Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich gerne den Kollegen Joachim Poß und Peter
Wichtel zu ihren 65. Geburtstagen gratulieren, die sie in
der Weihnachtspause hinter sich gebracht haben. Auch
auf diesem Wege herzliche Grüße und alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr.
({0})
Wenn der Kollege Gysi persönlich anwesend wäre,
hätte ich ihm möglicherweise trotz des strengen Reglements zu seinem heutigen 66. Geburtstag gratuliert. So
muss das bedauerlicherweise entfallen. Aber vielleicht
können Sie, Frau Sitte, ihm unsere herzlichen Grüße
übermitteln.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zu den Verhandlungen über ein No-Spy-Abkommen zwischen den USA und der Bundesrepublik
Deutschland
({2})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren
({3})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Katja
Kipping, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Mindestlohns ({4})
Drucksache 18/6
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsauschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung
Drucksache 18/7
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
({7}), Katja Kipping, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der Beitragssätze in der
gesetzlichen Rentenversicherung ({8})
Drucksache 18/52
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss
d) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion DIE LINKE
zu der vereinbarten Debatte zu den Abhöraktivitäten der NSA und den Auswir394
Präsident Dr. Norbert Lammert
kungen auf Deutschland und die transatlantischen Beziehungen
Drucksache 18/56
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss
e) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der vereinbarten Debatte zu den Abhöraktivitäten der NSA und den Auswirkungen auf Deutschland und die transatlantischen Beziehungen
Drucksache 18/65
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz in Warschau - Ohne
deutsche Vorreiterrolle kein internationaler Klimaschutz
Drucksache 18/96
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Risiko und Haftung zusammenführen Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen
Drucksache 18/97
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden - Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus
Drucksache 18/98
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Operation Active Endeavour beenden
Drucksache 18/99
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Haushaltsauschuss
j) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
({16})
Drucksache 18/201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
ZP 3 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Finanzierung künftiger Kosten des geplanten
Rentenpakets der Bundesregierung
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europarechtskonforme Regelung der Industrievergünstigungen auf stromintensive Unternehmen im internationalen Wettbewerb
begrenzen und das EEG als kosteneffizientes
Instrument fortführen
Drucksache 18/291
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({18})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 14 und 17 werden abgesetzt.
Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind. - Das
ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
zur OECD-Studie PISA 2012: Schulische Bildung in Deutschland besser und gerechter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Albert Rupprecht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({19})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Da das heute die erste Bildungs- und
Forschungsdebatte in der neuen Legislatur und auch die
erste Debatte im neuen Jahr ist, wünsche ich Ihnen alles
Gute und uns allen eine gute Zusammenarbeit. Meine
besonderen Grüße richten sich natürlich an die Kollegen
der SPD. Das ist das Schöne an der politischen Arbeit:
dass man immer wieder neue Menschen kennenlernt und
neue Freunde dazugewinnt.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bericht „PISA
2012“ ist aus deutscher Sicht höchst erfreulich. Ich zitiere Professor Prenzel: Die Verbesserungen können als
Erfolgsgeschichte betrachtet werden. - Wir haben seit
2000 in allen Kompetenzbereichen substanzielle Verbesserungen hinbekommen. Wir erreichen inzwischen ein
signifikant über dem OECD-Schnitt liegendes Niveau,
und zwar in allen drei Bereichen: Mathematik, Lesen,
Naturwissenschaften. Die 15-Jährigen in Deutschland
haben sich - seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 - viermal in Folge verbessert. In Europa liegen wir inzwischen
in der Spitzengruppe. Kein anderes Land hat sich viermal in Folge derart gesteigert. Musterländer wie Dänemark, Norwegen und Schweden haben wir hinter uns gelassen. Der europäische Primus Finnland liegt nicht
mehr Welten, sondern nur noch eine Nasenlänge vor uns.
Ich finde: Die Anstrengungen in den letzten zehn Jahren
haben sich gelohnt.
({1})
Auch in dem immer wieder in Deutschland thematisierten und zu Recht diskutierten Bereich, in dem es um
den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg geht, gibt es substanzielle Verbesserungen.
Wir haben immer wieder, auch in der letzten Legislatur
hier im Plenum, darüber diskutiert, dass Deutschland in
diesem Bereich Schlusslicht in Europa ist. Das war das
Dauerthema. PISA 2012 zeigt uns aber eindeutig und
ganz klar, dass Schüler aus schwierigen sozialen Familienverhältnissen überdurchschnittlich aufgeholt haben
und dass wir bei dieser Gruppe inzwischen über dem
OECD-Schnitt liegen.
Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wo wir
2000 gestartet sind. Beim PISA-Bericht 2000 lagen wir
in allen Bereichen unter dem OECD-Schnitt. Jetzt erleben wir, dass aus dem damaligen PISA-Schock in der
Tat ein PISA-Erfolg geworden ist. Wir können froh sein,
dass wir im Jahr 2014 sagen können: Die deutschen
Schulen sind wieder vorne mit dabei.
Diese Entwicklung kann nicht primär durch die
Schulstrukturen begründet werden; so steht es auch im
Bericht. Die Schulstrukturen, über die es viele Jahrzehnte ideologisch geführte und ellenlange Diskussionen
gab, haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse. Ganz im Gegenteil: Der Hauptgrund für diese Erfolge war letztendlich, dass der PISA-Schock 2000 Lehrer, Eltern und Politik wachgerüttelt hat.
Wir hatten bis 2000 geglaubt, das Land der Dichter
und der Denker habe tolle Schulen und wir könnten uns
ideologische Grundsatzdebatten über ein gegliedertes
Schulsystem und Ähnliches leisten. Wir haben aber all
die Jahre vergessen, uns dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Erst der PISA-Schock hat dazu geführt,
dass wir uns verglichen und den Wettbewerb aufgenommen haben. Insbesondere die Lehrerinnen und Lehrer
vor Ort haben diesen Wettbewerb aufgenommen und
sich den Aufgaben gestellt. Deswegen ist der Erfolg vor
allem das Verdienst der Lehrerinnen und Lehrer in den
Schulen.
({2})
Als Beispiel greife ich jetzt nicht Bayern mit seinen
herausragenden Ergebnissen, sondern ganz unverdächtig
den Freistaat Sachsen heraus.
({3})
Die Lehrerinnen und Lehrer im Freistaat Sachsen haben
in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen und riesengroßen Kraftakt geschultert: die Veränderungen
durch die Wiedervereinigung, Schulsterben allerorten,
Halbierung der Schülerzahlen. In diese Zeit fiel dann
auch noch der PISA-Schock. Trotzdem haben sie es geschafft, dass die Schülerinnen und Schüler in Sachsen
erstklassige Ergebnisse liefern. Ich finde, das verdient
Respekt. Das ist höchste Anerkennung wert, sehr geehrte
Damen und Herren.
({4})
Auch die Politik war in diesem Bereich unterstützend
tätig; denn: „ohne Moos nix los“. Wir haben massiv Gelder zur Verfügung gestellt. Der Bund ist zwar nicht für
die allgemeinbildenden Schulen zuständig. Wir haben
vonseiten des Bundes die Länder aber massiv unterstützt, indem wir Milliardenbeträge für die Bildungspoli396
Albert Rupprecht ({5})
tik zur Verfügung gestellt haben: für den Hochschulpakt
und viele andere Bereiche. Aber auch für die berufliche
duale Bildung, den originären Bereich der Bundesebene,
haben wir Mittel bereitgestellt. Wir haben nach den vorliegenden Entwürfen die entsprechenden Mittel im Bundeshaushalt von 2005 bis zum Jahr 2014 um 84 Prozent
erhöht. Ich finde, das ist vorbildlich und herausragend.
Das ist aus unserer Sicht eine tolle Leistung vonseiten
des Bundes.
({6})
Wir haben auch Inhaltliches weiterentwickelt. Wir haben bundesweite Bildungsstandards eingeführt. Wir haben Verfahren zur Qualitätssicherung eingeführt. Die
empirische Bildungsforschung unterstützt die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort massiv, indem die im internationalen Vergleich gewonnenen Erkenntnisse angewandt
werden. Was läuft in welchen Ländern gut? Was können
wir vielleicht übernehmen? Wir haben nicht unser eigenes Süpplein gekocht, sondern haben uns dem Wettbewerb gestellt. Wir haben dazugelernt. Wir haben die
richtigen Fragen gestellt und letztendlich die richtigen
Antworten gefunden.
Was lernen wir insbesondere aus der Entwicklung der
vergangenen Jahre? Für mich ist das Wichtigste, die
Lehrerinnen und Lehrer vor Ort dazu zu befähigen, die
Qualität in kollegialer Zusammenarbeit Schritt für
Schritt zu verbessern. Nicht ideologische Radikalreformen sind entscheidend; es geht um eine evolutionäre
Weiterentwicklung, eine Schritt-für-Schritt-Weiterentwicklung. Die Schüler müssen im Zentrum stehen. Nicht
Heilslehren, Ideologien oder Zentralismus, geschweige
denn eine von Berlin aus zentral gesteuerte Bildungsund Schulpolitik bringen uns weiter, sondern Dezentralität und Subsidiarität; dies sind die entscheidenden Prinzipien. Und ich sage es noch einmal: Der zentrale
Schlüssel sind gut ausgebildete und motivierte Lehrer.
Wir tragen vonseiten des Bundes auch hier Wesentliches bei, wenngleich es nicht in unsere originäre Zuständigkeit fällt. Nichtsdestotrotz haben wir bereits in der
letzten Legislatur beschlossen - und wir werden das umsetzen -, eine Qualitätsoffensive Lehrerbildung zu starten. Wir werden eine halbe Milliarde Euro für Aufgaben
zur Verfügung stellen, die eigentlich primär Länderaufgaben wären. Ich halte es trotzdem für richtig und notwendig, weil wir in der Lehrerausbildung deutschlandweit eine Weiterentwicklung brauchen. Es kann nicht
Aufgabe des Bundes sein, in die Schulen hineinzuregieren; aber es ist der richtige Weg, sie in Form von
deutschlandweiten Aktivitäten insbesondere bei der Lehrerausbildung zu unterstützen.
Ich habe noch mehrere Seiten Manuskript vor mir.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir aber, dass ich mich im
Zeitplan verschätzt habe. Deswegen kürze ich ab und
komme zum Schluss, obwohl ich gern auf die neue Legislatur eingegangen wäre. Aber viele Kollegen werden
noch dazu sprechen.
Ich finde, 2008 haben die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten mit dem Bildungsgipfel in Leipzig einen
hervorragenden Aufschlag gemacht. Damals wurden gemeinsame Bildungsziele vereinbart. Aber es wurde auch
vereinbart, dass jeder in seiner Zuständigkeit, in eigener
Verantwortlichkeit die Umsetzung betreiben muss. Das
Ergebnis der PISA-Studie 2012 zeigt uns, dass wir auf
dem richtigen Weg sind und sich die Anstrengungen in
der Tat gelohnt haben, sehr geehrte Damen und Herren.
Danke schön.
({7})
Die Kollegin Rosemarie Hein ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum fünften Mal erschien vor wenigen Wochen die sogenannte
PISA-Studie, mit der die Lernleistungen der 15-jährigen
Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich
gemessen werden. Diesmal scheint, anders als vor zwölf
Jahren, die Welt in Ordnung zu sein. Endlich bewegt
sich die Bundesrepublik Deutschland aus der Schmuddelecke der PISA-Verlierer heraus. Es ist zwar nur der
Platz 16 auf der Rangliste der 65 teilnehmenden Staaten,
aber das ist immerhin deutlich über dem Durchschnitt.
Doch schauen wir einmal genauer hin: Gibt es denn
tatsächlich Grund zum Jubeln? Ich finde das nicht; denn
die Grundkritiken am Bildungssystem in Deutschland
bleiben alle bestehen. Noch immer erreicht fast die
Hälfte der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sowie
28 Prozent der Lernenden an den neuen Schulformen
mit mehreren Bildungsgängen und selbst 10 Prozent der
Lernenden an Realschulen in Mathematik nur die unterste Kompetenzstufe I. Die unterste Kompetenzstufe I
bedeutet eben, dass sie später kaum eine Chance haben,
einen Ausbildungsplatz zu finden.
Dazu hat es gerade in den letzten Tagen entsprechende Äußerungen gegeben: 83 000 Jugendliche haben
im vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz erhalten,
obwohl sie einen gesucht haben - so sagt es die Berufsbildungsstatistik des Bundes. Sie werden fragen: Was hat
das jetzt miteinander zu tun? Ganz einfach: Diejenigen,
die im Jahr 2013 auf dem Ausbildungsplatzmarkt angekommen sind, sind - zumindest zu großen Teilen - die
Jugendlichen, die 2012 abgeprüft worden sind. Gleichzeitig beklagen immer mehr Betriebe, dass die schulische Qualität nicht ausreiche, um eine Ausbildung aufzunehmen. Und das, obwohl sich doch gerade die Zahl
der Schülerinnen und Schüler mit schlechteren Mathematikleistungen verringert hat; das ist eben gesagt worden. Das kann doch keine Zufriedenheit auslösen.
Im März des vergangenen Jahres erregte eine Studie
mit dem Titel „Hindernis Herkunft“, die im Auftrag der
Vodafone-Stiftung erstellt worden ist, große Aufmerksamkeit. In dieser Studie wurde festgestellt, dass mehr
als die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer an Haupt- und
Realschulen ihre Anforderungen im Unterricht in den
letzten fünf bis zehn Jahren reduziert haben. Das gilt
auch für ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien. Das ist eine Selbsteinschätzung. Möglicherweise
erklärt das einiges. Jeder vierte Arbeitgeber sei unzufrieden mit den Leistungen der Berufsanfänger, so eine
McKinsey-Studie, die Anfang dieser Woche vorgestellt
wurde. Übrigens klagen auch die Hochschulen darüber,
dass die Studienanfängerinnen und -anfänger zu
schlechte Voraussetzungen mitbringen. Frau Löhrmann,
die neue Präsidentin der KMK, hat das erst gestern zurückgewiesen. Aber was stimmt denn nun? Lügen wir
uns möglicherweise selbst in die Tasche?
Fakt ist, dass in Deutschland die Herkunft noch immer einen viel zu großen Einfluss auf den Bildungsabschluss und die erreichten Lernergebnisse hat. Noch immer kommen dreimal mehr Kinder aus wohlhabenden
Elternhäusern mit einem hohen Bildungsabschluss der
Eltern zum Gymnasium als Kinder aus armen Familien
mit einem vergleichsweise niedrigen Bildungsabschluss
der Eltern. Mehr als 17 Prozent der Schülerinnen und
Schüler - alle Schularten zusammen genommen - können nur ungenügend rechnen. Zwar haben sich die Ergebnisse um 5 Prozentpunkte verbessert, aber das ist
nicht genug. Ja, Deutschland lernt, aber es lernt viel zu
langsam.
({0})
Die Erfolge sind Leistung der Lehrenden, aber nicht der
Politik.
Bei den Gymnasien scheint alles in Butter zu sein.
Die Matheergebnisse sind dort nach wie vor überdurchschnittlich gut. Die Besten erreichen die guten Ergebnisse wie vor neun Jahren. Dass ein größerer Anteil der
Schülerinnen und Schüler heute ein Gymnasium besucht, hat offensichtlich nicht zur Folge, dass die Leistungsstarken schlechter lernen können. Eine hohe Bildungsbeteiligung schadet den Leistungsstarken also
nicht, wie immer mal wieder kolportiert wird.
({1})
Mehr noch: An den wenigen noch verbliebenen
Hauptschulen erreichen die leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler das gleiche Leistungsniveau wie der
Durchschnitt der Gymnasialschüler. Diese beachtlichen
Überschneidungen gibt es auch bei anderen Schulformen. Das ist keine neue Erkenntnis. Das wurde auch
schon 2000 und 2003 festgestellt. Wenn es diese beachtlichen Überschneidungen also gibt, wie lässt sich dann
erklären, dass der eine Schüler an der Hauptschule und
der andere am Gymnasium landet? Es gibt dafür keine
Erklärung. Ich finde, wir sollten endlich mit dieser Aufteilerei aufhören.
({2})
Im Bundesdurchschnitt haben sich die Mathematikleistungen seit 2003 um 11 Punkte verbessert. 25 Punkte
entsprechen dem Lernfortschritt eines Schuljahres. Wir
haben in neun Jahren also nicht einmal ein halbes Schuljahr aufgeholt. Das ist wahrlich beachtlich. Ich finde, darüber sollten wir einmal nachdenken.
({3})
Wenn wir in diesem Tempo weitermachen und die Welt
sich ansonsten nicht weiterentwickelt, wovon nicht auszugehen ist, dann brauchen wir weitere 20 Jahre, um wenigstens zu den jetzt Besten aufzuschließen. Soll das
wirklich unser Ziel sein? Haben wir diese Zeit? Die Zeit
haben wir nicht. Es ist an der Zeit, dass diese drängenden Bildungsprobleme endlich grundsätzlich angepackt
werden.
Glaubt hier wirklich noch jemand ernsthaft, dass wir
als Bund dabei weiter auf die Programme und Progrämmchen setzen können, die wir am laufenden Band
erfinden? Zum Teil sind sie ja sehr schön, sie verändern
aber nicht die Arbeitssituation in den Schulen.
({4})
Glauben wir wirklich, dass wir uns das leisten können?
Ich glaube das nicht, auch wenn wirklich gute Programme dabei sind. „Kultur macht stark“ zum Beispiel
ist ein solches Programm. Auch Berufseinstiegsbegleiter
helfen, aber sie helfen erst dann, wenn das Kind schon
fast in den Brunnen gefallen ist.
Nein, es ist erforderlich, dass sich der Bund an den
gemeinsamen Bildungsaufgaben beteiligt. Dazu gehört
zum Beispiel auch das Thema Inklusion. Diese Aufgabe
kann man nicht hauptsächlich in den Schulen, die keine
Gymnasien sind, abladen. Das ist ein Thema des gesamten Bildungssystems. Wir brauchen dafür grundsätzlich
mehr Lehrerinnen und Lehrer, möglicherweise kleinere
Klassen sowie andere Schulgebäude, die mehr Möglichkeiten schaffen.
Für all das haben die Länder und Kommunen derzeit
aber kaum das nötige Geld. Deshalb ist es notwendig,
dass wir als Bund Bildung stärker mitfinanzieren. Es
geht nicht um irgendeinen internationalen Wettbewerb,
auch nicht um Sport, wo Platz 16 nicht einmal eine
Nachricht wert wäre, sondern es geht um die jungen
Menschen in unserem Land, deren Bildungs-, Lebensund Berufschancen wir sonst verspielen.
Seit der ersten PISA-Studie sind zwölf Jahre vergangen. Die im vergangenen Jahr geprüften Schülerinnen
und Schüler, die 15-Jährigen, sind 2003 in die Schule gekommen. Wenn wir heute noch nicht weiter sind, dann
haben wir schlecht gearbeitet. Das können wir uns nicht
weiter leisten.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Dr. Hein, man muss nicht jubeln, aber man darf
sich durchaus am Fortschritt freuen.
({0})
Dies ist das Ergebnis einer großen Gemeinschaftsleistung von vielen Menschen, die sich in der Bildungspolitik, in der Förderung von Kindern und Jugendlichen engagieren. Unsere Bildungsministerin hat es insoweit auf
den Punkt gebracht, als sie gesagt hat: Wir reden nicht
mehr vom PISA-Schock, sondern vom PISA-Fortschritt. Weiteren Fortschritt zu erreichen, sollte unser Leitmotiv
für die Zukunft sein.
Dass wir nicht immer Konsens haben, Kollege
Rupprecht, darf man zu Beginn einer solchen Debatte sicherlich ansprechen. Die Bildungspolitik lebt auch von
Alternativen. Wir Sozialdemokraten hätten uns tatsächlich mehr gewünscht und wären gern mehr in die Richtung gegangen, die eine Befragung des Deutschen
Kinderhilfswerks aufzeigt. In dieser Befragung haben
die Menschen in Deutschland gesagt, dass sie bereit wären, mehr Steuern zu zahlen, wenn das Geld dafür eingesetzt würde, die Armut von Kindern, materielle Armut
und Bildungsarmut, noch besser zu bekämpfen. Wir
müssen diesen Bereich stärker ausstatten, als wir es jetzt
unter bestimmten Kautelen tun können. Wir verzichten
auch nicht darauf, dies immer wieder anzusprechen und
anzumahnen.
({1})
Denn wir brauchen das entsprechende Bewusstsein und
auch die Bereitschaft, für Bildung mehr Mittel einzusetzen, um den Fortschritt voranzutreiben.
Wir wissen auch: Angesichts der Bedingungen, unter
denen wir jetzt handeln, müssen wir uns auf die wichtigsten Punkte einigen. Ich erinnere mich an eine Debatte vor drei Jahren, in der Kollege Weinberg vor dem
Hintergrund der damaligen Fortschritte sagte: Es wird
wichtig werden, früher zu fördern, zielgenauer zu fördern und bedarfsorientiert zu fördern. - Ich möchte jetzt
sechs, sieben Punkte ansprechen, die zeigen, wie dies
aus unserer Sicht geschehen kann.
Erster Punkt. Eine Einsicht aus PISA ist gewesen,
dass die gesamte Bildungsbiografie zu betrachten ist und
dass der Anfang der wichtigste Zeitpunkt ist. Deshalb
muss eine Priorität - hier spielt Zielgenauigkeit eine
wichtige Rolle - weiter darin bestehen, die frühkindliche
Bildung in jeder Hinsicht, zum Beispiel in den Kindertagesstätten, zu verbessern.
({2})
Wir müssen ausdrücklich - ich glaube, hier haben wir
Konsens - nicht nur die Leistung der Lehrerinnen und
Lehrer anerkennen, sondern genauso die Leistung der
Erzieherinnen und Erzieher, also all derjenigen, die sich
im sozialen Umfeld engagieren.
({3})
Zur Zielgenauigkeit gehören eine Verbesserung der
Erzieherausbildung und eine Verbesserung der Situation
in den Kindertagesstätten. Über das Betreuungsgeld
muss ich jetzt nicht reden. Manchmal wird einem weh
ums Herz, wenn man daran denkt, was wir mit diesen
Mitteln anfangen könnten. Zur Zielgenauigkeit gehören
ebenso die Unterstützung der Stiftung „Haus der kleinen
Forscher“ - diese wird die Ministerin sicherlich erwähnen - und gezielte Sprachförderung.
Zweiter Punkt. Schulsozialarbeit wurde bereits damals in den sieben Punkten der Kultusministerkonferenz
erwähnt. Sie muss und kann verstärkt werden. Damit
würde man soziale Gerechtigkeit fördern und dafür sorgen, dass alle Kinder angesprochen werden und ihr Zugang zu Bildung verbessert wird.
({4})
Dritter Punkt. Wenn wir vom Bund kein zweites
Ganztagsschulprogramm auflegen können, dann sollten
wir zumindest die Qualitätsentwicklung in den Ganztagsschulen begleiten. Dies müssen wir auch tun; denn
dieses Handlungsfeld ist schon als Konsequenz aus der
PISA-Studie im Jahr 2000 angesprochen worden.
({5})
Vierter Punkt. Ein Detail der Analyse aus PISA 2012
ist, dass wir gerade im Kompetenzfeld Mathematik noch
große Unterschiede zwischen dem Leistungsvermögen
der Mädchen und der Jungen erleben. Bei einer Lesestudie würden wir das Umgekehrte feststellen, nämlich dass
die Jungen nicht so kompetent sind wie die Mädchen.
Selbst wenn 50 Prozent der Mathematikstudenten weiblich sind, ist es trotzdem wichtig, diesen Punkt aufzugreifen. Es erfordert auch Forschung, und zwar nicht nur
in Bezug auf die Frage, wie man Kompetenz feststellen
kann, sondern auch in Bezug auf die Didaktik, die Methodik und die Motivation. Ziel muss sein, dass Mädchen wie Jungen in jeweils den Kompetenzfeldern, in
denen sie bisher nicht so stark sind, besser werden. In
der Bildungsforschung werden wir dort Akzente zu setzen haben.
({6})
Der fünfte Punkt - Sie haben ihn angesprochen muss sich auf die Qualifizierung im Rahmen der Lehrerbildung beziehen. Hier stehen wir im Wort, den pädagogischen Forschungseinrichtungen der Länder 500 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
Ich will über diese fünf Punkte hinaus ein sechstes
Thema ansprechen, das sich diese Regierung vornehmen
kann und das im Koalitionsvertrag aufgegriffen wurde:
Wir sollten die Ausbildungsbrücken verbreitern und verstetigen. Mancher wird sagen: Aber das hat doch nichts
mit PISA zu tun; schließlich beginnt die Ausbildung in
der Regel nach dem 15. Lebensjahr. - Aber noch einmal:
Das PISA-Denken nimmt die gesamte Bildungsbiografie
in den Blick, auch die zweite Chance.
Eines wissen wir doch alle: Wenn junge Menschen,
die keine ausreichenden Kompetenzen haben, nicht einDr. Ernst Dieter Rossmann
mal die Chance bekommen, einen Ausbildungsplatz zu
finden, dann kann man ihre Kompetenz auch nicht mit
einer zweiten oder dritten Chance stärken. Deshalb ist
ein Teil unseres PISA-Fortschrittskonzepts, auch ausbildungsbegleitende Hilfen und Einstiegsbegleitung bis hin
zur assistierten Ausbildung anzubieten, damit Kompetenz auch im zweiten Schritt wachsen kann. Ganz wichtig ist, dies gemeinschaftlich zu organisieren.
Als letzten Punkt nehme ich kurz einen anderen Gedanken auf. In der Koalitionsvereinbarung wurden zwei
Aspekte relativ unverbunden nebeneinandergestellt:
Sprachangebote für zugewanderte und geduldete Menschen bis hin zu Asylbewerbern und die Anpassung des
Anerkennungsgesetzes, um zu ermöglichen, dass es auch
eine Förderung für Hochqualifizierte, die zu uns gekommen sind, gibt. Ein Ergebnis der PISA-Studie ist im Übrigen, dass die Durchschnittswerte in Deutschland auch
deshalb gestiegen sind, weil in den Analysen mittlerweile so viele kompetente Migrantenkinder enthalten
sind.
({7})
Wenn es gelingt, für all die Menschen, die in das Einwanderungsland Deutschland kommen, eine Bildungserwartung zu wecken und eine Bildungschance zu schaffen, durch die auch Bildungsfreude entsteht, dann haben
wir eine Brücke gebaut: von der reinen Kompetenz zu
etwas, was Bildungspolitik und Bildungsförderung auch
beinhalten, nämlich Freude am Lernen und an der Aneignung von Wissen.
Meine Schlussbemerkung. Ja, die PISA-Studie zeigt
Fortschritte bei den Kompetenzen. Aber wir in Deutschland haben einen anderen Anspruch: Wir wollen keine
Kompetenzrepublik, sondern eine Bildungsrepublik
sein.
({8})
Deshalb ist es so wichtig, immer wieder zu betonen:
Ohne Kompetenzen gibt es keine Bildung, aber Kompetenzen sind auch nicht alles. Der Bund hat auch die Aufgabe, für Freude und Fröhlichkeit in Kindertagesstätten,
in Schulen und in der Bildungsgesellschaft insgesamt
mit zu sorgen.
Danke schön.
({9})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Özcan Mutlu
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Pisa war bis 2001 für die meisten Menschen
in unserem Land eine kleine Stadt mit einem schiefen
Turm in der Toskana. Seit Veröffentlichung der ersten
PISA-Studie im Dezember 2001 verbinden aber viele
mit PISA vor allem eine Schieflage des deutschen Schulsystems. Die Ergebnisse waren desaströs, und vom
„PISA-Schock“ war die Rede. Heute, mehr als zwölf
Jahre danach, muss ich leider feststellen: Das deutsche
Schulsystem ist trotz mancher Fortschritte und Verbesserungen weiterhin in einer Schieflage. Eine ganze Schülergeneration musste unser Schulsystem durchlaufen, damit manche, wie auch heute hier, endlich sagen können:
Hurra, wir befinden uns über dem OECD-Durchschnitt!
Ich verüble es Ihnen nicht, dass sich die Vertreter der
Koalition nun gegenseitig erfolgreiche Bildungspolitik
attestieren und sich wieder einmal vertragen - das war ja
in den letzten Wochen nicht so sehr der Fall -, auch
wenn der Kollege Rossmann heute hier eher eine Oppositionsrede gehalten hat.
({0})
Wie dem auch sei: Leider muss ich Ihnen etwas
Spreewasser in den Wein schütten.
({1})
Ja, wir haben im Vergleich zu 2001 einige Fortschritte
gemacht. Ja, Deutschland liegt nach zwölf Jahren in allen gemessenen Bereichen über dem OECD-Durchschnitt. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich den Lehrerinnen und Lehrern und den Erzieherinnen und
Erziehern, die tagtäglich ihre Arbeit leisten.
({2})
Aber ist das alles? Reicht Ihnen das? Geht es Ihnen nur
um Rankings?
({3})
Ist das Ihr Verständnis von Bildungspolitik? Wir sagen:
Nein.
({4})
Schauen wir uns die Ergebnisse einmal etwas genauer
an: „Schulische Bildung in Deutschland besser und gerechter“, heißt es im Titel unseres gemeinsamen Tagesordnungspunktes. Besser? Vielleicht. Gerechter? Nein,
keineswegs. 2001 gehörten 23 Prozent der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler zur Risikogruppe. Heute
gehören immer noch 18 Prozent zur Risikogruppe. Besonders betroffen waren damals Schülerinnen und Schüler aus Arbeiterfamilien oder Kinder mit Migrationshintergrund. 2014 ist diese Schülergruppe weiterhin
überproportional gefährdet. Auch heute entscheidet bei
vielen Schülerinnen und Schülern der Geldbeutel der Eltern über den Bildungserfolg. Das war, das ist und das
bleibt ein Skandal, den Sie hier nicht mit Floskeln wegdiskutieren können.
({5})
Ich sage: Stagnation ist kein Erfolg, und Stagnation
ist auch nicht „besser und gerechter“. Es sei einiges besser geworden, sagen Sie als Vertreter der GroKo. Ich will
das auch nicht vollumfänglich bestreiten. Dass deutsche
Schülerinnen und Schüler in den MINT-Fächern im
Durchschnitt besser abschneiden als vor zwölf Jahren,
ist richtig und erfreulich.
Bei näherer Betrachtung treten aber auch andere Ergebnisse zutage: Im Fach Mathematik befinden sich
18 Prozent der Schülerinnen und Schüler unterhalb der
Stufe II und können nur einfache Formeln und Schritte
zur Lösung einer Aufgabe heranziehen. Mädchen erzielen im Fach Mathematik im Schnitt 14 Punkte weniger
als Jungen; hier haben sich die Ergebnisse sogar verschlechtert. Kinder mit Migrationshintergrund haben in
Mathematik einen Rückstand von anderthalb Schuljahren gegenüber Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte.
Trotz Verbesserungen in der Lesekompetenz befinden
sich 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf diesem Gebiet unterhalb der Stufe II und sind faktisch Analphabeten. Das ist ein Skandal!
({6})
Meine Damen und Herren, in unserem Schulsystem
- oder soll ich sagen: in unseren Schulsystemen? - gibt
es immer noch eine ausgesprochen dünne Leistungsspitze und weiterhin einen sehr hohen Anteil an Risikoschülern. Hinzu kommt eine immense soziale Abhängigkeit hinsichtlich der erzielten Kompetenzen. Das ist
nicht „besser und gerechter“, das ist schlicht und ergreifend ungerecht. Das ist ein Armutszeugnis für unser Bildungssystem.
({7})
Kritik ist nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse angebracht. Ich möchte von der Großen Koalition wissen:
Wie soll es denn weitergehen mit dem Kooperationsverbot, diesem Ei, das Sie uns Bildungspolitikern ins Nest
gelegt haben und mit dem Sie die Kleinstaaterei in der
Bildungspolitik verfestigt haben? Wie schaut es denn
aus mit Investitionen in die Bildung, in die Bildungsinfrastruktur, vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung? Wo bleibt die Bildungsrepublik Deutschland, die
Frau Merkel versprochen hat? Wie wollen Sie den Mangel an Lehrkräften, der aufgrund des hohen Durchschnittsalters der Kollegien lawinenartig wachsen wird,
nachhaltig abfedern? Warum ist die Lehrerbildung in
Deutschland immer noch so chaotisch organisiert, und
was ist mit den überfälligen Reformen in der Lehrerbildung? Wie wollen Sie die Länder bei der Bewältigung
der Mammutaufgabe Inklusion unterstützen, die, wie
auch die aktuelle PISA-Studie zeigt, überfällig ist? Zu
viele Fragen, zu wenige Antworten. Sie liefern auch mit
Ihrem Koalitionsvertrag keine Antworten dazu.
({8})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, insbesondere aber von der SPD, kommt bei
uns, anders als bei Ihnen, keine Freude auf. Ich sage:
Gute Bildung darf im Land der Dichter und Denker nicht
zum Luxusgut werden, lieber Kollege Rupprecht.
({9})
Wer einen sozialen und demokratischen Staat will, wer
Teilhabe und Integration will, muss sich für Bildungsgerechtigkeit einsetzen.
({10})
Sicherlich wird nicht jedes Kind einen Nobelpreis gewinnen; aber jedes Kind muss gleiche und gute Startchancen bekommen.
({11})
Bildungserfolg darf in unserem Land, einem der reichsten Länder der Welt, nicht länger eine Frage des Glücks
oder des Geldbeutels der Eltern sein.
({12})
Deshalb, liebe Kollegen, sind wir alle gefordert, nachhaltige Maßnahmen und Reformen einzuleiten, die dringend notwendig sind. Es bleibt noch viel zu tun. Wir
werden Sie dabei kritisch und konstruktiv begleiten.
Vielleicht gelingt es uns zusammen, die Länder - da
möchte ich das Land Baden-Württemberg nicht ausschließen - dafür zu gewinnen, gemeinsam das Thema
Kooperationsverbot im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen anzugehen.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit in diesem Hohen Hause.
({13})
Herr Kollege Mutlu, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere.
Ich schließe mich den Wünschen für eine gute Zusammenarbeit gerne an.
({0})
Für die Bundesregierung erhält nun die Bundesministerin Frau Professor Wanka das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Meine Damen
und Herren! Bei aller Freude über die Erfolge - Herr
Mutlu, man sollte sich freuen; auch ein deutscher Politiker kann sich über Erfolge einmal freuen - und bei aller
Akzeptanz der Herausforderungen, die nach PISA vor
uns liegen, ist mir eine Feststellung sehr wichtig - Herr
Rossmann hat bereits darauf hingewiesen -: Bildung ist
viel mehr als das, was im Rahmen von PISA gemessen
wird. Bildung, das ist Persönlichkeitsentwicklung, das
sind soziale und kulturelle Kompetenzen, das ist Freude
am Lernen, das ist auch Neugier. Trotzdem sind die
Kompetenzen, die bei PISA untersucht werden, ganz
wichtig, und zwar ganz wichtig für die Lebensqualität.
Vor kurzem gab es die PIAAC-Studie; das ist, verkürzt gesagt, PISA für Erwachsene. In dieser PIAACStudie ist deutlich herausgearbeitet worden, dass die
Grundkompetenzen in Mathematik und in Lesen für das
berufliche Leben und auch für die gesellschaftliche Teilhabe ganz entscheidend sind. Deswegen muss man anerkennen: PISA ist ein Teil, ein ganz wichtiger Teil, aber
nicht alles.
Die Vergleichsstudie PISA 2000 war ein Schock. Zunächst waren lange Diskussionen erforderlich, bis man
sich an solchen internationalen Vergleichen beteiligt hat;
aber es hat enorm viel bewirkt. Daraufhin gab es in
Deutschland weitere Diskussionen. Seitdem ist Bildung
auf der Agenda ganz oben und ist aus dem politischen
und gesellschaftlichen Kanon dessen, was wichtig ist,
nicht mehr wegzudenken. Deswegen glaube ich, dass
diese Untersuchungen auch weiterhin sehr wichtig sind.
Die Ergebnisse im Jahr 2000 waren ein Schock. Aber
wir sind nicht in Schockstarre verfallen, sondern haben
daraus gelernt. Wir haben uns wecken lassen, haben uns
weiterentwickelt und haben die richtigen Weichen gestellt.
({0})
Die Ergebnisse, die wir im Dezember vorstellen
konnten, sind ein großer Erfolg. Wir liegen in den Naturwissenschaften, in der Mathematik und im Lesen jetzt
über dem OECD-Durchschnitt. Wir sind in den Naturwissenschaften in der Spitzengruppe angekommen. Wir
haben uns seit 2000 deutlich, um mehr als ein Schuljahr,
verbessert. In der Mathematik sind vier OECD-Staaten
vor uns: Korea, Japan, Schweiz und Niederlande. Wenn
man diesen Reigen ergänzt und zum Beispiel China, Taipeh und Macao hinzuzählt, sind noch einige andere vor
uns. Aber wir liegen nicht mehr auf Platz 16. Frau Hein,
Sie wissen das doch, Sie können doch lesen. Es geht
doch nur darum, was signifikant unterschiedlich ist, und
nicht um das, was zufällig ist. Wir liegen also keinesfalls
auf Platz 16. Vier OECD-Staaten sind vor uns. Ich finde,
das ist nicht Mittelmaß, sondern ein richtig gutes Ergebnis.
({1})
Bei der Lesekompetenz hat es viel länger gedauert als
in Mathematik, wo wir ja schon beim letzten Vergleich
über dem Durchschnitt lagen, aber auch beim Lesen sind
wir jetzt deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Vor uns
liegen von den europäischen Ländern noch Finnland, Irland, Polen und Estland. Aber das sollte uns Ansporn
sein.
Ganz wichtig dabei ist: Wenn Sie sich diese Untersuchung anschauen, werden Sie feststellen, dass der Anteil
der schwachen Schüler zurückgegangen ist, also die
Zahl derjenigen, die in der niedrigsten Kompetenzstufe
sind, ist geringer geworden. Im Lesen sind es acht
Punkte weniger; in Mathematik etwas weniger, noch
nicht ausreichend. Man muss allerdings dazusagen, dass
nicht nur weniger Schüler in der niedrigsten Kompetenzstufe sind, sondern dass deren Leistungen auch besser
geworden sind.
Dafür muss man sich bedanken, und zwar bei ganz
vielen. Entscheidend sind natürlich die Lehrerinnen und
Lehrer. Aber durch die Tatsache, dass Bildung ein politisches Thema, ein wichtiges Thema geworden ist, haben
sich viele Initiativen, viele Lehrer und viele andere um
dieses Thema gekümmert und haben an diesem Erfolg
Anteil.
Frau Ischinger, die Bildungsdirektorin der OECD, hat
Folgendes gesagt - ich lese das einmal vor -: Deutschland hat „eine ziemlich einmalige Entwicklung unter den
PISA-Teilnehmern. Natürlich gibt es noch andere Länder, die heute besser dastehen als im ersten Test. Länder
aber, die bei jedem Durchgang und in jedem Testfeld den
Vorwärtsgang eingelegt haben, müssen Sie suchen.“
Das Entscheidende für Deutschland ist die Kontinuität. Es sind kleine Schritte, die aber beharrlich nach oben
führen. Ich glaube, das ist der Tatsache geschuldet, dass
wir 2000 in der KMK sofort ein Punkteprogramm aufgelegt haben. Es wurden vor allen Dingen Bildungsstandards entwickelt. Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin haben zudem auf dem Bildungsgipfel 2008
gemeinsame Ziele und gemeinsame Maßnahmen verabredet. Das alles ist ganz entscheidend für diesen Erfolg.
({2})
2001, als die PISA-Ergebnisse vorlagen, war das Allerschlimmste nicht, dass wir in Mathematik oder Lesen
nicht Weltmeister waren, sondern, dass es bei uns, anders als in vielen Ländern, die an diesem Test teilgenommen haben, eine stärkere Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft gab. Annette Schavan
und ich waren damals zusammen in der KMK. Wir wissen, dass uns dieses Problem am meisten bewegt hat.
Hierzu kann man jetzt sagen: Die aktuelle PISA-Studie
zeigt, dass es natürlich noch immer einen solchen Einfluss auf die Schulleistung gibt - wir haben noch viel zu
tun -; dieser Einfluss hat aber abgenommen. In diesem
Bereich sind wir jetzt im Mittelfeld. Das kann uns noch
nicht zufriedenstellen, aber auch dort gibt es eine eindeutige Bewegung.
Wenn man sich das genauer anschaut, dann sieht man:
Jugendliche, die aus Familien mit einem sozioökonomisch schwierigen Hintergrund stammen, konnten sich
bemerkenswert verbessern. Das sieht man auch daran,
wer auf ein Gymnasium geht. Der Kreis derer, die aus
diesen Schichten auf ein Gymnasium gehen, ist sehr viel
größer geworden.
Ich finde es allerdings altmodisch, immer nur auf das
Gymnasium zu schauen. Wozu sorgen wir denn für
Durchlässigkeit? Wozu ermöglichen wir denn das Studieren mit beruflicher Qualifikation, ohne Abitur?
({3})
Das tun wir auch deshalb, weil gerade Kinder aus solchen Elternhäusern eher gedrängt werden, einen Beruf
zu erlernen und nicht auf ein Gymnasium zu gehen.
Diese sollen entsprechende Chancen haben. Also muss
man die Verläufe der Biografien insgesamt betrachten
und nicht nur auf den Punkt Gymnasium schauen; aber
selbst dort hat sich die Situation deutlich verändert.
Auch der Abstand zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund ist kleiner geworden; er ist aber noch immer viel zu groß. Bei den
Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund
hat sich der Rückstand bei den Leistungen seit 2000 um
fast anderthalb Schuljahre verbessert. Das reicht noch
nicht, aber auch auf diese Verbesserung sollte man stolz
sein, Herr Mutlu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur drei
Ländern - Deutschland, Mexiko und der Türkei - ist es
seit 2000 gelungen, einerseits ihre Leistungen zu verbessern und andererseits den Einfluss der sozialen Herkunft
zurückzudrängen. Um die Leistung, die wir vollbracht
haben, noch einmal deutlich zu machen: Dies ist nur drei
Ländern gelungen, und dazu gehört Deutschland.
Was bedeutet das für die Zukunft? Dass wir jetzt gut
dastehen und uns in den vergangenen Jahren Schritt für
Schritt vorwärtsentwickelt haben, ist überhaupt keine
Garantie dafür, dass das so bleibt. Schauen Sie sich einmal Länder wie Schweden, Island und Frankreich an.
Diese lagen beim PISA-Test 2003 im Bereich Mathematik über dem Durchschnitt und liegen jetzt unter dem
Durchschnitt. Das heißt, es gibt überhaupt keine Garantie - jetzt freut man sich natürlich über den Erfolg; das
ist auch ein Motivationsschub für alle Beteiligten -, sondern es ist wichtig, dass man weiß, dass in den kommenden Jahren weitere Anstrengungen notwendig sind.
Ich will einen wichtigen Punkt nennen: Die Gruppe
der schwächeren Schüler ist zwar kleiner geworden und
zeigt nun bessere Leistungen, aber in der Spitzengruppe
gibt es wenig Bewegung. Deswegen müssen wir uns
jetzt auch mehr um die Leistungsstarken kümmern. Damit können wir international noch mehr punkten.
({4})
Wir haben den Ländern vonseiten des Bundes im
Rahmen der Kultusministerkonferenz ein Angebot gemacht und gesagt: Wir sind bereit, Geld in die Hand zu
nehmen und ein gemeinsames Programm zur Förderung
leistungsstarker Schüler aufzulegen. Die Kultusministerkonferenz hatte noch keine Zeit und will sich im
Sommer damit beschäftigen. Ich hoffe, dass wir dann zu
einer gemeinsamen Initiative in diesem Bereich kommen; denn wir müssen die Schwächeren stärken, aber
eben auch die Spitzengruppe noch mehr fördern.
({5})
Ich höre immer wieder den Vorwurf, im Koalitionsvertrag sei das Thema Bildung nicht klar genug formuliert. 23 Milliarden Euro werden in dieser Legislaturperiode zusätzlich ausgegeben, hart umkämpft von den
Vertretern aus den Bereichen Verkehr und Infrastruktur.
Von diesen 23 Milliarden Euro fließen 9 Milliarden Euro
in den Bereich Bildung und Wissenschaft. Das ist eine
eindeutige Priorität. Auch haben wir deutlich gemacht:
5 Milliarden Euro werden dafür eingesetzt, die Länder
zu entlasten, damit sie mehr Geld für Schulen und anderes zur Verfügung haben.
({6})
- Doch, Entlastung der Länder heißt, dass sie mehr
Spielräume haben.
Ich kann es wirklich nicht mehr hören, wenn immer
gesagt wird: Die Länder haben kein Geld; das muss der
Bund machen. - Schauen Sie sich doch einmal das PwCRanking der Finanzen der einzelnen Bundesländer und
des Bundes an. Am schlechtesten stehen wir als Bund
da, und für uns gilt die Schuldenbremse viel eher als für
die Länder.
Frau Hein, Ihre Partei ist doch in Brandenburg mit an
der Regierung. Brandenburg tilgt jetzt seine Schulden.
Warum kann nicht mehr Geld für die Schulen ausgegeben werden?
({7})
Warum wird gesagt: „Wir haben kein Geld“?
({8})
Man muss die Prioritäten eindeutig setzen.
({9})
Noch ganz kurz: Wir wollen diesen Prozess weiterhin
unterstützen, und zwar im Rahmen der Kompetenzen
des Bundes und der Spielräume, die er hat. Die halbe
Milliarde Euro für die Qualitätsoffensive Lehrerbildung
ist ganz wichtig; denn wir wussten immer, dass Lehrer
ganz entscheidend für den Bildungserfolg sind. Durch
die weltweite Hattie-Untersuchung wurde uns das empirisch bestätigt. Mithilfe dieser Mittel kann man in der
Lehrerbildung das Thema Inklusion und vieles andere,
was sich bis jetzt noch nicht so stark wiederfindet, implementieren. Das kann man jetzt machen. Das ist also
ein ganz wichtiger Punkt.
Viele Programme wurden in der Vergangenheit begonnen, aber deren Erfolge haben sich in der aktuellen
PISA-Untersuchung noch nicht gezeigt, etwa die des
Programms „Lesestart“ und die der Sprachförderung.
Die Folgen dieser Programme werden erst in einigen
Jahren wirksam werden. Ich glaube, dass der Bund an
dieser Stelle Entscheidendes leistet, auch zur Entlastung
der Länder.
Ich komme zu dem Thema Ausbildungsreife und zur
Leistung von Berufsanfängern. Dazu nur ein Satz: Eine
McKinsey-Studie hat gezeigt, dass die Unternehmen mit
den Auszubildenden unzufrieden sind. Aber im Vergleich mit den anderen untersuchten Staaten liegt
Deutschland, was die Zufriedenheit mit den Auszubildenden betrifft, auf dem zweiten Platz. Auch das ist
nicht ausreichend. Ich finde, man muss kritisch sehen:
Was ist noch nicht in Ordnung? Aber man muss auch in
der Lage sein, das anzuerkennen, was man gut gemacht
hat. Wenn man sich richtig darüber freut, dann ist das,
glaube ich, ein Schub, um in den nächsten Jahren noch
mehr in diesem Bereich zu erreichen, sodass wir bei der
nächsten PISA-Untersuchung in drei Jahren noch ein
Stück besser sein werden.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Azize Tank für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es gut, dass ich als Migrantin, die
vor 40 Jahren als sogenannte Gastarbeiterin nach
Deutschland kam, heute hier stehe.
({0})
Ich weiß aus ganz persönlichem Erleben, wie wichtig
Bildung und Ausbildung sind.
Ich möchte auf Befunde der aktuellen PISA-Studie
eingehen und dabei einen besonderen Blick auf die
Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund
werfen.
Schauen wir uns zunächst die positiven Entwicklungen an. Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund erreichen höhere Mathematikkompetenzen
als vor zehn Jahren. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
({1})
60 Prozent der Jugendlichen der zweiten Generation,
also derjenigen, die bereits in Deutschland geboren wurden, sprechen zu Hause deutsch. Das Bildungsniveau der
Eltern dieser Jugendlichen ist ebenfalls deutlich gestiegen. Wir sehen also, dass Migrantinnen und Migranten
selbst einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung ihrer Bildungschancen leisten wollen und können.
({2})
Trotzdem: Die Autoren der PISA-Studie kommen erneut zu dem Schluss, dass Schülerinnen und Schüler mit
Zuwanderungshintergrund im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nach wie vor besonders
benachteiligt sind. Für diejenigen, die es nicht verstehen
können oder wollen: PISA zeigt auf, dass die Ursachen
soziale Ungleichheiten sind und die Bildungserfolge in
Deutschland davon abhängen, ob die Eltern reich oder
arm, Akademiker oder Arbeiter sind. Ich finde das unerträglich.
({3})
Das ist eine Schande für ein Land, das eine Bildungsrepublik sein möchte.
Deshalb wollen wir Linken Gemeinschaftsschulen, in
denen alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen und
kulturellen Herkunft gemeinsam und zugleich individuell lernen.
({4})
Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Berliner Gemeinschaftsschulen machen deutlich, dass dieser Weg
erfolgreich für alle Kinder ist. Meine persönliche Erfahrung ist: Die Tragfähigkeit einer Brücke wird nicht an
der Stärke des dicksten Pfeilers gemessen, sondern an
der Tragfähigkeit des schwächsten.
({5})
Das gilt insbesondere in der Bildungspolitik. Um es mit
den Worten des Philosophen Richard David Precht auszudrücken: „Wir brauchen keine weitere Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!“
Vielen Dank.
({6})
Auch Ihnen, Frau Kollegin Tank, herzliche Glückwünsche zu Ihrer ersten Rede und alle guten Wünsche
für die weitere Arbeit hier im Hause.
({0})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. Er hat, glaube ich,
schon einmal geredet.
({1})
Durchaus, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
PISA-Schock aus dem Jahr 2000 war - das ist heute verschiedentlich deutlich gemacht worden - offensichtlich
ein heilsamer Schock. Denn es hat sich in den letzten
zwölf Jahren viel bewegt, wenn auch - das muss man sagen - Menschen wie ich, die ein bisschen ungeduldiger
sind, sich manchmal darüber wundern, wie lange vieles
braucht. Aber ein Bildungssystem umzusteuern, das ausweislich der Befunde der PISA-Studie im Jahr 2000 offensichtlich in einer schweren Krise war, dauert. Dafür
ist vielen zu danken: Erzieherinnen und Erziehern - das
ist passiert - wie auch Lehrerinnen und Lehrern.
Ich möchte aber ausdrücklich auch den Kommunen
und den Bundesländern danken, die sich an die Arbeit
gemacht haben. Natürlich sind die Erfolge der letzten
zwölf Jahre nicht vom Himmel gefallen. Auch der Bund
hat sich beteiligt, zum Beispiel - weil das bisher noch
keine Erwähnung fand, Frau Wanka - mit einem 4 Milliarden Euro schweren Ganztagsschulprogramm. Dazu
sage ich den Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Das
waren wir gemeinsam. Darüber könnt ihr euch durchaus
freuen.
Hubertus Heil ({0})
({1})
Ich glaube aber, der wichtigste Befund ist - das ist in
einigen Reden heute deutlich geworden -, dass die
PISA-Debatte in den letzten zwölf Jahren auch zu einer
Entideologisierung in der bildungspolitischen Debatte
geführt hat. Auch das war heute spürbar.
Ich erinnere mich an westdeutsche Debatten in den
70er- und 80er-Jahren über Bildungspolitik in Deutschland, Frau Wanka. Um es etwas zu karikieren: Konservative haben damals immer gesagt: „Leistung und Elite
sind wichtig“, Sozialdemokraten haben gesagt: „Chancengleichheit ist wichtig.“ PISA hat uns gelehrt, dass
Chancengleichheit und Leistungsstärke keine Gegensätze sind, sondern wechselseitige Bedingung.
({2})
Wir brauchen einen breiten Zugang zu Bildungschancen
in diesem Land, damit Spitzenleistungen möglich werden, ähnlich wie im Sport: ohne Breitensport kein Spitzensport.
({3})
Oder wie bei Pyramiden: ohne Breite keine Spitze. Das
ist das Wichtigste, meine Damen und Herren.
Die Konsequenzen daraus sind, dass sich in Deutschland herumgesprochen hat, dass die frühe und individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen, verbunden mit längerem gemeinsamen Lernen, der Schlüssel
dazu ist, die Bildungschancen in diesem Land zu verbessern und auch die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems nach vorne zu bringen.
({4})
Deshalb, Frau Wanka, habe ich mich zunächst einmal
über Ihre Rede gefreut. Wir wünschen Ihnen in diesem
Amt in der gemeinsamen Zusammenarbeit alles erdenklich Gute, auch im Interesse der Bildungsrepublik
Deutschland, die wir erst werden müssen. Aber ich füge
hinzu, dass wir uns vor allen Dingen darüber freuen,
dass wir mit Ihnen und Ihrer Kompetenz in Verbindung
mit anderen Kolleginnen im Bundeskabinett, zum Beispiel mit der Kollegin Manuela Schwesig, die im Wesentlichen auch Verantwortung für den Bereich der frühkindlichen Förderung trägt, mit der Kollegin Aydan
Özoğuz, die als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung ihren Beitrag leisten wird, und mit Andrea
Nahles als Bundesarbeits- und -sozialministerin, die für
den Bereich Weiterbildung und Qualifizierung auch eine
wichtige Verantwortung trägt, ein starkes Team von
Frauen in dieser Großen Koalition haben, die wir als Regierungsfraktion unterstützen wollen.
({5})
Wir müssen die Bildungschancen im gesamten Lebensverlauf nutzen, von der frühen Förderung über den
schulischen Bereich, für den die Länder Hauptverantwortung tragen - diese werden wir als Bund unterstützen -, und die berufliche Bildung bis hin zu Hochschulbildung und Weiterbildung. Wir müssen den Geist von
PISA begreifen und lebensbegleitendes Lernen im Blick
haben.
Um es konkret zu machen: Wir haben uns vorgenommen - wie Sie wissen, hätten wir uns mehr vorstellen
können, was die Ausstattung betrifft -, mehr in Bildung
zu investieren. Wir werden darüber zu diskutieren haben, wie wir den Koalitionsvertrag umzusetzen und die
Verteilung vorzunehmen haben. Natürlich ist der Krippenausbau nicht nur hinsichtlich der Quantität, sondern
auch hinsichtlich der Qualität nach wie vor ein wichtiges
Thema. Hier wollen wir die Kommunen unterstützen,
das Richtige zu tun. Es wird kein Ganztagsschulprogramm im klassischen Sinne wie zu rot-grüner Zeit
geben - das bedauere ich; das will ich ganz deutlich sagen -, weil wir es nicht geschafft haben, das Kooperationsverbot insgesamt zu revidieren. Aber wir können,
werden und wollen Mittel finden, um Kommunen und
Länder beim Ausbau der Ganztagsbetreuung, zum Beispiel bei der Schulsozialarbeit, besser zu unterstützen.
Auch da haben wir als Bund Verantwortung.
({6})
Wir wollen für eine differenzierte Debatte in diesem
Land sorgen.
({7})
Ja, wir haben Fortschritte erreicht, nicht nur bei den
Leistungen, sondern auch bei der Minderung der sozialen Selektivität. Diese hat nun weniger Einfluss auf die
Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen in diesem Land als vor zwölf Jahren. Aber ich
sage ganz deutlich: Das ist kein Grund, im Bereich der
Bildungspolitik in Deutschland die rosarote Brille aufzusetzen. Nach wie vor entscheiden der Bildungshintergrund und der soziale Hintergrund zu stark über die
Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen in diesem Land.
({8})
Damit werden wir uns als Sozialdemokraten nicht abfinden. Wir haben ein anderes Menschenbild.
({9})
Es geht im Kern nicht nur um Gerechtigkeit, sondern
auch um Freiheit. Es geht um die Frage, ob wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass das Leben für die Menschen
offen ist, ob jeder in diesem Land eine Chance hat. Wir
wollen nicht, dass Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe
den Lebensweg bestimmen und die Menschen auf ihre
Verhältnisse festnageln. Wir wollen, dass Menschen
selbstbestimmt ihren eigenen Lebensweg beschreiten
können, dass sie Autor ihres eigenen Lebens sind. Bei
Chancengleichheit geht es aber auch um ökonomische
Aspekte. Angesichts der demografischen Entwicklung
können wir es uns schlicht und ergreifend wirtschaftlich
nicht leisten, Kinder und Jugendliche in diesem Land zurückzulassen. Die entscheidende Frage lautet, welches
Menschenbild wir haben und wie wir in dieser GesellHubertus Heil ({10})
schaft miteinander umgehen. Wir arbeiten daran, dass
Selbstbestimmung über Bildungschancen möglich ist.
Der große liberale Arzt Rudolf Virchow hat einmal
den schönen Satz gesagt - er wird ihm zumindest zugeschrieben -, dass Freiheit zwei Töchter habe, nämlich
Bildung und Gesundheit. Ich finde, das ist ein schönes
Motto für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen.
Lassen Sie uns daran arbeiten, Frau Ministerin Wanka,
dass in diesem Land tatsächlich mehr freie Entfaltung
der Persönlichkeit über bessere Bildungschancen ermöglicht wird. Das geht früh los. Wir müssen Eltern besser
unterstützen. Wir müssen im Krippenbereich und bei den
Kitas noch viel tun. Wir müssen weiter daran arbeiten,
dass die Schnittstellen zwischen den Bildungsinstitutionen, zwischen der frühkindlichen Förderung und den
Grundschulen beispielsweise - hier hat sich schon viel
getan -, besser werden. Bund, Länder und Kommunen
müssen gemeinsam Lehrerinnen und Lehrern den Rücken stärken. Die Lehrerausbildung hat sich bereits verändert, muss sich aber weiter verändern. Wir brauchen
Ganztagsschulangebote einschließlich Schulsozialarbeit
in diesem Land. Wir müssen uns endlich wieder bewusst
werden, welchen Stellenwert die berufliche Erstausbildung im dualen System in diesem Land hat. Das ist jahrelang nicht ausreichend gewürdigt worden.
({11})
Wir haben Fortschritte bei der Durchlässigkeit zum
Hochschulstudium zugunsten derjenigen erzielt, die
nicht die allgemeine Hochschulreife erlangt haben; das
ist keine Frage. Aber auch hier können wir noch mehr
tun. Wir müssen darüber reden, wie wir ein berufsbegleitendes Studium ermöglichen können. Wir dürfen das
Wort „Weiterbildung“ nicht nur im Munde führen, sondern müssen sie auch institutionalisieren und dabei die
verschiedenen Partner finanziell unterstützen.
Beim Thema Weiterbildung gilt in Deutschland gewissermaßen das NATO-Prinzip. Das hat nichts mit Sicherheitspolitik zu tun, sondern NATO steht hier für No
Action, Talk Only. Wir sprechen unglaublich viel über
Weiterbildung. Aber in diesem Land ist zu wenig passiert. Jeder spricht von lebensbegleitendem Lernen. Aber
weder die Kultur noch die Institutionen noch die Finanzierung der Weiterbildung in diesem Land sind auskömmlich. Da kann man eine ganze Menge mehr tun.
Wir werden in diesen nächsten vier Jahren einiges
nach vorne bewegen. Ich bin mir sicher, dass wir am
Ende dieser Legislaturperiode feststellen können, dass
wir auf dem Weg, den wir seit 2000 eingeschlagen haben, ein gutes Stück vorangekommen sind.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Katja Dörner erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Hubertus Heil, das waren jetzt
viele gut klingende Ankündigungen, aber nichtsdestotrotz gibt der Koalitionsvertrag der Großen Koalition das
nicht her, was Sie hier alles ausgeführt haben. Ich weiß,
dass Sie immer etwas empfindlich reagieren, aber Sie
müssen damit leben, dass wir Sie auch damit konfrontieren, was Sie vor der Wahl gesagt haben, was jetzt tatsächlich im Koalitionsvertrag steht und was wir in den
nächsten Jahren eben gerade nicht erwarten können.
({0})
Nichtsdestotrotz konnte man in den bisherigen Debattenbeiträgen sehr wohl einen gemeinsamen Tenor erkennen. Die PISA-Ergebnisse spiegeln eine gute Tendenz
wider, es geht aufwärts. Selbstverständlich geht dafür
unser Dank an die vielen Hunderttausend Lehrerinnen
und Lehrer, die in ganz Deutschland, oft unter gar nicht
so einfachen Bedingungen, einen Superjob machen. Vielen Dank an diese engagierten Menschen in unserem
Land!
({1})
Aber es gab auch den gemeinsamen Tenor, dass wir
vor sehr großen Herausforderungen stehen. Wenn man
sich jetzt anschaut, was die unlängst abgewählte
schwarz-gelbe Bundesregierung zu den Verbesserungen, die bei PISA festgestellt werden konnten, beigetragen hat, dann muss man sagen: Sie hat sehr wenig, sie
hat quasi nichts beigetragen; und das nicht einmal, weil
sie nicht gewollt hätte. Ob sie gewollt hätte, kann man
vielleicht bezweifeln, aber nicht mit Sicherheit sagen;
denn sie hat zu dieser Leistungsverbesserung gar nichts
beitragen dürfen. Das ist ein absolut absurder Zustand,
und der nennt sich Kooperationsverbot.
({2})
Im Wahlprogramm der SPD steht der Satz: „Mit dem
Kooperationsverbot in der Bildung ist die Politik einen
Irrweg gegangen.“
({3})
Das stimmt. Der Bund hat sich völlig ohne Not die
Hände gefesselt, und es wäre einfach dringend an der
Zeit, diesen zentralen Fehler zu korrigieren.
({4})
Es kommt nicht von ungefähr, dass Hubertus Heil
eben das rot-grüne Ganztagsschulprogramm hier als eine
richtige Weichenstellung zur Verbesserung der schulischen Bildung in Deutschland angeführt hat. Aber ein
solches Ganztagsschulprogramm wäre heute aufgrund
des Kooperationsverbotes überhaupt nicht mehr möglich. Das ist doch absurd.
Die Große Koalition hat offensichtlich nicht vor, diesen Fehler zu korrigieren. Das heißt eben auch, dass die
aktuelle Bundesregierung mit diesen überall beschworenen Herausforderungen in der Bildung nichts oder jedenfalls nicht viel zu tun haben wird, weil sie es gar nicht
darf. Von der Abschaffung des Kooperationsverbotes ist
im Koalitionsvertrag nicht die Rede, und das trotz der
riesigen gesellschaftlichen Unterstützung, die diese Forderung hat. Das geht vom BDI über die Lehrergewerkschaften und Sozialverbände bis hin zu den Gewerkschaften. Wo sonst gibt es eine so große Unterstützung
für eine notwendige Reform? Hier wird einfach eine riesige Chance durch die Große Koalition vertan, die mit
ihrer Mehrheit und natürlich sehr gerne mit unserer Unterstützung ihren Beitrag dafür leisten könnte, dass sich
der Bund für den Ausbau der Ganztagsschulen, für die
Inklusion in den Schulen, für die kulturelle Bildung und
vieles mehr engagieren könnte. Das wäre nämlich dringend nötig.
({5})
Frau Ministerin Wanka hat in ihrer Pressekonferenz
zur Vorstellung der PISA-Studie das Sinus-Programm,
ein Programm zur Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts, ausdrücklich als Begründung für das gute Abschneiden Deutschlands in der
Mathematik herangezogen. Sinus war unstrittig ein großer Erfolg. Aber was ist mit dem Sinus-Programm passiert? Das Bund-Länder-Programm musste aufgrund des
Kooperationsverbotes beendet werden. Auch das zeigt
doch, wie absurd dieses Kooperationsverbot ist. Deshalb, Frau Ministerin, lassen wir es auch nicht zu, dass
Sie sich mit den PISA-Ergebnissen wie mit fremden Federn schmücken.
({6})
Es gibt aber durchaus Grund zur Hoffnung. Ich habe
gestern an der Übergabe der Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz an die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann teilgenommen. Es hat mich
sehr gefreut, dass der scheidende Präsident Stephan
Dorgerloh, Kultusminister aus Sachsen-Anhalt, auf großer Bühne gesagt hat, dass die Kultusministerkonferenz
beim Thema Kooperationsverbot am Ball bleiben will.
Das hat er übrigens unter dem Applaus auch der bayerischen Delegation getan. An dieser Stelle besteht also
Grund zur Hoffnung.
({7})
Herr Dorgerloh hat auch süffisant darauf hingewiesen, im vorherigen Koalitionsvertrag seien die großen
Reformen, beispielsweise die der Bundeswehr, gar nicht
enthalten gewesen und deshalb solle man Hoffnung haben. Wir sind am Anfang der Legislaturperiode. Man
soll den Tag auch nicht vor dem Abend tadeln - so muss
man in diesem Fall wohl sagen -; vielleicht erleben wir
die erhofften Reformen noch. Aber klar ist, Frau Wanka:
Hier müssen Sie als Ministerin, hier müssen die Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD tatsächlich aktiv werden; sonst tut sich nichts.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Bei
aller vorsichtigen Freude über die PISA-Ergebnisse
möchte ich auf eine Entwicklung hinweisen, die wir
dringend im Auge behalten müssen, nämlich auf die Entwicklung der mathematischen Kompetenzen der Mädchen. Es ist nicht nur so, dass die Jungen 14 Punkte vor
den Mädchen liegen, sondern auch so, dass sich der Abstand zwischen Jungen und Mädchen in den letzten Jahren sogar vergrößert hat. Das ist in einem Land, das seit
über acht Jahren von einer Physikerin regiert wird und
eine Diplom-Mathematikerin als Bildungsministerin hat,
absolut nicht hinnehmbar. Ich kann die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder nur dringend auffordern, hier eine gründliche Ursachenforschung zu betreiben und die Ärmel hochzukrempeln. Ein BundLänder-Programm wäre hier vielleicht genau das Richtige, ist aber absurderweise verboten. Es wird Zeit, dass
sich das ändert.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Michael Kretschmer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Ergebnisse der PISA-Studie 2012 stimmen
hoffnungsfroh. Wer gestern bei der Übergabe der Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz dabei war, dem
wird eines in Erinnerung bleiben, nämlich die Beschreibung des Generalsekretärs der Kultusministerkonferenz,
dass es in den vergangenen zehn Jahren immer wieder so
war, dass viele deutsche Bildungspolitiker nach Skandinavien gependelt sind, um zu erfahren, warum diese
Länder in den PISA-Studien erfolgreich waren.
Seit einiger Zeit pilgert man in die andere Richtung,
nämlich aus Schweden und anderen skandinavischen
Ländern nach Deutschland mit der Frage: Wie ist es
möglich, dass ihr in so kurzer Zeit so sehr aufholt, so
weit nach vorn kommt? Was ist das Erfolgsrezept der
deutschen Bildungspolitik? Das ist etwas, das beachtlich
ist. Es zeigt: Wenn man sich auf das Wesentliche konzentriert, Bildungspolitik nicht hinter ideologischen
Scheuklappen betreibt, sondern als Wissenschaft - was
Bildung ja auch ist -, kann man große Erfolge erzielen.
Meine Damen und Herren, bei Mathematik sind wir
in der Spitzengruppe; das Leseverständnis hat deutlich
zugenommen. Das sind natürlich ganz wesentliche Voraussetzungen für eine gute Zukunft in unserem Land.
Genauso positiv ist, dass der Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft deutlich abgenommen hat. Ich finde, es ist jetzt an der Zeit, auch von dieser Stelle immer wieder die Erwartung an die junge
Generation, an die Kinder, an die Jugendlichen, an die
Eltern zu formulieren, sich anzustrengen. Bildung ohne
eigene Anstrengung funktioniert nicht. Das muss auch
eine Erwartungshaltung der Gesellschaft an die junge
Generation sein.
({0})
Zu keiner Zeit hatten junge Menschen in der Bundesrepublik Deutschland so große Chancen, so viele Möglichkeiten. Es liegt im Wesentlichen an ihnen selbst, ob
sie diese ergreifen und realisieren oder nicht. Bildungspolitik eben nicht hinter ideologischen Scheuklappen zu
betreiben, sondern pragmatisch und an der Sache orientiert, das ist der Grund dafür, warum wir so deutlich nach
vorn gekommen sind. Frühkindliche Bildung hatte schon
in den vergangenen Jahren ganz klar Priorität, und sie
wird auch in der Zukunft Priorität haben.
({1})
Man muss natürlich kritisch hinterfragen, ob es richtig ist, die Priorität in diesem Bereich auf kostenfreie
Kinderbetreuung im dritten Kindergartenjahr oder noch
früher zu legen, oder ob es sinnvoller ist, in die Qualität
von Kindergärten zu investieren. Letzteres ist der richtige Weg; das sollte Priorität in den deutschen Bundesländern haben.
({2})
Ein großes Thema, das vor uns liegt, ist das Thema
Inklusion. Auch hier wird sich sehr deutlich zeigen, wer
das Thema ernst nimmt, wer in diesen Bereich investiert
und welche Bundesländer sich damit zufriedengeben, Inklusion als Ziel ihrer Bildungspolitik zu definieren, statt
die notwendigen Voraussetzungen zur Umsetzung dieses
Ziels zu schaffen.
Inklusive Bildung benötigt nicht weniger Ressourcen,
sondern mindestens die gleichen, wenn nicht sogar
mehr, aller Voraussicht nach aber andere Voraussetzungen. Deswegen hat die frühere Bundesregierung ebenso
wie diese Koalition gesagt: Wir wollen eine eigene „Exzellenzinitiative Lehrerbildung“ auf den Weg bringen,
deren Schwerpunkt darauf liegt, Lehrerinnen und Lehrer
zu befähigen, auch mit dieser neuen Herausforderung
der Inklusion umzugehen. Unsere Erwartung an die
deutschen Bundesländer muss sein, die Lehrerinnen und
Lehrer bei der großen Aufgabe „inklusive Bildung“
nicht alleinzulassen, sondern die Voraussetzungen für
ihre Bewältigung zu schaffen und mit einem vernünftigen Augenmaß dieses wichtige Anliegen zu betreiben.
({3})
Wir werden an dieser Stelle in wenigen Jahren darüber diskutieren, wo das gelungen ist und wo nicht. Es
kann nicht sein, dass die deutschen Bundesländer, die
sich jetzt einen schlanken Fuß machen und nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, in einigen Jahren den
Bund auffordern, mehr Geld für Schulsozialarbeit,
Schulpsychologen oder Ähnliches bereitzustellen. Nein,
Bildung ist eine Länderaufgabe. Gerade beim Thema Inklusion wird sich zeigen, wer das ernst nimmt und wer
nicht.
({4})
Wir haben trotz des Kooperationsverbots und allem
anderen in den vergangenen acht Jahren so viel Geld in
die Bildung investiert wie zu keiner anderen Zeit in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben
die deutschen Bundesländer bei ihren Bildungsanstrengungen in einem Maße unterstützt, wie es zu keiner anderen Zeit stattgefunden hat. Insofern ist das Gerede
über das Kooperationsverbot wieder nur eine ideologische Scheuklappe. Wir haben das Mögliche getan, und
wir werden das auch in der Zukunft tun. Die Zahlen sind
ganz eindeutig. Wir werden diesen Weg auch in Zukunft
fortsetzen.
Ein großer Schwerpunkt in den kommenden Jahren
wird die Berufsorientierung sein. Es geht darum, jungen
Leuten die Begeisterung für Mathematik, Naturwissenschaften und Technik zu vermitteln und ihnen die
Chance zu geben, in diesem Bereich, der für die deutsche Volkswirtschaft, für unser Gemeinwesen, für unseren Wohlstand auch in den kommenden Jahrzehnten so
wichtig sein wird, einen Beruf zu ergreifen. Das setzt
aber voraus, dass man in Gesamtdeutschland, von
St. Wendel im Saarland bis Seifhennersdorf bei mir im
Wahlkreis, auch tatsächlich einen vernünftigen Unterricht in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik
im Lehrplan verankert. Das ist auch wieder eine Aufgabe der Bundesländer, die gar nicht mit mehr Geld zu
tun hat, sondern mit einem Verständnis davon, was notwendig ist.
Jugendliche, die in der elften oder zwölften Klasse
keinen oder einen Physik- oder Mathematikunterricht
von minderer Qualität hatten, werden nie Ingenieure
werden. Deswegen müssen wir in diesen Bereich investieren, und wir müssen dies auch von den deutschen
Bundesländern fordern.
({5})
Wir haben in der Vergangenheit mit dem „Haus der
kleinen Forscher“ eine großartige Initiative gestartet und
werden sie auch in der Zukunft fortsetzen. Derzeit gibt
es in der Bundesrepublik Deutschland 26 000 Krippen,
Kitas und Horte und 230 lokale Netzwerke, die sich darum bemühen, jungen Leuten die Begeisterung für Mathematik, Naturwissenschaften und Technik zu vermitteln. An vielen Stellen gibt es großartige Initiativen.
Wettbewerbe wie „Jugend forscht“ wollen wir fortsetzen. Die Erfolge sind sichtbar, gerade bei den jungen
Frauen, bei den Mädchen. Der Anteil derer, die ein naturwissenschaftliches Studium aufnehmen, ist kontinuierlich von 35 Prozent im Jahr 2000 auf 41 Prozent im
Jahr 2010 gestiegen. Es geht also in die richtige Richtung. Machen wir weiter.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Daniela De
Ridder für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern
wir uns noch einmal ganz kurz an die Ergebnisse und an
die Debatte zur ersten PISA-Studie.
In der Tat, Herr Rupprecht, sie bescheinigt Deutschland keineswegs, dass wir das Land der Denker und
Dichter sind, sondern eher das der Schulversager. Ähnlich wie damals der Sputnik-Schock hatte die PISA-Studie eine rege Debatte und Diskussion zur Folge.
Ja, Frau Hein, die Ergebnisse der PISA-Studie stellten
dem deutschen Bildungssystem ein sträfliches Armutszeugnis aus. Jeder vierte 15-Jährige, so erfuhren wir,
konnte weder richtig lesen noch schreiben. Das ist ein
trauriger Befund. Nur in einem Punkt lag Deutschland
bei der ersten PISA-Studie weit vorn: bei der mangelnden Gerechtigkeit in Bezug auf Bildungschancen. Mehr
noch: In kaum einem anderen Land war die Schulleistung so eng an die soziale Herkunft gekoppelt wie in
Deutschland.
({0})
Nach einer ersten Schockstarre entwickelte sich jedoch eine intensive Diskussion über die Rahmenbedingungen für gute Bildung. Im Übrigen war es die damalige rot-grüne Regierung, die als Reaktion auf PISA den
Ausbau der Ganztagsschulen in den Ländern mit 4 Milliarden Euro unterstützte. Dies wiederum bewirkte eine
Verdreifachung der Ganztagsschulangebote.
Nun zeigen die Ergebnisse der vorliegenden fünften
PISA-Studie zunächst eine positive und erfreuliche Tendenz. Deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden
heute in allen Kompetenzbereichen deutlich besser ab.
Dies beweist, dass unsere Anstrengungen in den letzten
Jahren, liebe Frau Wanka, erste Erfolge verzeichnen
können. Allen, die daran mitgewirkt haben - ich vermute, es war auch die eine oder andere Mutter, der eine
oder andere Vater dabei -, gilt an dieser Stelle unser
herzlicher Dank.
({1})
Gleichwohl gibt es leider keinen Anlass, sich süffisant zurückzulehnen. Ich will dies an drei Punkten festmachen, bei denen ich noch deutlichen Handlungsbedarf
sehe.
Erstens brauchen wir endlich echte Chancengleichheit.
({2})
Es ist unbestritten, dass der familiäre Hintergrund eines
Kindes einen immensen Einfluss auf dessen Bildungserfolg und damit auf dessen Lebenschancen hat. Das gilt
insbesondere für Kinder aus sozial und ökonomisch
schwächeren Familien. Das Ziel eines jeden Bildungssystems muss es doch sein, allen Kindern die gleichen
Chancen und Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Potenziale und Talente einzuräumen.
Ein zweiter Punkt, auf den ich kurz eingehen möchte,
betrifft die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Auch hier haben wir einen deutlichen Kompetenzzuwachs zu verzeichnen. Allerdings verfehlen noch
immer fast 30 Prozent der in Deutschland geborenen
Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in Mathematik das
Grundkompetenzniveau II. Der Anteil ist damit doppelt
so hoch wie bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Hier sind es 14 Prozent. Ich meine, wir brauchen
zwingend das, was der Migrationsexperte Klaus Bade
eine „nachholende Integrationspolitik“ nennt.
({3})
Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker sind gefordert, hier ganz deutlich ihren Beitrag zu leisten.
Bei der frühkindlichen Förderung zu beginnen, ist ein
Lösungsansatz für die Problemlagen. Sie kann der Benachteiligung von Kindern wirkungsvoll entgegenwirken; denn in Krippen und Kitas wird der Grundstein für
den späteren Bildungsweg gelegt, getreu dem Motto
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.
Allerdings, liebe Frau Wanka, sollten wir auch an anderer Stelle noch einmal über Durchlässigkeit und lebenslanges Lernen sprechen; da bin ich sehr an Ihrer Seite.
({4})
Dies gilt nicht nur für Kevin und Chantal, die noch ein
Leben nach der Schule haben, das gilt auch für Ayse und
Mustafa. Deshalb brauchen wir in den Kitas eine gute
Personalausstattung. Dabei ist entscheidend, dass der
Besuch kostenfrei ist; denn Bildung darf nicht vom
Geldbeutel der Eltern abhängen. Ferner bedarf es enger
Bildungskooperationen zwischen Bund, Ländern und
Kommunen.
Ja, auch ich hätte mir einen weiteren flächendeckenden Ausbau guter Ganztagsschulangebote gewünscht.
Ja, was wir brauchen, ist eine klassische Bund-LänderVereinbarung mit einer entsprechenden Verfassungsänderung. Aber, liebe Frau Dörner, es soll ja auch grüne
Landesfürsten geben, die sich eher als Verhinderer gerieren.
({5})
Ja, unser Ziel muss weiterhin sein, alle Schulen in
Deutschland zu Ganztagsschulen weiterzuentwickeln.
Die Zeiten, in denen darüber ein ideologischer Streit geführt wird, sind nun hoffentlich passé.
Lassen Sie mich einen dritten und letzten Punkt ansprechen. Das ist der große Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. PISA lehrt uns, dass wir Mädchen die
Furcht vor dem Angstfach Mathematik nehmen müssen
und die Jungen wiederum ermutigen sollten, auch einmal ein Buch in die Hand zu nehmen, das nicht zur
Schullektüre gehört. Schon aus Gründen des Fachkräftemangels muss es uns in Zukunft stärker gelingen, MädDr. Daniela De Ridder
chen für die MINT-Fächer an den allgemeinbildenden
Schulen zu begeistern und gezielt zu fördern. Auch hier
braucht es in der Tat weitere Unterstützung; das SinusProgramm wurde schon angesprochen.
Wir müssen also alle gemeinsam - alle, die wir hier
sitzen; das sind wir unseren Kindern schuldig - die richtigen Konsequenzen aus der PISA-Studie ziehen. Lassen
Sie uns deshalb gemeinsam neue Wege in der Bildungspolitik gehen!
Gestatten Sie mir ganz zum Schluss ein Zitat des Philosophen Georg Christoph Lichtenberg, der da sagte:
Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders
wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser
werden soll.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Frau Kollegin De Ridder, ich hatte gehofft, dass Sie
sich ganz am Schluss beim Präsidenten für den Redezeitzuschlag hatten bedanken wollen,
({0})
den ich für die erste Rede besonders gern gewährt habe,
verbunden mit allen guten Wünschen und herzlicher
Gratulation.
({1})
Für den Kollegen Uwe Schummer gilt das nicht. Er
hat genau sechs Minuten.
({2})
Bitte schön.
({3})
Vielen Dank; immerhin. - Verehrtes Präsidium!
Meine Damen und Herren! Im 13. Jahr von PISA-Ergebnissen kann man - das ist das Entscheidende - kein Rauf
und Runter, sondern eine stetige, eine konsequente weitere Verbesserung der deutschen Schullandschaft feststellen. Das ist ein gemeinsamer Erfolg von Eltern,
Lehrern, allen, die sich hier bemühen, die im Bildungsbereich unterwegs sind, aber auch ein Erfolg der verschiedenen politischen Kräfte, und zwar auch in unserem Bildungsföderalismus. Das heißt, Erfolg haben wir
dann, wenn jeder mit seiner Kompetenz bei seinen Aufgaben bereit ist, abgestimmt mit den anderen, in die richtige Richtung zu gehen.
Dass das möglich ist, das zeigte der Bildungsgipfel
von 2008; das war ein ganz wichtiger Termin. Da wurde
zwischen Bund und Ländern vereinbart, dass wir an erster Stelle dafür sorgen, dass 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung, für Zukunftsaufgaben bereitgestellt werden. Das ist eine ganz
wichtige Leistung. Darauf hat Annette Schavan als
Ministerin massiv gedrängt, und sie hat das auch mit
umgesetzt. Wir haben diesen Anteil von 10 Prozent des
BIP auch erreicht.
Es wurde miteinander vereinbart, dass, bevor es vom
Kindergarten in die Schule geht, ein Sprachtest durchgeführt werden soll. Was soll ein Kind in der Schule, wenn
es im Unterricht nichts versteht? Sprache ist die Voraussetzung für Lernerfolg. Das ist in allen Bundesländern so
weit umgesetzt worden.
Wir haben auf dem Bildungsgipfel gemeinsam vereinbart, die Quote der Schulabbrecher zu senken - von
über 8 Prozent ist sie auf jetzt 5,9 Prozent gefallen - und
die Quote der Studienanfänger zu erhöhen; sie hat sich
seit 2008 von 40 Prozent auf 53, 54 Prozent verbessert.
Die OECD nimmt diese Entwicklung in Deutschland zur
Kenntnis.
Wichtig ist aber auch, dass sie das duale Ausbildungssystem
({0})
in der beruflichen Bildung zur Kenntnis nimmt. Wir haben hier im Deutschen Bundestag gemeinsam mit dafür
gesorgt, dass nach dem Europäischen Qualifikationsrahmen der Bachelor im akademischen Bereich mit den
Weiterbildungsberufen Techniker und Meister auf eine
Wertigkeitsstufe gestellt worden ist. Wir haben also
Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen
Bildung im Europäischen wie im Deutschen Qualifikationsrahmen verankert.
Hier ist entscheidend, dass wir im europäischen Bildungsraum zwischen Portugal und Malta nicht mehr fragen: „Woher kommst du?“, sondern: „Was kannst du für
das Unternehmen?“, dass wir aber auch in Deutschland
nicht mehr fragen: „Woher kommst du, von der beruflichen, akademischen, schulischen Qualifikation her?“,
sondern: „Was kannst du im Beruf?“
Ich selbst habe Groß- und Außenhandelskaufmann
gelernt; ich kann eine Eröffnungsbilanz erstellen. Wenn
ich sie erstellen kann, ist es nicht wichtig, ob ich das an
der Fakultät einer Universität, in der Handelsschule oder
im Betrieb gelernt habe; ich kann es. Es ist ein Stück
weit auch eine Frage der Emanzipation, dass wir hier
Grenzen überwinden und fragen: „Was sind letztendlich
deine Kompetenzen, deine Ergebnisse?
({1})
Was kannst du mit einbringen?“ und dann alle Chancen
im Betrieb, in der Wirtschaft, im Leben geben.
({2})
Wenn wir den Ehrgeiz haben sollten, bei PISA ganz
vorne zu landen, sollten wir auch einmal schauen, ob die
Bildungssystematik, die in asiatischen Ländern wie Südkorea, Japan und China herrscht, die sehr testorientiert
ist und von einer Drillpädagogik bestimmt wird, unser
Weg sein kann, ob wir wirklich diesen Weg gehen wollen.
({3})
Der Schulalltag eines Jugendlichen in Südkorea beginnt
morgens um 8 Uhr und geht bis 16 Uhr; danach ist eine
Stunde Pause, und dann geht es von 17 bis 20 Uhr weiter, und das an sechs Tagen in der Woche. Ein zwölfstündiger Bildungstag würde bei uns in Deutschland aus guten Gründen unter das Jugendarbeitsschutzgesetz - oder
vielleicht ein Jugendbildungsschutzgesetz - fallen.
({4})
Ich denke, dass wir auch die besondere Form des Lernens - mit Kreativität, mit freiem Willen und mit Persönlichkeitsentwicklung, was man eben nicht so messen
kann wie andere Ergebnisse der PISA-Studie - in die
Waagschale werfen müssen.
({5})
Natürlich brauchen wir Disziplin, Ordnung und klare
Bewertungssysteme. Wenn die Grünen in RheinlandPfalz jetzt sagen, die Noten sollten generell abgeschafft
werden,
({6})
dann ist das, glaube ich, kein guter Weg. Man kann es
auch in die andere Richtung übertreiben.
({7})
Ich habe früher Leichtathletik gemacht bei Bayer
Uerdingen. Auf Leichtathletik übertragen würde der
Vorschlag der Grünen ungefähr bedeuten: Bei einem
400-Meter-Lauf werden nun individuelle Fortschrittsberichte über den Laufstil, den Verlauf und die Körperhaltung erstellt statt einer klaren wettbewerblichen Bewertung in Form der Zeitmessung.
({8})
Das ist kein weiterführender Weg. Stattdessen brauchen
wir ein vernünftiges Maß, um den 400-Meter-Lauf fair
bewerten zu können.
Meine lieben Freunde, wir haben in der Koalitionsvereinbarung miteinander beschlossen, dass wir mit der
Allianz für Aus- und Weiterbildung die Sozialpartner ein
Stück weit stärker in die bildungspolitische Verantwortung einbeziehen wollen, dass wir eine Ausbildungsgarantie aussprechen wollen, mit der die Jugendlichen spätestens vier Monate nach der Schulentlassung einen
Ausbildungsplatz erhalten sollen. Es ist für den Jugendlichen wichtig, dass er schon in der Schule weiß, dass er
nach der Schulentlassung einen Anschluss hat. Wir brauchen für die Jugendlichen nicht nur eine Abschlusskompetenz, sondern auch eine Anschlusskompetenz.
({9})
Wenn der Jugendliche weiß, dass er nach der Schule einen vernünftigen Ausbildungsplatz oder einen Studienplatz entsprechend seiner Qualifikation bekommen wird,
dann ist die Motivation, einen vernünftigen Abschluss
zu machen, sich auch in Physik und Chemie anzustrengen, umso stärker. Das ist die Vernetzung von Schulbildung, beruflicher und akademischer Bildung durch ein
gutes Übergangssystem.
Um das zu erreichen, haben wir uns als Koalition in
die Pflicht genommen. Wir werden unsere Positionen
durchsetzen und entsprechend liefern. Ich denke, es ist
ein gutes Zeichen, dass wir die erste große Debatte in der
ersten regulären Plenarwoche der neuen Legislaturperiode dem Thema Bildung gewidmet haben.
Alles Gute miteinander!
({10})
Nun erhält der Kollege Dr. Karamba Diaby für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle hier sind uns einig: Jedes Kind soll
die bestmöglichen Bildungschancen erhalten, egal ob
Mädchen oder Junge, egal ob die Familie aus dem Ruhrgebiet, aus dem Mansfelder Land oder, wie in meinem
Fall, aus der Region der Sahelzone im Senegal kommt,
egal woran die Eltern glauben und welcher Arbeit sie
nachgehen; das darf nicht ausschlaggebend dafür sein,
welchen Bildungserfolg ein Kind hat.
({0})
Herkunft darf also kein Schicksal sein.
Was sagt uns dazu der PISA-Bericht 2012? Wie sieht
es mit der Chancengleichheit in der Schulbildung in
Deutschland aus? Ich gehöre weder zu den Übereuphorischen noch zu den Pessimisten. Daher lassen Sie uns genau hinschauen; dann sehen wir: Es gibt positive Entwicklungen.
({1})
Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Familien machen Fortschritte, und Kinder aus Einwandererfamilien holen laut der PISA-Studie auf. Aber: Wir müssen die Ärmel hochkrempeln. Denn der Bildungserfolg
ist nicht jedem Kind in die Wiege gelegt. Als Sozialdemokrat ist mir der Aufstieg durch Bildung ein Herzensanliegen.
({2})
Die vorliegende PISA-Studie deutet an, dass es uns
ein wenig besser gelingt, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln.
({3})
Hier müssen wir aber noch besser werden.
({4})
Bisherige Verbesserungen sehe ich im Zusammenhang
mit unseren sozialdemokratischen Maßnahmen. Ich
nenne die Stichworte Ganztagsschulen, Schulsozialarbeit und flächendeckender Ausbau der Kindertagesbetreuung.
({5})
Meine Damen und Herren, ich selbst habe viele Jahre
in verschiedenen Bildungseinrichtungen und für verschiedene Bildungsprojekte mit Schulen zusammengearbeitet. Aus eigener Erfahrung kann ich Folgendes sagen:
Erstens. Sehr gut qualifizierte Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher sind die tragende Säule eines erfolgreichen Bildungssystems.
({6})
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Lehrkräften
sowie Erzieherinnen und Erziehern in Deutschland bedanken, die dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.
({7})
Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft; das ist
keine neue Erkenntnis. Unsere Klassenzimmer sind der
beste Beweis dafür: Sie sind nämlich bunt. Aber bei unseren Lehrerzimmern ist das noch zu selten der Fall.
({8})
Hier müssen wir mehr tun.
({9})
Wir brauchen mehr Pädagoginnen und Pädagogen sowie
Erzieherinnen und Erzieher mit einer Migrationsbiografie.
({10})
An der Stelle muss ich allerdings sagen: Es gibt bundesweite Unterschiede. Diese Defizite auszugleichen, ist
eine Aufgabe, die wir gemeinsam anzugehen haben.
({11})
Zweitens. Wir brauchen Bildungseinrichtungen, die
ergänzend zum Schulunterricht den Lernerfolg von
Schülerinnen und Schülern begleiten. Denn Schule
heißt: Talente entdecken und Fähigkeiten fördern. Die
Schulsozialarbeit ist ein bewährtes Instrument. Von ihr
profitieren alle: Schülerinnen und Schüler sowie die
Lehrkräfte. Daher brauchen wir kontinuierliche Förderstrukturen.
({12})
Drittens. Ein Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist
die ganztägige Betreuung in Kinderkrippen und Kindergärten und die damit verbundene Förderung der frühkindlichen Entwicklung. Eine besondere Aufgabe ist dabei die Förderung des Miteinanders, damit Markus, Igor
und Aminata schon im Sandkasten miteinander spielen
können.
({13})
Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass wir
die Länder und Kommunen tatkräftig finanziell unterstützen werden. Gute Bildungspolitik können wir nur im
Zusammenspiel aller politischen Ebenen umsetzen; das
hat auch meine Kollegin De Ridder in Ihrer Rede gesagt,
und das finde ich an dieser Stelle sehr wichtig.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wer meine
Biografie und meinen Werdegang kennt, weiß: Ich kann
heute nur vor Ihnen stehen, weil ich in verschiedenen
Phasen meines Lebens immer wieder eine Chance erhielt. Als Abgeordnete haben wir die Aufgabe, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, diese Chancen keinem Kind
zu verwehren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Auch Ihnen, Herr Kollege Diaby, herzliche Glückwünsche! Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit an der Bewältigung der von Ihnen und anderen in dieser Debatte
beschriebenen Herausforderungen.
({0})
Marcus Weinberg ist der nächste Redner für die CDU/
CSU.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Diaby, mehr jungen Menschen Chancen zu geben, wird unser Auftrag für die
nächsten vier Jahre sein. Das wollen wir gemeinsam tun.
Ich glaube, wenn man die Ergebnisse der PISA-Studie auswertet, dann erkennt man, dass man die Ergebnisse einordnen muss. Wenn man ein humanistisches
Bildungsideal hat, darf man an sich nicht nur die drei
Kompetenzfelder betrachten, sondern muss auch berücksichtigen, dass darüber hinaus viele weitere Aspekte im
Bildungsbereich eine Rolle spielen. Wenn man nun jedoch die PISA-Studie 2012 in Bezug auf die drei dezidierten Kompetenzfelder auswertet, erkennt man:
Erstens. Die Bildung in Deutschland ist besser geworden und in Teilen im internationalen Vergleich an der
Spitze.
Zweitens. Liebe Opposition, Sie müssen die PISAStudie wirklich genau lesen. „Schein“ hat zwar mehr
Buchstaben als „Sein“; aber wenn man die PISA-Studie
richtig interpretiert, erkennt man: Bildung in Deutschland ist gerechter geworden,
({0})
Marcus Weinberg ({1})
weil der soziale Status nicht mehr so dermaßen den Bildungserfolg bestimmt. Der Aufbruch im Jahr 2000 gerade auch der Bildungsbeauftragten und der Lehrer in
den Ländern und übrigens auch der Eltern, die sich natürlich gefragt haben, was möglicherweise im deutschen
Bildungssystem nicht so richtig läuft, war richtig. Der
Dank wurde mehrfach ausgesprochen; man kann ihn
gerne wiederholen. Er gilt den Bildungsbeteiligten, insbesondere denjenigen, die jeden Tag viele Stunden Bildung produzieren, nämlich den Lehrern.
Drittens. Auch die Politik hat reagiert, gerade auch
die Bundespolitik. Insbesondere seit 2005 wird Bildung
in diesem Land anders wahrgenommen.
({2})
Man erkennt, dass Bildung und Forschung, Herr
Dr. Rossmann, gerade seit 2005 ein anderes Bild von gesellschaftlicher Entwicklung widerspiegeln, mit den
Prioritäten, die wir 2005 gesetzt haben.
({3})
Wenn man sich die Ergebnisse anschaut, dann erkennt
man: In Mathematik und Naturwissenschaften - es wurde
bereits gesagt - sind wir bereits 2009 in die Spitzengruppe gerutscht. Es ist wie im Fußball: Es ist relativ einfach, Tabellenführer zu werden; aber die Herausforderung
ist, Tabellenführer zu bleiben oder oben mitzuspielen. Das
haben wir 2012 erneut geschafft. Im Bereich Lesen gibt
es zumindest zufriedenstellende Leistungen.
Die Problematik des internationalen Vergleichs wurde
bereits angesprochen. Ich halte es für äußerst problematisch, Lappland mit Berlin oder Duisburg zu vergleichen,
was die PISA-Studie ja auf gewisse Art und Weise tut.
Wir haben uns nach 2000 intensiv mit den Kollegen aus
Finnland unterhalten. Wir wollten wissen: Was ist denn
nun das Erfolgreiche am finnischen Schulsystem? Damals war Finnland der große Sieger der PISA-Studie. Da
haben viele Kollegen gesagt: Wir messen jetzt in Kompetenzfeldern, in Naturwissenschaften, in Mathematik,
im Lesen. Aber es gibt auch durchaus andere Bewertungskategorien. Da gibt es durchaus auch im deutschen
Bildungssystem große Vorteile, in den Bereichen der dualen Bildung, der sozialen Verantwortung und der Demokratiebildung.
Wenn man jetzt zwölf Jahre später auf die Ergebnisse
der fünften Studie schaut, dann stellt man fest: Es ist uns
gelungen, mit dem damaligen PISA-Sieger im Kompetenzfeld Mathematik fast gleichauf zu liegen und in den
Bereichen Lesen und Naturwissenschaften nur noch ein
halbes Jahr Rückstand zu haben.
Der Vergleich zwischen den Bundesländern ist
schwierig; Bayern, Sachsen, Bremen, Hamburg und
Nordrhein-Westfalen sind äußerst schwierig zu vergleichen, weil es historisch, kulturell und im Hinblick auf
die Herkunft der Menschen - Stichwort Migration - Unterschiede gibt. Wir haben heute den Sachsen-Like-Tag:
Wir loben zu Recht immer die Sachsen für ihr Bildungssystem und ihre Bildungsleistungen.
({4})
Der Kollege Kretschmer möge mir verzeihen, wenn ich
sage: Mehr Talent habt ihr nun nicht. Aber man muss
deutlich sagen: Ihr habt jahrelang nachgewiesen, dass
man mit einem klugen Bildungssystem Erfolge produzieren kann. Das hat Sachsen gemacht. Sachsen ist im
Bereich Mathematik zwei Jahre weiter als NordrheinWestfalen.
({5})
Weil Herr Rupprecht natürlich nicht seine eigenen bayerischen Kollegen loben darf, mache ich das sehr gerne:
Bayern ist Nordrhein-Westfalen im Bereich Naturwissenschaften ein Jahr voraus. Hier wirkt also tatsächlich
der politische Ansatz, Leistung zu honorieren, aber bei
den Investitionen im Bildungsbereich auch in die Breite
zu gehen.
({6})
Ich will auf einen Punkt kommen, der durch die
PISA-Studie 2012 widerlegt worden ist, was die Opposition sehr ärgert. Frau Gohlke hat im November 2012
Folgendes gesagt - ich darf sie, wie heute auch Frau
Hein, zitieren -:
In der Bundesrepublik werden Bildungschancen
vererbt … bildungsnah bleibt bildungsnah, und bildungsfern bleibt bildungsfern. Daran soll sich …
offensichtlich auch nichts ändern.
Das hat PISA widerlegt.
Ja, hier besteht weiterhin eine Herausforderung; wir
müssen nach wie vor erkennen, dass der soziale Status
den Bildungserfolg mitbestimmt. In der PISA-Studie
werden aber Prozesse beschrieben, und wenn wir uns
diese Prozesse anschauen, dann kommen wir zu dem Ergebnis - die Ministerin hat es gesagt -, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz
nicht mehr so stark ausgeprägt ist. Deutschland ist es als
eines der wenigen Länder gelungen, in allen Kategorien
bessere Ergebnisse zu erzielen und gleichzeitig dafür zu
sorgen, dass die Schere sich allmählich wieder schließt.
Die Herausforderung der nächsten Jahre im Bildungsbereich wird es sein, weiter daran zu arbeiten;
({7})
denn bei den leistungsschwachen Schülern liegen wir
unterhalb des OECD-Durchschnitts. Das ist, wie
Dr. Rossmann es gesagt hat, die Herausforderung der
nächsten Jahre.
Man sagt immer, dass es darum geht, früher, gezielter
und bedarfsgerechter im Bereich Bildung zu investieren.
Jetzt, nach einer Epoche des Ausbaus - Stichworte:
Krippenausbau, Kitaausbau -, wäre es wichtig, zu einer
Epoche der Qualitätssteigerung zu kommen.
({8})
Marcus Weinberg ({9})
Wir haben in die Qualität investiert. Ich nenne als Stichwort die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, die Initiative
zur Ausbildung und Qualifizierung von Lehrern. Die
Aufgabe ist, jetzt dezidiert zu schauen, wie zielgerichtet
die Programme sind und in welchen Bereichen wir die
Qualität verbessern müssen. Die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ wurde angesprochen. Es geht darum, unten anzufangen, im Bereich der frühkindlichen und der
vorschulischen Bildung. Es geht aber auch um Fragen
der Weiterbildung. Wir müssen das Ganze sehen und
weiter investieren. Dass wir mit 9 Milliarden Euro mehr
erneut einen Schwerpunkt auf diesen Bereich legen, und
zwar die dritte Legislaturperiode infolge, ist ein deutliches Signal der neuen Koalition, dass Bildung bei uns
Priorität hat. Ziel der nächsten Jahre wird sein, die Bildung weiter zu verbessern.
Ich glaube, das Ziel ist vorgegeben. Wir blicken auf
PISA 2012 zurück - wir waren erfolgreich -, nehmen
unsere Aufgabe, uns in diesem Bereich weiter zu verbessern, aber ernst. Es gilt das Zitat von Benjamin Franklin:
Eine Investition in Wissen bringt … immer die besten Zinsen.
Daran wollen wir uns in der Großen Koalition orientieren. Dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank und auf eine gute Zusammenarbeit.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Martin Rabanus für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als
Vierzehnter in einer solchen Debatte spricht, erweckt
man relativ schnell den Eindruck: Es ist zwar schon alles
gesagt, aber nicht von jedem. Diesen Eindruck möchte
ich gerne vermeiden. Daher knüpfe ich an das an, was
Herr Schummer vorhin gesagt hat. Dies ist die erste Debatte dieser Woche und dieses Jahres, und dies ist die
erste Debatte über Bildungspolitik in dieser Wahlperiode. Darauf möchte ich gerne verweisen. Ich bitte darum, dies einerseits als Bekenntnis und andererseits als
Verpflichtung des gesamten Hauses zu verstehen, dem
Thema Bildung auch in den kommenden vier Jahren die
Bedeutung zukommen zu lassen, die ihm gebührt.
({0})
Ich glaube, es ist nur eingeschränkt hilfreich, wenn
man eine solche Debatte dazu nutzt, kleine parteipolitische Münzen zu prägen. Ich will daher nicht der Versuchung erliegen, mich hier beispielsweise über schwarzgrüne Koalitionsverträge in verschiedenen Bundesländern auszulassen,
({1})
eben weil ich dieser Debatte eine andere Bedeutung beimesse.
Ich finde es ausgesprochen ertragreich, darüber nachzudenken, wo in diesem Haus insgesamt die Gemeinsamkeiten bei diesem Thema liegen. Begriffe wie Chancengleichheit habe ich von den Rednern aller Fraktionen
im Laufe des Vormittags gehört. Wir wollen Chancengleichheit durch Bildung erreichen.
({2})
Ich habe wörtlich oder zumindest sinngemäß von allen
Seiten gehört, dass wir in Bildung die Grundlage für
Teilhabe sehen. Es geht um Teilhabe an der Gesellschaft,
und zwar in allen Facetten. Es geht um Arbeitsprozesse,
kulturelle Bedingungen, gesellschaftliche Teilhabe, demokratische Teilhabe und derlei Dinge mehr. Integration
durch Bildung und Bildungsgerechtigkeit sind, glaube
ich, die wesentlichen Stichworte, um die sich die Debatte in den nächsten Jahren drehen wird. Wir werden
um den richtigen Weg ringen, wie wir diese Leitziele erreichen können. Wir werden nicht nur ringen, sondern
wir werden auch diskutieren. Vielleicht werden wir zuweilen auch streiten wie die Kesselflicker. Möglicherweise werden die Streitlinien dann nicht nur entlang der
klassischen parlamentarischen Lager verlaufen, sondern
auch einmal quer. Auch das ist angedeutet worden.
Wir Sozialdemokraten, alle hier Anwesenden und
auch die Öffentlichkeit wissen sehr wohl, dass im Koalitionsvertrag nicht alle Punkte zu 100 Prozent so weit entwickelt werden konnten, wie es sich unterschiedliche
Partner in der Koalition gewünscht hatten. Die Stichworte wurden bereits genannt. Das Kooperationsverbot
ist eines der Stichworte. Ein anderes Stichwort ist das
Betreuungsgeld. Es gibt also Punkte, bei denen die Parteien erkennbar unterschiedlich bleiben. Dennoch werden sie in der Großen Koalition eine respektable bestimmten Leitzielen verpflichtete Politik auf den Weg
bringen. Das hat sich die Koalition vorgenommen.
Auch ich wünsche mir das. Ich wünsche mir einen
Dialog mit dem ganzen Haus in einem offenen Prozess,
ein gemeinsames Anpacken, um die Ziele Bildung, Teilhabe, Integration und Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. All das steht unter der großen Überschrift „Chancengleichheit durch Bildung stärken“. Das steht übrigens
auch genau so in der Präambel des Koalitionsvertrages.
Das könnte eine Basis sein, auf der wir uns als Deutscher
Bundestag gemeinsam um die Zukunft der jungen Menschen und damit die Zukunft unseres Landes verdient
machen. Darauf freue ich mich. Unsere Aufgabe besteht
nicht darin, uns nur selbst zu gefallen, sondern vor allen
Dingen darin, die Arbeit für die Menschen zu machen,
die uns hierher geschickt haben. Ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen gemeinsam diese Arbeit anzupacken.
Herzlichen Dank.
({3})
Auch Ihnen, Herr Kollege Rabanus, gratuliere ich
herzlich zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Dass wir gleich bei dieser Debatte, wenn ich richtig
mitgezählt habe, fünf Kolleginnen und Kollegen zu Wort
kommen lassen konnten, die sich zum ersten Mal im
Deutschen Bundestag an einer Debatte beteiligen, lässt
sich, Herr Kollege Schummer, vielleicht auch in die Kategorie von Fortschrittsberichten einsortieren, die Sie
vorhin in einem anderen Zusammenhang angeregt haben.
({1})
Als letzter Redner in dieser Debatte erhält der Kollege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wie meine Vorredner bereits
ausführlich dargestellt haben, ist die neueste PISA-Erhebung überraschend positiv für Deutschland ausgefallen.
Die drei wichtigsten Ergebnisse sind für mich folgende:
Erstens. Wir haben uns in allen Bereichen - Mathematik, Lesefähigkeit und Naturwissenschaften - deutlich
verbessert.
Zweitens. Der Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und Schülerleistung konnte deutlich verringert
werden.
Drittens. Die Leistungen der Schüler mit Migrationshintergrund - das wurde ausführlich angesprochen - haben sich ebenfalls deutlich verbessert.
Deshalb können wir parteiübergreifend feststellen:
Die Anstrengungen und Bemühungen auf allen Ebenen
für eine bessere Bildung haben sich gelohnt. Dennoch
- auch das wurde mehrmals gesagt - ist dies natürlich
kein Grund, sich auszuruhen oder in Zufriedenheit zu
verfallen. Wir bleiben in manchen Bereichen im Mittelfeld mit anderen Ländern wie Belgien, Kanada und
Finnland.
Die Verbesserung der Situation der Schulen mit all ihren Herausforderungen - sie wurden schon mehrfach genannt -, zum Beispiel Inklusion, frühkindliche Bildung,
soziale Gerechtigkeit, Mittelausstattung, Sozialarbeit,
Lehrerausbildung und vieles mehr, bleibt Daueraufgabe.
Hier sind alle politischen Ebenen gefordert. Denn die
Qualität des Schulsystems bemisst sich nach vielen Kriterien. Dazu gehört auch, wie gut die Schulverwaltung
arbeitet und wie motiviert die Lehrer sind. Natürlich gehört dazu auch - das wurde ebenfalls schon genannt -,
wie motiviert eigentlich unsere Schüler sind. Deshalb
muss kontinuierlich an unserem Bildungssystem weitergearbeitet werden. Ich will auch sagen: Die Länder dürfen es dabei nicht übertreiben. Denn ständige Strukturreformen an den Schulen führen eben nicht zu einer
besseren Schule.
({0})
Wir müssen den Lehrern und Schulverantwortlichen
auch Zeit geben, die Dinge umzusetzen und ihre Arbeit
zu machen. Deshalb wäre insgesamt ein bisschen mehr
Ruhe im System wichtig. Ständige Kurswechsel mit jeder neuen Landesregierung sind nicht hilfreich;
({1})
da sind wir uns hier im Hause, denke ich, schnell einig.
Nur: Darüber, welche Landesregierung dann keinen
Kurswechsel machen sollte, gehen die Meinungen wahrscheinlich auseinander. Als Baden-Württemberger hätte
ich mir natürlich im Interesse unserer Bürgerinnen und
Bürger gewünscht, dass sich die grün-rote Landesregierung etwas Enthaltung auferlegt hätte. Denn dort erleben
wir gerade, dass ein erfolgreiches, vielleicht sogar das
beste deutsche Bildungssystem in einem Bundesland
({2})
an die Wand gefahren wird.
({3})
Des Weiteren dürfen wir eine Statistik, auch wenn sie
wie die PISA-Studie große Aufmerksamkeit erregt, nicht
überbewerten. PISA fragt eben auch nur bestimmte Testleistungen ab, nicht mehr und nicht weniger. Auch gibt
uns PISA kein Patentrezept, wie wir beispielsweise die
Gruppe der schwächsten Schüler verkleinern oder die
der leistungsstärksten Schüler vergrößern können. Übrigens - auch das wurde gesagt -: Die besten Länder bei
PISA sind Länder, deren Lehrmethoden niemand von
uns kopieren möchte - das denke ich zumindest -; dazu
hat Uwe Schummer ja einiges gesagt.
Auch in Europa muss ich bei der Suche nach Vorbildern die Euphorie vor allem auf der linken Seite dieses
Hauses bremsen. In Finnland beispielsweise gibt es
keine flächendeckende Ganztagsschule, außerdem auch
keinen zentralistischen Bildungsstaat, sondern ein dezentrales System, bei dem die Kommunen eine ganz entscheidende Rolle spielen.
Schweden - auch das wurde genannt - ist bei der aktuellsten PISA-Erhebung abgestürzt. Noch vor ein paar
Jahren als „PISA-Wunderland“ bezeichnet, liegt Schweden heute in allen Bereichen unter dem OECD-Durchschnitt.
({4})
Daraus folgt für mich: Wir in Deutschland müssen
unseren eigenen Weg gehen. Wir dürfen uns dabei auch
nicht von der Opposition und ihren Ideen in die Irre führen lassen. Denn Ihre Bilanz in der Schulpolitik, meine
Damen und Herren Kollegen von der Linken, ist als Alternative jedenfalls nicht erstrebenswert.
({5})
Die jeweiligen Landesregierungen müssen prüfen,
was man noch besser machen kann und vor allem - das
ist das Entscheidende - wie eine Priorität für Bildung erreicht werden kann. Denn es ist so, wie Max Planck bereits vor etwa 100 Jahren sagte:
Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.
Der Bund hat in den letzten Jahren vorgemacht, dass
eine Senkung der Neuverschuldung bei gleichzeitiger
Tätigung von Investitionen in Bildung und Forschung
möglich ist. Mit Blick auf meine baden-württembergische Heimat ist hier, vorsichtig ausgedrückt, auf jeden
Fall noch Spielraum nach oben vorhanden.
Leider haben wir bei PISA keine Möglichkeit mehr,
die Bundesländer untereinander zu vergleichen. Dies
war bei den ersten Studien noch möglich. Jetzt bleiben
die Daten bei den Kultusministerien. Das finde ich
durchaus bedauerlich. Denn wenn wir die Daten hätten,
würden wir sehen, welche Länder sich in den letzten
Jahren besonders angestrengt haben.
Zusammenfassend möchte ich zur PISA-Studie feststellen: Wir machen Fortschritte, aber es gibt noch genug
zu tun. Deshalb gibt es von mir weder starke Kritik noch
ein allzu überschwängliches Lob für die Bildungspolitik
der vergangenen Jahre, sondern ganz nach schwäbischer
Diktion möchte ich sagen: Nicht geschimpft ist genug
gelobt.
({6})
In diesem Sinne: Lassen Sie uns weiter konstruktiv an
einer besseren Bildung in Deutschland arbeiten, damit
sich Deutschland bei der nächsten PISA-Studie noch
weiter oben findet, dort, wo wir - da sind wir uns, glaube
ich, hier im Hause alle einig - als Bildungsrepublik auch
hingehören. Diesen Ehrgeiz sollten wir alle miteinander
haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2012 ({1})
Drucksachen 17/12050, 18/297
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({2})
Christine Buchholz
Interfraktionell vereinbart ist eine Aussprachezeit von
60 Minuten. - Dazu kann ich Einvernehmen feststellen.
Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus das Wort.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Wähler haben Sie - viele von Ihnen erneut - in den Deutschen
Bundestag entsandt. Hierzu möchte ich Ihnen als Ihr
Wehrbeauftragter zunächst einmal sehr herzlich gratulieren. Ich hoffe, dass meine Mitarbeiter im Amt und ich
auch mit diesem Deutschen Bundestag auf eine ebenso
enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit bauen können, wie es in der vergangenen Legislaturperiode der
Fall war.
Mit der heutigen Debatte schließt der Deutsche Bundestag die Beratung des Jahresberichts für das Jahr 2012
ab. Ich bin dankbar dafür, dass der 18. Deutsche Bundestag nahtlos an die Arbeit des 17. Deutschen Bundestages
anknüpft und die Beratung des Jahresberichts 2012 damit zeitnah zum Abschluss bringt.
Nach der Bundestagswahl hat inzwischen eine neue
Bundesregierung ihre Arbeit aufgenommen. An der
Spitze des Verteidigungsministeriums gab es dabei einen
Wechsel. Ich möchte dies zum Anlass nehmen, zunächst
einmal dem früheren Verteidigungsminister und jetzigen
Innenminister - er ist jetzt nicht da; aber vielleicht kann
man ihm das ausrichten -, Herrn Dr. de Maizière, für die
Unterstützung meiner Arbeit und die meist auch gute
Zusammenarbeit Dank zu sagen.
({3})
In diesen Dank möchte ich seine Frau ausdrücklich einschließen, die sich sehr für die Belange der Familien der
Verwundeten und die Hinterbliebenen eingesetzt hat und
dies, worüber ich mich sehr freue, auch weiterhin tun
will. Weil ich gerade Dr. Jung sehe, möchte ich sagen:
Auch Frau Jung engagiert sich weiterhin auf diesem Gebiet. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement.
({4})
Ihnen, Frau Dr. von der Leyen, als Nachfolgerin in
diesem Amt möchte ich an dieser Stelle noch einmal zur
Übernahme dieses fordernden und auch verantwortungsvollen Amtes gratulieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg
für die vor Ihnen liegenden Aufgaben.
({5})
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Sie können auf meine Unterstützung bauen, und ich
hoffe auch auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Meine Damen und Herren, das Jahr 2012 war, wie in
dem Bericht ausgeführt ist, außer von den Einsätzen vor
allem von der Neuausrichtung der Streitkräfte geprägt.
Die Neuausrichtung betraf nicht nur die Streitkräfte,
auch der zivile Teil der Bundeswehr war davon nachdrücklich betroffen; aber wir unterhalten uns hier jetzt
über die Streitkräfte. Zu der Neuausrichtung gehörte
insbesondere die Herauslösung der Inspekteure der Teilstreitkräfte und der Organisationsbereiche aus dem
Ministerium und ihre truppendienstliche Unterstellung
unter den Generalinspekteur. Diese Neuordnung ist inzwischen abgeschlossen. - Ich möchte, weil ich sehe,
dass er da ist, diesen Punkt nutzen, um auch dem Generalinspekteur herzlich für die gute und vertrauensvolle
Zusammenarbeit zu danken.
({6})
Daneben wurden die einschneidenden Folgen der Stationierungsentscheidungen für einige der Soldatinnen
und Soldaten bereits spürbar. Für den Großteil der betroffenen Soldatinnen und Soldaten aber war das Jahr
2012 noch geprägt durch ein schier endloses Warten auf
die Entscheidung über ihre ganz persönliche weitere
Verwendung und Perspektive in der Bundeswehr. Dies
hat die Stimmung in der Truppe erheblich getrübt, und
das wurde übrigens auch im Folgejahr nicht besser; in
dem Bericht für das Jahr 2013, den ich in Kürze vorlegen werde, wird darauf noch einmal ausführlich eingegangen werden. Eines sei an dieser Stelle schon gesagt:
Nachhaltig sind die derzeitigen Strukturen, insbesondere
die Strukturen für die internationalen Aufgaben und Verpflichtungen, aus meiner Sicht immer noch nicht.
Damit komme ich zu den Einsätzen. Vielleicht etwas
Positives vorab: Bei der über viele Jahre auch von mir
gerügten Ausstattung der Einsatzkontingente und der
persönlichen Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten
im Einsatz hat es in den vergangenen Jahren deutliche
Verbesserungen gegeben; sie ist inzwischen auf einem
guten Niveau. Ungeachtet dessen gilt es - gerade in der
im vergangenen Jahr eingeleiteten Phase der deutlichen
Reduzierung der deutschen ISAF-Kräfte -, dem Schutz
und der Sicherheit höchste Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Entwicklung der Sicherheitslage gibt dazu, wie Sie
wissen, auch Anlass.
Die Reduzierung des deutschen Engagements im
Rahmen von ISAF wird der Truppe hoffentlich eine kleinere Atempause verschaffen. Doch sind der Bundeswehr
insbesondere im vergangenen Jahr wieder neue Aufgaben zugewachsen; ich nenne nur die Einsatzorte Dakar,
Koulikoro, Kahramanmaras und Trabzon. Mögliche
weitere Einsätze, insbesondere in Afrika, zeichnen sich
bereits ab. Jeder dieser Einsätze stellt ganz besondere
Anforderungen an die Truppe und verlangt den Transport von Material und Personal über weite Distanzen in
unterschiedlichste Klimazonen. Eine nachhaltige Entlastung der Truppe im Bereich der Einsätze ist damit also
nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Bundeswehr wird
ihre Struktur nach meiner Einschätzung zumindest im
Bereich von Spezialverwendungen den Anforderungen
der Einsätze noch einmal anpassen müssen - oder aber
es werden Art und Umfang der Einsätze begrenzt werden müssen.
Frau Ministerin, ich würde mir auch wünschen, dass
bei unseren Angeboten an die internationale Gemeinschaft ein wenig mehr Aufmerksamkeit als bisher auf die
Begrenztheit unserer Mittel gelenkt werden könnte. Bei
dem geradezu routinemäßig gegebenen Angebot von
Lufttransportkapazitäten wird nach meinem Eindruck
nicht berücksichtigt, wie gering unsere Reserven in diesem Bereich bereits für den Regelbetrieb sind. Das belastet das Personal wirklich sehr.
Meine Damen und Herren, die größte Herausforderung für die Zukunft der Bundeswehr ist die Frage nach
der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften. Ein
wichtiger Faktor dabei ist immer die Bezahlung des
Dienstes - das ist klar -; aber zumindest gleichrangig daneben stehen die Fürsorge des Dienstherren für unsere
Soldatinnen und Soldaten und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Sie sind der Schlüssel zur Attraktivität
des Dienstes in den Streitkräften. Ich bin fest davon
überzeugt: Das ist auch die Schlüsselfrage für die Zukunftsfähigkeit unserer Streitkräfte; denn wenn man keinen Nachwuchs gewinnen kann, weil man nicht attraktiv
ist, wird man irgendwann keine Streitkräfte mehr haben.
Ich freue mich sehr, dass Sie, Frau Ministerin, die
Verbesserung der Vereinbarkeit von Dienst und Familie
so nachdrücklich zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit
machen wollen. Die bisherigen Bemühungen in diesem
Bereich - das weist auch der Jahresbericht 2012 aus waren von dem Bemühen geprägt, die vorhandenen
Instrumentarien auszuschöpfen und zu optimieren. Das
reicht aber für die Bewältigung zum Beispiel der Pendlerproblematik, für eine bessere Kinderbetreuung oder
für die Reduzierung von Versetzungen und Kommandierungen nicht aus.
Der Deutsche Bundestag, insbesondere der Verteidigungs- und auch der Haushaltsausschuss - dafür bin ich
sehr dankbar -, hat in der Vergangenheit die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch die gebotene Fürsorge immer unterstützt und gefördert. Ich bin
sicher, dass auch Sie, die Abgeordneten des 18. Deutschen Bundestages, so verfahren werden, auch und gerade auf dem Gebiet der Fürsorge und der Vereinbarkeit
von Familie und Dienst.
Das wird sicher Geld kosten. Ob das auf Dauer wirklich aus dem laufenden Budget zu stemmen ist, da habe
ich meine Zweifel. Vorhin ist Herr Kampeter ganz besorgt herbeigeeilt.
({7})
Ich muss sagen: Ja, es ist in der Tat so, dass wir nicht
umhinkommen werden, anzuerkennen: Das ist eine soziale Aufgabe. - Ich möchte an dieser Stelle anmerken:
Im Jahr 1990 betrug das Verhältnis zwischen Verteidigungsetat und Sozialetat 1 zu 1,3. Heute beträgt das Verhältnis etwa 1 zu 3. Das bedeutet, dass wir die gesellWehrbeauftragter Hellmut Königshaus
schaftliche Entwicklung im Bereich des Sozialen, die ich
sehr begrüße, in der Bundeswehr nachholen müssen.
Aus diesem Grunde werde ich Vorschläge machen, was
konkret in diesem Bereich getan werden kann. Das wird
im Bericht für das Jahr 2013 nachzulesen sein.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir an dieser
Stelle, dass ich abschließend allen unseren Soldatinnen
und Soldaten, natürlich insbesondere denjenigen im Einsatz, und ihren Familien danke,
({8})
dass sie im Auftrag dieses Hohen Hauses so vielfältige
Belastungen für unser Land auf sich nehmen.
Dank und Anerkennung - ich glaube, das gehört rückblickend noch angemerkt - verdienen auch die vielen
Tausend Soldatinnen und Soldaten, die während der
Hochwasserkatastrophe des vergangenen Jahres in so
vorbildlicher Weise und unter Zurückstellung auch persönlicher Belange Hilfe geleistet haben.
({9})
Natürlich danke ich auch all meinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, die gerade im vergangenen Jahr und
derzeit eine besonders hohe Arbeitsbelastung hinnehmen
mussten und müssen, und all denen, die im Ministerium
an Aufgaben zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten
arbeiten.
Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Königshaus. Das Hohe
Haus dankt Ihnen für Ihre Arbeit und wünscht Ihnen ein
gutes neues Jahr. Ich glaube, das kann man Mitte Januar
noch tun.
({0})
Jetzt gebe ich das Wort unserer Ministerin Frau
Dr. Ursula von der Leyen.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Königshaus! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Königshaus, auch ich möchte Ihnen und vor allen Dingen auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zunächst einmal von Herzen danken: für das großes Engagement, die Kraft und die Entschlossenheit, mit der Sie
sich immer wieder für unsere Bundeswehr und ihre Soldatinnen und Soldaten einsetzen - und das jetzt schon
seit vier Jahren. Vielen Dank von dieser Stelle aus.
({0})
Wir haben in der vergangenen Woche im Rahmen Ihres Antrittsbesuches miteinander gesprochen. Es war Ihr
dritter Antrittsbesuch bei einem Minister - in diesem
Falle bei einer Ministerin. Ich will es einmal so sagen:
Ebenso viel Erfahrung wie mit unterschiedlichen Ministern haben Sie inzwischen auch mit der Bundeswehr und
mit den Sorgen und Nöten der Soldatinnen und Soldaten.
In Ihrem Bericht ist mir aufgefallen, dass Sie ganz
klar sind: Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann kritisieren Sie konsequent, aber Sie haben nicht nur Verbesserungsvorschläge, für die ich danke, sondern Sie erkennen auch Bemühungen an, wenn sich etwas verbessert
hat - in diesem Falle in dem Ministerium -; denn in Ihrem Jahresbericht 2012 zeigen Sie zwar einerseits Mängel auf, verschweigen aber andererseits eben auch nicht,
dass es zum Beispiel bei der Versorgung unserer Verwundeten auch Verbesserungen gegeben hat.
({1})
Diese klare Haltung, diesen konstruktiven Ansatz begrüße ich ausdrücklich. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, Herr Königshaus, gerade zum Wohle der
Bundeswehr und der Soldatinnen und Soldaten.
Meine Damen und Herren, ich möchte da ansetzen,
wo wir heute stehen, und nach vorne schauen. In der Tat:
Alleine im vergangenen Jahr hat sich die Situation der
Bundeswehr massiv verändert. Die Neuausrichtung ist
weiter vorangeschritten. Wir sind nicht mehr am Beginn
der Neuausrichtung, sondern mittendrin.
Mein Vorgänger im Amt, Thomas de Maizière, hat
der Neuausrichtung Ordnung und Struktur gegeben. Er
hat das mit einer enormen Bravour, mit Präzision und
mit ganz viel Herz getan. Ich möchte an dieser Stelle
auch dafür danken; denn ich weiß, dass ich auf dieser
fantastischen Arbeit aufbauen kann. Danke an Thomas
de Maizière für das, was er in Bezug auf die Neuausrichtung geleistet hat.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich an den
grundlegenden Entscheidungen festhalte. Es wird keine
Reform der Reform geben. Die Reform ist gut. Die Angehörigen der Bundeswehr und ihre Familien müssen
Planbarkeit und Verlässlichkeit haben, sodass sie wissen,
in welchen Strukturen sie arbeiten.
Selbstverständlich wollen wir eine lernende Organisation bleiben. Das muss ein selbstverständlicher Anspruch sein, auch weil sich die Lage um uns herum immer wieder verändert. Es verändert sich die Lage der
Bundeswehr innerhalb der NATO und der EU. Nach der
Finanzkrise und inmitten der Euro-Krise, die ein wenig
abklingt, aber noch lange nicht durchschritten ist, erleben wir jetzt eine europäische Haushaltskonsolidierung,
und wir müssen uns ehrlich machen - Sie haben es angesprochen, Herr Königshaus -, wenn es darum geht, wie
wir unsere Fähigkeiten bei sinkenden Verteidigungsbudgets erhalten können.
Deutschland hat zum Beispiel als Vorschlag das Konzept der „Rahmennationen“ in die Diskussion eingebracht, um den Anspruch von Pooling, Sharing und
Smart Defence, also verschiedener Konzepte, die diese
Thematik aufgreifen, auf die tatsächlich vorhandenen
Fähigkeiten - es geht auch darum, wie wir das dann in
der Praxis und in der Realität machen - abstimmen zu
können. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz und
bei den NATO- und den EU-Treffen im Laufe des Jahres
werden wir sicherlich darüber diskutieren und dem auch
stärker Form geben.
Die internationale Lage hat sich im letzten Jahr verändert. Wie unter dem Brennglas kann man sich hier vor
allem Afghanistan ansehen. Wir werden die Frage beantworten müssen: Wie geht es nach dem Abzug der ISAFTruppen aus Afghanistan weiter? Der Kampfeinsatz endet 2014. Das ist ganz klar; das weiß auch die afghanische Bevölkerung. Aber wird es danach zu einer Ausbildungs- und Trainingsmission kommen können? Ich
persönlich bin davon überzeugt, dass der ISAF-Einsatz
in Afghanistan im Rückblick auch daran gemessen und
bewertet wird, wie wir aus dem Land herausgehen und
ob es gelingt, das Erreichte nachhaltig zu stabilisieren
und die Verantwortung tatsächlich so in die Hände der
Afghanen zu übergeben, dass sie das dann auch weiterführen können.
({3})
Unser Kernauftrag ist die Verteidigung, aber dass wir
diesen Auftrag inzwischen global interpretieren, bedarf
gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte immer
wieder der Begründung. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen - das wollen wir -, bedarf der Begründung. Auch diesen Fragen möchte ich mich stellen.
Die Antwort auf diese Sinnfragen ist für einen Soldaten
oder eine Soldatin mindestens ebenso wichtig wie optimale Ausrüstung oder wie eine gute Vereinbarkeit von
Dienst und Familie. Dazwischen besteht kein Widerspruch, sondern alles drei ist meines Erachtens wichtig.
Es verändert sich auch die Lage im Inland. Das Stichwort „demografischer Wandel“ fiel bereits: Das ist der
Treiber der Veränderung. Mir ist völlig klar: Soldat oder
Soldatin zu sein, ist kein Beruf wie jeder andere. Aber
im Grundbetrieb oder bei der Nachwuchsfrage stellen
sich diesem Beruf genau dieselben Fragen und Probleme
wie allen anderen Berufen in Deutschland auch. Gerade
weil wir viel verlangen, weil wir einen besonderen Auftrag haben, müssen die Rahmenbedingungen besser sein.
Mein Ziel ist es, dass die Bundeswehr zu einem der
attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland wird. Wir müssen besser werden. Dazu müssen wir eine bessere Vereinbarkeit von Dienst und Familie haben. Da gibt es
Unterpunkte, wie zum Beispiel eine passgenaue Kinderbetreuung. Wir haben den Rechtsanspruch auf einen
Krippenplatz - Gott sei Dank. Aber Fragen der Randzeiten und der Passgenauigkeit vor Ort müssen angesprochen werden. Wir brauchen eine moderne Arbeitszeitregelung. Das muss nicht unbedingt mit mehr Kosten
verbunden sein. Präsenz zu erwarten, wenn Arbeit gerade nicht anfällt, ist nicht sinnvoll. Arbeitszeit flexibel
einzuteilen, wenn Arbeit anfällt, aber dann auch die notwendigen Regenerationsphasen einzuplanen, ist einfach
intelligenter und sinnvoller.
Wir müssen die häufigen Versetzungen, insbesondere
wenn keine steile Karriere dahintersteht, ebenfalls noch
einmal auf ihre Sinnhaftigkeit überprüfen. Ich bin über
die sehr verlässliche Karriereplanung bei den Laufbahnen in der Bundeswehr beeindruckt. Ich stelle mir nur
die Fragen: Was ist mit der Laufbahnentwicklung, wenn
man nicht immer Vollzeit arbeitet und nicht immer präsent ist? Wie ist dann die Förderung der Karriere? Diese
Fragen stellen sich uns. Das sind Fragen ganz moderner
Unternehmensführung.
Ja, die Bundeswehr hat einen besonderen Auftrag.
Aber sie ist auch ein global agierender Konzern. Sie hat
im Zielbetrieb round about 250 000 Beschäftigte an
400 Standorten im In- und Ausland. Sie hat ein Luftfahrtunternehmen. Sie hat eine Reederei. Sie hat einen Krankenhausverbund par excellence; das kann ich als Ärztin
beurteilen, das ist vom Feinsten. Sie hat ein Logistikunternehmen, das seinesgleichen sucht. Sie hat eine Qualifizierungssparte mit Schulen, mit Ausbildungsbetrieben, mit
Akademien und Hochschulen. All das erfordert eine hervorragende Verwaltung. Wir verlangen viel. Deshalb
brauchen wir den fähigsten Nachwuchs, und wir brauchen die besten Bedingungen für die, die schon heute bei
uns sind.
({4})
Die Probleme sind bekannt; das zeigen die Berichte
des Wehrbeauftragten und des BundeswehrVerbandes.
Der Koalitionsvertrag - dafür danke ich, weil ich diesen
Teil nicht mitverhandelt habe, aber Sie, die Sie dort sitzen, haben ihn mitverhandelt - gibt uns einen klaren
Auftrag. Das zeigt auch schon, dass es deutliche Vorarbeiten gibt, sowohl in der Bundeswehr als auch im Parlament, im Ministerium und in den Standorten, auf denen
wir aufbauen können. In dieser Woche beginnt eine systematische Bestandsanalyse: Was gibt es schon? Wo ist
der Bedarf am größten? Aber wir werden sicherlich gemeinsam Neuland betreten müssen, zum Beispiel in der
Frage nach Lebensarbeitszeitkonten.
Die Finanzierung dafür werden wir innerhalb des Einzelplans 14 sicherstellen müssen. Ich hatte vorhin schon
darüber gesprochen, dass nicht alles Geld kostet. Man
wird Geld in die Hand nehmen müssen, zum Beispiel bei
der Kinderbetreuung. Aber die Praxis der fast schon automatischen Versetzungen bringt vor allem Kosten mit
sich. Wenn man sie auf ihre Sinnhaftigkeit reduziert,
dann ist das nicht eine Frage von mehr Geld. Ich will
nicht sagen: von weniger Geld, aber eine Frage von
mehr Geld ist es nicht von vornherein.
Es geht um eine zukunftsfähige Bundeswehr im umfassenden Sinne. Heute ging es vorwiegend um die Fragen und die Probleme aus dem Bericht des Wehrbeauftragten. Auch von mir ein Dank an unsere Soldatinnen
und Soldaten und ihre Familien für den Dienst, den sie
leisten. Es ist gut, lieber Herr Königshaus, Sie auf diesem Weg an unserer Seite zu wissen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Dr. Ursula von der Leyen. Wären Sie
Abgeordnete, würde ich Ihnen zur ersten Rede hier gratulieren. Ich gratuliere Ihnen als Ministerin in diesem
Amt dazu und wünsche Ihnen allzeit gute Arbeit.
Jetzt kommt Christine Buchholz für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlich
gesagt: Ich bin enttäuscht, Frau von der Leyen. Denn Sie
haben nicht über die Probleme der Soldatinnen und Soldaten und über den Bericht des Wehrbeauftragten geredet,
sondern Sie haben wieder Überschriften produziert.
({0})
2012 war der Frust unter den einfachen Soldaten
groß. 2013 war er noch größer, wenn man den Vorabmeldungen zu dem neuen Bericht des Wehrbeauftragten
glauben darf, der Ende dieses Monats erscheinen wird.
Das ist auch kein Wunder. Herr de Maizière hat es zum
Abschied noch einmal deutlich gemacht, als er sagte:
„Ziel der Neuausrichtung war es nicht und konnte es
nicht sein, die Zufriedenheit der Soldaten und Mitarbeiter zu erhöhen.“ Ziel sei es, den Auftrag der Bundeswehr
zu erfüllen. Dieser Auftrag heißt, einsatzbereit zu sein jederzeit, weltweit. Sie haben das auch noch einmal gesagt, Frau von der Leyen: Kernaufgabe ist es, global
handlungsfähig zu sein.
Frau von der Leyen will die Bundeswehr jetzt zum attraktivsten Arbeitgeber machen und stellt die Familienfreundlichkeit ins Zentrum. Dabei macht sie einen Widerspruch auf, der unlösbar ist. Die Bundeswehr war
noch nie besonders familienfreundlich. Ihre Wandlung
zu einer Armee im Einsatz hat das Problem jedoch massiv verschärft. Eine Armee im Einsatz und Familienfreundlichkeit sind unvereinbar.
({1})
Ich bitte Sie, genau hinzugucken, statt nur Überschriften zu produzieren und Losungen zu verbreiten. Denn
wenn Sie den Bericht lesen, merken Sie, dass Ihre Voraussetzungen falsch sind. Im Bild-Interview haben Sie
am Wochenende gesagt, dass bei einem Einsatz wie in
Afghanistan der Dienst unbestritten immer Vorrang hat.
Ich zitiere Frau von der Leyen: „Doch in der Regel folgen auf vier Monate im Auslandseinsatz 20 Monate daheim.“
Frau Ministerin, im Bericht des Wehrbeauftragten
steht das Gegenteil. Sechs Monate oder mehr sind auch
beim Heer „eher die Regel als die Ausnahme“, heißt es
da. Herr Königshaus hat gestern im Ausschuss ergänzt:
20 Monate Zwischenzeit zwischen den Einsätzen werden durchgängig nicht eingehalten. In manchen Fällen,
so der Bericht, werden nicht einmal neun Monate eingehalten. In dem Bericht ist infolgedessen von zerbrochenen Beziehungen und Familien und entwurzelten Soldaten die Rede.
In einzelnen Einheiten liegt die Scheidungsrate laut
des vorherigen Jahresberichtes bei bis zu 80 Prozent. Die
Armee im Einsatz zerstört Familien in Einsatzgebieten
wie in Afghanistan, aber auch hier in Deutschland. Das
ist die Realität, Frau von der Leyen.
({2})
Verschiedentlich war in den letzten Tagen zu hören,
die familiären Belastungen hätten mit den Auslandseinsätzen wenig zu tun. Schließlich befänden sich nur
2,5 Prozent der Soldaten im Einsatz. Herr Königshaus
sagte dazu gestern im Ausschuss: Wenn behauptet wird,
dass nur eine Minderheit von der Ausrichtung auf Einsätze betroffen ist, dann ist das falsch. - Ich gebe ihm darin recht. Schließlich werden Soldaten im Rotationsverfahren entsandt. Insgesamt waren bereits 300 000
Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz.
Eine andere unmittelbare Quelle der Unzufriedenheit
sind die zahlreichen Standortversetzungen und die dadurch entstehende Pendelei. Tun Sie doch nicht so, als
habe das nichts mit dem Umbau der Bundeswehr zur
Einsatzarmee zu tun! Die Versetzungswelle war das Ergebnis der Reform, die unter dem offiziellen Motto
stand: „Vom Einsatz her denken.“ Alle Entscheidungen
wurden dem untergeordnet.
Frau von der Leyen macht immer wieder deutlich,
dass sie diese Prämisse teilt. Das hat sie auch heute in ihrer Rede getan. Aber auch sonst sagt sie bei jeder Gelegenheit deutlich: Es wird keine Reform der Reform geben. Das sei eine gute Nachricht für die Bundeswehr;
das sei der Erfolg von Herrn de Maizière.
({3})
Ministerin von der Leyen hat nun viele Erwartungen
geweckt, sie würde an diesem Zustand etwas grundlegend ändern. Aber leider ist das reine Propaganda.
Das Bild, dass die Soldaten sich nach ihrem Einsatz
20 Monate in Deutschland regenerieren könnten, ist aus
einem weiteren Grund völlig verfehlt. Es ist doch nicht
so, dass die Soldatinnen und Soldaten die Einsatzerfahrung einfach abschütteln.
({4})
Je mehr Einsätze die Bundeswehr durchführt, desto
mehr junge Menschen kommen seelisch versehrt zurück.
Und auch darüber müssen wir sprechen, Frau von der
Leyen.
({5})
Der Bericht des Wehrbeauftragten greift das auf und
spricht von Posttraumatischen Belastungsstörungen,
kurz PTBS. Er verlangt, dass die Bundeswehr als Dienstherr auch dann zur Fürsorge verpflichtet ist, wenn die
Erkrankung - wie so häufig - erst nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst erkannt wird. Das unterstützen wir. Doch zugleich wird im Bericht der Umgang der
Bundeswehr mit dem Problem zu positiv betrachtet. Die
Bundeswehr führt Maßnahmen in einem - ich zitiere
jetzt den Titel - „Rahmenkonzept zum Erhalt und zur
Steigerung der psychischen Fitness von Soldatinnen und
Soldaten“ durch. Es geht hier nicht um den Menschen,
sondern um seine psychische Fitness für den Einsatz,
und das ist zynisch.
({6})
Es funktioniert auch nicht; denn das Risiko, zu erkranken, steigt mit jedem Einsatz um das Vierfache. Die Soldatinnen und Soldaten werden verheizt für Interessen,
die nicht ihre sind.
Der Afghanistan-Veteran aus Leipzig Enrico H. hat
mir erzählt, dass er 2009 gerade einmal drei Tage Nachbereitung nach der bis dato intensivsten Kampfperiode
in Deutschland erhielt. Er sagte mir: Erst hat man uns
den Krieg schmackhaft gemacht, und jetzt vergisst man
uns. - Auch das ist Realität.
({7})
Der Afghanistan-Veteran Daniel Lücking sagte - ich zitiere aus seinem Blog -:
Derzeit drückt sich die Bundeswehr um die Verantwortung und profitiert massiv davon, dass sich
Traumata und Probleme erst im Zivilleben herausstellen. Die Kosten dafür tragen die Sozialkassen,
nicht aber der Verteidigungsetat.
Dem kann ich nur beipflichten. Um die Diskussion von
eben aufzugreifen: Ich hielte es für völlig verfehlt, jetzt
den Verteidigungsetat weiter aufzublähen. Vielmehr
müssen wir dafür sorgen, dass die vielen sinnlosen
Großprojekte und Einsätze, die unglaublich viel Geld
kosten, zurückgefahren werden, damit die wirklichen,
wichtigen Sozialkosten gedeckt werden können.
({8})
Ich möchte noch eine Sache betonen. Im Bericht wird
hervorgehoben, dass die Zahl der verwundeten Soldatinnen und Soldaten zurückgegangen ist und dass seit August 2011 kein deutscher Soldat gefallen ist. Darüber
sind auch wir erleichtert. Aber das Bild, Herr
Königshaus, das Sie zeichnen, ist falsch. Im Bericht wird
von der verbesserten Sicherheitslage in Afghanistan gesprochen. Gerade gestern kam heraus, dass dieser Eindruck lediglich dem Zurückhalten der wahren Zahlen
durch das Einsatzführungskommando geschuldet ist.
Der Einsatz in Afghanistan fordert immer mehr Tote, unter Zivilisten, unter den afghanischen Sicherheitskräften
und unter den Aufständischen. Wenn NATO-Drohnen
Frauen, Kinder und Greise zerfetzen, wenn US-Soldaten
- wie erst vor einer Woche - einen Fünfjährigen erschießen, dann wird diese NATO als eine verbrecherische
Fremdmacht angesehen, und dazu gehört auch die Bundeswehr.
({9})
Herr Königshaus streut in seinem Bericht Illusionen,
wenn er sagt, dass die Anschaffung von noch mehr
Großgerät eine Lösung für mehr Sicherheit bedeutet.
Aber gerade Afghanistan hat in der Vergangenheit gezeigt, dass durch Aufrüstung eine Aufrüstungsspirale auf
allen Seiten angeheizt wird. Das lehnen wir ab und können deswegen in letzter Konsequenz dem Bericht nicht
zustimmen.
Der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes, Herr
Wüstner, hat das Stichwort bereits aufgegriffen und
gleich die Einführung von Kampfdrohnen gefordert, die
angeblich die Soldaten schützen. Frau von der Leyen
und die Bundesregierung drücken sich da um eine klare
Aussage herum. Ich will in diesem Zusammenhang klar
sagen: Der Einsatz von Spionagedrohnen ist vom Einsatz von Kampfdrohnen im Krieg gegen den Terror nicht
zu trennen. Ich sage: Stoppen Sie jegliche Beteiligung
am Drohnenkrieg in Afghanistan, Pakistan, Afrika und
anderswo!
({10})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Wenn Sie etwas für die Familienfreundlichkeit der
Bundeswehr und der Gesellschaft tun wollen, dann setzen Sie sich in der Regierung endlich dafür ein, dass die
Kommunen mehr Geld bekommen. Eine Unterstützung
des Ausbaus einer umfassenden Kinderbetreuung nutzt
nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch
allen anderen Berufstätigen, die auf eine zuverlässige
und flexible Betreuung ihrer Kinder angewiesen sind.
Letztendlich ist die einzige Antwort für mehr Familienfreundlichkeit und Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten: Holen Sie die Frauen und Männer endlich zurück!
Wir brauchen keine Armee im Einsatz.
({0})
Danke, Frau Kollegin Buchholz. - Als Nächster hat
das Wort der Kollege Rainer Arnold von der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist mehr als eine
Auflistung der Probleme bei den Streitkräften. Der Bericht zeigt auch, dass Herrn Königshaus und alle seine
Mitarbeiter die Alltagssorgen der Soldaten wirklich bewegen. Wie hartnäckig er Lösungen anmahnt, erleben
wir gelegentlich; das haben wir auch heute in seiner
Rede wieder gehört. Dafür gebührt Ihnen, Herr
Königshaus, und Ihrem ganzen Team unser recht herzlicher Dank.
({0})
Allerdings müssen wir auch aufpassen. Wer den Bericht liest oder gar die Berichte in den Medien über den
Bericht liest, könnte leicht den Eindruck gewinnen: Bei
der Bundeswehr geht alles drunter und drüber, es läuft
alles schief, und es ist die Regel, dass achtlos mit der
Ressource Mensch umgegangen wird. - Das ist nicht so.
Viele Vorgesetzte, die meisten Vorgesetzten, nehmen die
persönliche Situation ihrer Untergebenen ernst, suchen
Lösungen, wenn Alltagssorgen da sind. Auch dies muss
immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Die meisten arbeiten gut. Ich denke, allen Soldaten, aber ganz besonders den engagierten, die die Prinzipien der Inneren
Führung vorleben, gilt unser herzlicher Dank für das Engagement.
({1})
Der Wehrbeauftragte ist der Sensor des Parlaments,
und natürlich nehmen wir das ernst, was er uns schreibt;
in Klammern möchte ich anfügen: Es ist seine Aufgabe,
Sensor zu sein, nicht so sehr, Hinweise zu geben, welche
Waffensysteme der Bundestag beschaffen sollte. Aber
die Hinweise zum sozialen Gefüge nehmen wir sehr
ernst.
Wir sind sehr froh, dass etwas Neues geschehen ist,
nämlich dass eine neue Ministerin nicht anfängt, das,
was er aufschreibt, zu relativieren, sondern tatsächlich
die Themen aufnimmt. Sie, Frau Ministerin, haben unsere Unterstützung dabei. Sie haben schon gesagt: Es
gab Vorarbeiten. - Sie haben in der Tat sofort in die richtige Schublade gegriffen. Dort liegen nämlich 82 Vorschläge zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr.
Dort lag eine Untersuchung über die Arbeitszeitsituation, die Ihr Vorgänger uns noch nicht zur Verfügung gestellt hat. Dort liegt der Koalitionsvertrag, den Sie ja erwähnt haben. Und es gibt bereits seit dem Jahr 2010 ein
Handbuch zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst.
Dort heißt es sinngemäß: Die Auftragserfüllung muss
natürlich Vorrang haben, aber nicht immer sind dies konkurrierende Ziele. Am Ende würden beide Ziele, Auftragserfüllung und die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst, profitieren, wenn es gelingt, für die dienstlichen
Erfordernisse und die privaten Interessen Lösungen zu
finden, die dann tatsächlich den Belangen der Soldaten
Rechnung tragen. Das ist alles schon aufgeschrieben und
wird eigentlich von den Soldaten erwartet.
Damit wird klar: Die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst ist kein Selbstzweck. Es geht auch nicht nur um
Nachwuchswerbung. Es geht um das innere Gefüge bei
den Streitkräften. Nur wenn Soldaten in ihrem sozialen
Umfeld, in der Familie, aber auch beim bürgerschaftlichen Engagement in ihrer Heimat - im Elternbeirat, in
den Vereinen und bei vielen anderen Gelegenheiten
mehr - die Zeit finden und Ressourcen haben, die planbar sind, können sie am Ende auch unsere Erwartung erfüllen, Staatsbürger in Uniform zu sein. Deshalb ist dieses Thema ein ganz zentrales für das Gefüge und für das
Leben innerhalb und außerhalb der Streitkräfte.
({2})
Sie, Frau Ministerin, haben schon darauf hingewiesen: Es ist in der Tat nicht die einzige Herausforderung.
Sie haben einige Themen benannt. Wir sind froh, dass
wir in der nächsten Sitzungswoche dies alles auch einmal in der Breite diskutieren können. Aber ein Thema
führt unmittelbar zur Frage der Vereinbarkeit von Familie und Dienst, nämlich das Thema Reform.
Sie als neue Ministerin sind unbefangen - so habe ich
das empfunden - an die Themen herangegangen. Wir
wünschen uns sehr, dass Sie das ebenso mit dem Koalitionsauftrag machen, nämlich diese Reform jetzt auch
zügig zu evaluieren. Dass Soldaten viel zu häufig sechs
Monate im Einsatz sind - und nicht vier Monate -, hat
natürlich etwas mit Mängeln dieser Reform zu tun; dass
gerade für Schlüsselverwendungen - auch der Wehrbeauftragte hat das angemahnt - zu wenig Personal vorhanden ist, dass viele Soldaten versetzt werden und die
Bundeswehr eine wirkliche Pendlerarmee geworden ist,
wurde durch die Reform eher verstärkt. Wir haben an der
einen oder anderen Stelle auch Standortschließungen in
der Planung, von denen wir inzwischen merken, dass sie
kein Geld sparen werden. Dadurch werden Menschen
durch die Republik geschickt, und am Ende wird das
Ganze noch mehr kosten. Auch das ist ein Ausfluss dieser Reform. Deshalb sage ich, Frau Ministerin: Wenn es
neue Erkenntnisse gibt, sollten wir alle miteinander die
Kraft haben, bei der Reform nachzusteuern.
({3})
Beantwortet werden muss die Frage, wie die Mittel zur
Deckung der Mehrkosten, die die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf verursacht, erwirtschaftet werden können. Deshalb muss man bei der Bundeswehrreform noch stärker auf Effizienz achten.
Auch sollten regionale Personalplanungsmodelle endlich zum Tragen gebracht werden. Man muss bereits bei
der Einplanung der Soldaten, möglichst schon bei den
Einstellungsgesprächen, viel mehr Gehirnschmalz - das
kostet nichts, nur Anstrengung - einsetzen, um den beruflichen Weg, zumindest den von Mannschaftsangehörigen und Unteroffizieren, präziser und verlässlicher zu
planen. Dazu gehört auch, dass man eher die interne
Werbung um Personal stärkt. Dort ist nämlich viel Kompetenz vorhanden; man kennt diejenigen, die als freiwillig Wehrdienstleistende ins Haus gekommen sind. Ich
glaube, das ist ein Ansatz, der uns weiterbringt und
durch den Geld gespart wird.
Es wird immer wieder gesagt: Soldat ist ein besonderer Beruf. Das stimmt sehr wohl. Die Ministerin hat aber
zu Recht darauf hingewiesen: Das gilt nicht im Alltags422
betrieb. Am Schreibtisch, in der Instandsetzung, auf dem
Flughafen, beim Betrieb des Truppenübungsplatzes,
auch wenn Schichtbetrieb notwendig ist, läuft es ähnlich
ab wie bei den Berufsfeldern Polizei und Feuerwehr.
Dort ist die Auftragserfüllung das Wichtigste. Das entscheidende Merkmal dafür, dass Soldat kein Beruf wie
jeder andere ist, ist doch, dass man in deutschem Interesse zum Einsatz ins Ausland abkommandiert werden
kann und dass man dort mit seinem eigenen Leben für
unser Land eintritt; das ist das eigentlich Besondere. Insofern kann man den beruflichen Alltag im Inland durchaus an Regularien in anderen Berufsgruppen orientieren.
Da aber die Besonderheit, lange von zu Hause weg zu
sein, nicht gefragt zu werden, wenn man versetzt wird,
womöglich ins Ausland, und sein Leben einsetzen muss,
eine hohe persönliche Verantwortung voraussetzt, ist es
gut und richtig, wenn immer wieder deutlich gesagt
wird: Die Qualität der Streitkräfte hängt in erster Linie
nicht von neuen und teuren Waffensystemen, von Strukturen, von Finanzen ab, sondern davon, ob wir die klugen, die guten jungen Menschen für diesen Beruf interessieren können und sie am Ende zu uns kommen. In
allen Berufen hat man die Erfahrung gemacht: Die guten
jungen Menschen suchen sich gute Arbeitgeber. Nur
wenn es uns gelingt, auch in Zukunft gute junge Menschen für die Bundeswehr zu finden und sie zu halten
- auch an dieser Stelle gibt es Probleme -, wird die Bundeswehr so sein, wie wir sie uns vorstellen.
Recht herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als nächste Rednerin
spricht Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin von der Leyen!
Herr Wehrbeauftragter! Meine Damen und Herren!
Auch im Namen meiner Fraktion möchte ich mich bei
Ihnen, Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und ebenso
bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Bericht aus dem Jahr 2012 bedanken. Unser Dank gilt auch
den vielen Soldaten und Soldatinnen, die sich mit ihren
Eingaben an den Wehrbeauftragten gewandt haben.
Diese liefern vor allem ein ehrliches und sehr detailliertes Feedback zur Umsetzung der Bundeswehrreform.
Das Feedback ist aber nicht wirklich gut. Die Unzufriedenheit bei den Soldatinnen und Soldaten ist groß, und
es hapert gewaltig.
Meine Damen und Herren, der Jahresbericht 2012
zeigt: Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist nach
wie vor eine sehr große Baustelle bei der Bundeswehr.
Die Hauptkritikpunkte sind die unzureichenden Möglichkeiten für eine Elternzeit, das häufige und belastende
Pendeln zwischen Standort und Heimat, aber ebenso das
fehlende Betreuungsangebot für Kinder. Zu lange wurde
dieses Thema belächelt. Es ist jenseits von Lippenbekenntnissen viel zu wenig passiert, und das ist ein Versäumnis.
({0})
Immer wieder haben wir Grüne in den letzten Jahren
schnelle und echte Verbesserungen angemahnt und Maßnahmen für eine familienfreundlichere Bundeswehr gefordert. Angesichts des demografischen Wandels und der
Herausforderungen bei der Nachwuchsgewinnung müssen wir genau darauf achten, wer sich mit welcher Qualifikation und vor allem mit welcher Motivation für eine
Tätigkeit bei der Bundeswehr entscheidet.
Die Umfragen und auch meine zahlreichen Gespräche
mit den jungen Männern und Frauen, vor allem mit den
freiwillig Wehrdienstleistenden, zeigen mir: Bei der Entscheidung für oder gegen eine Karriere in der Bundeswehr ist die Frage, ob sie mit einer Familie vereinbar ist,
ein sehr wichtiges Kriterium. Deshalb begrüßen wir es
ausdrücklich, Frau Ministerin von der Leyen, dass Sie
die Bedeutung dieses Themas erkannt und es prominent
auf die Tagesordnung gesetzt haben. Vonseiten der Opposition sagen wir Ihnen gern zu, Sie tatkräftig dabei zu
unterstützen, hier Verbesserungen in Angriff zu nehmen.
({1})
Mit dem Anstoß einer Debatte ist es aber natürlich
noch lange nicht getan. Jetzt kommt es darauf an, dass
Ihren Ankündigungen auch Taten folgen; denn die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist eben nicht umsonst
zu haben.
({2})
Zu der Frage, wie Sie Ihre Vorschläge konkret finanzieren wollen, haben wir bisher allerdings nur nebulöse
Versprechen gehört, auch heute an dieser Stelle.
({3})
Frau Ministerin, Sie müssen nicht nur schnell einen Zeitplan für Ihre Ideen vorlegen, sondern auch konkret aufzeigen, an welchen anderen Stellen dafür im Verteidigungsetat gespart werden soll.
({4})
Wir sind sehr gespannt auf Ihre Initiativen hierzu und
wollen diese, wie ich schon gesagt habe, unterstützen
und konstruktiv begleiten; aber wir werden auch sehr
kritisch hinschauen. Wir werden sehr genau beobachten,
welche Realität den schönen Interviewüberschriften folgen wird; denn in der letzten Koalition haben Sie als Arbeitsministerin mit vielversprechenden Ankündigungen
immer wieder Erwartungen geweckt, die dann schneller,
als man schauen konnte, wieder einkassiert wurden.
({5})
Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Frauenquote oder an die Lebensleistungsrente erinnern, die am
Ende mehr Schein als Sein waren.
So wichtig das Thema der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf ist, war ich doch sehr überrascht, dass das bisher der einzige Punkt ist, den Sie als Verteidigungsministerin offensiv angesprochen haben. In der Sicherheitspolitik gibt es darüber hinaus viele andere unbeantwortete,
aber umso drängendere Fragen. Auch da müssen Sie liefern. Was Sie im Interview vom Wochenende dazu gesagt haben, war enttäuschend. Ich finde, auch in Ihrer
heutigen Rede, Frau Ministerin, haben Sie mehr Fragen
gestellt als Antworten präsentiert.
({6})
Wie stellen Sie sich die zukünftigen Aufgaben und Einsätze der Bundeswehr vor? Wie geht es weiter in Afghanistan? Was ist die Reaktion auf die Gewalteskalation in
der Zentralafrikanischen Republik oder im Südsudan?
Was sind Ihre Vorschläge für die Reform der desaströsen
Beschaffungspolitik? Das Euro-Hawk-Fiasko haben wir
alle noch lebhaft in Erinnerung, und die Liste der problembehafteten Beschaffungen ist noch lang.
Frau Ministerin, all das sind Baustellen, die Sie jetzt
schnell anpacken müssen, genauso wie die Umsetzung
Ihrer Ankündigung zu einer besseren Vereinbarkeit von
Familie und Dienst.
Vielen Dank.
({7})
Danke schön, Frau Kollegin. - Als Nächster gebe ich
das Wort Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, namens meiner Fraktion möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern noch einmal ganz herzlich für die Arbeit an dem
Jahresbericht 2012, den wir heute behandeln, danken.
Wir schließen die Befassung noch ab, bevor der aktuelle
Bericht in der übernächsten Woche vorgestellt wird. Angesichts der Bedeutung hoffe ich, dass wir es in dieser
Wahlperiode schaffen, die künftigen Jahresberichte zügig zu behandeln.
Die vorherige Bundesregierung hat die größten Veränderungen seit Bestehen der Bundeswehr vorgenommen. Das war auch eine Reaktion darauf, dass die
Truppe noch nie so großen Herausforderungen wie in
den Einsätzen des letzten Jahrzehnts - nicht nur in Afghanistan, sondern auch in vielen weiteren, die wir hier
im Deutschen Bundestag als deutschen Beitrag zur Konfliktregulierung im Rahmen der internationalen Gemeinschaft beschlossen haben - gegenübergestanden hat.
Mit der Strukturreform haben wir endlich eine grundlegende, tragfähige Antwort auf den Wandel der sicherheitspolitischen Aufgaben gefunden. Die Veränderungen
haben allerdings auch Belastungen für die Soldatinnen
und Soldaten mit sich gebracht. Deren Unsicherheit über
die eigene Zukunft, die bei großen Reformvorhaben leider häufig auftritt, hat sich nicht zuletzt in den letzten
Jahresberichten des Wehrbeauftragten niedergeschlagen
und wird sich wohl auch im kommenden Jahresbericht
wiederfinden. Keine Bundesregierung zuvor hat allerdings auch so schnell so viele Verbesserungen für die
Truppe vorgenommen, von der Ausrüstung über die Versorgung einsatzgeschädigter Soldaten bis hin zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Dafür möchte ich bei
dieser Gelegenheit dem bisherigen Verteidigungsminister Thomas de Maizière und dem ausgeschiedenen
Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung
ganz herzlich danken.
({0})
Die neue Bundesregierung wird hier mit Kraft und
Engagement weitermachen müssen, und ich bin sicher,
dass sie das auch tun wird. Der Koalitionsvertrag steht
da für Kontinuität, was gerade hinsichtlich der Planbarkeit für die Soldatinnen und Soldaten wichtig ist. Ich begrüße ganz besonders das Bekenntnis der Koalitionspartner zur Verankerung der Bundeswehr und den Rückhalt
in der Gesellschaft, wie sich das beispielsweise in der
Unterstützung der Arbeit der Jugendoffiziere ausdrückt,
für die ich mich selbst schon lange einsetze. Ich halte es
für selbstverständlich, dass die Jugendoffiziere auch
weiterhin einen Beitrag zur sicherheitspolitischen Bildung an Schulen und Universitäten leisten.
({1})
Die Bundeswehr ist kein Fremdkörper, vor dem man
junge Menschen schützen muss, sondern eine Organisation mit Verfassungsrang in unserem demokratischen
System. Sie ist gerade kein Staat im Staate, sondern besteht aus Staatsbürgern in Uniform.
Zur Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft
gehört aber auch die Festlegung auf eine fortgesetzte
Präsenz in der Fläche, verbunden mit der Beibehaltung
der Truppenstärke von 185 000 Mann. Das ist wichtig
für die Attraktivität des Dienstes, zu der nicht zuletzt die
Sicherheit von Standorten gehört, damit Soldaten heimatnah eingesetzt werden und ihre Familien ihr Leben
planbar organisieren können. Zu Recht hat das Thema
Attraktivität einen eigenen Unterabschnitt im Koalitionsvertrag erhalten.
Liebe Frau Ministerin von der Leyen, in Ihrem neuen
Amt werden Sie sich sehr rasch mit dieser wie auch mit
anderen Dauerbaustellen befassen müssen. Dabei baue
ich auf die Fachkompetenz, die Sie aus Ihren vorherigen
Ämtern mitbringen, gerade im Hinblick auf die zahlreichen sozialen Aspekte der Attraktivität des Dienstes. Es
geht darum, die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft
mit der Vereinbarkeit von Familie und Dienst unter einen
Hut zu bringen.
Die vorherige Bundesregierung hat mit dem Attraktivitätsprogramm einen guten Anfang gemacht; das muss
nun konsequent weitergeführt werden. Zu den bereits
eingeleiteten Maßnahmen gehören die Möglichkeit von
Teilzeitbeschäftigung und Telearbeit, die Ausweitung
der Familienbetreuung auf den Inlandsdienst der Streitkräfte und die Schaffung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten an den Standorten, entweder in Kooperation mit
Anita Schäfer ({2})
den Kommunen oder, wenn nötig, auch in eigener Verantwortung.
Frau Ministerin, Sie haben am Wochenende bereits einen begrüßenswerten Schwerpunkt auf diesen Bereich gelegt und dabei viele Punkte erwähnt, die an dieser Stelle
immer wieder angesprochen worden sind. Ich habe es bereits in meiner ersten Rede zum aktuellen Jahresbericht
gesagt: Wir werden den Widerspruch zwischen einem
normalen Familienleben und den besonderen Anforderungen des Soldatenbetriebs niemals vollständig lösen
können. Die militärische Auftragserfüllung steht auch in
Zukunft an erster Stelle.
Wenn wir die Bundeswehr in der Fläche und in der
Gesellschaft präsent halten wollen, dürfen wir sie nicht
auf wenige Großstandorte konzentrieren, was zumindest
die Zahl der Versetzungen reduzieren würde. Ich bin
aber außerordentlich dankbar, Frau Ministerin, dass sie
mit unbefangenem Blick das System der automatischen
Versetzung in seiner bisherigen Form infrage gestellt haben. Da haben Sie uns von der Arbeitsgruppe Verteidigung der Unionsfraktion voll auf Ihrer Seite. Dieses Problem haben wir schon vor drei Jahren in unserer
Unterarbeitsgruppe zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr erörtert. In einem Antragsentwurf haben wir den Vorschlag gemacht, dass Soldaten im Regelfall ihre gesamte Dienstzeit, mit Ausnahme
von Aus- und Fortbildungskommandierungen sowie
Einsätzen, an einem Standort verbringen können, sofern
sie auf eine Beförderungsmöglichkeit verzichten, die
eine Versetzung erforderlich machen würde.
Ich würde mich freuen, wenn noch weitere Ideen aufgegriffen würden, die während der damaligen intensiven
Befassung entstanden sind. Zu nennen ist etwa das Pilotprojekt „Zu Hause in der Bundeswehr“, welches neben
attraktiven Wohnmöglichkeiten für die ganze Familie
ein umfassendes Familienbetreuungsprogramm nebst
Kindertageseinrichtungen bieten würde.
Meine Damen und Herren, ein besonders wesentlicher Punkt, der sich regelmäßig in den Berichten des
Wehrbeauftragten wiederfindet, ist die Planbarkeit von
Auslandseinsätzen. Unsere Soldaten wissen um die Risiken und Belastungen, die damit verbunden sind, und sie
stellen sich darauf ein, wenn bei einem Einsatz alles vorher klar ist, auch wenn der vorgesehene Zyklus von
Stand- und Ruhezeiten nicht immer eingehalten wird,
weil der Bedarf an besonderen Fähigkeiten es erfordert.
Viel belastender ist es, erst kurzfristig von einem Einsatz
zu erfahren, weil sich irgendwo eine Lücke aufgetan hat.
Über die Feiertage habe ich wieder von dem einen oder
anderen Fall erfahren müssen. Wenn wir es schaffen
würden, die Eventualitäten lang dauernder Einsätze
weitgehend mit vorausschauender Personalplanung abzudecken, wäre nach meiner Ansicht schon viel gewonnen. Dazu zählt übrigens auch die Besetzung von Leerstellen im Inlandsdienst, die durch Auslandseinsatz, aber
auch familienbedingte Abwesenheit entstehen, um
Mehrbelastungen des übrigen Personals zu vermeiden,
gerade in Truppengattungen mit regelmäßigen Aufgaben
im Inland wie im Sanitätsdienst und bei den Feldjägern.
Auch dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch, einschließlich des Vorschlags einer effektiveren Heranziehung der
Reservisten.
Darüber hinaus gibt es weitere Punkte, die im weitesten Sinne zur Attraktivität des Dienstes gehören. So
wollen wir die Nachversicherung für ausgeschiedene
Zeitsoldaten neu regeln und endlich die Hinzuverdienstgrenze bei Anschlusstätigkeiten von Versorgungsempfängern aufheben.
Meine Damen und Herren, Attraktivität und Vereinbarkeit von Familie und Dienst sind wichtig für die Zukunft der Bundeswehr, aber kein Selbstzweck. Auftrag
der Bundeswehr ist die Gewährleistung der Sicherheit
unseres Landes im Bündnis. Die Sicherheit der Kinderbetreuung für Soldatenfamilien ist nur ein Beitrag, um
die Auftragserfüllung durch motivierte Soldaten zu gewährleisten.
Auch bei anderen Aspekten muss in dieser Wahlperiode dringend ein tragfähiges Ergebnis erreicht werden.
Wir haben im Koalitionsvertrag unter anderem vereinbart, die politischen, ethischen und juristischen Fragen
um die Beschaffung und den Einsatz bewaffneter Drohnen zu klären. Diese Debatte muss dann aber auch zu einer klaren Entscheidung führen. Eine der ethischen Fragen ist zum Beispiel: Dürfen wir unseren Soldaten das
Mehr an Sicherheit vorenthalten, das diese Systeme bedeuten können? Das wird eine notwendigerweise kontroverse, sicherlich auch emotionale Debatte werden. Aber
wir dürfen uns nicht davor drücken, erst recht nicht vor
den Antworten, die am Ende stehen können. Egal ob Attraktivität oder Ausrüstung: Ein Mehr wird auch mehr
Geld kosten.
({3})
Wie wir alle wissen, werden die entscheidenden
Schlachten letztlich bei den Haushaltsverhandlungen geschlagen. Frau Ministerin, ich wünsche Ihnen für die Bewältigung der mit Ihrem neuen Amt verbundenen Aufgabe viel Kraft. Wir im Verteidigungsausschuss - das
kann ich sagen - werden Sie dabei bestmöglich unterstützen. Unser gemeinsames Interesse muss das Wohl
unserer Soldatinnen und Soldaten sein, und dafür - da
bin ich sicher - werden wir uns in den nächsten vier Jahren auch gemeinsam engagieren.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, liebe Kollegin Schäfer. - Nächste Rednerin für Bündnis 90 ist Doris Wagner.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Herr Wehrbeauftragter! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich, dass auch ich heute das erste Mal das Wort an Sie
richten darf.
Liebe Kollegen, stellen Sie sich einmal Folgendes
vor: Sie und Ihre Partnerin erwarten ein Kind. Sie freuen
sich. Das Kinderzimmer ist eingerichtet, und dann steht
die Geburt unmittelbar bevor. Ausgerechnet an dem Tag
sollen Sie die Abschlussprüfung für einen zuvor absolvierten Lehrgang ablegen. „Gut“, denken Sie, „ich fahre
mit dem Auto zur Prüfung, gleich anschließend ins
Krankenhaus, und dann kann ich hoffentlich rechtzeitig
bei der Geburt dabei sein.“ Sie bitten Ihren Vorgesetzten,
ausnahmsweise nicht gemeinsam mit den anderen Prüfungsteilnehmern mit dem Bus zu fahren, und die Antwort lautet: Seien Sie froh, wenn das Kind von Ihnen ist.
Sie fahren mit dem Bus. - Die Beschwerde des betroffenen Soldaten ist nur eine von zahlreichen aus dem Jahr
2012, doch sie zeigt exemplarisch, wie viel in Sachen
Familienfreundlichkeit bei der Bundeswehr noch im Argen liegt.
({0})
Wenn wir den Vorabberichten der Presse glauben dürfen,
wird uns Herr Königshaus Ende Januar berichten, dass
die Zahl der Beschwerden, insbesondere beim Thema
Familie, in 2013 noch erheblich gestiegen ist.
Inzwischen entscheiden sich immer mehr Soldatenfamilien dafür, nicht mit jedem Standortwechsel auch den
Familienwohnort zu ändern. Das heißt, dass etwa
70 Prozent der Soldatinnen und Soldaten zwischen
Dienst- und Wohnort pendeln, oft über mehrere Hundert
Kilometer. Das hat gesundheitliche Folgen und führt
häufig zur Entfremdung gegenüber den Kindern oder
auch der Partnerin oder dem Partner. Nicht umsonst liegt
- das haben wir gerade schon gehört - die Scheidungsrate bei Bundeswehrangehörigen bei bis zu 75 Prozent.
Noch immer fehlt es an vielen Standorten an Kinderbetreuungseinrichtungen. Soldatinnen und Soldaten, die
Elternzeit beantragen oder in Teilzeit arbeiten möchten,
werden mit dem Hinweis auf die allzu dünne Personaldecke abgewiesen. Schließlich - ein wirkliches Unding
in meinen Augen - sehen sich Bundeswehrfamilien
manchmal gezwungen, Darlehen aufzunehmen, weil ihre
Anträge auf Beihilfe zur Begleichung von Arztrechnungen über Monate nicht bearbeitet werden können. Ich
frage Sie, meine Damen und Herren: Wer möchte in einer solchen Armee dienen?
Herr Königshaus verweist in seinem Bericht mehrfach auf konkrete Verbesserungsvorschläge, die er dem
Bundesverteidigungsministerium unterbreitet hat. Das
unter Rot-Grün schon 2004 verabschiedete Gesetz zur
Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten verpflichtet die Bundeswehr dazu, familiengerechte Arbeitszeiten
und sonstige Rahmenbedingungen anzubieten, um die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst zu erleichtern.
Leider belegt der Bericht des Wehrbeauftragten einmal
mehr, dass die Umsetzung des Gesetzes im Alltag sehr
zu wünschen übrig lässt.
({1})
Was ist eigentlich so schwierig daran, die Vorgaben und
Vorschläge für eine familienfreundlichere Bundeswehr
in die Tat umzusetzen? Ich frage mich: Hat Herr de
Maizière in den vergangenen Jahren wirklich die nötige
Initiative gezeigt, um an den bekannten Missständen etwas zu ändern? Was ist so schwierig daran, einer Soldatin oder einem Soldaten verbindlich zu erklären, welche
Verwendungen und Versetzungen sie oder ihn in den kommenden Jahren erwarten, damit die Familie auch in Bezug
auf die Karriere der Ehepartner und die Schullaufbahn
der Kinder vernünftige Entscheidungen treffen kann? In
Ihren ersten Medienauftritten, Frau Ministerin, haben
Sie erklärt, alle diese Versäumnisse schnell aufholen zu
wollen. Meine Kollegin sagte es schon: Dieses Vorhaben
begrüßen wir ausdrücklich.
Sie selbst haben zuletzt immer wieder den quantitativen Aspekt des mangelnden Nachwuchses thematisiert.
Als Freiwilligenarmee muss die Bundeswehr um die
besten Arbeitnehmer konkurrieren, wobei aufgrund der
demografischen Entwicklung der Anteil von Soldatinnen
deutlich erhöht werden muss. Angesichts der dokumentierten Familienunfreundlichkeit verwundert es allerdings nicht, dass die Zahl der Frauen insbesondere in
Führungsfunktionen bisher noch weit unter der selbstgesetzten Marke von 15 Prozent liegt.
Herr Königshaus hat wiederholt den qualitativen Aspekt des sozialen Rückhalts für die Soldatinnen und Soldaten betont, ganz besonders, wenn belastende Erfahrungen aus Auslandseinsätzen verarbeitet werden müssen.
Eine Armee, die die privaten Strukturen von Familie und
Freunden zerstört, riskiert, irgendwann als Gruppe von
seelisch verletzten Menschen ohne Bindung zu enden.
Die Zeit drängt; denn die Frage, ob es der Bundeswehr
auf absehbare Zeit gelingen wird, familienfreundlichere
Strukturen zu schaffen, wird mit über die zentrale Frage
entscheiden, ob Deutschland in Zukunft überhaupt noch
eine funktionsfähige Armee hat.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, liebe Kollegin. Im Namen des ganzen
Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Alle freuen sich auch auf Ihre nächste Rede.
Jetzt hat der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die
SPD das Wort.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Lassen Sie mich in meiner
ersten Rede vor dem Hohen Hause zunächst meinen
Dank und Respekt ausdrücken gegenüber den Frauen
und Männern, den Soldatinnen und Soldaten, die sich für
uns, für Deutschland und für dieses Parlament, für Frieden und Freiheit einsetzen.
({0})
Sie halten das Unternehmen Bundeswehr am Laufen. Sie
halten ihren Kopf für uns hin. Sie werden deshalb mein
Antrieb für die nächsten vier Jahre sein.
Sehr verehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus,
vielen Dank für Ihren Bericht, der mir als neuem Mitglied dieses Hauses gezeigt hat, dass nicht leichte Kost
in sehr leicht lesbarer Form gestaltet werden kann. Texte
müssen nicht unbedingt schwer verständlich sein. Dies
sollte unser aller Antrieb sein.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Frauen und
Männer der Bundeswehr sind der Grund, warum wir
heute hier sind. Über 5 000 Beschwerden sind in den
noch nicht veröffentlichten, aber bereits bekannt gewordenen Bericht eingegangen. Das sind 700 mehr als im
Vorjahr. Stellt man dies einmal in Relation zur Personalstärke der Bundeswehr, dann wird klar, dass uns das aufhorchen lassen muss. Über entsprechende Konsequenzen für unsere Sicherheitspolitik haben wir heute viel
Gutes und Richtiges gehört.
Mit Verlaub, Frau Ministerin von der Leyen: Dass die
Presseabteilung des Verteidigungsministeriums hervorragend funktioniert, ist schon einmal ein Anfang. Wir
wissen aber beide: Die Diagnose ist nur der Anfang. Die
anschließende Behandlung des Themas wird noch mehr
umfassen. Sonst stehen wir alle nur mit hehren Zielen
und letztendlich mit Enttäuschungen da.
Ich sage ganz unumwunden: Die Aufgabe dieses
Hauses wird es sein, genau hinzuschauen, ob sich etwas
ändert. Frau Bundesministerin, wir werden Sie in Ihrem
Plan, der nicht nur Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat, sondern aus vollster Überzeugung angegangen wird, nämlich die Bundeswehr zeitgerecht effektiv
umzugestalten, unterstützen. Unsere Aufgabe wird es
aber auch sein, ein bisschen da und dort nachzubessern.
Dass es notwendig ist, das Arbeitsumfeld der Soldatinnen und Soldaten zu verbessern, steht, glaube ich, außer
Frage.
({2})
Der Jahresbericht macht eines klar: Wir brauchen
keine Reform der Reformen; wir brauchen vielmehr Ergebnisse. Die Umsetzung der laufenden Reform schlägt
unvermeidbar Wunden; das wissen wir. Da müssen die
Soldatinnen und Soldaten durch; da müssen auch wir
durch. Wissen wir aber schon, dass auch wir da durch
müssen? Solange unsere Spezialkräfte nicht einmal ihren
eigenen Hubschrauber haben, solange Soldaten nach nur
wenigen Monaten Heimataufenthalt wieder direkt in den
Auslandseinsatz gehen, ohne dass man sich ernsthaft um
sie gekümmert hat, solange psychische Belastungsstörungen nicht rechtzeitig erkannt werden und solange
Arztrechnungen nicht bezahlt werden, ist noch viel zu
tun. Wir beschäftigen uns viel zu viel mit dem KleinKlein. Solange wir nur reden, bleiben nur Ziele. Wir
wollen aber nicht nur Ziele und Belehrungen, wir wollen
handeln. Die Soldatinnen und Soldaten wollen Verantwortung übernehmen. Wir wollen Verantwortung übernehmen.
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird bei all
den Mängeln und Defiziten, die er aufzeigt, sicherlich
keine Wunder bewirken. Das gilt ebenfalls für den noch
nicht vorgelegten Jahresbericht 2013. Aber der Bericht
geht in die richtige Richtung.
Für meine Person gebe ich zu: Ich habe meine Heimat
nicht bei der Bundeswehr; ich habe nicht gedient. Meine
Heimat war über viele Jahre als Führungskraft das Rote
Kreuz. Vielleicht ist mir deshalb der Konflikt bekannt,
Familie, Beruf und Pflichterfüllung unter einen Hut zu
bringen. Dafür, hier die Balance zu finden, tragen wir die
Verantwortung; denn wir sind es, die die Soldatinnen
und Soldaten entsenden. Wir sind es, die das Mandat erteilen, und wir müssen es sein, die ihnen den Rücken
freihalten.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Vielen herzlichen Dank, lieber Herr Kollege
Dr. Brunner. Auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses
Gratulation zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Da Sie von Heimat geredet haben: Ich freue mich persönlich sehr, dass endlich einmal ein Illertissener hier im
Bundestag ist. Ich komme aus Babenhausen. Das muss
Ihnen nichts sagen; aber uns verbindet das.
({1})
Jetzt kommt als nächster Redner Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich gleich zu Beginn dem Wehrbeauftragten und seiner Mannschaft, die hier in großer Zahl
versammelt ist, für die geleistete Arbeit danken. Ich habe
mir gerade überlegt: Welchen zusätzlichen Aspekt
könnte man als achter Redner in dieser Debatte beim
Dank anbringen? Ich habe mir einmal angeschaut, was
hinter der Arbeit des Wehrbeauftragten steht. Da steht
für 2012: 38 Truppenbesuche, 103 Gesprächstermine,
133 Tagungen und größere Gesprächsrunden, an denen
der Wehrbeauftragte persönlich teilgenommen hat, plus
101 Besuchergruppen im Amt. Das zeigt in Summe das
hohe Engagement von Ihnen allen, und dafür möchte ich
Ihnen im Namen meiner Fraktion und, ich glaube, im
Namen des Hohen Hauses ganz herzlich danken.
({0})
Sie haben gemerkt: Wir - der Bundestag, aber auch
die Gesellschaft - haben hohe Ansprüche an das Verhalten unserer Soldatinnen und Soldaten im Dienst. Aber
unsere Soldaten sind auch nur Menschen. Bei knapp
200 000 Menschen, die zum Teil unter einer hohen psychischen und physischen Belastung stehen, kommt es
zwangsläufig zu Fehlverhalten. Das ist natürlich; alles
andere wäre eine Illusion. Aber wenn es zu Fehlverhalten kommt, muss man dem konsequent nachgehen. Ein
wichtiges Instrument dafür, vor allem für die BundesDr. Reinhard Brandl
wehr selbst, ist der Wehrbeauftragte und der Bericht des
Wehrbeauftragen, den wir heute hier debattieren.
Gerade in einer Organisation wie der Bundeswehr, die
auf Befehl und Gehorsam fußt, in der strenge Hierarchien gelten, ist es wichtig, offen und transparent mit
Fehlentwicklungen umzugehen, auch wenn so manchmal - Herr Kollege Arnold, da haben Sie recht - ein
verzerrtes Bild entsteht. Man kann festhalten, dass das
Führungsverhalten und das Verhalten unserer Soldaten
in der Bundeswehr zum allergrößten Teil tadellos sind;
das darf dadurch nicht in Vergessenheit geraten.
({1})
Der Gang zum Wehrbeauftragten ist ein wichtiges
Privileg unserer Soldaten. Es ist aber ein Instrument, das
vor allem dann greifen soll, wenn in den Augen der Betroffenen der Dienstweg versagt oder nicht geeignet ist.
Herr Brunner, Sie haben es gerade gesagt: Die Eingaben
nehmen im Moment prozentual eher zu. Ich möchte einen Aspekt hinzufügen: Das könnte auch daran liegen,
dass das Vertrauen auf den Dienstweg schwindet. Ich
sage Ihnen offen: Das wäre für mich noch besorgniserregender als die reine Erkenntnis, dass es bei dieser Anzahl an Menschen Fehlverhalten oder Unzufriedenheit
gibt. Wenn sich dieser Trend tatsächlich fortsetzen sollte,
würde ich anregen, auch den Aspekt, warum sich die
Soldaten an den Wehrbeauftragten wenden und wie die
Historie der Eingaben parallel zum Dienstweg ist, mit zu
untersuchen.
Unabhängig davon enthält der Bericht viele Ansatzpunkte, denen sich der Verteidigungsausschuss und
unsere neue Ministerin in den nächsten Monaten und
Jahren widmen werden. Der Personalmangel im Sanitätsdienst wurde noch nicht angesprochen, aber er ist
insbesondere im Bereich der Offiziere ein großes Problem. Die Erhöhung der Attraktivität insbesondere für
Familien wurde schon mehrfach angesprochen. Die Unsicherheiten, die mit der Neuausrichtung verbunden
sind, die Verbesserung der Einsatzbedingungen, viele
Punkte werden vom Wehrbeauftragten sehr detailliert
angesprochen. Ich sage: Die Schilderungen im Bericht
machen es irgendwie greifbarer als viele andere Lektüre,
die man sonst aus dem Bereich der Verwaltung bekommt. Dafür herzlichen Dank.
Es gibt aber auch positive Entwicklungen - ich zitiere -:
Insbesondere in Afghanistan haben weitere Verbesserungen bei Ausbildung, Ausrüstung und Ausstattung zu einem starken Rückgang der Zahl der Verwundeten, insbesondere der Schwerstverwundeten,
geführt.
Das ist insoweit bemerkenswert, als genau diese Frage
der Ausstattung, der Ausrüstung in den Einsatzländern
in den vergangenen Berichten immer wieder Gegenstand
von Kritik war und auch hier, in diesem Saal, immer zu
großen Diskussionen geführt hat.
Ich darf festhalten: Es bewegt sich also etwas in der
Bundeswehr; es gibt Fortschritte. Ich darf auch festhalten: Wenn es um die Sicherheit der Soldaten im Einsatz
geht, dann steht der Wehrbeauftragte zur Truppe, selbst
wenn die öffentliche Diskussion, insbesondere bei Fragen der Rüstung und Ausrüstung, auch manchmal
schwierig ist. Lieber Herr Königshaus, das wird sowohl
von den Soldatinnen und Soldaten als auch von uns sehr
hoch geschätzt.
Ich nenne als weiteres Beispiel die Verbesserung der
Betreuungskommunikation. Das war uns im Parlament
und im Verteidigungsausschuss fraktionsübergreifend
ein großes Anliegen. Hier ist einiges getan worden. Ich
hoffe, dass nun endlich auch die Bearbeitungszeiten bei
der Beihilfe wieder auf ein ordentliches Maß zurückgeführt werden. Das ist zwar nicht mehr Aufgabe der
Bundeswehr und, eng gefasst, auch nicht mehr Aufgabe
des Wehrbeauftragten, nichtsdestotrotz berührt das viele
unserer Soldatinnen und Soldaten.
({2})
Ich hoffe, dass die Neuausrichtung jetzt in eine Phase
tritt, in der die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen
Mitarbeiter den Nutzen und den Sinn der neuen Strukturen in ihrer täglichen Arbeit erspüren und die Unsicherheit abnimmt.
Zum Schluss möchte ich der Hoffnung Ausdruck
verleihen, dass die Bundeswehr jetzt wieder ruhigeren
Zeiten entgegengeht. Die letzten vier Jahre waren turbulent; viele von uns haben das in diesem Haus erlebt. Die
hohe Einsatzbelastung, insbesondere in Afghanistan, die
gleichzeitig vorgenommene Neuausrichtung der Bundeswehr und die Aussetzung der Wehrpflicht haben den
Betroffenen viel abverlangt. Ich hoffe, dass wir diese
schwierige Zeit jetzt hinter uns haben. Ich bin mir aber
auch sicher, dass für uns und den Wehrbeauftragten einiges zu tun bleibt. Ich freue mich darauf und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Danke schön, Herr Kollege Dr. Brandl. - Zum Abschluss dieses Tagesordnungspunkts gebe ich das Wort
Frau Heidtrud Henn für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh,
dass ich meine erste Rede zum 54. Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages halten darf. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, allen Angehörigen der
Bundeswehr zu danken; denn sie sorgen für unsere
Sicherheit und bekommen zu selten die Anerkennung,
die sie verdienen.
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus, der
Bericht des Wehrbeauftragten ist für uns Abgeordnete
ein Aufgabenbuch. Ich finde es gut, dass Soldatinnen
und Soldaten den Mut aufbringen, sich an Sie zu wenden, um Mängel anzuzeigen. Dass die Reform der Bundeswehr und die damit verbundenen Veränderungen in
Ihrem Bericht großen Raum einnehmen, überrascht
nicht. Die Umstrukturierung und die Belastungen, die
von den Streitkräften zu tragen sind, haben sich auf Soldatinnen und Soldaten und die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im zivilen Bereich ebenso ausgewirkt wie
auf deren Angehörige.
In unserem Koalitionsvertrag haben wir Vereinbarungen getroffen, die wesentliche Kritikpunkte Ihres Berichts aufgreifen und zu Verbesserungen beitragen werden. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer Gesellschaft.
Darum ist der von der Großen Koalition versprochene
Dialog in und mit der Gesellschaft so wichtig.
({0})
Wie in allen Bereichen des Arbeitslebens brauchen
wir auch bei der Bundeswehr gute Arbeitsbedingungen.
Kommandierungen, unregelmäßige Dienstzeiten und die
Notwendigkeit, zu pendeln, stellen für die betroffenen
Familien große Belastungen dar. Die Evaluierung der
Bundeswehrreform, die wir in diesem Jahr erwarten,
wird genauer zeigen, wo wir anpacken müssen. So muss
beispielsweise die betriebliche Kinderbetreuung weiter
ausgebaut werden. Ich habe mir erst kürzlich von einem
Eltern-Kind-Zimmer am Standort Idar-Oberstein berichten lassen. Das ist eine gute Idee, die hier umgesetzt
worden ist.
({1})
Auch auf kommunaler Ebene müssen gemeinsam
Lösungen gefunden werden. Wir brauchen besondere
Angebote für zeitlich begrenzte und meist kurze Betreuung von Kindern, wenn Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen wahrgenommen werden, die nicht in der Nähe
des Wohnortes stattfinden.
({2})
Hier reicht es nicht aus, nur die Kosten zu erstatten.
Ich sehe hier einige Kolleginnen und Kollegen mit
Handys und Tablets. Gerade wir wollen oder sollen ständig erreichbar sein. Für Soldatinnen und Soldaten in
Krisengebieten und auf Booten oder Schiffen ist das Telefonieren nach Hause nicht selbstverständlich und unter
Umständen sogar mit hohen Kosten verbunden. Auch
eine Internetnutzung ist oftmals nicht möglich. Es hat
hier Verbesserungen gegeben, aber nicht genug. Wir
müssen eine gute Betreuungskommunikation schon anbieten, wenn die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber
sein will, der seiner Fürsorgepflicht nachkommt.
({3})
Die große Belastung durch dienstlich bedingte Abwesenheit müssen alle Beteiligten tragen. Eine heimatnahe
Verwendung ist für Familien besonders wichtig. Dies ist
nicht immer möglich, und aufgrund der Berufstätigkeit
der Ehe- und Lebenspartner ist das Pendeln für viele
Bundeswehrangehörige unumgänglich. Die angesprochene räumliche Stabilität, die für Familien erforderlich
ist, braucht Planbarkeit und Transparenz. Es ist verheerend, wenn Soldatinnen und Soldaten sich von ihrer Familie ausgeschlossen fühlen, wie es in Ihrem Bericht zu
lesen ist.
Auf die Fürsorge der Bundeswehr, wie sie zwischen
Vorgesetzten und Untergebenen in § 10 Abs. 3 des Soldatengesetzes geregelt ist, müssen sich alle verlassen
können. Ich habe große Achtung vor Soldatinnen und
Soldaten, die offen über ihre psychischen Probleme reden und sich professionelle Hilfe holen. Es wäre gut,
wenn die Familien noch mehr in die Therapie eingebunden würden.
({4})
Für mich steht der Mensch, der sein Berufsleben in
den Dienst von uns allen gestellt hat, im Mittelpunkt der
Streitkräfte. Eine familienfreundliche Bundeswehr
braucht eine bundeswehrfreundliche Gesellschaft. Wir
alle sind dazu aufgefordert, denen, die dienen, entgegenzukommen. Dazu leistet der Bericht des Wehrbeauftragten einen wichtigen Beitrag. Wir haben viel zu tun. Ich
freue mich auf eine gemeinsame Arbeit mit allen Beteiligten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Gottes
Segen.
({5})
Vielen Dank, Frau Heidtrud Henn. Liebe Kollegin,
Sie sehen, dass Ihnen das ganze Haus zu Ihrer ersten
Rede gratuliert.
Es stimmt, hier sind viele Handys zu sehen, aber die
Erreichbarkeit wird hier im Saal nicht auf das Telefonie-
ren ausgeweitet. Das wissen Sie, und das sollten die
neuen Abgeordneten auch gleich erfahren.
Damit komme ich jetzt zur Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht des Wehr-
beauftragten, Drucksachen 17/12050 und 18/297. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Ich frage Sie nun: Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit der Zustimmung von CDU/CSU, von SPD, von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linkspartei
angenommen.
Vielen Dank und gute Zusammenarbeit im neu zu-
sammengesetzten Verteidigungsausschuss.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglieder
Drucksache 18/292
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Vizepräsidentin Claudia Roth
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedene
Regierungsmitglieder einführen
Drucksache 18/285
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Ich bitte die
Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, damit sie
dieser spannenden Debatte folgen können.
Ich gebe als erster Rednerin Britta Haßelmann das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren Besucher! Herr
Braun vom Kanzleramt, da haben Sie ja gerade noch einmal Glück gehabt. Ich glaube, wenn ich nicht darauf hingewiesen hätte, dass wir Sie sonst herbeizitieren, hätte
hier wahrscheinlich niemand vom Kanzleramt gesessen.
({0})
Dabei ist völlig klar: Bei dem Thema, über das wir jetzt
diskutieren, nämlich einer gesetzlichen Regelung zur
Karenzzeit, hat die Bundesregierung auch eine Verantwortung. Die Bundesregierung und mit ihr die Bundeskanzlerin haben eine Verantwortung, sich zu positionieren.
({1})
Meine Damen und Herren, nach den ersten Veröffentlichungen zur Frage, was Ronald Pofalla eigentlich nach
seiner Tätigkeit im Kanzleramt macht und ob er vielleicht in den Vorstand der Deutschen Bahn AG wechselt,
fand ich es unerträglich, die Erklärungen der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin zu hören, dazu gebe es
nichts zu sagen, schließlich sei Ronald Pofalla seit Wochen nicht mehr Mitglied dieser Bundesregierung. Ich
glaube, inzwischen haben Sie selber gemerkt, dass weder die Öffentlichkeit noch wir im Parlament Ihnen eine
solche Argumentation durchgehen lassen. Das war einfach nur peinlich.
({2})
Meine Damen und Herren, die Berufsperspektiven
von ehemaligen Spitzenpolitikerinnen und -politikern
sorgen bei Wechseln in die Wirtschaft immer wieder für
absolut berechtigte Kritik und stoßen auch auf Ablehnung. Öffentlich herrscht großes Unverständnis. Wir
kennen die mediale Berichterstattung - nicht nur im Fall
Pofalla, sondern auch in anderen Fällen - sehr genau und
wissen, dass wir in der Bevölkerung um Akzeptanz für
Wechsel von Politik in Wirtschaft zu werben haben. Die
bekommen wir aber nur hin, wenn es dafür angemessene
Regeln gibt. Hier im Deutschen Bundestag verweigern
Sie sich leider seit Jahren, dies zu tun. Die Akzeptanz ist
aber absolut notwendig.
({3})
Dass wir jetzt endlich zu einer gesetzlichen Regelung
kommen, hat nicht zuletzt mit dem umstrittenen Wechsel
von Eckart von Klaeden - vorher übrigens auch Kanzleramt - zu Daimler zu tun. Bei Ronald Pofallas Wechsel
tappen wir noch ein bisschen im Dunkeln, ob etwas daraus wird oder nicht. Ich weiß nicht, ob Herr Pofalla
heute hier ist oder vielleicht im CDU-Kreisverband
Kleve ist, um sich dort zu erklären.
({4})
Deshalb zitiere ich ihn an dieser Stelle gleich einmal.
Wir Grünen sind nämlich nicht die Einzigen, die sagen,
es braucht klare gesetzliche Regelungen. Die Zeit einer
Selbstverpflichtung ist längst vorbei, und wir als Parlament haben sie vertan. Denn darüber reden wir seit 2005,
meine Damen und Herren. 2005 war es Ronald Pofalla,
der angesichts des Wechsels von Gerhard Schröder sagte
- ich zitiere -:
Jetzt kommen wir an einer rechtlichen Regelung
wohl nicht vorbei: Es ist offensichtlich eine Illusion, zu glauben, dass der Appell an politischen Anstand alleine ausreicht, um solche Fälle zu verhindern.
Meine Damen und Herren, ich stimme nicht oft mit
Ronald Pofalla überein, aber in dieser Frage ausnahmsweise ja.
({5})
Trotz jahrelanger Debatte im Deutschen Bundestag
haben wir das als Bundestag insgesamt bisher versäumt.
Das lag nicht an uns Grünen. Wir haben diverse Antragsinitiativen zur Einrichtung eines Lobbyregisters gestartet
- auch die Linke; das weiß ich -, und zwar zum Schutz
aller: zum Schutz derjenigen, die hier sitzen, und zum
Schutz derjenigen, die von außen Beratertätigkeiten ausüben. Wir haben jahrelang mit Ihnen darüber gestritten,
endlich das UN-Abkommen gegen Korruption zu unterzeichnen. Das ist auf massiven Widerstand der Union
und auch der FDP gestoßen. Immer noch hat Deutschland dieses Abkommen nicht ratifiziert. Wir streiten mit
Ihnen seit Jahren auch über gesetzliche Regelungen zu
einer Karenzzeit. Die sind überfällig.
({6})
So wie wir Grünen denken auch viele, viele andere
Menschen. Sehen Sie sich einmal die EU-Kommission
an! Günther Oettinger kommentierte den geplanten
Wechsel von Ronald Pofalla mit dem Satz:
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es klare
Regeln für einen Wechsel von Regierungsmitgliedern in die Wirtschaft geben sollte.
Die SPD empörte sich öffentlich über den Fall Pofalla.
Stegner forderte klare gesetzliche Regelungen. Meine
Damen und Herren, was ist daraus heute geworden? Ich
höre, die Lösungsperspektive für die Große Koalition ist
jetzt das Zauberwort „Selbstverpflichtung“. Und was
machen wir dann im Deutschen Bundestag? Dann reden
wir wieder drei Jahre in den Ausschüssen darüber, dass
wir uns vielleicht selbst verpflichten. Ja, wo sind wir
denn, meine Damen und Herren?
({7})
Wir brauchen für die Zukunft endlich klare gesetzliche Regelungen, und zwar damit es Politikerinnen und
Politikern möglich ist, im Anschluss an ihre politische
Biografie, an ihre politische Tätigkeit hier im Deutschen
Bundestag in die Wirtschaft zu wechseln. Niemand will
so etwas grundsätzlich verweigern; aber dafür braucht es
eine Karenzzeit und eine gesetzliche Regelung. Die Zeit
der Selbstverpflichtung ist vorbei. Ich bin gespannt,
wann SPD und Union da liefern.
({8})
Vielen Dank, liebe Kollegin Haßelmann. - Als
Nächster hat das Wort Bernhard Kaster für die CDU/
CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal, Frau Kollegin
Haßelmann: Wir müssen dieses Thema hier gar nicht in
einer solchen Aufregung diskutieren. Es betrifft alle.
({0})
Die Aufregung steht letztendlich auch im Widerspruch
zu Ihrem Antrag.
Meine Damen und Herren, Politik und Wirtschaft,
Wirtschaft und Politik brauchen eher mehr Austausch als
weniger.
({1})
Ich denke, darüber besteht hier im Hause auch breiter
Konsens, jedenfalls bei allen, die ein normales Verhältnis zur Wirtschaft und ein gesundes Politikverständnis
haben.
({2})
Punkt zwei. Bei einem Thema - es geht um die Mitglieder der Bundesregierung -, das alle Parteien betrifft,
betroffen hat oder betreffen kann, können wir aufgeregte
Forderungen nicht brauchen. CDU, CSU und SPD haben
hierzu im Koalitionsvertrag sehr klug formuliert, dass
wir für ausscheidende Mitglieder der Bundesregierung
eine angemessene Regelung brauchen, die den Anschein
von Interessenkollisionen vermeiden hilft,
({3})
eine Handhabung mit Vernunft und Augenmaß. Für uns
wäre eine Praxis wünschenswert, die in das Verhältnis
von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein Stück Normalität bringt,
({4})
eine Normalität, der das Politikverständnis zugrunde
liegt, dass die Bereitschaft zur Übernahme eines politischen Amtes, ob als Staatssekretär oder Minister, immer
befristet ist, immer auf Zeit angelegt ist. Im Regelfall bedeutet politische Tätigkeit - das ist bei uns als Abgeordneten genauso - immer eine Unterbrechung der eigenen
Berufs- und Lebensbiografie, um für die Politik zur Verfügung zu stehen. Im Normalfall gibt es in der Politik
immer ein Davor und eben häufig auch ein Danach. Die
Fallgestaltungen, meine Damen und Herren, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, sind immer unterschiedlich.
({5})
Ich will jetzt nicht Äpfel mit Birnen vergleichen; dennoch müssen wir sehen, dass hier Differenzierungen notwendig sind. Sinnvoll wäre schlicht eine Handhabung,
die dem Ansehen der Politik in der Öffentlichkeit, aber
auch der Lebenswirklichkeit und einer Normalität im
Verhältnis zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
gerecht wird.
({6})
Wir können dieses Thema ja diskutieren; aber ein solches Thema im Wettstreit, ob ein Jahr, zwei Jahre, drei
Jahre - es fehlt nur noch der Begriff „auf Bewährung“ -,
zu diskutieren, damit tun wir uns bei dieser Debatte auch
keinen Gefallen.
({7})
Wir sollten in öffentlichen Debatten daher darauf achten, nicht zu schnell mit unterstellten Interessenkollisionen zu argumentieren. Es ist zwischenzeitlich zur Mode
geworden, den Begriff „Lobbyismus“ aber auch in jedem Zusammenhang als Kampfbegriff zu benutzen. Dabei sitzen in diesem Hause im Prinzip über 600 Lobbyisten, Lobbyisten für ihren jeweiligen Wahlkreis, für die
Menschen in ihrer Heimat, für die Arbeitsplätze dort, für
die Wirtschaftsbranchen, für die Arbeitnehmer- und Sozialinteressen. Das ist schlicht Politik, und das ist die
Aufgabe von Politik.
({8})
Am 4. Januar erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Kommentar, in dem es hieß, dass „stillschweigend zwischen guten und schlechten Interessen“
unterschieden werde und für die „guten“ Interessen zwischenzeitlich der Begriff der „Nichtregierungsorganisationen“ erfunden worden sei. Ich fand diesen Beitrag
nachdenkenswert. Warum sage ich das? Weil die Opposition in ihren Anträgen Bezug nimmt auf, ich sage einmal: Antilobby-Lobbyverbände oder -organisationen.
Ich sage einfach einmal: Sie wissen es als Fraktionen eigentlich besser. Deswegen ist es auch nicht notwendig,
sich da mit teilweise unrealistischen, praxisfremden Forderungen auf die Bäume jagen zu lassen. Sie selbst wissen es in der Praxis viel besser.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einen
Austausch, einen Austausch zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft - und umgekehrt. Dabei muss es gelingen - das ist richtig -, Interessenkollisionen oder den
Anschein von Interessenkollisionen zu vermeiden. Die
Berufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz gilt auch für
Politiker. Dabei gibt es zahlreiche Fallgestaltungen. Wir
sprechen hier fast ausschließlich vom Wechsel aus der
Politik in Unternehmen: große Unternehmen, börsennotierte Unternehmen, private Unternehmen oder staatseigene Unternehmen. Aber auch andere Fälle sind
denkbar. Was ist beispielsweise mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden, der Arbeitsminister oder Staatssekretär
wird und anschließend das Angebot bekommt, in seiner
Gewerkschaft wieder an höchster Stelle einzusteigen?
Was ist beispielsweise mit dem Anwalt aus einer großen
Anwaltspraxis, der nach Beendigung seines politischen
Amtes wieder in seine Kanzlei einsteigen will und große
Unternehmen, Institutionen aus dem Sozialbereich oder
was auch immer berät? Ich will damit nur zeigen, dass
das Spektrum schon ein relativ großes ist.
Es gibt darüber hinaus Wechsel, die wir politisch begrüßen, weil sie unserem Land nützlich sind.
({9})
Man könnte viele Fälle aufzeigen. Es handelt sich um
Wechsel in Institutionen der unterschiedlichsten Art. Ich
will nur die Spannbreite zeigen, über die wir hier sprechen.
Lassen Sie mich deswegen abschließend sagen: Wir
dürfen einen Wechsel nicht so erschweren, dass er in der
Lebenswirklichkeit sowie in der wirtschaftlichen und
politischen Praxis im Grunde fast gar nicht mehr möglich ist. Das tut auch der Politik nicht gut. Wir wollen
nicht, dass eine Entscheidung für die Politik immer eine
Entscheidung zum lebenslangen Berufspolitiker ist. Das
kann es nicht sein.
({10})
Das liegt auch nicht in unserem Interesse. Deswegen
wird die Bundesregierung eine angemessene und handhabbare Lösung zu diesem Thema finden.
Vielen Dank.
({11})
Danke, Herr Kollege Kaster. - Als Nächste spricht zu
uns Halina Wawzyniak für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! In den heute vorliegenden Anträgen geht
es um Karenzzeiten für ausscheidende Regierungsmitglieder. Wir sprechen nicht über ausscheidende Abgeordnete. Das kommt in der Debatte manchmal durcheinander.
({0})
Karenzzeit meint, dass zwischen dem Ausscheiden eines Regierungsmitglieds und dem Wechsel in ein privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen eine gewisse
Zeit liegen soll. Das heißt, es soll nicht in unmittelbarem
zeitlichen Zusammenhang gewechselt werden.
Dass das Problem existiert, hat die Koalition erkannt.
Sie hat es im Koalitionsvertrag erwähnt - ich zitiere -:
Um den Anschein von Interessenkonflikten zu vermeiden, streben wir für ausscheidende Kabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretärinnen
und Staatssekretäre und politische Beamtinnen und
Beamte eine angemessene Regelung an.
Herzlichen Glückwunsch, dieses Problem haben Sie
schon einmal erkannt. Sie müssen es jetzt noch lösen.
({1})
Das Problem sind Interessenkonflikte. Das Problem
ist der Verdacht, dass Amtsträger Insiderwissen aus der
Regierungstätigkeit nachträglich für sich selbst und natürlich auch für das privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen nutzen. Ein unmittelbarer Wechsel nach dem
Ausscheiden aus dem Regierungsamt bedeutet immer
auch, dass Zweifel entstehen, ob das Amt vorher frei von
wirtschaftlichen Interessen ausgeübt worden ist, und solche Zweifel schaden der Demokratie.
({2})
Wenn das Vertrauen in die Unabhängigkeit politischer
Entscheidungsprozesse sinkt, dann haben wir alle ein
Problem. Deshalb bedarf es einer gesetzlichen Regelung
einer Karenzzeit; denn nur diese ist verbindlich.
({3})
Ein Wechsel in ein privatwirtschaftlich organisiertes
Unternehmen unmittelbar nach dem Ausscheiden aus
dem Amt weckt immer Misstrauen, Misstrauen - ich
wiederhole mich, aber das ist der Kern der Debatte -,
dass vorherige Entscheidungen im Amt allein oder vorwiegend im Hinblick auf die eigene Zukunft oder den
zukünftigen Arbeitgeber getroffen wurden. Deshalb hilft
nichts anderes als eine gesetzliche Karenzzeitregelung.
Um es einmal klar und deutlich zu sagen: Wenn ein
Minister vor seinem Amtsantritt beispielsweise Lokführer bei der Deutschen Bahn gewesen wäre und nach seinem Amt in seinen Job als Lokführer zurückkehren
würde, würden die Bahnen vermutlich nicht pünktlicher
ankommen, aber jegliche Affäre wäre beendet.
({4})
Das war aber wohl nicht gemeint, als Innenminister
Schily - ich muss kurz abweichen - und die Deutsche
Bahn AG Anfang der 2000er-Jahre das Personalaustauschprogramm Seitenwechsel auf den Weg gebracht
haben, welches uns sogenannte Leihbeamte bescherte.
Nach einem Bericht an den Haushaltsausschuss vom
30. September 2013 befinden sich noch immer 39 Leihbeamte in Ministerien. Beenden Sie von der Großen Koalition einfach diesen Zustand!
({5})
Die Große Koalition will jetzt also eine Regelung
schaffen. Presseberichten zufolge - das ist hier schon erwähnt worden - soll das im Rahmen eines Kabinettsbeschlusses geschehen. Ich finde, jetzt fehlt nur noch eines:
Sie müssten sagen: Niemand hat die Absicht, unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem Amt in ein privatwirtschaftliches Unternehmen zu wechseln. Darauf gebe
ich Ihnen mein Ehrenwort. Ich wiederhole: mein Ehrenwort!
({6})
Sie streiten sich jetzt noch - das geht aus der medialen Berichterstattung hervor - über die Karenzzeit, während der ein Wechsel nicht stattfinden soll. Man hört einmal von sechs Monaten und einmal von achtzehn
Monaten. Der Kompromiss könnten zwölf Monate sein.
Ich frage mich, wie Sie das machen wollen. Wollen Sie
würfeln? Wollen Sie Lose ziehen? Wollen Sie Flaschen
drehen?
({7})
All diese Zahlen sind doch willkürlich gewählt und kein
objektiver Maßstab. Für eine gesetzliche Regelung zu
Karenzzeiten ist aber ein objektiver Maßstab notwendig.
Eine Karenzzeit stellt im Übrigen immer eine Einschränkung der Berufsfreiheit dar. Diese Einschränkung
muss mit dem berechtigten Interesse, die Verquickung
von Wirtschaft und Politik auszuschließen und die Mitnahme von Insiderwissen zu unterbinden, in Einklang
gebracht werden.
({8})
Dieses berechtigte Interesse rechtfertigt die Einschränkung der Berufsfreiheit. Das macht die Einschränkung
der Berufsfreiheit angemessen und erforderlich.
Angemessen, erforderlich und vor allem aber verhältnismäßig ist aus der Sicht meiner Fraktion eine Karenzzeit, die sich an der Dauer des Regierungsamtes, dem
sich daraus ergebenden zeitlichen Anspruch auf Übergangsgeld und der Ressortzuständigkeit orientiert. Wir
lösen das Problem konsequent und juristisch sauber.
({9})
Wir werben für unseren Vorschlag einer Karenzzeitregelung für ausscheidende Regierungsmitglieder, weil
wir finden, dass dieser Vorschlag angemessen, erforderlich und verhältnismäßig ist. Das sind drei Dinge auf
einmal, und das gibt es nicht immer.
({10})
Vielen Dank, Kollegin Wawzyniak. - Als Nächsten
rufe ich Mahmut Özdemir für die SPD auf.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann an dieser Stelle nur mutmaßen, warum die
Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen die
beiden Anträge eingebracht haben, die sich darin erschöpfen, einen Grundkonsens aus dem SPD-Wahlprogramm und dem Koalitionsvertrag,
({0})
zugegebenermaßen mit einer erweiterten Begründung,
zu wiederholen.
({1})
Wenn aktuell medial präsente Einzelfälle diese Debatte auch beeinflusst haben mögen, so sind wir klug beraten, alle Belange ohne Hektik abzuwägen. Organisationen wie Transparency International und LobbyControl
weisen hier bereits in die richtige Richtung und zeigen beispielsweise auch die Defizite eines EU-Modells zu Karenzzeiten bei der Kommission auf.
({2})
Insoweit stelle ich hier in diesem Hause einen Grundkonsens für Karenzzeiten fest und freue mich, dass Sie
diesen Weg mit Ihren Anträgen begleiten wollen.
Die Diskussion über Karenzzeiten für ausgeschiedene
Regierungsmitglieder - Mitglieder der Bundesregierung
und der Landesregierungen sowie Parlamentarische und
hauptamtliche Staatssekretäre beziehe ich mit dieser
Formulierung bewusst ein - mutet simpel an. Der tatbestandliche Kern wird aber verborgen: zwischen der Berufsfreiheit - hier geht es um ein Freiheitsrecht -, dem
Selbstschutz, der Integrität des Regierungshandelns und
der Vertraulichkeit und Beeinflussbarkeit parlamentarischer Prozesse des Deutschen Bundestages bis in die
Landtage hinein.
Mit der Karenzzeit wird daher das Ziel verfolgt, dass
Kompetenzen, Erfahrungen und vor allem auch Netzwerke und Kontakte, die auf Kosten des Steuerzahlers
erworben worden sind, nicht unmittelbar gewinnbringend in die private Wirtschaft eingebracht werden. Das
wollen wir verhindern, damit der Staat keinen Schaden
nimmt.
({3})
Die private Wirtschaft hat die Gefahr des Wechsels
zur Konkurrenz im weitesten Sinne früh erkannt und
Vorkehrungen getroffen. Private Arbeitgeber lassen beispielsweise im Konkurrenzfalle Auszubildende bis hin
zu leitenden Angestellten nicht ohne Weiteres ziehen
Mahmut Özdemir ({4})
und knüpfen an einen Wechsel auch eine Entschädigungspflicht im privatwirtschaftlichen Sinne an. Aber ob
nun zwischen der Politik und der Privatwirtschaft ein
Konkurrenzverhältnis besteht, ist nicht die eigentliche
Frage.
Vielmehr geht es darum, ob periodisch ministeriale
Hoheitskenntnisse und -fähigkeiten sprichwörtlich eingekauft und verkauft werden können. Da blendet die
Farbenpracht das Auge bei den Linken und den Grünen.
Bei der Dauer von gesetzlichen Veränderungen haben
diese überlegenen Sachkenntnisse eben eine erhebliche
Halbwertszeit. Der Tatbestand, wie ich eingangs formulierte, suggeriert, dass man eine gesetzliche Regelung
schon im Hinterkopf hat. Diesem Eindruck möchte ich
persönlich widersprechen, weil ich folgenden Widerspruch nicht aufzulösen vermag.
Wenn ein Unternehmensvorstandsmitglied in die
Spitze des Wirtschaftsministeriums, ein Gewerkschaftsfunktionär in die Spitze des Arbeitsministeriums wechseln könnte und beide dabei nur arbeitsvertragliche Fristen zu berücksichtigen hätten, dann aber aufgrund einer
Karenzzeit nicht unmittelbar in ihre ursprünglichen Tätigkeiten zurückkehren könnten, so wäre es im Nebeneffekt potenziert, dass ein Minister- oder Staatssekretärsamt vorübergehend berufliche Perspektiven jenseits
der Politik verbaut. Im Ergebnis schmälert dies auch die
Attraktivität von Regierungsämtern.
({5})
Attraktive Stellenangebote haben nun einmal nicht Bewerbungsfristen von mindestens drei bis fünf Jahren im
Falle eines freiwilligen oder unfreiwilligen Ausscheidens aus der Regierung.
({6})
- Ich habe Ihnen auch zugehört. - Darüber hinaus führt
diese Debatte um Karenzzeiten, wie sie die Fraktionen
von Linken und Grünen überspitzt formulieren, in der
Konsequenz zu einem völlig realitätsfremden Bild. Eine
Karenzzeit ist kein Sprech- oder Handlungsverbot für
ein ausgeschiedenes Regierungsmitglied. Langfristige
Fernwirkungen eines Regierungsamtes sind niemals völlig auszuschließen, erst recht nicht durch eine überlange
Karenzzeit, die im Zweifel genau das Gegenteil bewirkt.
Wohl aber können wir kurzfristige Verquickungen in
laufenden Gesetzgebungsverfahren, die eine Beeinflussbarkeit politischer Prozesse von Bundesregierung und
Bundestag betreffen, in personeller und sachlicher Hinsicht kappen.
Dies führt uns zu der Frage, was unmittelbar eigentlich in zeitlicher Dimension auf die Interessenverpflichtung deutet; denn unabhängig davon, über welche Mindestdauer wir hier reden - wir sind hier an dieser Stelle
nicht auf einem Basar -, sprechen wir darüber, dass am
Ende der Steuerzahler für eine solche Entschädigungspflicht aufkommt. Gerade deshalb mahne ich hier zu
mehr Verantwortungsbewusstsein in der Debatte. Wenn
die Antragsteller die Einzelfälle emotional für eine gesellschaftliche Akzeptanz zu nutzen versuchen, um sich
gegenseitig in der Dauer der Karenzzeit zu überbieten,
wenn man glaubt, mit einer stetig erhöhten Dauer der
Karenzzeit Wählerstimmen zu fangen, verliert man an
dieser Stelle die Bodenhaftung; denn: „Selbst der Gerechte wird ungerecht, wenn er selbstgerecht wird.“
({7})
Sinn und Zweck ist der Schutz der Würde der Regierung insgesamt, der Schutz des Bundestages selbst, aber
grundsätzlich auch der Schutz der gesellschaftlichen Akzeptanz eines interdisziplinären Wechsels zwischen Politik und Wirtschaft. Da bin ich froh, dass beide Antragsteller das nicht bestreiten und dass hierüber Konsens
besteht.
Wir Sozialdemokraten haben dies in den Koalitionsverhandlungen sehr deutlich gemacht und auch durchgesetzt. Nun ist ein gemeinsamer Weg möglich, und die
Regierungsfraktionen, aber auch alle anderen Fraktionen
in diesem Haus sind aufgerufen, eine konstruktive Lösung zu finden.
Neben der zeitlichen Dimension gibt es allerdings
- jetzt wird es dröge - auch eine sachliche Dimension.
Beides ist aus meiner Sicht nur einvernehmlich regelbar.
Sofern man einen Bezug zwischen Regierungsamt und
ausgeübter Tätigkeit in der Privatwirtschaft verlangt, um
eine Interessenverflechtung nachzuweisen, besteht das
Problem der Grauzone jenseits von eindeutigen Sachverhalten.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Gedankenspiel
- der Gesundheitsminister ist nicht da, da kann man das
Beispiel bringen -: Wenn der Gesundheitsminister in die
Automobilindustrie wechseln wollen würde, dann wäre
dieser Wechsel als so abwegig gekennzeichnet, dass
nach ebenjener Verflechtung schon krampfhaft gesucht
werden müsste.
({8})
Zurück zur Sachlage. Ein beschränktes Berufsverbot
wäre demnach in seiner sachlichen Komponente permanentem Streit unterworfen und würde je nach Ministeriumszuschnitt eine potenzielle Ungleichbehandlung der
Regierungsämter unter sich bedeuten. Das andere Extrem mit einer zeitlichen Beschränkung, aber einem umfassenden sachlichen Verbot in jeglicher Hinsicht wäre
aus Sicht der Gleichbehandlung von Regierungsämtern
und Zuschnitten denkbar, aber formulieren Sie mir an
dieser Stelle einmal das Gesetz. Da bin ich sehr gespannt, ob Sie das juristisch sauber hinbekommen.
({9})
Jetzt differenziere ich für Sie noch eine Ebene. Geht
man noch eine Differenzierungsebene tiefer und knüpft
an konkrete Sachzuständigkeiten an und erhebt dies zum
Ausgangspunkt der vorübergehenden Beschränkung der
Berufsfreiheit, so mag dies nach einem belastbaren Kriterium klingen. Aber der Vorwurf, dass eine ministerielle
Befassung des Betroffenen nicht vorlag, wird angesichts
Mahmut Özdemir ({10})
von Dienstbesprechungen und Kabinettssitzungen niemals völlig zu entkräften sein, weil im Mindestmaß die
Kenntnis nicht auszuschließen sein wird.
Die fehlende Paraphierung eines Vorgangs durch den
Betroffenen würde niemals die politische - nicht die juristische - Unschuldsvermutung an dieser Stelle aufheben. Damit hätten wir eine Generalklausel für künftige
Streitgespräche an einer Stelle hineinformuliert, wo wir
Verbindlichkeit herstellen wollen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Gerade dies zeigt, dass es leichter ist, diesen Gesetzentwurf zu fordern, als ihn vorzulegen. Wenn man ihn
schon fordert, dann muss man die Gewissheit haben,
dass der Komplex zuverlässig regelbar ist. Ohne eine abschließende Bewertung an dieser Stelle vorzunehmen:
Das Panorama zeigt, dass eine tiefgründige Sacharbeit
unerlässlich ist, um die Karenzzeiten vernünftig und
machbar einzuführen. Genau hierzu lade ich im Namen
der Regierungsfraktionen die Antragsteller herzlich ein.
Die Debatte hier und heute nehme ich persönlich als
notwendige und wichtige Gelegenheit, die äußeren Pole
des Komplexes zu definieren. Wir sollten antreten, eine
effektive und pragmatische Lösung zu finden, die regelungstechnisch zunächst bei der Selbstverpflichtung ansetzen könnte. Damit plädiere ich darüber hinaus für einen
verbindlichen Lösungsansatz, der den Grundkonsens in
diesem Hause einstimmig fixiert und darüber hinaus nicht
unbedingt konsensfähige Punkte im Rahmen eines Ehrenkodexes bzw. Verhaltenskodexes - dazu sind wir für
Gespräche offen - konkretisieren kann. Aber eine verbindliche Regelung für Karenzzeiten ist - daran besteht
kein Zweifel - dringend geboten.
Die konkrete Frage in sachlicher Hinsicht, ob und
wieweit ein fachübergreifender oder fachinterner Wechsel von Politik in Wirtschaft vorliegt, wird allerdings
stets eine Einzelfallbewertung bleiben. Dabei möchte ich
diese Einzelfallbewertung aber stets der parlamentarischen Kontrolle unterworfen wissen.
Schon jetzt gilt § 5 Abs. 1 Satz 2 Bundesministergesetz, der den Bundestag beispielsweise bei der Vereinbarkeit von Regierungsamt und Zugehörigkeit zu einem
Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat zum Souverän macht.
Diese Prägung von Parlamentarismus könnten wir bereichernd in die Beratungen einbringen.
Ich fasse zusammen: Die SPD und die übrigen Partner der Regierungskoalition werden den Koalitionsvertrag an dieser Stelle umsetzen und zügig Karenzzeiten
einführen. An dieser Stelle ist die Regierung gefordert.
Dabei geht es schließlich nicht nur um die Würde von
Regierungsämtern, sondern auch um die Integrität des
politischen Systems in Deutschland.
Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit. Im
Ruhrgebiet sagt man auch: Ein herzliches Glückauf!
({11})
Herr Kollege, im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede. Sie haben gesagt:
„Jetzt wird es dröge.“ Ehrlich gesagt, ich fand es nicht
dröge. Ich fand es ziemlich pfiffig und einladend zu einer lebhaften Debatte und Auseinandersetzung. Ich gratuliere Ihnen sehr zu diesem Einstieg.
({0})
Als nächsten Redner rufe ich auf Dr. Konstantin von
Notz für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, Ihre Argumentationsweise ist höchst widersprüchlich. Auf der einen Seite sagen Sie, Sie wollen am gesetzlichen Status
quo nichts ändern. Auf der anderen Seite wird in den
letzten Tagen immer wieder an Vorgänge von vor zehn
Jahren, an Joschka Fischer und Matthias Berninger, erinnert, die offensichtlich vielen noch lebhaft vor Augen
stehen.
Wenn es um die Kollegen von Klaeden, Fahrenschon
und Pofalla geht, dann ist das alles für Sie kein Problem,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Wenn es
um Gerhard Schröder und Kurt Beck geht, echauffieren
Sie sich öffentlich und medial ohne Ende.
({0})
Das ist widersprüchlich und trägt argumentativ nicht. Sie
offenbaren damit selbst: Wir brauchen eine solche Regelung.
Herr Kollege Özdemir, herzlichen Glückwunsch auch
von mir zu Ihrer ersten Rede! Wenn das alles im SPDWahlprogramm steht, ist das eine feine Sache. Aber jetzt
regieren Sie, und jetzt müssen Sie umsetzen, was Sie ins
Wahlprogramm geschrieben und den Menschen versprochen haben. Kaum dass Sie zwei Monate regieren - auf
der landespolitischen Ebene wird von Herrn Stegner
noch die große Rhetorik angewandt -, sind Sie hier
wachsweich und fordern auf einmal Selbstverpflichtungsregelungen. Das ist inkonsequent. So geht es nicht.
({1})
Dass wir eine Regelung brauchen, zeigt auch die
Kanzlerin. Sie lässt verbreiten, sie selbst habe ihrem
Kanzleramtsminister eine Zeit im Abklingbecken empfohlen. Aber er hält sich halt nicht daran. Ihr engster Vertrauter hört nicht auf die Kanzlerin. Daran sehen Sie, wo
Sie mit Ihren Selbstverpflichtungen landen.
({2})
Die Nummer „Pofalla selbstverpflichtet Pofalla“ oder,
um es für Sie ein bisschen anschaulicher zu machen,
„Gerhard Schröder selbstverpflichtet Gerhard Schröder“
funktioniert nicht. Deswegen brauchen wir eine gesetzliche Regelung.
({3})
Das Grundproblem der Debatte ist der böse Schein,
den solche direkten Wechsel erzeugen. Uns geht es nicht
darum, den Wechsel aus einer Regierungsfunktion in die
Privatwirtschaft grundsätzlich zu verhindern, schon gar
nicht dauerhaft. Um es für uns Grüne noch einmal glasklar zu sagen: Natürlich muss ein Wechsel zwischen
Politik und Wirtschaft möglich sein, insbesondere wenn
man nicht will, dass jemand, der einmal Politik macht,
immer Politik machen muss. Aber ohne eine entsprechende Regelung - das zeigt doch nun die seit Wochen
anhaltende Debatte über den Kollegen Pofalla - nimmt
die Glaubwürdigkeit unseres politischen Systems, unserer Demokratie Schaden.
({4})
Uns geht es darum, für den Fall eines von einem unabhängigen Gremium festgestellten Interessenkonflikts
eine Übergangsfrist zu schaffen, die diesen bösen Schein
abwendet und dafür sorgt, dass Politik und Wirtschaft
nicht in Misskredit geraten.
({5})
Hören Sie endlich auf, diese Diskussion mit Nestbeschmutzeranfeindungen zu führen! Diejenigen, die ein
offensichtliches gesellschaftliches Problem ansprechen,
sind nicht die Urheber. Die schärfsten Töne in dieser Debatte kommen aus der CDU, und zwar aus dem Kreisverband des Kollegen Pofalla, aus dem schönen Kleve.
Das sind die Scharfmacher in der Debatte.
({6})
Es scheint also ein gesellschaftliches Problem zu geben.
Noch ein Wort zu dem Vergleich mit Berufsverboten,
den ich in den letzten Wochen so oft gehört habe. Wollen
Sie ernsthaft behaupten, dass die heute bestehenden Regelungen im Beamtenrecht und im Handelsrecht Berufsverbote sind?
({7})
Berufsverbote haben Tausende Bürgerinnen und Bürger
von ihrem Anspruch auf Aufnahme in den öffentlichen
Dienst aus politischen und ideologischen Motiven dauerhaft ausgeschlossen. Bei den Karenzzeiten für ehemalige
Regierungsmitglieder geht es darum, nur für den Fall eines unabhängig festgestellten Interessenkonflikts überschaubare Fristen zu schaffen, um einen Interessenkonflikt zu vermeiden. Ihr Vergleich ist zynisch, unsachlich,
und ich weise ihn aufs Schärfste zurück.
({8})
Herr Kollege, denken Sie ein bisschen an Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Transparenzverpflichtungen, Karenzzeiten und klare
Spielregeln sind schon heute internationaler Standard.
Entsprechende gesetzliche Vorschläge liegen hier im
Hause seit langem auf dem Tisch. Wir fordern Sie noch
einmal auf: Beenden Sie den Zustand der Rechtsunsicherheit! Schaffen Sie endlich eine klare gesetzliche Regelung!
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Danke, Konstantin von Notz. - Als Nächstem erteile
ich das Wort Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr von Notz, ich möchte Ihnen zunächst
einmal empfehlen, ein Interview im Deutschlandfunk zu
ebendiesem Thema und zur Causa Pofalla nachzulesen,
gegeben von einer gewissen Autorität im deutschen Parlamentarismus, nämlich Heiner Geißler. Lesen Sie es
einmal durch!
({0})
Dann erkennen Sie, dass Sie mit Ihrer Rede das Thema
völlig verfehlt haben. Sie wollen eine gesetzliche Regelung, fordern sie mit Inbrunst, unternehmen aber nicht
den Hauch eines gedanklichen Ansatzes für den Wortlaut einer solchen gesetzlichen Regelung; denn Sie wissen, dass ein solcher Sachverhalt per Gesetz nicht regelbar ist.
({1})
Das heißt nicht, dass wir an dieser Stelle kein Problem
haben können. Es ist durchaus denkbar, dass Missbrauch
möglich ist und dass wir diesem Missbrauch vorbeugen
müssen. Aber einer gesetzlichen Regelung ist dieser
Sachverhalt kaum zugänglich.
({2})
Warum? Sie sagen anlässlich des ins Gespräch gebrachten Wechsels von Kanzleramtsminister Pofalla zur
Bahn, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität
staatlichen Handelns sei in Gefahr. Kein Gesetz schützt
einen Politiker, der einen solchen oder einen anderen
Wechsel vorhat, vor Verleumdung,
({3})
Neiddebatten und verwirrten Geistern, die alles durcheinanderbringen.
({4}) - Dr. Konstantin
von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: KV
Kleve! - Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Verwirrte Irrlichter!)
Der Wechsel von einem Regierungsamt in ein Amt bei
der Bahn ist ein Wechsel vom Bund zum Bund. Das ist
überhaupt kein Wechsel. Man setzt sich in der Regierung
für die Allgemeinheit ein, man setzt sich bei der Bahn
für die Allgemeinheit ein, in einem speziellen Fall.
({5})
Der Unterschied ist ein anderer. Das verstehen Sie
von der Linken nicht. Da geht es um privatwirtschaftliche Strukturen. Das ist auch der Grund, warum die Linke
eine grenzenlose Karenzzeit fordert.
({6})
Die Linken laufen nämlich nicht Gefahr, irgendwann
von irgendeinem Wirtschaftsunternehmen übernommen
zu werden. Mit einem linken Vorstandsmitglied kann
man ein Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht allenfalls möglichst zügig in den Konkurs führen, man
kann aber nicht kreativ tätig sein.
Erlauben Sie eine Frage vom Kollegen von Notz?
Nein, ich gehe gleich auf den Kollegen von Notz ein.
Dann kann er seine Fragen sammeln, Frau Präsidentin.
Also keine Frage, gut.
Ich möchte Sie von den Grünen ermahnen,
({0})
sich die Fälle auch in Ihrer Partei noch einmal vor Augen zu führen.
({1})
Da gab es diesen bereits zitierten Parlamentarischen
Staatssekretär Berninger, der unter anderem für gesunde
Ernährung zuständig war. Er wechselte unmittelbar in
den Vorstand des Nahrungsmittelkonzerns Mars.
({2})
Ich stelle anheim, ob wir das unter „gesunde Ernährung“
subsumieren sollten.
({3})
Ich habe hier eine Liste von allen grünen Politikern,
die ich aber nicht alle der Reihe nach aufzählen will.
({4})
Wir hätten noch unseren Freund Rezzo Schlauch, seinerzeit eine Frohnatur im Deutschen Bundestag, der dann
bei EnBW für sein persönliches Fortkommen gesorgt
hat.
({5})
Ich meine, wir sollten in aller Ruhe die Fälle auseinanderhalten
({6})
und keinesfalls eine Neiddebatte führen,
({7})
von wegen „Es müssten hochdotierte Anschlussverwendungen verhindert werden“ - das ist eine Forderung, die
ich bei Ihnen nachgelesen habe.
({8})
Es gibt Fälle, da wechselt ein Politiker in eine Nichtregierungsorganisation. Ist das schlimm?
({9})
Es gibt Fälle, da wechselt ein Politiker in eine Gewerkschaft oder kommt von derselben. Ihre Posten sind zum
Teil hochdotiert, und diese Personen haben viele Aufsichtsratsmandate. Ist das schlimm? Es gibt Fälle, da
wechselt ein Politiker in die Spitze der Caritas oder des
Roten Kreuzes. Soll man hier mit Karenzzeiten arbeiten?
Natürlich hat die Caritas neben dem gemeinnützigen Tätigkeitsfeld auch ein Tätigkeitsfeld mit Gewinnerzielungsabsicht,
({10})
und der Politiker setzt seine Arbeit in einem Dienstwagen mit Chauffeur fort wie zuvor als Minister. Ist das
schlimm?
Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage diesmal nicht von Herrn von Notz, sondern von Frau
Haßelmann?
Ja, gut.
({0})
Vielen Dank, dass Sie die Frage gestatten. Das geht
im Übrigen nicht von Ihrer Redezeit ab. Das sage ich für
die Kolleginnen und Kollegen, die neu sind. Daher wundert es mich immer, wenn man keine Fragen zulässt.
Ich möchte Sie zu Folgendem fragen: Sie haben eben
gesagt, es gebe einen Wechsel vom Bund zum Bund.
Deshalb sei das Ganze gar kein Problem. Sie wissen aber
schon, dass uns im Parlament und insbesondere den Mitgliedern des Verkehrsausschusses sämtliche Auskunftsrechte, was die Deutsche Bahn AG angeht, verweigert
werden, und zwar mit dem Hinweis darauf, dass die
Bahn ein Konzernunternehmen, also ein ganz eigenständiges Unternehmen ist. Damit ist das kein Wechsel von
der einen Seite der Regierungsbank auf die andere. Vom
Bund zum Bund würde bedeuten, dass wir hier alle in einem Haus sind.
Die Regeln für die Deutsche Bahn AG sind vollkommen klar. Die Deutsche Bahn AG ist ein Konzern, und
wir als Deutscher Bundestag haben nicht einmal ausreichende Kontrollrechte, Eingriffsrechte und Informationsrechte. Das alles haben wir sogar rechtlich prüfen
lassen. Deshalb stimmt doch Ihre Analyse an diesem
Punkt nicht. Dazu möchte ich gerne von Ihnen eine Aussage haben.
({0})
Nähern Sie sich doch einmal dem Art. 87 e mit seinen
fünf Absätzen in der Verfassung. Ich gebe zu, dass es ein
komplexes Rechtsverhältnis ist, das zwischen der Bahn,
Bereich Schiene, und der Bahn, Bereich Verkehr, besteht.
In Abs. 3 steht, dass das Ganze privatwirtschaftlich organisiert wird, in Abs. 4 ist aber die Gemeinwohlabsicht dokumentiert. Das heißt, auch die privatwirtschaftlich organisierte Bahn darf sich nicht am Gemeinwohl vorbei
entwickeln. Da ist es Ihre Aufgabe, im Verkehrsausschuss dafür zu sorgen, dass eine solche Fehlentwicklung verhindert wird.
Deswegen habe ich Ihrem Kollegen von Notz empfohlen, das Interview mit Herrn Geißler zu lesen;
({0})
denn darin arbeitet er genau den Punkt heraus, der Ihnen
am Herzen liegt. In diesem Interview wird der Vorgänger
von Herrn Grube von Herrn Geißler gerügt, weil er das
Allgemeinwohl der Deutschen, die mit der Bahn befördert werden wollen, aus dem Auge verloren habe und
aus der Deutschen Bahn einen internationalen Logistikkonzern habe machen wollen. Das können Sie verhindern, wenn Sie im Verkehrsausschuss aufpassen, unter
Bezug auf Art. 87 e Abs. 4 Grundgesetz.
Ich gebe aber zu - ich gebe Ihnen recht -: Das
Rechtsverhältnis ist kompliziert. Aber es muss möglich
sein.
({1})
Die Grünen sagen, dass eine möglichst lange Karenzzeit das Problem löst.
({2})
- Nicht, gut. Dann werden Sie sich dazu ja noch äußern
können.
({3})
Wir haben gemeinsam - anscheinend auch die Grünen - das Ziel, dass ein Wechsel von der Wirtschaft in
die Politik und umgekehrt möglich sein soll. Wenn Sie
aber eine Karenzzeit durchsetzen - und zwar per Gesetz
geregelt, abstrakt, generell; ohne vorher zu definieren,
wo die Ausnahmen sein sollen; dazu habe ich von Ihnen
überhaupt nichts gehört -, dann kommen wir in eine Situation, wo es einen Wechsel faktisch nicht mehr geben
wird.
Stellen Sie sich den Manager eines großen Konzerns
vor, der von der Bundesregierung gebeten wird, für vielleicht vier Jahre ein Ministeramt zu übernehmen. Und
jetzt soll ein Gesetz auf den Weg gebracht werden, in
dem steht: Wenn die vier Jahre Ministerzeit vorbei sind,
entscheidet über die Frage, ob dieser Manager in sein altes Unternehmen zurückkehren oder in ein anderes Unternehmen gehen kann, eine Ethikkommission. Sie soll
darüber entscheiden, ob er seinen Beruf fortsetzen kann.
Dieser Manager sagt: Ihr spinnt ja wohl. Ich mache für
einen Bruchteil meines bisherigen Gehaltes für vier
Jahre Dienst an der Allgemeinheit, weil ihr das so
wünscht; ich bin bereit dazu - in Amerika gibt es ja die
One Dollar Men -; aber nach vier Jahren bin ich nicht
mehr Herr meines Berufslebens, sondern dann entscheidet eine Ethikkommission, die das Parlament einberufen
hat. - Meine Damen und Herren, das ist doch grober Unfug.
({4})
- Nein.
Ich möchte, dass wir mehr Wechsel haben. Es wird
doch immer wieder gerügt, dass dieses Parlament falsch
zusammengesetzt sei. Da ist doch etwas dran. Es wird
gerügt, dass zu viele Beamte, zu viele Juristen, zu wenig
Sachverstand aus der Wirtschaft in diesem Parlament
vertreten sind.
({5})
Deswegen sollten wir darauf Wert legen, dass dieses Ziel
nicht aus dem Auge verloren wird.
({6})
Also werden wir versuchen, der Koalitionsvereinbarung gemäß eine Regelung zu finden, die keine gesetzliche Regelung, keine starre Regelung sein wird, die aber
Missbrauch verhindern sollte,
({7})
die soziale Kontrolle ausübt, mehr appellierenden Charakter hat, die aber die Vielfalt der Fälle im Auge hat und
nicht starr und damit falsch regelt.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Herr Dr. Uhl. - Es gab gerade körpersprachlichen Protest von den Juristen hier im Haus, als
Sie von mangelndem Sachverstand gesprochen haben.
({0})
- Ich gebe ja nur wieder, was ich hier gesehen habe. Vielen Dank für Ihre Rede.
Die nächste Rednerin ist Kollegin Sabine Leidig für
die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Uhl sehr dankbar für diese Steilvorlage; denn ich möchte den speziellen Fall „Pofalla
und die Deutsche Bahn“ hier kurz beleuchten. Er zeugt
von einem - davon bin ich überzeugt - maroden Politikstil, von dem die Bürgerinnen und Bürger hierzulande
zunehmend frustriert sind.
({0})
Vorweg: Wir sind überhaupt nicht dagegen, dass Allgemeinwohlinteressen durch politische Einflussnahme
auf Wirtschaftsunternehmen durchgesetzt werden. Dazu
ist ein Parlament und dazu ist eine Regierung da. Das
gilt natürlich erst recht für ein Unternehmen, das dem
Bund gehört, aus Steuermitteln finanziert wird und öffentliche Aufgaben hat, wie es bei der Deutschen Bahn
der Fall ist.
Aber erstens muss darüber öffentlich beraten und diskutiert werden, die Entscheidungswege müssen transparent sein, und alle gesellschaftlichen Interessen müssen
zum Tragen kommen.
Zweitens muss in diesem speziellen Fall ein gutes
Bahnangebot für alle das Ziel der politischen Einflussnahme sein.
({1})
Zu beiden haben Frau Merkel und Herr Pofalla aber das
Gegenteil getan. Ein Exempel dafür ist der unsinnige
Tunnelbahnhof Stuttgart 21.
Wir erinnern uns: Vor etwa einem Jahr musste man
zugeben, dass der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro
um mindestens 2 Milliarden Euro überschritten wird.
Ein internes Papier aus dem Verkehrsministerium bestätigte die vielen Zweifel, die längst existierten. Der Vorstand konnte die Wirtschaftlichkeit des Projektes nicht
nachweisen. Die Projektpartner wollten keine zusätzlichen Kosten übernehmen. Eigentlich hätte der Aufsichtsrat, der die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens
zu überwachen hat, den geordneten Ausstieg beschließen müssen. Aber es kam anders. Am 5. März entschied
der Aufsichtsrat für den Weiterbau.
Was war geschehen? Herr Pofalla hatte im Namen der
Kanzlerin in Einzelgesprächen massiv auf die drei
Staatssekretäre eingewirkt, die für den Bund im Aufsichtsrat der Bahn sitzen. Er hat sie damit zur Untreue an
diesem öffentlichen Unternehmen angestiftet. Deshalb
ist jetzt übrigens auch ein Strafantrag gegen ihn gestellt
worden. Das alles geschah nur, weil die Kanzlerin auf
keinen Fall im Wahljahr eine politische Niederlage einstecken wollte. Das ist der eigentliche Skandal.
Pofalla wird wohl demnächst von der Bahn bestens
bezahlt. Aber ein Lobbyist für den Schienenverkehr ist
er nicht. Im Gegenteil: Die 6, 7 oder mehr Milliarden
Euro, die bei Stuttgart 21 vergraben werden, fehlen ja für
den Ausbau der Bahn in der Fläche. Nun wird gemutmaßt, dass der Vizekanzler, Herr Gabriel, die Kröte
Pofalla schlucken wird, damit im Gegenzug ein Pöstchen von ihm zu besetzen wäre. Wenn es stimmt, dass
dann Herr Großmann, der Duzfreund von Herrn
Schröder, Atomenergieverfechter, Stahlbaron und ICEAchsenmonopolist, zum Aufsichtsratsvorsitzenden der
DB AG werden soll, dann wäre das ein genauso übles
Treiben.
({2})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
diesem Ansinnen einen Riegel vorzuschieben.
({3})
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Wirklich nötig
wäre etwas ganz anderes: dass die Zahlen und Pläne der
Deutschen Bahn AG veröffentlicht werden, wie es in der
Schweiz möglich ist, dass endlich Fahrgast- und Umweltverbände, Behindertenvertreter sowie Regionalbahnen die Ziele und Projekte der Deutschen Bahn bestimmen und daran beteiligt sind. Dieses Unternehmen
gehört nämlich uns allen und darf kein machtpolitischer
Spielball des Kanzleramtes bleiben.
Danke schön.
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Als nächste Rednerin rufe
ich Sonja Steffen für die SPD-Fraktion auf.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte anwesende Gäste! Damit die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihr Mandat als
Vertreter des gesamten Volkes vertrauensvoll ausüben
können, müssen sie frei und unabhängig sein. Finanzielle Abhängigkeiten und Interessenkonflikte müssen
erkennbar und kontrollierbar sein. Dies ist aber nur möglich, wenn die geschäftlichen Beziehungen und die beruflichen Tätigkeiten der Abgeordneten transparent sind.
Nur so können wir das Vertrauen des Volkes in die freie
Ausübung des Mandates gewinnen.
({0})
In der Vergangenheit sind schon sinnvolle Regelungen getroffen worden. Ich erinnere beispielsweise an die
Regelung unter Rot-Grün aus dem Jahr 2005 in Bezug
auf die Offenlegung von Nebeneinkünften. Es gibt allerdings noch viel Regelungsbedarf, zum Beispiel in Bezug
auf die Abgeordnetenbestechung, aber auch in Bezug
auf die Karenzzeiten für ehemalige Regierungsmitglieder.
Die SPD hatte nicht nur in ihrem Regierungsprogramm - darauf hat Herr Özdemir schon hingewiesen einen entsprechenden Verhaltenskodex vorgeschlagen,
sondern auch in der letzten Legislaturperiode einen
Antrag mit dem Titel „,Karenzzeit‘ für ehemalige Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre in Anlehnung an EU-Recht einführen“ ins Parlament eingebracht, der genau dieses Problem zum Inhalt hatte. Wir
haben damals gesetzliche Regelungen gefordert, die eine
Karenzzeit vorsehen, und zwar in Anlehnung an die Vorschriften, die für die Europäische Kommission gelten.
Wir haben darüber schon einiges gehört. Ich will dennoch kurz auf den Inhalt dieser Regelungen eingehen,
weil wir uns damals auch darauf bezogen haben.
Ein Verhaltenskodex verpflichtet die ehemaligen
Kommissare dazu, bei der Aufnahme von Tätigkeiten
nach Ende der Amtszeit „ehrenhaft und zurückhaltend“
zu sein. Die Tätigkeit ist der Kommission rechtzeitig zu
melden. Darüber hinaus dürfen die ehemaligen Kommissare in der Übergangszeit keine Lobbyarbeit betreiben,
die ihren ehemaligen Zuständigkeitsbereich betrifft. In
strittigen Fällen entscheidet dann ein Ethik-Komitee,
und über die Empfehlungen dieses Ethik-Gremiums wiederum entscheidet die Kommission.
({1})
- Das klingt gut, ja. Übrigens widmet sich auch der
Koalitionsvertrag diesem Problem, Herr von Notz. Wir
sehen durchaus Handlungsbedarf. Im Koalitionsvertrag
heißt es - es ist schon zitiert worden -:
Um den Anschein von Interessenkonflikten zu vermeiden, streben wir … eine angemessene Regelung
an.
Sicherlich ist das eher allgemein gefasst. Wir fordern Sie
dennoch auf, gemeinsam mit uns einen Konsens für eine
vernünftige Regelung zu finden.
In diesem Zusammenhang sind zwei wichtige Fragen
zu klären. Die erste Frage ist: Wie grenzen wir eine angemessene Regelung von einem verfassungswidrigen
Berufsverbot ab?
({2})
Auf diese Frage darf es keine populistische Antwort geben, nach dem Motto „Drei bis fünf Jahre gesetzliches
Berufsverbot für ausscheidende Regierungsmitglieder“.
({3})
Vielmehr bedarf es einer verfassungskonformen Regelung.
Vom Grundsatz her ist unser repräsentatives Demokratiemodell so ausgerichtet, dass ein politisches Mandat
oder Amt nur für eine beschränkte Dauer ausgeübt wird;
darauf hat der Kollege Kaster schon verwiesen. Die Arbeit hier im Parlament und auch in der Regierung ist
kein Amt auf Lebenszeit. Es spielt keine Rolle, zumindest meistens, ob und über welche entsprechende Vorbildung wir verfügen. Jeder Ausscheidende ist selbst dafür
verantwortlich, dass sein Berufsleben nach der Beendigung des zeitlich begrenzten Mandats weitergehen kann.
Viele kehren zu ihrem alten Beruf zurück, und andere
wenden sich neuen Aufgaben zu. Dabei muss es legitim
sein, dass man sich Aufgaben widmet, die man während
der Amtszeit fachpolitisch betreut hat.
Wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ich
möchte noch ein paar nennen, damit wir erkennen, welche Palette von Problemen wir zu bearbeiten haben. Ist
es beispielsweise als Skandal zu bezeichnen, wenn sich
eine Fachpolitikerin aus dem Bereich Familienpolitik
nach Beendigung ihres Mandats im Bereich des Kinderschutzbundes engagiert? Ist es skandalös, wenn ein verdienter und erfahrener Sozialpolitiker nach seinem Ausscheiden für die Gewerkschaft arbeitet? Dieses Beispiel
hatten wir schon. Wird es erst dann skandalös, wenn es
sich um einen Unternehmensverband handelt? Ist es
nicht legitim, wenn ein Staatssekretär der Bundesregierung als Landesminister seine politische Arbeit fortsetzt?
Wo beginnt die Grenze des Klüngels, der dem Vertrauen
des Volkes in die Politiker sehr schaden kann?
Richtig: Nicht jeder Lobbyismus ist Teufelszeug. Ist
die Grenze in jedem Fall überschritten, wenn ein Wechsel in den Lobbybereich der freien Wirtschaft erfolgt
oder eine gewisse Gehaltsgrenze überschritten ist?
Liebe Kollegin Steffen, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage von der Kollegin Haßelmann zuzulassen?
Nein. - Auf jeden Fall ist die Grenze überschritten,
wenn für ehemalige Berufspolitiker ein hochdotierter
Posten in einem Wirtschaftsbereich zurechtgeklüngelt
wird, den der Politiker während seiner Amtszeit betreut
hat.
Letztendlich kann man sich nur schwer eine Regelung
vorstellen, die auf alle Fälle zutrifft; denn man kommt
sehr schnell in den Bereich von verfassungswidrigen Berufsverboten. Ich sehe das ein Stück weit anders als Sie,
Herr von Notz, weil alle Entscheidungen im Bereich des
Arbeitsrechts und des Handelsrechts letztendlich ihren
Ausgangspunkt in Art. 12 GG haben. Die Frage ist, ob in
diesem Zusammenhang eine Entscheidung überhaupt
möglich ist.
Es darf also nicht darum gehen, den Wechsel aus der
Politik in andere Tätigkeitsbereiche grundsätzlich zu untersagen, sondern nur dann, wenn schwerwiegende Interessenkonflikte vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn
durch die Ausübung der neuen Tätigkeit beispielsweise
die Interessen der staatlichen Gewalt gefährdet sind oder
wenn die konkrete Gefahr besteht, dass ein entscheidender Einfluss auf wichtige Personen in der Politik ausgeübt wird.
Die zweite Frage, die gestellt werden muss, ist: Wie
lange soll eine Karenzzeit für ehemalige Regierungsmitglieder sein? Sie von den Grünen fordern in Ihrem Antrag eine dreijährige Übergangsfrist. In unserem Antrag
aus der letzten Legislaturperiode forderten wir eine
Karenzzeit von 18 Monaten. Nach dem Vorschlag der
Fraktion Die Linke soll sich die Karenzzeit an dem
Zeitraum für die Gewährung des Übergangsgeldes orientieren.
({0})
Der Vorschlag ist in der Tat gar nicht so schlecht.
({1})
Darüber sollten wir reden - auf alle Fälle -, aber Sie von
den Linken sollten sich schon einigen; Ihre Parteivorsitzende hat nämlich fünf Jahre Karenzzeit gefordert.
({2})
Da ergibt sich schon ein großer Unterschied.
({3})
Karenzzeiten sind mit Rücksicht auf das Grundrecht
der Berufsfreiheit nur dann gerechtfertigt, wenn und
solange sie notwendig sind, um das Parlament und die
Regierung, aber auch die ausscheidenden Regierungsmitglieder in ihrem Ansehen zu schützen.
({4})
Sie dürfen hingegen nicht eingesetzt werden, um das frühere Regierungsmitglied für eine berufliche Tätigkeit
schlicht unbrauchbar zu machen. Bei einer Karenzzeit
von drei oder gar fünf Jahren wird sich jeder, der an einem politischen Mandat interessiert ist, zukünftig sehr
genau überlegen, ob er sich für die begrenzte Zeit des
Mandats in die Politik begibt. Eine längere Übergangsfrist als 18 Monate halten wir vor diesem Hintergrund
für verfassungsrechtlich bedenklich.
Die Karenzzeit von 18 Monaten entspricht im Übrigen der Regelung auf der EU-Ebene; darauf hatte ich
schon hingewiesen.
({5})
Ich hoffe auf einen breiten Dialog hier im Bundestag,
weil das letztendlich jeden von uns einmal betreffen
kann, und dass wir hier zu einem Konsens kommen und
wirklich eine gute Lösung finden.
Wir benötigen also möglichst zeitnah verbindliche
Regelungen, die die Interessen unseres demokratischen
Systems und des staatlichen Handelns ausreichend
schützen, die aber auch das ausscheidende Regierungsmitglied nicht übermäßig einschränken.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Steffen.
Jetzt hat der Kollege Helmut Brandt das Wort. - Entschuldigung; die Kollegin Haßelmann hatte gebeten,
eine Kurzintervention machen zu dürfen.
Bitte schön. Ich ziehe mich zurück.
({0})
Danke, Herr Kollege Brandt. Nach der Kurzintervention haben Sie natürlich das Wort. - Bitte, Frau
Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe eine Kurzintervention angemeldet, weil meine Frage nicht zugelassen wurde. - Vielen Dank, Herr Brandt, dass Sie sich
kurzzeitig zurückziehen.
Frau Steffen, Sie haben uns von den Grünen und unseren Antrag mehrfach angesprochen. Ich erwarte daher,
dass Sie sich mit unserem Antrag auseinandersetzen. Sie
haben mehrfach Beispiele genannt, in denen es um Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker ging, die zu Vereinen
wechseln. Wir haben uns in unserem Antrag zu den
Karenzzeiten auf Regierungsmitglieder sowie Staatssekretärinnen und Staatssekretäre bezogen.
Wir haben auch nicht einfach irgendetwas formuliert,
was irgendwelche Verbände vorschlagen, sondern wir
beziehen uns auf § 105 des Bundesbeamtengesetzes.
Man sollte sich einmal vor Augen führen, dass für Bundesbeamtinnen und Bundesbeamte heute längst genau
solche Regeln, und zwar sehr klar und sehr scharf
formuliert, gelten. Das weiß jede Bundesbeamtin und
jeder Bundesbeamte, die oder der nach Ausübung der
Beamtentätigkeit etwas anderes machen will. Von daher
bitte ich Sie, sich mit unserem konkreten Vorschlag der
Bezugnahme auf dieses Gesetz auch einmal in der Sache
auseinanderzusetzen.
Wir haben nicht von Politikerinnen und Politikern geredet, die ausscheiden - das hat auch 18 Abgeordnete
meiner Fraktion beim Wechsel von der 17. zur 18. Wahlperiode getroffen, die hoffentlich alle zeitnah eine neue
Berufsperspektive finden -, sondern es geht um Interessenverflechtung und Interessenkonflikte, um die Ausübung einer neuen Tätigkeit von Regierungsmitgliedern
sowie Staatssekretärinnen und Staatssekretären in der
Wirtschaft. Da bitte ich Sie, dann auch einmal präzise zu
sein und dazu zu argumentieren und nicht zu fragen, ob
Politikerinnen und Politiker, die hier sitzen, woanders
- eventuell ehrenamtlich - tätig sein dürfen.
({0})
Jetzt erhält die Kollegin Steffen die Möglichkeit zur
Reaktion.
Frau Haßelmann, ich habe mich durchaus mit Ihrem
Antrag auseinandergesetzt. Ich glaube, Sie nehmen Bezug auf mein Beispiel der verdienten Fachpolitikerin, die
nachher beim Kinderschutzbund arbeitet.
({0})
Ich habe in dem Zusammenhang das Wort „Ehrenamt“
nicht erwähnt; aber darum geht es auch nicht. Es war eines von vielen Beispielen, um aufzuzeigen, wie schwierig es ist, eine Grenze zu ziehen: Bis wohin soll eine Tätigkeit erlaubt sein, auch ohne Geschmäckle, und wo
fängt der Klüngel an? Das habe ich damit gemeint.
Im Übrigen: Auch Staatssekretäre und Regierungsmitglieder sind natürlich Fachpolitiker. Insofern sollten
Sie das jetzt nicht so auslegen, dass ich mit diesem Begriff nur die Abgeordneten gemeint hätte. Es war eines
von vielen Beispielen, um zu zeigen, was man alles bei
der Abfassung eines entsprechenden Gesetzes oder einer
entsprechenden Regelung in die Überlegungen einbeziehen muss.
({1})
Herr Kollege Brandt, jetzt haben Sie das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Hier ist heute sehr
viel - das ist der Ausgangspunkt der Debatte - über den
Kollegen Ronald Pofalla gesprochen worden. Auch ich
möchte das tun, Herr von Notz. Der Kreisverband Kleve
fürchtet zu Recht, dass er einen erwiesenermaßen guten
Abgeordneten verlieren könnte, wenn Herr Pofalla tatsächlich in die Privatwirtschaft wechselt. Auch ich persönlich tue das. Ich habe den Kollegen als jemanden
kennengelernt - vom ersten Tag meines Abgeordnetendaseins an -, zu dem ich immer gehen konnte, der mich
angehört hat, der mir Ratschläge gegeben hat. Das hat
sich auch nicht geändert, als er als Staatsminister ins
Kanzleramt gegangen ist. Man muss eine solche Persönlichkeit doch auch einmal positiv erwähnen dürfen, statt
sie nur als negativen Ausgangspunkt für eine solche Debatte zu wählen.
({0})
Frau Haßelmann, Sie melden sich hier ja dauernd zu
Wort. Sie haben mit Ihrer Rede den Ausgangspunkt dafür gesetzt, auf frühere Zeiten zurückzublicken. Wenn
man Ihre Rede verfolgt hat, konnte man den Eindruck
gewinnen, dass die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland erst 2005 begonnen hat. Das ist aber nicht
richtig. Wir hatten vor 2005 eine mehrjährige rot-grüne
Mehrheit in diesem Hause, und ich habe nicht feststellen
können, dass Sie sich in dieser Zeit dadurch ausgezeichnet hätten, die Anträge einzubringen, die Sie heute vorlegen. Das mag Gründe gehabt haben, die ich nicht kenne.
Aber es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf die Qualität dieser Debatte. Auf ausgeschiedene Regierungsmitglieder aus den eigenen Reihen lenkt man den Blick
nicht, auf andere umso mehr.
Insofern, Herr von Notz, habe ich auch eine ganz andere Wahrnehmung als Sie, wenn es darum geht, wann
und von wem solche Debatten losgetreten werden. Ich
habe eher den Eindruck, dass eine solche Debatte immer
dann, wenn einmal Unionspolitiker von einem Regierungsamt in die Wirtschaft wechseln, hochgezogen wird.
Ich will deshalb auch weder auf Herrn Fischer noch auf
Herrn Berninger eingehen; das haben die Redner vor mir
schon hinreichend getan.
Aber eins ist mir wichtig - und das ist in der heutigen
Debatte zum Glück auch von mehreren Kollegen angesprochen worden; ich danke insofern Herrn Kollegen
Özdemir, aber auch Herrn Kaster und Herrn Uhl -: den
Blick darauf zu werfen, dass es bei der Debatte und bei
der Lösung des Problems - es ist sicherlich ein Problem - nicht nur darum geht, ob jemand aus der Regierung in die Wirtschaft wechselt, sondern auch um den
Fall, dass jemand - ein Beispiel ist eben erwähnt worden; das hat es in unserer Geschichte schon gegeben aus der Wirtschaft in ein Regierungsamt berufen wird.
Soll man dann diesem Mann oder dieser Frau dann die
Perspektive zumuten, nach wie viel Jahren auch immer
beim Arbeitsamt vorstellig werden zu müssen, weil er
oder sie keine Möglichkeit hat, in die Wirtschaft zurückzuwechseln, weil es eine wie auch immer geartete Karenzzeit gibt? Das ist nach meiner Auffassung, wenn
man das Problem einmal vom Ende her betrachtet, ein
Punkt, über den wir dringend reden müssen.
Genauso müssen wir über die Frage - die auch schon
angeklungen ist - sprechen, ob es einen Unterschied
macht, ob jemand wie Herr Ernst, ehemaliger Parteivorsitzender der Linken, früher bei der Gewerkschaft tätig
war oder ob jemand aus einem anderen Berufsverband
kommt. Man kann nicht so handeln, dass dieser Umstand
in einem Fall vernachlässigt wird und in einem anderen
Fall skandalisiert wird.
Wir in Deutschland haben dahin gehend bislang keine
Regelung; das ist zutreffend und ist hier bereits gesagt
worden. Deshalb hat man sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen auch damit beschäftigt. Es wäre sehr
schwierig, es gesetzlich so zu regeln, ohne dass es nachher wieder zu Diskussionen kommt.
Es ist schon auf die Regelungen, die es auf EU-Ebene
gibt, hingewiesen worden. Wir haben in der Vergangenheit in Zeiten einer rot-grünen Regierung immer darauf
Wert gelegt, deutlich zu machen: Karenzzeit ist ein heikles Thema; denn sie schafft mehr Ungerechtigkeiten als
tatsächlich Klarheit. Der Hauptgrund war und ist, dass
das Amt als Mitglied der Bundesregierung - anders als
das viel erwähnte Beamtenverhältnis - eben nur eine befristete Tätigkeit ist.
Folgendes muss ich für die Zuhörerinnen und Zuhörer
sagen, da es in der Bevölkerung manchmal falsch gesehen wird: Jemand, der ein Ministeramt innehat, hat keinen Ruhegeldanspruch ab dem Tag, an dem er ausscheidet. Das ist erst dann der Fall, wenn er 65 Jahre und älter
ist. Das heißt, er muss doch dafür Sorge tragen können,
dass er nach dem Ausscheiden seinen Lebensunterhalt
entsprechend verdienen kann.
({1})
- Das Übergangsgeld ist auch nicht die Lösung. Darüber
werden wir aber vielleicht im Einzelnen noch zu reden
haben.
Um den Anschein von Interessenkonflikten zu vermeiden, haben wir - ich habe es gerade schon gesagt im Koalitionsvertrag vereinbart, dass für ausscheidende
Kabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäre
und politische Beamte eine angemessene Regelung angestrebt wird. Wie groß die Probleme sind, haben wir
heute hier im Ansatz bereits diskutiert. Das werden wir
in den nächsten Monaten sicherlich auch noch weiterdiskutieren.
Die Regierung ist hier aufgefordert und arbeitet sicherlich auch schon daran, eine Regelung zu finden und
vorzuschlagen, die dann auch unsere Zustimmung findet. Das sollten wir abwarten. Es gibt überhaupt keinen
Grund, diese Debatte, wenige Wochen nachdem sich die
Regierung gebildet hat und dies im Koalitionsvertrag
festgelegt worden ist, loszutreten. Die Antragssteller hatten dabei nur eines im Sinn: etwas zu skandalisieren,
was keinen Skandal darstellt. Da kann ich auf die Ausführungen des Kollegen Dr. Uhl verweisen.
({2})
Ich möchte noch einmal - Herr Özdemir hat es zu
Recht getan - Art. 12 unseres Grundgesetzes, die Berufsfreiheit, ansprechen. Das ist nämlich etwas, was hier
nicht hinreichend gesehen wird.
({3})
Ausgerechnet die, die in der Vergangenheit immer gegen
vermeintliche Berufsverbote waren, wollen jetzt eine
Regelung Platz greifen lassen, die ein echtes Berufsverbot darstellt. Denn wenn jemand, der nur kurzfristig ein
Regierungsamt innehatte, den Beruf, den er früher über
Jahre hinweg ausgeübt hat, nicht wieder ergreifen darf,
dann ist das ein klassisches Berufsverbot. Das wird unsere Zustimmung nie finden.
Besten Dank.
({4})
Jetzt hat der Kollege Armin Schuster das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Vielleicht ist es für Sie spannend, wenn
ich Ihnen sage: Ich versuche eine Rede zu halten, ohne
den Namen eines sehr verdienten nordrhein-westfälischen Bundestagskollegen zu nennen. Denn ich glaube,
dass das gar nicht der Sinn dieser Debatte ist.
Herr Dr. Uhl, ich bin sehr froh, dass hier Rechtsanwälte neben Ärzten, Gewerkschaftsvertreter neben Beamten und Vertreter der Wirtschaft ihrerseits neben Gewerkschaftern sitzen. Das ist genau der vielfältige Austausch,
den ich mir wünsche. Das sollte möglichst so weitergehen.
({0})
Frau Wawzyniak, da sich unsere Regierungsvertreter aus
diesen Menschen hier rekrutieren, müssen wir an dieser
Stelle über Parlamentarier reden, die keine dauerhafte
Funktion haben und auch nicht haben sollen.
({1})
Ich kam selber erst vor fünf Jahren mitten aus dem
Leben hierher. Ich finde das sehr spannend, möchte aber
nicht in eine Einbahnstraße oder Sackgasse geraten. Ein
Zeitraum von vier Jahren, für den man vom Wähler legitimiert wird, ist sehr kurz, mir übrigens zu kurz, Herr
Hartmann; darüber sollten wir noch einmal sprechen.
Das gilt auch für Regierungsämter. Deshalb finde ich es
äußerst legitim, dass sich ausscheidende Regierungsvertreter - zumeist vor dem 67. Lebensjahr - Gedanken
über ihre Zukunft machen.
Wahrscheinlich würde jeder Mitarbeiter einer Arbeitsagentur sagen: Wer nach einem politischen Mandat
in eine lange Ruhephase geht, ist selber schuld. Bitte
schnellen Anschluss finden! - Insofern muss die Politik
Armin Schuster ({2})
dafür sorgen, dass flexible Menschen eine Tätigkeit in
der Politik attraktiv finden und nicht das Gefühl bekommen, sie gerieten in eine Einbahnstraße oder gar Sackgasse.
({3})
Aus meiner Sicht sind die beiden Anträge der Grünen
und der Linken eine Navigation in genau diese Sackgasse. Mich stört nicht der Gedanke, dass wir etwas sensibel regeln sollten; aber die hohen Mauern, die Sie hier
aufbauen, stören mich ganz gewaltig.
({4})
Union und SPD haben längst erkannt, übrigens ohne
ein aktuelles Problem und ohne Anträge von Grünen und
Linken, dass es angemessene Regelungen braucht. Deshalb steht es im Koalitionsvertrag, und deshalb wird die
Regierung das jetzt angehen. Das ist nun Sache der Regierung.
({5})
Ich möchte einen verdienten hessischen Kollegen zitieren, der sagte: Daraus ein Gesetz zu machen, ist blanker
Unsinn. - Dem ist nichts hinzuzufügen.
Was hier veranstaltet wird, meine Damen und Herren,
ist Hysterie. Ich spreche immer, wenn es um Transparenz und Lobbyismus und so etwas geht, meistens zusammen mit Kollegen Hartmann, und sage immer das
Gleiche: Wir schädigen unseren Ruf fortgesetzt selbst,
wenn wir nicht aufhören, zu skandalisieren. Sie werden
nicht erleben, dass ich das Verhalten von Joschka
Fischer oder das Verhalten eines Ex-Kanzlers skandalisiere, auch wenn das Unternehmen, für das er arbeitet,
ein bisschen zweifelhaft ist; er hat einen Weg gewählt,
und ich finde das okay.
Ich möchte aber sagen - das ist ein Argument, das
vielleicht noch nicht gebracht wurde -: Unternehmen
leiden aus meiner Sicht - ich traue mich mal, das zu sagen - an einem gehörigen Defizit an gesellschaftspolitischer Kompetenz jenseits betriebswirtschaftlicher Erwägungen. Die Bundesregierung hat deshalb 2010 einen
Aktionsplan CSR - Corporate Social Responsibility ins Leben gerufen, um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen zu fördern. Ich sehe es positiv,
dass es mittlerweile mehr Unternehmen gibt, die diesen
Weg gehen und die nicht ausschließlich Politikprofis für
Political-Affairs-Aktivitäten suchen. Es geht ihnen vielmehr darum, mehr sozial-, gesellschafts- und umweltpolitische Kompetenz in ihre Unternehmen zu transferieren. Das ist gut und dringend notwendig.
Jetzt möchte ich Ihnen ein Beispiel dafür nennen. Die
Deutsche Bahn AG, die heute schon öfter angesprochen
wurde, beobachte ich aus bestimmten Gründen sehr genau.
Die neue Unternehmensleitung unter Herrn Dr. Grube verfolgt intensiv das Ziel, die gesellschaftspolitische Kompetenz des Unternehmens zu erweitern. Aufgrund der Erfahrung in meinem Wahlkreis weiß ich - ich habe mit dem
Ausbau der Rheintalbahn als Teil des Korridors Rotterdam-Genua ein Großprojekt in meinem Wahlkreis -: Es
gibt sehr geschätzte ehemalige Kollegen, ohne deren
sensibles politisches Gespür - sie arbeiten heute für die
Deutsche Bahn AG - es niemals möglich gewesen wäre,
Entscheidungen im Sinne unserer Region, der Bürger
und der Gemeinden zu treffen. Insofern glaube ich, dass
die Menschen, die den Weg aus der Politik in die Wirtschaft gehen, im Hinblick auf das Verständnis politischer
Entscheidungsprozesse, die Bedürfnisse der Bürgerinnen
und Bürger und das Interesse des Gemeinwohls eine
neue Qualität schaffen.
({6})
Deshalb halte ich dieses Engagement trotz der vorhandenen betriebswirtschaftlichen Kompetenzen in diesem
Unternehmen für einen echten Gewinn.
Das Thema wird durch die Bundesregierung geregelt
werden; so steht es im Koalitionsvertrag. Insofern hätten
wir hier gar nicht diskutieren müssen.
({7})
Ich sehe, dass in der Bundesregierung durchaus eine
Sensibilität hierfür vorhanden ist; wir haben es schon im
Koalitionsvertrag festgestellt. Deshalb glaube ich, dass
wir, wenn die Regelung vorliegt, genau das erreichen,
Herr Hartmann, was wir beamtenpolitisch schon lange
gemeinsam als Ziel haben: einen flexibleren Austausch
zwischen Wirtschaft und Verwaltung. Diesbezüglich ist
uns schon einiges gelungen. Diese Arbeit werden wir
- hoffentlich - fortsetzen. Wir brauchen diesen flexibleren Umgang und dürfen ihn nicht verhindern, wie das
die Grünen und die Linken mit ihren Anträgen erreichen
wollen.
({8})
Ich glaube, dies tut Wirtschaft, Verwaltung, Politik und
letztendlich auch den Menschen in diesem Land gut.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/292 und 18/285 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 j auf:
18 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährung einer Umverteilungsprämie 2014 ({0})
Drucksache 18/282
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
ZP 2 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Katja
Kipping, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines
Mindestlohns ({1})
Drucksache 18/6
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsauschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung
Drucksache 18/7
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
({4}), Katja Kipping, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung ({5})
Drucksache 18/52
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss
d) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion DIE LINKE
zu der vereinbarten Debatte zu den Abhöraktivitäten der NSA und den Auswirkungen auf Deutschland und die transatlantischen Beziehungen
Drucksache 18/56
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss
e) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der vereinbarten Debatte zu den Abhöraktivitäten der NSA und den Auswirkungen auf Deutschland und die transatlantischen Beziehungen
Drucksache 18/65
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz in Warschau - Ohne
deutsche Vorreiterrolle kein internationaler Klimaschutz
Drucksache 18/96
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Risiko und Haftung zusammenführen Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen
Drucksache 18/97
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden - Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus
Drucksache 18/98
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Operation Active Endeavour beenden
Drucksache 18/99
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({12})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss
j) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
({13})
Drucksache 18/201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Bei den Vorlagen zu den Zusatzpunkten 2 a bis 2 j
handelt es sich um die im Hauptausschuss nicht erledigten Vorlagen, die nun ohne erneute Aussprache an die
Fachausschüsse überwiesen werden sollen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Damit ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/289
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Wahl der
Schriftführerinnen und Schriftführer liegen Wahlvorschläge der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/289 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind diese Wahlvorschläge einstimmig angenommen. Das passiert selten in
diesem Haus, aber ab und zu doch.
Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich. Vor allen
Dingen gratuliere ich den gewählten Kolleginnen und
Kollegen im Namen des ganzen Hauses und wünsche
uns allen eine gute Zusammenarbeit.
({15})
Ich möchte es aber nicht versäumen, den vorläufigen
Schriftführerinnen und Schriftführern für ihren Einsatz
ganz herzlich zu danken.
({16})
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Wahl der Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gemäß den Artikeln 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
zur Parlamentarischen Versammlung des
Europarates
Drucksache 18/290 ({17})
Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen von
CDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/290 ({18}) vor. Auf Drucksache 18/290 ({19}) schlägt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen anstelle der Abgeordneten Agnes Brugger die
Abgeordnete Annalena Baerbock vor. Wer stimmt für
diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit sind auch diese Wahlvorschläge
einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes
Drucksache 18/283
Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes
Drucksache 18/284
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag aller Fraktionen des Hauses auf
Drucksache 18/283 zur Einsetzung des Gremiums. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist dieser Antrag ebenfalls einstimmig angenommen. Damit ist das Parlamentarische Kontrollgremium eingesetzt und die Mitgliederzahl auf neun
festgelegt.
Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums kommen, bitte ich um Ihre
Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens
316 Stimmen erhält.
Die Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis.
Sie benötigen für diese Wahl Ihren gelben Wahlausweis,
den Sie, soweit Sie das noch nicht getan haben, bitte Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Ich
werde darauf hingewiesen, Sie noch einmal darauf hinzuweisen, dass Sie auf jeden Fall darauf achten, dass der
Wahlausweis Ihren Namen trägt. Da hat es offensichtlich
gelegentlich anderweitige Ergebnisse gegeben.
Die gelben Stimmkarten wurden bereits im Saal verteilt. Falls Sie noch keine gelbe Stimmkarte erhalten ha446
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
ben, haben Sie jetzt noch die Möglichkeit, diese von den
Parlamentsassistenten zu erhalten. Ich bitte Sie, dies einfach durch Handzeichen kundzutun. - Das scheint aber
nicht der Fall zu sein.
Auf der Stimmkarte sind die Namen der vorgeschlagenen Kandidaten aufgeführt. Sie haben neun Stimmen
und können zu jedem Kandidatenvorschlag „Ja“, „Nein“
oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn Sie bei einem
Namen mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz machen
oder andere Namen als die der vorgeschlagenen Kandidaten oder Zusätze eintragen, ist Ihre Stimme ungültig.
Die Wahl findet offen statt. Sie können also Ihre
Stimmkarte an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen, die bereits aufgestellt
sind, werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen
und Schriftführern an den Wahlurnen Ihren Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur
durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.
Ich möchte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Jetzt sind alle Urnen besetzt.
Ich eröffne die Wahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich die
Wahl, und ich möchte die Schriftführerinnen und
Schriftführer bitten, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Wahl, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich bitte die Kollegen, sich zu setzen und Gespräche,
wenn sie zu führen sind, im hinteren Teil des Plenarsaales zu führen. - Das gilt auch für die Kolleginnen.
Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 3:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Finanzierung künftiger Kosten des geplanten
Rentenpakets der Bundesregierung
Ich eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt und erteile als erster Rednerin Katrin GöringEckardt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1954, 1958, 1958, 1951, 1954, 1957, 1961,
1955, 1959, 1952, 1956, 1966 - das sind die Geburtsjahrgänge von drei Vierteln der Kabinettsmitglieder dieser Regierung.
({0})
Das sind allerdings zugleich diejenigen Geburtsjahrgänge, die von Ihren geplanten Rentengeschenken profitieren werden. Meine Damen und Herren, ich würde sagen: Hier macht die Große Koalition keine große
Reform, das ist eigentlich ganz große Kumpanei mit der
eigenen Generation.
({1})
Die Babyboomer sorgen für sich; dann ist schon mal für
viele gesorgt. Das sind ja auch die, die sich am meisten
aufregen würden. Angesichts so einer Interessenübermacht hat natürlich kaum jemand sonst eine Chance.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie verschlimmern die Lage der Rentenversicherung. Diese
Pläne sind ungerecht, kosten eine Menge Geld und entfalten wirklich fragwürdige Wirkungen.
({2})
Dieses Paket - Sie haben es selbst ausgerechnet; es ist
heute überall zu lesen - wird bis zum Jahr 2020 insgesamt 60 Milliarden Euro kosten. Welches Heu wollen
Sie eigentlich zu Gold spinnen, um das am Ende bezahlen zu können, ohne die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bzw. die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
zu belasten?
({3})
Natürlich gönnt man jedem den Vorruhestand, ein
paar schöne Reisen, noch mal ein Ehrenamt oder etwas
anderes probieren; das sei jedem Einzelnen wirklich
gegönnt. Was die Bundesregierung macht, ist jedoch
Klientelpolitik, bei der es einen Haufen Verlierer geben
wird. Es geht Ihnen, Frau Nahles, nicht um Leute wie Ihren Vater, der auf dem Bau hart geschuftet hat und auf
den Sie hingewiesen haben. Es geht Ihnen nicht um die
Frauen, die nach der Kinderpause weit unter ihrer Qualifikation arbeiten mussten. Es geht Ihnen nicht um diejenigen, die körperlich hart gearbeitet haben. Es geht Ihnen auch nicht um den Gastarbeiter, der Jahr um Jahr am
Band gestanden hat. Es geht Ihnen - das sage nicht ich,
sondern das sagt der Präsident der Deutschen Rentenversicherung - überwiegend um Leute, die ohnehin schon
eine relativ hohe Rente bekommen werden. Das ist nicht
gerecht, da werden falsche Prioritäten gesetzt, meine Damen und Herren.
({4})
Die großen Verlierer Ihrer Reform, das sind die kleinen Leute, die hart gearbeitet haben und bei denen im
Leben nicht immer alles glattging. Profitieren werden
die Kinder des Wirtschaftswunders, die von den Bildungsreformen in der alten Bundesrepublik profitiert haben und denen es schon immer relativ gut ging; denen
soll es jetzt im Alter noch ein bisschen besser gehen.
Wer sind die Verlierer? Verlierer sind zum einen die
Frauen, die von Altersarmut betroffen sein werden, weil
sie, da es keine Kinderbetreuungsangebote gab, Teilzeit
gearbeitet haben. Diese Frauen brauchen eigentlich eine
Garantierente. Das sind Verliererinnen dieser Reform.
({5})
Verlierer sind die Ostdeutschen, die sich von ABM zu
Minijob gehangelt haben, die Befristungen ertragen mussten, die wirklich fleißig waren - fleißig übrigens auch bei
der Jobsuche -, die alles Mögliche gemacht haben, um über
die Runden zu kommen. Diese Menschen haben Sie vergessen.
({6})
Verlierer sind auch diejenigen, die hart geschuftet haben und dann nicht mehr können. Sie sagen immer, man
könne den Dachdecker nicht ans Gerüst ketten. Ihre geplanten Änderungen bei der Erwerbsminderungsrente
sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach Ihren
Vorschlägen sollen diese Änderungen ja nur für Neurentnerinnen und Neurentner gelten. Nein, um diese Menschen
geht es Ihnen nicht. Diese Menschen brauchen Rehamaßnahmen und eine anständige Erwerbsminderungsrente.
Dann wäre ihnen geholfen, aber nicht mit Ihrem Vorschlag.
({7})
Die Verliererinnen und die Verlierer sind die jungen
Menschen und die Kinder, egal ob sie vor oder nach
1992 geboren sind. Sie werden die Zeche für das bezahlen, was Sie hier alles vorhaben, was Sie hier bestellt haben.
Meine Damen und Herren, Sie belasten, Sie plündern
die Rentenkasse. Dabei sind Sie unehrlich. Ab 2019 werden Beiträge wie Steuern steigen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen. Außen vor bei der Finanzierung Ihrer Geschenke sind die Beamten, die Politiker
und die Selbstständigen. Ich kann mir das nicht erklären.
Das ist der Gipfel der Ungerechtigkeit.
({8})
Verlierer ist übrigens auch die Wirtschaft. Den Unternehmen fehlen schon heute Fachkräfte. Ihnen stehen
jetzt wieder Frühverrentungswellen bevor; dabei wissen
sie schon jetzt nicht mehr, wo sie die Fachkräfte hernehmen sollen. So viel Zuwanderung können wir gar nicht
organisieren, einmal abgesehen von Herrn Seehofers Tiraden, der dadurch die Leute eher von Deutschland fernhalten
wird. Nein, das, was Sie hier veranstalten, hat weder mit
Gerechtigkeit noch mit Generationengerechtigkeit zu tun,
noch wird es denjenigen helfen, die wirklich Hilfe brauchen.
Zuletzt: Verlierer ist auch Franz Müntefering, Jahrgang 1940. Der hatte den Mumm und die Vision, für Gerechtigkeit und Ausgleich zwischen den Generationen zu
sorgen. Aber wahrscheinlich haben Sie, Frau Nahles, mit
ihm noch eine alte Rechnung offen.
({9})
Ich jedenfalls finde, Franz Müntefering hat mit seiner
Kritik, dass Ihr Vorhaben eine große Belastung für die
Zukunft und für die Gegenwart darstellt, absolut recht.
Vielen Dank.
({10})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Zimmer das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
christlich-sozialdemokratische Koalition ({0})
ich zögere bei dem Begriff „Große Koalition“, weil ich
zwar einen Umschlag von der Quantität ihrer Mitglieder
in die Qualität der Arbeit vermute,
({1})
diese aber noch nicht richtig empirisch erhärtet ist - hat
sich im Rentenrecht vier große Vorhaben auf die Fahnen
geschrieben: die Mütterrente, weil sie eine Gerechtigkeitslücke füllt, die Lebensleistungsrente, weil sie ein
Baustein gegen Altersarmut ist, die Erwerbsminderungsrente, weil sie längst überfällig ist, und die Rente mit 63
nach 45 Beitragsjahren, weil sie etwas über den Wert der
Arbeit aussagt.
Es ist selbstverständlich, dass kritische Nachfragen
wie heute in der Aktuellen Stunde gestellt werden; sie
sind zum Teil ja auch in der öffentlichen Debatte präsent.
Ich will deshalb die Chance nutzen, ein wenig zu dieser
Debatte zu sagen, vermutend, dass meine Kolleginnen
und Kollegen die verschiedenen Aspekte der Finanzierung genauer beleuchten werden.
Überrascht hat mich zunächst eine Überschrift bei
Focus Online, die da hieß: Nur Mütter und Geringverdiener profitieren von den Rentenplänen. - Nur? Ich
sage: Immerhin. Ich wäre verärgert, wenn es Hotelbesitzer oder Windparkbetreiber wären.
({2})
Ja, an die Mütter und Geringverdiener haben wir dabei
gedacht, aber auch an diejenigen, die sich über Jahrzehnte abgearbeitet haben.
Das betrifft natürlich die abschlagfreie Rente nach
45 Beitragsjahren. Dazu kann man sagen, das sei betriebswirtschaftlich Unsinn. Man kann aber auch, wie in
der Mindestlohndebatte, fragen: Ist Arbeit nur eine
Ware, eine betriebswirtschaftliche Rechengröße, oder ist
uns Arbeit etwas wert? Ich meine, Letzteres trifft zu.
Denn die abschlagfreie Rente nach 45 Beitragsjahren ist
eine Wertentscheidung. Sie ist eine Aussage über den
Wert der Arbeit.
({3})
Herr Kollege Kurth, deswegen hat mich Ihre Formulierung „Facharbeiteradel“ auch etwas geärgert. Der
Adel war die unproduktive Klasse in Europa, die eben
nicht gearbeitet hat. Die Facharbeiter hingegen sind mit
ihren Knochen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft,
der Garant für Wachstum. Sie haben damals Guido
Westerwelle zu Recht kritisiert, der von „spätrömischer
Dekadenz“ gesprochen hat; denn Dekadenz ist ein Oberschichtenphänomen, das auf Hartz-IV-Empfänger nicht
zutrifft.
({4})
Sie verwechseln aber ebenso die Kategorien, wenn Sie
den Adel und die Facharbeiter so umstandslos zusammenwerfen.
({5})
Das tut im Übrigen auch der Präsident des Verbandes
der Familienunternehmer, der vor einer Frühverrentungsorgie warnt: Da ist sie wieder, die spätrömische Dekadenz - diesmal in Form eines abschlagfreien Rentenanspruchs nach 45 Beitragsjahren. Orgien feiern
offensichtlich immer nur die anderen.
Starke Worte kamen eben auch von der Kollegin
Göring-Eckardt, die im Zusammenhang mit der Mütterrente von der Plünderung der Rentenkasse gesprochen
hat. Plünderung evoziert zumindest bei mir das Bild marodierender Banden, die sengend und mordend durch
Straßen und Gassen ziehen und sich fremdes Gut widerrechtlich aneignen. Nein, Frau Göring-Eckardt, das tun
wir mit der Mütterrente nicht.
({6})
Wir beschaffen keinem einen widerrechtlichen Vorteil,
wie es durch den Begriff der Plünderung nahegelegt
wird, sondern wir schließen eine Gerechtigkeitslücke.
Ich würde mir wünschen, dass wir auch in der Diktion
ein wenig mehr darauf achten, was und wie wir es sagen.
Unsere Mütter sind keine Erfüllungsgehilfen oder Begünstigte von Plündererbanden.
({7})
Nun muss man sich nicht über jede Meinungsäußerung zu diesem Thema ärgern. Die Reaktionen der
Professoren Rürup und Raffelhüschen etwa waren vermutlich eher ihrer Lobbyarbeit für die Versicherungswirtschaft als wissenschaftlicher Redlichkeit geschuldet.
Bei den Grünen fällt aber doch ein Muster auf, das ein
wenig beunruhigt. So hat Frau Andreae laut taz unter
dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ verlangt,
jegliche Rentenaufstockung abzulehnen.
({8})
Der Kollege Ströbele habe, so wird berichtet, heftig widersprochen. Dass ich einmal dankbar dafür bin, dass der
Kollege Ströbele der Grünenfraktion angehört, nehme
ich Ihnen wirklich übel.
({9})
Nachdenklich macht mich aber auch, dass sich die
Auslassungen und Einlassungen einiger Grüner wie Verlautbarungen aus der Wirtschaft lesen. Ich weiß, man ist
heute mit dem Umetikettieren schnell: Aus Raider wird
Twix, und aus den Grünen wird Liberalismus 2.0, wird
die Partei der Freiheit und der Bürgerrechte, ein wenig
reifer und ein wenig abgeklärter als die forsche Truppe
der Liberalen, aber schon bis in die Diktion - Stichwort
„Facharbeiteradel“ - ähnlich nassforsch wie weiland
Westerwelle. Herr Kurth, Frau Göring-Eckardt, die Partei der Besserverdienenden sind Sie ja schon; insofern
liegt das auch nahe.
Ich freue mich deshalb darauf, in dieser Legislaturperiode beobachten zu können, welche Entwicklung das alles nimmt. Wenn Sie dann irgendwann zu der Erkenntnis
kommen, Ihr Platz sei eigentlich auf der rechten Seite
des Hauses, dann, ja dann sind Sie endlich dort angekommen, wo das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein
bestimmt.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt hat der Kollege Birkwald das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Worum geht es heute eigentlich? Die Renten für
die vielen Mütter und die wenigen Väter, die vor 1992
geborene Kinder erzogen haben, sollen verbessert werden. Das wollen Union und SPD systemwidrig aus den
Beiträgen der gesetzlichen Rentenversicherung finanzieren. Außerdem: Eine Gleichstellung mit den Eltern, deren Kinder nach 1992 geboren wurden oder deren Kinder im Osten erzogen wurden, plant die Große Koalition
leider nicht. Das ist schlecht.
({0})
Aber die geplanten Verbesserungen sind ein Schritt in
die richtige Richtung. Immerhin! Dieser Schritt kostet
6,5 Milliarden Euro jährlich. CDU und CSU wollen jedoch um jeden Preis Steuererhöhungen für die Reichen
verhindern. Deshalb will diese Große Koalition die Mütterrente aus Rentenversicherungsbeiträgen finanzieren gegen jede Vernunft. Ich sage Ihnen: Das ist zutiefst ungerecht!
({1})
Warum ist das ungerecht? Es ist ungerecht, weil dann
die Aldi-Kassiererinnen mit ihren Rentenbeiträgen die
gut 28 Euro mehr Mütterrente im Westen bzw. die knapp
26 Euro mehr Mütterrente im Osten für Mütter von uns
Bundestagsabgeordneten und von Rechtsanwaltsgattinnen finanzieren. Wir Abgeordnete müssen dafür nichts
zahlen, keinen müden Cent. Da sage ich: Das ist sozial
ungerecht, das ist grottenfalsch und durch nichts zu
rechtfertigen.
({2})
Auch die Union sieht das Kuddelmuddel. Fraktionschef Volker Kauder sagte in der Bild-Zeitung - Zitat -:
Ab 2018 ist es dann notwendig und sinnvoll, die
Mütterrente als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
mit zusätzlichen Steuergeldern zu finanzieren.
Ich kann nur sagen: CDU/CSU, Herr Kauder, SPD, machen Sie es doch gleich richtig!
Die Steuerfinanzierung ist schon heute sinnvoll und
notwendig.
({3})
Das sagt im Übrigen auch der Präsident der Deutschen
Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische.
({4})
Er hält nämlich die Beitragsfinanzierung der Mütterrente
gar für verfassungswidrig. Ich zitiere:
Nur eine Finanzierung aus Steuermitteln gewährleistet, dass alle an der Finanzierung beteiligt werden, auch diejenigen, die nicht gesetzlich rentenversichert sind, und auch die Einkommen über der
Beitragsbemessungsgrenze. Schließlich kommen
die Kindererziehungszeiten auch Personen zugute,
die gar nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind, sondern beispielsweise in einem Versorgungswerk. Eine Finanzierung aus Beitragsmitteln wäre deshalb verfassungswidrig, weil
sie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des
Art. 3 GG verstieße.
Meine Damen und Herren von der Koalition, hören
Sie auf den Präsidenten der Rentenversicherung! Er hat
recht.
({5})
Deshalb muss die verbesserte Mütterrente aus Steuermitteln finanziert werden; denn Steuern zahlen auch gutverdienende Abgeordnete, Beamtinnen und Beamte, Ärztinnen und Apotheker, Architekten, Unternehmerinnen und
Künstler.
Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und Sie,
Frau Ministerin Nahles, haben den Aufruf „Vermögensteuer jetzt!“ unterzeichnet. Sehr gut! Eine Abgabe von
1 Prozent auf das Nettovermögen oberhalb von 1 Million Euro brächte jedes Jahr 20 Milliarden Euro in die
Kasse des Finanzministers. 20 Milliarden Euro! Mit
solch einer Vermögensteuer auf große Vermögen ließe
sich zum Beispiel für alle Mütter oder Väter eine entsprechende Rente von 84 Euro monatlich finanzieren.
Das wäre der richtige Weg!
({6})
Aber das ist längst noch nicht alles. Wir Linken sagen: Erstens. In die Rentenversicherung müssen alle
Menschen mit Erwerbseinkommen einzahlen, auch Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige.
Zweitens. Wer 10 000 Euro Gehalt im Monat erhält, soll
auch für 10 000 Euro Beiträge in die Rentenkasse einzahlen. Darum gehören die Beitragsbemessungsgrenze
aufgehoben und sehr hohe Renten anschließend abgeflacht.
({7})
Drittens. Anstatt an der gefloppten Riester-Rente bis
zum Untergang festzuhalten, müssen die Arbeitgeber
endlich wieder gerecht an der Rentenfinanzierung beteiligt werden. Das alles würde bedeuten: Die gesetzlichen
Renten wären stabil finanziert.
Kurz zu den Grünen - auch Kollege Zimmer hat es
schon angesprochen -: Frau Andreae, Sie haben kürzlich
im Handelsblatt gesagt - Zitat -:
Wir Grünen sind die einzigen, die sowohl die Rente
mit 63 klar ablehnen und eine gerechte Finanzierung der Mütterrente aus Steuern fordern.
Grünes Alleinstellungsmerkmal sei die Generationengerechtigkeit, im Unterschied zur Koalition, aber auch zur
Linken. - Frau Kollegin, ich glaube, da haben Sie irgendetwas gründlich missverstanden. Die Kosten für die
Mütterrente und die Rente ab 63 werden nicht nur von
den jungen Menschen getragen. Nein, sie werden von allen Versicherten bzw. - da sind wir uns einig - von allen
Steuerzahlenden gezahlt, also von den 20-Jährigen genauso wie von den 60-Jährigen. Das ist gerecht.
({8})
SPD, Grüne und Union haben das Rentenniveau massiv abgesenkt und die Rente erst ab 67 Jahren eingeführt.
Das haben Sie eben sogar gelobt, Frau Göring-Eckardt.
Diese gigantischen Rentenkürzungen werden vor allem
die nach 1964 Geborenen in einigen Jahren massiv in die
Altersarmut treiben. Das war, ist und bleibt der große
Angriff auf die Generationengerechtigkeit. Darum sagt
die Linke: Rauf mit dem Rentenniveau und weg mit der
Rente erst ab 67!
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat die Kollegin Carola Reimann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass wir heute bereits zum zweiten Mal in dieser noch jungen Legislaturperiode die Gelegenheit haben, die Rentenpläne der Koalition zu diskutieren. Wir haben uns für die kommenden Wochen viel
vorgenommen.
Wir werden ein Maßnahmenpaket auf den Weg bringen, das unser bestehendes, bewährtes System weiterentwickelt, Gerechtigkeitslücken schließt und gemeinsam
mit den Reformen am Arbeitsmarkt dafür sorgen wird,
dass wir Altersarmut effektiv bekämpfen können.
Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich mich über die
Debatte freue, so sehr ärgere ich mich aber über den häufig sehr verengten Blick auf die Rente. Wer nur über die
Finanzierung redet, wer nur über Geld redet, verliert die
Menschen aus dem Blick, die jahrelang hart gearbeitet
haben und die auf eine ordentliche Rente angewiesen
sind.
({0})
Genauso ärgere ich mich über die gelegentlich getroffene Wortwahl: Da wird von verprassten Geldern oder
gar - der Kollege hat es schon gesagt - vom schamlosen
Plündern der Rentenkasse oder Geschenken gesprochen.
Ich finde das unangemessen. Es geht darum, Menschen,
die lange und hart gearbeitet haben, einen stabilen und
sicheren Übergang vom Erwerbsleben in die Rente zu
ermöglichen: Menschen, die nach 45 Jahren ehrlicher
und harter Arbeit nicht mehr können, und Menschen, die
aus gesundheitlichen Gründen schon früher auf Leistungen aus der Rentenversicherung angewiesen sind. Richtig, es kostet auch eine Menge Geld, und wir können uns
gerne über die Finanzierung streiten. Aber es ist nicht in
Ordnung, solche Begriffe zu verwenden, wenn es darum
geht, Menschen in teilweise sehr schwierigen Lebenslagen zu helfen. Das ist dann angesichts der Arbeitsleben
nicht geschenkt, sondern verdient.
({1})
Schwierig ist die Lage vieler, die beispielsweise auf
die Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Wir alle
kennen die Zahlen: Bei den durchschnittlichen Zahlbeträgen gab es zwischen 2000 und 2012 einen Rückgang
von bis zu 15 Prozent. Entsprechend gestiegen ist der
Anteil der Erwerbsminderungsrentner, die Leistungen
der Grundsicherung beziehen. Damit ist nicht mehr gewährleistet, dass diese Rente die Sicherungsfunktion wie
geplant erfüllt. Deswegen muss gehandelt werden, und
das werden wir tun. Auch das wird Teil des Rentenpakets sein, genauso wie der abschlagsfreie Rentenzugang
für langjährig Versicherte. Das ist für die SPD-Bundestagsfraktion ein ganz zentraler Punkt.
({2})
Weil über die Gruppen geredet wurde, denen das zugutekommt: Die von uns auf den Weg gebrachten Reformen sollen denen zugutekommen, die lange und hart in
echten Knochenjobs gearbeitet haben. Einer dieser Knochenjobs - darin werden mir sicherlich Millionen Väter
und Mütter recht geben - ist Kindererziehung. Deshalb
ist es gut, dass wir auch hier eine Gerechtigkeitslücke
schließen und Erziehungsleistungen auch für Mütter und
Väter besser anerkennen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden.
Es ist richtig, dass es sich bei der Mütterrente um eine
versicherungsfremde Leistung handelt, und ja: Solche
Leistungen sollten über Steuern finanziert werden.
({3})
Das ist meine Haltung, und das ist auch die Haltung der
SPD-Bundestagsfraktion. Die Ministerin hat deshalb zu
Recht in den vergangenen Tagen auf die Notwendigkeit
einer steuerlichen Flankierung ab 2018 hingewiesen.
Es wundert mich schon, dass sich einige - leider auch
bei unserem Koalitionspartner - fragen, warum sich unsere Ministerin auch Gedanken über die Rentenfinanzierung nach 2017 macht. Gerade das zeichnet doch eine
gute Ministerin aus, dass sie eben nicht Politik nur mit
Blick auf die nächste Wahl macht, sondern über den Tag
hinaus denkt, gerade bei der Sozialversicherung.
({4})
Deshalb halte ich die Hinweise von Andrea Nahles
für richtig und wichtig; denn wir werden nicht darum herumkommen, diese Leistungen auch durch Steuern zu finanzieren. Es ist kein Geheimnis, dass wir diese versicherungsfremden Leistungen auch lieber sofort ganz
über Steuern finanziert hätten. Aber wir haben im Koalitionsvertrag einen Kompromiss geschlossen, und den
setzen wir jetzt um, auch weil wir in der Rentenkasse
zurzeit noch Spielräume dafür haben.
Ohne diesen Kompromiss - das sage ich all denen,
die uns das vorwerfen - hätten wir diese Verbesserungen
nicht anstoßen können. Leidtragende wären all diejenigen gewesen, über die wir gerade gesprochen haben. Für
diese Menschen haben wir diesen Kompromiss geschlossen. Wir sind es ihnen schuldig, das jetzt zügig in
Gesetzesform zu bringen.
({5})
Dass wir nicht allein Politik für das Hier und Jetzt
machen, sondern auch über den Tag hinaus blicken und
denken, zeigt im Übrigen ein Blick in den Koalitionsvertrag. Wir wollen nicht allein die Ungerechtigkeiten am
Ende eines Arbeitslebens korrigieren, sondern - darauf
sind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
besonders stolz - wir werden der Altersarmut auch mit
der Bekämpfung der Erwerbsarmut begegnen durch eine
veränderte, verbesserte Arbeitsmarktpolitik, unter anderem mit einem gesetzlichen Mindestlohn und mit der
Stärkung der Tarifbindung. Das alles werden wir jetzt
Schritt für Schritt konsequent umsetzen. Ich bin sicher,
dass wir noch Gelegenheit haben, darüber intensiv zu
diskutieren.
Danke fürs Zuhören.
({6})
Jetzt hat der Kollege Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man muss eines gleich zu Beginn klarstellen: Frau
Reimann, Sie sagen, wir müssten etwas für diejenigen
tun, die lange und hart gearbeitet haben. Aber wehe,
wenn diejenigen, die lange und hart gearbeitet haben,
zwischendurch einige Jahre auf ALG-II-Leistungen angewiesen waren! Dann fallen sie nicht unter die Regelung betreffend die Rente mit 63, weil solche Zeiten
nach dem bekannt gewordenen Referentenentwurf rentenrechtlich nicht angerechnet werden.
({0})
Was ist mit den Frauen, die nach der Kindererziehungszeit den Wiedereinstieg in den Beruf nicht richtig
geschafft haben? Auch diese werden von der Rente mit
63 nicht erfasst, obwohl sie lange und hart gearbeitet haben. Eines muss ich hier - auch an die Adresse der CDU/
CSU - klar sagen: Wie Sie wissen, haben wir uns in der
gesamten vergangenen Legislaturperiode - und das tun
wir heute noch - für diejenigen eingesetzt, die die größten Schwierigkeiten haben, am Arbeitsmarkt und an der
Gesellschaft teilzuhaben. Wir sind neben der Linken die
Einzigen gewesen, die konsequent eine Erhöhung des
Arbeitslosengeld-II-Regelsatzes gefordert haben.
({1})
Wir achten nun darauf, dass die Erwerbsminderungsrente - weil hier die größten Probleme bestehen - tiefschürfender und gründlicher behandelt wird, als Sie das
nun tun. Ich lasse mir von Ihnen nicht vorwerfen, dass
wir eine Art FDP 2.0 sein werden. Das werden Sie nicht
erleben.
({2})
Ich muss heute schon an den 3. September 2013 erinnern. An diesem Tag, dem letzten Plenartag vor der Bundestagswahl 2013, warf die damalige SPD-Generalsekretärin Nahles Bundeskanzlerin Merkel vor, sich die
Welt so zu malen, wie sie ihr gefalle. In dieser Rede, die
wegen einer eigenwilligen Gesangseinlage als PippiLangstrumpf-Rede eine gewisse Bekanntheit erlangt hat,
sagte sie zur Rente Folgendes:
Wir haben an keiner einzigen Stelle eine Aussage
darüber gehört, wie zum Beispiel die Mütterrente
finanziert werden soll;
Weiter heißt es:
Ich behaupte, dass es drei Möglichkeiten gibt: Entweder Sie lügen die Leute an und es gibt doch Steuererhöhungen, oder Sie lügen die Leute an und es
gibt doch mehr Schulden nach der Wahl, oder - das
wäre mein heißer Tipp - Sie greifen in die Sozialkassen. Ich glaube, dass Sie das machen werden.
Das Protokoll verzeichnet dort Beifall bei der SPD. Wer
hätte gedacht, dass sich Ihre Prophezeiung „Nach dem
Wahltag ist Zahltag“ so schnell bewahrheitet und dass
Sie die Vollstreckerin Ihrer eigenen Prophezeiung sein
würden!
({3})
Herr Schiewerling, beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales scheint es sich im Moment nicht mehr
um ein gut bestelltes Haus zu handeln, wie Sie noch im
Dezember sagten. Vielmehr erinnert das, was sich im
Bundesministerium für Arbeit und Soziales abspielt,
eher an die Villa Kunterbunt, um im Bild zu bleiben.
Das, was bei Pippi Langstrumpf lustig ist, nämlich das
Hineinleben in den Tag, das Sich-nicht-Scheren um das
Morgen, ist bei der Rentenversicherung fatal. Sie verbrauchen bis 2018 die Rücklagen restlos. Ab 2018 ist
dann ein moderates Erklimmen eines höheren Beitragssatzniveaus nicht mehr möglich. Sie türmen eine finanzielle Steilwand für die nächste Regierung auf. Selbst in
Ihrer heute bekannt gewordenen Schönwetterkalkulation
erfolgt spätestens in fünf Jahren ein sprunghafter Beitragssatzanstieg. Gleichzeitig haben wir einen höheren
Bedarf an Steuermitteln zu verzeichnen. Das ist eine
Langfristlast von 10 Milliarden Euro jährlich, die wir bis
2030 - das sind überschlägig 160 Milliarden Euro insgesamt - vor uns herschieben und schultern müssen.
Besonders dramatisch wird es, wenn man sich vor
Augen führt, in welchem Kontext des Koalitionsvertrages sich das Ganze abspielt. Denn Sie sagen im Koalitionsvertrag, Sie hätten noch prioritäre Maßnahmen, die
Sie auf jeden Fall umsetzen wollten - und das auch noch
ohne Finanzierungsvorbehalt.
Wenn man das dazustellt, dann verdüstert sich das
Bild endgültig. Sie wollen jährlich zusätzlich 1,4 Milliarden Euro für die Eingliederung Arbeitsuchender
bereitstellen, was an sich nicht schlecht ist - ich nenne
einfach einmal die Summen -, 600 Millionen Euro zusätzlich jährlich für Städtebauförderung, gar 5 Milliarden Euro pro Jahr versprechen Sie den Städten und Gemeinden für die Finanzierung der Eingliederungshilfe, in
der gesamten laufenden Legislaturperiode wollen Sie
2 Milliarden Euro für die Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung stellen, 3 Milliarden Euro für außeruniversitäre Forschung, 5 Milliarden Euro zusätzlich für die
Verkehrsinfrastruktur und 6 Milliarden Euro zusätzlich
für die Entlastung der Länder.
Wer soll das finanzieren? Das glauben Sie doch selbst
nicht. Im Ernst: Ich glaube, Sie von der Großen Koalition tun gut daran, sich doch auf die Grundrechenarten
der Volksschule Sauerland zu besinnen.
({4})
Dieser Tage hat Franz Müntefering sehr richtig zu diesen
Grundrechenarten gesagt: Daran kann man nicht vorbeikommen.
Danke schön.
({5})
Jetzt hat der Kollege Weiß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Rednerinnen und Redner der Grünen, die diese
Debatte beantragt haben, sind in den letzten Bundestagswahlkampf mit einem Wahlprogramm gezogen. Vielleicht können sich die Frau Spitzenkandidatin GöringEckardt und auch Herr Kurth noch daran erinnern. In
dem Wahlprogramm der Grünen steht zum Thema
Rente: stärkere Anrechnung von Kindererziehungszeiten,
({0})
eine Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge,
({1})
eine steuerfinanzierte Garantierente von mindestens
850 Euro für jeden
({2})
- klatschen Sie dazu nur Beifall - und die Möglichkeit,
die Teilrente bereits ab dem 60. Lebensjahr zu beantragen.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man allein
diese Forderungen der Grünen zusammenrechnet, dann
kommt man auf ein größeres Finanzvolumen als für das
Rentenpaket der Großen Koalition.
({4})
Es gibt im deutschen Volksmund ein gutes Sprichwort,
das heißt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen
werfen. Das gilt auch für die Grünen.
({5})
Richtig ist: Wir als Große Koalition erwarten von der
Bundesregierung ein solides Finanzkonzept für das Rentenpaket, vor allem eines, das im Sinne der Generationengerechtigkeit die im Rentengesetz festgeschriebenen
Beitragsziele einhält, sprich, dass der Beitragssatz im
Interesse der jungen Generation bis zum Jahr 2020 nicht
über 20 Prozent und bis zum Jahr 2030 nicht über
22 Prozent ansteigt. Genau diese Maßgaben werden von
dem Referentenentwurf, den Frau Ministerin Nahles
jetzt in die Kabinettsabstimmung geschickt hat, eingehalten. Und zwar in der Weise, dass wir in dieser Legislaturperiode mit einem Beitragssatz von 18,9 Prozent
auskommen, dem seit 15 Jahren niedrigsten Beitragssatz
in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das halte ich für
eine Leistung. Und zweitens dadurch, dass - wie mit dem
Bundesfinanzminister bereits vereinbart worden ist - in
den Jahren ab 2019 über vier Jahre zusätzliche Bundesmittel in den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung gehen.
Auch wir wollen, dass die Mütterrente möglichst zu
100 Prozent aus Steuermitteln finanziert wird. Dazu nutzen wir das, was heute noch an Spielraum da ist.
({6})
Dazu wollen wir den zusätzlichen Bundeszuschuss haben. Damit ist ein Finanzkonzept entwickelt worden, mit
dem die Beitragssatzziele eingehalten werden. Das ist
solide gerechnet, und wir als Abgeordnete der Großen
Koalition wollen ein solides Rentenkonzept hier im
Deutschen Bundestag verabschieden.
({7})
Ein bisschen merkwürdig finde ich, dass die Grünen,
wie es an der Medientafel steht, eine Aktuelle Stunde zu
den Kosten des Rentenpakets der Bundesregierung beantragt haben, aber nicht zu den Inhalten. Wenn ich von
Generationengerechtigkeit spreche, dann hat das verschiedene Perspektiven. Ich finde, dass die Väter und
Mütter, die Kinder großgezogen haben, die in der Zukunft unser Rentensystem mit ihren Beiträgen sichern,
zu Recht eine bessere Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rente erwarten können. Ich bin froh,
dass wir das jetzt endlich ermöglichen.
({8})
Dass wir die Ansprüche auf eine Erwerbsminderungsrente derjenigen verbessern müssen, die wegen Unfall
oder Krankheit vorzeitig aus dem Erwerbsleben aussteigen müssen - nicht wollen, sondern müssen -, ist doch
ein dringendes Erfordernis der Zeit, auch um Altersarmut in der Zukunft zu verhindern. Wer wollte an
diesem Thema Kritik üben! Eine solche Rente ist selbstverständlich aus Beiträgen zu finanzieren. Insofern ein
klares Ja zur Verbesserung des Erwerbsminderungsschutzes.
({9})
Wir wollen - deswegen sind wir für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit -, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund länger arbeiten
können. Allerdings müssen wir ihnen auch dabei helfen.
Die Rehaleistungen der Rentenversicherungen sind daher etwas sehr Wichtiges. Es ist höchste Zeit, dass wir
die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung für
Rehaleistungen erhöhen, um jedem, der es nötig hat,
eine Rehamaßnahme zu ermöglichen, damit er länger
gesund arbeiten kann.
({10})
Zusätzlich wird nach 45 Beitragsjahren ein früherer
Renteneintritt abschlagsfrei möglich sein, was ja nicht
Peter Weiß ({11})
auf einer Forderung der Union beruht, sondern auf einer
der Sozialdemokraten. 45 Beitragsjahre, dem liegt eine
großartige Leistung zugrunde, auch deswegen, weil die
entsprechenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit ihren Beiträgen das Rentensystem stabilisiert haben.
({12})
Ich finde, ein kleines Dankeschön kann man diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchaus sagen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, es ist
richtig, das Ganze muss solide finanziert sein aus Beitragsmitteln und aus Steuermitteln. Dafür sorgen wir.
Außerdem müssen die Inhalte stimmen. Ich finde, die
Inhalte stimmen. Was die Grünen und die Linken hier
vorgetragen haben, geht daneben. Ja, wir handeln beim
Rentenpaket an denjenigen Punkten, an denen zu handeln höchste Zeit war. Das, was wir uns vorgenommen
haben, wollen wir umsetzen.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt hat der Kollege Claus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Weiß hat soeben behauptet, mit dem Bundesfinanzminister sei eine Verabredung über die Steuerfinanzierung dieser Aufgaben in den Jahren 2018/19 getroffen worden. Wenn ich Wolfgang Schäuble vor
wenigen Tagen richtig verstanden habe, so hat er genau
dies abgelehnt und hat darauf verwiesen, dass diese Regierung für vier Jahre gewählt ist und dass mit ihm solche Schecks in die Zukunft nicht zu machen sind. Bleiben Sie redlich, Herr Kollege!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe einmal davon aus, dass Sie alle redliche Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler sind. Stellen wir uns jetzt einmal einen
Moment vor, wir nähmen 3 Euro zur Hand. Ich benutze
dieses Bild zu einem bestimmten Zweck: Es wird nämlich so sein, dass ab dem Jahre 2017 jeder dritte von
diesen 3 Euro in die Stabilisierung der Rentenkassen
fließen wird. Das ist eine gigantische Dimension der
Verwendung von Steuermitteln, die bei der Grundanlage
der Rentenversicherung so natürlich nicht gewollt war,
die Sie aber inzwischen herbeigeführt haben. Diese
Summe wird - das ist das Schlimme - noch nicht einmal
ausreichen, weil Sie gerade dabei sind, die Rentenkassen
systemwidrig zu entleeren. Das Gegenteil wäre richtig
und vernünftig, nämlich eine Stärkung und Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung statt ihrer
Schwächung.
({1})
Der Titel der von den Grünen beantragten Aktuellen
Stunde beschreibt präzise, worum es hier geht. Es geht in
der Tat um die künftigen Kosten des geplanten Rentenpaketes. Wir wollen dabei nicht vergessen: Die gesetzliche Rentenversicherung ist eine soziale Erfolgsgeschichte des vorigen Jahrhunderts. Die meisten
Länder der Erde haben bis heute keine vergleichbaren
Rentenversicherungen. Die Rentenversicherung hat auch
die deutsche Teilung überstanden, natürlich auf unterschiedlichem finanziellem Niveau. Aber seit Mitte der
1990er-Jahre wurde die Rentenversicherung mit Niedriglohn, mit Dumpingtarifen, später mit Hartz IV
schwer beschädigt.
Norbert Blüm konnte noch stolz den Satz sagen - Sie
alle kennen diesen Satz noch -: „Die Rente ist sicher.“
Andrea Nahles ist bestimmt alles andere als schüchtern;
aber das traut sie sich nicht. Wir haben ein kaputtes Rentensystem. Wie es anders ginge, hat Ihnen mein Kollege
Birkwald vorhin erzählt. Aber das traut sich die Koalition natürlich nicht. Sie weiß: Bei den Armen ist nichts
zu holen. An die Reichen traut sie sich nicht heran. Deshalb wird auf Dauer immer die Mitte der Gesellschaft
belastet. Nun sollen ein paar Beruhigungspillen das Problem lösen.
Wir wissen natürlich: Jedes Drehen an der Rentenschraube hat eine Wirkung, die sich über mehrere Jahrzehnte bemerkbar macht. Ich will das einmal durch einen Vergleich des Rentenzuschusses aus dem
Bundeshaushalt über ein paar Jahre verdeutlichen - vielleicht fällt Ihnen etwas auf -: 2008 78 Milliarden Euro,
2010 81 Milliarden Euro, 2013 81 Milliarden Euro, 2014
82,5 Milliarden Euro, 2016 87 Milliarden Euro und 2017
90 Milliarden Euro.
Daraus lassen sich doch mindestens zwei Erkenntnisse ableiten: Zum einen wird jeder dritte Euro des
Steuerzahlers, der dem Bund zufließt, für die Rente verbraucht, ein gigantischer, aber häufig der Öffentlichkeit
vorenthaltener Posten. Zum anderen wird es ab 2014 bei
diesen Zuschüssen zu einer extremen Steigerung um fast
10 Milliarden Euro kommen. Da muss man doch einmal
die Frage stellen dürfen: Sind diese Wohltaten da schon
eingepreist gewesen?
({2})
Auch mit dieser Rentenreform wird die Ungleichheit
zwischen Ost und West weiter fortgesetzt, und das im
24. Jahr der deutschen Einheit. Eine Mutter aus Leipzig,
deren Kind 1971 geboren wurde, bekommt so 700 Euro
weniger Rente als eine Mutter in Köln, deren Kind 1993
geboren wurde. Die Angleichung der Rentenwerte Ost
und West haben Sie ganz und gar aufgegeben. So wird
deutsche Einheit nicht befördert, sondern vergeigt. Deshalb sagt Ihnen die Linke: Wirkliche Einheit geht anders.
({3})
Aber wie kommt so etwas? Ich sage Ihnen: Eine
Große Koalition hat immer auch Züge einer Zwangsheirat. Wo politische Zuneigung fehlt, regiert das
Schachern: Gibst du mir, gebe ich dir. Die SPD wollte
Soziales bei der Rente, die CDU/CSU keine Steuererhöhungen, und das Ergebnis ist das, was uns vorliegt: organisierter Selbstbetrug auf Kosten der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler.
({4})
Volker Kauder hat doch ganz offen gesagt: Wir machen das jetzt aus der Rentenkasse, 2018 wird es dann
steuerfinanziert. Das heißt doch: Vier Jahre die Rentenkasse belasten und dann nach der Pille danach rufen. Das
können wir Ihnen doch nicht durchgehen lassen.
({5})
- Ich auch nicht. - Ich habe den Eindruck: Wenn diese
Regierung so weitermacht, wird sich eine völlig neue
Allianz herausbilden, eine Allianz gegen diesen ungebremsten Populismus. Der Haushaltsausschuss - womöglich in seiner Gänze - und der Bundesfinanzminister
werden diesen Spuk vertreiben. Wäre das nicht eine
schöne Vision?
Vielen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin hat jetzt die Kollegin Kolbe das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin zugegebenermaßen sehr froh,
dass es endlich mit der parlamentarischen Arbeit losgeht
- und das dann gleich mit diesem wichtigen Thema der
Rente. Vorab möchte ich sagen: Ich bin ebenfalls sehr
froh - auch wenn mir die Redebeiträge nicht so gut gefallen haben -, dass in dieser Aktuellen Stunde nicht nur
jeweils ein Redner bzw. eine Rednerin von Grünen und
Linken zu Wort gekommen ist, sondern zwei, weil es
wichtig ist, dass gerade bei aktuellen und komplexen
Themen alle Positionen gehört werden und ganz selbstverständlich zu Wort kommen.
({0})
Ich bin mir aber auch sicher, dass wir einen lebendigen Austausch innerhalb unserer Koalition, zwischen
Union und SPD, haben werden.
({1})
Bei allen sehr guten Kompromissen in unserem gemeinsamen Koalitionsvertrag werden wir sicher immer ein
offenes und ehrliches Wort miteinander pflegen und
komplexe Sachverhalte von unterschiedlichen Seiten aus
angehen. Das ist dann aus meiner Sicht gar nicht Parteienstreit, sondern das wird, glaube ich, der Sache sehr
dienlich sein. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, liebe Unionskollegen.
({2})
- Sie auch? Das freut mich. Ich glaube, wir müssen uns
alle noch ein bisschen daran gewöhnen, aber ich denke,
dass wir gerade bei diesem Thema viel auf die Reihe bekommen werden.
Der Handlungsbedarf beim Thema Rente ist offensichtlich. Ich will Ihnen das anhand meiner Erfahrungen
in meinem Wahlkreis etwas erläutern. Ich komme aus
Leipzig. Das ist eine wunderschöne Stadt. Viele sagen,
sie ist eine Boomtown, es gibt viele Kinder. Aber das
Hauptthema in meinen Bürgersprechstunden ist neben
Betreuungsplätzen tagein tagaus, immer wieder: Rente,
Rente, Rente.
Besonders erschüttern mich die Erzählungen der Älteren, die zu mir kommen. Das sind oft Frauen, die nach
einem Leben voller Erwerbsarbeit mit einer Minirente
auskommen müssen. Sie kommen allerdings oft nicht
wegen der Rente zu mir, sondern weil sie sich den Rundfunkbeitrag nicht leisten können. Sie könnten zum Teil
Grundsicherung im Alter beantragen, wozu ich ihnen
auch rate, aber das lehnen diese Menschen ab, weil das
gegen ihre Würde ist.
({3})
Diese Menschen wollen keine Almosen vom Staat. Sie
wollen auch nicht mit Menschen auf eine Stufe gestellt
werden, die noch nie oder nur kurz gearbeitet haben. Sie
wollen Respekt für ihre Lebensleistung und irgendwie
über die Runden kommen. Ob das dann Lebensleistungsrente oder Solidarrente heißt, ist diesen Menschen
völlig egal. Die Hauptsache ist, wir gehen das Problem
an.
({4})
Altersarmut ist nach den offiziellen Zahlen noch kein
großes Problem - es betrifft 2,7 Prozent der Rentnerinnen -, aber es ist zu beobachten, dass die Zahlen steigen.
Wenn wir uns die Niedriglöhne, die zurückliegende
Massenarbeitslosigkeit und die prekären Beschäftigungsverhältnisse vor Augen führen, dann ist klar, dass
gerade in den neuen Bundesländern das Problem massiv
ansteigen wird.
In meinem Wahlkreis kommt als zweites Problemfeld
die gefühlte Ungerechtigkeit hinzu, dass es so lange
nach der Wiedervereinigung immer noch zwei Rentensysteme gibt. Für viele Berufstätige stellt sich natürlich
die Frage: Wie ist das mit meinem Lohn? Bleibt hinterher überhaupt genug Rente? Was passiert, wenn ich beDaniela Kolbe ({5})
rufsunfähig werde? Schaffe ich es überhaupt, so lange zu
arbeiten, wie es von mir erwartet wird?
Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, kennen
doch die fassungslosen Blicke, wenn man mit Erzieherinnen, mit Krankenschwestern, mit Altenpflegern und
Arbeitern über die Rente mit 67 spricht, weil ganz klar
ist: Diese Menschen arbeiten zwar mit Herzblut, aber sie
haben schon Probleme, bis 65 durchzuhalten. Für diese
Menschen müssen wir dringend etwas tun.
({6})
Es gibt natürlich auch viele Normal- und Gutverdiener, die etwas für das Alter zurücklegen können. Sie sind
die Basis unseres Rentensystems. Sie können privat vorsorgen und auch aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine gute Rente erwarten. Diese Bundesregierung
wird alles dafür tun, dass wir möglichst viele Menschen
in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen mit guten Löhnen haben; denn diese Menschen sind die Basis unserer Rentenversicherung. Rentner ist also nicht gleich Rentner. Ich bin sehr froh, dass
ich Mitglied einer Koalition bin, die die vor uns liegenden Herausforderungen mutig annimmt.
Das, was wir da vorhaben, ist nicht wenig: abschlagsfreie Rente mit 63, Mütterrente, solidarische Lebensleistungsrente, Erwerbsminderungsrente und die Systemangleichung in Ost und West. Das ist mutig, das bedarf
einer riesigen Anstrengung. Das ist aber auch notwendig.
Wir können das gemeinsam auf den Weg bringen. Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen,
dass das Rentenpaket kommt und dass wir es nachhaltig
und sozial gerecht finanzieren. Es ist ganz eindeutig: Dafür sind Steuermittel notwendig, aber ich bin mir sicher,
dass wir uns miteinander einig werden und dass unsere
Ministerin Andrea Nahles Gesetzentwürfe vorlegen
wird, die sowohl uns alle als auch den Finanzminister
überzeugen werden. Ich freue mich auf die weiteren gemeinsamen Beratungen.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Zech das Wort.
Das ist übrigens die erste Rede des Kollegen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Große Koalition wird mit dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Rentenpaket zum ersten Mal seit 25 Jahren
wieder Leistungsverbesserungen für deutsche Rentnerinnen und Rentner ermöglichen und genau denen wieder
etwas zurückgeben, die mit ihrer Lebensleistung, mit ihrer Arbeitsleistung unseren Staat und unser Land wirtschaftlich stabil gemacht haben und damit unsere Solidargemeinschaft aufrechterhalten.
({0})
Das ist deshalb möglich, weil die unionsgeführte
Bundesregierung seit 2005 kontinuierlich für ein Anwachsen der Rentenkasse gesorgt hat. Frau Reimann, alles, was wir jetzt beschlossen haben, zahlen wir nicht nur
aus der Rentenkasse; denn in den 31 Milliarden Euro,
die wir an Reserven haben, stecken 10 Milliarden Euro
Steuergelder. Somit können wir eine Mischfinanzierung
darstellen.
Wichtig ist mir - Frau Reimann, da hatten Sie vorhin
recht -: Wir sprechen bei der Rente - das muss uns immer wichtig sein und so müsste hier auch die Kommunikation sein - nicht über Zahlen, sondern es geht um persönliche Schicksale, es geht um Erwerbsbiografien und
nicht zuletzt um soziale Gerechtigkeit. Wir sprechen darüber, dass wir Altersarmut bekämpfen, dass wir den
fleißigen Menschen, die unseren Wohlstand erarbeitet
haben, ermöglichen, im Alter würdig zu leben. Wir sprechen nicht - das ist der Unterschied zu Ihnen - von einem Konflikt der Generationen, erzeugen einen solchen
auch nicht bewusst. Konflikte zwischen Alt und Jung
helfen hier niemandem. Die Herausforderung bei der
Rente besteht darin, dass wir die Probleme mit allen Generationen gemeinsam lösen und somit ein Auskommen
und Sicherheit für alle Generationen in diesem Land ermöglichen.
({1})
Im Koalitionsvertrag für die nächsten vier Jahre haben wir uns dieser Herausforderung gestellt und trotz aller Schwierigkeiten - Sie haben das angesprochen - aus
meiner Sicht auch die richtigen Lösungsansätze gefunden,
und zwar - jetzt kommen wir zur Generationengerechtigkeit, Frau Göring-Eckardt - ohne Steuererhöhungen und
ohne neue Schulden. Das ist generationengerechte Politik.
({2})
Das gefährdet nicht den Wohlstand dieses Landes. Das
ist generationengerechte Politik und nichts anderes.
({3})
Jetzt lassen Sie mich dazu noch ein paar Punkte sagen.
Die Mütterrente. Wir sprechen hier über 330 Euro
durchschnittliche Erhöhung pro Jahr für die Frauen, die
die derzeitigen Beitragszahler - das sind nämlich die
Stützen unseres Sozialsystems - geboren und erzogen
haben. Meine Großmutter hat vier Kinder aufgezogen vier Kinder! - und bekommt so wenig Rente, dass sie
ohne die Unterstützung ihrer Kinder nicht gut leben
könnte. 27 Euro pro Monat Erhöhung sind für viele hier
in diesem Hause nicht viel Geld; für meine Großmutter
sind 108 Euro sehr viel Geld, und an Leute wie sie müssen wir denken.
({4})
Das ist nicht nur die Anerkennung der Lebensleistung, sondern auch ein wirksames Mittel gegen Altersarmut, vor allem gegen verschämte Armut. Es geht dabei
nämlich um die Leute, die nicht zur Gemeinde gehen,
die nicht zur Sozialkasse gehen, und auch um die müssen wir uns kümmern.
Wer auf dem Rücken dieser Mütter einen Generationenkonflikt austragen will, muss sich fragen lassen, wie
viel ihm oder ihr die durchwachten Nächte seiner oder
ihrer Eltern wert sind. Für uns galt immer: Die Einführung der Mütterrente kommt vor einer weiteren Senkung
des Rentenversicherungsbeitrags. Das haben wir im
Wahlkampf versprochen. Das werden wir hier jetzt auch
einhalten.
Die Rente zwei Jahre vor regulärem Renteneintritt bei
45 Beitragsjahren. Das stand nicht als zwingend auf meinem Wunschzettel, aber - das kann ich Ihnen aus meiner
Region und aus vielen Diskussionen berichten - insbesondere im Handwerk, bei den Bauberufen, bei den Sozialberufen und bei allen, die ihr Leben lang hier in unserer Gemeinschaft gearbeitet haben, wird schon ein
großer Bedarf dafür gesehen, dass man diese Lebensleistung richtig honoriert. Der Maurer, der 45 Jahre am Bau
war, fragt nach: Warum muss ich denn jetzt noch länger
arbeiten? Wie soll ich das körperlich überhaupt schaffen?
Hier geht es darum, dass wir diese besondere persönliche Lebensleistung honorieren und ihr auch gerecht
werden. Wichtig dabei ist: Der vorzeitige Renteneintritt
stellt hier keine Abkehr von der Rente mit 67 dar, sondern ist die Honorierung der persönlichen Lebensleistung. In der Gesetzgebung müssen wir das mit Verstand
und Augenmaß umsetzen.
({5})
Letzter Punkt. Alle die Maßnahmen, die wir beschlossen haben, über einen Kamm zu scheren und en bloc als
schlecht darzustellen, das wird der Sache nicht gerecht.
Es geht hier nicht darum, Wahlgeschenke zu verteilen; es
geht darum, denjenigen, die dieses Land zu dem gemacht haben, was es jetzt ist, einen guten Lebensabend
zu ermöglichen. Das können wir nur gemeinsam umsetzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Herzlichen Glückwunsch zur ersten
Rede!
({0})
Jetzt hat der Kollege Paschke das Wort. Für ihn ist es
ebenfalls die erste Rede.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
werden älter und leben länger. Nun sagen einige: Wer
länger lebt, muss automatisch auch länger arbeiten.
Diese Schlussfolgerung teile ich nicht.
({0})
Die zunehmende Leistungsverdichtung in unserer heutigen Arbeitswelt stellt uns vor große Herausforderungen.
Und sie fordert ihren Tribut.
Der vielzitierte demografische Wandel in unserer Gesellschaft darf nicht dazu führen, dass wir die Bedürfnisse des Einzelnen aus dem Blick verlieren. Viele Menschen sind nicht in der Lage, bis zum 67. Lebensjahr zu
arbeiten, und das aus vielerlei Gründen. Ich will nur
zwei kurz benennen:
In meinem Wahlkreis ist eine der letzten großen Textilfabriken in der Insolvenz, die Deutsche Textilfabrik,
vielen wahrscheinlich bekannt unter ihrem früheren Namen ADO; das ist die mit der Goldkante.
({1})
300 Beschäftigte stehen vor dem Nichts, wissen nicht,
wie sie morgen ihre Familien über Wasser halten sollen,
und nicht wenige davon haben ihr Leben lang in diesem
Betrieb gearbeitet, 35, 40 oder sogar 45 Jahre. Sie sind
gut ausgebildet und haben immer ihren Beitrag für die
Gesellschaft und für die Sozialkassen geleistet. Aber sie
sind in einem Alter, in dem sie wenig Chancen auf dem
Arbeitsmarkt haben. Manche von ihnen könnten in ein
oder zwei Jahren vorzeitig in Rente gehen, aber nur mit
hohen Abschlägen.
Die Beschäftigten in vielen Handwerksberufen, die
Beschäftigten in der Pflege, die Schweißer und Rohrleitungsbauer auf der Werft sind froh, wenn sie 45 Jahre im
Beruf überhaupt körperlich durchhalten. In den wenigsten Betrieben ist es bisher möglich, alters- und leistungsgerechte Arbeitsplätze für alle Beschäftigten anzubieten.
Ich kenne viele Menschen, die froh wären, wenn sie
nach 45 Jahren Arbeit ohne Abschläge in Rente gehen
könnten.
({2})
Neben den Pflichtbeitragszeiten aus Beschäftigung,
Selbstständigkeit und Pflege werden wir auch Kindererziehungszeiten anrechnen. Selbstverständlich ist für
mich, dass Zeiten, in denen Menschen Lohnersatzleistungen wie zum Beispiel Schlechtwettergeld oder Kurzarbeitergeld bezogen haben, ebenfalls berücksichtigt
werden.
({3})
In den letzten Jahrzehnten gab es viele schwierige
Zeiten auf dem Arbeitsmarkt: Strukturwandel, Massenarbeitslosigkeit, auch die Wiedervereinigung. Wer einen
Übergang von einer Beschäftigung in eine andere gesucht und gefunden hat, dem dürfen wir den Zugang zu
einer vorzeitigen abschlagsfreien Rente nicht verbauen.
Deshalb müssen wir auch die Zeiten, in denen Arbeitslosengeld bezogen wurde, berücksichtigen.
Lassen Sie mich klar sagen: Es ist an der Zeit, dass
wir die Lebensleistung der Menschen endlich wieder
würdigen.
({4})
Das haben die Menschen in unserem Land verdient. Mit
den Rentenplänen dieser Bundesregierung wird diese
Leistung gewürdigt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Thema Rente
sind endlich Gerechtigkeitslücken zu schließen. Würdigung von Lebensleistung bedeutet nämlich auch, dass
Menschen in Würde von ihrer Rente leben können und
dass sie sich mit Mitte 60 noch am gesellschaftlichen Leben beteiligen können. Mal ins Theater, mal ins Kino gehen oder einen Ausflug mit den Enkeln machen, das
muss schon drin sein. Wer 35 Versicherungsjahre eingezahlt hat und trotzdem weniger als 850 Euro Rente im
Monat bekommt, der kann das alles nicht. Deshalb haben wir uns für eine solidarische Lebensleistungsrente
starkgemacht.
({6})
Ja, Arbeit muss sich lohnen. Auch wenn das Einkommen gering war, hat jeder Mensch mit seiner Arbeit seinen Teil zu dieser Gesellschaft beigetragen. Um es klar
zu sagen: Wir verteilen hier keine Almosen. Wir würdigen die Lebensleistung der Menschen in unserem Land,
ohne Wenn und Aber.
({7})
Deshalb hat die SPD sich in ihrem Wahlkampf für die
Finanzierung aus Steuermitteln starkgemacht. Ich sage
Ihnen ehrlich: Ich halte das auch weiterhin für richtig.
Im Koalitionsvertrag haben sich SPD und Union auf den
Kompromiss einer Teilfinanzierung aus der Rentenkasse
verständigt. Die Frage ist also: Wollen wir ernsthaft gute
und sinnvolle Reformen gefährden, nur weil wir uns eine
andere Finanzierung gewünscht hätten? Ich sage: Nein!
Ich halte die Kompromisse der Koalitionsvereinbarungen für gut und für tragbar.
Wie Ministerin Nahles bereits sagte, werden wir diese
Leistungen spätestens 2019 stärker aus Steuermitteln finanzieren müssen. Das ist auch gut so. Meine Damen
und Herren von der Opposition: Klar, mehr geht immer.
Aber mein Motto lautet: Lieber heute das Mögliche umsetzen, als Visionen fordern und das Handeln auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.
Vielen Dank.
({8})
Auch Ihnen, Kollege Paschke, herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede.
({0})
Als Nächster hat Uwe Schummer das Wort.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Kollege Claus, wenn über die Verbesserung der
Mütterrente diskutiert, geschrieben oder sie kommentiert
wird, dann fallen Begriffe, wie auch Sie sie in Ihrem
Beitrag benutzt haben, nämlich dass es sich dabei um
eine Verteilung von Wohltaten handelt. Andere sagen, es
sei ein Geschenk, eine Beglückung der Menschen. Ganz
massiv äußerte sich Professor Goeschel im Focus, indem
er von einer „Müttermaut“ sprach. Da kann ich nur sagen: Worte sind auch ein Stück weit der Geist, aus dem
heraus über Menschen diskutiert wird. Diesen Geist in
solche Begriffe zu fassen - bewusst oder unbewusst -,
ist zynisch. Das ist ein hoher Grad an Verachtung der Familienarbeit, die wir in der Großen Koalition besser sozial absichern wollen.
({0})
Viele haben aufgrund der Erziehungsleistung ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen. Sie haben oft eine kleine
Rente. Es ist überfällig, die Gerechtigkeitslücke in Bezug auf die Mütter der vor 1992 geborenen Kinder zu
schließen und ihnen etwas mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Jetzt kann man wunderbar miteinander
ordnungspolitisch philosophieren, indem man sagt: Das
ist auch ein Teil der Familienförderung; das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die von daher auch von
der gesamten Gesellschaft aus Steuermitteln zu finanzieren ist.
({1})
Das kann ich gut nachvollziehen.
Dann gibt es in der christlichen Sozialbewegung folgende bekannte ordnungspolitische Argumentation: Der
Generationenvertrag lebt davon, dass die erwerbstätige
Generation mit ihren Beiträgen die Generation, die sich
in der Alterssicherung befindet, finanziert und auf der
anderen Seite über Erziehungsleistungen dafür sorgt,
dass der Generationenvertrag im wahrsten Sinne des
Wortes lebendig bleiben kann. Erziehungsleistungen und
Beitragsleistungen sind bei der Alterssicherung gleichermaßen zu berücksichtigen; auch das ist eine ordnungspolitisch nachvollziehbare Argumentation. Dann wären
sie eben einfach „Beitragsmittel“; das wäre auch korrekt.
Die katholische Glaubenskongregation hat einen Weg
gefunden, wie man das Problem löst. Sie sagt nämlich,
dass man die Ordnung der Dinge der Ordnung der Menschen unterstellen muss. Die Menschen, die jetzt leben,
wollen jetzt Lösungen haben. Wir wollen daher jetzt dafür sorgen, dass die Gerechtigkeitslücke insgesamt geschlossen werden kann.
Letztendlich fließt der Bundeszuschuss in die Rentenkasse; das hat Herr Claus vorgerechnet. In den nächsten
Jahren werden es bis zu 90 Milliarden Euro sein. Diese
Summe wird auch dadurch gespeist, dass 11,5 Milliarden Euro für die Erziehungsleistungen mobilisiert werden. Allerdings werden nur 6,5 Milliarden Euro für die
Erziehungsrente abgerufen. Es verbleiben also 5 Milliarden Euro an Steuermitteln aus dem Bundeszuschuss, die
umgeschichtet werden. Auch die Rücklagen von 31 Milliarden Euro haben sich aus diesen nicht abgerufenen
Zuschüssen für die Erziehungsrente ergeben. Von daher
kann man auch sagen: Hier ist ein Stück weit auch der
Steuerzahler mit im Boot.
Zum Thema Rente nach 45 Beitragsjahren mit 63. Es
ist ein Versicherungsgedanke, dass derjenige, der länger
Beiträge einzahlt, hinterher bei der Alterssicherung entsprechend mehr bekommt. Auch das ist ordnungspolitisch vollkommen korrekt. Es muss aber in der Tat sauber finanziert werden. Für mich war im Wahlkampf
unsere Aussage, dass wir in den nächsten Jahren, in dieser Legislaturperiode, erstmals seit 1969 einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung verabschieden wollen,
von zentraler Bedeutung. Damals gab es eine Große Koalition mit Plisch und Plum, mit einem Wirtschaftsminister Karl Schiller von der SPD und einem Finanzminister
Franz Josef Strauß von der CSU. Erstmals wollen wir es
wieder schaffen - das ist ein Megathema dieser Legislaturperiode -, einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung zu verabschieden und eine Kehrtwende weg von
der Verschuldungspolitik zu machen. Auch das ist eine
Form der Generationensolidarität, die wir in dieser
neuen Großen Koalition miteinander durchsetzen werden.
Ich bin sehr überzeugt davon, dass wir die Finanzierungsfrage in dieser Großen Koalition - unabhängig davon, wie die endgültige Finanzierung des Rentenpaketes
aussehen wird - lösen werden und unsere Ziele bei den
beiden Megathemen, Rentenpaket und Stabilität des
Bundeshaushaltes, erreichen können. Das lösen wir
pragmatisch, aber wir lösen es.
({2})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Schiewerling das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Finanzlage der Deutschen Rentenversicherung war
lange nicht so gut wie jetzt. Von der mittelfristigen Planung ausgehend müsste der Rentenversicherungsbeitrag
jetzt nicht 18,9 Prozent, sondern 19,3 oder 19,4 Prozent
betragen, und er würde diese Größenordnung noch länger beibehalten. Tatsächlich haben wir eine exzellente
Beschäftigungssituation, eine hervorragende Arbeitsmarktlage und viele Einnahmen in der Deutschen Rentenversicherung. Diese Einnahmen haben zu erheblichen
Rücklagen geführt.
Wegen der Dramatik der Diskussion, die ich im Augenblick bei denjenigen erlebe, die plötzlich entdecken,
dass die Mütterrente 6,5 Milliarden Euro kostet - du
meine Güte! -, halte ich es für wichtig, auf Folgendes
hinzuweisen: Die Union sagt seit einem halben Jahr,
dass das so teuer ist; die Union sagt seit einem halben
Jahr, wie es finanziert werden soll. Da kann ich manche
öffentliche Aufregung, wie ich sie im Augenblick in den
Medien erlebe, überhaupt nicht mehr verstehen.
({0})
Das kann ich nur als Automatismus bestimmter Leute
verstehen, die nicht wahrhaben wollen, dass wir das tun,
was wir vorher sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, die gute Finanzlage und
die Rücklagen in der Rentenversicherung speisen sich
aus drei Quellen: Ein Drittel sind Beiträge der Versicherten, ein Drittel sind Beiträge der Arbeitgeber und circa
ein Drittel ist der Bundeszuschuss. Der Bundeszuschuss,
der gegeben wurde und wird, steht für sogenannte versicherungsfremde Leistungen bereit, aber bei weitem nicht
nur dafür.
Ich will unterstreichen, was der Kollege Schummer
gerade gesagt hat: Die Mittel, die der Bund für die Anerkennung von Kindererziehungszeiten bereitstellt, machen ungefähr 13 Milliarden Euro aus. Wir verausgaben
aber seit Jahren nicht 13 Milliarden Euro, sondern rund
6,5 Milliarden Euro. Wir haben also in den Rücklagen
Steuermittel, und zwar 10 Milliarden Euro, die es uns ermöglichen, an dieser Stelle reinen Gewissens zu sagen:
Wir können die sogenannte Mütterrente und das Paket,
das wir geschnürt haben, am Anfang aus der Rücklage
finanzieren. Dies ist systemkonform. Als Selbstverwalter, der ich ehrenamtlich in der Rentenversicherung tätig
bin, sage ich offen und in aller Deutlichkeit: Das kann
ich vertreten.
({2})
Meine Damen und Herren, der Kollege Zech hat
heute in seiner Jungfernrede einen wichtigen Hinweis
gegeben. Er hat den Blick auf die Menschen gelenkt, die
von dem betroffen sind, was wir tun, nämlich zum Beispiel seine Großmutter, die jetzt möglicherweise im Monat 104 Euro mehr Rente bekommt und deswegen nicht
mehr auf Grundsicherung oder auf Unterstützung durch
ihre Kinder angewiesen ist. Meine Damen und Herren,
das hat etwas mit Anerkennung von Erziehungszeiten
und Erziehungsleistungen zu tun. Deswegen sage ich Ihnen an dieser Stelle, wie das übergeordnete Thema der
ganzen Rentendebatte lautet: Die Zukunft dieses Landes
entscheidet sich daran, ob Kinder geboren und zu lebenstüchtigen Menschen erzogen werden.
({3})
Dass die Situation heute so ist, wie sie ist, verdanken
wir auch der Generation der Mütter und Väter, die vor
1992 Kinder bekommen und großgezogen haben. Es gab
damals noch keine Krippenbetreuung und keine Ganztagsbetreuung. Die Frage der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf war kein Thema. Trotzdem haben sie Kinder
bekommen und erzogen. Als Union und als Koalition erkennen wir diese Leistung an.
({4})
Weil immer wieder gesagt wird, dass sich der Untergang der Rente am Horizont abzeichnet, sage ich: Die
Deutsche Rentenversicherung hat zwei Weltkriege und
eine Inflation überstanden. Sie hat die schwierigsten Situationen gemeistert. Ohne die Deutsche Rentenversicherung wäre die deutsche Einheit nicht so gut gelungen.
Das ist eine Solidarleistung aller Menschen in unserem
Land.
Anstatt Ihnen hier alles im Klein-Klein vorzurechnen
- das könnte ich tun -, rate ich uns, den Blick auf die
Gesamtleistung unseres Staates und unseres sozialen Sicherungssystems zu richten. Unsere Aufgabe besteht darin, dieses System stabil zu halten. Weil das etwas mit
Generationengerechtigkeit zu tun hat, wollen wir die Generation unterstützen, die damals Kinder erzogen hat.
Wir wollen die Lücke ein Stück weit schließen. Aber wir
wollen auch durch einen stabilen Haushalt, der ohne
Steuererhöhungen auskommt, und durch einen stabilen
Beitragssatz einen Beitrag zu einer soliden Finanzierung
dieses Vorhabens leisten.
Wir befinden uns am Anfang der Diskussion hier im
Deutschen Bundestag. Der Gesetzentwurf liegt noch gar
nicht vor. Die Diskussion darüber werden wir miteinander führen. Sie können gewiss sein, dass wir als Unionsfraktion den Blick gemeinsam mit unserem Koalitionspartner - da bin ich mir ganz sicher - auf dieses
Vorhaben richten werden.
Das, was wir auf den Tisch gelegt haben, ist in der Tat
sehr ambitioniert. Frau Kollegin Reimann, was wir auf
den Tisch legen, ist immer ein Kompromiss. Sie haben
sich manches nicht vorstellen können, aber auch wir haben uns so manches nicht vorstellen können.
({5})
Dennoch haben wir jetzt gemeinsam etwas vor. Lassen
Sie uns daher gemeinsam in die Zukunft gehen, zum
Wohle der Menschen in diesem Land.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich bekannt geben, dass alle neun Mitglieder, die
sich der Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremium
gestellt haben, gewählt worden sind.1) Sie haben die
nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen erreicht. Sie
sind damit als Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums gewählt.
({0})
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der
integrierten Luftverteidigung der NATO auf
Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des
Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({1})
sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates
vom 4. Dezember 2012
Drucksache 18/262
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort
der Bundesminister Frank-Walter Steinmeier. - Herr
Minister, Sie haben das Wort.
({3})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit Blick in den Nahen Osten müssen wir
feststellen: Seit drei Jahren hält das Blutvergießen in Sy-
rien jetzt an. Mehr als Hunderttausend Menschen haben
in diesen Auseinandersetzungen ihr Leben lassen müs-
sen. Das sind drei Jahre, in denen Millionen von Men-
schen aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. 2 Millio-
nen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen. Noch viel
mehr Menschen sind auf der Flucht vor Gewalt und Ver-
folgung. Nicht nur Syrien und die Syrer, auch die Nach-
barländer haben schwer zu tragen an diesen Ereignissen.
Das gilt vor allen Dingen für den Libanon und Jorda-
nien, aber nicht zuletzt auch für die Türkei.
Wir sind Zeugen der größten humanitären Katastro-
phe der letzten Jahre, wenn nicht gar der letzten Jahr-
zehnte, einer Katastrophe, die mit dem monströsen Che-
1) Anlage 2
miewaffenangriff auf die syrische Zivilbevölkerung eine
neue Dimension erreicht hat. So sehr uns in Deutschland
gerade seit jenen Bildern aus Damaskus das Leiden und
die Not der Zivilbevölkerung vor Augen stehen, so unübersichtlich erscheinen uns die Fronten der Kämpfenden zwischen dem wankenden Regime auf der einen
Seite, der zerstrittenen Opposition auf der anderen Seite,
zwischen extremistischen Kräften und jenen demokratischen Kräften in der Opposition, die sich tatsächlich
nach Frieden und nach Sicherheit sehnen.
Doch ich sage auch: Je unübersichtlicher die Fronten
sind, desto klarer muss unsere Überzeugung sein, dass
nur eine politische Lösung der Ausweg sein kann. Nur
dann, wenn in Syrien die Spirale der Gewalt abebbt und
der Wille zu Frieden und Freiheit aufkeimt, wird das
Leiden der Menschen dort ein Ende haben. Für diese
politische Lösung müssen wir uns mit aller Kraft einsetzen, die Bundesregierung, aber auch das Hohe Haus. Ich
danke Ihnen für die Unterstützung.
({0})
Vielleicht öffnet sich gerade in diesen Tagen zum ersten Mal die Tür zu einer solchen Lösung auf einem politischen Weg. Vielleicht war der Anfang das, was wir vor
einigen Wochen, vor Weihnachten, gesehen haben, nämlich die Initiative zur Vernichtung der Chemiewaffen in
den syrischen Waffenlagern. Aus meiner Sicht darf man
die Bedeutung dessen, was da zustande gekommen ist,
mit Blick auf die Gewaltsamkeit des Konfliktes nicht unterschätzen. Es ist nicht nur gelungen - das ist in einer
solchen Situation viel -, die scheinbar unvermeidliche
nächste Stufe der Eskalation in dieser Auseinandersetzung zu vermeiden - das ist gelungen, und das ist schon
viel -, sondern - ich glaube, das ist noch viel bedeutsamer; das wird sich in den nächsten Wochen und Monaten
zeigen - es ist auch gelungen, die Selbstblockade im
Weltsicherheitsrat zu durchbrechen und auch die USA
und Russland zu einer gemeinsamen Kooperation
- diese ist sehr begrenzt; ich will das nicht überschätzen,
aber es ist ein Anfang - im Syrienkonflikt zu bewegen.
Es wird weiter gestorben in Syrien, aber die Tür ist
jetzt einen kleinen Spalt offen. Wir sind vom Frieden
weit, weit entfernt; das weiß ich. Ich befürchte, wir sind
auch vom Ende des Blutvergießens noch weit entfernt.
Aber aus dem, was da geschehen ist, kann mehr werden,
wenn tatsächlich alle zu ihrer Verantwortung stehen, und
diese Verantwortung - darauf weise ich hin - trifft auch
uns, gerade mit Blick auf die Vernichtung der syrischen
Chemiewaffen. Es ist auch eine Nagelprobe, ob wir auf
dem Weg zum Frieden in Syrien in einer zeitlichen Perspektive tatsächlich weiterkommen.
Andersherum gesagt: Wenn sich die wenigen Staaten,
die über Kapazitäten zur Chemiewaffenvernichtung verfügen, aus ihrer Verantwortung heraushalten und nicht
mitmachen, dann wird es auch keine weiteren Schritte
auf dem Weg zu einer politischen Lösung geben. Deshalb ist es richtig, dass wir gesagt haben: Wenn die
Chance besteht, die Chemiewaffenlager zu räumen,
wenn die Chance besteht, die Chemiewaffen aus Syrien
abzutransportieren und anschließend zu vernichten, dann
dürfen wir uns nicht verweigern, dann müssen wir unser
Know-how und unsere Kapazitäten zur Verfügung stellen. - Das haben wir getan, und ich bedanke mich für die
breite Unterstützung hier in diesem Haus.
({1})
Das ist der eine Teil der Verantwortung. Der andere
Teil der Verantwortung ist natürlich, humanitäre Hilfe da
zu leisten, wo immer es geht. Das müssen wir in Syrien
selbst tun, aber - ich habe es am Anfang angedeutet den Blick nur auf Syrien zu richten, wäre zu wenig. Wer
einmal ein Flüchtlingslager in den Nachbarländern gesehen hat, der weiß ungefähr, wie der Vorhof zur Hölle
aussieht. Deshalb sind wir aufgefordert und stehen wir in
der Verantwortung, hier Zusätzliches zu leisten. Zu dem,
was wir in den Nachbarländern und in Syrien zusätzlich
an humanitärer Hilfe leisten, gehört auch, dass wir uns
für diejenigen, die Syrien oder die Nachbarländer Syriens verlassen müssen, ein wenig öffnen.
Über 30 000 Menschen aus Syrien haben bisher ihren
Weg hierher gefunden. Sie sind aufgenommen worden
mithilfe der Programme von Bund und Ländern, die es
gibt. Wir stehen mit Blick auf die Aufnahmebereitschaft
im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten nicht
schlecht da. Ich finde, das steht uns auch gut an. Das ist
gut und richtig so. Das ist ein kleiner, aber wichtiger
Beitrag zur Linderung der Not. Lassen Sie uns aber auch
einmal den Ländern Dank sagen, die an der Aufnahme
dieser Menschen mitgewirkt haben. Herzlichen Dank
von hier aus!
({2})
Wir tragen Verantwortung, wenn es um die Vernichtung von Waffen geht und wenn es um die humanitäre
Hilfe geht, und wir tragen natürlich erst recht am Verhandlungstisch Verantwortung. Wir haben uns bemüht
- Sie haben das verfolgt -, die gemäßigte Opposition in
Syrien in die Friedenskonferenzen, die jetzt anstehen,
tatsächlich einzubeziehen, nach unserer Vorstellung
möglichst breit, möglichst flächendeckend. Aber Sie sehen auch: Es gibt in Syrien eine zynische Auseinandersetzung innerhalb der Opposition. Manche sagen: Wer
sich jetzt, da wir den Sieg auf dem Schlachtfeld davontragen können, an den Verhandlungstisch setzt, der verrät den Sieg, den wir vor Augen haben. - Ich finde das
zynisch, weil der Frieden auf dem Schlachtfeld in Syrien
- da bin ich mir ganz sicher - nicht gefunden werden
wird. Frieden wird es nur auf dem Weg einer politischen
Lösung geben. Deshalb werden wir die syrische Opposition in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin auffordern - das haben wir auch bisher getan -, an den Verhandlungen, die jetzt anstehen, teilzunehmen.
({3})
Verantwortung, meine Damen und Herren, tragen wir
auch und nicht zuletzt gegenüber der Türkei. Die Türkei
ist ganz unmittelbar betroffen. Eine Dreiviertelmillion
Flüchtlinge kam mittlerweile über die Grenzen Syriens
in die Türkei. Das ist für den Süden der Türkei natürlich
eine Belastung. Deshalb muss sich unsere humanitäre
Unterstützung auch dorthin richten. Ich sage das natürlich auch deshalb, weil das nicht nur eine Belastung ist,
sondern weil sich daraus auch eine wirkliche militärische Bedrohung für die Türkei ergibt. Deshalb hat uns
die Türkei ersucht, mit Patriot-Abwehrsystemen zur Verfügung zu stehen, um die eigene Bevölkerung vor Raketenbeschuss aus Syrien zu schützen. Die Stationierung
ist und bleibt - und wird es bleiben - ausschließlich eine
Maßnahme der Verteidigung. Die Patriot-Abwehrsysteme unterstehen weiterhin dem NATO-Oberbefehl und
dem politischen Mandat des NATO-Rates. Es werden
weiterhin maximal 400 Soldatinnen und Soldaten vor
Ort bleiben. Die Bedingungen des Einsatzes, so wie ihn
das Hohe Haus bereits einmal beschlossen hat, bleiben
unverändert. Der Einsatz bleibt rein defensiv. Wir, die
Bundesregierung, bitten Sie um Ihre Unterstützung und
Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan van Aken für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war
dieses Wochenende in Syrien. Die Lage vor Ort ist wirklich katastrophal. Wir haben die Flüchtlingsströme gesehen. Teilweise versuchen Menschen, nur mit einer Plastiktüte in der Hand das Land zu verlassen und diesen
Krieg irgendwie hinter sich zu lassen. Wir haben mit
Menschen gesprochen, die verzweifelt irgendwie versuchen, ihre Heimat noch zu verteidigen. Da war eine
Frau, Mitte 20 - sie war vor dem Krieg Hausfrau und hat
zu Hause zwei kleine Kinder -, die sich den kurdischen
Milizen angeschlossen hat, um ihr Dorf vor den Islamisten zu verteidigen. Das sind Schicksale, die wir uns hier,
glaube ich, kaum vorstellen können.
Aber - darüber will ich jetzt reden -: Wir haben auch
einen Hoffnungsschimmer gesehen. Im Norden Syriens
- das ist der Teil, den ich besucht habe; das ist eine Region mit etwa 4 Millionen Menschen, die zum größten
Teil von Kurdinnen und Kurden bewohnt ist - haben die
Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand genommen.
Dort haben sie eine Selbstverwaltung aufgebaut. Vor anderthalb Jahren haben sie das Assad-Regime vertrieben.
Sie haben in den Dörfern basisdemokratisch Komitees
gewählt, die jetzt die Selbstversorgung sicherstellen. Das
Wichtigste dabei ist: Daran sind alle Volksgruppen, alle
Religionsgruppen und fast alle Parteien in der Region
beteiligt. Für dieses Frühjahr plant man dort sogar Wahlen - mitten im Krieg. Das finde ich sehr bemerkenswert.
Wir haben mit dem Sprecher der Assyrer - das sind
die Christen in der Region - gesprochen. Sie sprechen
bis heute Aramäisch - diese Sprache habe ich vorher
noch nie gehört -; das ist die Sprache von Jesus. Auch
die Christen beteiligen sich an dieser Selbstverwaltung
und an der Vorbereitung der Wahlen. Man muss feststellen, dass die Christen dort nicht alles teilen, was die Kurden für die Wahlen planen. Dass für das neue Regionalparlament eine Frauenquote von 40 Prozent gelten soll,
sehen die Christen dort kritisch; das geht denen in Syrien
nicht anders als den christlichen Parteien hier im Bundestag.
({0})
Aber ansonsten beteiligen sich die Christen an der
Selbstverwaltung.
Dieses demokratische Experiment wird jetzt von zwei
Seiten existenziell bedroht, auf der einen Seite durch militärische Angriffe: Die Islamisten, aber auch die AssadTruppen greifen ständig an und versuchen, das zu zerstören. Auf der anderen Seite ist die Region durch ein striktes Embargo seitens der Türkei und des Irak fast komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Dahinter steht
die Politik der Türkei, Herr Steinmeier, die versucht,
jede Art von kurdischer Selbstverwaltung in der Region
schon im Keim zu ersticken. Deshalb versucht die Türkei, die eine Region in Syrien, die sich gegen den Krieg
stellt, die sich demokratisch organisiert, durch eine
strikte Blockade in die Knie zu zwingen.
Wir waren zum Beispiel in Qamishli, einer großen
Stadt im Norden. Dort gibt es kaum noch Medikamente.
Ein paar Pappkartons standen dort herum mit einzelnen
Packungen von Medikamenten, die privat gespendet
worden sind. Chronisch Nierenkranke können nicht
mehr versorgt werden, einige von ihnen sind bereits gestorben. - Und das, obwohl nur einen Katzensprung entfernt, vielleicht ein paar Hundert Meter, ein Grenzübergang zur Türkei besteht. Doch die Türkei hat diese
Grenze dichtgemacht: Da kommt keine einzige Tablette
durch, da kommt kein Sack Reis durch, und da kommt
kein Kanister Öl durch. Das einzige, was über die
Grenze geht, sind Waffen für Dschihadisten. Herr
Steinmeier - das muss ich wirklich sagen -, Ihr Bündnispartner Türkei ist gerade dabei, den einen Hoffnungsschimmer, den wir in Syrien sehen, die eine Keimzelle
für ein demokratisches Syrien, kaputtzumachen.
Deshalb finde ich es auch falsch, dass die Bundeswehr dort mit Patriot-Raketen stationiert ist; denn das ist
doch eine politische Unterstützung für die Türkei. Ich
finde es bemerkenswert, Herr Außenminister, dass Sie in
der Debatte über eine Bundeswehrstationierung von
zehn Minuten Redezeit gerade einmal dreißig Sekunden
der Stationierung gewidmet haben - weil Sie genau wissen: Es gibt kein objektives Argument dafür, es geht einzig und allein um politische Unterstützung.
Wir alle hier im Raum wissen, dass die Türkei im Syrienkonflikt momentan eher ein Teil des Problems ist.
Sie wissen doch auch, Herr Steinmeier, dass über die
Türkei Al-Qaida-Kämpfer in das Kampfgebiet einsickern. Sie wissen doch auch, dass über die Türkei Waffen an die Dschihadisten nach Syrien geschmuggelt werden. Ein Abzug der Bundeswehr aus der Türkei wäre ein
politisches Signal an Ankara, diese falsche Politik zu
stoppen.
({1})
Ich möchte Sie bitten, wirklich alles dafür zu tun, dass
die Türkei die Blockade gegen den Norden Syriens aufhebt, dass die Grenzen geöffnet werden für humanitäre
Hilfe, aber auch für normalen Handel. Die Menschen
dort betreiben Landwirtschaft, in der Region gibt es Öl.
Durch Handel könnte dieses demokratische Experiment
unterstützt werden. Das ist doch genau das, was wir alle
hier wollen: ein demokratisches, ein freies, ein multiethnisches, multireligiöses Syrien, in dem die verschiedenen Volksgruppen friedlich miteinander und nebeneinander leben. Das wird im Norden Syriens gerade versucht,
und das müssen wir doch unterstützen.
({2})
Ein letztes Wort. Es gibt eine Sache, die ich wirklich
nicht verstehe: Warum eigentlich sollen die Kurden auf
der Friedenskonferenz in Genf nicht vertreten sein dürfen? Wenn Sie Frieden für ganz Syrien wollen, dann
muss auch ganz Syrien mitverhandeln. Die Kurden sind
ein Teil Syriens: 10 bis 15 Prozent der Menschen in Syrien sind Kurden. Das Hohe Kurdische Komitee im Norden verlangt nicht mehr und nicht weniger, als auch eine
Delegation entsenden zu dürfen. Ich finde das sehr gut.
Denn wenn nur ein Teil der Syrer eingeladen wird, wird
man auch nur eine Teillösung für den Frieden bekommen. Deswegen sollten die Kurden mit vertreten sein.
({3})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Gerade an Syrien
kann man doch sehen - und ich sage Ihnen: ich habe es
persönlich gesehen -, dass deutsche Waffen mitten in einem furchtbaren Bürgerkrieg in die Hände von echten
Menschenfeinden gelangen. Damit sollten wir endlich
aufhören.
Ich danke Ihnen.
({4})
Für die Bundesregierung spricht jetzt Frau Bundesministerin Ursula von der Leyen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der syrische Bürgerkrieg hält uns weiter in Atem. Ja, es
ist richtig, dass wir alles tun müssen, um die humanitäre
Not der Flüchtlinge zu mildern. Es ist richtig - ich freue
mich darüber -, dass wir mit unserem Wissen, unserer
Technik und unseren Kompetenzen entscheidend zur
Vernichtung der syrischen Chemiewaffen beitragen. Das
Mandat, über das wir hier heute diskutieren, ist aber ausgelöst worden, weil wir von einem NATO-Bündnispartner um Hilfe gebeten worden sind. Für uns ist ganz klar:
Wir stehen zu unseren Partnern im Bündnis und stehen
zu unseren Zusagen.
({0})
Die Türkei ist direkt vom Syrienkonflikt betroffen.
Der Außenminister hat sehr klar dargelegt, was die politischen Konsequenzen sind, was die Einsätze sind, aber
auch wie die politischen Bemühungen aussehen, um Lösungen zu finden. Das heißt aber auch, man darf nicht
ausblenden, dass die Türkei, die als Bündnispartner nicht
über eigene ballistische Raketen, Abwehrraketen verfügt, unsere Hilfe braucht, wenn sie um Hilfe bittet.
({1})
Zwei Zahlen zur Lage an der syrisch-türkischen Grenze:
70 getötete türkische Zivilisten und 770 000 syrische
Flüchtlinge. Das also ist die Lage der Türkei im Augenblick. Sie hat uns in der NATO um Hilfe gebeten.
Sie kennen die Fakten. Wir stehen verlässlich an der
Seite unserer Partner. Deshalb hat sich Deutschland bereit erklärt, bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten zu entsenden. Seit Januar 2013 halten wir zusammen mit den
USA und den Niederlanden Flugabwehrraketensysteme
vom Typ Patriot in der Türkei im Einsatz. Darüber
hinaus sieht der Auftrag für die Bundeswehr vor, an der
luftgestützten Frühwarnung im Rahmen der Luftraumüberwachung mitzuwirken. Hier sind in AWACS-Flugzeugen der NATO Soldatinnen und Soldaten eingesetzt.
Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hat
sich bewährt. Bis heute schützen wir erfolgreich die türkische Bevölkerung und das türkische Territorium vor
Angriffen mit syrischen Raketen. Ich möchte an dieser
Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten meinen Dank
und meinen Respekt für diesen Einsatz aussprechen.
({2})
Mein Dank und mein Respekt gebühren auch unseren
Partnern in der Türkei für die großen Anstrengungen bei
der Versorgung und der Unterbringung unserer Soldatinnen und Soldaten. Wir wissen, dass es am Anfang nicht
ganz einfach gewesen ist. Hier hat sich viel zum Positiven verändert. Auch das muss innerhalb unseres Bündnisses einmal ausgesprochen werden.
Vor dem geschilderten Hintergrund hat uns die Türkei
im November des vergangenen Jahres erneut gebeten,
unsere Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der
NATO fortzusetzen. Unsere Partner USA und Niederlande haben bereits ihre Bereitschaft erklärt. Für die
Bundesregierung bitten wir Sie heute um Ihre Unterstützung zur Verlängerung des bestehenden Mandates um
weitere zwölf Monate.
Die Rahmenbedingungen unseres Einsatzes bleiben
dabei unverändert: Der Einsatz ist rein defensiv, also
zum Schutz der türkischen Bevölkerung und des türkischen Staatsgebietes. Eine Einrichtung oder Unterstützung einer Flugverbotszone in Syrien ist explizit ausgeschlossen. Der Einsatz, einschließlich von AWACS,
erfolgt im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidigung und gliedert sich in die NATO-Kommandostrukturen ein. Die politische Kontrolle ist dadurch jederzeit gewährleistet. Und nach wie vor liegt die Obergrenze der
potenziell eingesetzten Soldatinnen und Soldaten bei
400. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
die Kollegin Agnieszka Brugger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
wie vor nehmen wir die Sorge der Türkei ernst, dass sich
der schreckliche Krieg in Syrien auch auf das türkische
Territorium ausweiten könnte. Wie zu Beginn der Operation Active Fence vor einem Jahr gilt es nun, die Bitte
der Türkei, dort Patriot-Abwehrraketen zu stationieren,
erneut sorgfältig zu prüfen.
Dabei kann der bloße Verweis auf die Bündnissolidarität mit dem NATO-Partner allerdings nicht automatisch
einen Bundeswehreinsatz rechtfertigen. Vor einem Jahr
haben wir Grüne die Diskussion um das Mandat kritisch
begleitet. Wir haben einige Bedingungen formuliert, die
aus unserer Sicht erfüllt sein müssen, um zu verhindern,
dass Deutschland und die NATO zu Konfliktparteien im
syrischen Krieg werden: Die Patriot-Systeme müssen
weit entfernt von der syrischen Grenze aufgestellt sein,
und ihre Stationierung darf die innenpolitischen Spannungen in der Türkei nicht befördern. Zudem müssen sie
dem Kommando der NATO unterstellt sein, und es dürfen keine Operationen auf oder über syrischem Gebiet
stattfinden. Und es muss auch klar ausgeschlossen werden, dass sie zur Einrichtung einer Flugverbotszone über
Syrien genutzt werden können.
Die letzte Bundesregierung ist auf unsere Bedenken
und Hinweise eingegangen, und deshalb haben wir
Grüne diesem Einsatz mit großer Mehrheit unsere
Zustimmung erteilt. Da das nun vorgelegte Mandat in
seiner Ausgestaltung mit dem alten identisch ist, sind
diese Bedingungen auch weiterhin erfüllt. Damit hat die
Stationierung der Patriot-Abwehrsysteme einen rein
defensiven Charakter, nämlich den, die Menschen in der
Türkei zu schützen.
Den Soldatinnen und Soldaten möchte ich auch im
Namen meiner Fraktion an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich für ihren Beitrag dazu danken. Sie erfüllen
ihre Aufgabe unter nicht immer einfachen Bedingungen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Debatte um das vorliegende Mandat kann man nicht führen, ohne sich mit dem
grauenhaften Kriegsgeschehen in Syrien auseinanderzusetzen. Mittlerweile sind mehr als 120 000 Todesopfer in
Syrien zu beklagen. Die stetig eskalierende Gewalt, die
unfassbaren Gräueltaten, die schrecklichen Menschenrechtsverletzungen, aber auch die Zerstörung von
Lebensgrundlagen und historischen Kulturstätten erschüttern uns Grüne zutiefst. Besonders grausam und
verabscheuungswürdig war dabei der Giftgasanschlag
im August.
Durch die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft sollen die syrischen Chemiewaffen nun bis Mitte
dieses Jahres vernichtet werden. Auch die Bundesregierung hat sich endlich nach einigem Zögern dazu bereit
erklärt, die chemischen Reststoffe hier in Deutschland
zu vernichten. Dieses Angebot ist richtig; denn diese
Massenvernichtungswaffen müssen so schnell wie möglich unbrauchbar gemacht werden.
({1})
Doch so wichtig die vereinbarte Zerstörung der syrischen Chemiewaffen auch ist, sie bietet natürlich noch
keine wirkliche Antwort auf die dramatische Lage in
Syrien, die uns nach wie vor Tag für Tag mit Grauen erfüllt: das barbarische Vorgehen des Assad-Regimes
ebenso wie die Gräueltaten der dort erstarkten islamistischen Gruppen.
Von einer Lösung dieses blutigen Konflikts sind wir
noch weit entfernt. Große Erwartungen richten sich dabei an die nächste Syrienkonferenz in der kommenden
Woche. Diese hat allerdings nur dann eine Erfolgschance, wenn alle Konfliktparteien beteiligt und in die
Verantwortung genommen werden. Das gilt natürlich für
die syrische Opposition in ihrer ganzen Breite. Das gilt
aber auch für den Iran, der mit seiner Unterstützung des
Assad-Regimes eine verheerende Rolle im syrischen
Kriegsgeschehen spielt und gerade deshalb nicht außen
vor gelassen werden darf.
({2})
Meine Damen und Herren, die Türkei und andere
Nachbarstaaten wie der Libanon oder Jordanien sind mit
der Versorgung der Flüchtlinge extrem überlastet. Die
Lage in den Flüchtlingslagern ist äußerst angespannt.
Die Notunterbringung und Grundversorgung der Flüchtlinge erweist sich als schier unmöglicher Kraftakt.
Die Zahlen sind erschreckend: In Syrien selbst sind
circa 6,5 Millionen Menschen auf der Flucht, und in den
Nachbarländern wie dem Libanon, Jordanien und der
Türkei sind bisher über 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge offiziell registriert; die Hälfte davon sind Kinder.
Laut der UN-Organisation für Nothilfe wird sich die
Zahl der Flüchtlinge aus Syrien auf mehr auf 4 Millio464
nen verdoppeln. Die humanitäre Lage wird somit noch
desaströser werden.
An dieser Stelle geht es um Solidarität und Menschlichkeit. Es geht aber auch um ganz konkrete sicherheitspolitische Notwendigkeiten; denn man braucht wahrlich
keine große Fantasie, um sich vorzustellen, dass die
katastrophale und angespannte Lage in den Flüchtlingslagern einen neuen Nährboden für Konflikte, Auseinandersetzungen und Radikalisierung bietet.
Immer wieder verweisen die Vereinten Nationen und
auch andere Organisationen darauf, dass es zur Versorgung der Notleidenden eines viel größeren finanziellen
Engagements bedarf; die Schätzungen belaufen sich
dabei auf 6,5 Milliarden Dollar. Als eine der reichsten
Industrienationen muss Deutschland hier über den bisherigen Beitrag hinaus eine viel, viel größere Unterstützung leisten.
Das gilt ebenso bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Bisher haben nur 1 700 Menschen aus Syrien in
Deutschland Zuflucht gefunden. Zugesagt hatte die Bundesregierung die Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen.
Das ist eindeutig zu wenig.
({3})
Es ist allerhöchste Zeit, dass wir der Türkei und auch
den anderen Nachbarstaaten Syriens unsere Solidarität in
Bezug auf die Flüchtlinge zeigen und nicht nur dann,
wenn es um die Stationierung von Patriot-Abwehrraketen geht.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Philipp Mißfelder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wir
mit Ausnahme der Linksfraktion dieses Mandat mit großer Unterstützung fortführen wollen. Ich bin mir sicher,
dass das eine vertrauensbildende Maßnahme gegenüber
unserem wichtigen NATO-Partner Türkei ist; denn die
Türkei hat schließlich Ende 2012 um diese Unterstützungsmaßnahme gebeten und diese Bitte im November
vergangenen Jahres erneuert.
Das zeigt, dass dieses Mandat - das hat mir kürzlich
der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär Christian
Schmidt ausführlich berichtet - in der Türkei mehr Zuspruch findet, als es zu Beginn dieses Einsatzes der Fall
zu sein schien. Gerade auch für diejenigen in unserem
Land, die die Arbeit der Bundeswehr im Ausland mit
großem Interesse verfolgen, ist es ein wichtiges Zeichen,
dass diese Anfangsschwierigkeiten überwunden worden
sind und dass wir insgesamt in Treue zum Bündnis
stehen, aber dass auch alle Seiten die Arbeit der Bundeswehr gebührend anerkennen. Das ist eine wichtige Feststellung, die wir erst einmal zu treffen haben.
Wir als CDU/CSU-Fraktion werben dafür, dieses
Mandat fortzusetzen. Der rein defensive Ansatz stellt für
uns eine unterstützende Maßnahme dar, mit der wir dazu
beitragen können, dass die Verhandlungen um eine politische Lösung des Syrienkonflikts, über die unser Bundesaußenminister gerade gesprochen hat, weiter ungestört fortgeführt werden können.
Von uns hat niemand die Erfolgsaussichten eines militärischen Eingreifens überbewertet. Anders als Teile unserer Verbündeten, die sich öffentlich für einen solchen
Einsatz ausgesprochen haben, waren wir immer der Meinung, dass eine politische und diplomatische Lösung der
einzig gangbare Weg für die Zukunft Syriens ist. Dieser
defensive Ansatz, den wir hier bewusst gewählt haben,
steht einer solchen Lösung nicht im Wege; denn alles andere würde in Syrien als Aggression wahrgenommen
werden. Aber hier geht es um den Schutz der Zivilbevölkerung in der Türkei. Das halte ich für zentral.
Ich möchte etwas zu dem anmerken, was Herr van
Aken erklärt hat. Das, was er gesagt hat, halte auch ich
nicht für ganz abwegig. Das wird Sie vielleicht überraschen, Herr van Aken. Ich bin der Meinung - da stoßen
Sie bei unserem Bundesaußenminister und auch in unserer Fraktion auf offene Ohren -, dass die Kurden hier
eingebunden werden müssen. Wir sehen, dass gerade in
den Gebieten, in denen die Kurden dominieren, sowohl
im Nordirak als auch in Syrien selbst, eine große, konstruktive humanitäre Leistung erbracht wird. Diese gilt
es auch weiterhin zu unterstützen.
Ich bin auch der Meinung - da möchte ich mich Ihnen
insofern anschließen -, dass bei den anstehenden Gesprächen auch kurdische Vertreter eingebunden werden
sollten. Ich werde jetzt nicht formalistisch darauf pochen, dass bei jedem Treffen ein bestimmter Repräsentant der Kurden dabei sein muss, aber ich denke, dass in
dieser Region die Rolle der Kurden nicht zu unterschätzen ist und dass gerade auch ihr konstruktiver Beitrag
von unschätzbarem Wert ist.
Diese Anerkennung der Kurden ist bei Herrn
Steinmeier und bei unserer Fraktion sowieso schon immer in guten Händen gewesen. Insofern laufen Sie mit
ihrer Forderung offene Türen ein.
({0})
- Sie können sich bei den einschlägigen Personen erkundigen. Sie werden dann eine entsprechende Antwort bekommen. Ich denke, dass Sie bisher mit der angebotenen
Zusammenarbeit ganz gut gefahren sind, auch im
Ausschuss. Wieso sollen wir in der Öffentlichkeit
verheimlichen, dass wir über Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten? Ich kann auch in die Rhetorik der Vergangenheit zurückfallen. Auf Wunsch kann ich das auch
machen.
Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass wir
eine Zwischenbilanz ziehen müssen, was den schleppenden Friedensprozess für Syrien angeht. Dabei müssen
wir natürlich selbstkritisch sagen, dass viele von uns zu
Beginn des Konfliktes der Meinung waren, eine friedliche Zukunft für Syrien sei nur ohne Assad vorstellbar.
Auch ich selber habe das in Pressemitteilungen und Interviews erklärt. Man sieht, dass wir mit dieser Einschätzung an vielen Stellen falsch lagen. Das kann man bedauern. Tatsache ist aber, dass wir bei künftigen
Herausforderungen immer fragen müssen, ob die Lageeinschätzungen, die uns übermittelt werden, und die
Eindrücke, die wir teilweise selber sammeln, mit der
Realität in Zusammenhang stehen, auch was die langfristige Wirkung angeht, oder ob sie vielleicht auch dadurch geprägt sind, dass wir mit Scheuklappen an manche Dinge herangehen.
Eines kann man bei dieser Zwischenbilanz, glaube
ich, jetzt schon feststellen, wenn es um Syrien geht,
nämlich dass wir uns auch deshalb in einer sehr schwierigen Situation bewegen, weil wir an manchen Stellen
oft zu zögerlich waren und an anderen Stellen - mit
Blick auf Großbritannien und Amerika zu Beginn der
Diskussion um ein mögliches militärisches Eingreifen
nach dem Chemiewaffenanschlag - vorpreschen, ohne
zu wissen, wohin dieses Vorpreschen führen wird. Das
ist ein Punkt beim Syrien-Konflikt, den man sich ganz
genau anschauen muss. Weil viele davon sprechen, dass
der Syrien-Konflikt möglicherweise ein Stellvertreterkonflikt für andere heraufziehende Konflikte in der gesamten muslimischen Welt ist, muss man das, glaube
ich, besonders ernst nehmen und mehr Zeit darauf verwenden, dies tiefgehender zu analysieren.
Ich glaube, dass der Weg, den wir heute gehen, in erster Linie auf ziviler und humanitärer Ebene zu wirken
und auf der politischen Ebene einen Beitrag zu leisten,
dass eine friedliche, diplomatische Lösung denkbar ist,
richtig ist. Dafür hat Deutschland in den letzten Monaten
sehr viel getan. Ich bin froh, dass die neue Bundesregierung diesen Weg mit der gleichen Entschlossenheit weitergeht, dass wir dort einen richtigen Beitrag leisten und
auch gegenüber denjenigen, die militärisch eingreifen
wollten, die Überzeugungskraft ausstrahlen, sich dies
besser zu überlegen, weil das gerade in Syrien mit unabschätzbaren Folgen verbunden gewesen wäre und uns allen geschadet hätte.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter Redner in der Debatte spricht jetzt der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr haben wir zum ersten Mal das
Mandat Active Fence auf den Weg gebracht. Ich kann
mich noch gut an die Diskussion damals erinnern. Der
Fraktionsvorsitzende der Linken beispielsweise hat vom
Einmarsch der Deutschen im Nahen und Mittleren Osten
gesprochen und gesagt, dass wir zur Kriegspartei werden. Dagegen hat der Vertreter der Linken heute vergleichsweise abgerüstet und sogar den einen oder anderen nicht ganz uninteressanten Ansatzpunkt gebracht.
({0})
Ich hoffe, Herr van Aken, dass Sie bei so viel Lob von
der Union heute keine Probleme in Ihrer Fraktion bekommen.
Seit letztem Jahr schützt die NATO unseren Partner
Türkei mit der Patriot-Raketenabwehr vor Angriffen aus
Syrien. Seither sorgt die NATO für die Sicherheit von
Millionen türkischen Bürgerinnen und Bürgern und verhindert möglicherweise auch ein Überschwappen des
Bürgerkrieges in die Türkei. Eine Verlängerung ist weiterhin nötig; denn das syrische Regime verfügt über ballistische Trägersysteme mit einer Reichweite von 700 Kilometern. Sie können einen Großteil des türkischen
Territoriums erreichen. Zuletzt hat der Alliierte Oberbefehlshaber der NATO in seinem Bericht vom Dezember die
Bedrohung der Türkei durch Syriens Kurz- und Mittelstreckenraketen als unverändert bestehend bestätigt. Es ist deshalb klar, dass die Türkei auch weiterhin auf die Unterstützung der NATO im Rahmen von Active Fence
angewiesen ist.
Ich konnte mir wenige Tage vor Weihnachten bei einem Besuch in Kahramanmaras einen persönlichen Eindruck vom Einsatz verschaffen. Die knapp 300 Soldatinnen und Soldaten, überwiegend Angehörige der
Luftwaffe, haben dort einen ausgezeichneten Eindruck
gemacht und leisten hervorragende Arbeit. Sicherlich
gehört die Weihnachtszeit für unsere Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz und vor allem für ihre Familien daheim zu den besonders entbehrungsreichen Zeiten. Das
sollten wir uns regelmäßig bewusst machen. Fern der
Heimat verschaffen sich unsere Einsatzkräfte durch Zusammenrücken und Kameradschaft über die Feiertage
ein wenig Ausgleich. Dabei spielt auch die militärische
Seelsorge eine wichtige Rolle. Ich möchte deshalb an
dieser Stelle der militärischen Seelsorge ganz herzlich
für ihre unersetzliche Arbeit gerade in den Einsatzgebieten für alle Soldaten, völlig unabhängig, ob gläubig oder
nicht, danken.
({1})
Angesichts der verfügbaren ausgebildeten Bundeswehrkräfte auf dem System Patriot und der bisher geplanten Standzeiten im Einsatz wird das aktuelle Kontingent auch im nächsten Jahr wieder zu Weihnachten in
Kahramanmaras sein. Das ist eine nicht wirklich attraktive Aussicht für Mitglieder dieses Kontingents. Vielleicht müssen wir uns zu diesen Regelungen einmal
grundsätzlich Gedanken machen.
Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben ja dankenswerterweise das Thema „Attraktivität und Vereinbarkeit
von Familie und Beruf“, das uns im Parlament und in
den Ausschüssen schon lange beschäftigt, auf Ihre persönliche Agenda gesetzt. Auch wenn der Soldatenberuf
keiner ist wie jeder andere, so gibt es noch viel zu ver466
bessern - da bin ich sicher -, und dabei werden wir Sie
gerne unterstützen, Frau Ministerin.
({2})
Der Einsatz in der Türkei ist organisatorisch unter anderem durch den Host Nation Support geprägt. Diese
Vereinbarung zwischen NATO und Türkei macht die
Gastgeber für die Unterbringung, die Verpflegung und
die Sicherheit unserer deutschen Soldatinnen und Soldaten verantwortlich. Vor dem Hintergrund der anfänglichen Schwierigkeiten war es erfreulich, zu sehen und zu
hören, dass sich die Situation für unsere Leute doch
deutlich verbessert hat und die gröbsten Baustellen geschlossen werden konnten. So wurde beispielsweise das
Defizit im Sanitätsbereich durch ein Containermodul,
das im Dezember in den Einsatz verlegt wurde und inzwischen nutzbar sein sollte, deutlich verringert. Die Zusammenarbeit mit den türkischen Vertretern vor Ort ist
sehr kooperativ und sachorientiert. Hier war zu spüren,
dass sich inzwischen wichtiges Vertrauen aufgebaut hat
und alle bemüht sind, dass sich die Dinge weiterhin positiv entwickeln.
Der Einsatz bei Active Fence zeigt wieder einmal,
dass sich unsere Partner im Bedrohungsfall auf uns verlassen können. Grundsätzlich muss die Frage aber erlaubt sein, ob sich die Türkei als wirtschaftlich aufstrebende und erfolgreiche Nation mittelfristig nicht selbst
um eine entsprechende Raketenabwehrfähigkeit bemühen muss.
Ich begrüße, dass sich Deutschland vergangene Woche bereit erklärt hat, an der Vernichtung der chemischen
Stoffe aus Syrien mitzuwirken. Die Bundeswehr, die bei
der Beseitigung von Chemiewaffen über große Expertise
verfügt, leistet so einen wertvollen Beitrag zur Entschärfung einer gerade für die Zivilbevölkerung unmenschlichen Bedrohung in Syrien. Im Rahmen dieses umfassenden Einsatzes Deutschlands für den Frieden gilt es, das
Mandat Active Fence in der Türkei zu verlängern.
Zum Schluss bleibt mir, Gottes Segen, Gesundheit
und Erfolg für unsere Einsatzkräfte im In- und Ausland
für 2014 zu wünschen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache. - Herr Kollege Ströbele,
haben Sie noch eine Frage?
Danke, Frau Präsidentin. - Ich wollte dem Kollegen
eine Frage stellen. Aber er war schon bei Gottes Segen
angekommen. Das heißt, seine Rede war zu Ende.
Die Redezeit war schon abgelaufen.
Ja, deshalb ist das jetzt eine Kurzintervention. - Da
der Außenminister noch auf der Regierungsbank sitzt,
drängt sich eine Frage auf. Über die Nachrichtenagenturen wird die Meldung verbreitet, dass europäische, insbesondere deutsche, Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes Kontakt zum syrischen Geheimdienst
aufgenommen haben. Es gibt bisher keine offizielle Bestätigung dafür. Da wir aber gegenwärtig über Syrien
und die dortige Gefahrenlage diskutieren, wäre es richtig
und angemessen, wenn vielleicht der Bundesaußenminister dazu drei Worte sagen würde. Stimmt das und
wenn ja, was ist der Hintergrund?
Das ist sehr schwierig; denn Sie können sich nur auf
einen Diskussionsbeitrag beziehen, Herr Kollege
Ströbele. Vielleicht sollten Sie die Frage anders stellen,
oder vielleicht ist der Kollege Steinmeier so freundlich,
in seinem nächsten Redebeitrag darauf einzugehen.
Herr Steinmeier hat schon geredet. Da war ich noch
anwesend. Ich musste zwischendurch leider zu einer anderen Besprechung. Es liegt doch im Interesse der Bundesregierung, dazu eine Klarstellung vorzunehmen.
({0})
Herr Kollege Ströbele, das ist so nicht vorgesehen.
Wenn wir das jetzt machen würden, würde es eine neue
Debattenrunde geben. Das geht nicht, weil wir den Zeitplan einhalten wollen. Ich muss Sie bitten, Ihre Frage
später erneut zu stellen.
Ich schließe jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active Endeavour im gesamten
Mittelmeer
Drucksache 18/263
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Debatte hat
jetzt der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie wissen, dass das Mandat zur Beteiligung der Bundeswehr an der Operation Active Endeavour am 31. Dezember vergangenen Jahres geendet hat. Wir bringen
heute einen Antrag ein, mit dem wir um Zustimmung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung, allerdings unter
veränderten Bedingungen, bitten.
Das ist eine Zäsur, auch wenn einige das vielleicht anders sehen wollen. Es ist kein einfaches Weiter-so. Warum Zäsur? Weil diese Operation, von der ich rede, vor
mehr als zwölf Jahren als Reaktion auf die Terroranschläge von 9/11 beschlossen wurde. Sie dient - so sagt
es die NATO-Beschlussgrundlage von damals - der Abwehr terroristischer Bedrohung im Mittelmeer. Sie fußte
damals auf dem Selbstverteidigungsrecht aus der Charta
der Vereinten Nationen und der Beistandsverpflichtung
nach Art. 5 des NATO-Vertrags. Ich sage das nur deshalb, weil Sie alle wissen: Die Einsatzrealität - nicht nur
heute, sondern seit einigen Jahren - ist eine deutlich andere. Nicht nur von uns, sondern von vielen NATO-Partnern wird die terroristische Bedrohung im Mittelmeer
heute als äußerst gering eingeschätzt. Nicht einmal die
Einsatzregeln der Operation Active Endeavour sehen
Eingriffsbefugnisse zur Bekämpfung terroristischer Bedrohungen vor.
Stattdessen hat sich die ganze Operation zu einer Aufklärungs- und Beobachtungsmission entwickelt, sozusagen zu einer Art Kooperationsplattform mit den Mittelmeeranrainern. In dieser Form ist das auch aus meiner
Sicht heute eine nützliche und zeitgemäße Mission. Warum nützlich und zeitgemäß? Weil wir ein gemeinschaftliches Interesse daran haben müssen, dass wir ein möglichst lückenloses Lagebild im Mittelmeer haben, dass
wir beobachten, wo sich potenzielle Risiken entwickeln
können, wo sich wichtige Veränderungen ergeben, die zu
beachten sind. Diese Beobachtung und diese Sachaufklärung leistet die Mission, für deren Zustimmung wir
heute bei Ihnen werben.
Ich sehe es so, dass zwischen dem ursprünglichen
Auftrag und der Operation heute eine Lücke klafft. Auf
diese Situation müssen wir politisch Einfluss nehmen.
Deshalb haben wir Schlussfolgerungen gezogen und einige Änderungen in das Ihnen vorliegende Mandat eingefügt. Zum Beispiel haben wir diejenigen Befugnisse
gestrichen, die durch die heutige Einsatzrealität nicht
mehr zu rechtfertigen sind. Das betrifft zum Beispiel die
Kontrolle des Seeverkehrs, das betrifft die Unterstützung
spezifischer Operationen der NATO als Reaktion auf terroristische Aktivitäten, wie es damals hieß.
Wir haben die Personalobergrenze von 700 auf
500 Soldatinnen und Soldaten gesenkt. Wir haben die
Laufzeit auf elf Monate gekürzt, um auch auf diese
Weise deutlich zu machen, dass das so etwas wie ein
Übergangsmandat sein soll. Mit diesem Mandatstext
entwickeln wir das Mandat weiter; aber wir wollen auch
zum Ausdruck bringen, dass wir das Mandat selbst auf
eine zeitgemäße Begründung stützen müssen. Der Bündnisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre nach 9/11, nicht
mehr dauerhaft tragfähige Rechtsgrundlage sein,
({0})
sondern wir müssen jetzt die Rechtsgrundlage für eine
Beobachtungs- und Überwachungsmission schaffen, wie
ich sie vorhin geschildert habe. Es obliegt jetzt dem Außenminister und der Verteidigungsministerin, mit den
Kolleginnen und Kollegen der NATO zu verhandeln. Ich
glaube, dass wir viel Unterstützung darin bei vielen
NATO-Partnern haben. Aber Sie kennen auch das Prinzip der Einstimmigkeit, das in der NATO gilt. Insofern
müssen wir unsere Bemühungen jetzt darauf richten, insbesondere zwei NATO-Partner, die in diesem Punkt
noch anderer Meinung sind, zu überzeugen, und wir
müssen darauf setzen, dass wir bis zum Ende dieses Jahres eine, wie ich finde, zeitgemäße und richtige Rechtsgrundlage für eine Beobachtungsmission schaffen. Ich
bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort Stefan
Liebich.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Steinmeier, das war jetzt die hohe Kunst des Eiertanzes. Es ist für Sie sicherlich nicht einfach; aber wir
müssen uns ja auf das beziehen, was Sie uns hier vorlegen, und was Sie uns hier vorlegen, ist nach wie vor die
Verlängerung eines laufenden Mandats. Dieses Mandat
bezieht sich noch immer auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Wie passt das zusammen? Meiner und unserer Meinung nach überhaupt nicht.
Den schönen Satz „Meiner und unserer Meinung nach
überhaupt nicht“ hat vor gut einem Jahr der Kollege
Hellmich von der SPD-Fraktion hier vorgetragen. Die
SPD-Fraktion hat bei der Abstimmung über dieses Mandat konsequenterweise mit klarer Mehrheit mit Nein gestimmt. Auch der Abgeordnete Frank-Walter Steinmeier
war darunter. Nun beantragt er in neuer Funktion als Außenminister die Verlängerung dieses Mandats. Eine
echte Zäsur, Herr Steinmeier, wäre, wenn Sie heute die
Beendigung dieses Mandats vorgeschlagen hätten.
({0})
Eigentlich gibt es hier im Parlament - das wissen
auch alle - immer noch eine rot-rot-grüne Mehrheit für
die Beendigung dieses Mandats. Wir finden immer noch,
dass der Kampf gegen den Terrorismus gewonnen werden kann, aber eben nicht mit einem Krieg. Deswegen
sind wir als Fraktion Die Linke nach wie vor gegen eine
Verlängerung dieses Mandats.
({1})
Zwölfeinhalb Jahre nach den Anschlägen vom
11. September ist die Welt eine andere geworden. Ja, es
gibt immer noch internationalen Terrorismus. Aber die
Begründung mit dem Bündnisfall ist ja nicht erst seit
wenigen Wochen falsch; diese Begründung war von Anfang an falsch.
({2})
Es gab keine kollektive Verteidigungsnotwendigkeit;
denn es wurde kein NATO-Mitgliedstaat im Mittelmeer
angegriffen. Wir freuen uns aber als Fraktion Die Linke
- das will ich schon sagen -, dass Sie wenigstens dies inzwischen einräumen und sich da korrigieren. Noch vor
wenigen Wochen hat mein Kollege Wolfgang Gehrcke
hier gestanden und versucht, Ihnen zu erklären, dass die
Aufhebung des Bündnisfalls dringend notwendig ist.
Vonseiten der CDU/CSU-Fraktion wurde hier dagegengesprochen. Gut, dass Sie in dieser Frage klüger geworden sind und uns nun zustimmen.
({3})
Wenn man fragt: „Warum machen wir eigentlich weiter?“, sagen Sie, man könne nicht einfach aus einer von
einem Bündnis beschlossenen Mission aussteigen.
Gleichwohl schreiben Sie in Ihrer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass eine
deutsche Beteiligung an OAE explizit gar nicht angefragt worden sei. Das ist doch alles keine Grundlage für
eine Mandatierung.
Wenn man das einmal zusammenfasst: Niemand in
diesem Haus ist inzwischen mehr der Auffassung, dass
die Bedrohung durch Terrorismus auf dem Seeweg nach
dem 11. September noch besteht. Eine deutsche Beteiligung an OAE ist explizit überhaupt nicht angefragt worden, und noch vor kurzem war auch die SPD-Fraktion
grundsätzlich gegen eine Verlängerung dieses überflüssigen Mandats. Es wäre eine gute Gelegenheit, heute hier
damit Schluss zu machen.
({4})
Nun machen Sie das nicht, also müssen wir vermuten,
was der Hintergrund sein kann. Wenn wir uns einmal anschauen, welche weiteren Missionen durch die Bundeswehr noch unterstützt werden, dann sehen wir ein neues
Mandat im Mittelmeer: EUROSUR. Sie selber haben
eben von der Kontrolle des Seeverkehrs gesprochen,
Herr Steinmeier. Wir sind uns nicht sicher, ob hiermit
nicht durch die Hintertür die Abwehr von Flüchtlingen
im Mittelmeer weiter unterstützt werden soll. Wir können das nicht beweisen; aber wenn man sich die Fakten
anschaut, dann gibt es kaum andere Vermutungen. Das
ist für uns schon ein Grund, warum wir dieses Mandat
ablehnen müssen.
({5})
Die Abwehr von Menschen in Not, die sich auf den
schwierigen und höchstgefährlichen Weg über das Meer
machen, weil sie in ihren Heimatländern keinerlei Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben sehen oder sogar
ihr Leben bedroht sehen, darf nicht gefördert werden.
Vielmehr sollten wir dafür kämpfen, den Menschen in
ihrer Not zu helfen.
Wir sind der Ansicht, dass es keinerlei Gründe gibt,
das Mandat um ein weiteres Jahr zu verlängern oder in
ein neues Mandat umzuwandeln. Es gibt im Mittelmeer
keine Bedrohung für Europa. Sehen Sie das ein, und lassen Sie die Soldatinnen und Soldaten, die Schiffe und
Flugzeuge in Deutschland, und sparen Sie uns allen das
Geld und die Mühe.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Liebich, ich möchte gleich auf Ihre Worte eingehen
und Ihnen aufzeigen, dass das Handeln der Bundesregierung insgesamt konsistent ist. Der Kollege Steinmeier
hat bereits erklärt, dass wir als Bundesregierung auf die
berechtigte Kritik, die aus dem parlamentarischen Raum
gekommen ist, eingegangen sind.
Erstens. Zu Ihrer Frage, warum wir nicht angefragt
worden seien: Wir sind im Januar nicht angefragt worden wegen der Lücke des Mandates, aber wir werden im
Februar wieder mit dabei sein. Damit unterstreichen wir
unser Bekenntnis zum Bündnis und die unveränderte Bereitschaft, mit einem verlässlichen Beitrag auch die Lasten in der NATO gemeinsam zu tragen.
Zweitens. Das Entscheidende ist: Das Mandat ist der
Einsatzrealität angepasst und wird sicherlich auch weiter
angepasst werden. Im Oktober des vergangenen Jahres
hat Deutschland bereits konkrete Vorschläge zur Überarbeitung des Operationsplans eingebracht. Das Ziel ist
- das ist eben ausführlich dargestellt worden - die Entkopplung der Operation von Art. 5 des NATO-Vertrages.
Mit diesem Ziel forcieren wir dann auch die Weiterentwicklung der Operation auf allen Ebenen.
Zur praktischen Auswirkung. Zwei Aufgaben entfallen in Zukunft, nämlich die sogenannte Kontrolle des
Seeverkehrs und die Unterstützung spezifischer Operationen der NATO zur Reaktion auf mögliche terroristische Aktivitäten. Das bedeutet konkret für die Bundeswehr: Zukünftig werden deutsche Einheiten nur noch in
den integrierten Verbänden der NATO an OAE teilnehmen. Eine unmittelbare Unterstellung deutscher Einheiten im Transit durch das Mittelmeer unter das Kommando des Befehlshabers OAE wird zukünftig nicht
mehr stattfinden, und die personelle Obergrenze wird,
wie schon erwähnt, von 700 auf 500 Soldatinnen und
Soldaten sinken. Das heißt zusammengefasst: OAE soll
weiterhin Garant für maritime Sicherheit im Mittelmeer
bleiben, aber mit angepasstem Mandat.
Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung.
({0})
Es spricht jetzt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Operation Active Endeavour ist und bleibt eine militärische Sondermission der NATO zur Aufklärung, zur
Kontrolle des Seeverkehrs und zur Terrorbekämpfung
im Mittelmeerraum. Es ist wichtig, das hier festzuhalten.
Sie ist mitnichten inzwischen zu einer Art Kooperationsplattform mit den Mittelmeerländern geworden. Das entspricht nicht dem juristischen Status dieser Mission.
({0})
Wir haben seit langem kritisiert, dass die Begründung
des Einsatzes mit dem Bündnisfall nach Art. 5 des Nordatlantikvertrages völkerrechtlich hochproblematisch, zumindest jedoch schon lange überholt ist. Wir haben weiterhin kritisiert, dass eine konkrete Bedrohungslage für
einen solchen Einsatz seit langem nicht mehr erkennbar
ist. Deshalb haben wir ein Ende der Beteiligung an dieser Operation gefordert und fordern es weiter. Diese
Position haben wir auch im letzten Jahr gemeinsam mit
den Fraktionen der Linken und der Sozialdemokraten
hier vertreten.
Ich stelle erst einmal fest, dass die Bundesregierung
diesen Argumenten und Einschätzungen in der Begründung des uns hier heute vorliegenden Antrages im Wesentlichen folgt und ihnen im Wesentlichen zustimmt.
Das ist in der Tat eine wichtige Änderung gegenüber der
Position der letzten Jahre. Das ist gut, und das begrüßen
wir ausdrücklich.
({1})
Die Bundesregierung tritt jetzt für eine Entkopplung von
Art. 5 ein und beschreibt die Bedrohungslage in einem
Brief an die Fraktionen als „abstrakt“. Das ist wohl ein
anderes Wort für „nicht konkret vorhanden“. Sie räumt
ein, dass der Operationsplan nach wie vor vom Ziel der
Kontrolle des Seeverkehrs ausgeht und von der „Unterstützung spezifischer Operationen der NATO oder weiterer Partner gegen mögliche terroristische Aktivitäten im
Mittelmeer“. Deshalb bedarf der Einsatz eines Mandates
durch unser Parlament. Das ist wichtig, und das stärkt
den Konsens über den Parlamentsvorbehalt im Bundestag. Auch das begrüßen wir ausdrücklich.
({2})
Was schlagen Sie jetzt konkret in der Sache für den
Einsatz der Bundeswehr vor, und warum schlagen Sie es
vor? Die Bundeswehr - das muss man sich auf der
Zunge zergehen lassen - soll sich an einer Sondermission beteiligen, die vor allem der Kontrolle des Seeverkehrs und der Durchführung von Antiterroroperationen
dient. Dann legen Sie im Mandat fest, dass sie sich dabei
nicht an der Kontrolle des Seeverkehrs und nicht an Antiterroroperationen beteiligen darf. Das ist absurd.
({3})
Diesen Vorschlag begründen Sie nach wie vor mit der
Beistandsverpflichtung nach Art. 5 des Nordatlantikvertrages, die Sie selber erklärtermaßen für überholt halten.
Was für ein absurder Kompromisstext der Großen Koalition!
({4})
Hier geht es um Gesichtswahrung von SPD und CDU,
CSU und nicht um Sicherheit,
({5})
und dazu werden bis zu 500 Soldatinnen und Soldaten
abkommandiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wenn Sie die völkerrechtliche Grundlage für überholt
halten, wenn Sie die Bedrohungslage nicht konkret erkennen können und wenn Sie den Operationsplan in zentralen Punkten für falsch halten, dann dürfen sie die
Bundeswehr nicht in diesen Einsatz schicken.
({6})
Das diskreditiert nämlich alles, was wir sonst gemeinsam über Mandatsklarheit sagen. Dieses Mandat umfasst
keinen sinnvollen Einsatz, sondern beschreibt ein absurdes militär-diplomatisches Manöver, weil sich die Große
Koalition nicht wirklich einigen kann und deshalb nicht
die Kraft hat, in der NATO Klartext zu reden und auf die
Beteiligung an der Operation Active Endeavour zu verzichten. Deshalb kann ich meiner Fraktion nur empfehlen, diese absurde Konstruktion eines überflüssigen
Mandates abzulehnen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der
Kollege Philipp Mißfelder.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herrn Gehrcke muss ich leider enttäuschen: Wir sind uns
an dieser Stelle nicht einig.
({0})
In der Tat ist es so: Die völkerrechtliche Grundlage ist
umstritten. Das haben wir hier mehrmals besprochen.
Auch im Ausschuss war dies mehrmals Gegenstand ausführlicher Beratungen. Die Koalition aus CDU/CSU und
FDP hatte hier eine andere Auffassung als unser neuer
Koalitionspartner, die SPD. Gerade deshalb bin ich froh,
dass es uns durch diesen Schritt - wenn ich es als Kunstgriff bezeichne, ist das auch Interpretationssache - gelungen ist, einerseits der neuen politischen Konstellation
hier im Parlament und andererseits den Verpflichtungen,
die wir im Bündnis haben, gerecht zu werden. Wir können ja die bei uns geführte Debatte nicht losgelöst von
der Diskussion in anderen NATO-Ländern sehen. Deshalb danke ich der SPD-Bundestagsfraktion, dass sie zu
diesem Schritt bereit war. Das muss man an dieser Stelle
durchaus positiv erwähnen.
({1})
Das Mandat hat sich aber verändert. Wir reden jetzt
über eine Lagebilderstellung. Vor diesem Hintergrund ist
es richtig, hier darüber zu diskutieren, wie wir die Gefahrenpotenziale, die es in der Mittelmeerregion gibt,
insgesamt bewerten. Im Zusammenhang mit diesem
Mandat wurde oft der Vorwurf geäußert, dass es nicht
zum Einsatz gekommen ist. Ich finde ehrlich gesagt,
dass das eher positiv zu sehen ist; denn die langjährige
militärische Präsenz in der Mittelmeerregion in Verbindung mit der integrierten Herangehensweise so vieler
Staaten hat dazu geführt, dass das Mandat eine gewisse
abschreckende Wirkung hat. Stellen Sie sich umgekehrt
vor, wir müssten im Zuge dieses Mandats allwöchentlich
über spektakuläre negative Vorfälle diskutieren. Ich
hoffe, dass hier im Hohen Hause ein breiter Konsens darüber besteht, dass ein Mandat auch erfolgreich ist, wenn
nicht geschossen wird, wenn es nicht zu spektakulären
negativen Vorkommnissen kommt, wenn man sich nicht
über Opfer zu beklagen hat.
({2})
Ich höre gerade den Zwischenruf, das sei spekulativ.
Natürlich ist das spekulativ, weil ich nicht weiß, ob von
einer prohibitiven Wirkung des Mandats über einen so
langen Zeitraum auszugehen ist oder eben nicht. Trotzdem schließe ich das nicht grundsätzlich aus. Deshalb
kann ich dem Deutschen Bundestag ruhigen Gewissens
empfehlen - nachdem wir dieses Mandat auf eine verlässliche Grundlage gestellt haben -, das Mandat für
weitere elf Monate zu verlängern. Nicht ohne Grund
werden Mandate, die sich in diesem Hohen Hause immer wieder einer politischen Bewährungsprobe stellen
müssen, zeitlich begrenzt. Das kann in unterschiedlichen
politischen Konstellationen - Schwarz-Gelb in der vergangenen Legislaturperiode, Große Koalition jetzt - interpretiert worden sein, und die Veränderungen sehen
Sie auch im Mandatstext. Deshalb, glaube ich, ist dieses
Mandat zustimmungsfähig.
Grundsätzlich sage ich aber auch noch eines zu
NATO-Einsätzen insgesamt. Die Kontinuität in der Zurückhaltung unseres Parlaments und auch unserer Regierung und vieler Vorgängerregierungen gegenüber Militäreinsätzen ist etwas Gutes und ist auch eine gute
Errungenschaft unserer Demokratie. Die Bewährungsprobe durch den Parlamentsvorbehalt hier im Deutschen
Bundestag ist auch eine gut geübte Praxis, die teilweise
an ihre Grenzen stößt, aber im Großen und Ganzen die
Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht eingeschränkt
hat. Vor diesem Hintergrund ist das Verfahren, wie wir in
gängiger Praxis hier Bundeswehrmandate behandeln,
gut geübt und trägt dazu bei, dass Bundeswehreinsätze
im Großen und Ganzen auch in der Bevölkerung akzeptiert werden.
({3})
Ich sage weiter - das wird Sie von der Linksfraktion
noch mehr ärgern -, dass die Teilhabe an internationalen
Maßnahmen für uns auch ein wichtiger Bündnisbeitrag
per se ist. Das heißt, wenn im Bündnis eine gemeinsame
Entscheidung vorangetrieben wird, dann stellen wir uns
nicht aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen, sondern
wägen ab:
({4})
Was ist im deutschen Interesse? Wie riskant ist das für
die Bundeswehr? Wenn wir, wie in diesem Fall, zu der
Einschätzung kommen, dass das Risiko und die Chancen
der Teilhabe in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen, dann gibt es aus unserer Sicht keinen Grund,
uns gegen das Mandat zu stellen. Deshalb: Zustimmung
unserer Fraktion.
Herzlichen Dank.
({5})
Als vorletzter Redner spricht jetzt der Kollege
Klingbeil für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Mißfelder hat es angesprochen:
Es ist in der Tat eine veränderte Situation. Wir haben
eine neue Bundesregierung. Die SPD-Fraktion hat in den
letzten Jahren immer wieder kritische Anmerkungen zu
diesem Mandat gemacht, und für uns war wichtig, dass
wir erkennen: Unsere Kritik wird in dieser neuen Situation aufgenommen. Sie findet sich auch im Text wieder.
({0})
- Lieber Kollege Liebich, da kann ich nur raten, an der
einen oder anderen Stelle noch einmal genauer hinzugucken. - Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem geänderLars Klingbeil
ten Mandat Operation Active Endeavour deswegen zustimmen.
({1})
Wir tun das, weil wir sehen, dass dieses Mandat sich verändert und unsere Kritik aufgenommen wird. Es handelt
sich um ein Übergangsmandat, das wir hier beschließen
und auf den Weg bringen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als SPD-Bundestagsfraktion - das ist mehrfach angesprochen worden haben in der Vergangenheit, seit 2009, dem alten Mandat
OAE nicht mehr zugestimmt, weil wir fachpolitische
und rechtliche Bedenken hatten. Es hat sich aber nie um
Bedenken gegenüber der Mission an sich gehandelt,
wenn es darum ging, dass eine Aufklärungsmission im
Mittelmeerraum stattfindet; es war in den letzten Jahren
ja faktisch eine reine Aufklärungsmission.
Unsere Kritik bezog sich auf zwei Punkte. Der erste
betraf die Rechtsgrundlage der Mission. Es ist angesprochen worden: Das Mandat hat sich immer noch auf 9/11
berufen, auf die UN-Resolutionen 1368 und 1373 sowie
den Art. 5 des Nordatlantikvertrags, also den Bündnisfall. Wir haben schon seit 2009 hier im Parlament angemerkt, dass wir diese Legitimationsgrundlage nicht mehr
als gerechtfertigt ansehen. Das hat sich heute, im Jahr
2014, nicht verändert.
Der zweite Kritikpunkt, den wir immer wieder auch
hier vorgetragen haben, war die veränderte Einsatzrealität im Mittelmeerraum. Es lag länger keine konkrete Gefahrenlage vor, und trotzdem war das Mandat mit exekutiven Befugnissen zur Gewaltanwendung verbunden. Es
war die Ausschaltung von terroristischen Einrichtungen,
die Terrorismusbekämpfung; es war aber auch das sogenannte Compliant Boarding, bei dem es darum geht, dass
Soldaten Schiffe mit Zustimmung der Kapitäne kontrollieren können. Auch das war in der konkreten Ausgestaltung ein Kritikpunkt von uns.
Uns war völlig klar, dass wir dem Mandat in der bisherigen Form nicht zustimmen würden, dass wir einer
schlichten Verlängerung des Mandats nicht zustimmen
würden. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben hier im
November und Dezember des letzten Jahres immer wieder deutlich gemacht, was unsere Kritik ist. Wir haben
jetzt gesehen: Das alte Mandat ist zum 31. Dezember
2013 ausgelaufen; es wurde nicht verlängert. Die neue
Bundesregierung hat ein Mandat vorgelegt, das gegenüber dem bisherigen maßgeblich verändert ist. Viele unserer Punkte sind aufgenommen worden. Bei der Argumentation der Rechtsgrundlage wird nicht mehr auf die
UN-Resolution Bezug genommen, es wird nicht mehr
von terroristischen Angriffshandlungen geredet, sondern
wir konzentrieren uns auf die Seeraumüberwachung und
den Lagebildaustausch.
Es wird auch deutlich in diesem Mandat, dass wir als
Bundesrepublik eine Entkopplung des Einsatzes von
Art. 5 des Nordatlantikvertrags wollen. Eine solche Entkopplung - das hat der Minister gerade angesprochen bedarf allerdings immer der Zustimmung aller
28 NATO-Staaten. Wir brauchen hier Einstimmigkeit,
aber ich bin mir sicher, dass die neue Bundesregierung
innerhalb der NATO sehr schnell dafür sorgen wird, dass
wir diese erreichen. Es liegen Vorschläge für eine Veränderung des Operationsplanes auf dem Tisch, und ich bin
mir sicher, dass es gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen.
Auch bei den exekutiven Befugnissen der Gewaltanwendung wird das Mandat verändert. Wir sehen andere
Rules of Engagement, die weder Compliant Boarding
noch die Ermächtigung zur Gewaltanwendung beinhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist klar, dass es
ein Übergangsmandat ist, das wir hier auf den Weg bringen. Es sind keine zwölf Monate; das Mandat wird kürzer sein. Außerdem sehen wir viele andere Änderungen,
die mit diesem Mandat beschlossen werden. Das sogenannte Einmelden von Schiffen auf dem Weg zum Atalanta-Einsatz wird entfallen. Wir konzentrieren uns im
Rahmen von OAE auf die ständigen Einsatzverbände der
NATO. Wir senken die personelle Obergrenze von 700
auf 500 Soldaten, und es wird insgesamt eine Reduzierung auf eine reine Aufklärungs- und Beobachtungsmission erfolgen.
Ich will an dieser Stelle dem Außenminister dafür
danken, dass die Kritik der SPD-Bundestagsfraktion aufgenommen wurde. Wir sehen hier eine veränderte Lage.
Wir glauben, dass es richtig ist, diesem Übergangsmandat zuzustimmen. Wir sagen aber auch deutlich, dass wir
wollen, dass ein weiterer Weg innerhalb der NATO gegangen wird und dass wir bei dem nächsten Mandat,
über das wir im Bundestag abzustimmen haben, wiederum eine veränderte Situation haben.
Die SPD-Fraktion wird zustimmen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Jetzt kommen wir zur Kollegin Julia
Bartz, die als letzte Rednerin in dieser Debatte für die
CDU/CSU das Wort hat.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 2014 feiern wir das 20-jährige Bestehen der
Partnerschaft für den Frieden und des Mittelmeerdialogs. Als eine Nation, die gerade einmal 1,1 Prozent der
Weltbevölkerung vertritt, brauchen wir Freunde und
Bündnispartner. Neben der Europäischen Union ist die
NATO das wichtigste sicherheitspolitische Bündnis für
Deutschland. Es liegt in unserem Interesse, gemeinsam
mit unseren Partnern an einem Strang zu ziehen. Das gilt
gerade auch für die NATO-Operation Active Endeavour.
Die NATO funktioniert im Grunde wie ein Geländewagen.
({0})
Sie besteht aus verschiedenen Bauteilen, die für ihre
Handlungsfähigkeit und ihr Vorwärtskommen verantwortlich sind. Die USA nehmen derzeit eine herausgestellte Rolle als treibende Motorkraft ein. Die Frage ist:
Wie lange noch?
({1})
- Wir sind am Lenkrad.
({2})
Es zeigt sich, dass dieser Motor zu stottern beginnt.
Ein Motor kann zwar antreiben, doch es braucht mehr,
um seine Kraft umzusetzen. Die USA können und wollen die globalen Aufgaben aller Nationen nicht mehr
übernehmen.
Die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton hat
deutlich gemacht: Der Weg der USA führt weg von
Nordafrika und vom Nahen Osten hin zum Pazifischen
Ozean. Dadurch öffnen sich neue Lücken und Freiräume, die von anderen Nationen ausgefüllt werden
müssen.
Währenddessen reduzieren viele unserer europäischen Partner ihre militärischen Ausgaben. Gleichzeitig
sind wir mit einer instabilen Lage in Nordafrika und im
Nahen Osten konfrontiert. Unsere Präsenz in diesen Gebieten ist somit weiterhin gefordert.
Die Lage in Ägypten bleibt weiter angespannt. Trotz
der erfolgreichen Abstimmung über die neue Verfassung
ist die Stabilität des Landes noch lange nicht wiederhergestellt. In Libyen geben undurchsichtige Milizen den
Ton an. Im gesamten nordafrikanischen Raum breiten
sich islamistische Gruppierungen aus, bestückt mit Waffen aus Gaddafis Lagern. Der gesamte Nahe Osten ist
weiterhin ein Pulverfass, neben dem das Feuer in Syrien
brennt.
Die Seeraumüberwachung im Mittelmeer ist also notwendig, um frühzeitig die Entwicklungen vor Ort auf
dem Schirm zu haben. Zudem ist es unser Interesse, ein
vertrauenswürdiges Verhältnis zu den Anrainerstaaten zu
erhalten oder aufzubauen. OAE hat sich in der Vergangenheit bereits als Kooperationsplattform bewährt, zum
Beispiel mit der Beteiligung Russlands. OAE hat neben
der Informationsgewinnung zweifelsohne weitere positive Sicherheitsaspekte. Diese sind gerade für uns als
Handelsnation von Bedeutung. Ich erinnere an die
220 000 Handelsschiffe, die jedes Jahr das Mittelmeer
durchkreuzen. Deshalb haben wir als Deutsche und Europäer ein großes Interesse an der Operation Active Endeavour.
Ein unilateraler Ausstieg Deutschlands aus der Operation hätte zudem weitreichende Folgen für unsere Stellung in der NATO. Er würde unsere internationale Verlässlichkeit infrage stellen. Wir müssen uns bewusst
sein, dass sich unsere Freunde und Partner in EU und
NATO auf uns verlassen. Deutschland kann als Anlehnungsmacht fungieren. Als stärkste Wirtschaftsnation
Europas sollten wir unserer Rolle gerecht werden und
Verantwortung übernehmen. Wir sind ein verlässlicher
Partner.
({3})
Gleichzeitig können und wollen wir unsere Rolle in
der NATO nutzen, um die Operation Active Endeavour
auf neue Füße zu stellen. Das Aufgabenspektrum von
OAE hat sich innerhalb der vergangenen Jahre gewandelt. Die einstmals als Antiterrormaßnahme konzipierte
Operation ist mittlerweile von einem viel stärkeren präventiven Ordnungsfaktor gekennzeichnet. Unser Ziel ist
die Entkopplung der Operation von Art. 5 des Nordatlantikvertrags und die Überarbeitung des Operationsplans. Wir haben dazu im April 2013 einen NATO-Beschluss erwirkt, der eine Perspektive für 2014/2015
aufzeigt. Wir haben den Stein ins Rollen gebracht. Jetzt
ist es wichtig, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen
werden. Wir müssen uns aber weiterhin unserer Verantwortung stellen.
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung ist eine
vorübergehende, aber notwendige Lösung. Mit diesem
Übergangsmandat werden wir unserer bündnispolitischen Verlässlichkeit gerecht.
({4})
Gleichzeitig machen wir unseren Willen zur gemeinsamen Seeraumüberwachung im Mittelmeerraum deutlich.
Mit der Fortsetzung der Operation Active Endeavour
übernehmen wir, ganz gemäß unserem Koalitionsvertrag, „Verantwortung in der Welt“.
({5})
Abschließend danke ich allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für ihren Dienst an unserem Land,
insbesondere all jenen, die für die Operation Active Endeavour eingesetzt wurden.
({6})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Bartz. Das war Ihre
erste Rede hier im - ({0})
- Nein, die zweite. Dann habe ich eine falsche Information. Vielen Dank. - Ich hätte Ihnen sonst natürlich noch
einmal im Namen des ganzen Hauses gratuliert.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/263 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einVizepräsidentin Ulla Schmidt
verstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Vielleicht können wir den Austausch auf den Plätzen
etwas schneller vornehmen, Herr Kollege Mißfelder.
Wir würden gerne mit den Beratungen weitermachen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Sabine Zimmermann ({1}), Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Erwerbsminderungsschutzes
Drucksache 18/9
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Seit dem Jahr 2000 befinden sich die Erwerbsminderungsrenten im freien Fall. Das kann man so ähnlich heute auch in dem Referentenentwurf für das Rentenpaket der Bundesregierung nachlesen. Ich sage:
Krankheit darf niemals zum sozialen Abstieg führen.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike
Mascher, hat der Großen Koalition deshalb ins Stammbuch geschrieben - ich zitiere ihre Presseerklärung -:
Die Erwerbsminderungsrentner dürfen von CDU/
CSU und SPD nicht weiterhin mit der Beibehaltung
der Abschläge bestraft werden. Sie müssen gestrichen werden!
Recht hat sie.
({0})
Wir sprechen hier von 1,7 Millionen kranken Menschen. Sie haben es gesundheitlich nicht geschafft, bis
65 Jahre und drei Monate zu arbeiten. Jedes Jahr kommen 180 000 neu dazu, viele von ihnen, weil sie durch
katastrophale Arbeitsbedingungen immer kränker werden. Das sagt einer, der weiß, wovon er redet, nämlich
Mario Becker, er ist Betriebsratsvorsitzender in einem
kleinen Unternehmen südlich von Magdeburg. Er sagt:
Bei uns im Betrieb hält kein Kollege länger als bis
58 durch!
Die Kollegen produzieren Stachel- und Maschendraht.
Sie arbeiten im Zweischichtsystem, und sie werden nach
Leistung bezahlt. Jeder von ihnen ist für drei Maschinen
zuständig. Um auf 100 Prozent Lohn zu kommen, müssen sie in jeder Achtstundenschicht 50 Rollen heben.
Eine Rolle wiegt 35 Kilo. Die Mitarbeiter müssen also
pro Schicht fast 2 Tonnen bewegen, um auf ihren vollen
Lohn zu kommen. Stellen Sie sich das doch bitte einmal
vor! Da ist es doch kein Wunder, dass sie nicht bis 65
durchhalten, geschweige denn bis 67.
Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache: Wer
heute neu in die Erwerbsminderungsrente gehen muss,
ist im Durchschnitt erst 51 Jahre alt. Das zeigt: Die heutigen Arbeitsbedingungen sind oft unmenschlich. Da
müssen wir ran, und zwar dringend.
({1})
Vielen geht es wie Hape Kerkeling: „Ich habe Rücken.“ Also im Klartext: Bandscheibe, Knie, Hüftoperation. Dachdecker, Bauschlosser oder Stahlwerker sind
häufig betroffen - kein Wunder. Alles Männer. Ja, aber
derzeit geht schon jede zweite neue Erwerbsminderungsrente an eine Frau, und es werden jedes Jahr mehr.
({2})
Ob Verkäuferin, Krankenschwester oder Altenpflegerin,
die Arbeitsbelastungen nehmen eher zu als ab - bei
Frauen und Männern. Das gilt nicht nur für die körperlichen, sondern auch für die seelischen Belastungen. Bei
den Gründen für eine Erwerbsminderungsrente liegen
die psychischen Krankheiten mit 40 Prozent aktuell an
erster Stelle.
Frau Ministerin Nahles ist nicht da; daher fordere ich
Frau Staatssekretärin Kramme an ihrer Stelle auf: Tun
Sie etwas gegen das Überstundenunwesen, sorgen Sie
für besseren betrieblichen Arbeitsschutz, und bringen
Sie zügig eine Antistressverordnung auf den Weg! Dazu
liegen gute Vorschläge der IG Metall und von uns Linken auf dem Tisch.
({3})
Zur nächsten Baustelle. Wir müssen beschämt feststellen: In keinem anderen Industrieland ist es so schwierig, eine EM-Rente zu bekommen, wie in Deutschland.
Die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsminderungsrente
wird abgelehnt. Eine Krankenschwester sagte mir: Es ist
reine Glückssache, was für einen Gutachter man bekommt. Der Gutachter des Maurers Jens Eckelmann befand, er müsse sich ja nicht unbedingt bücken. Als
Maurer! Das ist absolut unverschämt. Klaus Dieter
Bartsch ist seit 42 Jahren Kanalbauer. Er klagte schon
vor fünf Jahren - Zitat -:
So viel Bürokratie habe ich noch nie erlebt, das
steht man kaum durch.
Glücklicherweise hat er seinen Kampf um die EM-Rente
gewonnen - mithilfe der IG BAU. Deswegen sage ich:
Wie gut, dass es starke Gewerkschaften gibt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den größten Schock
erleben die Betroffenen am Ende der Antragstortur: Die
Erwerbsminderungsrente wird dann endlich bewilligt,
aber in fast allen Fällen mit horrenden Abschlägen.
96 Prozent sind von Abschlägen betroffen. Meist handelt
es sich um die Höchststrafe von 10,8 Prozent. Das sind
durchschnittlich mehr als 77 Euro. Bei einer vollen EMRente von durchschnittlich nur noch 646 Euro ist das
sehr viel Geld. Die durchschnittliche EM-Rente liegt
also mehr als 30 Euro unter dem Sozialhilfeniveau.
Also: Erst schuften bis zum Umfallen und dann im Stich
gelassen und zum Sozialamt geschickt. Ich sage: Das
muss aufhören, und zwar sofort.
({5})
Vor der Wahl wollten SPD, Linke und auch Grüne
diesen unhaltbaren Zustand beenden. In allen drei Wahlprogrammen war die Forderung nach Abschaffung der
Abschläge enthalten. Wir Linken haben deshalb schon
im Oktober 2013 diesen Gesetzentwurf eingebracht. Wir
fordern schlicht und einfach: Die Abschläge müssen
weg!
({6})
Das würde den Betroffenen monatlich bis zu 82 Euro
mehr bringen. Aber die Große Koalition ist auf diesem
Ohr taub. Ihr Vorschlag, die Zurechnungszeit um zwei
Jahre anzuheben, wirkt so, als wenn die Betroffenen statt
bis zum 60. nun bis zum 62. Geburtstag in die Rentenkasse eingezahlt hätten. Das ist ein kleiner Fortschritt. Er
bringt den Betroffenen im Schnitt 35 Euro mehr Erwerbsminderungsrente. Aber das reicht vorne und hinten
nicht.
Wir Linken fordern deshalb, die Abschläge abzuschaffen und die Zurechnungszeiten in einem Schritt um
drei Jahre anzuheben. Das brächte nämlich 100 Euro
mehr für kranke Menschen.
({7})
Diese 100 Euro würden vielen Betroffenen den Gang
zum Sozialamt ersparen. Dafür kämpft die Linke.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu den großartigen Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, die Sie sich privat übrigens
kaum irgendwo in der gleichen Größe einkaufen können,
({0})
gehört: Wenn jemand leider Gottes nicht bis zum Rentenalter durcharbeiten kann, sondern wegen eines Unfalls oder einer Krankheit früher aus dem Erwerbsleben
aussteigen muss, obwohl er gerne länger gearbeitet hätte,
dann gibt es Rente, und zwar Erwerbsminderungsrente.
Das, finde ich, ist eine der großartigsten Leistungen der
gesetzlichen Rentenversicherung, die wir für die Zukunft erhalten und stärken wollen. Deswegen ist es auch
Inhalt des Rentenpakets der Großen Koalition: Wir wollen die Leistungen der Erwerbsminderungsrente für die
Zukunft verbessern. Das ist eine wichtige Botschaft an
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land.
({1})
Wie wollen wir das machen? Bislang ist es so, dass
ausgerechnet wird, wie viel Rentenanspruch man erwerben würde, wenn man bis zum 60. Lebensjahr durchgearbeitet hätte. Das war übrigens nicht immer so. Bei der
letzten Reform der Erwerbsminderungsrente haben wir
diese sogenannte Zurechnungszeit von 55 Jahren - früher wurde nur bis 55 gerechnet - auf 60 hochgesetzt.
Jetzt wollen wir mit einem Schlag diese Zeit auf das
62. Lebensjahr hochsetzen. Das ist schon eine bemerkenswerte Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente.
({2})
Zweitens. Alle Lebenserfahrung zeigt, viele, die einen
Antrag auf Erwerbsminderungsrente stellen - manchmal
wird der erste Antrag abgelehnt und ein zweiter Antrag
notwendig -, haben in den letzten Jahren vor Eintritt in
die Erwerbsminderungsrente schon schlechter verdient,
konnten nicht mehr so viel wie in früheren Jahren oder
gar nicht mehr arbeiten. Deswegen wollen wir eine ganz
neue Regelung einführen, nämlich dass wir die letzten
vier Jahre vor Eintritt in die Erwerbsminderungsrente
dann für die Berechnung nicht mitzählen, wenn in dieser
Zeit schlechter verdient worden ist. Wir wollen die Erwerbsminderungsrente vom besten Verdienst aus berechnen. Auch das bewirkt eine zusätzliche Verbesserung bei
der Erwerbsminderungsrente, die notwendig ist, um mit
der Erwerbsminderungsrente seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das ist ein zweiter, wichtiger Reformschritt, den wir in der Großen Koalition verabredet
haben.
({3})
Dass es notwendig ist, zu handeln, sieht man daran,
dass Rentnerinnen und Rentner, die bis zum Renteneintrittsalter arbeiten konnten, in der Regel von ihrer Rente
leben können. Gerade einmal 2,5 Prozent müssen
Grundsicherung im Alter, also staatliche Stütze, beantragen.
({4})
Bei den Erwerbsminderungsrentnern sieht das schon
ganz anders aus. 12 Prozent - Stand heute - derer, die
eine Erwerbsminderungsrente beziehen, können davon
nicht leben, sondern müssen zusätzliche staatliche Unterstützung in Form von Grundsicherung beantragen.
Deshalb ist diese Reform von so großer Bedeutung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke,
dass wir noch vor einer zweiten Herausforderung stehen.
Wenn wir uns anschauen, warum heute ErwerbsmindePeter Weiß ({5})
rungsrenten beantragt werden, dann sehen wir, dass es
eine bemerkungswerte Veränderung gegenüber früher
gibt. Früher standen vor allen Dingen Erkrankungen des
Skeletts und der Muskeln im Vordergrund. Schwere körperliche Arbeit hat die Leute also krank gemacht. Dank
der Humanisierung in der Arbeitswelt und moderner
Technik ist das Gott sei Dank zurückgegangen. Aber so
wie die Zahl dieser Erkrankungen zurückgeht, steigt die
Zahl psychischer Erkrankungen dramatisch an. Bereits
heute werden über 40 Prozent aller Anträge auf Erwerbsminderungsrente wegen psychischer Erkrankungen gestellt.
({6})
Deswegen geht es bei der Frage: „Wie organisieren wir
einen guten Erwerbsminderungsschutz?“, nicht nur darum, was wir zahlen, sondern die allerwichtigste Frage
lautet: Wie vermeiden wir, dass Menschen wegen psychischer Erkrankungen vorzeitig aus dem Erwerbsleben
ausscheiden müssen?
({7})
Dazu haben wir im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie, bei der der Bund, die Länder und die Sozialversicherung zusammensitzen, schon
wichtige Schritte eingeleitet, und wir haben in der Koalitionsvereinbarung miteinander verabredet, für diesen
Bereich zusätzliche Mittel einzusetzen und zusätzlich
aktiv zu werden. Dabei geht es um die Fragen: Wie stärken wir das betriebliche Gesundheitsmanagement? Wie
stärken wir die Prävention? Wie stärken wir die Beratung und Begleitung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?
({8})
Wir haben eine tolle „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ auf den Weg gebracht, bei der es gerade für kleine
und mittlere Unternehmen gute Beratung gibt. Um beim
Thema „Psychische Erkrankungen im Arbeitsumfeld“
aktiv zu werden, wollen wir auf diesem Gebiet einen
Akzent setzen.
Ich glaube, die große Herausforderung besteht für uns
darin, dass wir, wenn Sie so wollen, einen zweiten
Schub, einen zweiten Auftakt der Humanisierung der
Arbeitswelt herbeiführen müssen, indem wir nämlich die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass in unserer Arbeitswelt die notwendige Aufmerksamkeit und die notwendige Hilfe da sind, um psychische Erkrankungen zu vermeiden. Ich finde, eine hochentwickelte Gesellschaft
wie die deutsche mit einem tollen Gesundheitssystem
darf es nicht hinnehmen, dass psychische Erkrankungen
der Hauptgrund für Erwerbsminderungen werden. Wir
sollten alle Anstrengungen unternehmen, um da eine
Trendumkehr hinzubekommen. Ja, wer psychisch gefährdet ist, muss Hilfe bekommen und in die Lage versetzt werden, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren.
Das ist unsere große Herausforderung.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Linke
sagt natürlich: Schuld an allem sind die Abschläge bei
der Erwerbsminderungsrente.
({10})
Dazu nur ein Wort: Wenn es Abschläge bei vorzeitigem
Renteneintritt gibt, dann kann man sie bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente nicht einfach weglassen; Punkt eins.
Punkt zwei. Der Ausgleich für die Einführung der
Abschläge war damals die Erhöhung der sogenannten
Zurechnungszeit - bis zu welcher Zeit wird also gerechnet, bis zu der man hätte Beiträge zahlen können? - von
55 auf 60 Jahre. Jetzt erhöhen wir die Zurechnungszeit
um zwei weitere Jahre. Damit gleichen wir, verglichen
mit dem alten Recht, einen guten Teil der Abschläge aus.
Ich finde, wir sind auf dem richtigen Weg. Die Zurechnungszeit wird erhöht, und schlechte Zeiten beim
Verdienst werden nicht mitgerechnet. Das führt im
Schnitt zu einer um monatlich etwa 45 Euro höheren Erwerbsminderungsrente; das ist für einen Erwerbsminderungsrentner etwas.
({11})
Gleichzeitig unternehmen wir neue, konzentrierte Anstrengungen, um psychische Erkrankungen im Arbeitsumfeld zu vermeiden und Erwerbsminderungsfälle erst
gar nicht aufkommen zu lassen. Das muss unser politisches Ziel sein. Das haben wir in der Großen Koalition
verabredet. Das wollen wir in den kommenden vier Jahren hinbekommen.
Vielen Dank.
({12})
Es spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen Markus
Kurth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrter Herr Weiß, ich stimme Ihnen vollständig
zu, dass die Zunahme der Zahl psychischer Erkrankungen und die Zunahme bei den Zugängen zur Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankung absolut besorgniserregend sind. Wenn wir das betrachten,
dürfen wir aber nicht nur allgemein von Prävention reden, sondern - das liegt mir schon am Herzen - dann
müssen wir uns auch ganz konkret die Arbeitsbedingungen ansehen: Wie sind eigentlich die realen Bedingungen in der Arbeitswelt, die dazu führen, dass mancherlei
Arbeitsverhältnis so unmenschlich ist, dass man es wegen der psychischen Belastung nicht mehr aushält?
({0})
Ich sage ganz klar: Dieses Land kann sich auch volkswirtschaftlich nicht leisten, was teilweise auf dem Rücken der Beschäftigten gemacht wird.
({1})
Deswegen brauchen wir eine Antistressverordnung. Wir
brauchen aber auch ein Durchforsten des Arbeitsrechts.
Ich will an dieser Stelle, weil es in meiner Rede ja um
die Erwerbsminderungsrente geht, nur einen Punkt nennen: die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
Auch die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen setzen Beschäftigte unter Stress und bringen sie in psychische Nöte. Wenn sich so etwas oft genug wiederholt,
kann das zu einer Erwerbsminderung führen; das dürfen
wir nicht vergessen.
({2})
Schutz bei Erwerbsminderung hat in der sozialpolitischen Debatte mittlerweile einen prominenten Platz eingenommen. Das kann nicht verwundern, wenn man
sieht, dass inzwischen jede fünfte Rente wegen einer Erwerbsminderung bewilligt wird, Tendenz steigend. Seit
2000 sinkt allerdings die durchschnittliche Höhe der
Renten Jahr für Jahr,
({3})
vor allen Dingen bei Männern. Erhielten Männer im
Westen im Jahre 2000 noch durchschnittlich 836 Euro
Erwerbsminderungsrente, so waren es im Jahre 2010 nur
noch 679 Euro. Im Osten verläuft die Entwicklung auf
etwas niedrigerem Niveau ähnlich. Fast jeder zehnte Erwerbsgeminderte ist neben der Erwerbsminderungsrente
auf Grundsicherung angewiesen. Zum Vergleich: Bei der
Altersrente sind darauf gerade einmal 2 bis 2,5 Prozent
angewiesen. Dass es bei der Erwerbsminderungsrente
Handlungsbedarf gibt, ist also deutlich zu erkennen.
Noch drastischer sind die Zahlen zur relativen Einkommensarmut: Der Deutschen Rentenversicherung zufolge liegt das Haushaltseinkommen bei 36 Prozent
- also mehr als einem Drittel - aller Erwerbsgeminderten unter der sogenannten Armutsrisikogrenze.
Die Ursachen für sinkende Renten sind vielfältig. Das
lässt sich, lieber Matthias Birkwald, nicht einfach auf die
Rentenreformen der vergangenen Jahre zurückführen.
Wenn wir hier über die Statistik reden, müssen wir unter
anderem berücksichtigen, dass Rot-Grün ermöglicht hat,
dass heute auch Menschen Erwerbsminderungsrente beziehen können, die das früher nicht konnten: weil sie Sozialhilfe bezogen.
({4})
Das hat natürlich auch einen absenkenden Effekt auf das
durchschnittliche Niveau der Erwerbsminderungsrente;
die Deutsche Rentenversicherung veranschlagt ihn sogar
relativ hoch. Wenn wir im Ausschuss im Einzelnen
darüber diskutieren, müssen wir also, was die Statistik
angeht, genau sein.
Wir waren uns in der vergangenen Legislaturperiode
teilweise fraktionsübergreifend einig, dass Kurskorrekturen erfolgen müssen, wenn wir den Trend des sinkenden Niveaus der Erwerbsminderungsrente aufhalten
wollen. Die Pläne der Bundesregierung gehen an dieser
Stelle zwar in die richtige Richtung; aber sie bleiben unzureichend. Was insbesondere nottut - in dieser Richtung sind wir uns mit der Fraktion Die Linke einig -:
Wer aus gesundheitlichen Gründen auf den Bezug von
Erwerbsminderungsrente angewiesen ist, darf nicht auch
noch unter Abschlägen leiden.
({5})
Niemand geht freiwillig aus gesundheitlichen Gründen
in die Erwerbsminderungsrente. Diesen systematischen
Grundsatz sollten Sie beherzigen und berücksichtigen.
Soweit ich den Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, der heute bekannt
geworden ist, überblicke, sollen von den erweiterten Zurechnungszeiten nur Neuzugänge profitieren. Was ist
denn mit den Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentnern, die Erwerbsminderungsrente beziehen?
({6})
Ihr Paket für die Erwerbsminderungsrente muss offensichtlich zum Päckchen schrumpfen, damit all die Milliarden für die Mütterrente und die Rente mit 63 finanziert werden können. Wir würden bei den Ausgaben der
Rentenversicherung - das haben wir schon in der
Debatte heute Mittag gesagt - ganz klar eine andere
Priorität setzen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wenn wir über
die Erwerbsminderungsrente diskutieren, dürfen wir
nicht nur über die Höhe der Geldleistung reden, sondern
müssen uns auch Ursachen anschauen. Prävention habe
ich bereits angesprochen. Auch die Arbeitsbedingungen
sind wichtig. Ebenfalls not tut aber, dass Arbeitgeber,
Krankenkassen und Rentenversicherung statt gegeneinander zu kämpfen besser miteinander kooperieren. Das
Abwälzen von Kosten auf den jeweils anderen führt häufig dazu, dass Behinderungen sich einstellen, verschlimmern, chronisch werden und den Menschen der Weg zurück zum Arbeitsmarkt abgeschnitten wird.
({7})
Drittens ist es notwendig, dass Menschen, die nur teilweise erwerbsgemindert sind, bessere Möglichkeiten zur
Teilhabe am Arbeitsmarkt erhalten. Menschen mit gesundheitlichen Handicaps brauchen viel mehr Unterstützung: durch einen sozialen Arbeitsmarkt, durch Assistenz im Berufsleben und durch ein besseres betriebliches
Eingliederungsmanagement; das dürfen wir nicht vergessen.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Michael Gerdes.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere
soziale Absicherung ist ein hohes und auch notwendiges
Gut. Wer arbeitsunfähig wird, braucht die Hilfe der Solidargemeinschaft. Erwerbsgeminderte Menschen können
in der Regel nichts für ihre Situation und sind daher in
besonderem Maße auf die Solidargemeinschaft der Versicherten angewiesen. Die Hilfe für die Versicherten
muss allerdings so gestaltet sein, dass sie auch Armut
verhindert. Ich sehe parteiübergreifend - das habe ich
der Debatte hier entnommen - viele Übereinstimmungen
in der Argumentation. Ich hoffe, dass das nachher bei
der Umsetzung des Gesetzes auch so sein wird.
Wir haben schon gehört: Jeder vierte Arbeitnehmer
muss aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig seinen Beruf aufgeben oder kann gar nicht mehr arbeiten. Und die
Zahl derer, die auf Erwerbsminderungsrente angewiesen
sind, ist relativ groß. Jährlich werden fast 400 000 neue
Anträge auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Die Bewilligungsquote - auch das haben wir gehört - liegt bei
knapp über 50 Prozent. Aktuell können wir also mit dem
Schutz von Erwerbsgeminderten in Deutschland nicht
zufrieden sein.
Wenn man dann noch weiß, dass die Mehrheit der Bezieher von Erwerbsminderungsrenten aus Tätigkeiten
mit geringen Einkommen kommen, dann wird klar, dass
auch mit der späteren Altersrente keine großen Sprünge
zu machen sind. Schließlich wirken sich schlechtere
Entgeltpunkte auch unmittelbar auf die Absicherung im
Alter aus. Ich erspare es mir, hier die Zahlen zu nennen.
Hinzu kommt, dass eine private Altersvorsorge nicht
möglich ist, weil mit einem geringen Erwerbseinkommen eben nicht für eine weitere Absicherung, entweder
hinsichtlich der Altersvorsorge oder in Form einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, Sorge getragen
werden kann.
Meine Damen und Herren, das Problem ist erkannt.
Deshalb hat die Koalition vereinbart, Erwerbsgeminderte besser abzusichern.
({0})
Wir werden die Zurechnungszeiten von 60 auf 62 Jahre
anheben. Das stellt eine klare materielle Verbesserung
für die Versicherten dar. Eine weitere Verbesserung
bringt auch die Günstigkeitsprüfung bei der Rente. Längere Zurechnungszeiten sind ein Schritt in die richtige
Richtung. Das sagt auch die Präsidentin des VdK, Frau
Mascher. Allerdings - auch das sagt der VdK - dürfen
Erwerbsminderungsrentner nicht weiter mit bis zu
10,8 Prozent rentenmathematischen Abschlägen bestraft
werden.
({1})
Diese Aussage ist aus meiner Sicht richtig. Es ist
schließlich ein Unterschied, ob jemand aus gesundheitlichen Gründen früher in Rente geht oder weil es seiner
persönlichen Lebensplanung entspricht.
({2})
Nun stehen wir am Anfang der Legislaturperiode. Die
Baustellen sind erkannt. Neben der Verlängerung der
Zurechnungszeiten ist mir der Präventionsgedanke wichtig. Unser Ansatz ist, nicht erst aktiv zu werden, wenn es
um die Verrentung geht. Wir wollen den Schutz und die
Stärkung der psychischen und physischen Gesundheit in
belastenden Tätigkeiten deutlich verbessern. Durch
adäquate Bedingungen können wir arbeitsbedingte
Verschleißerkrankungen, psychische Erkrankungen und
damit verbundenes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess
deutlich verringern.
Ganz auszuschließen, meine Damen und Herren, ist
das Erwerbsminderungsrisiko allerdings auch durch
noch so gute Arbeitsbedingungen nicht. Deswegen müssen wir uns gemeinsam mit den Unternehmen fragen,
wie wir die Arbeitnehmer vor Berufsunfähigkeit bewahren können. Dabei - das haben wir heute auch schon
gehört - ist zwischen physischen und psychischen Belastungen zu unterscheiden. Insbesondere die Zahl der psychischen Erkrankungen ist enorm gestiegen. Das liegt
auch daran, dass der Leistungsdruck der Arbeitswelt von
heute ebenfalls enorm ist. Das Gesundheitsmanagement
der Betriebe und die Eingliederung nach langer Krankheit sind daher große Herausforderungen. Das kann Politik alleine nicht schaffen; das können wir nur gemeinsam
mit den handelnden Personen und Akteuren schaffen.
({3})
Auch zum Grundsatz „Reha vor Rente“ hat die Große
Koalition eine Aussage gemacht: Das Rehabudget der
Rentenversicherung muss an den Bedarf der Versicherten angepasst werden. Es geht darum, Rehamaßnahmen
zu verstärken, damit die Betroffenen nicht zwangsläufig
auf eine Rente angewiesen sind, sondern weiterhin für
ihren Lebensunterhalt sorgen können. Allerdings müssen
wir auch bedenken, dass es bei der Verweisbarkeit auf
andere Tätigkeiten gewisse Grenzen gibt. Der Arbeitsmarkt ist für Menschen mit gesundheitlichen Problemen
vielerorts verschlossen.
Zudem macht auch eine Debatte über die Definition
von voller und teilweiser Erwerbsminderung, die sich an
der möglichen Zahl der Arbeitsstunden orientiert, Sinn;
denn diese Unterscheidung ist durchaus umstritten. Die
Kritik am Zugang zur Erwerbsminderungsrente dürfen
wir nicht außer Acht lassen.
Aus Sicht der Betroffenen gibt es viel zu tun. Herr
Kurth, wir werden keine Päckchen packen, sondern Pa478
kete schnüren, schnüren müssen. Wir, die SPD, sind
dazu bereit. Wir haben, wie ich glaube, die richtigen
Konzepte. Wir hätten uns vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas mehr versprochen. Wir sind in einer
Großen Koalition. Da muss man auch einmal Kompromisse eingehen. Ich denke, wir werden uns nach vier
Jahren daran messen lassen können, was wir für die Betroffenen getan haben. In diesem Sinne: Herzlichen
Dank und Glück auf!
({4})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Uwe
Lagosky, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verbesserungen im Bereich der Erwerbsminderungsrente sind dringend geboten, und wir werden sie,
wie im Koalitionsvertrag beschrieben, auch umsetzen.
Bei der konkreten Ausgestaltung bis zum 1. Juli 2014
gilt es, erstens darauf zu achten, eine finanzielle Verbesserung für die Betroffenen zu erreichen - das wollen wir,
wie eben auch schon geschildert, gerne tun -, und zweitens eine Ausgestaltung zu wählen, die zum derzeitigen
Rentensystem passt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, unterscheidet uns voneinander. Deshalb werden wir auf Basis Ihres Antrages
nicht zusammenkommen.
Die deutliche Besserstellung der Bezieher einer Erwerbsminderungsrente wollen wir, wie bereits ausgeführt, mittels einer Ausweitung der Zurechnungszeit auf
62 Jahre erreichen. Durch diese Gesetzesänderung erzielen wir eine finanzielle Besserstellung der Betroffenen in
einer Größenordnung von 45 Euro brutto im Monat, wie
das gerade ebenfalls schon ausgeführt wurde. Das wird
in der Konsequenz zu Mehrausgaben von 1,7 Milliarden
Euro im Jahr 2030 führen.
Schon aus diesem Grund bin ich der Auffassung, dass
wir die gesundheitlichen Ursachen für die Erwerbsminderung stärker in den Blick nehmen müssen. Dass das
angesichts der Unterschiedlichkeiten im Einzelfall nicht
überall geht, ist mir dabei völlig klar.
Lassen Sie mich dazu folgende Ansatzpunkte betonen:
Mit Blick auf die Zukunft der Arbeit und die Arbeit
der Zukunft müssen wir darauf hinwirken, dass die verschiedenen positiven Umsetzungen in den Arbeitssicherheitsbereichen der Betriebe weiterhin unterstützt werden; denn hier werden bereits erhebliche Beiträge dazu
geleistet, dass die Belastungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer verringert werden.
({0})
Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, warum das so wichtig ist: Mit einem Anteil von 27,6 Prozent waren die Bereiche Skelett, Muskulatur und Bindegewebsprobleme im Jahre 1996 die Bereiche, auf die der
größte Anteil der gesundheitlichen Ursachen für Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente entfiel. Durch
Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitssicherheit ist dieser Wert in den letzten Jahren auf 14,2 Prozent stark gesunken.
Mittlerweile - auch das ist hier mehrfach angesprochen worden - stehen die psychischen Belastungen an
erster Stelle der Gründe für eine Erwerbsminderungsrente, wie aus Studien der Deutschen Rentenversicherung hervorgeht. Seit 1996 bis 2011 hat sich der Wert
von 20,1 Prozent auf 41 Prozent mehr als verdoppelt,
und die Tendenz ist leider steigend.
Unser Koalitionsvertrag trägt dieser Entwicklung
durchaus Rechnung. Vor dem Hintergrund einer sich
permanent verändernden Arbeitswelt mit ständig neuen
Anforderungen für Beschäftigte wollen wir unter anderem die betriebliche Gesundheitsförderung enger mit
einem ganzheitlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz
verknüpfen.
Nach meiner Erwartung und auch Erfahrung können
wir in den Betrieben durchaus dafür sorgen, dass
leistungsgeminderte Menschen an unterschiedlichen
Positionen im Betrieb untergebracht werden, die ihrem
Gesundheitsstatus tatsächlich gerecht werden. Je mehr
Menschen wir in den Betrieben und in Arbeitsverhältnissen halten können, desto besser.
({1})
Angesichts des demografischen Wandels mitsamt
dem sich branchenspezifisch wie auch regional verschärfenden Fachkräftemangel greift dieser Ansatz umso
mehr. Die Altersgruppe der Anfang 40- bis Ende 50Jährigen ist bei den Neuzugängen in die Erwerbsminderungsrente die größte. Bezogen auf die Beschäftigten
unterstreicht dies vor allem die Bedeutung von wissenschaftlich flankierter Prävention und gegebenenfalls medizinischer Rehabilitation. Auch diesem Thema werden
wir uns in der Koalition entsprechend widmen. Diesbezüglich denke ich persönlich auch an eine Klarstellung
zum Schutz der psychischen Gesundheit in den Arbeitsschutzverordnungen. Das ist nicht ganz ausgeschlossen,
wird aber noch diskutiert.
Als Fazit ist zu ziehen: Selbst bei Ausschöpfung aller
betrieblichen Maßnahmen werden wir es nicht erreichen,
sämtliche Gründe für Erwerbsminderung zu beeinflussen. Aber wir können dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft den Betroffenen so gut wie möglich hilft. Das
wollen wir tun, und zwar mit einem verantwortlichen
Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel.
Herzlichen Dank.
({2})
Herr Kollege Lagosky, nach den mir vorliegenden Informationen war das Ihre erste Rede. Ich darf Ihnen im
Namen des Hauses dazu ganz herzlich gratulieren.
({0})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Rosemann,
SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken! Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Ihnen
und uns ist?
({0})
Sie reden, wir handeln.
({1})
Das gilt für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland. Das gilt für die armutsfeste
solidarische Lebensleistungsrente. Das gilt für die Mütterrente. Das gilt für den abschlagsfreien Rentenzugang
ab 63 Jahren für langjährig Versicherte. Das gilt für die
Leistungsverbesserungen für Erwerbsgeminderte in unserem Land.
({2})
Bei all dem zeigt sich: Sie reden über Gerechtigkeit,
wir sorgen für mehr Gerechtigkeit.
({3})
Sie reden über die kleinen Leute, wir machen Politik für
die kleinen Leute.
({4})
In einer älter werdenden Gesellschaft müssen die
Menschen im Durchschnitt auch länger arbeiten. Aber
gerade dann müssen wir den unterschiedlichen Arbeitsund Lebensbedingungen gerecht werden. Das gilt für die
Ausgestaltung der Rente wie für die Arbeitsbedingungen
in den Betrieben. Beides gehen wir in dieser Legislaturperiode konsequent an.
Heute beziehen in Deutschland über 1,6 Millionen
Frauen und Männer Erwerbsminderungsrente. Das sind
Menschen, die beispielsweise mit einer psychischen Erkrankung, einem orthopädischen Leiden oder einer
Krebserkrankung leben müssen. Auch wenn diese Leute
länger arbeiten wollen: Sie können es schlicht nicht
mehr. Hinzu kommt, dass der Bezug von Erwerbsminderungsrente oft die Ursache von Altersarmut ist. 37 Prozent der Menschen, die in Haushalten von Erwerbsgeminderten leben, sind armutsgefährdet.
Altersarmut verhindert man aber am besten, indem
man ihre Ursachen bekämpft. Deshalb drängen wir prekäre Beschäftigung zurück. Deshalb führen wir den gesetzlichen Mindestlohn ein. Deshalb setzen wir auf die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deshalb arbeiten
wir dafür, dass benachteiligte Gruppen auf dem Arbeitsmarkt wieder eine Chance bekommen.
({5})
Gleichzeitig werden wir die gesetzliche Rente armutsfest machen. Dazu gehören auch Verbesserungen
für Erwerbsgeminderte. Durch die Ausweitung der Zurechnungszeit von 60 auf 62 Jahre werden sie so gestellt,
als ob sie zwei Jahre länger gearbeitet hätten. Das bedeutet höhere Renten. Hinzu kommt die Günstigerprüfung.
Damit sorgen wir dafür, dass Leute bessergestellt werden, die gerade wegen ihrer Krankheit weniger arbeiten
konnten und deshalb vor dem Renteneintritt weniger
Geld verdient haben. Mit diesen beiden Maßnahmen
verbessern wir ganz konkret die Lebenssituation erwerbsgeminderter Menschen und verringern ihr Armutsrisiko.
({6})
Aber lassen Sie mich noch einen anderen Punkt ansprechen, auf den mein Kollege Michael Gerdes bereits
hingewiesen hat. Bevor Beschäftigte Erwerbsminderungsrente beantragen, muss doch alles versucht werden,
um ihnen den Verbleib im Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Es gilt für uns der Grundsatz „Reha vor Rente“, und wir
wollen gute Arbeit in Deutschland, meine Damen und
Herren.
({7})
Deshalb setzen wir auf einen besseren Gesundheitsschutz der Beschäftigten am Arbeitsplatz. Vor allem psychische Erkrankungen, die immer weiter zunehmen, erfordern unser Handeln. Prävention und betriebliches
Eingliederungsmanagement werden wir deshalb stärken
und verbindlicher machen.
({8})
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten meinen es ernst mit
der Bekämpfung der Altersarmut und der Besserstellung
erwerbsgeminderter Menschen,
({9})
und wir verbinden die Verantwortung gegenüber der Lebensleistung der älteren Generation mit der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.
Mein Dank gilt an dieser Stelle unserer Ministerin
Andrea Nahles, die sich mit Volldampf um die großen
Herausforderungen in der Rentenpolitik kümmert. Wir
gehen diesen Weg voller Überzeugung mit, und ich
möchte Sie alle einladen, sich konstruktiv daran zu beteiligen.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Rosemann. Es war auch
Ihre erste Rede hier, und auch Ihnen darf ich im Namen
des gesamten Hauses dazu gratulieren.
({0})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Es spricht jetzt der Kollege Stephan Stracke, CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir lehnen den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke mit dem Vorschlag der Abschaffung der Rentenabschläge ab. Die Rentenabschläge
- ich glaube, das kann man in dieser Diskussion durchaus einmal erwähnen - wurden seinerzeit eingeführt, um
Ausweichreaktionen von älteren Menschen zu vermeiden. Das war die Realität der 90er-Jahre. Diese Gründe
tragen bis in die Gegenwart hinein.
Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass gerade
jüngere erwerbsgeminderte Versicherte durch die Abschlagswirkungen nicht über Gebühr belastet werden
dürfen. Deswegen haben wir die Zurechnungszeiten verlängert.
Unter dem Strich führen beide Änderungen zusammen zu einer Verminderung der Rentenhöhe um durchschnittlich 3,3 Prozent im Vergleich zum früheren Recht.
Das ist der Hinweis: Es sind 3,3 Prozent und nicht, wie
es im Gesetzentwurf der Linken etwas einseitig formuliert ist, 10,8 Prozent, was die Wirkung des Rentenabschlags betrifft. Ich glaube, beides zusammengenommen
rückt das Bild entsprechend zurecht.
({0})
Richtig ist allerdings, dass die durchschnittlichen
Zahlbeträge der Erwerbsminderungsrenten seit Jahren
sinken. Heute erhält ein erwerbsgeminderter Versicherter im Vergleich zu vor zehn Jahren im Bundesdurchschnitt rund 70 Euro weniger. Deswegen müssen wir
aufpassen, gerade was das Risiko der Altersarmut angeht. Deswegen werden wir auch einen genauen Blick
darauf haben. Wenn Grundgesicherte einen Aufwuchs
von 12 Prozent haben, dann müssen wir uns das genau
anschauen. Die Quote ist damit über viermal so hoch wie
bei Altersrentnern ab 65 Jahren. Das macht den unmittelbaren Handlungsbedarf bei den Erwerbsminderungsrenten insgesamt deutlich.
Für uns ist klar: Wer aus gesundheitlichen Gründen
nicht mehr erwerbstätig sein kann, ist auf die Solidarität
der Versichertengemeinschaft angewiesen. Für uns gilt:
Wer krank ist, nicht mehr arbeiten kann und vorzeitig in
Erwerbsminderungsrente gehen muss, muss im Alter
ausreichend abgesichert sein.
({1})
Was haben wir im Einzelnen vor? Heute erhalten die
Betroffenen eine Erwerbsminderungsrente, als hätten sie
bis zum vollendeten 60. Lebensjahr weitergearbeitet.
Wir wollen diesen Schutz verbessern. Erwerbsgeminderte Menschen sollen künftig so gestellt werden, als ob
sie mit ihrem bisherigen durchschnittlichen Einkommen
zwei Jahre länger, also bis zum 62. Lebensjahr, weitergearbeitet hätten.
Im Klartext: Wir wollen die Zurechnungszeit um zwei
Jahre verlängern, und zwar entgegen den anfänglichen
Überlegungen in einem Schritt. Das kommt den Betroffenen zugute. Das ist der Weg, den wir hier weiter beschreiten wollen.
({2})
Zudem stellen wir sicher, dass die letzten vier Jahre
vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht zählen, wenn
sie die Bewertung der Zurechnungszeit verringern. Hintergrund ist, dass die Rentenanwartschaften in den letzten Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung typischerweise deutlich zurückgehen. Häufig ist dies durch
unfreiwillig unstetige Arbeitsverhältnisse begründet.
Denken Sie beispielsweise an Erkrankungen vor dem
Bezug der Erwerbsminderungsrente. Um hier einen Ausgleich zu schaffen, wollen wir eine Günstigerprüfung bei
der Rentenberechnung einführen.
Beide Instrumente, Günstigerprüfung und die Verlängerung der Zurechnungszeit, kommen den Erwerbsgeminderten deutlich entgegen und verbessern ihre Situation. Darauf wollen wir aufsetzen. Wir wollen durch
entsprechende Veränderungen erreichen, dass Prävention
einen höheren Stellenwert in dieser Gesellschaft erlangt,
gerade wenn es um die betriebliche Gesundheitsförderung geht. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Es gilt, in dieser Legislaturperiode darauf aufzusetzen, und zwar unter dem
spezifischen Blickwinkel der betrieblichen Gesundheitsförderung.
Schließlich wollen wir präventiv über eine Modifizierung des Rehabudgets die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen auch im Alter die Belastungen
im Arbeitsleben körperlich und psychisch meistern können, also erst gar keine Erwerbsminderungsrente brauchen.
Für all diese Vorschläge gibt es große Unterstützung
vonseiten der Experten. Das zeigt: Wir sind beim Thema
Verbesserung der rentenrechtlichen Situation erwerbsgeminderter Personen bestens aufgestellt. All diese Vorschläge werden Bestandteil des Rentenpakets werden,
das die Bundesregierung demnächst vorlegen wird. Ich
sehe dem Gesetzgebungsverfahren und insbesondere den
entsprechenden Anhörungen zuversichtlich entgegen
und freue mich auf die Beratungen im Deutschen Bundestag.
Herzlichen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann, ist natürWaltraud Wolff ({0})
lich - darin sind wir uns alle heute Abend einig; das
wurde fraktionsübergreifend festgestellt - auf Erwerbsminderungsrente angewiesen, keine Frage. Dabei muss
es sich um ein ausreichendes Einkommen handeln. Sonst
würden wir nicht gemeinsam dieses Gesetzgebungsverfahren in Gang setzen. Schließlich wird niemand freiwillig krank und will diesen Weg freiwillig gehen. Wir wissen aber auch: Es reicht nicht aus. Sonst würden wir uns
nicht damit beschäftigen.
Man sagt immer: Zahlen lügen nicht. So müssen wir
zur Kenntnis nehmen, dass Männer, die 2012 zum ersten
Mal eine Erwerbsminderungsrente bekommen haben, im
Durchschnitt 15 Prozent weniger Rente haben als diejenigen, die im Jahr 2000 zum ersten Mal Erwerbsminderungsrente bekommen haben.
Ich möchte als Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt einen Schwerpunkt auf den Osten Deutschlands legen. Wir
wissen, dass da besonders niedrige Löhne gezahlt werden, dass dadurch die Renten besonders niedrig sind und
dass auch die erwerbsgeminderte Rente niedriger ausfallen wird, keine Frage. Fakt ist, dass wir dabei nicht weiter zusehen können und nicht zusehen wollen. Wir haben
gemerkt, dass wir uns von dem sozialpolitischen Ziel,
den Menschen in der Erwerbsminderung ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung zu stellen, weit entfernt
haben. Das geht so nicht weiter. Wir alle sehen hier
Handlungsbedarf. Aber die Maßnahmen sind - das haben alle Vorredner betont - unterschiedlich.
Herr Kollege Birkwald, wenn ich Sie richtig verstanden habe, schlägt Ihre Fraktion einzig und allein die Abschaffung der Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente vor.
({1})
Es stimmt, dass das auch im SPD-Wahlprogramm stand.
Aber wer weiter liest, findet noch mehr, nämlich das,
was wir gemeinsam im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
({2})
Das ist nämlich die Verlängerung der Zurechnungszeit.
Jemand, der eine so geringe Rente bekommt, dass sie unter der Grundsicherung liegt, freut sich schon, dass zwei
Jahre hinzukommen. Keine Frage.
({3})
Ich glaube, dass man das wirklich als Erfolg werten kann
und dass das gut und richtig ist.
Einer Erwerbsminderungsrente geht vielfach voraus,
dass die Betroffenen schon schlechtere Arbeitsbedingungen hatten, dass sie weniger verdient haben, dass sie weniger Stunden gearbeitet haben oder dass sie arbeitslos
gewesen sind. Darum ist es gut und richtig, dass man die
letzten vier Jahre, wenn es da zu schlechten Verdiensten
kam, herausrechnet und nur die guten Jahre zählt. Ich
glaube, auch das ist ein großer Fortschritt.
({4})
Deshalb ist es nur mit der Abschaffung der Abschläge
einfach nicht getan. Wir kehren den Trend mit diesen
beiden Maßnahmen um, die ich eben schon genannt
habe. Wir gehen damit in die richtige Richtung.
Übrigens - mein Kollege Rosemann hat es schon
deutlich gesagt - bekämpfen wir das Grundübel in der
Erwerbsminderungsrente auch mit guter Arbeit und mit
guten Löhnen auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben eine super Besetzung im Ministerium für Arbeit und Soziales,
die genau das vorbereitet und mit Hochdruck daran arbeitet.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
uns alle gemeinsam an diesem Gesetzgebungsverfahren
arbeiten und miteinander für die Menschen, die es wirklich nötig haben, Verbesserungen erzielen.
Danke schön.
({5})
Das war gleichzeitig der letzte Beitrag in dieser Aus-
sprache, die ich damit schließe.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/9 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes
Drucksache 18/185
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bis
zur Abschaffung des Optionszwanges vermei-
den
Drucksache 18/186
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein fortschrittliches Staatsangehörigkeitsrecht
Drucksache 18/286
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen ernsthaften Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im
Jahre 1999 hat der Deutsche Bundestag unter Rot-Grün
eine Staatsangehörigkeitsreform beschlossen, die am
1. Januar 2000 in Kraft trat und die ein wichtiger Schritt
in unserem Staatsangehörigkeitsrecht war; denn erstmals
konnten die Kinder von Migranten in Deutschland mit
ihrer Geburt Deutsche werden.
Dieses Gesetz hatte damals allerdings einen großen
Makel. Den hat uns der Bundesrat, genauer das Land
Rheinland-Pfalz und die FDP, eingebracht. Ich bin froh,
dass wir jetzt, nachdem die FDP nicht mehr im Haus ist,
diese liberale Hinterlassenschaft einmütig dadurch beseitigen wollen, dass wir, wie es die Koalition beschlossen hat, die Optionspflicht abschaffen.
({0})
Dazu will ich ausdrücklich den sozialdemokratischen
Kollegen gratulieren; denn das war wahrscheinlich nicht
ganz so einfach. Noch im Juni haben die Union und die
FDP in namentlicher Abstimmung das einstimmig abgelehnt. Der Parlamentarische Staatssekretär Schröder
sagte damals: Wir wollen die deutsche Staatsbürgerschaft nicht verramschen. - Die Optionspflicht sei ein
Erfolgsmodell, und er sei gegen eine generelle Hinnahme von Mehrstaatlichkeit. Der Kollege Grindel
sagte, wer Ja zu Deutschland sage und gerne hier leben
wolle, von dem könne er auch die Entscheidung für die
deutsche Staatsbürgerschaft unter Ablegung seiner alten
Staatsbürgerschaft erwarten. Gut, dass wir dies nun zumindest bei der Optionspflicht zu den Akten legen.
Aber wir haben ein Problem; denn Sie kommen mit
Ihrer Gesetzgebung nicht voran. Auch deshalb will ich
jetzt mit Lob und Tadel anhand von Zitaten Schluss machen.
({1})
Auf den Schreibtischen der deutschen Ausländerbehörden liegen gegenwärtig 5 000 Fälle, in denen wegen der
bestehenden Optionspflicht weiterhin der Entzug der
deutschen Staatsangehörigkeit droht. Sie wollen diesen
Unsinn doch beenden. Aber machen Sie jetzt auch
Schluss damit? Sie haben es doch selber in der Hand.
Deshalb sagen wir: Wir als Bundestag wollen die Länder
auffordern - der Bundesinnenminister könnte das in einer
entsprechenden Auslegungsentscheidung mitteilen -, dass
jeder, der gegenwärtig eine Beibehaltungsgenehmigung
beantragt, sie entweder sofort erhält oder dass man das
Verfahren ruhen lässt, bis der Gesetzgeber die Optionspflicht abgeschafft hat.
({2})
Der Bundesinnenminister hat mir gestern in der Befragung der Bundesregierung gesagt: Wir werden zum
Thema Optionspflicht sehr schnell, ohne schuldhaftes
Zögern, einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem die Koalitionsvereinbarung exakt umgesetzt wird. - Ich verstehe nicht, dass das im BMI so lange braucht; es gibt
noch nicht mal einen Referentenentwurf. Es ist gar nicht
so schwierig, wie man an dem Gesetzentwurf, den wir
hier heute vorgelegt haben, sieht. Nehmen Sie unseren
Gesetzentwurf zur Grundlage; dann können wir schnell
zu einer Beschlussfassung kommen.
Dabei ist mir ein Punkt wichtig: Der Optionszwang
war - wir alle sind heute dieser Auffassung - rechtspolitischer, integrationspolitischer Unsinn. Daher darf man
diesen Unsinn auch nicht weiter praktizieren, und dann
darf man Menschen unter diesem Unsinn nicht weiter
leiden lassen. Deshalb fordern wir: Wer jetzt aufgrund
der noch fortbestehenden Optionspflicht die deutsche
Staatsbürgerschaft verliert oder bereits verloren hat, der
muss sie unbürokratisch und gebührenfrei auf Antrag zurückbekommen.
({3})
Das sieht unser Gesetzentwurf bei der Neufassung des
§ 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vor.
Wer infolge des Optionszwangs in der Vergangenheit
seine ausländische Staatsangehörigkeit aufgegeben oder
verloren hat, der muss die Genehmigung erhalten, sie
wieder zu beantragen. Das ist konsequent.
Herr Kollege Beck, Sie denken an die Redezeit?
Ja. Ich komme jetzt zum Schluss, Herr Präsident.
Wir wollen nicht, dass noch irgendjemand Opfer dieses politischen Nonsens wird. Überlegen Sie sich einmal: Sie geben mit der Abschaffung des Optionszwangs
die Ideologie des Verbots der doppelten Staatsangehörigkeit auf. Bei der Einbürgerung halten Sie allerdings daran fest. Das macht überhaupt keinen Sinn. Wenn man
sich den Migrationsbericht, den die Bundesregierung
gestern vorgelegt hat, anschaut, dann sieht man: Schon
heute ist jede zweite Einbürgerung mit Hinnahme der
doppelten Staatsangehörigkeit verbunden. Lassen Sie
uns beim Thema Staatsangehörigkeit auch den anderen
50 Prozent sagen: Ja, auch ihr dürft euren alten Pass behalten, wenn ihr Deutsche werden wollt; denn ihr seid
uns willkommen. - Beim Thema Willkommenskultur
hat dieses Land noch einiges nachzuholen.
Volker Beck ({0})
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Brandt,
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch gar nicht lange her, da
haben wir hier im Deutschen Bundestag vor der letzten
Wahl auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken über dieses Thema, über die Abschaffung des
Optionszwangs, gesprochen. Herr Beck, wenn Sie mit
Ihren Anträgen auch nur ein paar Wochen gewartet hätten, dann hätten Sie den Gesetzentwurf der Regierung
gesehen und ihm hoffentlich mit Freude zugestimmt.
Warten wir ihn doch einfach einmal ab.
Weil Sie es nicht richtig geschildert haben und weil
Sie das, was seinerzeit gemacht worden ist, als Unsinn
bezeichnet haben - was ich zurückweise; es war schon
sehr sinnvoll -, will ich die Rechtslage noch einmal verdeutlichen.
({0})
- Das erkläre ich Ihnen auch noch. Sie müssen nur Geduld haben.
Voraussetzung für den seit dem Jahr 2000 geltenden
Jus-Soli-Erwerb war und ist, dass mindestens ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewünschten Aufenthalt im Inland hat und über ein befristetes Aufenthaltsrecht verfügt.
({1})
Diese Kinder müssen sich nach Vollendung des 18. Lebensjahres bis zum 23. Lebensjahr für eine der beiden
Staatsbürgerschaften entscheiden, also entweder bei der
deutschen verbleiben oder die Staatsbürgerschaft, die sie
durch einen der beiden Elternteile erworben haben, beibehalten. Seit 2000 waren davon immerhin 450 000 Kinder betroffen und sind auf diesem Wege deutsche Staatsangehörige geworden. Das ist eine beachtliche Zahl. Für
die ersten dieser Kinder, die im Jahre 2008 18 Jahre alt
wurden, ist die Optionsphase im vergangenen Jahr abgelaufen. Jetzt ist es interessant, zu sehen, wie sie sich entschieden haben. Weil sich die meisten, nämlich 98 Prozent, für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden
haben, muss ich den Vorwurf des Unsinns zurückweisen.
({2})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Für mich ist das
ein Beweis dafür, dass diese Optionspflicht, die damals
eingeführt worden ist, durchaus Sinn gemacht hat und
nach meiner persönlichen Auffassung auch heute noch
macht. Denn die Entscheidung für eine der beiden
Staatsbürgerschaften als klares Bekenntnis zu einem
Land halte ich nach wie vor für einen Menschen, der
schon 18 bis 23 Jahre lang hier gelebt hat, für durchaus
zumutbar.
({3})
Aber es gibt noch weitere gute Gründe für diese Optionspflicht.
({4})
- Dass Sie dieser Meinung sind, glaube ich Ihnen gerne.
Aber wir können ja noch darüber diskutieren, wer was
richtig versteht.
Es gibt auch ein gutes Beispiel dafür, weshalb es für
die Betroffenen durchaus überlegenswert ist, die zweite
Staatsbürgerschaft abzulegen. Sie wissen alle: Wir haben
in der letzten Legislaturperiode die Wehrpflicht ausgesetzt - nicht abgeschafft, aber ausgesetzt. Das bedeutet
jetzt für türkische Staatsangehörige, dass sie sich in der
Türkei freikaufen müssen, wenn sie es denn können.
Bei der Strafverfolgung besteht durchaus die Gefahr,
dass sich jemand der Strafverfolgung entzieht, indem er
in sein zweites Heimatland geht, das ihn nicht ausliefert,
weil es kein Auslieferungsabkommen gibt. Es gibt sowohl im Familien- wie auch im Erbrecht Probleme - die
können Sie nicht verleugnen -, die durch diese Regelung, die wir bislang hatten, einfacher zu lösen waren.
Nicht zuletzt - jetzt komme ich auf den Hauptpunkt gibt es einen Loyalitätskonflikt, insbesondere dann,
wenn in dem Heimatland - wir reden ja nicht nur über
die Türkei, aber auch - ganz andere Vorstellungen von
Demokratie und vor allen Dingen Religionsfreiheit bestehen.
Herr Kollege Brandt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mutlu?
Ja, gern.
Eine ganz konkrete Frage, Herr Kollege. Sie haben
gerade die Punkte Loyalitätskonflikt und Strafverfolgung angesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass Deutschland
mit 53 verschiedenen Ländern dieser Erde bereits sogenannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkommen geschlossen hat? Dabei gibt es keines der Probleme, von denen
Sie hier reden. Es gibt niemanden, der sich in einem Loyalitätskonflikt befindet oder der sich der Strafverfolgung entzieht.
({0})
Das ist durchaus zutreffend, aber es gibt darüber hinaus mehr als 100 weitere Länder, mit denen solch ein
Abkommen nicht besteht. Von denen habe ich gerade gesprochen.
Ich komme zurück zum Loyalitätskonflikt. Ich will
einmal, weil die Menschen mit türkischstämmigem Hintergrund hier eine besondere Bedeutung haben, auf die
Regierung Erdogan zu sprechen kommen. Sie hat ja bekanntlich eine Behörde ins Leben gerufen, die sich speziell an im Ausland lebende Türken wendet und das Ziel
verfolgt, diese im Ausland lebenden Türken für ihre Interessen zu gewinnen. Ich meine, dass dies zumindest
ein starkes Indiz dafür ist, dass Menschen mit doppelter
Staatsbürgerschaft für Ziele vereinnahmt werden, die in
unserem Land keine Rolle spielen, sondern nur in der
Türkei. Wenn Ministerpräsident Erdogan sagt: „Geschichte und Schicksal mögen uns in unterschiedliche
Länder versetzt haben, aber unsere Herzen schlagen immer zusammen“, dann spricht doch diese Aussage für
sich.
({0})
- Das ist seine Aussage; das ist vollkommen richtig.
Aber er übt Einfluss auf die aus, die hier in Deutschland
leben.
({1})
Deshalb gibt es gute Gründe, Herr Beck, die Sie bei Ihren Ausführungen natürlich alle verschwiegen haben,
das Optionsmodell nicht als Unsinn zu bezeichnen. Ich
muss im Übrigen auch Ihre Einschätzung zurückweisen,
Herr Beck, dass heute über alle politischen Lager hinaus
Einigkeit darin besteht, dass sich die Optionspflicht
nicht bewährt hat. Das ist nicht richtig. Ich hatte das
eben ausgeführt.
({2})
Richtig ist, dass CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart haben, die Optionspflicht abzuschaffen bzw. es dem betroffenen Personenkreis leichter zu
ermöglichen, die doppelte Staatsbürgerschaft zu behalten.
({3})
Die Entscheidung zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der des Herkunftslandes der Eltern oder
eines Elternteils ist für junge Migranten, die hier geboren sind und hier leben wollen, natürlich ein Problem.
Das sehen wir auch. Aber für uns ist nach wie vor von
großer Bedeutung, dass wir die Integration dieser
Gruppe im Blick behalten.
Unser Vorhaben gehört sicherlich zur Willkommenskultur, die wir in unserem Land weiterhin fördern wollen. Wir wollen, dass sich die jungen Menschen, die sich
seit ihrer Geburt in Deutschland aufhalten, auf Dauer in
unserem Land wohlfühlen und dem Land verbunden
bleiben. Deshalb ist die Ermöglichung von gleichen
Chancen auf ein gutes Aufwachsen im Koalitionsvertrag
vereinbart worden. Das halten wir für wichtig, damit es
bei der Umsetzung des Vertrages nicht zweierlei Meinungen gibt.
Frau Künast ist heute leider nicht hier.
({4})
- Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Ich begrüße Sie sehr herzlich.
({5})
Wahrscheinlich erinnern Sie sich an Ihren Zwischenruf,
den sie im letzten Jahr während der Debatte gemacht haben. Sie haben gesagt, die seien doch alle integriert.
Aber das ist leider nicht wahr. Wir müssen immer noch
feststellen, dass eine große Zahl derjenigen, die hier in
Deutschland leben - selbst wenn sie seit ihrer Geburt
hier leben -, leider nicht die gleichen Voraussetzungen
erfüllen wie Kinder, die aus deutschen Familien stammen.
Es ist einfach eine Tatsache, dass in dieser Gruppe ein
hoher Prozentsatz - doppelt so hoch wie der Durchschnitt keinen Schulabschluss macht und später auch keine Berufsausbildung aufnimmt. All das halten wir für nicht akzeptabel. Herr Beck, Sie können es drehen, wie Sie wollen:
Wir halten den Druck, den wir ausüben wollen, damit
sich die Menschen in Deutschland wirklich integrieren
und sich den Möglichkeiten öffnen, die unser Staat bietet, für wichtig. Unser Modell „Integration geht vor
Staatsangehörigkeit“ halte ich nach wie vor für richtig.
({6})
Lassen Sie mich in dieser Debatte einen weiteren
Punkt ansprechen. Seit 2005 haben wir, also die CDU/
CSU-geführte Regierung, die Integration in den Fokus
gerückt. Wir haben in dieser Zeit beispielsweise Integrationskurse eingeführt.
({7})
Seit 2005 haben wir 1 Milliarde Euro für Integration und
Sprachkurse ausgegeben. Man sieht, dass es unser hauptsächliches Bemühen ist, die Menschen fit zu machen,
um in Deutschland Erfolg zu haben. Das ist und bleibt
unser Ziel.
Warten wir den Regierungsentwurf ab. Diskutieren
wir dann im Innenausschuss, in den Sie jetzt von Ihrer
Fraktion entsandt worden sind, über den Inhalt dessen,
was wir nach der Vorlage des Regierungsentwurfs tatsächlich umsetzen wollen.
({8})
Herr Kollege Brandt, gestatten Sie noch eine abschließende Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ja.
Herr Brandt, ich bin aus Ihrer Rede nicht so ganz
schlau geworden.
({0})
Sie haben begründet, warum der Optionszwang eine
wunderschöne Sache war. Heißt das, der Satz, wie er im
Koalitionsvertrag steht, wird von Ihnen teilweise in
Zweifel gezogen? Wollen Sie noch Bedingungen an die
Aufgabe des Optionszwanges stellen?
({1})
Sie haben ja gesagt: Jetzt warten wir einmal ab, was da
kommt. - Es kann eigentlich nur das kommen, was wir
aufgeschrieben haben; vielleicht mit einem anderen
Wording. Wollen Sie davon in der Substanz abweichen,
und, wenn ja, an welcher Stelle?
Wir halten uns strikt an das, was im Koalitionsvertrag
vereinbart worden ist, und werden das auch umsetzen.
Ich weiß jetzt nicht, was Sie mit Wording meinen, aber
jedenfalls geht es nicht um den Wortlaut, den Sie in Ihren Anträgen benutzt haben. Warten Sie unsere Vorlage
ab, und dann diskutieren wir darüber!
Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1940 schrieb Bertolt Brecht seine Flüchtlingsgespräche. Darin geht es auch um das Verhältnis von
Pass und Mensch, von Staat und Bürger. Ich zitiere:
Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.
Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand
wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er
auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein
Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.
Derselbe Streit - Mensch oder Pass? - steckt letztlich
hinter der anhaltenden Debatte über eine doppelte
Staatsbürgerschaft.
({0})
CDU und CSU favorisieren offenbar den Pass, die Linke
favorisiert den Mensch.
({1})
Deswegen sind wir für eine doppelte Staatsbürgerschaft.
({2})
Im Übrigen wähnten wir uns darin bis vor kurzem einig mit der SPD,
({3})
zumal Sigmar Gabriel erst kürzlich klargestellt hatte
- noch ein Zitat -:
Ich werde … keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in
dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht drin ist.
Sie wissen: Es kam anders. Im Koalitionsvertrag von
CDU, CSU und SPD hat erneut der Pass über den
Mensch obsiegt. Ich bedaure das.
Ich teile auch die Kritik von Kenan Kolat, dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland; denn
herausgekommen ist keine große europäische Lösung,
sondern eine kleine deutsche Geste, und die spaltet erneut.
Ja, ich erkenne an: Der Optionszwang soll fallen. Hier
geborene junge Menschen sollen nicht mehr entscheiden
müssen, ob sie Deutsche oder beispielsweise Türken
sind. Aber Ältere oder neu Eingewanderte stehen weiter
vor der Qual der Wahl. Sie dürfen nicht einfach Mensch
sein; über sie entscheidet weiter der Pass.
({4})
Das ist engstirnig und obendrein ungerecht.
({5})
Ich kenne im Übrigen keine triftigen Gründe gegen
eine doppelte Staatsbürgerschaft. In zahlreichen EUStaaten ist eine doppelte Staatsbürgerschaft längst Usus
und obendrein ein Erfolgsmodell; in Deutschland nicht.
Es ist wie bei der direkten Demokratie: Auch im Staatsbürgerschaftsrecht ist Deutschland nicht etwa spitze,
sondern ein EU-Entwicklungsland. Ich finde, das ist blamabel.
({6})
Nun ist selbst die Abschaffung des unsäglichen Optionszwangs bislang lediglich eine pure Ankündigung der
Großen Koalition. Bündnis 90/Die Grünen fordern mit
ihrem Antrag ein schnelleres Handeln, und das unterstützen wir natürlich. Aber es bleibt die kleine Lösung auf
Koalitionsniveau. Wir als Linke drängen weiter auf weitergehende Änderungen.
({7})
- Das machen wir dann vielleicht gemeinsam, Kollege
Beck; das ist ja in Ordnung.
Wir wollen, dass das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht grundlegend modernisiert wird und Einbürgerungen unbürokratisch erleichtert werden. Wir möchten,
dass der Pass der Pass bleibt und dass der Mensch - jetzt
sind wir bei Ihrem Widerspruch - auch Bürger sein
kann, anerkannt und gleichberechtigt. Dazu gehört, dass
Bürgerinnen und Bürger, die seit Jahren hier leben, auch
ohne deutschen Pass mitbestimmen und wählen können.
({8})
Sie dürfen es bislang nicht, und so bleiben sie Bürger
zweiter Klasse. Das lehne ich ab, und das will die Linke
grundlegend ändern.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. - Es spricht jetzt der
Kollege Uli Grötsch, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die
SPD ist klar: Zuwanderung ist eine Bereicherung für
Deutschland, und zwar in Bezug auf ausnahmslos alle
Mitgliedstaaten und Bevölkerungsgruppen der Europäischen Union ebenso wie der Nationen außerhalb der europäischen Staatengemeinschaft.
({0})
Herr Kollege Beck, damit Willkommenskultur nicht
nur eine Worthülse ist, bedarf es einer ständigen Weiterentwicklung, eines ständigen gesellschaftlichen Diskurses und auch der politischen Diskussion darüber. Um
dieses gesellschaftliche Klima in Deutschland zu fördern, brauchen wir ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Das ist in diesem Haus, so denke ich, weitestgehend unstrittig.
Wir haben gesagt - das ist richtig -, wir unterschreiben keinen Koalitionsvertrag ohne die doppelte Staatsbürgerschaft. Aus diesem Grund war es meiner Fraktion
und der SPD in ihrer Gesamtheit ein elementares Anliegen, im Koalitionsvertrag festzuschreiben, dass für in
Deutschland geborene Menschen der Optionszwang abgeschafft und Mehrstaatigkeit damit akzeptiert wird. Damit ist ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Richtung hin zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht
getan.
({1})
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, liebe Kollegin Pau, wissen wir, dass das allein nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Selbstverständlich sind auch wir der Meinung, dass eine Neuregelung des Staatsangehörigkeitsgesetzes so gestaltet sein
muss, dass möglichst viele Menschen, die dauerhaft in
Deutschland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben können.
Mehrere Punkte in Ihrem Gesetzentwurf bzw. den
vorliegenden Anträgen sind unterstützenswert, etwa die
vereinfachte Erteilung von Beibehaltungsgenehmigungen, damit die ausländische Staatsbürgerschaft im Optionsverfahren nicht gewissermaßen automatisch verloren geht.
({2})
- Ich komme noch darauf, Herr Kollege. - Der Umgang
damit liegt aber in der Kompetenz der Länder. Deren
Prüfungen bezüglich Erleichterungen sollte der Bundestag nicht vorgreifen; ich weiß zumindest von SPD-regierten Ländern, dass daran bereits intensiv gearbeitet
wird.
Bis zur Neufassung des § 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes sind die zuständigen Landesbehörden aufgefordert, auf die bis dahin von der Optionspflicht betroffenen jungen Menschen dahin gehend hinzuwirken,
dass diese rechtzeitig einen Antrag auf eine Beibehaltungsgenehmigung stellen.
Kritisch sehe ich die Forderungen der Fraktion Die
Linke in ihrem Antrag hinsichtlich der Freiwilligkeit von
Sprachkursen oder der Gebührenfreiheit von Einbürgerungen. Ich meine, dass es angesichts finanziell oftmals
schwacher öffentlicher Haushalte nicht vertretbar ist, auf
die entstehenden Gebühren gänzlich zu verzichten, zumal es bereits jetzt gesetzliche Möglichkeiten der Gebührenbefreiung bzw. Gebührenermäßigung gibt. Im
Übrigen sollte auch künftig die Lebensunterhaltssicherung ein zu berücksichtigender Aspekt bei der Einbürgerung sein.
Weiterhin gleicht die in Ihrem Antrag geforderte Einbürgerung bereits nach fünf Jahren dem Voraufenthalt
für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Der
Sinn dieses Vorgehens erschließt sich uns nicht und auch
nicht, in welchem Verhältnis Niederlassungserlaubnis
und das Recht auf Einbürgerung dahin gehend künftig
stehen sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts ist bei der SPD auch
in Zukunft in besten Händen; dessen können Sie sich alle
sicher sein.
({3})
- Tun Sie das!
({4})
- Das war bei uns schon in guten Händen, als es einige
Parteien in diesem Hause noch nicht in dieser Form gab.
({5})
Die SPD wird weiter die Triebfeder sein, wenn es darum geht, mit der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts Deutschland als ein modernes und weltoffenes
Land zu präsentieren.
Jeder hier im Saal weiß, dass wir von der SPD nicht
neu in diesem Thema sind. Wir sind bereits seit 1998
ständig bestrebt, möglichst vielen Menschen, die dauerUli Grötsch
haft in Deutschland leben, die Möglichkeit zu geben, im
Rahmen einer doppelten Staatsangehörigkeit endgültig
alle Rechte und Pflichten wahrzunehmen,
({6})
und das steht ihnen meiner Meinung nach auch zu.
Auch die Vertreter der türkischen Gemeinden wissen,
dass wir bei unserem Koalitionspartner im Wort stehen.
Aber wir werden unsere Kraft im Deutschen Bundestag
gemeinsam dafür einsetzen - auch ich werde dies tun -,
dass wir diejenigen gewissermaßen nachholen, die aufgrund bisheriger Regelungen ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit abgeben mussten. Das verstehe ich unter
einer Willkommenskultur.
Auch wenn es übereinstimmende Positionen gibt,
werden wir den heute zur Abstimmung stehenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen.
({7})
Wir werden mit unserem Koalitionspartner auf Grundlage des Koalitionsvertrages das geltende Recht weiterentwickeln und modernisieren.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden uns
über eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition bei dieser gesamtgesellschaftlich so wichtigen Aufgabe selbstverständlich sehr freuen.
({9})
Vielen Dank.
({10})
Lieber Herr Kollege Grötsch, das war Ihre erste Rede
hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu
und wünsche Ihnen, dass Sie möglichst oft hier im
Hohen Hause sprechen können.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter
Kollege Grötsch, der vorliegende Antrag ist genau das,
was Sie einfordern: ein konstruktiver Beitrag zu dieser
gesamtgesellschaftlich wichtigen Debatte. Nur weil der
Antrag von der Opposition kommt, trauen Sie sich nicht,
ihm zuzustimmen, obwohl Sie inhaltlich nichts dagegen
gesagt haben.
({0})
Ihnen, lieber Herr Kollege Brandt, kann ich nur sagen: Ich hoffe, dass viele Menschen, die aus der Türkei
stammen, schon jahrzehntelang in unserem Land leben
und längst integriert sind, Ihre Rede nicht gehört haben.
Denn mit dieser Rede würden Sie diese Menschen in die
Hände von diesem Herrn Erdogan treiben, den Sie hier
immer wieder zitieren, wenn Ihnen hinsichtlich der Türkei etwas nicht passt. Mit dieser Rede haben Sie keinen
Beitrag dazu geleistet, dass sich diese jungen Menschen
endlich zu diesem Land bekennen. Insofern kann ich Ihnen sagen: Sie können viel von Frau Özoğuz lernen, der
ich im Übrigen eine glückliche Hand wünsche, weil sie
viel mit Ihnen zu tun haben wird.
({1})
Ich weiß zudem nicht, woher Sie die Zahl von 98 Prozent nehmen, die Sie hier genannt haben. Ich würde
gerne wissen, ob die 98 Prozent, die angeblich freiwillig
die - in Anführungszeichen - „Heimatstaatsbürgerschaft“ aufgegeben haben, dies gerne getan haben oder
durch den Optionszwang dazu gezwungen waren.
Verehrte Damen und Herren, ich gehöre vermutlich
zu den wenigen Menschen in diesem Hohen Hause, die
sich in ihrem Leben die Frage nach ihrer Staatsangehörigkeit gestellt haben. Die deutsche Staatsangehörigkeit
habe ich 1989 im Gegensatz zu Ihnen nicht per Geburt,
sondern in einem bewussten Schritt angenommen, weil
ich von der deutschen Wiedervereinigung beeindruckt
war. Die friedliche Revolution und der Mauerfall waren
für mich, der hier in Berlin an der Mauer groß geworden
ist, ein wichtiges Signal. Ich wollte für diese Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Ich stehe hier heute
mit zwei Staatsbürgerschaften vor Ihnen, und ich sehe da
gar keine Probleme hinsichtlich der Loyalität. Aber Sie
können das natürlich anders sehen.
({2})
Glauben Sie mir: Diese Entscheidung war keine einfache. Ich fragte mich: Verrate ich meine Herkunft? Was
werden meine Eltern, meine Freunde, meine Bekannten
sagen oder denken? Als Politiker sage ich Ihnen: Dies
beschäftigt mich immer noch. Denn ich frage mich immer noch, warum wir junge Menschen, die in diesem
Land geboren, aufgewachsen und heimisch sind, immer
wieder vor diese Frage stellen.
Deshalb, liebe SPD, haben wir keine Zeit, auf eine
Regierungsvorlage zu warten. Sie haben im Wahlkampf
auf den Marktplätzen und Straßen versprochen, keinen
Koalitionsvertrag zu unterschreiben, in dem die doppelte
Staatsbürgerschaft nicht steht. Diesen Anspruch haben
Sie aufgegeben. Bleiben Sie doch wenigstens Ihrer eigenen Forderung, das Optionsmodell abzuschaffen, treu.
Sorgen Sie dafür, dass die jungen Menschen, die tagtäg488
lich zwangsweise ausgebürgert werden - nach einer Information der Bundesregierung sind es bereits über
200 junge Menschen -, ihre beiden Staatsbürgerschaften
zumindest so lange behalten können, bis Ihr neues Gesetz gilt.
In diesem Sinne appelliere ich an Ihre Vernunft:
Springen Sie über Ihren Schatten. Lassen Sie an einer so
wichtigen Stelle das Spiel zwischen Opposition und Regierung sein, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf
und unserem Antrag zu.
({3})
Es spricht jetzt Michael Frieser, CDU/CSU.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Diese Debatte war durchaus zu erwarten. Man konnte die Uhr danach stellen. Jetzt wird
der Koalitionsvertrag nach Positionen durchsucht, an denen es irgendwelche Missverständnisse geben könnte.
Wir müssen deutlich sagen: Nein, auch mit diesen Vorlagen wird es nicht gelingen, einen Keil zwischen die
Partner dieser jungen, noch erblühenden Vernunftehe zu
treiben.
({0})
Es ist doch erkennbar, dass man versucht, einen Punkt zu
finden, um sagen zu können: Jetzt müssen wir aber einmal auf den Tisch hauen. - Das ist der altbekannte Alarmismus. Zahlen werden in den Raum geworfen. Es ist
von 5 000 Menschen die Rede, die ihre Staatsangehörigkeit verlieren. Es handelt sich um ein Optionsmodell, das
sich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt. Bis
zum Ablauf dieses Zeitraums ist definitiv eine Regelung
von der Regierung zu erwarten.
Es hat sehr lange gedauert, bis man sich auf dieses
Optionsmodell geeinigt hat. Es war im klassischen Sinne
des Wortes ein Kompromiss; verschiedene Positionen
mussten sich aufeinander zubewegen. Eines ist deshalb
klar: Nun bedarf selbstverständlich auch das Abwägen
der Folgen Zeit. Auch das Beseitigen ungewollter Folgen bedarf seiner Zeit. Gründlichkeit ist angesagt. Auch
hier gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir sollten definitiv abwarten.
Haben Sie Vertrauen in die Länder, die diese Regelungen vollziehen müssen! Ich glaube nicht, dass es zu
unabwendbaren Problemen kommen wird. Ich meine,
dass wir im Vertrauen auf die föderale Struktur in diesem
Land durchaus abwarten können.
({1})
Menschen in Deutschland, Autochthone wie Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte, halten dieses
Land nach wie vor für ein weltoffenes Land, für ein tolerantes Land, für ein Land, das Zuwanderer, Menschen,
die hier leben wollen, willkommen heißt. Trotzdem
muss man definitiv sagen dürfen: Die doppelte Staatsangehörigkeit hat nun einmal Nachteile. Reden wir doch
nicht drum herum: Selbstverständlich kann man die doppelte Staatsangehörigkeit nur bezogen auf die Länder akzeptieren, mit denen wir hochdiffizile, hochkomplexe
Doppelstaatsangehörigkeitsverträge abgeschlossen haben, in denen alle Fragen des täglichen Lebens abgeklopft wurden. Das gilt eben nicht für alle Länder.
Ich muss in diesem Zusammenhang Folgendes sagen:
Ein politisches Grundsatzprogramm, nach dem jeder alles darf - egal wie lange er hier ist, egal warum er hier
ist, er darf an allen Prozessen teilhaben -, klingt zwar angenehm und offen.
({2})
Es bedeutet aber absolute Beliebigkeit, und Beliebigkeit
befördert nicht die Zugehörigkeit. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist etwas Besonderes, und sie muss etwas
Besonderes bleiben, das zu erwerben sich lohnt.
({3})
Deshalb bleibt es dabei, dass wir versuchen, Mehrstaatigkeit zu vermeiden. Dass das nicht immer geht, ist
doch klar.
Wir mussten erkennen, dass es Menschen zerreißt
- das ist eine unangenehme Folge des Optionsmodells -,
die eine Zuwanderungsgeschichte haben - die haben
viele - und andererseits eine Sozialisierung in diesem
Land erlebt haben, die es ihnen möglich macht, auch zu
diesem Land eine emotionale Verbindung aufzubauen.
Genau das haben wir im Koalitionsvertrag geregelt,
nämlich dass es eine Mehrstaatigkeit für die Menschen
gibt, die hier in diesem Land sozialisiert werden, die hier
aufwachsen und definitiv hier in der Schule ihre Sozialisierung erleben. Das ist genau das, was wir tatsächlich
wollten. Jetzt den Vorwurf zu machen, man habe sein
Wort gebrochen, ist unangebracht. Darum geht es doch
überhaupt nicht. Es geht darum, dass man an dieser
Stelle deutlich sagt: Die Auswirkungen des Optionsmodells, die wir alle in dieser Härte nicht wollten, können beseitigt werden.
({4})
Deshalb kann ich nur sagen, dass wir versuchen müssen, den Menschen bei der Umsetzung auch einmal etwas zuzutrauen. Wir trauen nicht nur der eigenen Regierung zu, dass sie in einem angemessenen Zeitraum diese
Vorlage, über die wir reden können, machen wird, sondern wir trauen das auch den Ländern zu.
Bitte tun Sie uns einen Gefallen: Verwässern wir jetzt
nicht das Signal! Das Signal muss heißen: Menschen,
die durch ihre Familie eine Zuwanderungsgeschichte haben, sollen sich zu diesem Land zugehörig fühlen, sich
hier willkommen und beheimatet fühlen. Das sind sie,
wenn sie hier tatsächlich aufgewachsen sind. Diese
Menschen wollen wir nicht vor diese Zwangsentscheidung stellen. Das ist die Grundlage eines modernen
Staatsangehörigkeitsrechts.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. - Es spricht jetzt
als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der
Kollege Rüdiger Veit, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Frieser, ich muss, damit kein falscher Eindruck
aufkommt, vorsorglich einer Ausführung von Ihnen widersprechen. Das von Ihnen angesprochene Aufblühen
der guten, engen Beziehungen zwischen CDU/CSU und
SPD wird möglicherweise sogar länger als vier Jahre,
länger als diese Koalition, dauern.
({0})
- Vernunftehe, na ja. Darf ich das wiederholen, was Frau
Kollegin Jelpke eben schon gesagt hat? Sie benutzte in
Erinnerung an einen anderen Debatteninhalt - Stichwort
„Spracherwerb vor Ehegattennachzug“ - den Begriff
„Zwangsehe“.
({1})
Politisch jedenfalls haben wir uns das alle nicht gewünscht, aber wir machen das jetzt so. Wir müssen uns
natürlich immer noch ein bisschen daran gewöhnen. Ich
bitte um Nachsicht, wenn ich hier und da noch Zwischenrufe gegenüber Vertretern unseres Koalitionspartners mache und mehr oder weniger begeistert das eine
oder andere Mal klatsche, wenn Vertreter von Bündnis
90/Die Grünen oder der Linkspartei etwas sagen, das mir
im Prinzip aus dem Herzen spricht.
({2})
Gestern hat der Bundesinnenminister gesagt, ein Gesetzentwurf, wie er dieser Koalitionsvereinbarung entspricht, werde unverzüglich vorgelegt. Er hat das dann
juristisch völlig korrekt kommentiert und übersetzt,
indem er sagte: Unverzüglich heißt ohne schuldhaftes
Zögern. Ich würde mir wünschen, dass ein solcher Gesetzentwurf auch ohne jedes unverschuldete Zögern
möglichst bald kommt. Aber wenn Kollege Helmut
Brandt sagt, dass es in ein paar Wochen so weit ist, dann
bin ich da ganz optimistisch.
Eines ist doch völlig klar - das brauchen Sie uns nicht
immer wieder zu sagen; das wissen wir selber -: Wir
wollten - das war schon 1998 so - die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit. Das ist ja nun wirklich kein
Geheimnis. Übrigens bestand hier in unserer gesamten
Partei ein Konsens in einer Breite, wie es bei anderen
Themen durchaus nicht immer selbstverständlich ist.
({3})
Darf ich daran erinnern, Volker Beck, dass die FDP
uns damals nicht ein Hindernis in den Weg gelegt hatte,
sondern dass sie versucht hatte, zu helfen.
({4})
Denn aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse
im Bundesrat hieß es damals: Wenn wir keine Zustimmung im Bundesrat bekommen, ist die gesamte Reform
des Staatsbürgerschaftsrechts, die wir uns vorgenommen
hatten, im Eimer.
({5})
- Es war ein Preis. - Es war ein Kompromissvorschlag
des damaligen rheinland-pfälzischen Justizministers
Caesar, der uns dann diese Situation eingebrockt hat.
Wir wissen doch ganz genau, dass der Wegfall des
Optionszwanges bestenfalls nur 50 Prozent von dem darstellt, was wir uns eigentlich wünschen. Aber mehr war
in den Koalitionsverhandlungen eben nicht durchsetzbar.
Ich bedaure das außerordentlich, aber ich kann es nicht
ändern. Ich kann ja niemanden prügeln und sagen, dass
er seine Überzeugung gänzlich aufgeben und uns in der
Weise entgegenkommen muss, in der wir es für richtig
halten. Wir werden weiter Überzeugungsarbeit leisten.
Ich persönlich bin übrigens der Auffassung: Wenn
klar ist, dass nach jetzt geltendem Recht sowieso über
50 Prozent aller Einbürgerungen unter Hinnahme von
Mehrstaatigkeit erfolgen
({6})
und dass alle, die hier geboren werden und dadurch die
deutsche Staatsbürgerschaft erwerben, zwei Staatsbürgerschaften behalten können, dann ist es hoffentlich nur
eine Frage der Zeit, bis diejenigen, die das bisher verneinen, ein Einsehen haben und die generelle Hinnahme
von Mehrstaatigkeit akzeptieren.
({7})
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einem
Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
- im letzten Jahr herausgekommen - wissen wir, dass
zwei Drittel aller potenziellen Einbürgerungsbewerber
bzw. des Potenzials derer, die Bürger werden könnten,
sagen: Nein, ich stelle keinen Antrag auf Einbürgerung,
weil ich meine Staatsbürgerschaft nicht aufgeben
möchte. - Zwei Drittel! Bei einem Drittel all derer, die
das gemacht haben, ist das Bedauern, dass sie ihre aus490
ländische Staatsbürgerschaft aufgeben mussten, überdeutlich.
({8})
Das heißt also, es handelt sich dabei um ein Einbürgerungshindernis. Einbürgerungshindernisse können wir
alle nicht wollen.
({9})
Wir wollen, dass alle, die hier dauerhaft leben, an diesem Staatswesen und seiner Gestaltung mit allen bürgerlichen Rechten und Pflichten teilhaben können. Das setzt
nun einmal auch die deutsche Staatsbürgerschaft voraus.
Daran sollten wir weiterarbeiten. Wir brauchen im Verfahren allerdings keine weitere Mithilfe. Denn wir haben
sofort erkannt, dass in der Übergangszeit, die es bis zum
Inkrafttreten des neuen Rechts zwangsläufig geben wird,
die Situation eintreten kann, dass Antragsteller womöglich Gefahr laufen, ihre ausländische Staatsbürgerschaft
oder aber ihre deutsche, wenn sie nichts tun, zu verlieren, was im Lichte des neuen Rechts nicht geschehen
müsste.
Deswegen ist die Methode der Wahl, das zu tun, was
schon jetzt im Gesetz steht, nämlich eine Beibehaltungsgenehmigung zu beantragen.
({10})
Dabei ist allerdings Folgendes zu beachten - gleich,
Herr Kollege Beck -: Schon jetzt steht im Gesetz - ich
sage im Nachhinein, obwohl ich daran beteiligt war, dass
das ein Webfehler gewesen sein mag -, dass die Ausschlussfrist - dieses Wort steht ausdrücklich in Klammern im Gesetzestext -, die Vollendung des 21. Lebensjahres
Herr Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
- wenn ich den Satz beendet habe, ja -, dazu führt,
dass Menschen, die in der Tat Anspruch auf Beibehaltung ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft hätten, diesen Anspruch nicht mehr geltend machen können, wenn
sie diese Frist versäumt haben. Kluge Einbürgerungsbehörden, unter anderem das Darmstädter Regierungspräsidium, raten daher vorsorglich schon jetzt wie auch in
den vergangenen Jahren jedem, der dafür infrage
kommt, rechtzeitig einen Antrag auf Beibehaltungsgenehmigung zu stellen. Das muss nämlich vor Vollendung
des 21. Lebensjahres passiert sein; sonst ist der betreffenden Person nicht mehr zu helfen.
Insoweit stimme ich mit Ihnen überein. Ich finde allerdings, es wäre Aufgabe des Bundesinnenministers
wie der Landesinnenminister, die Ausländerbehörden
auf dieses Verfahren so hinzuweisen, dass es zu keinen
Entzugsentscheidungen mehr kommt.
Ist Ihnen bekannt, dass sowohl Bundesinnenminister
Friedrich nach der Bundestagswahl als auch Bundesinnenminister de Maizière auf eine schriftliche Frage von
mir geantwortet haben, das gegenwärtige Recht gelte
und man habe es gefälligst so zu vollziehen, wie es gilt,
und damit gemeint haben, dass die Optionspflicht weiterhin zum Entzug der Staatsangehörigkeit führen soll,
bis der entsprechende Gesetzentwurf verabschiedet ist?
Ich finde, diese Aussage ist unmöglich. Damit blamieren sich der Gesetzgeber und auch die Exekutive ein
Stück weit. Sind Sie wie ich der Meinung, dass es besser
wäre, der Bundesinnenminister würde einen Hinweis an
die Länder geben, dass sich durch das Verfahren, das Sie
beschrieben haben, ein Entzug der Staatsangehörigkeit
bei Optionspflichtigen vermeiden lässt?
({0})
Selbstverständlich, Herr Kollege Frieser, darf der jeweils amtierende Bundesinnenminister die Länderbehörden darauf hinweisen, dass sie das geltende Recht zu beachten haben. Er darf auch auf diese Möglichkeit, die die
Vorschriften schon jetzt eröffnen, hinweisen.
({0})
Die Kollegen wissen das zum Teil; aber man kann darauf noch einmal ausdrücklich hinweisen. Ich habe mir
erlaubt, im Kreise der A-Länder-Innenminister schon
einmal vorsorglich den Hinweis zu geben: Achtet darauf, dass eure Behörden entsprechend verfahren! Dann kann bei Beachtung des geltenden Rechts die von
uns beiden beklagte Rechtsfolge, dass jemand jetzt noch
seine deutsche Staatsbürgerschaft verliert oder aber die
ausländische - aus unserer Sicht: unnötigerweise - abgeben muss, vermieden werden. Vielleicht gibt es auch den
einen oder anderen, der das, was wir hier besprechen,
verfolgt; das sollen öffentliche Bundestagsdebatten ja so
an sich haben. Der kann das dann vielleicht auch entsprechend weitergeben. Ich jedenfalls kann nur dringend
dazu raten.
Ich weiß aus der Praxis, zum Beispiel von dem Leiter
der Darmstädter Behörde, dass es höchstärgerlich ist,
wenn die Behörde sieht, dass jemand problemlos die
ausländische Staatsbürgerschaft behalten könnte, man
ihn vor Vollendung des 21. Lebensjahres aber nicht erreicht, sodass er diesen Antrag nicht stellen kann. Es gibt
bei vielen anderen Fristen nach allgemeinen Vorschriften
die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorherigen
Stand. Diese Möglichkeit gibt es hier nicht. Wir haben
sogar - ich habe das schon gesagt - in das Gesetz geschrieben: Klammer auf, Ausschlussfrist, Klammer zu.
Deswegen ist eine vorbeugende Beratung der Ausländerbehörden jetzt unbedingt angezeigt. Ich bin aber zuversichtlich, dass sie entsprechend flexibel sein werden.
Unter Ausnutzung der letzten mir verbleibenden Sekunden Redezeit will ich noch sagen: Natürlich werden
wir uns gemeinsam auch Gedanken darüber machen, wie
Menschen, die auf der Grundlage des alten Rechtes eine
Staatsbürgerschaft verloren haben, möglicherweise wieder bessergestellt werden können. Ob wir mit unserem
Koalitionspartner in dieser Hinsicht weiterkommen,
werden wir sehen. Was ich eben andeutungsweise gehört
habe - wir würden mit dem Gesetzentwurf die Voraussetzungen für die hier geborenen Kinder nur erleichtern;
es sind mittlerweile übrigens 460 000 Optionskinder -,
hat mich ein bisschen alarmiert.
Herr Kollege Veit, Sie haben gesagt, Sie kommen
jetzt zum Schluss Ihrer Rede.
In der Tat. - Denn die Tatsache, in Deutschland unter
bestimmten Voraussetzungen des Aufenthalts der Eltern
geboren worden zu sein, ist nicht verwerflich und auch
nicht irgendwie rückgängig machbar. Schwierig wäre
auch, wenn akribisch nachvollzogen werden müsste
- durch wen auch immer -, dass sich der Betreffende die
ganze Zeit hier weiter aufgehalten haben muss. Wir müssen - das will ich noch einmal klar und deutlich sagen aufpassen, dass wir nicht ein Verwaltungsmonster gegen
ein neues austauschen.
Vielen Dank für Ihre Geduld, Herr Präsident.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/185 und 18/286 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/186 mit dem Titel „Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bis zur Abschaffung des Optionszwanges vermeiden“. Wer stimmt - ich bitte um das Handzeichen für diesen Antrag? - Wer stimmt gegen diesen Antrag? Wer enthält sich? - Dann stelle ich fest, dass gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken
mit den Stimmen von CDU/CSU und der Mehrheit der
Stimmen der Sozialdemokraten dieser Antrag abgelehnt
ist.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen ächten
Drucksache 18/287
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Inge Höger, Die Linke. - Sie haben das Wort,
Frau Kollegin.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Eine Welt frei von Atomwaffen ist keine Utopie,
sondern eine konkrete Verpflichtung der Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrages. Die Abrüstungserwartungen dürfen nicht erneut enttäuscht
werden. Deutschland kann national und international auf vielfältige Weise einen wirksamen Beitrag
zu einer Welt ohne Atomwaffen leisten.
So steht es in einem Antrag, den CDU/CSU, SPD, FDP
und Bündnis 90/Die Grünen im Jahre 2010 hier beschlossen haben.
Leider ist dieser Beschluss bisher folgenlos geblieben. US-Atomwaffen lagern weiterhin in RheinlandPfalz. Die Bundeswehr stellt weiterhin Kriegsflugzeuge
und Soldaten für den atomaren Erstschlag zur Verfügung. Deutsche Finanzinstitute unterstützen mit Milliarden Firmen, die an der Herstellung von Atomwaffen beteiligt sind. Diesen Wahnsinn akzeptiert die Linke nicht.
({0})
Im Oktober des vergangenen Jahres hat die Bundesregierung noch eins draufgesetzt: Dem Ersten Komitee der
UN-Vollversammlung lag eine Resolution zur Verurteilung von Atomwaffeneinsätzen vor. Deutschland hat
nicht zugestimmt. Begründet wird die Weigerung mit der
Mitgliedschaft in der NATO. Aber andere NATO-Staaten wie Norwegen, Dänemark und Island haben der UNResolution zugestimmt. Es geht also auch anders. Mit
dieser atomwaffenfreundlichen Politik muss endlich
Schluss sein.
({1})
Biologische und chemische Waffen werden bereits international geächtet. Richten Nuklearwaffen etwa weniger Schaden an? Im Gegenteil! Wir brauchen eine internationale Konvention zur Ächtung von Atomwaffen.
Wenn die Bundesregierung es wirklich ernst meint mit
ihrem Anspruch, international Verantwortung zu übernehmen, dann müsste sie sich den 79 Staaten anschlie492
ßen, die sich bei der UN bereits für eine Ächtung von
Atomwaffen ausgesprochen haben.
({2})
Ihre bisherige Politik hat nicht zu konsequenter nuklearer Abrüstung geführt. Ganz im Gegenteil! Die USAtomwaffen, die in Deutschland lagern, sollen sogar
modernisiert werden, sie sollen noch kriegstauglicher
werden.
Wenn Sie schon nicht auf die Linke hören, dann hören
Sie wenigstens auf die rheinland-pfälzische Landesregierung. Diese fordert nämlich den Abzug der Atombomben. Wenn man die Bomben vor der Nase hat, ist
man offensichtlich etwas kritischer als im entfernteren
Berlin.
({3})
Die geplante Neustationierung von US-Atomwaffen
in Büchel ist schon deshalb ein Skandal, weil dann andere Atomstaaten sich genötigt fühlen, nachzuziehen.
Die USA heizen den Rüstungswettlauf weiter an, und
Deutschland stellt die Infrastruktur dafür zur Verfügung.
Das ist unverantwortlich. Dazu zwei Zitate: Der Rüstungswettlauf
dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die
größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht,
dass Waffen …, anstatt Lösungen herbeizuführen,
neue und schlimmere Konflikte schaffen.
Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von Papst
Franziskus.
Und im Koalitionsvertrag lese ich nun, dass sich die
Große Koalition nicht mehr konkret für den Atomwaffenabzug aus Deutschland einsetzen will. Dort steht:
Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der NATO eine
Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran,
an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.
Sie stellen sich ganz offensichtlich voll hinter die
NATO-Strategie der nuklearen Abschreckung. Wollen
Sie wirklich Ihren außenpolitischen Einfluss mit der Androhung eines Atomkrieges vergrößern?
Die Linke und die Mehrheit der Menschen in
Deutschland hat ein entschiedenes Interesse an der Ächtung von Atomwaffen und an einer vollständigen und
schnellen Abrüstung.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ingo Gädechens,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Schon wieder beschäftigen wir uns mit einem
Antrag - ich könnte auch sagen: mit einem Schaufensterantrag - der Linken, der erneut an einer ernsthaften
Diskussion
({0})
über die deutsche Sicherheitspolitik eindeutig vorbeigeht.
Generell - das darf ich doch sagen - sind wir uns parteiübergreifend einig, dass sich gerade Deutschland für
eine weltweite Abrüstung eingesetzt hat
({1})
und weiterhin einsetzen wird. Die CDU/CSU-Fraktion
hat - Frau Höger, Sie haben es erwähnt - 2010 auch für
den Abzug der taktischen Nuklearwaffen in Absprache
mit unseren Bündnispartnern gestimmt.
({2})
Darüber hinaus hat sich die letzte und wird sich die jetzige Bundesregierung mit guten Argumenten und ganzer
Kraft im Bündnis für Abrüstungsinitiativen einsetzen.
({3})
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Linken, fordern in Ihrem Antrag eine Ächtung von Atomwaffen.
({4})
Hier bin ich ja ein gutes Stück bei Ihnen; denn hier besteht ja, wie gesagt, ein fraktionsübergreifender Konsens
im Bundestag. Das wurde in vielen Debatten auch sehr
deutlich artikuliert.
({5})
Sie haben es ja erwähnt, aber lesen Sie doch noch einmal ganz in Ruhe nach, was CDU/CSU, SPD, FDP - damals noch - und Bündnis 90/Die Grünen hier mit einem
Antrag eingebracht haben. Lesen Sie meinetwegen auch
noch einmal die Regierungserklärung der Kanzlerin aus
dem März 2009 nach. Das sind ganz konkrete Ansagen.
({6})
Sie beklagen, dass bis jetzt nichts passiert ist. Anscheinend legen Sie den Antrag immer auf Wiedervorlage. Warum Sie das tun, erkläre ich Ihnen gleich noch.
Das ist und bleibt ein Schauantrag.
Sie wollen außen- und sicherheitspolitische Fragen
nicht und schon gar nicht ernsthaft mit uns erörtern.
({7})
Sie möchten ausschließlich Ihre Klientel befriedigen,
nach dem Motto: Schaut her, wir machen da etwas. Nein, meine Damen und Herren der Linken, Sie tun
nichts. Sie rauben uns die Zeit, in der wir in diesem
Hause über Wichtigeres diskutieren könnten.
({8})
Eines verrät der Antrag der Linken allerdings sehr
deutlich: Sie stellen unsere Bündnispartnerschaft und
Solidarität immer und immer wieder infrage. Sie machen
das mit System,
({9})
und zwar deshalb, um so Ihre Anhänger mit fragwürdigen Anträgen und Aussagen zu bedienen.
({10})
Das ist nicht nur billig, sondern wird diesem wichtigen
Thema auch nicht gerecht.
({11})
Abrüstung und Nichtverbreitung sind seit jeher ein
Schwerpunkt deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
({12})
Friedenspolitik, Rüstungskontrolle und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen: Das ist seit langem - ich wiederhole mich - Grundkonsens in diesem
Haus.
({13})
Wir wollen und werden an dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt festhalten,
({14})
und wir arbeiten daran. Das haben CDU, CSU und SPD
- hier müssen Sie einmal ein bisschen genauer lesen - so
auch im Koalitionsvertrag festgehalten.
Gleichzeitig ist zu beachten, dass solange Kernwaffen
als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, Deutschland ein Interesse daran hat, an den strategischen Diskussionen und
Planungsprozessen teilzuhaben.
({15})
Wenn man das Ziel einer weltweiten Abrüstung vor
Augen hat, dann muss man sich auch die richtigen Wegmarken setzen; denn wir alle wissen, dass Abrüstungspolitik einen langen Atem und viel Diplomatie braucht.
Wir benötigen dabei keinen linken Aktionismus,
sondern möchten verbindliche und dauerhafte Rüstungskontrollen gemeinsam mit geeigneten multilateralen Anstrengungen erreichen.
({16})
Gerade deshalb haben wir uns auch auf dem Gipfel von
Chicago gemeinsam mit unseren NATO-Partnern das
Ziel gesetzt, die Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen zu schaffen.
Nachdem innerhalb der NATO die Anzahl der Nuklearwaffen um 95 Prozent reduziert wurde, mussten wir
leider feststellen, dass sich die Zahl der Nuklearakteure
und deren Arsenale ebenso wie die Risiken der Proliferation weltweit erhöht haben. Solange das nicht wirkungsvoll verhindert wird und Staaten wie Nordkorea und der
Iran über Atomwaffen verfügen oder den Besitz anstreben, besteht auch für uns eine ernstzunehmende Gefahr,
der wir entschlossen etwas entgegensetzen müssen.
Deshalb ist die NATO-Strategie der nuklearen Abschreckung nach wie vor notwendig.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zur
nuklearen Teilhabe Deutschlands sagen: Unser Land beteiligt sich aus gemeinsamer Verantwortung und Bündnissolidarität an dieser Strategie der Abschreckung, von
der wir hoffen, dass sie nie Realität werden wird.
Deutschland signalisiert damit Verlässlichkeit. Ein einseitiger Ausstieg hätte eine verheerende Signalwirkung
in Bezug auf Deutschlands Solidarität und unser Ansehen in der Welt.
Dass den Linken das egal ist, wird heute einmal mehr
deutlich. Uns ist das nicht egal. Wir tragen Verantwortung. Deshalb ist der Antrag der Linken abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka
Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Gädechens, ich finde die Debatte um Abrüstungspolitik ist keine Zeitverschwendung, sondern sie ist
sehr lohnend.
({0})
Sie können die Zeit ja nutzen, um die konkreten Initiativen der neuen Bundesregierung hierzu darzustellen.
({1})
Ich finde es schon paradox: Auf der einen Seite will
Deutschland sich international für nukleare Abrüstung
und für die Vision einer atomwaffenfreien Welt einsetzen.
({2})
- Doch, ich auch. Aber auf der anderen Seite sind zwei
Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges in Büchel in
der Eifel noch immer ungefähr 20 US-amerikanische
Atomwaffen stationiert. Statt sie abzuziehen, wollen die
USA diese Bomben nun modernisieren. Hinter dem
schönen Wort „Modernisierung“ versteckt sich in diesem Fall eine völlig neue militärische Ausstattung dieser
Massenvernichtungswaffen. Sie sollen noch schlagkräftiger, noch präziser und, wie ich finde, damit noch
gefährlicher werden. Hier wird Abrüstung versprochen
und de facto Aufrüstung betrieben und das auf Kosten
der Sicherheit.
({3})
Zusätzlich werden dem deutschen Haushalt durch die
Modernisierung Millionensummen aufgebürdet. Nach
wie vor stellt die Bundeswehr mit den Tornados Trägermittel für einen möglichen Einsatz zur Verfügung. Diese
müssten für viel Geld diesen neuen Bomben angepasst
werden. Das ist finanzieller wie sicherheitspolitischer
Irrsinn.
({4})
Auch in den Niederlanden lagern US-amerikanische
Atomwaffen. Dort hat das Parlament sich aber getraut,
diesen Modernisierungsplänen eine klare Absage zu erteilen. Die Abgeordneten haben beschlossen, dass die
Kampfflugzeuge in Zukunft keine Atomwaffen mehr
transportieren dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich lade Sie herzlich ein, dem niederländischen Beispiel
zu folgen.
({5})
Aber der schwarz-roten Bundesregierung fehlt es
offensichtlich schon zu Beginn der Legislaturperiode an
dem Willen, sich ernsthaft für den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen. In
Ihrem Koalitionsvertrag ist nur von einer Unterstützung
der Abrüstungsgespräche zwischen den USA und
Russland die Rede. Wollen Sie das ernsthaft eine „neue
Dynamik für Abrüstung“ nennen? Das fällt doch sogar
weit hinter die Ankündigungen von Schwarz-Gelb zurück, die sich dazu im Koalitionsvertrag klar geäußert
hatten. Das finde ich persönlich sehr beschämend.
Gerade von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, bin ich wirklich sehr enttäuscht. In den letzten
Jahren haben wir an dieser Stelle Schwarz-Gelb immer
gemeinsam kritisiert. Wir haben den Modernisierungsplänen eine deutliche Absage erteilt und den Abzug der
Atomwaffen gefordert. Sie haben auch im Wahlkampf
den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, sich bei
einem Wahlsieg mit Nachdruck für dieses Ziel einzusetzen. Dass Sie sich jetzt von diesem Ziel verabschiedet
haben, finde ich nicht nur mutlos, sondern leichtfertig.
({6})
Was ich in keiner Weise nachvollziehen kann, ist das
Handeln der Bundesregierung in einer anderen Frage. Im
Oktober letzten Jahres haben 124 UN-Mitgliedstaaten
eine Erklärung zu den verheerenden humanitären Folgen
eines Atomwaffeneinsatzes unterschrieben. In dieser Erklärung heißt es - ich zitiere -:
Es ist im Überlebensinteresse der ganzen Menschheit, dass Atomwaffen nie wieder und unter keinen
Umständen eingesetzt werden.
({7})
Ich finde es unfassbar, dass eine deutsche Bundesregierung hierzu die Zustimmung verweigert hat, und
zwar mit der Begründung, die Formulierung „unter
keinen Umständen“ stünde im Widerspruch zu der Abschreckungskomponente des strategischen Konzeptes
der NATO. - Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst
sein.
({8})
Gerade multilaterales und verantwortungsvolles Handeln wäre es doch, diese Erklärung zu unterstützen. Andere NATO-Mitgliedstaaten wie Norwegen, Dänemark
und Island haben dieser Erklärung zugestimmt. Ich
finde, diesen Weg sollte die Bundesregierung auch gehen.
({9})
Es ist allerhöchste Zeit für eine neue Dynamik des
Handelns und nicht des Aufgebens. Wir schulden es
nicht zuletzt den nachfolgenden Generationen, dass die
US-amerikanischen Atomwaffen endlich aus Deutschland abgezogen werden und wir so auch unseren eigenen
Beitrag zu einer atomwaffenfreien Welt leisten.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Wolfgang Hellmich,
SPD, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem vorhin das Mobiliar meiner Begeisterung für die Rede des
Kollegen Mißfelder nicht standgehalten hat, bitte ich
Sie, vorsichtig mit dem Mobiliar umzugehen, damit
nicht noch mehr passiert.
({0})
Ich freue mich, dass es seit dem Oktober letzten Jahres in der Bundesrepublik Deutschland einen Regierungswechsel gegeben hat, und ich freue mich, dass in
dem Koalitionsvertrag, der dieser Regierung zugrunde
liegt, das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle als
Schwerpunktthema deutscher Außen- und Sicherheitspolitik festgehalten ist.
Ziel ist und bleibt die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie langfristig eine nuklearwaffenfreie Welt. Die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands setzt sich seit ihrer Gründung für Frieden,
Sicherheit und Stabilität ein. Dies wird sie auch weiterhin tun, auch in einer Großen Koalition, und das ist deutlich sichtbar.
Sehr geehrte Damen und Herren, die drängenden Fragen, die damit verbunden sind, stehen im Fokus dieser
Außenpolitik. Ich freue mich, dass dabei die Handschrift
unseres neuen Außenministers Frank-Walter Steinmeier
sehr deutlich zu erkennen ist. Wir machen wieder
Außenpolitik. Wir reden nicht nur darüber.
({1})
Solange Kernwaffen ein Instrument im strategischen
Konzept der NATO sind, so lange wird sich Deutschland
an den Diskussionen dazu beteiligen und auch an den
Planungsprozessen teilhaben, und das mit einem klaren
Ziel: Atomwaffen beseitigen, und zwar nicht nur auf einer Seite, sondern auf allen Seiten.
Unsere Bundesregierung muss und wird neue Impulse
für Abrüstung und Rüstungskontrolle geben. Lösungen
für mehr Transparenz und die Verhinderung von Proliferation werden wir im Bündnis suchen. Zusammen mit
unseren Verbündeten können wir langfristig international durchsetzbare Erfolge erzielen, aber eben in diesem
Bündnis. Insofern begrüße ich die Worte des französischen Präsidenten François Hollande, der eine engere
Zusammenarbeit mit Deutschland in der Verteidigungspolitik anstrebt und angekündigt hat. Frankreichs Staatschef hat erklärt, er wolle eine deutsch-französische Partnerschaft, die sich für ein Europa der Verteidigung
einsetzt und gemeinsam Verantwortung für Frieden und
Sicherheit in der Welt übernimmt. Dem kann ich mich
nur anschließen.
({2})
- Warten Sie einen Moment ab! - Dazu muss aber auch
gehören, über das französische Potenzial an Nuklearwaffen zu reden. Nehmen wir diese Initiative auf und sprechen wir direkt mit unseren Nachbarn. Auf parlamentarischer Ebene gibt es diese Kontakte und Gespräche. Die
Kontakte sind geknüpft. Vielleicht kann jetzt in einem
neuen Ansatz zu einem europäischen Weißbuch der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Thema Abbau
von atomarer Bewaffnung auch in Frankreich aufgenommen werden. Ich bin angesichts der Diskussion, die es in
Frankreich gibt, sehr zuversichtlich.
Herr Kollege Hellmich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Brugger?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, lieber Kollege Hellmich. Ich wollte nur
fragen - vielleicht mag auch der Kollege Hahn gleich in
seiner Rede darauf eingehen -, ob Sie bereit wären, mit
uns allen in diesem Haus gemeinsam eine Entschließung
ähnlich der des niederländischen Parlaments einzubringen und zu sagen: Wir wollen nicht, dass die Bundeswehr für die neuen modernisierten Atomwaffen Trägermittel zur Verfügung stellt. Diesen Punkt haben Sie als
SPD-Fraktion in den letzten vier Jahren immer wieder
auf die Tagesordnung gebracht und diesen Modernisierungsplänen eine klare Absage erteilt. Wir finden, das
wäre eine sehr schöne interfraktionelle Initiative. Auch
in der letzten Legislaturperiode ist es uns gelungen, mit
allen Fraktionen etwas für die Abrüstung und die Vision
einer atomwaffenfreien Welt auf den Weg zu bringen,
die wir alle teilen.
Frau Kollegin, ich bin sehr gerne bereit, mit allen
Fraktionen in diesem Parlament darüber zu diskutieren.
Bevor eine Entschließung beschlossen wird, lese ich den
Text, und dann rede ich darüber, ob wir das gemeinsam
beschließen oder nicht. Auf jeden Fall bin ich mir sehr
darüber im Klaren, dass die Grundlage dessen, was wir
in der Vergangenheit gemeinsam beschlossen haben
- Sie haben vorhin mehrere Beschlüsse zitiert -, ihre
Gültigkeit nicht verloren hat und dass wir uns daran
orientieren werden. Das ist die gemeinsame Position, die
wir formuliert haben.
Wir werden sehen, was bei dieser Diskussion herauskommt. Wir werden uns im Laufe der nächsten Monate
auch innerhalb des Verteidigungsausschusses - ich
denke, spätestens dann, wenn es um die NATO geht - an
vielen Stellen über diese Fragen unterhalten, wie wir gemeinsam weiter vorangehen werden.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, kooperative Sicherheitsstrukturen sind für mich Strukturen, die immer auch
Russland mit einbeziehen müssen. Ein Abbau von
Atomwaffen kann nur unter Einbeziehung Moskaus
erfolgen. Kooperation beginnt mit Vertrauen. Ohne ein
tiefes Vertrauen zwischen Russland, den USA, der
NATO und Europa wird eine Abrüstung auch im konventionellen Bereich nicht zu erreichen sein. Einen
wichtigen Schritt hat die NATO mit der Einrichtung des
Abrüstungsausschusses und der strukturierten Diskussion getan. Wir unterstützen das. Denn wir wissen:
90 Prozent aller Atomwaffen in der Welt entfallen auf
die USA und Russland. Die übrigen 10 Prozent und ihre
weltweite Verteilung machen die Lage nicht sicherer. Im
Gegenteil: Sie machen sie unsicherer. Das ist die Herausforderung, vor der wir zusammen mit unseren Verbündeten stehen. In unserem Koalitionsvertrag steht klar
und deutlich, dass Deutschland bei den Abrüstungsgesprächen nicht nur dabei sein wird, sondern sie auch engagiert unterstützen wird, damit es in den Verhandlungen zwischen den USA und Russland einen Fortschritt
gibt; denn dort liegt der Schlüssel für die Entwicklung,
die wir weltweit in Gang setzen wollen. Das Ziel muss
eine Nulllösung sein, auch bei den substrategischen Nuklearwaffen.
Vielleicht kennen Sie die neueste Studie des amerikanischen CNS-Instituts, das sich auf Untersuchungen zur
Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen konzentriert. Laut dieser Studie werden die USA in den
nächsten 30 Jahren die schwer vorstellbare Summe von
1 Billion Dollar in den Erhalt und die Modernisierung
ihres Atomwaffenarsenals investieren. Unter anderem
sollen 80 bis 100 neue Überschalllangstreckenbomber
für Atomwaffen entwickelt und gebaut werden. Abrüstung sieht für mich in der Tat anders aus. Darauf werden
wir hinweisen und darüber werden wir diskutieren müssen.
Wir werden unseren Blick in die Türkei wenden müssen; denn fast unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit
wurde ein Vertrag geschlossen, gemäß dem die Türkei
mit einem weiteren Atomkraftwerk aus Japan ausgestattet und die Urananreicherung in der Türkei aufgebaut
werden soll, und zwar über das vertraglich vorgesehene
Maß hinaus. Es gibt dafür keinen zwingenden Bedarf.
Ankara sagt immer: Wir wollen keine Atomwaffen. Ich bin mir nicht sicher, ob über andere Optionen nachgedacht wird. Auch darüber müssen wir reden, und zwar
auch innerhalb der NATO. Schließlich geht es um einen
Bündnispartner.
Richten wir den Blick nach Osten, dann sehen wir,
dass Russland die Aufrüstung im substrategischen Bereich sehr intensiv betreibt. Wenn die russischen atomwaffenfähigen Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander
nach Westen in die Nähe von Kaliningrad verlegt und
entlang der Grenze zu den baltischen Staaten aufgestellt
werden, führt das in dieser Region zu einer weiteren Militarisierung sowie zu neuer Angst und mehr Unsicherheit gerade in den baltischen Staaten. Es ist Gegenstand
unserer diplomatischen Beziehungen, sich auch damit
auseinanderzusetzen und mit Russland darüber zu reden.
Reden ist der entscheidende Punkt in diesem Konzept.
Es geht darum, miteinander zu sprechen.
({1})
Wir werden im Rahmen internationaler Bündnisse
wie dem NATO-Russland-Rat insbesondere die Anrainerstaaten Russlands bei ihrem Dialog mit Moskau unterstützen. Außerdem muss die Bundesrepublik als Mitglied der Europäischen Union auf mehr Kohärenz in der
europäischen Russlandpolitik hinwirken. Russland zufolge wurden die Raketen nach Westen verlegt, um sich
gegen einen von den USA in Osteuropa geplanten Raketenschild zu wehren. Im gleichen Atemzug betonen die
USA und die NATO, dass ein Raketenschild nicht gegen
Russland gerichtet ist und nur der Verteidigung insbesondere gegen iranische Trägermittel diene. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich Sicherheit in Europa nur
mit und nicht gegen Russland erzielen lässt. Darauf
muss der Dialog aufgebaut sein.
Die Fortschritte, die es im Iran gegeben hat, sind
schon genannt worden. Sie zeigen - zusammen mit der
Entwicklung in Syrien -, dass Fortschritte im Bereich
der Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht von heute
auf morgen zu erzielen sind. Nur eine breit angelegte
Strategie der Konfliktreduzierung und -vermeidung, der
Krisenprävention und der Reduzierung von Massenvernichtungswaffen wird über Verträge hinaus zu weniger
Atomwaffen - sei es in Form von Bomben, Sprengköpfen oder Munition - führen.
Wir werden uns für eine Modernisierung einer verbindlichen und transparenten Rüstungskontrolle in Europa und weltweit einsetzen. Letztendlich wollen wir die
vollständige Implementierung des Kleinwaffenabkommens der Vereinten Nationen erreichen; denn Kleinwaffen töten weltweit mehr Menschen als jede andere Waffengattung. Dieser Weg wird von der Bundesregierung
verfolgt und ist Linie der Außenpolitik. Weil das der
richtige Weg ist, brauchen wir den Antrag der Linken
nicht. Wir stimmen ihm nicht zu.
Vielen Dank.
({2})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU, dem ich
hiermit das Wort erteile.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! „Atomwaffen ächten“, das klingt immer
gut. Auf den ersten Blick rennen die Linken mit diesem
Antrag offene Türen ein. Wir sind uns alle schließlich einig, dass wir den Einsatz von Atomwaffen verurteilen
und dass Abrüstung und Nichtverbreitung wesentliche
Elemente der deutschen Sicherheitspolitik sind. Sieht
man jedoch genauer hin, stellt man fest, dass dieser Antrag undifferenziert ist und meilenweit an der Realität
vorbeigeht. Einseitige Aufkündigungen von Vereinbarungen, wie sie die Linke verlangt, sind in einer auf
Konsens und Solidarität angelegten NATO nicht möglich, es sei denn, man möchte wie die Linke dieses
Bündnis kaputtmachen.
Veränderungen der Politik bedürfen eines ordentlichen Abstimmungsprozesses und letztlich einer einvernehmlichen Regelung im NATO-Rat. Deutschland hat
sich als Mitglied der NATO zur nuklearen Teilhabe verpflichtet. Das heißt, ungeachtet der Tatsache, dass
Deutschland frühzeitig auf Produktion, Herstellung und
Einsatz nuklearer Waffen verzichtet hat, sichert sich unser Land damit eine Mitsprache bei der Planung des Einsatzes von nuklearen Einsatzmitteln durch die NATO.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Mitsprache insbesondere zur Zeit des Kalten Krieges sehr wichtig für uns
war. Deutschland stand damals an der Nahtstelle zwischen den beiden militärischen Blocksystemen NATO
und Warschauer Pakt.
Deshalb ist Ihr Vorwurf gegen die Bundesregierung,
dem Antrag Neuseelands bei der UN-Vollversammlung
nicht zugestimmt zu haben, kurzsichtig; denn eine ZuFlorian Hahn
stimmung hätte uns das Mitspracherecht in der Planning
Group der NATO gekostet. Nicht nur Deutschland, sondern die Mehrheit unserer NATO-Partner und vor allem
unsere engsten Verbündeten Frankreich, Großbritannien
und die USA haben diesen Antrag ebenfalls abgelehnt.
Deutschland hat sich daher mit 15 weiteren Staaten einer
von Australien vorgelegten alternativen Erklärung angeschlossen. Diese äußert ebenfalls große Besorgnis über
die Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes, ohne aber
die Legitimität der Abschreckung infrage zu stellen. Sie
macht deutlich, dass die Abschaffung der Kernwaffen
per Dekret wenig erfolgversprechend ist.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich setzt sich
die Regierung nach wie vor weiter für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowohl von konventionellen als auch von Massenvernichtungswaffen
ein. Wir wollen jedoch keine einseitige, sondern eine
globale Abrüstung. Deshalb haben wir uns gemeinsam
mit unseren NATO-Partnern auf dem Gipfel von Chicago zum Ziel gesetzt, die Bedingungen für eine Welt
ohne Kernwaffen zu schaffen und bis dahin die Rolle
von Nuklearwaffen zu reduzieren. So steht es übrigens
auch in unserem Koalitionsvertrag. Natürlich unterstützt
die Bundesregierung auch das Ziel der Einrichtung einer
massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten
und setzt sich aktiv für Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft ein. Sie wird sich auch dafür einsetzen, dass
zwischen den USA und Russland Verhandlungen zur
Abrüstung im substrategischen Bereich beginnen.
Mit diesen verschiedenen abrüstungs- und allianzpolitischen Fragen setzen wir uns seit Jahren auseinander, und wir werden das auch in Zukunft tun. Das lässt
sich nicht alles über Nacht erledigen. Deutschland ist in
eine moderne und komplexe Sicherheitsarchitektur eingebunden, die nicht von heute auf morgen komplett abrüsten kann. Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir müssen schauen, was andere Länder tun. Was passiert in
Russland, was passiert im Iran, was passiert in Pakistan?
Wie werden sich die Chinesen in Zukunft positionieren?
Ich sage deshalb: Ja, wir wollen abrüsten, jedoch gemeinsam mit unseren Bündnispartnern und im Rahmen
einer globalen Abrüstung, wohlüberlegt und abgestimmt
und nicht in einem unüberlegten, einseitigen Vorpreschen. Zu dem Vorschlag, den die Kollegin Brugger gemacht hat, kann ich sagen: Wir werden über alle Vorschläge, die Sie machen, diskutieren. Wir haben dazu die
entsprechenden Instrumente im Deutschen Bundestag.
Ich würde sagen, wir sehen uns dann im Verteidigungsausschuss wieder.
Vielen Dank.
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Mit dem Ende der Rede des Kollegen Hahn schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/287 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Freitag, den 17. Januar 2014, 9 Uhr,
ein.
Danke schön, ich wünsche Ihnen einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.