionsschutzes
und die darauf beruhende Schiedsgerichtsbarkeit einer
umfassenden Reform bedürfen: hin zu mehr Transparenz, einer zweiten Instanz, einer unabhängigen Institutionalisierung und besseren Klagemöglichkeiten für
kleine und mittlere Unternehmen, um nur einige Punkte
auf dem Weg hin zur Stärkung des internationalen
Rechts anzusprechen.
Zweitens. Bei vergleichbaren Rechtssystemen sind
entsprechende Regelungen nicht notwendig. Nach Durchlaufen sämtlicher nationaler Instanzen dürfte in der Regel davon ausgegangen werden, dass eine neutrale Entscheidung über die jeweilige streitige Angelegenheit
gefällt wird.
Drittens. Wir müssen aufpassen, was sich im AsienPazifik-Raum tut; denn ich möchte mitgestalten, bestehende Defizite ausräumen und reformieren, und ich
möchte nicht irgendwann gestaltet werden.
({9})
Da die USA derzeit die TTP-Verhandlungen mit dem
pazifischen Raum beschleunigen, ist anzunehmen, dass
die USA und ihre Verhandlungspartner in diesem Abkommen ihre Regeln und Standards für den Handel festschreiben wollen. Bedrohlich kann das für uns in der Europäischen Union dann werden, wenn China so mächtig
wird und so viel Einfluss gewinnt, dass es die globale
Handelsstruktur dominant prägen kann. Daher ist es von
höchster Wichtigkeit, dass demokratische Länder rechtsstaatliche Prinzipien für einen freizügigen Handel verankern, bevor uns andere Länder ihre Standards auferlegen.
({10})
Viertens. Ich lade alle Bürgerinnen und Bürger ein,
mit uns allen über die Vor- und Nachteile von FreihanDirk Wiese
delsabkommen zu diskutieren, aber nicht Ängste schüren, sondern konstruktiv und offen darüber reden, worum es eigentlich geht. Machen wir uns an die Arbeit!
Lassen Sie uns gestalten und etwas bewegen und nicht
nur dagegen sein! Oder um es am Ende mit den Worten
von Willy Brandt zu sagen: „Der beste Weg, die Zukunft
vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Als nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Kollegin Katja Keul.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte damit beginnen, dass ich meinen
Kollegen aus der Union, Patrick Sensburg, aus der Deutschen Richterzeitung unter der Überschrift „Paralleljustiz - Rechtsstaat bleibt außen vor!“ zitiere. Dort sagt
er, Paralleljustiz sollte man besser als Scheinjustiz bezeichnen. Fälle, in denen die Scheinjustiz Anwendung
fände, könnten die Geltung des deutschen Rechts und
unseres Rechtsstaates unterminieren. - Recht hat der
Mann, auch wenn er hier vom Strafrecht redet.
({0})
- Was gibt es da zu lachen?
({1})
Wir wollen keine Paralleljustiz, weder im Strafrecht
noch im Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht.
({2})
Frau Kollegin Keul, der Kollege Dr. Heider möchte
Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie sind bemüht, einmal den Hintergrund von Schiedsverfahren aufzuklären. Ich darf darlegen, dass das nicht etwa eine Paralleljustiz ist, wie Sie
das darstellen, sondern dass das ein seit über 100 Jahren
gepflegtes Verfahren in Deutschland ist, womit sich Parteien gegenseitig Recht erweisen.
Ist es richtig, dass die Grünen eine Schiedsordnung
haben und in einem Schiedsverfahren innerhalb Ihrer
Partei geurteilt wird, wenn es Streitigkeiten gibt? Würden Sie mir zustimmen, dass das ein ordentliches Verfahren ist, um Streitigkeiten beizulegen?
Vielen Dank, Herr Heider, dass Sie mir die Gelegenheit geben, die Frage zu beantworten, die vorhin ein
bisschen im Raum stehen geblieben ist.
({0})
Das Schiedsgericht im Zivilrecht, das Sie vorhin angesprochen haben, ist nicht das Problem. Dort, wo Private
mit Privaten vor einem Zivilgericht streiten, ist nichts
dagegen einzuwenden, dass man zu einem Schiedsrichter geht. Entscheidend ist natürlich, dass im Vertrag gewährleistet ist, dass keinem der beiden Vertragsparteien
der Weg zu den staatlichen Gerichten verwehrt wird.
Aber hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es
um das öffentliche Recht. Hier geht es um Streitigkeiten
zwischen Privaten auf der einen und dem Staat auf der
anderen Seite. Das ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Das hat mit dem Zivilgericht nichts zu tun.
({1})
Um das noch einmal zu Ende auszuführen: Beim Strafrecht mache ich mir weniger Sorgen als der Kollege
Sensburg; denn da ist eine Paralleljustiz ohnehin als
Strafvereitelung verboten - da sind wir außen vor -,
während im öffentlichen Recht gerade etwas von höchster Stelle verhandelt wird. Das macht mir in der Tat Sorgen.
Im öffentlichen Recht, um darauf zurückzukommen
- darum geht es beim Investorenschutzabkommen -,
handelt es sich eben um Streitigkeiten zwischen Unternehmen auf der einen und dem Staat auf der anderen
Seite und nicht um Streitigkeiten zwischen Unternehmen. Das ist der entscheidende Unterschied.
Ich will Ihnen ein Beispiel bilden. Zwei konkurrierende Unternehmen produzieren in Deutschland ähnliche Produkte mit ähnlichen Verfahren. Beide Unternehmen bekommen von deutschen Behörden Auflagen
erteilt, die sie für unberechtigt halten. Jetzt haben sie
beide die Möglichkeit, den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten zu beschreiten und sich dagegen zu wehren. Warum aber sollte jetzt eines dieser Unternehmen,
weil es vielleicht ein amerikanisches ist, einen parallelen
Rechtsweg zu einem anderen Gericht wählen können?
({2})
Wo ist denn da die Gleichheit vor dem Recht?
({3})
Die Verfechter von Schiedsgerichten unterstellen unseren deutschen Verwaltungsrichtern latent, sie würden
staatliche Eingriffe gegenüber einem ausländischen Unternehmen anders beurteilen als Eingriffe gegenüber einem deutschen Unternehmen. Ich finde das ungeheuerlich.
({4})
Eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist doch
das Markenzeichen eines funktionierenden Rechtsstaats
und funktionierender Gewaltenteilung.
({5})
Nicht umsonst gab es zum Beispiel in der DDR keine
Verwaltungsgerichte.
Wir sind in Deutschland, wie ich finde, zu Recht stolz
auf unser Rechtssystem. Wir werben international dafür
mit unserer Initiative „Law - Made in Germany“. Was
macht es für einen Sinn, völkerrechtlich Wege zu vereinbaren, mit denen man dieses tolle System umgehen
kann? Das verstehe, wer will - ich nicht.
({6})
In unserem Rechtssystem ist in jahrelanger Rechtsprechung ausdifferenziert worden, was eine Enteignung, ein enteignender Eingriff und ein enteignungsgleicher Eingriff ist. Wozu brauchen wir dann jetzt noch
einen neuen Begriff der indirekten Enteignung, für den
private Gerichte erst wieder eine neue Dogmatik entwickeln müssen? Da helfen auch keine Berufungen, es sei
denn, die Berufung ist beim zuständigen Oberverwaltungsgericht einzulegen. Dann wäre ich damit einverstanden.
({7})
Fazit: Statt dem Big Business Paralleljustiz zu ermöglichen, sollten wir unsere Justiz durch personelle und finanzielle Ressourcen stärken.
({8})
So bieten wir für den Streitfall eines der weltweit besten
rechtsstaatlichen Verfahren zur Klärung von Streitigkeiten. Davon können alle in der EU tätigen Unternehmen,
unabhängig von ihrer Herkunft, profitieren. Da braucht
es keine Paralleljustiz.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Professor
Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Dröge, Sie hätten heute Morgen besser mit
dem Kölsch angefangen. Dann wäre es lustiger losgegangen. So kam die Stimmung erst etwas später auf.
({0})
Dann hätten Sie auch zu Recht sagen können, dass
Kölsch markenrechtlich geschützt ist und deshalb von
den jetzt diskutierten Abkommen überhaupt nicht berührt ist.
({1})
Als Erfolg des Abkommens werden am Ende 200 Millionen Amerikaner nach Köln kommen wollen, um
Kölsch in Köln zu trinken.
Die 150 000 Kritiker, die Sie eben im Zusammenhang
mit der Bürgerbefragung angegeben haben, können dann
nach Amerika reisen und herausfinden, ob es dort nicht
vielleicht schlechteres Bier gibt, und sich ihr eigenes Urteil bilden.
({2})
- Frau Höhn, Sie müssen lauter sprechen oder nach
vorne kommen; dann können wir im Duett singen. Aber
das wird der Herr Präsident nicht erlauben.
({3})
Sie haben gesagt, fast 150 000 Bürgerinnen und Bürger
hätten sich bei der Befragung negativ geäußert. Was
folgt daraus? Stellen Sie sich vor, die europäischen und
deutschen Unternehmer hätten das gemacht, was sie
vielleicht hätten machen sollen, nämlich eine Reihe von
Werbeagenturen einzuschalten, ähnlich, wie Sie es gemacht haben, viele Mails nach Brüssel zu schicken und
Lkw-weise zustimmende Postkarten zu TTIP und CETA
abzuliefern und zu sagen: Das nutzt unserer Wirtschaft,
unserem Wohlstand und unseren Arbeitsplätzen. - Dann
würden Sie jetzt schreien: „Betrug! Verrat! Die Zahlen
spielen keine Rolle.“
({4})
Lassen Sie deshalb die Diskussion über die Zahlen.
Sie spielen wirklich keine Rolle. Lassen Sie uns lieber
- das ist richtig - über die Sachfrage reden.
({5})
Worum geht es bei diesen Investitionsschutzabkommen? Es geht darum, dass Freihandelsabkommen gerichtlich überwacht werden sollen. Diese Freihandelsabkommen sind zwischenstaatliche und völkerrechtliche
Vereinbarungen. Dabei ist es ein bisschen schwierig, das
Abkommen für den einen Vertragspartner auch mit Wirkung für den anderen auszulegen. Denn dann würde ein
Staat über den anderen zu Gericht sitzen.
({6})
Frau Künast, die sich mehrfach dazu geäußert hat, ist
gerade nicht anwesend. Ich war mit ihr zusammen beim
Europäischen Gerichtshof. Wir haben über die Auslegung der Maßnahmen der Europäischen Zentralbank
nachgedacht. Der Europäische Gerichtshof ist dabei, zu
diesen Fragen Stellung zu nehmen. Wenn Ihre Argumentation richtig wäre, dann könnten wir es den griechischen Gerichten überlassen, diese Maßnahmen auszulegen. Das wäre die Konsequenz.
({7})
Das können Sie dann den deutschen Bürgern verkaufen.
Die Alternative wäre, den Griechen zu sagen: Abschließend entscheidet das Bundesverfassungsgericht, bekanntlich das beste europäische Gericht. - Verkaufen Sie
als Linke das einmal den Griechen! So wäre es, wenn
wir keine überstaatliche Streitschlichtungsinstitution
hätten. Das führt doch nicht weiter. Was wir brauchen,
ist eine überstaatliche Institution, die die entsprechenden
Fragen klärt. Man kann darüber nachdenken, ob dies
Schiedsgerichte tun sollen oder ob eine solche Gerichtsbarkeit bei der WTO angesiedelt werden soll. Aber wir
brauchen eine zwischenstaatliche Institution, die eine
entsprechende Auslegung betreibt.
Kollege Hirte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ulrich?
Gerne.
Vielen Dank, dass Sie meine Frage zulassen, Herr
Dr. Hirte. - Manchmal ist es wichtig, dass wir darlegen,
worüber wir eigentlich reden. Ich möchte Ihnen zwei,
drei Beispiele nennen. Dann beantworten Sie uns, ob die
CDU/CSU-Fraktion tatsächlich will, dass so etwas in
Zukunft überall möglich ist.
Wie Sie vielleicht wissen, gab es in der kanadischen
Provinz Quebec ein Moratorium gegen Fracking. Das
Unternehmen Lone Pine hat dagegen geklagt und fordert
250 Millionen Dollar Schadensersatz. In Luxemburg
wurde erfolgreich gegen ein südafrikanisches Programm
geklagt, das farbige Unternehmen begünstigt, um die
Ungerechtigkeiten des Apartheidregimes zu mildern.
Rumänien wurde 2006 zur Zahlung von rund 200 Millionen Euro Schadensersatz an einen schwedischen Investor verurteilt, weil es EU-Recht im Steuerbereich umgesetzt hat. Der Investor musste dann mehr Steuern
zahlen als erwartet. Es gibt unzählige solcher Beispiele.
Ein letztes Beispiel. Ein französisches Unternehmen hat
den ägyptischen Staat verklagt, weil dort Mindestlöhne
eingeführt wurden und diese offensichtlich die Investitionen beeinträchtigt haben.
Wollen Sie, dass das zukünftig der globalisierte Maßstab für die Verträge zwischen der EU, Kanada und
Amerika wird? Wenn das die Vorstellung von CDU/CSU
und SPD von Globalisierung ist, dann gute Nacht unseren Standards.
({0})
Lieber Herr Ulrich, ich halte es für richtig, dass Investoren, die auf der Grundlage eines Abkommens in einem
anderen Land investiert haben - wir reden hier in erster
Linie über deutsche Unternehmer, die in Kanada oder
den USA investieren wollen -, eine Möglichkeit haben,
gegen Diskriminierungen - auch in den USA und Kanada - vorzugehen.
({0})
Dass das Ergebnis eines Gerichtsverfahrens nicht immer
allen gefällt, liegt in der Natur der Sache.
({1})
Damit kommen wir zu Ihrem entscheidenden Gegenargument, zwischen funktionierenden Rechtsstaaten seien
solche Abkommen nicht erforderlich. Natürlich handelt
es sich immer um funktionierende Rechtsstaaten. Wenn
Sie aber einen Norditaliener fragen, ob er mit Begeisterung einen Prozess in Süditalien führt, dann werden Sie
feststellen, dass er das nicht gerne tut. Wenn Sie die
Fälle analysieren, in denen der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte Deutschland wegen überlanger Verfahren verurteilt hat, dann stellen Sie fest, dass Ihnen
ausländische Investoren entgegenhalten, dass gerade
Wirtschaftsprozesse bei uns viel zu lange dauern. Erklären Sie doch einmal einem deutschen Investor, warum er
mit großer Begeisterung vor einzelstaatlichen Gerichten
oder Bundesgerichten in den USA die Pre-Trial Discovery über sich ergehen lassen soll! Wenn so Ihre ideale
Wirtschaftsförderung aussieht, dann kann ich dazu nur
sagen: Danke, Deutschland!
({2})
Ihre pauschale Ablehnung von Investitionsschutzabkommen hilft uns doch nicht weiter. Mir sagen viele europäische Länder, insbesondere kleine Staaten wie Lettland und Estland: Wir brauchen solche Abkommen,
damit auch bei uns investiert werden kann. Wir machen
das gerne. - Wenn wir solche Abkommen ablehnten,
wäre die Konsequenz, dass die 27 anderen EU-Staaten
darüber nachdenken, wie sie ohne uns vorangehen können. Das wollen wir nicht.
({3})
Platte Ablehnung hilft uns nicht.
Lassen Sie uns doch über die Frage nachdenken, wie
wir für Verbesserungen sorgen können. Das haben wir
getan. Wie wir hier in diesem Hause zu Verbesserungen
kommen können, dazu mache ich Ihnen drei Vorschläge,
die wir schon vorbesprochen haben. Wir sollten darüber
nachdenken, ob die Auswahl der Richter und die Besetzung der Richterbänke bei den entsprechenden Schiedsgerichtsinstitutionen mit Zustimmung dieses Hauses geschehen sollten.
Darüber können wir nachdenken, darüber sollten wir
nachdenken. Dann ist Ihr Einwand vom Tisch, dass dort
möglicherweise keine unabhängigen Personen sitzen.
Dann können wir hier darüber diskutieren, wer dafür geeignet ist und ob der oder die unabhängig ist. Wir sollten
über diese Frage nachdenken, und wir werden darüber
nachdenken. Wir werden dann genau denselben Schritt
tun, den wir vor einigen Jahren bei der Auswahl der
Richter am Europäischen Gerichtshof gemacht haben.
Die wurden nämlich anfangs auch alleine vom Bundeswirtschaftsministerium ernannt, ohne Zustimmung des
Parlaments. Das war mein erster Punkt.
({4})
- Sie können gleich alle weiterreden. Sie kommen sicher
in den nächsten Jahren noch zu Wort.
Zweiter Punkt. Sie mahnen an, dass die nationalen
Verfahren und die Schiedsverfahren nicht ausreichend
miteinander verzahnt sind. Ja, das stimmt. Die Wahlmöglichkeit wird mit den neuen Klauseln eingeschränkt.
Man kann nicht mehr das eine und das andere machen,
sondern man kann nur das eine oder das andere machen.
({5})
- Das ist doch altes Recht. Reden Sie doch nicht über die
Vergangenheit, sondern über das, was wir in der Zukunft
machen wollen.
({6})
Es gibt einen Punkt, den wir hier autonom machen
wollen und werden. Wir werden über die Frage nachdenken, ob nicht der Bundesgerichtshof Anfragen von
Schiedsgerichten entgegennehmen kann. Das darf er bisher nicht. Das Gleiche gilt für den Europäischen Gerichtshof. Auch der darf Anfragen von Schiedsgerichten
bisher nicht entgegennehmen. Wir werden entsprechende Initiativen ergreifen, um auf der Ebene der Kommission durchzusetzen, dass das in den entsprechenden
Rechtsakten geändert wird.
({7})
- Darüber reden wir jetzt. Sie haben den Antrag gestellt.
Sie behaupten, wir würden nicht nachdenken. Natürlich
denken wir nach, und das ist die Antwort.
({8})
Damit komme ich zum dritten Punkt. Liebe Frau
Dröge, Sie haben immer wieder und auch eben darauf
hingewiesen, dass das alles nur Großunternehmen dienen würde und Schiedsverfahren für Großunternehmen
gedacht seien. Es mag sein, dass Schiedsverfahren relativ gesehen teuer sind. Deshalb denken wir darüber nach,
die Kosten für diese Schiedsverfahren für kleine und
mittelständische Unternehmen, die aus unserer Sicht in
Kanada und in den USA investieren sollen, auf das
Niveau zu senken, das sie haben würden, wenn die Unternehmen vor nationalstaatlichen Gerichten klagen
würden. Das ist für uns eine Maßnahme der Außenwirtschaftsförderung. Ich halte es für legitim, dass wir über
diese Frage nachdenken.
Das bedeutet: Alle Argumente, die Sie hier bringen,
rechtfertigen keine Ablehnung von Schiedsverfahren,
rechtfertigen keine Ablehnung des Investorenschutzes.
Wir brauchen das für deutsche Unternehmen, die jenseits
des Atlantiks investieren wollen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Antrag der Grünen bezieht sich
in der Tat auf die Frage des Investitionsschutzes und der
Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit und greift damit
eines der wirklich problematischen Themen bei diesen
Verträgen auf. Darüber sind wir uns, glaube ich, alle einig.
({0})
- Dass das ein wesentliches Thema bei diesen Verträgen
ist, ist unstreitig.
Mir ist es wichtig, ganz kurz zu sagen, dass wir den
Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren sollten.
Wir als eine der größten Handelsnationen der Welt brauchen einen freien Waren- und Dienstleistungsverkehr.
Dafür braucht unsere Wirtschaft offene Märkte. Es hat
keinen Sinn, dass wir uns bei der Standardisierung und
anderen Dingen selber Brücken bauen. Deshalb müssen
wir solche Verhandlungen führen. Man spricht nicht umsonst von den nichttarifären Handelshemmnissen.
Weil es so ist, dass in der globalisierten Welt die
28 Mitgliedsländer der EU alleine bei einer solchen
Standardsetzung mit China, den USA und anderen gar
nichts mehr ausrichten können, ist es richtig, dass die
Kompetenz für diese internationalen Abkommen auf die
EU übergegangen ist. 2009 ist das mit dem LissabonVertrag so geregelt worden. Wir alle haben das damals
für richtig gehalten, weil wir sehen müssen, dass wir Europa in der Welt positionieren.
({1})
Insofern ist es wichtig, dass wir die Globalisierung gestalten - das haben Vorredner schon oft genug gesagt und auch angemessene Spielregeln entwickeln.
Wir reden hier über zwei verschiedene Abkommen.
Klar ist: Unsere Beziehung zu Kanada wollen wir ausbauen. Bei aller Kritik am Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren, das in CETA geregelt ist, muss man
auch eins einmal sehen - das müssten Sie von Bündnis 90/Die Grünen bitte auch zur Kenntnis nehmen; ich
habe es aus Ihrem Antrag nicht herauslesen können -:
Kein anderes Freihandelsabkommen der EU sieht eine
derart weitgehende Öffnung der Märkte vor - unter
Wahrung der geltenden Schutzstandards für Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitsschutz. Kein anderes Freihandelsabkommen hat so weitreichende Bestimmungen
zur Nachhaltigkeit.
Auch beim Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren
enthält CETA schon deutliche Verbesserungen. Sie können gar nicht in Abrede stellen, dass es insoweit auf alle
Fälle das beste Abkommen ist. Es ist inzwischen klar:
Transparenz wird eingehalten; sämtliche Unterlagen
werden veröffentlicht. Alle Anhörungen sind öffentlich.
Schon im jetzigen Entwurf von CETA steht das. Auf die
geplanten Veränderungen komme ich gleich noch zu
sprechen. Ich wiederhole: Alle Anhörungen sind öffentlich. Interessierte Gruppierungen wie NGOs oder Gewerkschaften können Anträge einreichen und Stellungnahmen abgeben. Das ist etwas, was unser deutsches
Recht gar nicht kennt. Die Unabhängigkeit der Schiedsrichter wird garantiert;
({2})
die Schiedsrichter müssen unabhängig sein. Es gibt einen eigenen Verhaltenskodex. Es wird eine Schiedsrichterliste erstellt.
Herr Kollege Hirte, ich kann nur sagen: Wir in
Deutschland sind zwar ziemlich großartig, aber es ist ein
EU-Abkommen. Wir können nicht allein die Schiedsrichter bestimmen. Das macht natürlich die EU.
({3})
Es ist vorgesehen, dass die EU fünf Schiedsrichter benennt. Also, das muss man einmal abwarten. Es gibt das
Verbot ungerechtfertigter Klagen usw. usf. Das heißt, es
gibt eine Menge Verbesserungen. Auf diesen Verbesserungen wollen wir aufbauen, und wir wollen diese Verbesserungen noch weiter verbessern.
Ich komme zu TTIP und zu dem Ergebnis der Konsultationen, das Sie hier mehrfach angesprochen haben.
Wir wissen, dass das Ergebnis, das die EU-Kommission
vorgestellt hat, Veränderungen noch in vier weiteren Bereichen benennt: Das sind der Schutz des sogenannten
right to regulate, der Gestaltungsspielraum des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, die Arbeitsweise und
die Zusammensetzung der Schiedsgerichte, Stichwort
„Transparenz“, das Verhältnis ISDS zu nationalem
Rechtsweg und die Einführung eines Berufungsmechanismus.
Diese Punkte hat die EU-Kommission identifiziert,
und über diese Punkte werden wir in den nächsten zwei
bis drei Monaten Gespräche führen. Das Europäische
Parlament wird sich damit auseinandersetzen, die Mitgliedstaaten werden sich damit auseinandersetzen - vorhin wurde schon erwähnt, dass dieses Abkommen nicht
nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Mitgliedstaaten kritisch diskutiert wird -, und natürlich werden sich auch die Zivilgesellschaft und andere Stakeholder, die an diesem Prozess beteiligt sind, Stichwort
„Gewerkschaften“, damit beschäftigen. Sie alle werden
darüber beraten, und dann wird man sehen, welche Verbesserungen wir auf europäischer Ebene durchsetzen
können.
Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir Deutschen mit
den Möglichkeiten, die wir haben, und mit dem, was wir
uns bei diesen Gesprächen zu flankieren vorgenommen
haben, erfolgreich sein werden. Wir, die deutsche Bundesregierung, werden selber aktiv werden. Wir werden
Gespräche mit anderen Ländern und selbstverständlich
mit der Kommission suchen. Wir werden natürlich sehen, dass wir all das, was wir für CETA schon erreicht
haben, was wir bei TTIP noch besser machen wollen,
was wir bei CETA auch wieder rückkoppeln können, zu
einer Regelung zusammenführen, die insgesamt zu noch
mehr Transparenz und Offenheit führt.
Wenigstens für meine Begriffe ist von zentraler Bedeutung bei solchen Verfahren, sicherzustellen, dass es
immer ein faires Verfahren geben kann und dass man
sich gegebenenfalls mit einem Rechtsmittel, in welcher
Art auch immer, gegen Entscheidungen wehren kann.
Dann kommen wir mit dieser Art von Regelung in diesem Investitionsschutzverfahren schon ganz gut weiter.
({4})
In Vorbereitung auf diese Rede habe ich ein ganz gutes Gutachten vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages gelesen. Auf etwa acht Seiten setzt er sich sehr
gut mit diesem Thema auseinander und stellt sehr gut
dar, welche Verbesserungen tatsächlich schon erfolgt
sind. Das sollte man sich gern einmal anschauen, wenn
man sich mit dem Ganzen noch inhaltlich auseinandersetzen will.
Ich würde gern noch etwas zu dem Antrag der Linken
sagen, der sich mit CETA ja gar nicht beschäftigt, sondern nur mit einem bestimmten Gutachten. Ich würde
Sie herzlich bitten, nicht Menschen zu diskreditieren, die
einen Auftrag wahrgenommen haben, den das Haus, das
ich hier heute vertrete, erteilt hat. Ich finde, Sie können
das Wirtschaftsministerium angreifen, wenn Sie meinen,
dass wir falsche Gutachter beauftragt haben. Aber einem
unabhängigen Professor zu unterstellen, schon in der
Überschrift, er würde ein Gefälligkeitsgutachten erstellen, ist eine Unverschämtheit.
({5})
Da muss ich mich wirklich schützend vor die Person
stellen.
Noch einmal: Wenn Sie da Kritik haben, greifen Sie
das Haus an! Wir werden uns zu wehren wissen, und wir
können Ihnen sehr gut erklären, worin der Unterschied
zwischen einem Schlichtungsverfahren und einem
Schiedsverfahren besteht; der ist Ihnen offenbar entgangen, Herr Ernst. Er ist ein Schlichter und keineswegs ein
Schiedsrichter. Da gibt es wesentliche Unterschiede. Der
eine macht ein Urteil, der andere macht einen Vergleichsvorschlag. Das kann man nicht über einen Kamm
scheren. Deshalb noch einmal die Bitte: Lassen Sie unsere unbescholtenen Professoren in Deutschland unbescholten!
({6})
Die Kollegin Bärbel Höhn spricht jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich auf die Kollegen Pfeiffer und
Hirte eingehen, die sich zu den Konsultationen geäußert
haben. Ich finde, es ist eine absolute Unverschämtheit,
({0})
wenn Sie 3 000 substanzielle Eingaben zu diesen Konsultationen - normalerweise sind es bei solchen Konsultationen 200; diesmal waren es 3 000 - und 145 000
Menschen, die sich mit der Sache beschäftigt haben, die
am Ende ihre Unterschrift gegeben haben, hier so diskreditieren.
({1})
Das ist etwas, was die Politikunzufriedenheit wirklich
schüren wird. Sie gehen da mit Bürgerinnen und Bürgern
auf eine Art und Weise um, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Es wird am Ende auch die Demokratie beschädigen, wie Sie mit solchen Konsultationsverfahren
und der Beteiligung der Bürger umgehen. So geht es
nicht, liebe Kollegen von der CDU und CSU!
({2})
Zu dem Gutachten, das von Schill gemacht worden
ist. Frau Zypries, ich glaube, da haben Sie genau recht.
Man soll gar nicht das Gutachten an sich kritisieren. Ich
kritisiere aber sehr wohl die Fragestellung des Wirtschaftsministeriums; denn am Ende hat sich der Gutachter eigentlich fast nur mit Gesetzesvorhaben beschäftigt
und kaum mit Verwaltungshandeln. Die Klagen werden
sich aber wesentlich gegen Verwaltungshandeln richten.
Deshalb wäre es notwendig gewesen, den Auftrag um
genau diese Frage zu erweitern. Deshalb richtet sich die
Kritik in der Tat gegen das Wirtschaftsministerium und
nicht unbedingt gegen den Gutachter.
({3})
Wir erleben, dass wir mittlerweile eine Klagewelle
haben, was diese Schiedsverfahren angeht; das ist der
Punkt. Da hat sich in den letzten Jahren viel verändert.
Wir haben auf EU-Ebene vom Jahr 2012 zum Jahr 2013
eine Verdoppelung der Zahl der Klagen. Die meisten davon richten sich gegen Umweltregulierungen oder Ressourcenschutz, auch gegen soziale Fragen, aber vor allen
Dingen gegen Industrieländer. Es ist gar nicht mehr so
wie früher. Da kam es zu solchen Verfahren, weil vielleicht kein sicheres Rechtssystem vorhanden war. Klagen richten sich jetzt zunehmend gegen Industrieländer.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir mit einer
Delegation des Umweltausschusses gewonnen haben,
als wir uns in den USA mit diesen Fragen beschäftigt haben, war, dass gerade Anwaltskanzleien in den USA
diese Schiedsverfahren zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben. Die Frage ist doch, ob wir Handlanger für
Rechtsanwaltskanzleien in den USA sein wollen, die
sich mit diesem Geschäftsmodell mittlerweile eine goldene Nase verdienen. Das kann doch wohl nicht sein!
({4})
Wir erleben - ich will einen bestimmten Punkt noch
einmal aufgreifen, nämlich die Gentechnik -, dass wir in
der Gentechnik ein sehr komplexes Problem haben. In
Nordamerika ist es so, dass der Gentechnikaspekt einer
Pflanze bei der Genehmigung gar nicht berücksichtigt
wird; wenn sie wie ein Pestizid wirkt, wird sie sozusagen
als Pestizid behandelt und zugelassen. Wenn da mehrere
Kompenenten vorhanden sind, gibt es in Zukunft teilweise keine Zulassungsverfahren mehr. Die Wechselwirkungen werden nicht beachtet. Es wird also zunehmend
Gentechnikpflanzen in Nordamerika geben, die nicht
einmal ein Zulassungsverfahren hatten. Wenn wir diesem Freihandelsabkommen zustimmen, zukünftig Gentechnikpflanzen hier aber verbieten, dann gibt es natürlich Klagen von Monsanto & Co. Ich sage Ihnen: Wegen
der Schiedsverfahren werden wir diese Gentechnikpflanzen hier in Europa und Deutschland nicht aufhalten können. Das ist ein ganz großer Kritikpunkt. Das ist ein Verlust an Verbraucherschutz, den hinzunehmen ich nicht
bereit bin.
({5})
Das Freihandelsabkommen CETA - dazu haben wir
ja die Texte vorliegen - ist ein Einfallstor für die Gentechnik in Europa und Deutschland, und das wissen Sie
auch. Ich erwarte deshalb gerade vom Wirtschaftsminister, dass er sich für die Verbraucherinteressen, die wir
hier in Deutschland haben, genauso einsetzt, wie er sich
zum Beispiel für die Interessen von energieintensiven
Betrieben eingesetzt hat, und ich erwarte von der Kanzlerin, dass sie sich so einsetzt, wie sie sich für einen höheren zulässigen CO2-Ausstoß von großen Autos eingesetzt hat. Das höre ich vom Wirtschaftsminister nicht.
Ich höre, dass er herumreist,
({6})
aber ich höre öffentlich nicht, dass er sich wirklich intensiv für die Verbraucherschutzinteressen in diesem Handelsabkommen einsetzt.
({7})
Das heißt, wir Grüne sind nicht gegen Handelsabkommen, aber wir sind für faire Handelsabkommen. Nur
faire Handelsabkommen sind freie Handelsabkommen!
({8})
Deshalb sage ich: Wir müssen CETA aufschnüren, und
wir müssen CETA verändern. Ansonsten wird es zu
Recht Demonstrationen der Bevölkerung geben, die
dann zu Recht für ihre Interessen kämpft. Da möchte ich
Sie einmal sehen. Sie werden sich da plötzlich wegducken
({9})
und nicht mehr um das kümmern, was die Leute wirklich
interessiert.
({10})
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege
Jürgen Hardt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegen Ende der Debatte möchte ich nicht all das vortragen,
was hier schon gesagt wurde,
({0})
sondern möchte auf die Argumente eingehen, die im
Einzelnen hier vorgetragen wurden und vielleicht den einen oder anderen neuen Gedanken zusätzlich hereinbringen.
Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Die Frage der
Handelsabkommen mit Kanada und mit den USA ist für
die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes und der
Europäischen Union von essenzieller Bedeutung. Selbstverständlich sind schlechte Handelsabkommen eine
schlechte Hilfe hinsichtlich der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung und gute Abkommen eine gute Hilfe.
Deswegen sollten wir über Parteigrenzen hinweg gemeinsam daran arbeiten, dass wir gute und zuverlässige
Handelsabkommen bekommen, so wie Deutschland
auch jetzt schon viele Handelsabkommen hat, von denen
es profitiert.
Jenseits der Polemik der Debatte hier im Haus, aber
überwiegend außerhalb dieses Hauses habe ich doch das
Gefühl - ich habe mit Frau Künast darüber beim Tagesspiegel diskutiert -: Die Grünen halten sich die Hintertür, dass sie vielleicht eines Tages doch für dieses Abkommen sein könnten, sperrangelweit offen. Ich finde,
das ist ein positives Zeichen. Deswegen lohnt es sich
auch, mit Ihnen zu reden. Auch das, was Frau Höhn gerade gesagt hat, war ja ein Schritt in diese Richtung.
Warum sind Handelsabkommen wichtig für uns? Ich
sage es einmal ganz konkret: Hinsichtlich der wirtschaftlichen Wirkungen von Handelsabkommen, CETA mit
Kanada oder TTIP mit den USA, haben wir natürlich die
Situation, dass wir nur schwer einschätzen können, wie
viel das konkret an mehr Arbeitsplätzen und in Euro
bzw. Dollar ausmacht. Ich will mich auch nicht auf Prognosen stützen. Da geht die eine in die eine Richtung
und die andere in die andere Richtung. Ich bin aber fest
davon überzeugt, dass die strategische Bedeutung dieser
Abkommen nicht zu überschätzen ist.
({1})
Angesichts der Tatsache, dass in dieser Welt China,
Indien, südamerikanische und afrikanische Staaten, Indonesien, Korea, auch Russland ganz stark darum buhlen, wer den Ton bei der Frage angibt, was fairer Welthandel ist, haben wir hier die Chance, für 50 Prozent der
Weltwertschöpfung, für 50 Prozent des Weltbruttosozialprodukts, nämlich Europäische Union plus Nordamerika, unsere Vorstellungen von fairen Standards im Welthandel und von fairen Bedingungen bei der Produktion
von Gütern und Dienstleistungen durchzusetzen. Wenn
uns das nicht gelingt, wenn wir uns auf dem Wege dahin
verzetteln und scheitern, dann werden die anderen sagen: Ihr Europäer, ihr Amerikaner wollt uns sagen, was
fairer Welthandel ist? Ihr seid ja nicht einmal in der
Lage, Standards für euren relativ vergleichbaren Wirtschaftsraum herzustellen. Jetzt geben wir den Ton an
und sagen, wohin die Reise geht. - Dann müssen wir auf
deren Zug mitfahren, und nicht umgekehrt.
Umgekehrt ist es natürlich so, dass wir dann, wenn
wir für einen Wirtschaftsraum, der etwa 50 Prozent der
Weltwertschöpfung ausmacht, Regeln setzen, zwar keinen in China oder Indien zwingen können, sich bei der
Produktion an diese Regeln zu halten; aber wenn er in
unseren Wirtschaftsraum hinein will, muss er sie erfüllen. Den Unternehmer in Fernost, der das ignorieren
kann, der sozusagen 50 Prozent des Marktes einfach vernachlässigt, indem er sich nicht daran hält, möchte ich
sehen. Das ist für mich eine riesige Herausforderung, das
bietet für mich eine riesige Chance, die wir unbedingt
wahrnehmen sollten.
({2})
Da werden, wie ich finde, gewisse Polemiken und
auch Übertreibungen dem Ernst der Sache nicht gerecht.
Ich möchte auch den Kollegen Landwirtschaftsminister
da noch ein bisschen in Schutz nehmen. Sie wissen ja,
dass das Wiener Schnitzel bekanntermaßen nicht Wiener
Schnitzel heißt, weil es aus Wien kommt, sondern weil
es aus Kalbsfleisch besteht. Warum ist es aus Kalb? Weil
es ja eigentlich ein Cotoletta Milanese ist. - Ich will damit nur deutlich machen: Die Frage, wie die Bezeichnungen nach regionaler Herkunft in der Europäischen
Union geregelt sind, ist ja durchaus bedenkenswert.
({3})
Wenn wir auf dem Wege eines Handelsabkommens dazu
kommen, dass im Zuge einer entsprechenden Diskussion
dafür gesorgt wird, dass der Verbraucher erkennen kann,
ob in dem Parmesankäse holländische oder polnische
Milch drin ist oder ob die Milch tatsächlich aus Oberitalien stammt, dann würde das einen Fortschritt darstellen.
({4})
In diesem Sinne habe ich unseren Landwirtschaftsminister verstanden. Deswegen auch seine plakativen Beispiele.
Frau Dröge, ganz kurz zum Thema Kölsch, weil es
mir ein persönliches Anliegen ist. Kölsch wird an der
Stadtgrenze von Düsseldorf und in Bonn gebraut. Deshalb kann es nicht regional geschützt werden.
({5})
Daraufhin haben sich alle 22 Kölsch brauenden Brauereien im Rheinland zusammengeschlossen und das Wort
„Kölsch“ als Markennamen schützen lassen. Damit haben sie das Problem, dass sie keine Bezeichnung nach
regionaler Herkunft anwenden können, umgangen.
({6})
- Sie brauchen nicht mit dem Kopf zu schütteln. Der
Mann, der das gemacht hat, war vor 25 Jahren mein
Nachbar in Köln.
({7})
Ich möchte ganz konkret etwas zu dem Thema der
Schiedsverfahren sagen. Den von der Staatssekretärin
verwendeten Begriff „problematisch“ würde ich so nicht
verwenden. Es ist aber eine der großen Herausforderungen im Rahmen dieser Abkommen, für diese Schiedsverfahren vernünftige Regeln zu entwickeln. Ich sage Ihnen auch: Ich halte es für völlig unrealistisch, dass wir
die Kanadier davon überzeugen würden, dass sie darauf
verzichten. Die Gespräche, die ich geführt habe, geben
dazu keinen Anlass. Auch wenn Sie mit US-Amerikanern darüber reden - ich habe mit einer Person, die daran
maßgeblich beteiligt ist, gesprochen -, halte ich es für
unrealistisch, dass es aufgegeben wird, nachdem vereinbart wurde, dass wir so etwas machen. Ich bin aber der
Meinung, wir sollten die Chance wahrnehmen, daraus
Schiedsverfahren neuen Typs zu machen, und zwar konkret bei CETA, das dann ein Role Model, also ein Vorbild, für TTIP sein kann, was wir mit den Amerikanern
verhandeln. Ich finde ein paar Aspekte ganz entscheidend bei dem CETA-Verfahren.
Erstens. Transparenz. Das CETA-Verfahren wird sich,
anders als bisherige Schiedsverfahren, nach diesen
neuen UN-Transparenzrichtlinien richten. Wir haben
bisher nur den vorläufigen englischen Text, 1 600 Seiten, des Handelsabkommens vorliegen. Wir werden das
alles sorgfältig auch in deutscher Sprache prüfen müssen. Ich habe den Eindruck, dass dies ein qualitativer
Sprung ist mit Blick auf die Transparenz dieses Verfahrens.
Zweitens. Ganz wichtig ist, dass derjenige, der nach
einem Schiedsverfahren in CETA ein Schiedsgericht anruft, ein relevantes Geschäft haben muss. Die Diskussion, dass man irgendwo eine Briefkastenfirma gründet,
um in den Genuss der Vorteile eines Schiedsverfahrens
im Handelsabkommen zu kommen, fällt nach CETA
weg. Er wird konkret ausgeschlossen. Sie müssen substanziell betroffen sein, und zwar schwerwiegend im
Sinne von Enteignung oder ähnlichen schwerwiegenden
Eingriffen, damit Sie überhaupt das Recht haben, einzuschreiten. Und Sie müssen geltend machen, dass Sie als
Teilnehmer des jeweils anderen Teils des Handelsabkommens - also als Amerikaner in Europa oder umgekehrt - gegenüber denen diskriminiert sind, die aus dem
anderen Teil des Marktes kommen. Die Frage, ob die
Veränderung eines Umweltstandards in Deutschland zu
Schiedsgerichtsverfahren führt, ist natürlich mit Nein zu
beantworten. Das würde für ein deutsches Unternehmen,
für ein italienisches Unternehmen, für ein englisches
Unternehmen in Deutschland genauso wie für ein amerikanisches Unternehmen gelten. Somit wäre das gar kein
Gegenstand, wo die Diskriminierung des Teilnehmers
aus dem jeweils anderen Wirtschaftsteil stattfindet. In
diesem Sinne möchte ich nur deutlich machen, dass es
eine massive Weiterentwicklung der Schiedsverfahren
gibt. Wir werden uns das genau ansehen. Wir werden
auch als Parlament Einfluss nehmen. Das Parlament
wird sowieso ein ganz entscheidendes Wort bei diesen
Handelsabkommen sprechen. Wir werden sowohl bei
CETA als auch bei TTIP darüber im Deutschen Bundestag abstimmen.
({8})
Die deutsche Bundesregierung wird, wenn sie im Rat
ihre Stimme abgibt, mit Sicherheit dem Deutschen Bundestag Rechenschaft darüber ablegen, wie sie im Rat abzustimmen gedenkt. Sie kennen alle die Regeln, die wir
hier im Deutschen Bundestag haben: Theoretisch könnten wir die Regierung förmlich binden in ihrem Abstimmungsverhalten im Rat. Also die Vorstellung, dass etwas
an den demokratisch gewählten Vertretern vorbeiläuft,
ist unbegründet. Es hat, wie ich finde, massive Versäumnisse in der Informationspolitik in den letzten Jahren gegeben. Ich finde, sie sind im Jahr 2014 zu wesentlichen
Teilen auch aufgelöst und aufgehoben worden. Die neue
Kommission - Juncker, Timmermans, als erster Vizepräsident dafür zuständig, und Frau Malmström, die neue
Handelskommissarin - hat in der Öffentlichkeitsarbeit
einen gänzlich anderen Stil gewählt.
({9})
Am 7. Januar ist ein ganzer Stapel von Dokumenten
ins Netz gestellt worden, mit denen wir uns auseinandersetzen können. Ich finde, dass der Bundeswirtschaftsminister, der es in dieser Frage mit seiner Doppelrolle
wirklich nicht einfach hat - das muss ich einmal sagen -,
einen guten Job und eine gute Öffentlichkeitsarbeit
macht. Ich bitte nur ganz herzlich darum: Lassen Sie uns
das Thema mit dem notwendigen Ernst und in dem Bewusstsein um das, was auf dem Spiel steht, sorgfältig
und sauber beraten. Lassen wir uns von Menschen, die
aus anderen - bei dem einen oder anderen vielleicht auch
dumpf antiamerikanistischen - Motivationen dagegen
vorgehen, nicht beirren. Lassen Sie uns gemeinsam Unklarheiten auflösen!
Ich möchte, weil ich noch 50 Sekunden Redezeit
habe, eine Unklarheit nennen. Dass die kommunale
Selbstverwaltung oder die Frage der kommunalen Daseinsvorsorge betroffen ist, kann man weder bei CETA
noch bei TTIP sagen. In den Leitlinien für die Verhandlungen über TTIP steht unter Ziffer 20: Das wird nicht
angerührt. - Das steht außer Frage; es wird auch nicht
bestritten. Dennoch beschließen jetzt die Räte im ganzen
Land entsprechende Resolutionen auf der Basis von
Textentwürfen, die sie von einzelnen Fraktionen oder
vom Städtetag bekommen. Für mich hat das den Charakter der folgenden Entscheidung: Der Rat der Stadt Köln
beschließt, der Kölner Dom soll nicht abgerissen werden. Dafür wird man im Rat der Stadt Köln immer eine
Mehrheit finden; nur hat keiner den Plan, den Kölner
Dom abzureißen. - Es hat auch keiner den Plan, die
kommunale Daseinsvorsorge, so wie wir sie in der Europäischen Union und im Rahmen der WTO geschützt haben, infrage zu stellen.
Ich bin guten Mutes, dass wir die Zweifler, die Skeptiker überzeugen werden. Ich bin guten Mutes, dass die
Antiamerikaner in Deutschland nicht so stark sind, dass
sie uns da wirklich reingrätschen können. Ich möchte Sie
ermutigen, die heutige Debatte als Auftakt zu nehmen,
zukünftig sehr sorgfältig und verantwortungsbewusst
mit diesem Thema umzugehen, auf allen Seiten des Hauses.
Danke schön.
({10})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Matthias Miersch, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Hardt, vielen Dank für diesen Beitrag. Ich
glaube, er war am Ende wohltuend, weil er eines gezeigt
hat: Viele, die sich augenblicklich äußern, sind verunsichert; sie stellen Fragen. Die Mindestverpflichtung des
Parlaments der Bundesrepublik Deutschland ist die sachliche Auseinandersetzung mit den Ängsten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Da hilft es nicht, von einer „Empörungsindustrie“ zu
sprechen. Da hilft es aber auch nicht, Herr Kollege
Ernst, so zu tun, als ob der deutsche Rechtsstaat die Lösung wäre; denn wir sind schon viel weiter. Es gibt nicht
nur den deutschen Rechtsstaat, und viele Probleme, die
wir hier heute zu lösen haben, sind allein nationalstaatlich nicht mehr in Gänze zu lösen. Auch das muss man
den Menschen sagen.
({1})
Als Umweltpolitiker sage ich Ihnen, dass wir beim internationalen Klimaschutz das Spannungsfeld zwischen
notwendigen internationalen Verträgen und deren Umsetzung hautnah erleben. Aber gleichzeitig erleben wir
beim Thema Grüne Gentechnik, dass wir es nicht einmal
schaffen, auf europäischer Ebene eine gemeinsame Haltung zu erreichen, sodass es jetzt mit der Opt-out-Klausel eine - ich sage es mal so - Renaissance des nationalstaatlichen Handelns gibt.
({2})
Insofern müssen wir überlegen, wie es bei diesen sensiblen Themen, bei CETA und bei TTIP, aussieht. Ich
bin froh, dass wir mit Bernd Lange einen Sozialdemokraten haben, der als zuständiger Berichterstatter im
Europäischen Parlament genau die Fragen, die Sie von
den Grünen in Ihrem Antrag gestellt haben, gerade in Ihrem Sinne klärt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Was mir aber zu kurz kommt - deswegen werde ich
ein bisschen hellhörig, wenn Sie eine sofortige Abstimmung wollen -, ist die Tatsache, dass es um viel mehr
geht als nur Schiedsgerichte - ja oder nein -; es geht vor
allen Dingen auch um die zugrundeliegenden Anspruchsgrundlagen. Da haben wir bei CETA beispielsweise augenblicklich 500 Seiten englischsprachigen
Text vor uns liegen, mit einem Verweis auf ein Anlagenkonvolut von rund 1 000 Seiten. Ich weiß nicht, ob sich
jemand in diesem Haus zutraut, auf alle Fragen zu antworten. Ich finde es jedenfalls legitim, dass sich Leute
an uns wenden und sagen: Guckt da genau nach!
({4})
Ich möchte gerade als Umweltpolitiker ein Thema herauspicken, das mich ganz besonders berührt und bei
dem ich befürchte, dass wir in Verbindung mit der Konstruktion der Schiedsgerichtsbarkeit ein ganz ungutes
Gebräu bekommen: Wir haben zwei unterschiedliche
fundamentale Rechtsgrundsätze im europäischen bzw.
im kanadischen und amerikanischen System: Wir haben
in Europa den sogenannten Vorsorgegrundsatz. Den gibt
es in Kanada und in den USA in dieser Form nicht. Die
Frage ist, inwieweit wir in diesen Abkommen - zumin7668
dest bei CETA; darauf komme ich gleich noch zu sprechen - die Unterminierung dieses Grundsatzes ermöglichen. Ich finde, wir müssen dieser Fragestellung nicht
nur in einer Debatte, wie wir sie heute führen, sondern in
einer Vielzahl von Unterredungen nachgehen.
Die von mir angesprochenen 500 Seiten enthalten
eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, die der Auslegung bedürfen. Aber wer hat die Hoheit der Auslegung?
({5})
Es ist heute in keiner Weise angesprochen worden, dass
neben den Schiedsgerichten auch im CETA-Verfahren
andere Gremien geschaffen werden, sogenannte Regulierungsräte, die - soweit ich es verstehe - zumindest
Auslegungskompetenzen erhalten können; ich sage das
ganz vorsichtig. Ich finde, wir müssen uns mit dieser
Frage beschäftigen.
({6})
Denn wenn intransparente Gremien, die nicht demokratisch legitimiert sind, die Auslegungshoheit bekommen,
dann geben wir - und das sage ich auch mit Blick auf die
Parlamentarier im Europäischen Parlament; das betrifft
nicht nur die Parlamentarier der nationalen Parlamente demokratische Legitimität ab. Das könnte ich nicht verantworten. Deswegen möchte ich um diese Frage ringen.
({7})
Wir müssen auf zahlreichen Seiten Fragezeichen machen. Ich finde - da teile ich die Meinung der Kollegin
Höhn -, wir sollten den Bereich Grüne Gentechnik ruhig
ansprechen. CETA enthält ein Kapitel, das die Überschrift „Dialog und bilaterale Zusammenarbeit“ trägt. In
diesem Kapitel geht es um den Informationsaustausch
gerade im Bereich der GVO, also der gentechnisch veränderten Organismen.
Es gibt eine gemeinsame Zielerklärung, in der es
heißt - wenn meine Übersetzung stimmt -, dass das gemeinsame Ziel die Förderung wissenschaftsbasierter Zulassungsprozesse sei. Genau das haben wir im Vorsorgeprinzip im europäischen Kontext eben nicht. Wir müssen
nicht beweisen, dass etwas gefährlich ist, sondern wir
können auch etwas verbieten, weil wir uns unsicher sind,
ob es gefährlich ist. Das sind fundamentale Unterschiede. Wenn diese durch die entsprechenden Klauseln
unterminiert werden, dann stehen Rechtspositionen zur
Disposition, die wir nicht aus der Hand geben dürfen.
({8})
Aus dieser Debatte ergeben sich fünf ganz konkrete
Forderungen. Erstens. Das Versäumnis, von Anfang an
Transparenz herzustellen - das Sie, Herr Hardt, zu Recht
angesprochen haben -, können wir nur wettmachen, indem wir uns die Zeit nehmen, die wir für eine sorgfältige
Beratung brauchen.
({9})
Zweitens. Wir müssen überdenken, ob die Beratungsformen, also wie wir hier im Parlament beraten, diesen
Abkommen gerecht werden. Wir müssen überdenken, ob
wir nur im Wirtschaftsausschuss oder nur im Umweltausschuss Anhörungen durchführen oder ob wir - der
Wirtschaftsausschuss hat das an der einen oder anderen
Stelle schon gemacht - uns hier öffnen, um die großen
Abkommen interdisziplinär zu besprechen.
Drittens. Die Anspruchsgrundlagen sind mindestens
genauso wichtig wie die Systematik der Schiedsgerichtsbarkeiten oder der Regulierungsräte.
Viertens. Wenn die Kommission aufgrund des Konsultationsverfahrens Änderungen bei TTIP anmahnt,
dann muss das auch für CETA gelten; sonst geht das
nicht.
({10})
Fünftens. Wir sollten darüber nachdenken, ob das
System sogenannter Positivlisten dazu führen kann,
Rechtsunsicherheiten in vielen Bereichen der Abkommen zu beseitigen. Ich weiß, es ist ganz schwer, das jetzt
noch bei CETA durchzusetzen. Viele Punkte offenzulassen, birgt die Gefahr, dass andere die Auslegung übernehmen. Insofern wäre das Positivlistensystem - Sie haben gerade die Daseinsvorsorge angesprochen - eine
Möglichkeit, Rechtsunsicherheit zu beseitigen.
Vor uns liegt viel Arbeit. Ich freue mich auf eine sachliche Diskussion. Ich bin mir sicher, dass diese Themen
eine Tragweite haben, die wir gar nicht hoch genug einschätzen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Tagesordnungspunkt 19 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/3747. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die
Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überwei-
sung, und zwar federführend an den Ausschuss für Wirt-
schaft und Energie sowie mitberatend an den Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz und an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Die Ko-
alition. Wer stimmt dagegen? - Die Opposition. Wer ent-
hält sich? - Niemand. Dann ist die Überweisung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion so beschlossen. Damit stimmen wir über den Antrag
auf Drucksache 18/3747 in der Sache nicht ab.
Tagesordnungspunkt 19 b. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3729 an
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung auch so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Assoziierungsabkommen vom 21. März 2014 und
vom 27. Juni 2014 zwischen der Europäischen
Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits
und der Ukraine andererseits
Drucksache 18/3693 ({0})
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Assoziierungsabkommen vom 27. Juni 2014 zwischen der Europäischen Union und der
Europäischen Atomgemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Georgien andererseits
Drucksache 18/3694
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Assoziierungsabkommen vom 27. Juni 2014
zwischen der Europäischen Union und der
Europäischen Atomgemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik
Moldau andererseits
Drucksache 18/3695
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Sitzplätze
eingenommen haben, können wir mit der Aussprache
beginnen. - Ich eröffne die Aussprache.
Ich rufe zunächst den Staatsminister Michael Roth
auf. Er hat das Wort.
({4})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und meine Herren! Die Debatte, die wir heute führen, findet in Zeiten einer schweren Krise im Osten Europas statt. Wir alle, insbesondere
die Bundesregierung, bemühen uns seit vielen Monaten
um die Abwendung dieser Krise, und wir arbeiten an einer politischen Lösung. Wir alle wissen: Wir sind noch
sehr weit davon entfernt.
Russland hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion
der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine die
Fundamente der europäischen Friedensordnung infrage
gestellt. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
drohen neue Trennlinien auf unserem Kontinent. Von
neuen Mauern und neuer Entfremdung wären die
Ukraine, die Republik Moldau und Georgien unmittelbar
betroffen, nicht nur wegen ihrer geografischen Lage. In
allen drei Ländern gibt es, wenn auch in ganz unterschiedlicher Ausprägung, Bestrebungen in beide Richtungen: einerseits die traditionell engen Beziehungen zu
Russland, andererseits den Wunsch nach einer stärkeren
Anbindung an Europa. Angesichts der derzeitigen Krise
ist es umso bemerkenswerter, dass diese drei Länder gerade jetzt die Zusammenarbeit mit der EU abermals vertiefen wollen. Der Abschluss der Assoziierungsabkommen mit der EU am 27. Juni des vergangenen Jahres hat
dies eindrucksvoll gezeigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Assoziierungsabkommen wollen wir die Ukraine, die Republik
Moldau und Georgien auf ihrem schwierigen Weg der
Reformen begleiten: mit Rat und mit Tat, aber eben auch
mit finanzieller Unterstützung. Die Abkommen setzen
einen klaren, verbindlichen Rahmen für weitere tiefgreifende Reformen in diesen Ländern, die bitter nötig sind.
Unsere östlichen Nachbarn modernisieren, öffnen und
demokratisieren Schritt für Schritt Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft. Ich freue mich über die bisherigen Erfolge und Fortschritte. Doch die eigentlichen Bewährungsproben liegen noch vor uns. Denn nun gilt es, über
1 000 Seiten Regelungswerk umzusetzen. Das wird ein
ziemlicher Kraftakt, der die Länder grundlegend verändern dürfte. Ein solch radikaler Wandel vollzieht sich
nicht ohne Spannungen. Er kennt eben nicht nur Gewinner, sondern er bringt, zumindest kurzfristig, immer auch
Verlierer hervor.
Die Regierungen unserer Partnerländer wissen, was
die Menschen in der Ukraine, in der Republik Moldau
und in Georgien jetzt von ihnen erwarten und einfordern:
Rechtstaatlichkeit, Fortschritte bei der Bekämpfung der
Korruption, eine leistungsfähige Justiz und Verwaltung.
Wenn das gelingt, dann rückt das in greifbare Nähe, was
wir uns alle im Interesse dieser Menschen wünschen:
stabile Demokratien, in denen das Recht geachtet und
die Menschenrechte geschützt werden, erfolgreiche
Wirtschaften und ein starker Sozialstaat.
Wir wissen aber eben auch: Die EU wird das Ziel einer stabilen, demokratischen und wirtschaftlich gedeihenden Nachbarschaft nur dann erreichen, wenn diese
Länder auch gute Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn im Osten pflegen. Es geht für die Ukraine, für die
Republik Moldau und für Georgien eben nicht um eine
Entweder-oder-Entscheidung; denn die Östliche Partnerschaft will unsere Partnerländer eben nicht vor die Wahl
stellen, und schon gar nicht ist dieses Projekt gegen
Russland gerichtet. Ich möchte aber auch sagen: Russland hat kein Recht, in der Ukraine territoriale Fakten zu
schaffen oder die Staaten der Östlichen Partnerschaft mit
Strafen zu belegen. Hier steht die Europäische Union geschlossen an der Seite unserer östlichen Nachbarländer,
die auf unsere Solidarität zählen können.
({0})
Die Fähigkeit zur Selbstkritik wird von der Europäischen Union immer wieder eingefordert. Wir haben uns
natürlich auch gefragt: Was ist da möglicherweise falsch
gelaufen? Mit Blick auf die Östliche Partnerschaft hat
Russland erst nach jahrelangen Assoziierungsverhandlungen ernste Bedenken angemeldet, und leider hat
Russland Mittel gewählt, die sich überhaupt nicht mit
guter Nachbarschaft und internationalem Recht vereinbaren lassen. Diese von Russland gewählten Mittel sind
inakzeptabel.
({1})
Ich weiß aus sehr vielen persönlichen Gesprächen - das
deckt sich sicherlich mit Ihren eigenen Erfahrungen,
liebe Kolleginnen und Kollegen -: Keines der östlichen
Partnerländer möchte seine jahrhundertealten Verbindungen zu Russland abbrechen. Auch die Europäische
Union misst den Beziehungen zu Russland weiterhin
eine ganz hohe strategische Bedeutung bei.
Die Bundesregierung setzt sich nicht nur unermüdlich
für eine politische Lösung der Ukraine-Krise ein. Wir
nehmen natürlich auch die Sorgen Russlands über die
Auswirkungen der Assoziierungsabkommen auf seine
Wirtschaft ernst. Wir haben auch Bereitschaft gezeigt,
die vorläufige Anwendung des Freihandelsabkommens
mit der Ukraine für 15 Monate auszusetzen, um zu überprüfen, wo es möglicherweise Schwierigkeiten in der
Zusammenarbeit dieser Staaten mit Russland gibt. Die
Europäische Union ist also durchaus zu vernünftigen
und praktikablen Lösungen bereit, die dem Frieden und
der Sicherheit der ganzen Region dienen. Aber es ist
eben auch klar - das haben wir Russland immer wieder
deutlich gesagt -: Wenn die EU Verträge mit Drittstaaten
schließt, dann gibt es für Russland kein Vetorecht.
Am Anfang dieses Gesetzgebungsverfahrens möchte
ich einen kleinen Wunsch äußern, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Im Mai dieses Jahres findet in Riga das
nächste Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft statt.
Die große Mehrheit unserer Partner in der Europäischen
Union wird bis dahin die Ratifizierung der drei Assoziierungsabkommen abgeschlossen haben. Ich fände es
großartig, wenn auch wir, als Motor der europäischen
Nachbarschaftspolitik, unsere Ratifizierungsverfahren
bis dahin abgeschlossen hätten. Daher bitte ich Sie um
eine intensive, aber auch um eine zügige Beratung. Wir
stehen als Bundesregierung unterstützend bereit. - Ich
darf heute diese Abkommen für die Bundesregierung
hier einbringen.
Vielen Dank.
({2})
Als nächster Redner spricht Wolfgang Gehrcke, Die
Linke.
({0})
Genosse Wellmann! Wir wollen gleich zur richtigen
Anrede übergehen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte, dass wir als Erstes darüber nachdenken, was
wir den Menschen in Moldawien, in Georgien und in der
Ukraine wünschen sollten und was wir möglicherweise
dazu beitragen können, ihre Wünsche zu erfüllen. Ich
möchte gern, dass die Menschen in der Ukraine, in Moldawien und in Georgien sozial wie auch von den demokratischen Rechten her etwas besser leben, als es heute
der Fall ist und in der Vergangenheit der Fall war. Das ist
mir ganz wichtig. Ich glaube, dass mit diesen Abkommen - ich befürchte dies insbesondere für die Ukraine griechische Verhältnisse einziehen werden
({1})
mit einer Zerstörung des Sozialstaates und mit weiteren
sozialen Verwerfungen. Ich möchte, dass das abgewehrt
wird.
({2})
Ich will nicht, dass wir den Menschen solche Vorschriften machen.
({3})
Ich möchte, dass für alle drei Länder Hilfsprogramme
aufgelegt werden, die die Macht der Oligarchen begrenzen.
({4})
Das eigentliche Problem dieser Länder sind die Oligarchen, die diese Länder ausgeplündert haben und ausplündern.
({5})
Ich finde, wir dürfen die Oligarchen nicht befördern, ihnen nicht auch noch Geld zuspielen, sondern wir müssen
das Geld der Oligarchen umverteilen.
({6})
Ich bin für eine Enteignung der Oligarchen in diesen
Ländern. Das werden aber die Menschen in der Ukraine,
in Moldawien und in Georgien selber leisten.
({7})
- Wenn stattdessen Sozialismus in Russland eine Rolle
spielen würde, wäre es mir nur recht, auch die Oligarchen in Russland zu enteignen.
({8})
Das Zweite, das mich sehr bewegt, ist Folgendes: Wir
reden über diese Abkommen ja nicht in normalen Zeiten.
Normalerweise spielen solche Abkommen der Europäischen Union in der Öffentlichkeit nicht so eine große
Rolle. Wir reden aber jetzt in Zeiten darüber, in denen
der Krieg als reale Gefahr in Europa auf der Tagesordnung steht. Ich finde, wir haben auch eine Verantwortung, darüber nachzudenken, ob sich die Entscheidung,
dass sich drei Länder an der Grenze Russlands in ein
westliches System integrieren, positiv oder negativ auf
die Dämpfung der Kriegsgefahr auswirkt.
({9})
Ich zitiere wieder einmal Michail Gorbatschow, weil
Sie das besonders trifft. Ich denke, dass wir Gorbatschow
einen besonderen Verdienst und auch Verantwortung zurechnen können. Er warnte im Spiegel vor einem großen
Krieg in Europa. Er wird im Spiegel zitiert:
Ein solcher Krieg würde heute wohl unweigerlich
in einen Atomkrieg münden. … Wenn angesichts
dieser angeheizten Stimmung einer die Nerven verliert, werden wir die nächsten Jahre nicht überleben.
Das sagt Gorbatschow. Ich hoffe, dass er unrecht hat.
Aber ich nehme seine Warnung sehr ernst und frage
mich immer: Was können wir tun, auch speziell wir in
Deutschland, damit es zu einer Dämpfung des Konfliktes kommt?
Gorbatschow sagt weiter in Bezug auf Deutschland das muss doch jeden von uns tief treffen -:
Das neue Deutschland will sich überall einmischen.
… In Deutschland möchten anscheinend viele bei
der neuen Teilung Europas mitmachen. … Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg schon einmal versucht, seinen Machtbereich nach Osten zu erweitern. Welche Lektion braucht es noch?
Welche Lektion braucht unser Land noch? Diese Frage
legt uns Gorbatschow vor. Unser Land muss eine Lektion lernen, nämlich dass wir bei allem die künftigen
Folgen bedenken.
({10})
Ich glaube, es wäre im Moment klüger, mehr Druck
zu entwickeln, dass besser verhandelt wird, dass Sanktionen aufgehoben werden und dass dieses Abkommen,
so wie es ist, nicht ratifiziert wird. Das wäre ein Beitrag
unseres Landes. Ich glaube, damit muss man sich ernsthaft auseinandersetzen.
Ich habe die Befürchtung, dass das Abkommen Europa erneut spaltet, nicht zu guter Nachbarschaft mit
Russland führt, nicht dazu führt, dass die eingefrorenen
Konflikte, die nur mit Russland zusammen gelöst werden können, wirklich gelöst werden. Ich denke an Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Berg-Karabach und
viele andere Regionen. Diese Probleme kann man nur
mit Russland zusammen lösen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich möchte
gerne, dass wir darüber nachdenken, wie auch der
70. Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus,
die ohne die damalige Sowjetunion - das ist mehr als
Russland; das sage ich gleich dazu ({11})
nicht denkbar gewesen wäre, würdig begangen werden
kann. Ich finde, die Äußerung des ukrainischen Präsidenten - sie wurde hier in Deutschland auch im Fernsehen übertragen ({12})
- des Ministerpräsidenten; Entschuldigung, ja; wo ihr
recht habt, habt ihr recht; wenn ihr mir auch in der Folge
zustimmt, wäre ich euch dankbar -,
({13})
dass die Sowjetunion über die Ukraine nach Deutschland
einmarschiert ist, ist so katastrophal, dass ich hoffe, er
hat sich in der Wortwahl geirrt.
({14})
- Wenn es so ist, kann man das ja klarstellen.
({15})
Ich hoffe, dass hier klar ist: Deutschland und Europa
sind auch von der Sowjetunion vom Faschismus befreit
worden. An dieser inhaltlichen Position sollten wir keinen Millimeter rütteln lassen.
Besten Dank.
({16})
Der nächste Redner ist Manfred Grund, CDU/CSU.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Zuhörer, insbesondere auf der Tribüne!
Wir beraten heute drei Gesetzentwürfe zu Assoziierungsabkommen der Europäischen Union: mit der
Ukraine, mit Georgien und mit der Republik Moldau. Es
sind umfassende Assoziierungsabkommen, und die Abkommen mit Moldawien und Georgien beinhalten auch
ein Freihandelsabkommen. Wir erhoffen uns von diesen
Abkommen, dass dadurch die Wertevorstellungen der
Europäischen Union, also unsere Wertevorstellungen, in
Bezug auf Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und eine offene und freie Gesellschaft in diesen Ländern gefördert werden.
Zum Ersten begründen diese Abkommen eine politische und gesellschaftliche Verknüpfung mit der Europäischen Union. Die wichtigsten Aspekte sind die notwendigen inneren Reformen, auf die sich diese Länder mit
unserer Unterstützung verpflichten: Reform der Verwaltung, funktionierende Institutionen, Bekämpfung der
Korruption, Unterbindung oligarchischer Strukturen und
Einflussnahmen, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Diese
Abkommen sind daher in erster Linie ambitionierte Reformprojekte, die innerhalb dieser Länder umzusetzen
sind.
Zum Zweiten begründen diese Abkommen eine gemeinsame Freihandelszone, und zwar eine umfassende
und tiefgreifende. Dabei geht es um weit mehr als um
den Abbau von Handelsbarrieren. Es geht um die schrittweise Integration dieser Länder in den europäischen
Binnenmarkt einschließlich der Übernahme europäischer Rechtsstandards. Dabei wird nicht nur der freie
Warenverkehr eröffnet, sondern es werden vor allem
auch die Investitionsbedingungen in den Ländern selbst
entscheidend verbessert, um den Menschen dort eine
bessere wirtschaftliche Perspektive und eine lebenswerte
Zukunft zu ermöglichen.
Die Assoziierungsabkommen und die Freihandelsabkommen sind Modernisierungsabkommen. Wir können
und wollen mithelfen, die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau zu modernisieren: politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Damit sind diese Abkommen die
einzig richtige Antwort auf die systemischen Probleme
in diesen sogenannten Transformationsländern.
Seit dem Ende der Sowjetunion befanden sich diese
Länder Osteuropas in einer Art Zwischeneuropa. Sie
gehörten nicht mehr zum direkten Herrschaftsbereich
Moskaus, waren aber auch nicht Teil des europäischen
Einigungsprojektes. Was dieses Zwischeneuropa kennzeichnete, waren ein Zustand äußerer und innerer Instabilität, der Mangel an Perspektive und Entwicklung sowie - als Folge der Instabilitäten - innere und äußere
Konflikte. Damit haben diese Länder mehr als zwei
Jahrzehnte Stagnation, Verfall, Oligarchenwirtschaft und
Erpressung erlebt.
Deutlich wird dies auch an der unterschiedlichen Entwicklung der Lebensverhältnisse. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 25 Jahren waren die Lebensverhältnisse in der Ukraine, in Georgien und in Moldau
ähnlich denen im Baltikum oder in Polen. Während aber
die Länder des Baltikums und Polen der Europäischen
Union beigetreten sind und einen beispiellosen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Aufschwung erlebten - Polen ist eine Erfolgsgeschichte, ein Erfolgsmodell -, hat die Entwicklung in der Ukraine und in
Moldau stagniert. Schlimmer noch: Diese Länder haben
Jahre und Teile ihrer Zukunft verloren. Junge, gut ausgebildete Menschen, die sich mit Stagnation und Korruption nicht abfinden wollten, sind in großer Zahl weggegangen.
Es ist auch in unserem Interesse, dass diese Länder
eine Entwicklungsperspektive, eine Modernisierungsperspektive erhalten. Das wird aber nur gelingen, wenn
wir ihnen den Zugang zum europäischen Integrationsprozess eröffnen und das Selbstbestimmungsrecht der
Ukrainer, der Georgier und der Moldauer anerkennen
und diese Länder nicht hegemonistischen Bestrebungen
opfern.
Damit bin ich bei Russland und dem unerklärten
Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Was hat
Russland von einer modernisierten, reformierten und mit
der EU assoziierten Ukraine zu befürchten, dass Putin
die Ukraine fortgesetzt destabilisiert? Die Antwort liegt
zum einen im hegemonistischen Denken Putins begründet, in seinem Bestreben, Russland zu alter Bedeutung
und Größe zu erheben. In diesem Denken kommt die
Ukraine als eigener souveräner Staat mit selbst entscheidender Bevölkerung überhaupt nicht vor.
({0})
Die größte Provokation, die größte Herausforderung
für Putin wäre es wohl, wenn sich das europäische Erfolgsmodell wie in Polen auch in Moldau, Georgien und
in der Ukraine und damit direkt vor seiner Haustür
durchsetzte. Es ist, Kollege Gehrcke, nicht die Angst vor
der Europäischen Union und auch nicht die Angst vor
der NATO, die Putin umhertreibt - es ist die Angst vor
einer modernisierten, vor einer offenen Gesellschaft;
denn Putins Weg für Russland ist ein ganz anderer: ein
Weg, der in das vergangene Jahrhundert zurückführt, der
Nachbarländer nur als Einflusszonen wahrnimmt und
der vor Krieg und Gewalt nicht zurückschreckt.
Weil wir zu den Konfrontationen des letzten Jahrhunderts nicht zurückkehren wollen, weil wir aus Überzeugung für offene, moderne, freiheitliche, soziale Gesellschaften eintreten, sind diese Abkommen für die
Menschen in der Ukraine, in Georgien und Moldau gute
Abkommen, und es sind gute Abkommen für uns als bekennende Demokraten, als helfende Nachbarn und als
überzeugte Vertreter einer offenen Gesellschaft.
Kollege Gehrcke, Sie haben darauf Bezug genommen, was Jazenjuk hier gesagt hat. Er hat gesagt, die
Sowjetunion sei in seiner Heimat einmarschiert. In diesem Jahr vor 70 Jahren endete Gott sei Dank der Zweite
Weltkrieg. Vorbereitet wurde er mit einem Pakt, den
Stalin und Hitler zusammen vor 75 Jahren unterzeichnet
haben
({1})
und in dem es um die Aufteilung Polens ging. Jazenjuk
ist geboren in Czernowitz. Czernowitz war zu diesem
Zeitpunkt Teil von Polen; insoweit hat Jazenjuk mit seiner Äußerung recht, dass die Sowjetunion bei ihm zu
Hause einmarschiert sei. Das waren weiß Gott keine guten Zeiten, nicht für die Ukraine, nicht für Polen.
Wir sind froh und dankbar, dass wir einen Teil dessen,
was durch den Zweiten Weltkrieg mit uns verbunden ist,
wiedergutmachen können. Wir werden die Ukraine, GeManfred Grund
orgien und Moldau nicht Russland sozusagen vor die
Haustür werfen.
({2})
Als nächste Rednerin spricht Marieluise Beck von
den Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man in der Zeit zurückgeht und sich die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 anschaut, dann
kann man sehen, dass die europäische Friedensordnung
damals tatsächlich auf neue Füße, auf gemeinsame Füße
gestellt worden ist. Sie ist dann noch einmal präzisiert
worden durch die Charta von Paris von 1990, das Folgetreffen in Helsinki 1992 und den Gipfel in Lissabon
1996. In all diesen Papieren wird noch einmal deutlich
auf die Integrität der Grenzen und das Recht souveräner
Staaten auf freie Bündniswahl hingewiesen. Das ist nicht
nur 1975 von Breschnew unterschrieben worden, sondern auch von Russland nach Ende des Kalten Krieges.
An diese Zeiten, an dieses Versprechen sollten wir Russland erinnern. Diese Texte sind ein Bekenntnis zur Demokratie, zur Wahrung von Frieden und Souveränität. Es
ist ein Drama, dass all das mit dem Krieg in der Ukraine
und mit der Enteignung von Territorien in Georgien und
Moldawien über den Haufen geworfen wurde.
({0})
Die heute zur Debatte stehenden Assoziierungsabkommen sind sicherlich kein Gnadenakt der EU - natürlich geht es auch um Interessen, um die Erweiterung von
Handelsräumen -; aber diese tausend Seiten sind gleichzeitig auch ein Angebot, diesen Ländern bei ihrer inneren Transformation beizustehen. Das heißt: Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, die Chance auf Befreiung von Korruption. Selbst wenn die Bürgerinnen und Bürger, die
sich auf dem Maidan versammelt haben, diese tausend
Seiten nicht gelesen haben - sie haben sie mit Sicherheit
nicht gelesen -, haben sie doch eines verstanden, und
zwar die Botschaft dieses Abkommens. Diese ist: Wir
haben die Chance, uns endlich von Oligarchen und korrupten Beamten zu befreien, wir haben die Chance, entsprechende Institutionen aufzubauen.
({1})
Deswegen haben die Menschen auf dem Maidan gesagt:
„Wir wollen nach Europa“, wozu sie ja geografisch gehören. Die Botschaft dahinter war: Wir wollen demokratische, rechtsstaatliche Länder werden mit allen entsprechenden Freiheiten, befreit von der Last von Oligarchie
und Korruption; das ist unsere Zukunft. - Das war die
Botschaft des Maidan.
({2})
Dass diese Länder mit den Assoziierungsabkommen
mit der EU vor ein Entweder-oder gestellt worden seien,
ist ein Mythos. Das ist einfach falsch. Diese Abkommen,
die Freihandelsabkommen sind, haben es ermöglicht,
weitere Freihandelsabkommen - auch die bestehenden
mit Russland - weiter aufrechtzuerhalten. Umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Der Plan Putins, die Zollunion in
die Eurasische Union zu verwandeln, ist eine protektionistische Idee. Länder wie Moldau und die Ukraine hätten neue Zölle einführen müssen. Sie hätten sich also aus
dem Trend, Zölle abzubauen und damit einen großen
Handelsraum zu schaffen, ausklinken müssen.
Es ist einfach ein Drama, dass die Idee von
Medwedew, einen Handelsraum von Lissabon bis Wladiwostok zu schaffen, mit dieser protektionistischen
Politik vonseiten des Kremls zerstört worden ist. Sie ist
nicht durch die EU-Assoziierungsabkommen zerstört
worden und wird auch nicht durch sie zerstört.
({3})
Ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir diese Länder
nicht nur mit Entschiedenheit auf dem schwierigen Weg
begleiten. Wir wissen durch Griechenland - und in Griechenland herrscht kein Krieg -, wie zäh und langwierig
der Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen ist, wie
schwierig es ist, eine vernünftige und belastbare Steuerverwaltung sowie ein Gerichtswesen aufzubauen. Und
das ist ein EU-Staat! Insofern ist vollkommen klar, dass
wir uns auch den Zeithorizont klarmachen sollten, wenn
wir derzeit danach fragen, wie weit die Ukrainer jetzt
sind. Der Weg ist sehr lang.
Die Menschen dort sind bereit, diesen Weg zu gehen,
weil sie - Kollege Grund hat das eben erwähnt - an
Polen sehen, dass Demokratie und Prosperität tatsächlich zusammengehören. An Polen kann man sehen, dass
gutes Leben für die Menschen entsteht, wenn es Demokratie gibt, und dass es nicht entsteht, wenn Oligarchen
und korrupte Staatsinstitutionen die Bevölkerung ausnehmen können. Insofern wissen die Menschen, dass
schwierige Transformationszeiten vor ihnen liegen, aber
sie wollen sie.
Die Oligarchen in der Ukraine werden derzeit vor allen Dingen durch den Krieg geschützt. Der Krieg gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Macht aufrechtzuerhalten. Das
sieht man in Dnipropetrowsk. Insofern führen die Ursachen für Transformationshindernisse derzeit zur aggressiven Politik Russlands. Das sollten wir hier ganz deutlich sagen. Es ist nicht ehrlich, wenn man nur beklagt,
dass die Oligarchen nicht bereit sind, ihre Macht abzugeben, oder nicht ausreichend bekämpft würden.
Die Teilung Europas durch die Konferenz von Jalta
ist 1990 nicht endgültig überwunden worden, sondern
nur in Teilen, und jetzt kommt der nächste Schritt. Die
nächsten souveränen Staaten klopfen an die Tür der Europäischen Union. Wir sollten diese Tür weit offenhalten
und sie einladen, dazuzukommen, wenn die Vorausset7674
Marieluise Beck ({4})
zungen erfüllt sind. Das ist noch ein langer Weg, und ich
sage auch - das ist auch vom Staatsminister betont worden -: Wir wünschen uns, dass Russland auf diesem
Weg dabei ist.
Schönen Dank.
({5})
Wir kommen jetzt zum nächsten Redner, Karl-Georg
Wellmann von der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Genosse
Gehrcke,
({0})
das Volk der Ukraine hat sich für den europäischen Weg
entschieden, und zwar in zwei freien und unabhängigen
Wahlen. Die Menschen dort haben entschieden, dass sie
Teil der europäischen Familie sein wollen. Sie haben
sich übrigens vorbildlich verhalten und den Radikalen
trotz des Krieges und der Wirtschaftskrise keine Chance
gelassen. Das hätte ich mir an der einen oder anderen
Stelle sowohl in den deutschen Bundesländern als auch
in Frankreich gewünscht.
({1})
Die europäische Nachkriegsordnung unter Einschluss des gesamten europäischen Regelwerks gibt jedem Staat das Recht, Herr Gehrcke, über sein Schicksal
und seine Zugehörigkeit auch zu überstaatlichen Organisationen selbst zu entscheiden. Niemand - auch kein
Nachbarstaat; egal wie groß er ist -, hat ein Vetorecht,
und das gilt auch für Russland. Russlands Denken in
Einflusszonen lehnen wir ab.
({2})
Die Ukraine hat ein verbrieftes Recht auf Selbstbestimmung, und dieses Recht hat sie wahrgenommen, indem sie das Assoziierungsabkommen unterschrieben
hat. Der Versuch der Einflussnahme Russlands auf den
Gang der Dinge, die militärische Aggression, werden
wir nicht akzeptieren. Solange diese militärische Aggression fortdauert, gibt es auch keine Möglichkeit, die
Sanktionen aufzuheben. Wenn wir diese völkerrechtlichen Prinzipien ernst nehmen, dann müssen wir in der
Tat alles tun, um die Ukraine politisch und ökonomisch
zu stabilisieren. Das heißt, wir müssen dem Land auf
dem Weg nach Europa intensiv helfen.
Wir dürfen die alten Fehler nicht wiederholen. Sie haben als Beispiel Polen angesprochen, Frau Beck. Die
Ukraine muss eine klare europäische Perspektive haben.
Andreas Schockenhoff hat es an dieser Stelle gesagt:
Wenn denn eines Tages, wann immer das sein wird, die
Voraussetzungen erfüllt sind, muss die Ukraine die
Chance haben, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Wir haben es bei Polen erlebt: Als es in den 90erJahren zum Abschluss eines Assoziierungsabkommens
kam, haben wir uns geweigert, Polen eine europäische
Perspektive zu geben. Polen ist dann Mitglied in der EU
geworden und ist geradezu ein Musterknabe unter den
Beitrittsländern und eine große Bereicherung für Europa.
({3})
Die Ukraine hat übrigens - das müssen wir all denen
sagen, die Angst vor einem Fass ohne Boden haben - ein
großes Potenzial. Ukrainische Unternehmen und Ingenieure können Dinge, die wir nicht können. Was ihnen
fehlt, ist westliches Know-how und westliches Kapital.
Aber wenn dies dazukommt, kann und wird die Ukraine
ein großer Gewinn für Europa sein. Wir müssen uns deshalb in der Ukraine nachhaltig engagieren. Wir dürfen
den EU-Enthusiasmus der Maidan-Bewegung, der Zivilgesellschaft, nicht enttäuschen.
Wir müssen leider feststellen: Ein Jahr nach den Protesten auf dem Maidan geht es den Menschen dort nicht
besser, sondern schlechter. Sie stellen die Frage: Wann
geht es uns besser? Wir haben doch die Assoziierungsverträge schon vor fast einem Jahr unterschrieben. Wenn wir das Vertrauen der Menschen in der Ukraine
nicht verspielen wollen, dann müssen wir schnell etwas
machen und müssen schnell zeigen, welche Vorteile Europa für sie hat.
Wir dürfen, wenn wir das Vertrauen der Maidan-Bewegung nicht enttäuschen wollen, keine Buchhalterdiskussionen führen. Den Enthusiasmus der Menschen für
die europäischen Werte dürfen wir nicht enttäuschen.
Aber es muss ebenso klar gesagt werden, dass wir keine
Kompromisse machen, wenn es um die notwendigen Reformen geht. Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten:
Rezession und Krieg im Osten des Landes. Wir müssen
auch sagen, dass wir mit den bisherigen Reformen seit
dem Amtsantritt der Übergangsregierung noch nicht zufrieden sein können.
Die Ukraine wird sich politisch und ökonomisch nur
stabilisieren, wenn es zu einem umfassenden Wandel
kommt. Die Ukraine braucht so etwas wie einen Marshallplan; das ist inzwischen eine Binsenweisheit. Aber
das setzt nicht mehr und nicht weniger als eine fundamentale Neugestaltung des Verfassungssystems, der Justiz und der Finanzverfassung voraus. Nur wenn sich die
Ukraine zu einer rechtsstaatlichen Demokratie nach europäischem Vorbild transformiert, wird eine solche Hilfe
möglich sein.
Die westliche Staatengemeinschaft und vor allem wir
Deutsche müssen sehr viel mehr Engagement und auch
Fantasie entwickeln, wie wir die Ukraine voranbringen
können. Dazu gehört eine sehr fundierte Beratung und
Unterstützung bei den wichtigsten Themen: bei der Verfassungs- und Justizreform, der Finanz- und Steuerverfassung, den nötigen Wirtschaftsreformen und den
großen Reformen im Bereich von Polizei und Staatsanwaltschaft.
Leider kann sich die Ukraine jetzt keinen mehrjährigen Verfassungsdiskurs leisten. Sie hat alles, aber keine
Zeit. Deshalb muss es schnell gehen. Wir alle sind aufgefordert, möglichst viele pensionierte Landräte, Oberstadtdirektoren, Bürgermeister, Gerichtspräsidenten und
Finanzamtsvorsteher in unseren Wahlkreisen zu motivieren, für eine Weile in die Ukraine zu gehen und dort
beim Aufbau zu helfen.
Wenn wir all das jetzt versäumen sollten, dann werden wir in Europa am Ende sehr viel mehr als nur die
Ukraine verlieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Als nächster Redner spricht Franz Thönnes, SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Staatsminister Roth hat die Rahmenbedingungen, unter
denen wir heute die drei Assoziierungsabkommen beraten, treffend und umfassend beschrieben. Man muss aber
auch sagen: Nicht zuletzt, weil auch die internationale
Lage so schwierig ist, verdienen die ständigen Bemühungen von Außenminister Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel unsere vollste Unterstützung, damit es so
schnell wie möglich wieder zu einem Treffen kommt,
um einen erneuten Versuch zu unternehmen, Frieden in
diese Region zu bringen und den Konflikt friedlich zu
lösen.
({0})
Auch wenn die Rahmenbedingungen so sind, wie sie
von meinen Vorrednern beschrieben worden sind, ist
heute ein Tag der Freude; denn wir haben heute ein
wichtiges Etappenziel in der Östlichen Partnerschaft zu
beraten. Mit dem Abschluss der Assoziierungsabkommen vom 27. Juni 2014 mit der EU ist ein ganz wichtiger Schritt vollbracht worden, und heute wollen wir einen nächsten Schritt gehen.
Es war ein großer historischer Moment, als am
16. September 2014 das Europäische Parlament auf der
einen Seite und die Werchowna Rada auf der anderen
Seite in Kiew, per Video miteinander verbunden, zeitgleich dem Vertragswerk zugestimmt haben, einem Vertragswerk, dem die zentrale Idee von Rechtsstaatlichkeit,
Wohlstand, dem Wegfall der Visapflicht, von Sicherheit,
Demokratie und der Mitgliedschaft im demokratischen
Haus zugrunde liegt. Deswegen freuen wir uns, dass wir
jetzt an diesem Punkt sind.
Aber gleichzeitig muss uns klar sein: Wir stehen vor
großen Herausforderungen, die teilweise schon skizziert
worden sind. Zum Vertragen gehört auch Verantwortung,
und zur Verantwortung gehört, auszusprechen, dass sowohl die EU als auch die Ukraine vor einem großen Aufgabenfeld stehen.
Wenn von sechs Ländern, mit denen man den Prozess
der Östlichen Partnerschaft begonnen hat, am Ende mit
dreien ein Assoziierungsabkommen geschlossen werden
kann, müssen wir uns auch selbstkritisch fragen, warum
das nicht mit allen gelungen ist. Wir kennen die Druckmechanismen, aber wir wissen auch um die Befindlichkeiten in den Ländern. Letzten Endes gilt ihr Selbstbestimmungsrecht.
Zudem darf man die Frage stellen, ob immer alles
richtig eingeschätzt und bewertet worden ist. Hat man
beispielsweise berücksichtigt, dass 36 Prozent der
Exporte der Ukraine in die Mitgliedstaaten der Zollunion, 24 Prozent nach Russland und 30 Prozent nach
Europa gehen?
30 Prozent! Ein Drittel!)
Hat man berücksichtigt, dass ein Drittel der Exporte Georgiens nach Russland gehen? Hat man berücksichtigt,
dass 500 000 bis 700 000 Gastarbeiter aus Moldawien in
Russland sind? War es nicht doch ein Fehler - und ich
bleibe dabei, weil auch Bundeskanzlerin Merkel das
mittlerweile unterstützt -, dass EU-Kommissionspräsident Barroso gesagt hat: „Die Ukraine muss sich entscheiden, entweder oder“?
({0})
Das war keine gute Situation.
Bei dem ausgesetzten Teil des Freihandelsabkommens geht es jetzt darum, dass Russland liefern muss,
wenn es um die Kriterien geht und darum, welche Beschwernisse aus russischer Sicht bestehen, wenn es umgesetzt wird. Seit dem 12. September 2014 hat es leider
keine weiteren Zusammenkünfte gegeben.
Herr Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank. - Herr Kollege Thönnes, ich stimme Ihnen zu, was den Eindruck betrifft, die Ukraine müsse
sich im Hinblick auf eine gute wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit, aber vor allem auch in der Handelszusammenarbeit zwischen der Europäischen Union
und den Staaten der Zollunion, mit denen sie bilaterale
Freihandelsabkommen hat, entscheiden. Ich lege aber
Wert darauf, dass nach meinem Verständnis Herr
Barroso zwar damals gesagt hat, die Ukraine müsse sich
entscheiden und wissen, dass sie für den Fall, dass sie
der Zollunion beitritt, nicht mehr mit einem Freihandel
mit der Europäischen Union rechnen könne, weil die
Vorgaben der Zollunion weder WTO-tauglich sind noch
mit den Freihandelsbestimmungen der Europäischen
Union übereinstimmen, dass dies aber nach den Aussagen von Barroso nicht für den Status quo galt. Das heißt,
dass die bisherigen Freihandelsabkommen der Ukraine
mit den Staaten der Zollunion weiterhin in Kraft bleiben
können. Dieser Unterschied ist relativ wichtig. Denn niemand, weder in der Ukraine noch in der Europäischen
Union, möchte diesen Pfad der Ukraine, die seit 1991 die
Strategie verfolgt hat, mit allen Nachbarn gute Handelsbeziehungen zu haben, also mit Russland, Weißrussland,
der Europäischen Union, aber auch mit Georgien und
Moldau, die übrigens auch nicht gerade irrelevant sind,
ändern. Stimmen Sie dem zu?
Herr Kollege Sarrazin, ich glaube, dass an dieser
Stelle dennoch der Eindruck vermittelt worden ist, als
müsste man sich langfristig für das eine oder das andere
entscheiden. Es wäre hilfreicher gewesen, gemeinsam
danach zu suchen, wie ein solcher Eindruck verhindert
werden kann, und im Hinblick auf eine ökonomische Tätigkeit mit der Europäischen Union und der Eurasischen
Union auszuloten, inwieweit es Kooperationsmöglichkeiten gibt. Das war zum damaligen Zeitpunkt nicht gegeben. Dass eine solche Situation entstanden ist, die uns
bis heute verfolgt, war nicht gut.
({0})
Sonst würde man jetzt nicht einen Teil des Abkommens
aussetzen. Das hätte man wesentlich früher anfangen
können. Dann hätten wir uns das jetzt sparen können.
Das ist sozusagen auch das Eingeständnis dafür.
Ich möchte darauf hinweisen, dass die tiefe wirtschaftliche Kluft nicht so schnell überwunden sein wird
und dass, wie Kollege Wellmann schon gesagt hat, so etwas wie ein Marshallplan notwendig ist. Der Chefanalyst für Osteuropa der Raiffeisen Bank International in
Wien schätzt den Bedarf an privatwirtschaftlichen und
öffentlichen Investitionen auf 200 Milliarden US-Dollar.
Ich glaube, er liegt mit seiner Expertise nicht daneben.
Das heißt, angesichts des Hintergrundes, vor dem die
politisch Verantwortlichen in Kiew nun arbeiten müssen,
wird es darauf ankommen - Staatsminister Roth hat darauf hingewiesen, dass es auch Verlierer geben wird -,
bei diesem Prozess einen gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Ukraine zu organisieren. Als Ministerpräsident Jazenjuk in der letzten Woche über Reformen
sprach, sprach er auch vom Kampf gegen Korruption,
vom Abbau sozialer Leistungen, von Entlassungen im
öffentlichen Dienst beschäftigter Menschen sowie von
der Reduzierung von Einkommen und von Preiserhöhungen. Das alles sind keine guten Botschaften.
Es muss daher ein sozialer Dialog erfolgen, in den
Gewerkschaften, Unternehmen und die Zivilgesellschaft eingebunden sind, um die schwierigen Folgen der
Umgestaltung abzumildern und dazu beizutragen, dass
der Prozess in gute Bahnen mündet. Dabei könnten unsere Erfahrungen mit den Transformationsprozessen in
der Eisen- und Stahlindustrie, der Kohleindustrie und bei
der deutschen Einheit hilfreich sein. Der Prozess wird
nur dann gelingen, wenn auch der soziale Zusammenhalt
in der Ukraine gewahrt wird.
({1})
Ich will hinzufügen, dass es auch notwendig ist, offen
darüber zu reden, dass wahrscheinlich die aktuellen ökonomischen Machthabenden gar kein Interesse an einer
nachhaltigen Modernisierung des Landes haben, sondern
nur am Erhalt der eigenen Machtressourcen interessiert
sind. Deswegen wird es wichtig sein, das Oligarchentum
infrage zu stellen und die Verteilung wirtschaftlicher
Macht neu zu regeln. Es ist wichtig, an dem anzusetzen,
was sich auf dem Maidan entwickelt hat, also die NGOs
zu stärken und zu fördern sowie eine Verzahnung mit der
Zivilgesellschaft in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland zu organisieren. Schließlich
geht es darum, den Prozess, der nun stattfindet, in einem
Monitoring zu überwachen und zu begleiten.
Notwendig ist ebenfalls, Schluss mit der Verquickung
von wirtschaftlichen und politischen Eliten zu machen.
Die EU muss dabei helfen, dass die reformorientierten
Kräfte in der Ukraine lokal, regional und national an
neuer Stärke gewinnen. Schließlich geht es darum
- auch deswegen ist dieses Assoziierungsabkommen so
wichtig -, dass man sich kritisch mit den Menschenrechtsverletzungen durch die Freiwilligenbataillone auseinandersetzt. Insbesondere die Minderheitenrechte in
der Ukraine sind deutlich zu wahren, wenn es um Sprache und Kultur geht.
({2})
Ich will abschließend noch auf zwei, drei Punkte hinweisen.
Nein, Herr Kollege, ich muss Sie leider ermahnen,
zum Schluss zu kommen.
Dann komme ich zum Schluss.
Wir haben bislang über die inneren Verhältnisse in der
EU und der Ukraine geredet. Es wird notwendig sein,
auch außenpolitisch ein Umfeld zu entwickeln, das eine
friedliche Entwicklung in Europa gewährleistet; denn
nur dann wird der Prozess der Transformation, der Assoziierung und des Weges nach Europa auch für die
Ukraine friedlich verlaufen. Das bedeutet, die russische
Perspektive zu berücksichtigen; denn die Landkarte ist
nun einmal so, wie sie ist. Frieden in Europa wird sich
nur mit Russland und nicht gegen Russland organisieren
lassen. Russland muss aber wissen: Frieden in Europa
und seine eigene Sicherheit werden nur gemeinsam mit
Europa organisiert werden können. Dazu gehört neues
Vertrauen, das durch nachweislich friedliches Handeln
untermauert werden muss.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Dr. Bernd
Fabritius von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle drei Abkommen formulieren dieselben Ziele. Durch
diese sollen Wertevorstellungen der Europäischen Union
in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefördert und Handelsbeziehungen liberalisiert und ausgeweitet werden. Ja, so gesehen, Frau Kollegin Beck, ist das eine Ausweitung der Interessen- und
der Wertegemeinschaft. Diese Ziele liegen in unserem
Interesse und auch im Interesse der ukrainischen, der
moldauischen und der georgischen Bürgerinnen und
Bürger, Herr Kollege Gehrcke.
({0})
Bei den Wahlen im Oktober hat die ukrainische Bevölkerung den proeuropäischen Kurs klar bestätigt. Bei
den Wahlen im November hat die moldauische Bevölkerung den proeuropäischen Kurs ebenfalls klar bestätigt.
Auch die Ergebnisse der Kommunalwahlen im Sommer
in Georgien bestätigen diesen Kurs. Viel deutlicher geht
es nicht, Herr Kollege Gehrcke. Die Abkommen sind
seitens der EU die verbindliche Zusage, den europäischen Weg dieser drei Länder gemeinsam mit ihnen zu
beschreiten und sich auch in Krisenzeiten solidarisch zu
zeigen. Vor diesem Hintergrund war die Bewilligung
weiterer EU-Kredite in der vergangenen Woche selbstverständlich richtig.
Die Assoziierungsabkommen beinhalten auch eine
verbindliche Zusage seitens der Ukraine, der Moldau
und Georgiens als Antwort auf eine ganz klare Handlungsaufforderung. Mit den Unterschriften unter die Abkommen erklärten die Unterzeichner ihre Absicht zu
mehr Rechtsstaatlichkeit, zur Korruptionsbekämpfung
und zu Reformen im Justiz- und Verwaltungssektor. Mit
den Abkommen geht auch die Aufforderung einher, die
Gesellschaften dieser Länder näher an die europäische
Wertegemeinschaft heranzuführen. Es wurde zutreffend
festgestellt - auch ich denke das -: Das macht Russland
Sorgen. Allerdings erst dann, wenn diese Annäherung
erfolgreich gelungen ist, können wir irgendwann auch
über einen Beitritt sprechen; einen Automatismus dafür
gibt es nicht.
Die Republik Moldau spricht schon von einem Beitrittsantrag noch vor Jahresende. Die Ukraine hat als Ziel
dafür das Jahr 2020 angegeben. Auch das halte ich für
viel zu früh. Aber wir kommen damit der Sache etwas
näher. Momentan gehen die Reformbemühungen in der
Ukraine und in der Republik Moldau viel zu zögerlich
voran. Es stimmt natürlich: Die Parlamentswahlen haben
in der Republik Moldau und in der Ukraine für eine
kurze Zeit des politischen Leerlaufs gesorgt. Das erklärt
aber mitnichten, wieso zum Beispiel in der Ukraine die
Schaffung einer Antikorruptionsbehörde seit Monaten
verschleppt wird. Die chronischen Probleme im Menschenrechtsschutz bestehen fort; auch darauf wurde hingewiesen. Kinderobdachlosigkeit, Menschenhandel,
häusliche Gewalt, Homophobie und die Diskriminierung
von Roma gehören weiterhin zum Alltag. Das alles sind
natürlich Probleme, die man nicht über Nacht lösen
kann. Allein, ich sehe noch nicht einmal den Willen,
diese Probleme zügig anzupacken.
({1})
Ende November konnte ich mir von der Lage in der
Republik Moldau als Wahlbeobachter bei den Parlamentswahlen ein eigenes Bild machen. Der Ausschluss
einer chancenreichen Partei, unabhängig davon, wie man
zu deren Inhalten steht, nur zwei Tage vor den Wahlen,
sodass ein rechtsstaatliches Prüfungsverfahren dieses
Ausschlusses lächerlich schien, war sicherlich kein
Lehrstück demokratischen Verständnisses.
({2})
Einzig Georgien legt ein einigermaßen zufriedenstellendes Reformtempo vor. Korruptionsvorwürfen wird
dort wirksam nachgegangen. Die OSZE bestätigt deutliche Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Lassen Sie mich Folgendes erwähnen: Wenn vor kurzem
Verteidigungs-, Außen- und Europaminister mit viel
Brimborium zurückgetreten sind, so liegt bei näherer
Betrachtung der Hintergründe darin keinesfalls ein
Rückschritt des Landes auf dem Weg in die richtige
Richtung.
Die beiden anderen Partner sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Der ukrainische Ministerpräsident warb in
der vergangenen Woche bei seinem Besuch hier in
Deutschland um mehr Investitionen in sein Land. Da
sich jedoch mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Korruption abschreckend auf Investoren auswirken, wird dieses
Werben vermutlich ungehört verhallen, und das ist sehr
bedauerlich. Ähnlich verhält es sich mit der Republik
Moldau, die bei ausländischen Direktinvestitionen traditionell Schlusslicht in Europa ist. Auch hier ist mangelnde Korruptionsbekämpfung mit schuld an diesem
Zustand.
Ich bin deutlich für diese Abkommen. Fest steht aber:
Unsere neuen Assoziierungspartner, besonders Kiew
und Chisinau, müssen jetzt liefern - in ihrem eigenen Interesse und im Interesse einer erfolgreichen Assoziierung.
Danke.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/3693 ({0}), 18/3694 und
18/3695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor7678
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Mai 2014 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Polen über die
Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz- und
Zollbehörden
Drucksache 18/3696
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auch hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Günter Krings das
Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte hat eine Vorgeschichte von
etwas über vier Jahren und ist dennoch, wie ich finde,
hochaktuell. Im Oktober 2010 trafen sich Thomas de
Maizière in seiner ersten Amtszeit als Bundesinnenminister und sein damaliger polnischer Amtskollege
Jerzy Miller an der deutsch-polnischen Grenze bei Görlitz auf polnischer Seite. Sie vereinbarten, den derzeit
geltenden bilateralen Polizeivertrag aus dem Jahr 2002
fortzuentwickeln.
Am 15. Mai des letzten Jahres haben am selben Ort
Minister de Maizière und sein nunmehriger polnischer
Amtskollege Sienkiewicz den neuen deutsch-polnischen
Polizeivertrag unterzeichnet. Es gab und gibt zwei wesentliche Gründe für die Neuverhandlung des bilateralen
Polizeivertrages:
Zum einen gab es und gibt es eine rechtliche Notwendigkeit. Polen ist seit dem 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union, und aufgrund der seit Dezember 2007
geltenden Schengen-Regelungen war es erforderlich geworden, das Abkommen von 2002 an den für beide Länder gleichermaßen geltenden europäischen Rechtsrahmen anzupassen.
Zum anderen gab es den beiderseitigen Wunsch, die
grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit auch
jenseits rechtlich zwingender Notwendigkeiten in der
Sache weiter zu verbessern. Die Ziele waren also nicht
nur die rechtlich notwendige Anpassung, sondern auch
die Schaffung erweiterter Handlungsmöglichkeiten für
die Polizei und den Zoll, um die Bevölkerung besser vor
grenzüberschreitender Kriminalität zu schützen - wie
ich meine, ein sehr wichtiges und richtiges Ziel.
({0})
Wir können heute sagen: Das ist uns mit dem neuen
Abkommen auch gelungen. So können in Zukunft gemeinsame Streifen paritätisch im Format eins zu eins besetzt werden. Dabei wird den Beamten aus Polen und
Deutschland die Möglichkeit eingeräumt, in dem jeweils
anderen Land auch hoheitliche Aufgaben auszuüben ein wichtiger Schritt. Die Beamten aus dem jeweiligen
Nachbarstaat unterstehen dabei immer der Leitung eines
Beamten des Gebietsstaates.
Ermöglicht wird ebenfalls die Unterstellung von Beamten, das heißt die Aufnahme in einen Polizeiverband
des Nachbarstaates. Auch das ist ein Vorgang, den wir
heute vielleicht für selbstverständlich erachten, der aber
vor 10 oder 20 Jahren im Verhältnis zu fast allen Nachbarstaaten noch unerhört gewesen wäre. Dies ist insbesondere im Falle der Unterstützung bei Großereignissen
relevant.
Zudem werden die Möglichkeiten der Zusammenarbeit auch zu präventiven Zwecken erweitert. So sind
künftig Grenzübertritte zur Abwehr einer gegenwärtigen
Gefahr für Leib oder Leben und grenzüberschreitende
Observationen auch zu präventiven Zwecken möglich.
Schließlich wird der Zoll stärker als bisher in das
neue Abkommen einbezogen. Die Zollbehörden werden
zum Beispiel im Rahmen der Verfolgung von Zoll- und
Verbrauchsteuerstraftaten zusammenarbeiten können,
um insbesondere den leider sehr stark verbreiteten Zigarettenschmuggel besser bekämpfen zu können. Das ist
natürlich nur ein Beispiel von vielen Anwendungsbereichen auf dem Gebiet des Zolls.
Meine Damen und Herren, die erweiterten Handlungsmöglichkeiten für Polizei und Zoll sind angesichts
der bestehenden Herausforderungen, insbesondere in
den Grenzregionen, unbedingt erforderlich. Ein Blick in
die Statistik zeigt zwar, dass der mit der Aufhebung der
Grenzkontrollen im Dezember 2007 befürchtete Anstieg
der Gesamtkriminalität weitgehend ausgeblieben ist; jedenfalls waren die Befürchtungen damals größer als die
tatsächliche Entwicklung, was nicht heißen soll, dass die
tatsächliche Entwicklung nicht schon besorgniserregend
genug ist. Polen ist inzwischen selbst eher zu einem
Transitland für andere östliche Staaten und dorther rührende Kriminalität.
Dennoch: Die Kriminalität in der Grenzregion bleibt
eine große Herausforderung, der wir uns natürlich stellen müssen. Vor allen Dingen die Kfz-Kriminalität,
Wohnungseinbruchsdiebstähle sowie die Diebstähle auf
Baustellen, etwa von höher- und hochwertigen Arbeitsmitteln, sind in der Grenzregion zu Polen in den letzten
Jahren problematisch gewesen.
Fest steht, dass Wohnungseinbruchsdiebstähle in
Deutschland insgesamt weiter zunehmen. 2008 haben
wir 108 284 Fälle registriert, 2013 bereits 149 500. Natürlich gibt es bei diesen Deliktzahlen teilweise erhebliche regionale Unterschiede, gerade in Brandenburg und
Sachsen ist in den vergangenen fünf Jahren ein deutlicher Anstieg zu beobachten. Grund hierfür ist auch eine
neue Art der Tatausführung durch inzwischen international vernetzte und sehr mobile Intensivtäter.
Wir wissen alle, dass wir hier nicht nur über die Probleme des materiellen Verlusts sprechen. Wir haben an
dieser Stelle schon einige Debatten zum Thema Wohnungseinbruchsdiebstähle geführt. Es ist für viele vor allem eine psychische Belastung, wenn sie erleben, dass in
ihre Privatsphäre im wahrsten Sinne des Wortes eingedrungen wird. Es ist deshalb ein Phänomenbereich, der
von uns wirklich sehr ernst genommen werden muss; das
geht über den eigentlichen ökonomischen Schaden hinaus, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Vor diesem Hintergrund hat die Frühjahrsinnenministerkonferenz 2014 verstärkte Maßnahmen zur Bekämpfung des Wohnungseinbruchsdiebstahls beschlossen. So
werden wir zum Beispiel den länder- und staatenübergreifenden Informationsaustausch sowie die Lageerhebung und Analyse verstärken, um somit die Grundlage
für die Einrichtung grenzüberschreitender Ermittlungskommissionen zu schaffen.
Eine weitere Herausforderung stellt die voranschreitende Ausbreitung von kristallinem Methamphetamin
- umgangssprachlich auch Crystal oder Crystal Meth genannt - dar. Mit 3 847 Sicherstellungsfällen - 10 Prozent
mehr im Vergleich zum Vorjahr - und einer Gesamtmenge von 77 Kilogramm wurden 2013 bundesweit erneut Höchstwerte bei Crystal Meth registriert. Beunruhigend bei den Sicherstellungen sind vor allen Dingen die
hohen jährlichen Zuwachsraten.
Es handelt sich zwar - das zu betonen, ist wichtig nach wie vor hauptsächlich um ein Problem im deutschtschechischen Grenzgebiet. Als Grundstoff für die Herstellung dient allerdings nahezu ausnahmslos das in
Polen derzeit noch in frei verfügbaren Erkältungsmitteln
enthaltene Pseudoephedrin. Wir hoffen darauf, dass in
Polen bald die erforderliche Gesetzesänderung zur Beschränkung der Abgabe ephedrinhaltiger Medikamente
beschlossen wird. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung dieser furchtbaren Droge, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({2})
Mit den erweiterten Handlungsmöglichkeiten für
Polizei und Zoll, die Gegenstand des neuen Abkommens
sind, werden wir mehr Sicherheit für die Bürger, insbesondere in den Grenzregionen, erreichen. Die Bekämpfung der Kriminalität in den Grenzregionen - wie natürlich die Kriminalitätsbekämpfung allgemein - liegt in
Deutschland selbstverständlich grundsätzlich in der Zuständigkeit der Länder. Daher haben die Länder den Weg
zu diesem neuen Abkommen nicht nur eng mitverfolgt,
sondern aktiv und intensiv mitgestaltet. Es ist deshalb
gerade auch den Ländern ein besonderes Anliegen, dass
das neue Abkommen möglichst zügig in Kraft tritt, und
dies ist selbstverständlich auch im Interesse der Bundesregierung.
Auf polnischer Seite - insofern gibt es da jetzt eine
gewisse Anreizwirkung - hat das Parlament dem Abkommen bereits zugestimmt. Der polnische Präsident
hat am vorletzten Tag des letzten Jahres das Vertragswerk bereits unterzeichnet. Aus Sicht der Bundesregierung wäre es wünschenswert, wenn auch in Deutschland
das innerstaatliche Verfahren weiterhin so zügig vorangetrieben werden könnte.
Meine Damen und Herren, die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit von Polizei und Sicherheitsbehörden
ist in unserer Zeit wichtiger und dringender denn je. Das
gilt für die eben genannten Deliktsbereiche, die wir zum
Teil, wie ich finde, fast irreführend als Alltagskriminalität bezeichnen; das sollte eigentlich nicht alltäglich sein.
Aber natürlich gilt das auch in besonderer Weise für die
Bekämpfung schwerster Kriminalität und die Bekämpfung des international agierenden Terrorismus.
Nicht nur die furchtbaren Vorfälle in der vergangenen
Woche in Paris, sondern auch der Anschlag in Brüssel
im vergangenen Jahr haben gezeigt, dass Gefahrenabwehr wie Tataufklärung nicht mehr rein national erfolgen können. Auch wenn der deutsch-polnische Grenzraum sicherlich nicht den Schwerpunkt von Aktivitäten
terroristischer oder gar islamistischer Gruppen bildet, so
schließen wir mit dem hier heute zu behandelnden Vertrag doch ein weiteres wichtiges Glied in der Kette der
polizeilichen Zusammenarbeit in Europa. Aus diesem
Grunde bitte ich Sie sehr herzlich, dafür zu sorgen, dass
wir diesen Vertrag möglichst zügig in geltendes deutsches Recht überführen können.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Ulla Jelpke
von der Linken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Linke hat überhaupt nichts dagegen, die Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen zu verbessern. Das gibt das Bundesinnenministerium ja als Ziel des
neuen deutsch-polnischen Polizeiabkommens an. Wir haben auch nichts dagegen, wenn die Polizisten aus Frankfurt/Oder enger mit den Kollegen aus dem benachbarten
Slubice zusammenarbeiten. Aber ich werde doch sehr
stutzig, wenn ich im Vertragstext lese - Zitat -:
Grenzgebiete im Sinne dieses Abkommens sind
… die Länder Berlin, Brandenburg, MecklenburgVorpommern und der Freistaat Sachsen.
Herr Staatssekretär, haben Sie sich einmal die Landkarte
angesehen? Schwerin, Potsdam, Leipzig sind ein ganzes
Stück von der polnischen Grenze entfernt, und einen
polnisch-berlinischen Grenzübergang gibt es nicht.
Aber nicht nur in geografischer Hinsicht ist der Vertrag aus Sicht der Linken viel zu weitgehend. Zum Umfang der polizeilichen Zusammenarbeit gehört nach den
Plänen der Bundesregierung - dazu haben Sie nichts
gesagt - auch die Abwehr von Flüchtlingen. Das klingt
sehr nach Frontex, wenn es dort heißt - ich zitiere -:
Informationen über die Routen und das Ausmaß illegaler Migration sowie über Migrationsphänomene …
sollen ausgetauscht werden. Im Vertragstext wird die
Flüchtlingsproblematik im Übrigen mit allen möglichen
Verbrechen auf eine Ebene gestellt: Diebstahl, Waffenschmuggel, um nur einige zu nennen. Doch Flüchtlinge
sind kein kriminalistisches und polizeiliches Problem;
sie sind eine humanitäre Herausforderung für uns alle.
Das sollten wir endlich einmal begreifen.
({0})
Der Vertrag erleichtert den Einsatz von Polizisten beider Länder bei Großereignissen im jeweiligen Nachbarland. Nun mag es bei internationalen Fußballspielen
sinnvoll sein, ein paar sprachkundige Polizisten aus dem
Nachbarland dabeizuhaben. Das gibt es aber auch längst
ohne dieses Abkommen, über das wir heute diskutieren.
Hier werden jetzt vielmehr zusätzliche hoheitliche Befugnisse eingeräumt. Das heißt, ausländische Polizisten
erhalten das gleiche Recht zum Beispiel zum Schlagstockeinsatz wie die inländischen. Dafür sehen wir überhaupt keinen legitimen Bedarf. Wollen Sie polnische
Polizisten zum Beispiel zum 1. Mai nach Berlin holen,
wenn hier demonstriert wird? Warum Sie Berlin zu einem Grenzgebiet von Polen erklärt haben, müssen Sie
wirklich einmal erklären. Wir brauchen diese Art von
Verstärkung nicht und wollen sie auch nicht.
Ein weiterer, höchst kritischer Punkt ist die Einbeziehung des polnischen Inlandsgeheimdienstes ABW. Der
ist wie sein deutsches Pendant demokratisch weitgehend
unkontrollierbar und neigt zu Rechtsbrüchen. Im vergangenen Sommer hat der ABW zum Beispiel die Redaktion einer polnischen Zeitung gestürmt. Er wollte Daten
über Informanten beschlagnahmen, die heikle Gespräche
zwischen polnischen Spitzenpolitikern öffentlich gemacht hatten. Von Pressefreiheit scheint der ABW offenbar nicht viel zu halten.
Und dieser Geheimdienst soll nun per Vertrag das
Recht bekommen, verdeckte Ermittlungen auch in
Deutschland durchzuführen?
({1})
Wir haben damit sehr schlechte Erfahrungen gemacht.
Ich will hier nur an den Fall des britischen Polizisten
Mark Kennedy erinnern, der jahrelang in der linken
Szene gespitzelt hat. Sicher, es gibt andere Phänomenbereiche, bei denen im Einzelfall durchaus eine verdeckte
Ermittlung sinnvoll sein kann - aber durch die Polizei
und nicht durch die Geheimdienste. Wenn dieser Praxis
hier eine Blankovollmacht erteilt werden soll, lehnen wir
das strikt ab.
({2})
Wir sehen generell nicht ein, wieso unsere Polizeibehörden so eng mit dem polnischen Inlandsgeheimdienst
kooperieren sollen. Die Linke plädiert dafür, auch in diesem Vertrag das Gebot der Trennung von Polizei und
Geheimdiensten auf jeden Fall zu berücksichtigen.
Unterm Strich halten wir fest: Die Bundesregierung
hat bislang nicht überzeugend klargemacht, warum dieses Abkommen überhaupt notwendig ist. Wir können Sie
nur auffordern, mit der polnischen Seite nachzuverhandeln. Legen Sie dann einen Vertrag vor, der tatsächlich
den Interessen der Bevölkerungen beider Länder entspricht - ohne Geheimdienste und ohne Flüchtlingsabwehr.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Wolfgang
Gunkel von der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Staatssekretär Dr. Krings hat ja schon recht ausführlich darüber berichtet, welche inhaltlichen Veränderungen
dieser Gesetzentwurf, welcher jetzt in Form eines Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Polen in Kraft treten soll, beinhaltet.
Ich will zunächst etwas weiter zurückschauen als auf
das Jahr 2010, als dieser Prozess begann. Ich will zurückblicken auf das Jahr 2004, und zwar deshalb, weil
ich vor meiner Zeit als Abgeordneter für die Polizeidirektion Görlitz Verantwortung getragen habe. Sie heißt
heute Görlitz, damals hieß sie Oberlausitz-Niederschlesien, und sie umfasst die gesamte polnische Grenze von
Bad Muskau über Görlitz bis Zittau. Polen trat 2004 der
Europäischen Union bei. Gleichzeitig damit fielen auch
die Kontrollen des Zolls direkt an der Grenze weg, was
zunächst einmal bedeutet hatte, dass eine Sicherheitskraft bei der Ausübung der Überwachung der Grenze
fehlte. Das ist dadurch kompensiert worden, dass die
Zöllner bewegliche Überwachungseinheiten gebildet
und innerhalb der 30-Kilometer-Zone Überprüfungen
vorgenommen haben. Es hat sich aber gezeigt, dass dies
direkt an der Grenze auch zu einigen Überwachungsverlusten geführt hat.
Hinzu trat drei Jahre später die Übernahme des
Schengener Vertragswerkes durch Polen, sodass die
Kontrollen der Bundespolizei, die Hand-in-Hand-Kontrollen, die direkt an der Grenze durchgeführt worden
sind, wegfielen. Damit wurde das möglich, was wir
heute praktizieren: Es wurde ein grenzkontrollfreier
Raum innerhalb Europas geschaffen, in dem sich jeder
frei bewegen kann. Jeder hat das begrüßt. Jeder hat gesagt: Das ist hervorragend für die freiheitliche Entwicklung in unseren europäischen Ländern.
Das hat natürlich auch - Staatssekretär Krings hat es
schon gesagt - zu einigen Nachteilen geführt. Die Kriminalität - da muss ich Ihnen leider widersprechen stieg zunächst an. Der Bundesgrenzschutz und die Bundespolizei haben bei Grenzkontrollen, die auch nur abgesetzt stattfinden konnten, mehr oder weniger illegale
Grenzübertritte feststellen können. Das hat sich aber im
Laufe der Zeit - da gebe ich Ihnen recht - normalisiert
und ist unter den damaligen Erwartungen geblieben. Ich
glaube schon, dass dies eine ganz wichtige Erkenntnis
war, weil parallel dazu die übrige Kriminalität im Grenzgebiet in erheblichem Maße anstieg, was überwiegend
die Länderpolizeien betraf, in diesem Fall das Land
Sachsen. In Brandenburg war es ähnlich, jedoch von unterschiedlicher Ausprägung. In Sachsen war es jedenfalls so, dass in verstärktem Maße Wohnungseinbrüche
und Diebstähle von Kfz zu verzeichnen waren.
Man hat auch feststellen können, dass sich sehr viele
kriminelle Gruppen gebildet haben, wobei nicht nur die
Polen die Taten begangen haben, wie immer behauptet
wird, sondern es waren zu über 60 Prozent Deutsche daran beteiligt, und sie haben die Straftaten gemeinsam
verübt. Weil dadurch die Bevölkerung empfindlich in ihrer Sicherheit gestört wurde, war es notwendig, zu vereinbaren, dass man neben der Zusammenarbeit zwischen
den deutschen Behörden, also Bundespolizei, Landespolizei und Zoll, auch die polnischen Behörden verstärkt
mit einbinden muss. Man kann nicht sagen, dass wir das
früher nicht schon gemacht hätten. Sie haben darauf hingewiesen, dass es gemeinsame Streifen und andere
Dinge schon vorher gab. Das ist auch richtig. Nur hatten
wir einige Hindernisse zu überwinden. Darauf möchte
ich jetzt noch einmal zu sprechen kommen, weil es zeigt,
weshalb ich diesen Vertrag für so wichtig halte.
Erstens durften die Streifen, die das jeweils andere
Land entsandt hatte, keine Waffen und anderen Ausrüstungsgegenstände mitführen. Man muss sich das so vorstellen: Der eine Polizist läuft voll ausgerüstet Streife,
und der andere läuft daneben. Man hätte auch sagen können: eine Lachnummer. Ich will es einmal freundlich
ausdrücken: Die Bevölkerung hat uns gesagt: Ach so,
das ist ein Auszubildender, der läuft mit. - Als mehr ist
er nicht eingeschätzt worden. Das war natürlich für ihn
sehr unschön. Er hat sich nicht wohlgefühlt und wurde
sowohl auf deutscher wie auf polnischer Seite nicht für
voll genommen. Das ist natürlich bitter. Die Folge war,
dass man dazu überging, dies etwas einzugrenzen.
Über die Autobahnpolizei wurde dies dann als gemeinsame Ermittlungsgruppe aufgewertet, die gemeinsam tätig geworden ist und damit auch das genutzt hat,
was schon angesprochen worden ist: beispielsweise die
Sprachkenntnisse, wobei die polnischen Polizisten sehr
viel besser Deutsch sprechen als die Deutschen Polnisch.
Diese Art der gemeinsamen Streife ist nun in dem
Abkommen fixiert. Jeweils das Land, das die Führung
der gemeinsamen Streife stellt, ist für ihre Durchführung
verantwortlich - das gilt auch für die rechtlichen Verhältnisse -, sodass nicht jeder Polizist in dem anderen
Land machen kann, was er will, sondern er sich an die
rechtlichen Vorschriften des Landes halten muss, in dem
er tätig ist.
Die Begleitung von Großereignissen ist hinzugetreten. Da ist ganz klar der Fußball zu nennen, Ereignisse
wie die Weltmeisterschaft und die Europameisterschaft
und Ähnliches. Da hat sich insbesondere 2006 beim Einsatz niederländischer Beamter in Nordrhein-Westfalen
gezeigt, wie wichtig eine solche Zusammenarbeit sein
kann. Diese Beamten können dann nicht einschreiten,
wie sie wollen; derjenige, der den Einsatz führt, hat die
Rechte festzulegen und zu entscheiden, ob Zwangsmittel
oder irgendwelche Einsatzmittel angewendet werden.
Das heißt, derjenige, der jeweils im Gastland tätig ist,
handelt nicht auf eigene Rechnung, sondern nach dem
Recht des Gastlandes und nach der Weisung des Betreffenden.
({0})
- So ist es. Ich komme nachher auf die verdeckten Ermittlungen zu sprechen. Auch da ist das so. Da können
Geheimdienste nicht irgendetwas machen, sondern es
muss vorher angemeldet werden, genehmigt werden,
und dann wird es in gemeinsamer Arbeit mit dem betreffenden Land abgewickelt.
({1})
- Wenn Sie Misstrauen hegen: bitte schön! Ich sage mal:
Die Kontrolle ist gewährleistet. Ich sehe da keine Gefährdungen.
({2})
Auch Polizeibeamte nehmen verdeckte Ermittlungen
vor. Sie sind schon bei uns sehr schwer durchzusetzen,
weil es dort immer rechtliche Grenzen gibt. Aber wenn
man gemeinsam mit den polnischen Behörden hier in
Deutschland unter deutscher Aufsicht agiert, sehe ich
keine Gefahr, dass da schwere rechtswidrige Taten begangen werden.
Ein weiterer Punkt, der wichtig ist - das war für mich
immer wieder bezeichnend -, ist die sogenannte polizeiliche Nacheile. Für Leute, die jetzt nicht wissen, was das
im Einzelnen heißt: Das ist die Strafverfolgung auf frischer Tat. Wenn die Verfolgung über die Grenze hinweg
ging, dann fielen bestimmte Rechte weg, die man sonst
als Polizeibeamter hat, nämlich die der vorläufigen Festnahme und des Einsatzes anderer Zwangsmittel. Auch
das wird jetzt mit dem Abkommen geregelt, in dem ganz
genau festgelegt ist, dass derjenige, der sich auf einer
Verfolgung befindet, nunmehr in das jeweilige Land hineindarf und die Maßnahmen alleine durchführen kann,
es sei denn, dass durch die Information der zuständigen
Behörde andere Beamte hinzutreten - dann muss man
sich wieder an die Regeln des Gastlandes halten und entsprechend verfahren.
Ich möchte hervorheben, dass das Abkommen im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung zu sehen
ist. Sie haben vorhin insbesondere die organisierte Kriminalität angesprochen. An diesem Punkt erlangt das
Abkommen dadurch Bedeutung, dass man nun gemeinsame operative Ermittlungsgruppen bilden kann. Wenn
Verfahren parallel geführt werden, können die Ergebnisse jetzt zusammengeführt werden. Es kann sein, dass
auf polnischer oder auf deutscher Seite bestimmte Ermittlungsergebnisse vorliegen, die man vorher nicht abgleichen konnte. Jetzt kann man dies in gemeinsamen
Gruppen zusammen abarbeiten. Das finde ich hervorragend.
Im Zusammenhang mit dem Informationsaustausch
ist jetzt hinzugekommen, dass eine ganze Palette von Informationen der jeweils anderen Seite zugespielt wird.
Dazu gehören Informationen zu Ordnungswidrigkeiten
und anderen Strafsachen, die bisher nicht bekannt waren.
Sie werden dann an die jeweils zuständigen Stellen übermittelt.
Ein wesentlicher Punkt ist das Gemeinsame Zentrum,
das nun in der polnischen Stadt bei Frankfurt an der
Oder angesiedelt wird. Dort werden alle entsprechenden
Behörden - Zollbehörden, Grenzbehörden und Polizeibehörden - zusammenarbeiten, um Informationen zu
sammeln und zu verteilen. In diesem Zusammenhang ist
natürlich besonders wichtig, dass dies bei grenzüberschreitender Kriminalität auch in Bezug auf Erkenntnisse zum Terrorismus erfolgt. Das wird dann an die einzelnen Stellen weitergeleitet.
Ich möchte zum Schluss noch einen Punkt ansprechen. Es ist natürlich so, dass man nur dann polizeilich
zusammenarbeiten kann, wenn Polizeikräfte da sind. Der
Bürgermeister eines Grenzortes hat einmal gesagt: Was
nutzt uns dieses Abkommen, wenn keine Polizisten vorhanden sind? - Da muss man an die Länder appellieren,
in diesem Bereich nicht zu viele Kräfte abzubauen. Aber
auch der Bund sollte sich noch einmal überlegen, inwieweit gerade in diesem Bereich die Bundespolizei kräftemäßig ausgedünnt werden soll.
Es ist meine feste Überzeugung, dass wir mit diesem
Abkommen eine gute Entwicklung in Gang setzen. Die
Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen wird
ein Erfolg für die innere Sicherheit sein.
Vielen Dank.
({3})
Herzlichen Dank. - Als nächste Rednerin hat Irene
Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Europa ist nicht nur ein Wirtschaftsraum, sondern auch ein Raum der Sicherheit, des Rechts
und der Freiheit. Diese Freiheit zu bewahren, ist auch
eine Aufgabe der Sicherheitsbehörden; denn natürlich
können Konflikte und Kriminalität Ländergrenzen auch
einmal überschreiten.
Eine schnelle und effiziente Zusammenarbeit von
Nachbarländern ist deswegen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger vom Grundsatz her unerlässlich. Deshalb ist dieses Abkommen nicht nur ein wichtiger Baustein, sondern auch ein längst überfälliger Schritt.
({0})
Denn der bisherige Polizeivertrag zwischen Deutschland
und Polen stammt aus dem Jahr 2002. Er hat also einer
dringenden Überarbeitung bedurft, weil er aus einer Zeit
stammt, in der Polen weder Mitglied in der Europäischen Union war noch an den Schengen-Regelungen
teilgenommen hat.
Das gemeinsame Abkommen kann auf einer soliden
Basis aufbauen. Seit 2007 existiert das Gemeinsame
Zentrum der deutsch-polnischen Polizei- und Zollzusammenarbeit in Schwetig. Den Kolleginnen und Kollegen, die hier unermüdlich im Einsatz sind, möchte ich an
dieser Stelle ganz ausdrücklich für ihre Arbeit danken.
({1})
Das Zentrum hilft dabei, grenzüberschreitende Operationen durchzuführen, Ressourcen zu bündeln, Sprachbarrieren zu überwinden sowie die Aufgabenerfüllung
insgesamt viel effektiver zu gestalten. Allein schon das
Wissen um Ansprechpartner bei den Nachbarn erleichtert Prozesse, die ansonsten sehr langwierig wären. Vor
allem die gemeinsamen deutsch-polnischen Streifendienste - die bereits mehrfach angesprochen wurden sind ein greifbares und sichtbares Symbol. Bei aller Kooperation ist es aber unerlässlich, dass die Verfahrensgarantien für Verdächtige in beiden Ländern umfassend
gewahrt bleiben.
({2})
Natürlich gibt es bei der Zusammenarbeit auch Probleme: Wir haben es schließlich mit unterschiedlichen
Strukturen im Staatsaufbau zu tun, mit verschiedenen
Sprachen und auch mit unabhängigen Rechtsordnungen.
Während zum Beispiel das Fahren ohne Fahrerlaubnis
bei uns eine Straftat ist, ist es in Polen nur eine Ordnungswidrigkeit. Das nun auch bestimmte Ordnungswidrigkeiten in dem neuen Polizeivertrag erfasst sind, ist
deswegen auf jeden Fall positiv.
Ich habe mich aber genauso wie Frau Jelpke darüber
gewundert, wie es sein kann, dass zum Grenzgebiet aufseiten der Bundesrepublik Deutschland die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen in ihrer Gänze gehören sollen. Das erscheint mir
räumlich doch eine ziemliche Ausdehnung des Begriffs
„Grenzgebiet“ zu sein.
({3})
Abkommen und institutionelle Zusammenarbeit bleiben eine leblose Hülle, wenn man dabei die Bürgerinnen
und Bürger nicht mitnimmt. Deswegen muss man sich
der Polemik gegenüber vermeintlich massenhaft auftretenden Straftätern aus Polen ganz klar entgegenstellen;
denn Kriminalität funktioniert nun einmal in beide Richtungen. Allein die Feststellung, dass es einen Anstieg an
Diebstählen von Kraftfahrzeugen, Landmaschinen und
Fahrrädern im Grenzgebiet gibt, bedeutet doch noch
lange nicht, dass alle Täter aus dem Nachbarland kommen.
({4})
Im Übrigen kommt es auf polnischer Seite auch zu Straftaten durch Deutsche. Kriminelle Täterbanden in der Region setzen sich oft aus Deutschen, Polen und Litauern
zusammen. Der klauende Pole ist und bleibt ein plattes
Klischee.
({5})
Es ist wichtig, dass es bei dem Abkommen über die
Polizeizusammenarbeit nicht nur bei guten Absichten
bleibt. Die deutsch-polnische Zusammenarbeit muss
auch durch ausreichende Stellen und Mittel abgesichert
werden; denn schon jetzt gehen die Beamtinnen und Beamten in diesem Gemeinsamen Zentrum an ihre Belastungsgrenzen. An technischer Ausstattung mangelt es
zum Teil ebenfalls erheblich. Die Landespolizeibehörden dürfen sich hier nicht aus ihrer Verantwortung stehlen, aber sie sind an den Grenzen nun einmal auf die
Unterstützung der Bundespolizei angewiesen. Anstatt
die Bundespolizei also mit sachfremden Aufgaben wie
mit der Bewachung der Goldreserven zu betrauen, sollten wir sie doch lieber in ihrem Kerngeschäft stärken.
({6})
Ein Punkt ist mir noch sehr wichtig. Polizeiliche Einsätze an den Grenzen dürfen nicht dazu führen, dass die
Schengen-Regeln ausgehebelt werden und dass verkappte Grenzkontrollen durch die Hintertür eingeführt
werden. Kontrolliert werden darf nur verdachtsabhängig.
Alles andere bricht das Recht und den Geist Schengens.
Es gibt in diesem Abkommen auch noch ein paar andere fragwürdige Vereinbarungen. Diese sind ja hier
schon verschiedentlich angesprochen worden. Daher
wäre es natürlich gut gewesen, wenn das Abkommen
noch nicht unterzeichnet und wenn der Bundestag bei
der Erarbeitung irgendwie beteiligt worden wäre.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Günter
Baumann von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor wenigen Wochen konnten wir den 25. Jahrestag der friedlichen Revolution in
der ehemaligen DDR und des Falls der Mauer begehen.
Dieses Ereignis war 1989 der Beginn für umfangreiche
politische Veränderungen in Europa. Damit war auch ein
schrittweiser Abbau von Grenzen verbunden. Offene
Grenzen zu Tschechien und Polen sind ein wichtiger
Schritt der Aufarbeitung einer teilweise sehr leidvollen
Geschichte der Völker. Offene Grenzen sind aber auch
entscheidend für eine bessere Entwicklung auf den Gebieten von Wirtschaft und Tourismus.
Meine Damen und Herren, der Zugewinn an Freiheit
brachte uns aber leider auch einen Anstieg an grenzübergreifender Kriminalität, insbesondere organisierter
Kriminalität. Beispiele wurden hier bereits genannt:
Wohnungseinbrüche, Autodiebstähle, Diebstähle von
Buntmetall und Traktoren, der Diebstahl einer ganzen
Tierherde, Diebstähle aus Unternehmen, die oft zu großen Verärgerungen führen. Von der Insel Usedom über
Frankfurt/Oder bis in die Lausitz und ins Erzgebirge gibt
es überall dieselben Probleme.
Gestatten Sie mir, um die Dimension einmal deutlich
zu machen, zwei Fälle aus den letzten Tagen aufzuführen:
Am letzten Sonntag wurden in der Nähe von
Greifswald aus einer Garage vier Traktoren, eine Strohballenpresse und ein Güllewagen im Gesamtwert von
560 000 Euro gestohlen. Das ist eine bemerkenswerte
Dimension. Die Fahrzeuge wurden am helllichten Sonntag über die Insel Usedom Richtung Polen gefahren. Das
fiel einem Bürger auf, der die Polizei benachrichtigt hat.
Mithilfe der polnischen Kollegen konnten auf polnischem Gebiet im Terminal des Hafens von Swinemünde
die Traktoren gefunden und sichergestellt werden.
Ein zweiter Fall hat sich am letzten Wochenende in
Dresden ereignet, wo Fahnder in einem Kleintransporter
immerhin 2 Kilogramm Crystal gefunden haben. Wert:
100 000 Euro.
Das ist organisierte, grenzübergreifende Kriminalität.
Die Bürger in den Grenzregionen sind mit Recht besorgt,
verärgert, verunsichert und verlangen natürlich, dass der
Staat handelt. Der Staat muss handeln. Die Grenzen zu
schließen, wie es manche Politiker fordern, oder Bürgerwehren, wie sie sich in manchen Orten gebildet haben,
sind absolut keine Lösungen. Dem erteilen wir eine klare
Absage.
({0})
Der Staat, der das Gewaltmonopol in seinen Händen
hat, muss es behalten und die Kriminalität mit allen Mitteln bekämpfen. Dem Bürger ist es vollkommen egal,
wer für Ordnung sorgt: ob die Landespolizei, die Bundespolizei oder der Zoll. Er will einfach sicher leben. Es
wurde bereits gesagt: Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, wir brauchen eine zahlenmäßig starke Polizei, und wir brauchen - darüber reden wir heute - eine
Polizei, die über Ländergrenzen hinweg agieren kann.
Deutschland hat mit allen Nachbarstaaten bilaterale
Abkommen geschlossen. Heute debattieren wir in erster
Lesung über ein Abkommen mit Polen. Wir haben bereits einen Polizeivertrag, der auch funktioniert. Wolfgang,
ich habe gestern mit deinem Nachfolger gesprochen,
dem Polizeipräsidenten der Polizeidirektion Görlitz. Er
hat erzählt, was bisher funktioniert. Aber man kommt an
gewisse Grenzen. Deshalb brauchen wir einen neuen
Vertrag, mit dem wir einen Schritt weitergehen.
Der Staatssekretär sprach bereits die Gründe an, warum ein neuer Vertrag erforderlich ist. Das hat zum einen
mit veränderten europäischen Rahmenbedingungen zu
tun, die wir hier beachten müssen: der Öffnung der EUGrenzen zu Polen, dem Beitritt zum Schengener Abkommen. Das Zweite ist: Wir wollen - das ist in dem
neuen Vertrag geregelt - einen größeren Handlungsspielraum. Es sind bereits Beispiele genannt worden. Ich
möchte Ihnen diese ersparen.
Frau Jelpke, warum die Länder? Es sind eben die
Bundes- und die Landespolizeien, die einbezogen sind.
Im Freistaat Sachsen haben wir über 700 Kilometer Außengrenzen, sodass die Landespolizei an allen Stellen
gefordert ist. Deswegen gilt der Vertrag für die Landespolizeien, die Bundespolizei und den Zoll.
Entscheidend ist, dass wir die Arbeitsbedingungen
derjenigen, die für unsere Sicherheit zuständig sind, verbessern. Wir müssen ihnen mehr Spielraum geben und
dafür sorgen, dass noch enger zusammengearbeitet wird.
Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass die jeweils Verantwortlichen auf dem Nachbargebiet hoheitliche Aufgaben verrichten können, was ganz entscheidend ist.
Wir haben mit dem Vertrag mit Polen eine Regelung
geschaffen. Wichtig ist aber auch, dass wir in den nächsten Tagen, spätestens in den nächsten Wochen, über den
gleichen Vertrag mit Tschechien verhandeln. Der hier
bestehende Vertrag ist nämlich genauso alt und muss daher auf den Prüfstrand. Da sich auch in Bezug auf Tschechien die Bedingungen verändert haben, brauchen wir
auch hier andere Regelungen.
Der Vertragsentwurf, den wir heute beraten, signalisiert unseren Bürgerinnen und Bürgern, dass wir für
mehr Sicherheit sorgen, und er ist eine ganz klare
Kampfansage an die großen und kleinen Ganoven auf
beiden Seiten der Grenze.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und mich ganz
herzlich bei den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten
von Bund und Ländern sowie bei den Zollbeamtinnen
und Zollbeamten für ihren täglichen, engagierten, oft
auch sehr gefährlichen Einsatz bedanken. Sie tun ihren
Dienst für unsere Sicherheit. Dafür einen ganz herzlichen Dank.
({1})
Da ich der letzte Redner in dieser Debatte sein darf,
habe ich Ihnen allen ein Geschenk mitgebracht: Ich
möchte Ihnen zwei Minuten Zeit schenken.
Danke.
({2})
Vielen Dank, für das Geschenk, Herr Kollege. An einem Freitagnachmittag ist das sehr willkommen.
({0})
Ich schließe die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3696 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Diana Golze, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von
Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder
Drucksache 18/2884
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf Mittwoch, den 28. Januar 2015, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.