Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/15/2015

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle zur ersten Plenarsitzung im neuen Jahr und nutze die Gelegenheit gerne, Ihnen auch auf diesem Wege noch einmal persönlich alles Gute für das begonnene neue Jahr zu wünschen. Seit der letzten Sitzungswoche haben die Kollegin Azize Tank ihren 65. Geburtstag sowie die Kollegin Barbara Lanzinger und der Kollege Ralf Kapschack ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des gesamten Hauses möchte ich hierzu herzlich gratulieren und für das neue Lebensjahr alles Gute wünschen. ({0}) Der Kollege Wolfgang Tiefensee hat sein Bundestagsmandat niedergelegt. Für ihn ist der Kollege Detlef Müller nachgerückt, der bereits in der 16. Legislaturperiode Mitglied des Deutschen Bundestages war. Für den verstorbenen Kollegen Andreas Schockenhoff hat die Kollegin Ronja Schmitt die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Schließlich ist der Kollege Thorsten Hoffmann für den ausgeschiedenen Kollegen Ronald Pofalla als Mitglied des Deutschen Bundestages nachgerückt. Ich darf Sie im Namen des Hauses herzlich begrüßen und wünsche uns und Ihnen eine gute Zusammenarbeit. ({1}) Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die SPDFraktion schlägt vor, als ordentliches Mitglied des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen den Kollegen Johann Saathoff als Nachfolger für den Kollegen Dirk Becker zu berufen. - Dagegen gibt es offenkundig keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Saathoff als ordentliches Mitglied des Beirats gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Bundeshaushalt 2014 ohne neue Schulden ({2}) ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin anlässlich der Terroranschläge in Frankreich ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gute Ernährung für alle Drucksache 18/3733 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({3}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden Drucksache 18/3314 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Innenausschuss ({6}) Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem Präsident Dr. Norbert Lammert Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären Drucksache 18/3647 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({7}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Griechenlands Zukunft im Euro-Raum Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 3 - Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ - wird von der heutigen Tagesordnung abgesetzt. Stattdessen wird die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung anlässlich der Terroranschläge in Frankreich abgeben. Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 18. Dezember 2014 ({8}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Personalrechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen Bundespost Drucksache 18/3512 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Der am 14.November 2014 ({11}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({12}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung ({13}) Drucksache 18/3121 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({14}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Der am 18. Dezember 2014 ({15}) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({16}), dem Innenausschuss ({17}) und dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({18}) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, Claudia Roth ({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Iguala ist kein Einzelfall - Zur Menschenrechtslage in Mexiko Drucksache 18/3552 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({20}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Der am 18. Dezember 2014 ({21}) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({22}), dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({23}) und dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({24}) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheitsabkommen brauchen Standards Drucksache 18/3553 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({25}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Sind Sie mit diesen Veränderungen der Tagesordnung einverstanden? - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche wurde Frankreich von brutalen terroristischen Anschlägen erschüttert. 17 Menschen wurden skrupellos ermordet, andere zum Teil lebensgefährlich verletzt: Journalisten, Künstler und Polizisten, die für die Republik ihren Dienst taten, unter ihnen ein Muslim, sowie vier Franzosen jüdischen Glaubens. Die Ereignisse haben uns alle schockiert und empört; denn wir haben sofort verstanden: Der Mordanschlag von Paris galt nicht allein einer bestimmten Zeitung und den Menschen, die sie machen, er galt der Freiheit der Meinung und der Presse. Er war ein demonstrativer Angriff auf die freie und offene Gesellschaft, auf unsere geschriebene und ungeschriebene Verfassung, unsere Überzeugungen und unsere Werte. Wir fühlen uns mit unseren französischen Freunden verbunden im Schmerz und in der Trauer um die Opfer, aber auch in der Entschlossenheit, dieser Herausforderung gemeinsam zu begegnen. Franzosen und mit ihnen Menschen überall in der Welt, auch viele Deutsche, geben seit Tagen eine ebenso entschiedene Antwort auf Präsident Dr. Norbert Lammert diesen Angriff auf die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die demonstrativ erhobenen Stifte und Plakate als Zeichen für das freie Wort, die millionenfach geteilte Parole „Je suis Charlie“, „Ich bin Journalist, bin Jude, bin Polizist, bin Ahmed“, vermitteln die unmissverständliche Botschaft: „Nous sommes tous Charlie“. Wir alle sind gemeint. Wir lassen uns nicht einschüchtern, und schon gar nicht werden wir die Prinzipien aufgeben, die seit der Französischen Revolution gemeinsame Grundlage der europäischen Zivilisation geworden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. ({26}) Wir sind überzeugt: Wenn es Freiheit geben soll, muss sie für alle gelten. Wenn es Gleichheit geben soll, muss sie für alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten bedeuten, unabhängig von Herkunft, Glaube und Geschlecht. Wenn Brüderlichkeit mehr ist als ein Wort, muss sie sich in Solidarität für die Schwächeren, die Ärmeren, die Benachteiligten in unseren Gesellschaften ausdrücken. Demokratie ist die in Europa gewachsene Verfassung der Freiheit. Aber wir wissen auch, zumal aus der langen schwierigen eigenen Geschichte, dass Freiheit nur möglich ist, wenn Zweifel erlaubt sind: Zweifel an dem, was wir kennen, was wir gelernt haben, was wir wissen und zu wissen glauben, was wir zu glauben gelernt haben. Der Zweifel ist der Zwillingsbruder der Freiheit. Ohne Zweifel an tradierten Positionen und Kritik an bestehenden Verhältnissen gibt es weder Fortschritt noch Freiheit. Deshalb hat die Freiheit der jeweils eigenen Meinung, der Rede, der Kunst und nicht zuletzt der Presse eine herausragende, unaufgebbare Bedeutung für die Lebensbedingungen in unseren demokratisch verfassten Gesellschaften. Deshalb werden wir sie von niemandem zur Disposition stellen lassen. ({27}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entschlossenheit braucht es über den Tag hinaus; denn die Bedrohung ist nicht eingebildet, sie ist real, jederzeit und überall, auch bei uns. Wir werden in Staat und Gesellschaft stärker als bisher vorbeugend handeln müssen, wollen wir verhindern, dass junge Männer und auch Frauen für den Islamismus und Dschihadismus anfällig werden und frustriert, verblendet und verführt von Deutschland aus für eine menschenverachtende Ideologie in einen gottlosen Krieg ziehen. Mit Kulturkampf hat Terrorismus sicher nichts zu tun, mit Religion schon gar nicht. Unser Gegner ist nicht der Islam, sondern der Fanatismus, ({28}) nicht Religion, sondern Fundamentalismus. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass es längst einen erbitterten Machtkampf in der islamisch geprägten Welt gibt, der wenig mit Religion, aber viel mit platten Herrschaftsansprüchen zu tun hat. Wer in Deutschland die angebliche „Islamisierung des Abendlandes“ auf öffentlichen Straßen und Plätzen proklamiert, betreibt Demagogie statt Aufklärung. ({29}) Wer wirklich an Aufklärung interessiert ist, muss sich als Christ fragen, ob er Muslimen vorurteilslos und aufgeschlossen gegenübertritt und ihnen einen gleichberechtigten Platz in unserer Gesellschaft ermöglicht. Wem unter den Muslimen über rhetorische Floskeln hinaus tatsächlich an Aufklärung gelegen ist, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, warum noch immer im Namen Allahs Menschen verfolgt, drangsaliert und getötet werden. ({30}) Diese Herausforderung, meine Damen und Herren, begegnet uns allerdings nicht nur als unerklärliche und unentschuldbare Tat verirrter einzelner Fanatiker. Auch mit staatlicher Autorität wird im Namen Gottes gegen Mindeststandards der Menschlichkeit verstoßen. Saudi-Arabien hat wie beinahe alle Länder dieser Welt das Attentat in Paris „als feigen Terrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“, und zwei Tage später den Blogger Raif Badawi in Jeddah öffentlich auspeitschen lassen. Wegen Beleidigung des Islams und Auflehnung gegen die Autoritäten ist er zu tausend Peitschenhieben verurteilt worden, die nach dem Urteil in den nächsten 20 Wochen alle acht Tage vollzogen werden sollen. Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islam nicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös begründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun, reicht nicht aus - und sie ist auch nicht wahr, ebenso wenig wie die beschwichtigende Behauptung, die Kreuzzüge hätten nichts mit dem Christentum zu tun und die Inquisition auch nicht und die Hexenverbrennung natürlich auch nicht. Die Zusammenhänge sind jeweils offenkundig. Die Frage, wie die gezielte Demütigung und Vernichtung von Menschen im Namen Gottes überhaupt möglich ist, und die noch wichtigere Frage, wie sichergestellt werden kann, dass so etwas nie wieder geschieht, sind durch Tabuisierung nicht zu beantworten. ({31}) Umso notwendiger und wichtiger ist die eindeutige Stellungnahme von führenden Repräsentanten islamischer Vereine und Verbände, wie wir sie am Dienstagabend am Brandenburger Tor eindrucksvoll erlebt haben. Deshalb möchte ich den Veranstaltern und allen Teilnehmern an dieser Kundgebung meinen Dank und unseren Respekt ausdrücken. ({32}) Ich freue mich, dass heute Morgen an dieser Veranstaltung im Deutschen Bundestag neben den Botschaftern Frankreichs und Israels Repräsentanten aller Religionsgemeinschaften teilnehmen, die ich herzlich bei uns begrüße. ({33}) Meine Damen und Herren, religiöse Orientierungen haben für gesellschaftliches wie für politisches Handeln weltweit keineswegs an Bedeutung verloren, sondern offensichtlich zugenommen. Religion und persönliche Präsident Dr. Norbert Lammert Glaubensüberzeugungen gehören auch zur Lebenswirklichkeit in Deutschland als einem säkularen Staat. Das friedliche Zusammenleben von Menschen, Völkern, Nationen und Kulturen ist aber nur möglich auf der Basis von Verständigung, Verständnis und Toleranz. Deshalb ist die Ermutigung zum Dialog richtig. Ein solcher Dialog von Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und mit unterschiedlicher kultureller Herkunft hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Bereitschaft besteht, zuzuhören, dazuzulernen und unterschiedliche Überzeugungen wechselseitig zu respektieren. Auch und gerade in liberalen Gesellschaften gilt, dass die wechselseitige Rücksichtnahme im privaten wie im öffentlichen Leben das Zusammenleben erleichtert. Es ist auch Politikern zumutbar, Journalisten und Künstlern nicht weniger, mit den Freiheitsrechten unserer Verfassung verantwortlich umzugehen und Rücksicht zu nehmen auf das, was anderen buchstäblich heilig ist. ({34}) Die ganz große Mehrheit in unserem Land bekennt sich zur religiösen Vielfalt, zur weltoffenen Gesellschaft. Deutschland steht zu seiner humanitären Verpflichtung, Menschen, die traumatisiert dem Krieg und immer häufiger dem islamistischen Terror entkommen sind, Schutz zu bieten, und es nimmt im internationalen Bündnis seine Aufgabe wahr, Staaten und Völkern, die unter dem Terror leiden, beizustehen. Über unsere Betroffenheit angesichts des Anschlags in Frankreich vergessen wir nicht, dass zeitgleich unschuldige Menschen, darunter vor allem Muslime, zu Tausenden Opfer des Terrorismus werden, unvorstellbare Verbrechen mit unglaublichen Begründungen, in Nigeria, in Pakistan, in Syrien oder dem Irak - jeden Tag! Wir alle müssen die Werte der westlichen Demokratie, die längst universelle Werte der Menschheit geworden sind, gemeinsam verteidigen, und wir werden ihre Gegner entschlossen bekämpfen. Die Idee der unantastbaren Würde des Menschen wird am Ende stärker sein als ideologisch verblendeter Hass. ({35}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere besondere Solidarität gilt in diesen Tagen unseren französischen Freunden. Unser tiefes Mitgefühl ist bei allen Angehörigen der Getöteten und bei den vielen Verletzten. Ich bitte Sie, sich im Gedenken an die Opfer, als Zeichen unseres Respektes, unserer Anteilnahme und unserer Solidarität von den Plätzen zu erheben. ({36}) Ich danke Ihnen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin anlässlich der Terroranschläge in Frankreich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 60 Minuten vorgesehen. - Hierzu stelle ich Einvernehmen fest. Dann verfahren wir so. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({37})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sind erschüttert und fassungslos über den Tod von 17 unschuldigen Menschen, die am Mittwoch der vergangenen Woche in Paris dem blanken Hass des internationalen Terrorismus zum Opfer gefallen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer, den Verletzten und dem französischen Volk. Ich habe Präsident Hollande das tiefempfundene Beileid der Menschen in Deutschland übermittelt. Deutschland und Frankreich verbindet eine besondere Freundschaft. Deutschland und Frankreich stehen in diesen schweren Tagen zusammen. Deutschland und Frankreich stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass es hier, bei uns in Deutschland, keine Sicherheit gibt, wenn es dort, in Frankreich, keine Sicherheit gibt. Wir stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass das deutsche und das französische Schicksal in unserer globalisierten Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Wir stehen auch in dem Bewusstsein zusammen, dass der Terror nicht erst mit dem 11. September 2001 in die Welt gekommen ist und dass er auch nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Terror war nie weg. Terror hat immer existiert: in den Konzentrationslagern, in den Gulags, in den Morden an Walther Rathenau oder Matthias Erzberger, in den Morden an Martin Luther King, an Zoran Djindjic, an Hanns Martin Schleyer oder in den schrecklichen Morden des NSU. Diese Aufzählung ist beileibe nicht vollständig, schon gar nicht systematisch; darauf kommt es mir auch gar nicht an. Terror steckt auch in den Bomben auf Deutsche, die in Tunesien Urlaub machen wollten, oder in den Bomben, die in Bussen zündeten, die durch israelische Städte fuhren. Terror steckt auch in der beklemmenden Abfolge der Mordtaten, die wir allein im letzten Jahr erleben mussten: in der Enthauptung von Geiseln im Irak, in der grausamen Verfolgung und Ermordung aller, die sich der Herrschaft und der totalitären Glaubensauslegung des IS im Irak und in Syrien entgegenstellen, im Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel, in den tödlichen Schüssen auf einen kanadischen Soldaten vor dem Parlament in Ottawa, in der Geiselnahme und Ermordung von Mitarbeitern und Gästen eines Cafés in Sydney, in dem auch in seiner Dimension kaum fassbaren Massenmord an mehr als 100 Kindern in einer Schule in Pakistan, in den Gräueltaten der Gruppe Boko Haram in Nigeria, deren ganzes Ausmaß wir nur erahnen können. Nun, zu Beginn des neuen Jahres, hat der Terror Paris erschüttert. Er richtete sich gegen drei Gruppen von Menschen: gegen die Journalisten von Charlie Hebdo, ermordet für ihre Zeichnungen, gegen die Polizisten, ermordet in Ausübung ihres Dienstes, gegen die Kunden eines koscheren Supermarkts, ermordet, weil sie Juden waren oder die Mörder davon ausgingen, dort Juden anzutreffen. In den schlimmen Stunden, die Paris und die Franzosen zwischen Mittwochmittag und Freitagnachmittag der letzten Woche durchlitten, ging es um zwei der großen Übel unserer Zeit, die nicht immer, aber häufig Hand in Hand gehen: um mörderischen islamischen Terrorismus und Antisemitismus, den Hass auf Juden. Wir gedenken heute hier im Bundestag der 17 bei diesen Anschlägen ermordeten Menschen. Das weltweite Entsetzen über die Anschläge und der Trotz, mit dem viele reagiert haben, hatten schnell zwei Symbole: „Je suis Charlie“, die Plakate, die die Menschen als Zeichen ihrer Identifikation mit der Satirezeitung hochhielten, und die Zeichenstifte, das Werkzeug der Karikaturisten. Millionen Menschen aus aller Welt spüren, dass es in der Auseinandersetzung mit den Terroristen um eine unserer Grundfreiheiten geht: um die Freiheit der Presse, die Freiheit, zu schreiben, zu filmen, zu veröffentlichen - ohne Zensur. Es ist der Artikel 5 unseres Grundgesetzes, der diese Freiheit garantiert. Er gehört für mich neben dem Artikel 1 zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen, dem Artikel 2 zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem Artikel 3 zur Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und dem Artikel 4 zur Freiheit des Glaubens zu den größten Schätzen unserer Gesellschaft. ({0}) Die Pressefreiheit ist nicht zu trennen von der Meinungsfreiheit des einzelnen Bürgers. Ja, Bürger sein und nicht Untertan, das ist doch nur möglich, wenn es eine freie Presse gibt, wenn wir ungehindert an die Informationen kommen können, die uns eine eigene Meinung, ein eigenes Urteil erlauben. Viele Staaten auf der Welt haben sich auf dem Papier ihrer Gesetze und Verfassungen der Pressefreiheit verschrieben. Die Wirklichkeit spricht oft eine andere Sprache: „Reporter ohne Grenzen“ listet für 2014 66 Journalisten auf, die wegen ihrer Arbeit getötet wurden, 119 Entführungen, 178 Journalisten in Haft. „Reporter ohne Grenzen“ schreibt, die Morde an Journalisten würden immer grausamer, und die Zahl der Entführungen wachse rasant. Aus zu vielen Ländern gibt es von verfolgten, gequälten und ermordeten Journalisten zu berichten. Pressefreiheit auf dem Papier ist also noch nicht viel wert, sie ist immer konkret, sonst gibt es sie nicht. In viel zu vielen Ländern dieser Welt gibt es sie nicht. Wir in Deutschland, wir in Europa haben wahrlich keinen Grund, mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen, zu leidvoll war das jahrhundertelange Blutvergießen auf unserem Kontinent, bis hin zum von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Schoah. Aber wir können nach all den Schrecken der Vergangenheit davon erzählen, dass wir in Europa endlich einen Umgang mit unserer Vielfalt gelernt haben, der aus dieser Vielfalt das meiste macht. Wir können davon erzählen, dass die Eigenschaft, die uns dazu befähigt hat, die Toleranz ist. Sie ist eine anspruchsvolle Tugend. Sie ist nicht mit Standpunktlosigkeit zu verwechseln, wie auch die Freiheit niemals mit Bindungslosigkeit zu verwechseln ist, sondern stets und für jeden mit Verantwortung verbunden ist. Das gilt für unser persönliches Leben wie für die Politik wie auch für die Medien; das gilt für alle. Freiheit und Toleranz haben niemals das geringste Verständnis für Gewalt durch Links- oder Rechtsextremismus, für Antisemitismus oder für Gewalt im Namen einer Religion. Freiheit und Toleranz sind ihre eigenen Totengräber, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützen. Religionsfreiheit und Toleranz meinen nicht, dass im Zweifelsfall die Scharia über dem Grundgesetz steht. Freiheit und Toleranz bedeuten nicht wegsehen oder das Messen mit zweierlei Maß. Ich bin am Sonntag zusammen mit meinen Kollegen aus der Bundesregierung, den Ministern Sigmar Gabriel, Thomas de Maizière und Frank-Walter Steinmeier, in Paris gewesen. Auch die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Hans-Peter Friedrich, und die Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Simone Peter und Cem Özdemir, waren da, um den Millionen von Franzosen auf den Straßen und Plätzen Frankreichs zu zeigen: Deutschland fühlt sich ihnen in Freundschaft und Solidarität nah. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Mörder von Paris mit ihren Taten jeden mitfühlenden Menschen angewidert und abgestoßen haben, dann haben die mehr als 3 Millionen Menschen in Paris und anderen französischen Städten am Wochenende wie auch die Menschen vorgestern bei der Mahnwache am Brandenburger Tor diesen Beweis geliefert. ({1}) Es ist ein Meer von Freiheitsfreunden, die im Angesicht der Verbrechen das Gemeinsame ineinander entdecken - vielleicht klarer als je zuvor -, ein Meer von Bürgern, die sich aufrichten, wenn der Terror sie in die Knie zwingen will, ein Meer von Menschen, das sich nicht der kranken Logik der Terroristen folgend in christlich, muslimisch, jüdisch, nichtgläubig spalten lässt. Auch wir in Deutschland wollen und werden uns nicht spalten lassen. Wir lassen uns nicht spalten von denen, die heute Menschen in Deutschland anpöbeln, bedrohen und angreifen, wenn sie sich irgendwie als Juden zu erkennen geben oder für den Staat Israel Partei ergreifen. Wir machen unmissverständlich klar: Jüdisches Leben gehört zu uns, es ist Teil unserer Kultur und Identität. Diskriminierung und Ausgrenzung dürfen bei uns keinen Platz haben. ({2}) Deshalb werden wir antisemitische Straftaten konsequent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgen. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist unsere staatliche und bürgerliche Pflicht. Das gilt genauso auch für Angriffe auf Moscheen. Auch sie nehmen wir nicht hin, auch sie werden konsequent verfolgt; denn wir lassen uns nicht von denen spalten, die angesichts des islamistischen Terrors Muslime in Deutschland unter einen Generalverdacht stellen. Jede Ausgrenzung von Muslimen in Deutschland, jeder Generalverdacht, verbietet sich. ({3}) Als Bundeskanzlerin nehme ich die Muslime in unserem Land dagegen in Schutz, und das tun wir in diesem Hause alle. ({4}) Die allermeisten Muslime in Deutschland sind rechtschaffene, verfassungstreue Bürger. Wir müssen hier zweierlei auseinanderhalten: Wir garantieren, dass der Glaube des Islam in Deutschland im Rahmen unserer Verfassung und der übrigen Gesetze frei ausgeübt werden kann, und wir bekämpfen jede Form islamistischer Gewalt mit der ganzen Entschlossenheit unseres Rechtsstaates. Das bedeutet unter anderem: Erstens. Hassprediger und Gewalttäter, die im Namen des Islam vorgehen, ihre Hintermänner und geistigen Brandstifter des internationalen Terrorismus werden mit aller Konsequenz und mit allen Mitteln bekämpft, die uns als Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Zweitens. Die Bundesregierung hat gestern die Einführung eines Ersatz-Personalausweises beschlossen, der nicht zum Verlassen Deutschlands berechtigt. Damit wollen wir die Ausreise deutscher Staatsbürger in Konfliktgebiete und Terrorlager unterbinden; denn wir betrachten das Phänomen der Ausreise zumeist junger Menschen, die sich in Syrien und im Irak terroristischen Gruppierungen anschließen, mit großer Sorge. Diejenigen, die später nach Deutschland zurückkehren, haben mit ihrer zunehmenden Verrohung auch für uns in Deutschland das größte Gefahrenpotenzial. Drittens. Die Bundesregierung wird in Kürze das Gesetzesvorhaben des Justizministers zur verbesserten Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung und zur Strafbarkeit der Ausreise in Konfliktgebiete beschließen. Es handelt sich hierbei um die Umsetzung der entsprechenden UN-Resolution. Viertens. Der Europäische Rat im Februar 2015 wird sich auch mit den Maßnahmen befassen, die die Innenminister von elf EU-Mitgliedstaaten am letzten Wochenende in Paris beraten haben: Maßnahmen zum Kampf gegen den illegalen Waffenhandel, zur Zusammenarbeit der Transitstaaten, zur Überwachung der Reisebewegungen an den EU-Außengrenzen und zum Abgleich der Fluggastdaten von Gefährdern. Fünftens. Wir müssen den Sicherheitsbehörden insgesamt die erforderliche personelle und finanzielle Ausstattung verschaffen, die sie benötigen, um unsere Sicherheit bestmöglich zu gewährleisten. ({5}) Wir müssen sie in die Lage versetzen, ihre Arbeit auch unter veränderten Lageanforderungen und veränderten technischen Rahmenbedingungen zu erbringen. Dem dient auch die Novelle des Bundesverfassungsschutzgesetzes, und ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um allen, die sich um die Sicherheit unseres Landes verdient machen, ein herzliches Dankeschön zu sagen. ({6}) Sechstens. Der Europäische Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht haben den Rahmen beschrieben, in dem eine Regelung der Mindestspeicherfristen für Kommunikationsdaten erfolgen kann. Angesichts der parteiübergreifenden Überzeugung aller Innenminister von Bund und Ländern, dass wir solche Mindestspeicherfristen brauchen, sollten wir darauf drängen, dass die von der EU-Kommission hierzu angekündigte überarbeitete EU-Richtlinie zügig vorgelegt wird, um sie anschließend auch in deutsches Recht umzusetzen. ({7}) Siebtens. Bei der Arbeit unserer deutschen Nachrichtendienste und auch bei der Zusammenarbeit mit unseren Partnerdiensten muss ohne jeden Zweifel stets die Balance von Freiheit und Sicherheit gewahrt werden. Aber ebenso ohne jeden Zweifel ist und bleibt der Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg für unsere Sicherheit absolut unverzichtbar. ({8}) Achtens. Deutschland wird sich als Teil der internationalen Gemeinschaft unvermindert politisch, humanitär sowie mit militärischer Ausrüstung und Ausbildung am Kampf gegen die Terrormiliz IS im Irak oder in Syrien beteiligen. Unsere Beteiligung wird nicht in Syrien stattfinden, aber die IS ist dort tätig. Neuntens. Wahrlich nicht zuletzt müssen wir darauf hinwirken, dass sich junge Menschen bei uns gar nicht erst von extremistischen Rattenfängern angesprochen fühlen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb vielfältige Aktivitäten und Projekte, die Toleranz fördern, Sozialkompetenz und Demokratieverständnis stärken, gerade auch für die Jugend- und Elternarbeit. Wir müssen bereits in den Familien allen Formen extremistischer Diskriminierung und Gewalt den Boden entziehen. Meine Damen und Herren, Terroristen sagen, sie wollten den Staat und seine Repräsentanten, den Westen, ein System oder wie immer es heißt, treffen. Auslöser soll eine misslungene Kindheit, eine misslungene Schulkarriere, persönliche Zurücksetzung sein. Andere sagen, außerdem sei Religion im Spiel. - Nein, all das überzeugt mich nicht. Jeder Terrorist, der eine Explosion auslöst oder der Schüsse abgibt, weiß, dass er Menschen trifft, die er in der Regel nicht einmal kennt, die ihm nichts getan haben, die ihm nichts schuldig sind. Jeder Terrorist trifft daher eine eigene persönliche Entscheidung, für die er die Verantwortung übernehmen muss. Sie kann mit einer misslungenen Kindheit nicht gerechtfertigt werden. Sie hat auch mit Religion insgesamt nichts zu tun. ({9}) Wahrscheinlich hat sie mit einer speziellen Auslegung von Religion zu tun, die in der Anmaßung besteht, an der Stelle Gottes handeln, strafen, töten zu dürfen. Das aber ist für mich Gotteslästerung; nichts anderes. ({10}) Die tatsächlichen Beweggründe von Terrorismus liegen anderswo. Sie liegen in der Überzeugung, über anderen zu stehen, weil man meint, Gottes Stellvertretung zu sein, weil man eine historische Mission haben will, weil man überzeugt ist, durch Glaube, Herkunft, Abstammung, Geschlecht über anderen zu stehen. Die allermeisten Menschen in Deutschland sind keine Feinde des Islam. Sie sind in ihrem Urteil unsicher, auch ratlos. Sie sind nicht mit dem Koran aufgewachsen, ich persönlich auch nicht. Sie tun sich schwer damit, wenn ich den Gedanken des früheren Bundespräsidenten Wulff unterstütze, als er zum Tag der Deutschen Einheit im Jahre 2010 sagte - ich zitiere ihn noch einmal -: Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung, ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. ({11}) Die Menschen fragen mich, welcher Islam gemeint ist, wenn ich diesen Gedanken zitiere. Sie wollen wissen, warum Terroristen den Wert eines Menschenlebens so gering schätzen und ihre Untaten stets mit ihrem Glauben verbinden. Sie fragen, wie man dem wieder und wieder gehörten Satz noch folgen kann, dass Mörder, die sich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit dem Islam zu tun haben sollen. Ich sage ausdrücklich: Das sind berechtigte Fragen. Ich halte eine Klärung dieser Fragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, und ich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewichen werden. ({12}) Meine Damen und Herren! Wir alle haben Fremdbilder im Kopf. Niemand von uns ist ohne Fremdbilder. Sie bestehen aus Erfahrungen, Gehörtem, aus ungeprüften eigenen Vorstellungen, auch aus Ängsten. Sie sind teils richtig und teils falsch. Bei manchen werden Fremdbilder zu Feindbildern. Das lässt sich durch Aufklärung und Kennenlernen verhindern. Langfristig hilft nur Demokratie als Lebensprinzip. In der Schule können Heranwachsende lernen, wie Standpunkte zu entwickeln sind und dass das bessere Argument am Ende zählt. In den Schüler- und Jugendvertretungen kann gelernt werden, wie legitime Ansprüche durchgesetzt und Kompromisse geschlossen werden. Auch Betriebs- und Personalräte können Schulen der Demokratie sein, ebenso Sportvereine, in denen erfahren werden kann, wie das Einhalten von Regeln allen dient. In den Städten und Gemeinden engagieren sich unzählige Bürger unseres Landes. Sie beraten, weil sie Bescheid wissen. Viele finden den Weg in die Kommunalparlamente. Sie stellen sich der Wahl der Bürgerinnen und Bürger. Tausende verbringen ihre Freizeit damit, sich in der Kirchenarbeit zu engagieren. Bis ins hohe Alter arbeiten Frauen und Männer für andere, sorgen sich darum, dass Altersgenossen mit Lebensmitteln versorgt werden, begleiten sie, bringen Patienten in Krankenhäusern Lesestoff und setzen sich an ein Bett, um ein Gespräch zu beginnen. Diese Bürgerinnen und Bürger, sie sind die stillen Helden unseres Lebens. ({13}) Wir sollten unsere Gesellschaft wachrütteln für dieses Lebensprinzip der Demokratie: für das Mitreden, Mitentscheiden, Hilfeleisten und dafür, Verantwortung zu übernehmen. Kaum etwas ist wichtiger für unser Lebensgefühl als die Erfahrung, geschätzt, gebraucht und in dieser großen zivilen Gemeinschaft der Freiheit und Verantwortung respektiert zu werden. Das ist unser Gegenentwurf zur Welt des Terrorismus, und er ist stärker als der Terrorismus. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich stimme Ihnen bei der schärfsten Verurteilung der erlebten Terroranschläge in vollem Umfange zu. Ich begrüße auch die gemeinsame Verurteilung durch den Bundestag, halte diese allerdings für selbstverständlich. Diese Attentate sind ein Angriff auf die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und das Recht auf Leben. Es ist völlig legitim, Satire mal als geschmackvoll, mal als geschmacklos einzuschätzen. Aber Satire darf alles, sonst kann sie ihren Charakter nicht austragen. ({0}) Ein großes Erlebnis war für mich die Mahnwache am Brandenburger Tor auf Einladung der muslimischen Verbände. Die gemeinsame Verurteilung der terroristischen Akte durch Christinnen und Christen, Muslima und Muslime, Jüdinnen und Juden, Atheistinnen und Atheisten, kurz: durch die gesamte Gesellschaft, war ein wichtiger Akt. Wir müssen nun allerdings den Missbrauch der Terroranschläge durch die Anführer der Pegida-Bewegung verhindern. ({1}) Ein demokratisches, tolerantes und weltoffenes Zusammenleben mit friedlichen Bürgerinnen und Bürgern, auch mit anderer Kultur und anderen Religionen, muss gefördert werden. Die große Mehrheit der Menschen ging für diese Ziele auf die Straße. Pegida spricht für eine Minderheit, nicht für das Volk. Die große Mehrheit denkt und handelt völlig anders. ({2}) Deshalb ist es wichtig, dass wir Pegida geschlossen verurteilen. Niemand sollte versuchen, zum halben parlamentarischen Arm dieser Bewegung zu werden. ({3}) Es existieren abstrakte Ängste vor dem Fremden. Mitläufer, die keine Nazis sind, müssen wir für die Gesellschaft zurückgewinnen; das wird schwer genug. Wir brauchen eine gemeinsame Aufklärungskampagne durch ein Aufklärungsbündnis aller Fraktionen im Bundestag, aller kirchlichen Konfessionen und aller Gewerkschaften zusammen mit der Kunst, der Kultur, dem Sport und den Wissenschaften. ({4}) Aber die Hauptverantwortung liegt bei der Politik. Ich sage das hier so offen: Beim Abbau von Ängsten haben wir alle versagt. Wir sollten diesbezüglich selbstkritisch über uns nachdenken. ({5}) Menschen in Not brauchen Hilfe. Staat und Gesellschaft sind verpflichtet, ihnen zu helfen. Das gilt nicht nur für durch Krieg und Bürgerkrieg traumatisierte Flüchtlinge, sondern auch für alle Bürgerinnen und Bürger, die in große Not geraten sind. Deshalb müssen wir allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, wie Sie es getan haben, Frau Bundeskanzlerin, danken, die so viel Zeit damit zubringen, Flüchtlingen und anderen zu helfen. ({6}) Aber ich füge hinzu: Die Demonstrantinnen und Demonstranten von Pegida würden, wenn sie in der gleichen Situation wären wie die Flüchtlinge, ebenso Hilfe verlangen und erwarten und wahrscheinlich auch bekommen. Der Ruf der Union nach stärkeren Geheimdiensten sowie schärferen Gesetzen und insbesondere nach einer Vorratsdatenspeicherung löst - das gilt auch für das, was Sie dazu gesagt haben, Frau Bundeskanzlerin - die Probleme nicht, im Gegenteil. ({7}) Dieser Versuch wurde jedes Mal unternommen und blieb wirkungslos. In Frankreich gibt es eine umfassende Erfassung von Vorratsdaten sowie eine sehr enge Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizei. Das schreckliche Attentat konnte so aber nicht verhindert werden. Das Gegenteil ist richtig: Umfassende Bürgerrechte und eine stärkere Demokratie sind wichtige Voraussetzungen im Kampf gegen den Terrorismus. ({8}) Der Terrorismus, für den der Islam missbraucht wird, hat Ursachen. Al-Qaida und „Islamischer Staat“ sind auch Folge und Produkte von Militärinterventionen. AlQaida entstand im Krieg in Afghanistan während der Besatzung durch die Sowjetunion. Damals rüsteten die USA die Taliban und diese Terrorgruppe im Kampf gegen die Sowjetunion auf nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Nach dieser Logik wurde auch im Bürgerkrieg in Syrien verfahren. Die USA, Saudi-Arabien, Katar und andere Golfstaaten unterstützten Terrororganisationen im Kampf gegen Assad. Der „Islamische Staat“ entstand. Erst spät, viel zu spät wurde diese offene Unterstützung eingestellt. Der Irakkrieg von 2003 war völkerrechtswidrig und ein großer Fehler mit verheerenden Folgen. ({9}) Wenn wir die Ursachen und Bedingungen von Terrorismus wirksam bekämpfen wollen, dann heißt das für uns: Wir müssen weltweit für die Achtung des Rechts auf Leben eintreten. ({10}) Das wiederum verlangt, zu begreifen: Erstens. Die Strategien von NATO und den USA, Regimewechsel und die Durchsetzung ökonomischer Interessen von außen durch Krieg herbeizuführen, sind nicht nur gescheitert. Im Krieg wird Leben vernichtet. Dadurch entsteht eine Verachtung des Rechts auf Leben. Diese Verachtung ist eine Bedingung des Terrorismus. Im Krieg entsteht mehr und neuer Hass, der zur Verachtung von Leben, aber auch zur Bereitschaft zu Terrorismus führen kann. Wenn als Kollateralschaden eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan getötet wird, was, glauben Sie von Union, SPD und Grünen denn, entsteht im Umfeld: Freundschaft, Dankbarkeit oder Hass? Man kann anderen Gesellschaften auch nicht eine andere Kultur aufzwingen. Der Afghanistan-Krieg sollte al-Qaida zerstören. Diese Terrororganisation ist aber nur umgezogen nach Pakistan und hat dort gerade über 100 Kinder getötet. Not und Elend in Afghanistan haben sich vergrößert. Sie alle wissen, dass Ihre Entscheidung für den Afghanistan-Krieg falsch war, haben aber nicht den Mut, das einzuräumen und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen. ({11}) Ohne die genannte falsche Aufrüstung in Syrien und ohne den falschen Irakkrieg gäbe es den „Islamischen Staat“ nicht, zumindest nicht so, wie er heute existiert. ({12}) Die Staaten in Libyen, im Irak, im Sudan und in Somalia sind zerstört. Wer Terrorismus überwinden will, muss Kriege stoppen. ({13}) Deutschland darf sich nie wieder an Kriegen beteiligen und - wie beim Jugoslawien-Krieg - das Völkerrecht über Bord werfen. Zweitens. Die deutschen Waffenexporte, zumindest die an Diktaturen und in Kriegs- und Krisengebiete, müssen doch unverzüglich gestoppt werden, auch und gerade an das auspeitschende Saudi-Arabien. ({14}) Drittens. Terrorismus nutzt auch Hunger, Armut, Elend und Bildungsnotstand oder die Angst der Menschen, in Hunger, Armut, Elend oder Bildungsnotstand abzustürzen, aus. Der Kampf gegen Hunger, Armut, Elend und Bildungsnotstand ist also nicht nur aus humanistischen Gründen, nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit erforderlich, sondern auch, um begünstigende Bedingungen für den Terrorismus zu überwinden, um die Achtung für Menschenleben zu erhöhen. ({15}) Jedes Jahr sterben auf der Erde 70 Millionen Menschen und davon 18 Millionen an Hunger oder den Folgen von Hunger, obwohl wir weltweit Nahrungsmittel besitzen, die die Menschheit zweimal ernähren könnten. Wir können die Fragen der Hungernden nicht beantworten, wir müssen den Hunger endlich überwinden. ({16}) Es entsteht immer mehr Reichtum in immer weniger Händen, während sich andererseits die Armut weltweit verbreitet, auch in Europa, auch in Deutschland. Wir brauchen eine andere Entwicklungspolitik für die Krisenregionen, die Not und Elend überwindet, die Entwicklung ermöglicht; nicht die Interessen der eigenen Konzerne dürfen der Maßstab sein. Das ist übrigens auch die beste Friedenspolitik und die beste Politik zur Bekämpfung von Ursachen von Flucht. Viertens. Auch die Menschheitsfragen wie die Nachhaltigkeit in der Ökologie, die Verhinderung einer Klimakatastrophe müssen endlich gelöst werden. Wenn gerade bei großen Staaten ökonomische Interessen den Vorrang haben, dann bringt das eine Verachtung zum Recht auf Leben zum Ausdruck. Wir brauchen also, wenn wir Terrorismus wirksam bekämpfen wollen und auch aus vielen anderen Gründen, gerade in den USA und im gesamten Westen und auch hier in Deutschland eine Wende in der Politik. Lassen Sie uns die Situation ernst nehmen und gemeinsam über Konsequenzen beraten. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Kotting-Uhl das Wort.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Gysi, ich hatte mich zu einer Zwischenbemerkung gemeldet, als Sie davon geredet haben, dass der Kriegseinsatz in Afghanistan mit ursächlich für den Terrorakt verantwortlich ist, der vor kurzem passiert ist, und für den Terror insgesamt, den wir erleben. Ich möchte mich als eine Parlamentarierin, die nie für diese Einsätze in Afghanistan war, die keinem dieser Einsätze je zugestimmt hat, sondern sie immer konsequent abgelehnt hat, und zwar mit einer Argumentation, in der Sie, die Fraktion Die Linke, und ich uns durchaus nahe stehen, gegen die Unterstellung verwahren, dass das gesamte Parlament mit Ausnahme der Fraktion Die Linke diesen heutigen Terror mitverursacht hat. Der Terror war vor dem Einsatz in Afghanistan da. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den Anschlägen von Paris wollten die Terroristen nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa Angst und Schrecken verbreiten. Das war ein Angriff auf die freie Presse, das war der Versuch, freie Menschen in einer offenen Gesellschaft einzuschüchtern, aber das ist den Terroristen nicht gelungen; sie haben ihr Ziel nicht erreicht. ({0}) Denn die Franzosen haben am Sonntag die stärkste Antwort gegeben, die man sich vorstellen kann. Sie haben nicht nach Vergeltung und Rache gerufen, sie haben nicht den Polizeistaat gefordert, sondern Millionen sind auf die Straße gegangen, um zu trauern, aber auch um klar zu zeigen: Wir lassen uns von den Terroristen nicht spalten, wir stehen zusammen, wir bieten dem Terror die Stirn, und wir verteidigen die Freiheit, die Demokratie und die Menschlichkeit. ({1}) Frankreich hat damit der Welt eindrucksvoll gezeigt, dass Freiheit und Demokratie stärker sind als die zerstörerischen Kräfte von Terror und Hass. Ich finde, dafür müssen wir den Franzosen dankbar sein. ({2}) Die Terroranschläge in Paris lenken den Blick auch auf die Situation der Muslime in Deutschland; denn sie haben es in diesen Zeiten schwer. Ihr Glaube, ihre Religion, der Islam, wird durch die tägliche Berichterstattung über die Kriege im Nahen Osten und in Afrika nur noch in der hässlichen Fratze des Dschihadismus dargestellt und wahrgenommen. Abend für Abend setzen sich diese Bilder in den Köpfen fest. Dass sich die Terroristen auf den Islam berufen und damit das religiöse Empfinden vieler friedlicher Muslime mit Füßen treten, das ist eigentlich schon schlimm genug. Wenn jetzt aber Millionen friedfertiger Muslime in Deutschland in einen Topf mit Terroristen geworfen werden, dann ist das eine unverantwortliche politische Brandstiftung. ({3}) Wir alle wissen: Das kann leicht zu einer Eskalation der Gewalt führen. Deshalb müssen wir uns jetzt vor die Muslime stellen. ({4}) Die Organisation Pegida und ihre Demonstranten fordere ich auf, endlich aufzuhören mit der Stimmungsmache gegen Andersgläubige und gegen Einwanderer in Deutschland. ({5}) Diese Leute hätten dem Bundespräsidenten zuhören sollen, als er am Dienstag auf dem Pariser Platz gesagt hat: Egal ob Juden, Christen, Muslime oder Nichtgläubige: „Wir alle sind Deutschland!“ - Das sollte sich Pegida zu Herzen nehmen. ({6}) Ich freue mich, dass an die 100 000 Menschen in Leipzig, in München, in Hannover, in Berlin und in anderen Städten auf die Straße gegangen sind und dagegen demonstriert haben. Das zeigt, dass die demokratische Mitte in Deutschland die unsäglichen Aktionen von Pegida nicht länger widerspruchslos hinnehmen will. ({7}) Aber wir müssen uns auch fragen, warum sich über 500 junge Menschen aus Deutschland islamistischen Terrormilizen angeschlossen haben. Der islamistische Terror übt mit seiner Ideologie von Gewalt, Macht und Märtyrertum offenbar eine große Anziehungskraft auf immer mehr junge Menschen aus. Unter dem Deckmantel der Religion nutzt er die Schwäche junger Menschen. Wer keinen Schulabschluss hat, wer keine Arbeit findet, wer ein schwaches Selbstwertgefühl besitzt, wer sich ausgegrenzt fühlt und keine Aufstiegschancen hat, der ist anfälliger für eine solche Ideologie. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das in keiner Weise Terror und Gewalt rechtfertigen kann. Aber richtig ist trotzdem: Ausgrenzung ist immer der Nährboden für Radikalisierung. Deshalb müssen wir diese Radikalisierung im Ansatz verhindern. ({8}) Deshalb ist es gut, dass die Jugendministerin die Mittel für Prävention aufgestockt hat. Wir haben alle notwendigen arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Wir müssen die Jugendlichen fördern und fordern, und wir müssen sie aus dieser Ecke herausholen, bevor die salafistischen Hassprediger sie dort abholen können. ({9}) Dabei müssen uns selbstverständlich auch die muslimischen Verbände in Deutschland unterstützen. Meine Damen und Herren, Prävention hilft vor allem auf lange Sicht. Aber im Augenblick müssen wir sagen: Was in Paris passiert ist, das kann überall in Europa passieren. Wir hier in Deutschland hatten sicher auch Glück. Aber in den vergangenen Jahren ist es gelungen, mehrere Anschläge zu verhindern. Ich habe deshalb Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden und möchte ihnen ausdrücklich für ihre schwierige Arbeit danken. ({10}) Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir alles tun, um uns vor diesem Terror zu schützen. Eine potenzielle Gefahr sind vor allem die vielen Rückkehrer aus Syrien oder aus dem Irak. Gestern hat das Kabinett den Gesetzentwurf des Innenministers beschlossen, um gewaltbereiten Dschihadisten den Personalausweis entziehen zu können, wenn sie ausreisen wollen. Der Justizminister wird einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Terrorfinanzierung und zur schärferen Bestrafung von Reisen in Terrorcamps vorlegen. Das sind richtige und notwendige Schritte. Gesetze allein aber genügen nicht. Ich will - das, was ich heute in der Zeitung über IS-Aktivisten in Wolfsburg gelesen habe, bestärkt mich darin -, dass unsere Sicherheitsbehörden in der Lage sind, gewaltbereiten Rückkehrern 24 Stunden am Tag auf den Füßen zu stehen. Kein gewaltbereiter Syrien-Rückkehrer darf sich in Deutschland mehr unbeobachtet fühlen, meine Damen und Herren. ({11}) Wenn die personellen Ressourcen dafür nicht ausreichen, dann müssen wir sie rasch erhöhen. Auch über das Thema Mindestspeicherfristen sollten wir in der Koalition in Ruhe reden. ({12}) Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart: Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und die Nutzung von Telekommunikationsverbindungsdaten umsetzen. Daran fühlen wir uns gebunden. Allerdings ist die Umsetzung zurzeit nicht möglich; denn der Europäische Gerichtshof hat die EU-Richtlinie für nichtig erklärt und für eine Neufassung sehr strenge Auflagen erteilt. Deshalb ist es jetzt an der Kommission, eine neue Richtlinie zu erarbeiten. Das sollten wir zunächst abwarten. ({13}) Das gebietet auch der Respekt vor den beiden höchsten Gerichten in Deutschland und in der Europäischen Union. Wir sollten ohnehin - da stimme ich der Kanzlerin zu, und das machte auch der französische Premierminister in seiner Rede vor der Nationalversammlung deutlich - die ganze Diskussion mit Augenmaß und Nachdenklichkeit führen; denn wenn wir unsere Freiheit im Interesse einer vermeintlich perfekten Sicherheit zu sehr einschränken, dann fehlt am Ende beides; dann haben wir weder Freiheit noch Sicherheit. ({14}) Wenn wir Pegida und den damit verbundenen Stimmungsmachern in unserem Land das Wasser abgraben wollen, dann müssen wir auch offen über Einwanderung reden. Deutschland verliert im kommenden Jahrzehnt in jedem Jahr 400 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter, und diese Lücke lässt sich nicht allein durch eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen oder durch die Qualifizierung von Arbeitslosen schließen. Dazu brauchen wir qualifizierte Einwanderer in großer Zahl, und darauf müssen wir alle vorbereiten. ({15}) Deutschland ist schon jetzt ein Einwanderungsland. Wir sind das drittattraktivste Einwanderungsland der Welt. Allein in den letzten beiden Jahren sind über 900 000 ganz überwiegend gut und sehr gut ausgebildete Einwanderer aus der EU zu uns gekommen. ({16}) Ohne diese Einwanderer gäbe es keine Überschüsse in den Sozialversicherungen. Ohne diese Einwanderer und die Steuern, die sie zahlen, hätten wir im letzten Jahr auch keinen ausgeglichenen Haushalt erreicht, meine Damen und Herren. ({17}) Wir brauchen die Zuwanderung auch, um die Renten in einer alternden Gesellschaft finanzieren zu können. Ohne Einwanderung wird natürlich auch die Investitionstätigkeit von Unternehmen gedämpft; denn Unternehmen investieren nicht, wenn die Bevölkerung schrumpft. Nur als Einwanderungsgesellschaft können wir Wachstumsgesellschaft bleiben. Deshalb ist die Einwanderung positiv für Deutschland. Besonders die Freizügigkeit in der EU ist ein großer Jobmotor. Ich will deshalb, dass wir in der Koalition gemeinsam über Einwanderung diskutieren. Wir müssen die bestehenden Regeln überprüfen, und wir müssen offen diskutieren, nach welchen Regeln Einwanderer nach Deutschland kommen sollen. Auf diese Klarheit haben die Menschen in diesem Land einen Anspruch. ({18}) Daneben muss natürlich völlig klar sein, dass wir Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen, bei uns aufnehmen. Wir müssen sie schneller integrieren; das heißt vor allem, sie durch Sprachkurse schnell mit der deutschen Sprache vertraut machen. Deutschland wird sich durch Zuwanderung verändern. Unser Land wird internationaler und vielfältiger. Aber das ist in einer globalisierten Welt kein Schaden und kein Nachteil; im Gegenteil, das ist ein Vorteil; das ist ein ökonomischer und kultureller Vorteil für Deutschland. Deshalb brauchen wir ein positives Verhältnis zur Einwanderung. Und daran, meine Damen und Herren, sollten wir gemeinsam arbeiten. Vielen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Acht Tage sind seit den schrecklichen Anschlägen in Paris vergangen: acht Tage der Trauer, acht Tage des Schocks über die Angriffe auf unsere Freiheit, unsere Werte; aber auch acht Tage, die bei allem Schrecken, bei aller Trauer Mut machen. Die Menschen sind in Frankreich, in Deutschland und überall auf der Welt zusammengerückt. Wir erleben nicht Wut und Rachedurst, sondern Besonnenheit und trotzigen Mut. ({0}) Die Botschaft ist eindeutig: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir lassen uns unsere offene und freie Gesellschaft nicht nehmen. Wir stehen zusammen - für Toleranz und ein friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen. ({1}) Diese acht Tage bergen ein Versprechen. Ein Versprechen darauf, dass es den Terroristen nicht gelingt, uns zu spalten; wir stehen zu unseren Werten. Ein Versprechen darauf, dass wir uns angesichts des Schreckens auf unsere Stärken, Menschenrechte, Demokratie, Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, unseren Zusammenhalt besinnen. Das wird nicht leicht. Es ist eine Herausforderung für uns alle, um dieses Versprechen Wirklichkeit werden zu lassen. Aber nur das kann die Antwort auf die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt sein, auf die Anschläge gegen die Pressefreiheit, gegen die Religionsfreiheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Attentäter von Paris waren Franzosen. Aus Deutschland und Europa reisen Hunderte junge Menschen in den Nahen Osten, um Gewalt und Terror zu säen. Sie sind Europäer, sie sind Deutsche. Es sind keine Fremden, es sind keine anderen, es sind Söhne und manchmal auch Töchter unserer Gesellschaft. Was treibt junge Menschen zu solch unmenschlichen Taten? Was hätten wir tun können, um sie von diesem Pfad des Hasses und der Gewalt abzubringen? Und was können wir zukünftig dagegen tun? Zur Antwort gehören sicherlich Integration und Bildung. Wir brauchen Prävention. Wir müssen verhindern, dass junge Menschen zu brutalen, unberechenbaren Fundamentalisten werden. ({2}) Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie wir, auch wenn es sehr schwer sein mag, möglichst viele derjenigen in unsere Gesellschaft zurückholen können, die sich bereits radikalisiert haben. Nur wenn wir die Wurzeln des Hasses in unserer eigenen Gesellschaft angehen, können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen. Da haben wir alle - Christen, Muslime, Juden, Agnostiker, Atheisten - eine sehr große Aufgabe vor uns. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terror inmitten Europas fordert uns heraus. Wie können wir für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen? Hier sind Stärke und Augenmaß gefordert. Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Westliche Regierungen haben dieses Augenmaß bereits einmal missachtet. Nach dem 11. September 2001 haben sie unsere Werte teilweise aus den Augen verloren. Die Politik hat Freiheiten im Namen des Kampfes gegen den Terror unverhältnismäßig eingeschränkt. Auch in Deutschland wurden Grundrechte missachtet und der Datenschutz verletzt. Wir halfen in Europa den USA, wie aus dem Bericht des Senats erkennbar ist, bei der Folter. Damit haben wir unsere Glaubwürdigkeit, unsere eigenen Werte beschädigt. Diesen Fehler dürfen wir nicht erneut begehen. Wir dürfen diese Lehren nicht vergessen. ({4}) Mehr Datenspeicherung und vermeintliche Gesetzesverschärfung sind falsche Reflexe. Wenn unsere Freiheit angegriffen wird, dann dürfen wir unsere Freiheit doch nicht selbst aufgeben. ({5}) Die Sicherheit steht im Dienste der Freiheit, im Dienste der Menschen, nicht umgekehrt. Gegen Kalaschnikows macht die Vorratsdatenspeicherung der Daten aller Bürger, auch aller unbescholtenen Bürger, doch keinen Sinn. Das haben die Anschläge in Paris gezeigt. In Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006. Sie ist unverhältnismäßig. Sie stellt alle Bürger unter Generalverdacht. Die Attentäter waren doch bereits polizeibekannt. Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, die ausreichend Geld und Personal hat, damit sie rechtsstaatliche, solide Polizeiarbeit leisten kann. ({6}) Offene Gesellschaften sind verwundbar und werden immer verwundbar sein. Wir müssen den Mut haben, uns dieses einzugestehen. Nur dann können wir besonnen handeln. Nur dann können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik in einer offenen Gesellschaft kann so hart sein, dass sie verletzt. Satire kann schmerzen. Aber die Antwort darauf darf niemals Gewalt sein. ({7}) Aber so haben die Attentäter von Paris geantwortet. Sie sind losgezogen und haben Menschen ermordet. Eine grausame und verblendete Tat. Dabei haben sie sich auf den Islam berufen. Aber es ist kein Kampf des Islam gegen den Westen, sondern ein Kampf von Feinden der Freiheit gegen Freunde der Freiheit. Die meisten Opfer des weltweiten islamistischen Terrors sind selbst Muslime. Nahezu zeitgleich zu den Anschlägen in Paris töteten fundamentalistische Terroristen der Boko Haram in Nigeria Hunderte von Menschen. In Syrien, im Irak morden und foltern die Terroristen des IS. Gewalt im Namen der Religion ist ein Problem, das viele Religionen kennen. Es ist kein singuläres Problem des Islam. Aber ein Teil der Antwort darauf muss im Streit innerhalb des Islam gefunden werden. Imame weltweit haben Gewalt und Hass verurteilt, zum wiederholten Male. Der Zentralrat der Muslime hat gemeinsam mit anderen zu einer Kundgebung für Toleranz und Weltoffenheit aufgerufen. Viele von uns Abgeordneten waren am Brandenburger Tor. Wir danken dem Zentralrat sehr für seine Initiative. ({8}) Millionen von Muslimen weltweit stehen fassungslos vor dem, was im Namen ihrer Religion verübt wird. Sie machen unmissverständlich klar, dass sie diesen Missbrauch nicht dulden werden. Aber nur wenn der kritische Diskurs innerhalb des Islam weiter stattfindet und wenn wir dabei an der Seite der Muslime stehen, können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten acht Tagen haben wir viele Zeichen der Toleranz, des Miteinanders, des Zusammenstehens erlebt. Umso empörter macht es mich, wenn ich nach Dresden blicke, wenn ich sehe, dass dort am letzten Montag wieder Tausende Pegida-Anhänger auf den Straßen waren. Wer bei Pegida mitmarschiert, will eine geschlossene, eine enge Gesellschaft, eine die ausgrenzt, und zwar nach innen und außen, und eine die letzten Endes mehr Hass erzeugt. ({10}) Vor diesen Rissen in unserer Gesellschaft dürfen wir nicht die Augen verschließen. Der Antisemitismus gehört leider immer noch zur traurigen Realität in Deutschland und in Europa. Viele Menschen in Deutschland haben Vorurteile gegenüber dem Islam. Rechtsextremisten und -populisten wie Le Pen haben hohe Zuläufe. 2015 steht Europa vor einer Reihe von wichtigen Wahlen: in Griechenland, in Spanien, in Großbritannien, in Frankreich. Bei diesen Wahlen wird nicht allein über die nationale Politik, sondern auch über die Zukunft Europas entschieden. Jetzt ist es an uns Europäern, zu zeigen, was für ein Europa wir wollen: ein Europa, das für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie steht. Die letzten Tage lassen mich hoffen, dass die Menschen wieder erleben, was wir mit Europa gewonnen haben, was uns an Europa liegt - einem Europa, in dem die Menschen wieder miteinander diskutieren, einem Europa, in dem sich die Menschen füreinander interessieren, einem Europa, in dem die Menschen für die Werte Europas und füreinander einstehen, einem Europa, das lebendig ist. ({11}) Die ganz große Mehrheit der Menschen hat erkannt, dass es Zeit ist, Farbe zu bekennen: gegen Rassismus, gegen Vorurteile, gegen Menschenfeindlichkeit. Nur wenn wir gemeinsam für die Demokratie, für die Freiheit eintreten, nur dann können wir das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen. Die letzten acht Tage machen mir da große Hoffnung. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Volker Kauder das Wort. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als uns die Nachricht von dem schrecklichen Verbrechen in Paris erreicht hat, waren wir zunächst fassungslos und konnten gar nicht glauben, dass Terroristen in eine Redaktion eindringen, die Namen der einzelnen Journalisten aufrufen und sie beim Namensaufruf erschießen. Das ist eine Qualität, die wir so bisher noch nicht erlebt haben. Wir alle verneigen uns vor den Angehörigen der Opfer, vor unseren französischen Freunden. Ja, es ist völlig richtig, dass wir als eine erste Konsequenz aus diesem furchtbaren Verbrechen sagen: Wir stehen in Europa zusammen. ({0}) Dass wir zusammenstehen, hat der Zug durch Paris am vergangenen Sonntag so eindrucksvoll gezeigt. Dass wir in Europa bei einer der vielleicht größten Herausforderungen zusammenstehen, um Menschlichkeit und Demokratie durchzusetzen, haben wir am Dienstag am Brandenburger Tor erlebt. Mich hat in besonderer Weise beeindruckt, dass hier in Berlin und in anderen Städten Deutschlands Menschen zu Tausenden zusammengekommen sind - spontan, ohne dass es irgendjemand organisiert hat. Was sich da am Brandenburger Tor gezeigt hat, das ist ein Deutschland, auf das wir stolz sein können. ({1}) Es waren alle aus der Gesellschaft dabei, alle Religionsgruppen. Dies hat mich beeindruckt. Es ist der Satz des Bundespräsidenten zum Abschluss seiner Rede, der uns leiten muss: „Wir alle sind Deutschland“ - wir alle, die wir hier in Deutschland leben, Muslime, Juden, Christen, Angehörige aller anderen Religionsgruppen. ({2}) Es gibt Ereignisse in der Politik, im persönlichen Leben, bei denen nachher nichts mehr so ist, wie es vorher war. Viele von uns spüren, dass das, was da in Paris geschehen ist, und die Solidaritätskundgebungen, die es auch bei uns gegeben hat, vielleicht einiges verändern könnten, in einer Geschwindigkeit, wie wir es zunächst gar nicht zu hoffen gewagt haben. Ich habe bei den vielen Begegnungen mit Christen, Muslimen, Hindus und Vertretern anderer Religionen dieser Welt erfahren, was es bedeutet, wenn man wegen seines Glaubens, seiner Einstellung bedrängt und verfolgt wird. Ich habe immer wieder erlebt, dass die Reaktionen nach Anschlägen auf Kirchen und andere Einrichtungen unterschiedlich bzw. zögerlich waren. Umso mehr müssen wir anerkennen - und wir erkennen es auch an -, dass sich die Muslime angesichts der Ereig7486 nisse eindeutig von Gewalt distanziert haben. Auf der Veranstaltung des Zentralrats der Muslime, die mich sehr bewegt hat, wurde gesagt: Mord und Terrorismus haben mit dem Islam nichts zu tun. ({3}) Die notwendige und auch schwierige Diskussion ist damit aber noch lange nicht beendet. Sie wird weitergehen, und sie muss auch weitergehen. Ich stimme all jenen zu, die heute Morgen gesagt haben, dass dies eine Aufgabe der Muslime selbst ist, dass wir sie dabei unterstützen müssen, indem wir anerkennen, dass sich da etwas bewegt. Aber es muss auch klar sein - darauf ist vom Bundestagspräsidenten und von der Bundeskanzlerin hingewiesen worden -, dass die Werte und die Menschenrechte, die wir durch die Französische Revolution und die Aufklärung für uns gewonnen haben, die die Generationen vor uns für uns erstritten haben, nicht zur Disposition stehen dürfen und auch nicht zur Disposition stehen. ({4}) Wir dürfen auch nicht zulassen, dass universale Menschenrechte - das wird immer wieder versucht - von einigen auf einmal als eine Errungenschaft des Westens gesehen werden, die mit anderen gar nichts zu tun haben. Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, dass es heißt: Eure Menschenrechtsposition hat mit unserem kulturellen Verständnis nichts zu tun. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, die universellen Menschenrechte sind in der Menschenrechtscharta der UNO niedergelegt, und sie haben nichts mit kulturellem Verständnis in dem einen oder anderen Land zu tun. Wir müssen sie verteidigen. ({5}) In der Menschenrechtskonvention, die 1948, also im letzten Jahrhundert, beschlossen wurde, sind Erkenntnisse enthalten, die in die heutige Zeit übertragen werden können. Jeder hat das Recht, seinen Glauben frei und unbedrängt öffentlich zu leben. Dazu gehört natürlich auch, nichts zu glauben; auch dies ist geschützt. In der Menschenrechtskonvention steht ausdrücklich auch - dies gehört dazu -, dass jeder das Recht hat, seinen Glauben frei zu wechseln, dass es ein Menschenrecht ist, seinen Glauben zu ändern. Fast alle Länder dieser Welt - bis auf ganz wenige - haben das unterschrieben. Man ist immer wieder erstaunt, dass selbst in Ländern, die die Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, die Menschenrechte nicht oder nicht ganz eingehalten werden. Deswegen haben wir die Verpflichtung, immer wieder auf die Menschenrechtskonvention hinzuweisen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass es ohne Religionsfreiheit nirgendwo auf der Welt Freiheit geben kann. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen - das ist eine Erkenntnis zahlreicher Reisen, die ich unternommen habe -, dass das Verweigern von Religionsfreiheit und das Unterdrücken von Menschen, sodass sie ihren Glauben nicht frei leben dürfen, Anlass für größte Auseinandersetzungen sind. Das muss gerade in dieser Zeit gesagt werden. Dazu gehört ganz klar: Wer für Religionsfreiheit weltweit eintritt, tritt natürlich auch für Religionsfreiheit in unserem Land ein. Ich will mich gar nicht über Inhalte der einzelnen Religionen unterhalten. Ich sage nur: Religionsfreiheit in unserem Land bedeutet, dass jeder das Recht hat, seine Gebets- oder Gotteshäuser zu bauen. Das heißt: Natürlich haben die Muslime, unterstützt von uns, das Recht, hier ihre Moscheen zu bauen. ({6}) Aber es gehört auch noch etwas anderes dazu - das muss ich sagen, nachdem der türkische Ministerpräsident in dieser Woche Deutschland besucht hat -: So wie wir wollen und dafür eintreten, dass die Muslime hier ihre Moscheen bauen dürfen, so wollen wir, dass auch die Christen in der Türkei ihre Kirchen bauen dürfen. ({7}) Dieser Zustand ist noch längst nicht erreicht. Wir haben heute zu Recht immer wieder gehört, dass unsere Werte, zu denen natürlich die Freiheitsrechte und das zentrale Recht der Pressefreiheit gehören, nicht preisgegeben werden dürfen und wie wichtig die Pressefreiheit für eine freie Gesellschaft ist. Das betrifft aber nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Freiheit der Kunst, die Freiheit, darin seine Meinung auszudrücken. Es wäre furchtbar, wenn Schriftsteller in Zukunft ihre Bücher prüfen lassen müssen, bevor sie sie veröffentlichen. Das geht überhaupt nicht. Die Freiheit von Presse, Kunst und Kultur muss geschützt werden. ({8}) Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann stellen wir fest, dass die Pressefreiheit von denen besonders gefürchtet wird - dazu gehört leider Gottes auch manches Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft -, die Menschenrechte und Freiheit in ihrem Land nicht hundertprozentig verwirklichen. Deswegen muss dafür in besonderer Weise eingetreten werden. Da kann es natürlich sein, dass Dinge geschehen, die nicht jeder richtig und gut findet. Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass zur Freiheit Verantwortung gehört. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille. Natürlich muss jeder selbst prüfen, wo Grenzen sind. Aber diese können nicht gesetzlich festgelegt werden. Ich will nicht gesetzlich festlegen, ob diese oder jene Karikatur zulässig ist, überhaupt nicht. Trotzdem sage ich: Wir alle haben allen Grund, uns immer wieder zu prüfen, wie nahe wir einem anderen treten dürfen in der Ausnutzung unserer Freiheit. Ich kann nur darauf hinweisen: Besondere Sorgfalt muss darauf gelegt werden, mit den religiösen Gefühlen und den heiligsten Symbolen einer Religion nicht verantwortungslos zu spielen. ({9}) Das kann nicht durch eine Verschärfung von Gesetzen erreicht werden, sondern da ist die Gesellschaft aufgerufen, zu widersprechen und zu sagen: Wir wollen zwar, dass dies möglich ist, aber wir akzeptieren nicht, dass dies gemacht wird. - Insofern haben wir manchmal allen Grund, zu widersprechen, wenn christliche Symbole in dieser Weise betroffen sind. Es wäre aber auch schön, wenn der eine oder andere die Muslime versteht und in Schutz nimmt, wenn deren heiligste Symbole attackiert werden. ({10}) Ich finde, wir in der Bundesrepublik Deutschland, die Regierung, aber auch die Große Koalition, haben angemessen reagiert. Natürlich müssen sich Regierung und Parlament aber die Frage vorlegen: Können wir noch etwas tun, können wir noch etwas verbessern, um das Risiko eines solchen Anschlags zu verringern? Ganz ausschließen lässt es sich nicht. Ich finde die Maßnahme, die jetzt beschlossen worden ist, um ausreisebereite junge Menschen an der Ausreise zu hindern, indem man ihnen den Personalausweis entzieht, richtig. Es ist auch sinnvoll, diejenigen zu beobachten, die wieder einreisen. Aber wir müssen uns auch mit einer anderen Frage beschäftigen. Alle für die Sicherheit relevanten Persönlichkeiten unterschiedlicher parteipolitischer Zugehörigkeiten sagen, dass wir die Möglichkeiten, Kontaktdaten zu prüfen, um daraus Erkenntnisse zu erzielen, verbessern müssen. Es geht um den Begriff der Vorratsdatenspeicherung; dieser Begriff gefällt mir gar nicht, aber bisher ist nichts Besseres auf dem Markt. Ich möchte mit einem Missverständnis aufräumen - das haben auch Sie, Herr Hofreiter, wieder angesprochen -: Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht ausschließlich ein Präventionsinstrument, sondern eines von vielen möglichen Ermittlungsinstrumenten. ({11}) Ohne sie wüssten wir so manches nicht, auch in Frankreich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass man die eine oder andere Erkenntnis - wie groß war die Zelle, und mit wem haben die telefoniert? - nur durch den Zugriff auf diese Daten gewonnen hat. ({12}) - Wir bereden das in aller Ruhe. - Aber da unsere Provider, unsere Kommunikationsgesellschaften jetzt Flatrates anbieten, bei denen nach wenigen Stunden alle Daten gelöscht werden, werden Sie niemanden mehr finden. Wie wollen Sie denn Verbrechen im Internet aufdecken, wenn niemand mehr eine Spur im Internet hinterlässt? Deswegen müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob wir eine solche Möglichkeit nutzen wollen oder nicht. ({13}) Ich bin dankbar dafür, dass offenbar Bewegung in dieses Thema gekommen ist, dass die Bereitschaft gestiegen ist, etwas zu tun, in den verfassungsrechtlichen Grenzen natürlich. Die Menschen müssen den Eindruck haben, dass wir das tun, was möglich ist. Daher ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass Menschen nicht mit unangemessenen Formulierungen in der Öffentlichkeit auftreten sollten. Da Pegida und andere hier mehrfach angesprochen worden sind, will ich Folgendes dazu sagen: Wir haben uns von den Äußerungen, die dort fallen, klar distanziert. Ich bekomme jeden Tag Hunderte von E-Mails, weil ich gesagt habe: Was dort streckenweise formuliert wird, ist unakzeptabel. Das sage ich noch einmal: Dort fallen Äußerungen, die wir nicht akzeptieren dürfen und denen wir widersprechen. ({14}) Mich hat es etwas befremdet, dass heute Morgen in dieser Debatte wieder einmal über diese Gruppe gesprochen wurde. Am letzten Samstag waren aber in Dresden 35 000 Menschen auf dem Platz - das waren mehr als Pegida zusammenbringt -, um sich zu diesem Rechtsstaat zu bekennen. Darüber sollten wir häufiger reden. Wir sollten häufiger darüber reden, dass es mutige Menschen gibt, die sich zu diesem Rechtsstaat bekennen, zu Offenheit, zu Liberalität und zu Toleranz. ({15}) Darüber müssten auch die Medien häufiger berichten. Sie sollten nicht über die Gruppe berichten, die unser Land nicht repräsentiert, sondern häufiger über diejenigen, die das repräsentieren, was die allermeisten Menschen in diesem Land für richtig halten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Hinweis. Herr Kollege Oppermann, wenn ein Koalitionspartner will, dass man über ein Thema redet, dann redet man darüber. Das gilt für Sie, und das gilt auch dann, wenn wir etwas wollen und dann darüber reden. Eines möchte ich aber schon sagen: In der Diskussion über ein sogenanntes Zuwanderungs- bzw. Einwanderungsgesetz ist der Eindruck erweckt worden, als ob wir uns in einem völlig rechtsfreien Raum bewegen würden. ({16}) - Nein, heute Morgen hat der Kollege Oppermann gesprochen, Frau Kollegin. - Dazu will ich nur sagen: Man kann ja aus Ihrer Sicht sagen, dass man sich das eine oder andere anschauen will. Wir haben aber ein ganzes Paket von Regelungen für Zuwanderung und Einwanderung. Da gibt es keinen rechtsfreien Raum. ({17}) Sie haben zu Recht drauf hingewiesen, dass ohne Einwanderung bzw. Zuwanderung unsere Sozialversicherungssysteme, die Arbeitsplatzsituation usw. anders aussähen. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen, dass sich eine gute Entwicklung vollzogen habe, was stimmt, und auf der anderen Seite sagen, es gebe überhaupt keine Regelungen und deswegen müsse man etwas unternehmen. Deshalb rate ich auch hier zu einem größeren Maß an Gelassenheit. Wir haben sehr viel gemacht. Jetzt will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir haben dafür gesorgt, dass die Asylverfahren schneller ablaufen und die Menschen, wenn sie hier sind, schneller in Arbeit kommen können. Das ist sehr schön formuliert worden; jetzt kommt es aber darauf an, das umzusetzen. Da kann ich nur sagen: Es wäre eine große Tat und auch notwendig, damit Menschen nicht in der Isolation leben und auf dumme Gedanken kommen, dass wir all denjenigen, die Arbeit und Ausbildung suchen, auch Arbeit und Ausbildung verschaffen. Diesen Punkt sehe ich an erster Stelle. Nicht über neue Zuwanderung sollte geredet werden, sondern diejenigen, die da sind, sollten jetzt endlich in Arbeit gebracht und in die Gesellschaft integriert werden. ({18}) Hier viel zu erreichen, das ist eine große Aufgabe, die vor uns liegt. Dieser Aufgabe werden wir uns stellen. Da sind wir an Ihrer Seite. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Eva Högl ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anschläge in Paris waren ein Angriff auf wehrlose Menschen. Sie waren ein Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Die Morde waren aber vor allen Dingen ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft, unsere Werte und unsere Demokratie. Wir alle waren gemeint mit diesen Anschlägen. Die Attentäter wollen damit eines erreichen: Sie wollen die Menschen in Frankreich, in Deutschland, uns alle in Europa und in der Welt, tief verunsichern und unsere Gesellschaft spalten. Meine Damen und Herren, das wird ihnen nicht gelingen. ({0}) Für uns ist klar: Unsere demokratische Gesellschaft darf sich nicht einschüchtern lassen. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit lassen wir uns nicht nehmen. Wir werden die Freiheit nur dann verteidigen können, wenn wir eine offene und freie Gesellschaft erhalten, in der Presse- und Meinungsfreiheit sowie Religionsfreiheit, Einwanderung und Vielfalt selbstverständlich sind. Deshalb reagieren wir auf Terror, auf Morde und auf Extremismus mit Augenmaß und mit den Mitteln unseres Rechtsstaates; denn wir sind nicht wehrlos. Es gibt überhaupt keinen Grund für hektischen gesetzgeberischen Aktionismus. ({1}) Die Gefahr, die von gewaltbereiten Extremisten ausgeht, die aus Kriegsgebieten in Syrien und Irak nach Deutschland zurückkehren, ist uns bekannt. Unsere Sicherheitsbehörden sind hier sehr wachsam und handlungsfähig. Wir bekämpfen Terrorismus ganz entschieden und haben schon Wochen vor den Anschlägen in Paris wichtige Regelungen zur Terrorismusbekämpfung auf den Weg gebracht. Ich erwähne, dass der Bundesinnenminister bereits im Herbst ein sehr weitgehendes Betätigungsverbot des IS erlassen hat. Neben der Verwendung von Kennzeichen des IS sind nunmehr auch die Unterstützung und die Sympathiewerbung strafbar. Gestern hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf verabschiedet, der vorsieht, ausreisewilligen Dschihadisten neben dem Reisepass auch den Personalausweis zu entziehen, wenn sie unter dem Verdacht stehen, terroristische Aktivitäten zu verfolgen. Eine Ausreise über die Türkei beispielsweise in den Nahen Osten ist dann nicht mehr möglich. Künftig werden sich radikale Islamisten auch dann strafbar machen, wenn sie Deutschland verlassen wollen, um sich an Gewalttaten im Ausland zu beteiligen oder sich für die Teilnahme daran in einem Camp ausbilden zu lassen. Damit setzen wir eine UN-Resolution um. Außerdem werden wir mit einem eigenständigen Straftatbestand der Terrorismusfinanzierung die Finanzquellen von Terroristen trockenlegen. Das sind drei wichtige Maßnahmen zur Terrorbekämpfung, die wir auf den Weg gebracht haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden auch den Verfassungsschutz schlagkräftiger machen. Das ist auch dringend erforderlich. Wir haben im NSU-Untersuchungsausschuss gesehen, dass es viele Unzulänglichkeiten bei den Nachrichtendiensten gibt und insbesondere die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern verbessert werden muss. Wir werden auch die personelle und technische Ausstattung der Sicherheitsbehörden weiter verbessern. Eines ist auch sehr wichtig: die europäische Kooperation. Wir als SPD begrüßen ganz ausdrücklich den Beschluss der EU-Innenminister in Paris vom Sonntag, gemeinsam und in enger Abstimmung in Europa gegen Terror vorzugehen. Für uns gilt: Wir brauchen in Europa mehr Zusammenarbeit und nicht weniger. ({2}) Wir bauen auch die Prävention aus und stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir werden alles dafür tun, dass sich kein junger Mensch menschenfeindliDr. Eva Högl chen und gewalttätigen Organisationen anschließt. Wir unterstützen alle Aktivitäten, die den interreligiösen Dialog fördern und sich gegen Hass und gegen Gewalt richten. Wir reden nicht nur, sondern wir handeln auch. ({3}) Wir haben deshalb das so wichtige Bundesprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ und somit Aktivitäten zur Demokratieförderung ganz deutlich unterstützt, indem wir in diesem Jahr insgesamt rund 50 Millionen Euro dafür bereitstellen. Dieser wichtige Beschluss des Bundestages ist eine ganz starke Aussage, weil wir damit viele Initiativen, Verbände und Vereine bei der Förderung von Demokratie sehr wirksam unterstützen können. ({4}) Unsere gemeinsame Antwort auf Terror ist: Sicherheit und Zusammenhalt, Freiheit ohne Angst. Diesen Weg werden wir gemeinsam weitergehen. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anschläge in Paris haben uns alle erschüttert und fassungslos gemacht. Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei den Opfern und deren Familien. In dieser Debatte ist schon zum Ausdruck gekommen - ich will es auch meinerseits unterstreichen -: Unbestritten ist: Diese Anschläge waren Anschläge auf unsere Freiheit, auf unsere Werte, auf die Art und Weise, wie wir zusammenleben, wie wir miteinander umgehen. Es waren Anschläge auf die offene Gesellschaft in der westlichen Welt. ({0}) So groß die Trauer und die Betroffenheit auch sind, die Reaktion der Menschen in Paris, in Berlin, in vielen anderen Städten Europas, ja in der ganzen Welt macht auch Mut. Sie haben Solidarität mit Frankreich gezeigt und zeigen sie nach wie vor über die Grenzen hinweg. Sie stehen auf, sie gehen auf die Straße für unsere Werte, für Freiheit, für Demokratie, für Toleranz und gegen Fanatismus, gegen Fundamentalismus und gegen Terror. Am Dienstagabend nahmen Tausende von Menschen an der Mahnwache der Muslime für Toleranz und Weltoffenheit in Berlin teil. Ich danke den Organisatoren für die rasche Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse in Paris. Im gemeinsamen Manifest der großen Religionsgemeinschaften in Deutschland wird auch deutlich: Im Namen Gottes darf nicht getötet werden. Daran, dass 50 Staats- und Regierungschefs in Paris auf die Straße gehen, dass sich Millionen von Menschen zum Marsch der Freiheit aufmachen und dass ein muslimischer Arbeiter in dem von Terroristen heimgesuchten jüdischen Geschäft vier Menschen rettet, wird deutlich: Unsere Werte sind stärker als der Terror. ({1}) Die Reaktionen der Menschen, der Politiker zeigen auch: Wir in der freien, offenen Gesellschaft lassen uns nicht auseinanderdividieren, wir lassen uns nicht spalten, und wir lassen uns auch nicht einschüchtern. Im Gegenteil: Wir rücken ein Stück näher zusammen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und in der Welt. Ich hoffe sehr, dass vom Anfang dieses Jahres, so bitter der 7. Januar 2015 für uns alle war, das Signal ausgeht, dass es an der Zeit ist, uns unserer Grundwerte, der Werte, die uns zusammenhalten, wieder bewusster zu werden, als es vielleicht sonst im Alltag der Fall ist, und diese auch aktiv zu verteidigen. Denn die Würde jedes einzelnen Menschen, egal woher er kommt und wie er aussieht, die gegenseitige Toleranz, das Recht auf Leben, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Glaubensfreiheit - all das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Werte, die uns zusammenhalten, Werte, die uns auch die Kraft geben, gegen Fundamentalismus, gegen Fanatismus und gegen Terror anzugehen. ({2}) Aber natürlich stellen sich in so einer Situation auch Fragen, beispielsweise: Kann so etwas auch bei uns passieren? Sind wir gerüstet? Tun wir alles für die Sicherheit? Auch wenn wir wissen, dass nicht alles zu verhindern ist, haben wir die Aufgabe - das ist die originäre Aufgabe des Staates -, für die Sicherheit unserer Bürger zu sorgen. Wir alle wissen: ISIS und Al-Qaida bedrohen nicht nur einige fremde Staaten weit weg von uns, sondern sie bedrohen auch uns. Wir alle wissen: Wer unsere Werte vernichten will, der greift uns an. Wer unsere französischen Freunde mit Terror und mit Schrecken überzieht, der meint auch uns. Deshalb war und ist es richtig, dass wir die Kurden in ihrem Kampf gegen die Barbarei der Dschihadisten unterstützen, mit humanitärer Hilfe, mit Ausrüstung und auch mit Waffen. Deshalb war und ist es richtig, dass wir die Menschen in den betroffenen Regionen vor Ort unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist es auch richtig, dass wir die Ausreise der Dschihadisten unterbinden und Rückkehrer genauer beobachten. ({3}) Unser Kampf gegen den Terrorismus beginnt nicht erst nach den Anschlägen in Paris. Aber diese Anschläge in Paris sind vielleicht Grund und Anlass, noch einmal in aller Ruhe und ohne Aktionismus zu überdenken, ob wir alles getan haben und ob wir unseren Kampf vielleicht noch etwas verstärken müssen. Unser Kompass muss dabei, denke ich, ein zentraler Grundsatz unserer Rechtstradition sein, nämlich die Verhältnismäßigkeit. Es muss gelten: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit wie nötig. Ich will mich im Wesentlichen auf drei Punkte beschränken: Erstens. Wir brauchen einen besseren Überblick darüber, woher die Gefährder kommen und wohin sie wollen. Dazu gehört, dass wir an den Außengrenzen der Europäischen Union die Kontrollen intensivieren. Dazu gehört auch ein internationaler Informationsaustausch; dieser muss verbessert werden. ({4}) Das gilt zum Beispiel auch für die Fluggastdaten. Zweitens. Wir unterstützen die Bundesregierung bei allen Maßnahmen im Kampf gegen den Extremismus. Das gilt für den Bundesinnenminister - auch für die Maßnahmen, die er gestern wieder eingeleitet hat - genauso wie für den Bundesjustizminister. Ich bin sehr froh, dass nun die Umsetzung der UN-Resolution auf den Weg gebracht wird; denn, meine Damen und Herren, wer terroristische Vereinigungen finanziell unterstützt, der muss strafrechtlich leichter verfolgt werden können als bisher. ({5}) Gleiches gilt auch für den Besuch von Terrorcamps. Ich füge aber bewusst hinzu: Unserer Meinung nach reicht das nicht. Wir sollten auch Sympathiewerbung für terroristische Vereinigungen, wie das früher der Fall war, wieder unter Strafe stellen. ({6}) Unsere Botschaft muss sein: Islamistischer Terror hat auf deutschem Boden keinen Platz. Drittens. Wir müssen die Mindestdauer der Speicherung von Verbindungsdaten neu regeln; das wurde vorhin schon angesprochen. Ich plädiere sehr dafür und bitte darum, das ohne parteipolitische Scheuklappen zu machen und auf den Rat der Sicherheitsleute und der Sicherheitsbehörden, der Polizeigewerkschaften, all derjenigen, die mit der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus zu tun haben, ({7}) zu hören und diese Ratschläge auch ernst zu nehmen. ({8}) Es kann doch nicht sein, dass wir Verbindungsdaten im Bereich der Telekommunikation dann speichern, wenn es um Rechnungen geht, aber dann, wenn es um die Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus geht, nicht. Das ist nicht mein Verständnis von Sicherheit für die Bürger unseres Landes, meine Damen und Herren. ({9}) Es ist vielmehr unsere Aufgabe - so verstehe zumindest ich meine politische Arbeit, ebenso die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion -, für das Wohlergehen der Bürger und für ein glückliches Leben der Menschen zu sorgen. Zu einem glücklichen Leben gehören Freiheit und Sicherheit; das eine, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, geht nicht ohne das andere. Freiheit und Sicherheit gehören in einem demokratischen Rechtsstaat zusammen. ({10}) Nur aus der Balance dieser beiden Werte schöpft unsere Gesellschaft ihre Kraft. Lassen Sie uns mit der gebotenen Sorgfalt und Gelassenheit, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, aber auch mit der notwendigen Entschiedenheit an die Lösung dieser Aufgabe gehen! Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs- punkt, Tagesordnungspunkt 4 a und 4 b, sowie zum Zu- satzpunkt 3 unserer Tagesordnung: 4 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen Drucksache 18/3726 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung Drucksache 18/3730 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gute Ernährung für alle Drucksache 18/3733 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt. ({3})

Christian Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002003

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Ernährung mit all seinen Facetten mobilisiert uns heute in Berlin. Gestatten Sie mir aber, dass ich mich, bevor wir uns dem Thema Ernährung mit all seinen Facetten widmen, bei dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz Josef Jung, für seinen Einsatz und für sein Engagement in unserem gemeinsamen Themenbereich herzlich bedanke. Das so wichtige Amt hat er nun, wie die Fraktion entschieden hat, auf gleicher Ebene im Bereich der Außenund Sicherheitspolitik übernommen, nachdem Andreas Schockenhoff bedauerlicherweise von uns gegangen ist. Lieber Franz Josef, herzlichen Dank! Du kehrst damit ein Stück zu den Wurzeln zurück, aber im Kern musst du als Rheingauer Winzer und Politiker mit Herz bitte auch unserer Sache verbunden bleiben. Die Grüne Woche steht dir genauso offen wie uns allen. ({0}) Mein Gruß geht natürlich auch an Gitta Connemann. Es steht mir aber nicht zu, heute zu besprechen und zu erörtern, wie es im Ausschuss weitergehen wird. Das wird bei anderer Gelegenheit erfolgen. Ich möchte mich dafür bedanken, dass sich die eingebrachten Anträge sehr intensiv mit der Thematik der Ernährung befassen. In diesem Jahr findet zum 25. Mal eine gemeinsame Grüne Woche statt. Das Wort „grün“ in der Grünen Woche ist kein politisches Grün, sondern ein Grün, das das Selbstbewusstsein des Landes ausdrückt. Die Lodenjankerträger haben Berlin in den 20er-Jahren mit einer neuen Farbe überrascht. Schon damals wurde klar, dass die Stadt ohne das Land nicht leben kann. In diesem Jahr findet zum 80. Mal - zum 25. Mal wieder gemeinsam - die Grüne Woche statt. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit auch an die agra in Markkleeberg erinnern, auf der die wichtige Entwicklung des landwirtschaftlichen Bereichs in der damaligen DDR dokumentiert wurde. Dies wird auch jetzt in Leipzig im Rahmen von Landwirtschaftsausstellungen in vielfältiger Weise fortgesetzt. Die Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft hat sich hier sehr aktiv engagiert und eingebracht. ({1}) Wenn wir alle wollen, dass sich alle Menschen auf unserer Erde ausreichend und angemessen ernähren können, dann müssen wir effizient produzieren. Wenn wir dabei unsere natürlichen Ressourcen als Lebensgrundlage für unsere Kinder und Enkel sowie alle nachfolgenden Generationen erhalten wollen, dann müssen wir natürlich effizient nachhaltig sein. Das ist ein hoher Auftrag. Auf der zweiten Welternährungskonferenz - der ersten seit vielen Jahren, die die Vereinten Nationen ausgerichtet haben - hat Papst Franziskus den denkwürdigen Satz gesagt: „Gott vergibt immer … Die Erde aber vergibt nie.“ Das ist ein wichtiger Hinweis, den wir alle aufnehmen müssen. Wir müssen zu einer nachhaltigen Bewirtschaftung kommen, um die Ernährung der Menschen zu sichern. Dem Millenniumsziel „Armut und Hunger bekämpfen“ sind wir einen Schritt nähergekommen, aber noch immer gibt es 800 Millionen Menschen auf der Welt, die unter Unterernährung bzw. Mangelernährung leiden. Dem stehen 500 Millionen Menschen gegenüber, deren Ernährung nicht ganz den Regeln und Vorschlägen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Sie leiden unter Adipositas durch Überernährung bzw. Fehlernährung. Darüber sollte man sich überhaupt nicht erheben; denn in vielen Fällen ist Fehlernährung eine Folge der sozialen Umstände. Deswegen müssen wir das im Verbund sehen. Ein Auftrag, den ich aus Rom mitgenommen habe, ist übrigens, dass wir diese Frage zwischen den verschiedenen Ressorts und Politikbereichen abstimmen und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Ich bedanke mich beim Bundesentwicklungsminister und beim Bundesminister für Gesundheit dafür, dass wir diese Maßnahmen bereits auf den Weg gebracht haben. Das Präventionsgesetz ist ein Teil dieses integrativen Verständnisses von Ernährungspolitik. Wie wollen wir uns ernähren, und wie wollen wir das realisieren? Mein Anspruch ist, dass wir den gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft der Ernährung gestalten und Deutschland zum Vorreiter in der Beantwortung dieser Fragen machen. ({2}) Aber wie machen wir das, und wohin soll die Reise gehen? Wie sind die Rahmenbedingungen? Ich glaube, hier müssen wir eine politische und kulturelle Debatte führen. Es geht um die Frage, wie wir mit dem Wissen umgehen, dass laut vielen Erkenntnissen - manchmal stellen sich Erkenntnisse als überholt heraus und werden durch neuere ersetzt - Essen schädlich sein kann, aber Essen für die menschliche Existenz unverzichtbar ist. Denken wir an die Vorstellungen, die Jean-Jacques Rousseau vor Jahrhunderten entwickelt hat, also „Zurück zur Natur“ und der Mensch sei der Schädiger der Natur, und das sei zu beenden. Man spürt, dass diese Denkweise möglicherweise zwar sehr idealistisch ist, aber einige Denkfehler beinhaltet. Das kann es nicht sein. Wir dürfen uns jedoch auch nicht erheben und so tun, als wüssten wir ganz genau, was jeder zu essen oder nicht zu essen habe. Wir müssen extreme gesundheitliche Gefahren reduzieren. Wir müssen aber vor allem informieren. Wir dürfen den Teller nicht mit Regelungen vollpacken. Es ist notwendig, dass wir verbindliche Informationen geben. Die Lebensmittelinformationsverordnung, die auf europäischer Ebene beschlossen wurde und die ich umgesetzt habe, mit ihren Regelungen zur Allergenkennzeichnung loser Ware zeigt, wie spannend die Abwägung zwischen einer Art Beipackzettel auf der einen Seite und einer viel zu kursorischen und nicht ausreichend in die Tiefe gehenden Information für Lebensmittel auf der anderen Seite ist. Ich denke, wir haben gute Maßstäbe gefunden. Damit will ich nicht sagen, dass sich daran nichts ändern kann, wenn wir aufgrund von neuen Erkenntnissen neue Informationen bereitstellen müssen. Aber diese Informationen müssen gut abgreifbar und verständlich sein. Wir können und werden es nicht schaffen, dass wir jeden Menschen vor einem Essen zu einem Kundenseminar einladen und ihm dann vielleicht auch noch die Entscheidung abnehmen. ({3}) Wir müssen allerdings bei Kindern und Jugendlichen sehr genau auf die Ernährung schauen. Schulverpflegung ist in der Tat ein ganz wichtiger Punkt. Ich nenne hier das Deutsche Netzwerk Schulverpflegung. Wir müssen und werden daran arbeiten, dies finanziell entsprechend zu unterstützen. Ich halte das für eine ganz wichtige Maßnahme. In der Schulverpflegung wird die Grundlage dafür gelegt, wie man sich ernährt und was man isst. Dabei lernt man, dass nicht nur die vier Ps allein die Ernährung ausmachen: Pasta, Pommes frites, Pizza und Pfannkuchen, wie unsere Untersuchung gezeigt hat. Diese sind gut, aber nur in Maßen. Ich denke, hier besteht Handlungsbedarf, dieses Thema in einer fürsorglichen, aber nicht dirigistischen Art und Weise anzupacken. Lassen Sie mich nicht nur die Frage stellen: „Wie wollen wir produzieren?“, sondern auch auf die Fragen zu sprechen kommen, die besonders strittig diskutiert werden. Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen, was die Kritiker in diesem Zusammenhang sagen. Erst gestern habe ich gelesen, dass eine Gruppe von Menschen gegen Tierhaltung überhaupt ist. Das ist zwar eine klare Position, aber die Frage, wie sich dann der Mensch ernähren soll, wird nicht beantwortet. Ich denke, dass wir bei der Tierhaltung Bedarf für Verbesserung und Veränderung haben. Da tun wir auch was. Ich will das an zwei Beispielen zeigen: Das eine Beispiel bezieht sich auf den Bereich der Geflügelkäfige im Rahmen der Tierhaltungsverordnung, die wir jetzt angegangen sind und die in Kürze auf den Tisch gelegt und auf den Verordnungsweg gebracht wird, und das andere Beispiel bezieht sich auf Modell- und Demonstrationsvorhaben für mehr Respekt bei der Haltung von Schweinen. Hier hat unser Haus viel Geld in die Hand genommen. Wir suchen nun bis zu 120 Betriebe, die in der Praxis testen, wie wir beispielsweise mit der Frage der Reduzierung von nichtkurativen Eingriffen umgehen können. Wichtig ist mir, dass der Trend, der da und dort in Wortmeldungen zu erkennen ist, sich nicht in der Wahrnehmung verfestigt. Es ist nicht so, dass unser Essen heute schlechter wäre als früher. Nein, es ist besser, es ist gesünder, und es ist besser überwacht. ({4}) Es ist auch nicht so, dass Tiere im Stall unter unsäglichen Bedingungen gehalten werden. Es gibt Ausreißer, über die wir reden müssen. Aber man sollte den Erlebnisbauernhof auf der Grünen Woche - das werde ich auch heute Nachmittag in meiner Eröffnungsrede ansprechen, aber aus Respekt gegenüber dem Parlament, finde ich, sollte ich das jetzt schon sagen - durch einen Erlebnisbauernhof ergänzen, der zeigt, wie die Landwirtschaft vor 50 oder 100 Jahren ausgesehen hat. ({5}) Sie werden feststellen, dass Tierhaltung nach modernen Systemen, an denen wir auch heute arbeiten, weitaus tierfreundlicher ist als die Tierhaltung früher. ({6}) Wir sollten auch vor denen Respekt haben, die ich als die stolzen Lodenjankerträger aus den 20er-Jahren bezeichnet habe. Es ist nicht schön, und es ist nicht in Ordnung, dass ein Berufsstand - damit meine ich nicht die Funktionäre, sondern den Landwirt und die Landwirtin sich in der gesellschaftlichen Diskussion nicht mehr wiederfindet und sich potenziell immer gleich auf die Anklagebank gestellt sieht. Wir müssen den Dialog über Fragen suchen. Wir müssen aber auch die, die produzieren, respektieren. ({7}) Ich bin sicher, dass uns das gelingt. Dann müssen wir auch über die kritischen Fragen der Grünen Gentechnik bzw. der Novel Foods - Novel Foods sind Sachen, die mit Wachstum und Pflanzen gar nichts mehr zu tun haben - reden. Das können wir nicht einfach laufen lassen, genauso wenig, wie wir die Grüne Gentechnik oder beispielsweise Wachstumsbeschleuniger in Hormonabgaben bei Fleisch laufen lassen können. Das geht nicht. ({8}) Deswegen müssen die Standards auf europäischer Ebene so bleiben, wie sie sind. Ich glaube, das ist in der letzten Woche sehr deutlich geworden. ({9}) Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass wir in diesen Fragen viel Gutes an guten Beispielen zeigen können, dass es aber auch darum geht - damit komme ich zur zweiten Welternährungskonferenz zurück -, unsere Erkenntnisse, unser Wirtschaften und auch unsere Erfahrungen auf andere Länder zu übertragen. Ich treffe morgen und übermorgen an die 70 Landwirtschaftsministerkollegen aus der ganzen Welt und Vertreter der Vereinten Nationen, der Welternährungsorganisation und von Nichtregierungsorganisationen, mit denen wir über die Frage reden wollen, wie wir das, was die Schöpfung uns als Möglichkeit gibt, für die Ernährung nutzen können und wo wir etwas ändern und wo wir besser werden müssen. Ich denke, dass von Berlin ein Zeichen in die richtige Richtung ausgehen kann. Herzlichen Dank. ({10})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank, Herr Minister. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Karin Binder. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die prominente Redezeit haben wir heute einerseits sicherlich dem Herrn Minister, aber andererseits auch der Internationalen Grünen Woche zu verdanken. Ich denke, es ist eine gute Gelegenheit, bei einem solchen Anlass in Berlin unseren Themen auch im Bundestag mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das darf sich aber nicht darin erschöpfen, dass Sonntagsreden gehalten oder Schaufensteranträge vorgelegt werden. Nein, wir müssen hier und heute auch Verbindlichkeit schaffen. ({0}) Ich teile meinen Redebeitrag in zwei Bereiche auf, nämlich in den großen Bereich Klarheit und Wahrheit und den ebenso großen Bereich Theorie und Praxis. Zur Klarheit und Wahrheit gehören für mich Information, Kennzeichnung, das Thema Werbung und die Lebensmittelbuch-Kommission. Damit fange ich am besten gleich an. Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission ist eine Einrichtung, die beispielsweise definieren darf, wie viel Leber eine Leberwurst enthalten muss, damit sie als solche bezeichnet werden darf - der Anteil an Leber darf tatsächlich gering sein -, oder bis zu welchem Anteil Schweinefleisch - dieser Anteil darf tatsächlich größer als erwartet sein sich eine Wurst Geflügelwurst nennen darf. Ich halte dies für nicht zulässig. Diese Kommission hat die Aufgabe, Verbraucherinteressen zu wahren und nicht die Interessen der Lebensmittelwirtschaft. Diese hat sich aber leider bisher in dieser Kommission in den meisten Fällen durchgesetzt. ({1}) Deshalb fehlt echte Information und gibt es keine Transparenz. Wir müssen in unserem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft dringend darüber reden, wie eine solche Kommission künftig zusammengesetzt wird, wie sie zu arbeiten hat, wie viel Transparenz hergestellt werden soll, was zu veröffentlichen ist und wer hier tatsächlich das Sagen hat, und zwar im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({2}) Klarheit und Wahrheit bedeuten auch Informationsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher nach dem Verbraucherinformationsgesetz. Bisher gibt es einen solchen Anspruch nicht. Wenn ein Verbraucher bei einer Firma anruft, um mehr über die sozialen Herstellungsbedingungen zu erfahren, dann wird er keine Auskunft bekommen. Wir möchten aber, dass im Verbraucherinformationsgesetz ein solcher Anspruch verankert wird. Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen Lebensmittel produziert werden. Das muss verbindlich geregelt werden. ({3}) Ein weiteres Thema ist die Kennzeichnungspflicht. Sie werden feststellen, dass sich derzeit auf Verpackungen die sogenannte GDA-Kennzeichnung befindet. Auch hier hat sich leider die Lebensmittelwirtschaft durchgesetzt. Wir würden gerne die Ampelkennzeichnung einführen, und zwar verbindlich; denn nur so lässt sich beim Einkaufen schnell erkennen, wie hoch der Anteil an Zucker, Fett oder Salz tatsächlich ist und ob es Alternativen gibt. Beim Einkaufen kann man Produktbeschreibungen in 1,2 Millimeter Schriftgröße nicht geschwind überfliegen, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Deshalb wollen wir die Ampelkennzeichnung verbindlich einführen. Lebensmittelwerbung darf außerdem nicht irreführend sein. Wir wollen keine Vermengung von echter Information und Werbung. Wir wollen erst recht nicht, dass Kinder durch Lebensmittelwerbung bespaßt und verführt werden. Wir wollen, dass die Bereiche, für die sich Kinder interessieren, frei von Werbung sind. Egal ob es um Gummibären oder Müsli- und Schokoriegel geht, Kinder sollen nicht als Kunden gewonnen und konditioniert werden. ({4}) Denn falsches Ernährungsverhalten wird oft schon im Kindesalter angeeignet, und diese Fehlernährung setzt sich im Erwachsenenalter fort. Kommen wir nun zum Thema „Theorie und Praxis“. Ein wichtiger Punkt ist die Verführung von Kindern im Kassenbereich; das hat in den letzten Tagen hohe Wellen geschlagen. Zwei Stunden nachdem ich eine Erklärung dazu abgegeben habe, habe ich eine Rückmeldung von der Süßwarenindustrie erhalten; es ging also ziemlich schnell. ({5}) Eltern, die mit ihren Kindern im Supermarkt einkaufen, wissen, wovon ich rede. Kurz vor der Kasse beginnt die Süßwarenzone. Kinder, die nach dem Einkauf ohnehin müde, quengelig und aufgedreht sind, bleiben in diesem Bereich in der Regel stehen, weil sie unbedingt dieses oder jenes noch haben möchten. Die Eltern, die sicherlich wissen, dass diese Produkte nicht guttun und dass es zu Hause ausreichend Süßigkeiten gibt, kaufen diese Produkte dann doch, um Ruhe zu haben. Wir wollen den Kassenbereich süßwarenfrei haben, ({6}) damit Kinder nicht zu einem höheren Konsum von Süßigkeiten verführt werden. ({7}) So viel zur Quengelzone. Jetzt komme ich zum Thema „Gesunde Ernährung für alle“. Mir ist es wichtig - ich finde auch die Ansätze in dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht schlecht -, die DGE-Standards, also die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, verbindlich zu verankern, auch für die Gemeinschaftsverpflegung, auch für Seniorenheime, auch für Krankenhäuser, aber insbesondere für Schulen und Kindertagesstätten. Ich halte es für extrem wichtig, hier verbindlich geregelte Qualitätsstandards zu haben, weil nur so tatsächlich qualitativ hochwertige Verpflegung gewährleistet ist und nicht der Preis die Schulverpflegung diktiert. Leider ist das heute der Fall. Deshalb ist für mich auch ganz klar: Wir brauchen eine Verbindlichkeit, und wir brauchen eine verbindliche Finanzierung durch den Bund. Anders werden das die Bundesländer und die Kommunen nicht hinbekommen. Wir brauchen eine Schulverpflegung, deren Qualität definiert ist und für die es einen Zuschuss vom Bund von 4 bis 5 Euro pro Kind gibt. Der Bund muss für die Für- und Vorsorge der Kinder zuständig sein, er muss Prävention im Sinne einer gesunden Ernährung betreiben. ({8}) Das müssen wir verbindlich regeln, damit beim Thema der gesunden Ernährung Theorie und Praxis nicht auseinanderklaffen und damit die Kinder schon in jungen Jahren Zugang zu einer gesunden Ernährungsweise bekommen. Dann können sie auch als Erwachsene das, was sie als Kinder erfahren haben, praktizieren und ein gesundes Leben führen. ({9}) Jetzt habe ich noch einen letzten Punkt. Der betrifft die Lebensmittelvernichtung.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe noch einen Schlusssatz. Wenn wir wollen, dass die Vernichtung von Lebensmitteln um 50 Prozent reduziert wird und die Verschwendung von Lebensmitteln aufhört, dann müssen wir die gesamte Kette ins Auge fassen. Es müssen verbindliche Regeln für die Lebensmittelerzeugung und den Handel her. Dazu brauchen wir die Ergebnisse einer Studie, die leider noch nicht vorliegen. Ich kann Sie nur auffordern: Lassen Sie zu, dass auch der Handel und die Hersteller in die Pflicht genommen werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin Ute Vogt. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In unserem Antrag „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“ heißt es: „Politik und Staat können und wollen den Menschen keinen bestimmten Lebensstil vorgeben.“ ({0}) Ich denke, es ist richtig, dass wir deutlich machen: Es geht nicht darum, dass wir Menschen vorschreiben, was sie in ihren Einkaufskorb legen oder was sie am Ende essen und trinken sollen, aber es geht schon darum, dass wir hier Mitverantwortung dafür tragen, dass sich die Menschen darauf verlassen können, dass die Lebensmittel, die sie kaufen, auch sicher sind. ({1}) Es ist für uns ein soziales Grundrecht, dass Lebensmittel gesund und bezahlbar sind und dass Menschen die Möglichkeit haben, gesunde Lebensmittel zu erwerben, egal ob sie sie an der Lebensmitteltheke kaufen, ob sie auf den Markt gehen, ob sie unmittelbar beim bäuerlichen Erzeuger einkaufen oder ob sie im Discounter ihre Lebensmittel erstehen. Ich denke, dafür stehen wir in der Verantwortung. Es gibt erfreulicherweise und Gott sei Dank sehr viele verantwortungsvolle Lebensmittelproduzenten, vor allem auch in der bäuerlichen Landwirtschaft. Wir werden auf der Grünen Woche Gelegenheit haben, viele von ihnen zu treffen und uns davon zu überzeugen, dass in Deutschland Lebensmittel von hoher Qualität produziert werden. ({2}) Aber es gibt genauso Bereiche, in denen oft schwerwiegende Missstände herrschen. Wir können heute Morgen diese Debatte nicht führen, ohne nicht auch darauf hinzuweisen, dass gerade erst vor drei Tagen wieder eine neue Meldung über den Einsatz von Antibiotika bei der Fleischerzeugung in unseren Gazetten zu lesen war. Ich zitiere aus der Süddeutschen Zeitung: „Ekel für wenig Geld“. So lautete dort eine Überschrift. In einer Untersuchung des BUND wurde festgestellt, dass billiges Fleisch besonders häufig mit antibiotikaresistenten Keimen belastet ist. Das war im Übrigen eine Untersuchung, wie sie von der Stiftung Warentest vor etwa einem Jahr schon einmal durchgeführt worden war - mit leider ähnlich erschreckenden Ergebnissen. Laut Zeitung waren drei von vier Putenfleischproben schwer belastet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch hier sind wir in der Verantwortung, Fehler, die im System liegen, ebenfalls zu beheben. Es leiden hier Verbraucherinnen und Verbraucher. Es leiden hier im Übrigen auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in diesen Betrieben arbeiten und zum Teil ausgebeutet werden, und es leiden nicht zuletzt auch die Tiere, die man unter Bedingungen hält, die nichts mehr mit artgerechter Haltung zu tun haben. ({3}) Wenn es um Ernährung und gesunde Lebensmittel geht, spielen viele Faktoren eine Rolle. Durch die Einführung des Mindestlohns haben wir es zum Beispiel geschafft, gerade in der Lebensmittelbranche zumindest bessere Arbeitsbedingungen als solche an der untersten Grenze festzulegen. Was trotzdem noch angepackt werden muss - ich bin froh, dass Ministerin Nahles dieses Thema angeht -, ist das Thema Werkverträge, das gerade im Bereich der Fleischproduktion eine große Rolle spielt. In diesem Bereich werden oft osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter missbraucht, um billig zu produzieren. ({4}) Es geht darum, dass wir das, was der Minister mit der Einrichtung des „Kompetenzkreises Tierwohl“ angestoßen hat, gerade auch in der Lebensmittelproduktion ernst nehmen, dass wir wahrnehmen, dass Tiere, die zusammengepfercht leben, krank werden, dass diejenigen Tiere, die krank werden, mehr Antibiotika brauchen und dass das dann wiederum zu einer Schädigung der Verbraucherinnen und Verbraucher führt. Deshalb sollte man die Haltungsbedingungen den Tieren anpassen und nicht umgekehrt. Auch das ist eine Regelung, die für uns im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf gute und sichere Lebensmittel notwendig ist. ({5}) Für uns gehört dazu, dass wir uns der Aufgabe stellen, das Tiergesundheitsrecht neu zu ordnen und auch die Verordnungspraxis zu überprüfen. Aber ich will ausdrücklich sagen: Die Praxis der Verordnung von Antibiotika - ungeprüft, ohne vorherige Spezifizierung - ist nicht nur ein Thema für die Tierärzte, sondern auch der Humanmedizin. Dieses Thema betrifft nicht zuletzt die Hygienemaßnahmen in den Krankenhäusern. Ich glaube, das ist das nächste große Themenfeld, das wir zusammen mit unseren Gesundheitspolitikerinnen und -politikern angehen sollten. ({6}) Schließlich geht es uns darum, dass wir die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken, dass wir dafür sorgen, dass die Lebensbedingungen von Tieren verbessert werden und dass die Herkunft der Produkte auf den Produktverpackungen nachlesbar ist, dass es Labels mit nachvollziehbaren Beschriftungen gibt und dass es nicht bei dem Wirrwarr bleibt, wie wir es im Moment in vielen Kennzeichnungsbereichen leider haben. In diesem Zusammenhang bin ich durchaus Ihrer Meinung, Kollegin Binder, dass wir auch das Thema Lebensmittelbuch-Kommission behandeln sollten; denn es kann nicht sein, dass das Ministerium mit großem Engagement das Internetportal www.lebensmittelklarheit.de beworben hat und dass wir auf der anderen Seite eine Kommission haben, die eigentlich permanent zur Verunklarung beiträgt. Wir sind gerne bereit, da noch einmal die Initiative zu ergreifen. ({7}) Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen: Die Struktur der Lebensmittelbranche in Deutschland umfasst vier große Anbieter, die ein Oligopol bilden. Diese vier Großen haben eine besondere Verantwortung, wenn es darum geht, den Wert der Lebensmittel entsprechend zu schätzen. Es geht nicht, dass diejenigen, die sich Mühe geben, Lebensmittel von hoher Qualität zu erzeugen, im Preis ständig gedrückt werden, dass man die Hersteller geißelt und knebelt, weil man gemeinsam praktisch Monopolmacht hat. Auch hier appelliere ich an die Verantwortung dieser Unternehmen. Ich denke, dass wir in der Koalition auch schauen müssen, ob wir nicht eine Möglichkeit finden, in Form eines Ombudsmanns oder einer Ombudsfrau eine Stelle zu schaffen, bei der sich auch die melden können, die als Herstellerinnen und Hersteller, als Produzenten unter enormen Druck kommen, weil die Lebensmittelbranche so aufgestellt ist, wie sie ist, und weil die Konkurrenz im Moment leider hauptsächlich über den Preis läuft. ({8})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Maisch für Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Lob anfangen - das soll man ja machen, wenn es angemessen ist -: Der Antrag der Koalition ist nicht schlecht. ({0}) - Ja, darin sind gute Forderungen. Das ist auch einmal ganz schön. Wir haben sonst viel zu streiten, gerade im Bereich Landwirtschaft und Ernährung. Es ist gut, dass es den gemeinsamen Willen aller drei Gruppen gibt, die hier Anträge vorgelegt haben, dass es den Kindern in den Schulen und Kindergärten, was das Essen betrifft, besser gehen soll. Ich finde es erst einmal gut, dass dieser gemeinsame Wille da ist. ({1}) Das ist ein gutes Zeichen, und vor allem ist es ein starkes Signal an die Bundesregierung, die da aktiv werden muss. Aber, ich finde, die Große Koalition müsste sich schon noch mehr Gedanken machen. Das letzte Mal, als Sie kooperiert haben, haben Sie das Kooperationsverbot in die Verfassung hineingeschrieben. Sie wollen jetzt das Thema Ernährung in den Lehrplänen verankern, Sie wollen einen TÜV für Caterer an Schulen, Sie wollen Einfluss auf die Ausschreibung beim Schulessen - und das alles ohne jede Bundeszuständigkeit. Da wünsche ich Ihnen viel Erfolg, ganz ehrlich; aber ich glaube, Sie müssten zuerst einmal einen großen Fehler beheben, nämlich das, was Sie bei der letzten Föderalismusreform verbockt haben. ({2}) Das heißt: Weg mit dem Kooperationsverbot! Dann können Sie auch beim Schulessen aktiver werden. ({3}) Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei all Ihren schönen Forderungen. Sehr viel davon fußt darauf, dass der Minister sehr stark aktiv werden muss. Bei allem Respekt, glaube ich, kann man sagen: Der größte Aktivposten in dieser Großen Koalition, in dieser Regierung ist er bisher nicht gewesen. Das wissen Sie auch. Deshalb haben Sie zum Beispiel zum Thema Lebensmittelverschwendung treuherzig in Ihren Antrag geschrieben: Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag „Lebensmittelverluste reduzieren“ … Dieser Antrag ist von Oktober 2012. Passiert ist seitdem nicht viel. Dieses „Wir bekräftigen“, Herr Schmidt, übersetze ich gern für Sie: Damit meinen Ihre Leute von CDU/CSU und SPD: Herr Schmidt, kommen Sie in die Puschen! Setzen Sie um, was wir hier gemeinsam schon vor fast drei Jahren beschlossen haben! ({4}) Aber interessanter als das, was Sie aufgeschrieben haben, ist das, worüber Sie in Ihrem Antrag schweigen, nämlich darüber, was unser gutes Essen bedroht, was Qualität, Gesundheit, Vielfalt und Würde von Mensch und Tier infrage stellt. Sie sagen in diesem Antrag - anders als die Rede von Frau Vogt vielleicht vermuten lässt kein Wort zu den Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche, ({5}) zu den Zuständen in den Schlachthöfen. Es gibt keine Forderung, die lautet: Weg mit dem mafiösen Missbrauch von Werkverträgen! Weg mit dem Lohnraub! Es findet sich nichts gegen die Ausbeutung vor allem von osteuropäischen Beschäftigten. Sie haben keine Forderung zu gutem Arbeitsschutz und keine Forderung zum Ende des Missbrauchs von Werkverträgen. ({6}) Es ist schön, so etwas hier in Reden zu sagen; aber ich hätte mir gewünscht, dass Sie das gemeinsam mit der Union aufschreiben. Das haben Sie bisher noch nicht hinbekommen. ({7}) Ich finde, man muss an dieser Stelle auch den Fleischbaronen und ihren Subunternehmern - aus welchen Milieus auch immer sie kommen - sagen: Wir schreiben das Jahr 2015 und nicht das Jahr 1915, und so müssen die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen auch sein. ({8}) Sie haben in Ihrem Antrag auch keine Forderung zum Thema „multiresistente Keime“. Meine Vorrednerin hat gesagt: 88 Prozent der bei Discountern gekauften Putenfleischproben waren mit antibiotikaresistenten Keimen verseucht. - Ja! Daraus muss man aber Konsequenzen ziehen. ({9}) Da reicht es nicht, wenn man sich hier vorn hinstellt und jammert, sondern da muss man sagen: Weg mit den Reserveantibiotika aus unseren Ställen! Aber das kriegen Sie, glaube ich, auf der anderen Seite des Hauses nicht vermittelt, und deshalb steht es nicht in Ihrem Antrag. ({10}) Dann muss man auch sagen: „Weg mit den Mengenrabatten für Antibiotika!“, damit sich diese Dauermedikation finanziell überhaupt nicht mehr lohnt. Auch das steht nicht im Antrag. Das ist die Schwäche Ihres Antrags: dass Sie da, wo es knirscht und kneift mit der Union, einfach den Mantel des Schweigens ausbreiten. ({11}) Was falsch läuft bei unserem Essen, das steht nicht in Ihrem Antrag. Das passt nicht auf den schwarz-roten Erlebnisbauernhof. ({12}) Zu viel Transparenz stört die Harmonie bei der Grünen Woche. Deshalb wollen Sie auch gar nicht mehr Information für Verbraucherinnen und Verbraucher. Dabei läuft doch genau da so viel schief. Gestern haben die Verbraucherzentralen eine Studie veröffentlicht, gemäß der für 63 Prozent der untersuchten Lebensmittel mit irreführenden Aussagen geworben wird. Meistens sind es Gesundheitsversprechen - besseres Wachstum, gesunde Knochen, scharfe Augen -, und sehr oft werden Eltern mit solchen falsch etikettierten Kinderlebensmitteln übers Ohr gehauen. Wir sagen: Verbrauchertäuschende Werbung, irreführende Produktaufmachung gehört verboten! Da müssen Sie sich dransetzen. Da helfen freiwillige Vereinbarungen nicht weiter. Ich möchte Ihnen noch einen Vorschlag aus unserem Antrag unterbreiten, von dem ich denke, es macht sehr viel Sinn, ihn zu diskutieren, weil spätestens über den Bundesrat dieser Vorschlag auch hier wieder auftaucht. Wir haben es mit dem Slogan „Kein Ei mit der Drei“ gemeinsam geschafft, dass Eier aus Käfighaltung weitgehend aus unseren Regalen verschwunden sind, übrigens auch beim Discounter. Bei den Frischeiern finden Sie kaum noch solche, die mit einer „3“ gekennzeichnet sind, auch nicht bei Aldi und Lidl. ({13}) Die, die jetzt den Kopf schütteln, nehme ich gerne einmal mit zum Einkaufen. „Kein Ei mit der Drei“ - das war ein Erfolg. ({14}) Wir wollen, dass es für Fleisch eine analoge Kennzeichnung gibt. Wir wollen, dass es in Zukunft nicht nur heißt: „Kein Ei mit der Drei“, sondern auch: „Kein Steak mit der Drei“ und „Kein Schnitzel mit der Drei“. ({15}) Dann bekommen wir wirklich Transparenz in den Fleischmarkt. Dann können die Verbraucherinnen und Verbraucher endlich frei entscheiden. ({16}) Weil wir gerade beim Fleisch sind: Herr Schmidt, Sie haben ja die Leute erwähnt, die Tierhaltung ganz ablehnen. Das sind die Veganer. Das sind nicht so furchtbar viele; von denen braucht man sich nicht bedroht zu fühlen. Aber die haben eine Eigenschaft: Die können ganz hervorragend kochen. Ich habe vorhin mit meiner AG besprochen: Wir laden Sie gerne einmal ein, mit uns zusammen in eines der vielen veganen Restaurants in Berlin essen zu gehen. Das heißt nicht, dass man am Ende sämtliche Einstellungen der Veganer übernehmen muss, aber man kann zumindest sehen, dass man nicht gleich verhungert, wenn man vegan isst. ({17}) Kolleginnen und Kollegen, am Samstag werden wieder Tausende Menschen hier in Berlin für besseres Essen und eine andere Landwirtschaftspolitik demonstrieren. Ich glaube, es ist ein Fehler, vor allem des Bauernverbandes, aber auch von großen Teilen der Union, zu glauben, dass sich diese Demonstration gegen die Bauern richtet. Mitnichten! Das ist eine Demonstration gegen Ihre Agrarpolitik. ({18}) Wenn Sie sagen, wir griffen die Bauern an, dann verstecken Sie sich hinter der Branche. Das ist eine Demonstration, die sich gegen eine falsche Agrarpolitik richtet. ({19}) Deshalb werden wir am Samstag hier wieder demonstrieren. Ich glaube, dass es auch diesmal wieder sehr viele Leute sein werden, die sagen: Wir wollen eine andere Agrarpolitik. Wir wollen besseres Essen. Und dafür gehen wir gemeinsam auf die Straße. Vielen Dank. ({20})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank, Frau Kollegin Maisch. Ich darf Sie insbesondere für die präzise Einhaltung der Redezeit loben. Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Landgraf, CDU/CSU. ({0})

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere heutige Debatte findet ja kurz vor dem Mittagessen statt. Vielleicht gönnen Sie sich trotz des Eröffnungsrundganges über die Grüne Woche heute Abend bereits nachher schon ein warmes Mittagessen in einem der Restaurants des Bundestages. Angenommen, Sie schaffen das zeitlich und lassen sich erwartungsvoll nieder: Was würden Sie dann sagen, wenn der Oberkellner freudestrahlend statt des üblichen Bestecks zwei Brechstangen aus hartem Stahl neben Ihren Teller legt, für die heiße Vorspeise einen unförmigen Löffel bringt, der wie ein Gesetzesparagraf aussieht, und außerdem statt der gewohnten Speisekarte ein Blatt aus dem Bundesanzeiger mit den aktuellen Speiseverordnungen für das Restaurant und seine hungrigen Gäste überreicht? ({0}) Freundlich kommentiert der Kellner: Das ist unser kreativer Beitrag, um das Thema gesunde Ernährung endgültig zu knacken. - „Wie bitte?“, werden Sie verdutzt fragen. Mit einer Brechstange kann man sicherlich eine Walnuss aufschlagen, um an die Frucht zu kommen. Aber gesundes Essen nach der Vorgabe des Bundesanzeigers? Nein danke! ({1}) Die Nahrungsaufnahme als eine der ältesten Kulturtechniken der Zivilisation funktioniert wohl kaum mit einer Brechstange. Wir brauchen dafür andere Instrumente, die wir mit Geschick und Grips einsetzen. Am Ende wollen wir alle die Mahlzeit auch genießen und sie nicht als profane Energieaufnahme empfinden. Ich lasse Ihnen allen jetzt gern jegliche Freiheit, diese eben geschilderte imaginäre Szene zu interpretieren. ({2}) Fakt ist doch eines: Die Brechstange ist sicherlich hilfreich für grobe Dinge auf dem Bau oder beim Abriss, aber völlig ungeeignet für solche feinsinnigen Dinge des Lebens wie eben die Ernährung. Sie ist eher eine Angelegenheit des Kopfes, der Sinne und des Wissens. Nichts ist persönlicher und direkter auf den Menschen bezogen als die Ernährung. Sie ist lebensnotwendig, lebensbejahend und im negativen Falle sogar lebens- und gesundheitsbedrohend. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Jeder Mensch trägt hier eine direkte persönliche Verantwortung. Wenn er diese noch nicht oder nicht mehr wahrnehmen kann, so sind es engagierte Menschen, die diesen Schutzbefohlenen zur Seite stehen müssen. Politik und Staat müssen hier flankierend und hilfreich wirken, ohne jedoch die eigentliche persönliche Verantwortung des Einzelnen zu übernehmen oder diese übernehmen zu wollen. Das ist auch die Zielrichtung unseres heutigen Antrags. Entscheidend für das Ernährungsverhalten und insgesamt für eine gesunde oder ungesunde Ernährung ist die Lebenskompetenz des Menschen mit seinem Wissen, seiner Bildung, seinen Erfahrungen und nicht zuletzt mit seinen ganz persönlichen Veranlagungen. Letztere stellen Eltern nicht selten vor ein Rätsel. Bei meinen acht heranwachsenden Enkeln erlebe ich selbst mit großem Erstaunen, wie unterschiedlich sich das jeweilige Ernährungsverhalten entwickelt. Erziehungswissenschaftler und Weiterbildungsexperten sagen mir, dass rund 80 Prozent der Lebenskompetenz des Menschen nicht in den allgemeinbildenden Schulen entwickelt wird. Man eignet sie sich durch erfahrungsbezogenes Lernen im Leben vor und nach dem Schulbesuch an. ({3}) Also ist die gesunde Ernährung eine generationenübergreifende und in jedem Lebensalter wichtige Lernaufgabe. Ihre Erfüllung ist gelebte Eigenverantwortung eines jeden Menschen: für sich selbst und für alle seine Schutzbefohlenen. Als Familienpolitikerin möchte ich auch hier mit allem Nachdruck feststellen: Der zentrale Ort für die Entwicklung der erforderlichen Ernährungskompetenz ist im Normalfall die Familie in ihrer Vielfalt mit ihren Traditionen und Gepflogenheiten. ({4}) Eltern und Großeltern vermitteln noch vor der Schulbildung ihren Kindern und Enkelkindern das Thema „Gesunde Ernährung“ mit ihrem persönlichen Wissen und ihrem persönlichen Vorbild. Dieses traditionelle und nicht zu ersetzende Lebenszentrum wird durch Politik und Staat mit vielfältigen Instrumenten aktiv unterstützt; so in der Hauptsache durch die schulische und berufliche Bildung sowie durch öffentliche Aufklärung. Außerdem sind Bildungsangebote für Eltern, insbesondere für werdende Mütter, ebenfalls grundlegende Hilfen. ({5}) Eine hochwertige und altersgerechte Schulverpflegung sowie eine fundierte schulische Ernährungsbildung sind eine bedeutende öffentliche Unterstützung der gesunden Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Beides ist insofern wichtig, weil immer mehr Kinder und Jugendliche über etliche Jahre hinweg tagsüber eine lange Zeit in der Schule verbringen. Die anlässlich des ersten „Bundeskongresses Schulverpflegung 2014“ im November vorigen Jahres durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft initiierte Qualitätsoffensive zur Verbesserung des Schulessens ist Basis für eine gemeinsame Strategie von Bund, Ländern, Kommunen und Schulen. Der Bundestag unterstützt seit 2008 den Nationalen Aktionsplan IN FORM als Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und Bewegung. Damit soll erreicht werden, dass Kinder gesünder aufwachsen, Erwachsene gesünder leben und von einer höheren Lebensqualität und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit profitieren. Die Fortführung von IN FORM bis zum Jahr 2020 muss allerdings mit einer stärkeren Breitenwirkung der vielfältigen Aktivitäten und Projekte verbunden werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste auf der Besuchertribüne, die Internationale Grüne Woche, die heute Abend eröffnet wird, ist die traditionelle und weltweit bekannte Leistungsschau der Land- und Ernährungswirtschaft. Jährlich nutzen rund 400 000 Besucherinnen und Besucher dieses Treffen, um Speisen und Getränke aus den Regionen Deutschlands wie auch aus aller Welt zu probieren und Tiere in Augenschein zu nehmen. Sie informieren sich über die Entwicklungen in der Produktion von Lebensmitteln. Die Internationale Grüne Woche bietet vielfältige Gelegenheiten zur Kommunikation über die Zukunft der Branche sowie über bestehende und zu lösende Probleme. Essen und Trinken haben in den Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger immer mehr einen festen und dauerhaften Platz. Das ist nicht zuletzt der umfangreichen Präsentation in den Medien geschuldet. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land erleben in ihrem Alltag eine nur schwer zu überblickende Vielfalt und Menge an Angeboten von landwirtschaftlichen Produkten und Nahrungsmitteln. Wie nie zuvor können sie dabei auf sichere, qualitativ hochwertige und auch erschwingliche Lebensmittel, insbesondere auf regionale Produkte, zurückgreifen. Dafür gebührt den Landwirten und auch den Nahrungsmittelproduzenten Dank und Wertschätzung. ({6}) Die Entscheidung darüber, in welcher Weise die Angebote und Möglichkeiten genutzt werden, sind stets individuell geprägt, jedoch auch durch viele äußere Faktoren wie Werbung und Verbraucherinformationen positiv oder negativ beeinflusst. Die zunehmende Diskrepanz zwischen dem vielfältigen Angebot von hochwertigen Lebensmitteln, die eine gesunde Ernährung ermöglichen und befördern, und dem stetigen Anwachsen ernährungsbedingter Krankheiten auf der anderen Seite erhöht für uns Politiker den Handlungsdruck. Es ist unbestritten: Viele gesundheitliche Probleme haben ihre Ursache in ungesundem Ernährungsverhalten, zum Beispiel im übermäßigen Verzehr von energiereicher Kost. Das ist ein gesellschaftliches Dilemma, aus dem wir nicht mit Brechstange und Paragrafen herauskommen. Wir brauchen noch mehr zündende Ideen, die jeden dazu inspirieren, bei der gesunden Ernährung mit ganzem Herzen dabei zu sein. Klar ist: Es ist das gemeinsame Ziel der Koalition von CDU/CSU und SPD, in Deutschland ein nachhaltig wirkendes gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, das es allen Menschen ermöglicht, sich gesund und bewusst zu ernähren, und die Bürgerinnen und Bürger in allen Lebenswelten dazu motiviert. Meine Damen und Herren, meine Rede hatte ich mit einer fiktiven Szene aus dem Bundestagsrestaurant begonnen. Schließen möchte ich mit einem realen Bild, das uns das Problem veranschaulicht: Auf dem modern gestalteten Bahnsteig des Bitterfelder Bahnhofs, der unscheinbar grau ist, kann man etwas entdecken: einen Farbtupfer mit den Slogans „Frisch und Lecker“ und „Einfach genial!!!“ - mit drei Ausrufezeichen und einem erhobenen Daumen darunter. Im Hintergrund sind viele bunte Bonbons einer bekannten Marke zu sehen. Das Plakat verziert die Seiten- und Rückwand eines üblichen Selbstbedienungsautomaten mit allerlei Süßem - fest oder auch flüssig. Wenn irgendwann mal ein mit solcher Werbung versehener Automat nicht nur in Bitterfeld frisches Obst und gesunde Getränke feilbieten sollte, dann haben wir - symbolisch gesehen - etwas gekonnt in Sachen gesunde Ernährung. Aber auch hier sollten wir nicht mit der Brechstange agieren. Vielen Dank. ({7})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Lay von der Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich freue mich sehr, dass wir zum wichtigen Thema gesunde Ernährung heute in der Kernzeit sprechen können. Ich finde auch, dass wir es bei so einem wichtigen Thema nicht bei formlosen Appellen belassen sollten, sondern tatsächlich Butter bei die Fische geben und über genau diejenigen Bereiche sprechen sollten, die eine gesunde Ernährung und die Information über gesunde Ernährung gefährden. Deswegen meine ich, dass wir beim Thema gesunde Ernährung beispielsweise auch über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA, TTIP, sprechen müssen. ({0}) Ich finde es gut, dass der Minister heute auch einige kritische Worte zu einzelnen Punkten gefunden hat; denn in der Südwest Presse hat er noch vor einiger Zeit erklärt, TTIP sei für die Verbraucher keine Bedrohung, sondern eine Chance. Da höre ich wohl nicht richtig! Wenn das Freihandelsabkommen eine Chance ist, dann ist es eine Riesenchance für die Konzerne, aber doch nicht für die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({1}) Herr Minister, Sie befürchten beispielsweise - das haben Sie auch gesagt -, dass die regionalen Herkunftsbezeichnungen möglicherweise aufgeweicht werden, dass dann beispielsweise eine Spreewald-Gurke auf den Markt kommt, die den Spreewald noch nie gesehen hat. Diese Befürchtung teile ich. Nehmen wir das Thema Hormonfleisch. Es ist bekannt, dass in der gigantischen und durchindustrialisierten Fleischproduktion in den USA Wachstumshormone zum Einsatz kommen. Diesen lehnen die Verbraucherinnen und Verbraucher bei uns ab. Der Import von Hormonfleisch in die EU ist zu Recht verboten. Wir finden, dass das so bleiben soll. Deswegen freut mich, dass der Minister dieses Thema heute angesprochen hat. Allerdings sehen die NGOs die Gefahr, was den Import dieses Hormonfleisches in die Europäische Union anbelangt, noch nicht gebannt. Das Gleiche gilt für die Gentechnik. Bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern in Europa gehen die Alarmglocken an, wenn sie hören, dass in den USA der Großteil der Soja-, Mais- oder Zuckerrübenpflanzen gentechnisch verändert ist. In Deutschland beispielsweise lehnen 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher Gentechnik ab. Deswegen sagen wir: Europa darf auch zukünftig kein Markt für Gentechnik sein. ({2}) Wenn wir uns einig sind im Bereich Gentechnikimporte, wenn wir uns einig sind im Bereich Hormon7500 fleischimporte und auch beim Schutz regionaler Herkunftsbezeichnungen, dann freut mich das, Herr Minister. Aber ich muss schon sagen, dass das geplante Freihandelsabkommen aus meiner Sicht an anderen Stellen viel größere Gefahren birgt. Auch die müssen heute angesprochen werden, beispielsweise die geplanten privaten Schiedsgerichte und die Investorenklagen. Zum einen führen sie zu einem erheblichen Demokratieproblem. Zum anderen hat es Auswirkungen auf den Bereich Lebensmittel und Ernährung, wenn beispielsweise ein US-amerikanischer Hersteller über den Weg dieser Schiedsverfahren einklagen kann, den selbst produzierten holländischen Gouda oder die Spreewaldgurke auf den europäischen Markt zu bringen. Wenn Sie es ernst meinen mit Ihrer Kritik, dann müssen Sie auch den Mut haben, sich über die privaten Schiedsgerichte mit den Konzernen anzulegen. ({3}) Ein weiteres Grundproblem: Wir müssen überlegen, ob wir als Gesetzgeber überhaupt noch die Möglichkeit haben werden, Standards und Regelungen zu definieren, die die Gewinne der Konzerne schmälern, oder ob wir entgangene Gewinne am Ende durch Steuermittel kompensieren müssen. Die Kernfrage beim Freihandelsabkommen ist nicht: Kann man hier und da ein wenig herumdoktern und das eine oder andere Schlimme verhindern? Das ist offenbar Ihre Position. Vielmehr geht es aus meiner Sicht um die Frage: Ist mehr Freihandel, ist mehr Globalisierung nicht grundsätzlich der falsche Weg? Das ist die Position der Linken. Wir wollen mehr regionale Produktion, und wir wollen regionale Wertschöpfungsketten. Deswegen sagen wir: Dieses Freihandelsabkommen, das TTIP, muss verhindert werden. ({4}) Ich freue mich deswegen, dass schon Millionen Unterschriften gegen das TTIP gesammelt wurden. Ich freue mich, dass wir bei der „Wir haben es satt!“-Demo am Samstag die Gelegenheit haben werden, unter anderem dagegen zu demonstrieren. Lassen Sie mich zum Schluss etwas zum Verbraucherinformationsgesetz sagen; denn das gehört zu diesem Thema dazu. Das Verbraucherinformationsgesetz in der derzeitigen Form ist gut gemeint, aber leider ziemlich wirkungslos. 90 Prozent der Anfragen werden mangelhaft beantwortet: zu spät, zu teuer oder unvollständig. Das ergaben eine Studie der Verbraucherorganisation Foodwatch und nicht zuletzt eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Für uns Linke ist ganz klar: Das VIG muss erstens leichter anwendbar sein. Es muss zweitens eine Auskunftspflicht der Unternehmen gegenüber den Verbrauchern beinhalten. Die Informationen müssen drittens kostenfrei sein; denn Transparenz darf nicht vom Geldbeutel der Verbraucher und der Organisationen abhängen. ({5}) Schließlich - und das ist mein letzter Punkt - werden in der jetzigen Form des VIG die Behörden ausgebremst, Informationen weiterzugeben. Die Bundesgesetze sind unklar, und deswegen gibt es immer wieder Situationen, in denen die Behörden nicht die Namen der Unternehmen nennen können, wenn beispielsweise die Pestizidgrenzwerte im Paprika überschritten oder die Hygienestandards in einer Bäckerei oder in einem Restaurant nicht eingehalten werden. Es dient deshalb der gesunden Ernährung, wenn wir als Linke heute erneut fordern: Das derzeitige Verbraucherinformationsgesetz muss dringend novelliert werden; denn nur durch andere Instrumente können wirkungsvolle Informationen an die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich gesund ernähren wollen, weitergegeben werden. Vielen Dank. ({6})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Jeannine Pflugradt. ({0})

Jeannine Pflugradt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004375, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“: Warum sprechen wir heute darüber? Heutzutage nehmen sich die Menschen weniger Zeit für ihre Mahlzeiten. Das Essen ist kein Erlebnis mehr, sondern nur noch reine Nahrungsaufnahme, und es wird nur noch selten regelmäßig im Familienverbund genossen. Selbst die grundlegenden Dinge scheinen nicht mehr selbstverständlich. Die ständige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in Deutschland führt dazu, dass wir uns über die Werte des Essens und Trinkens zu wenig Gedanken machen und Nahrungsmittel nicht mehr richtig wertschätzen. Ein Bewusstseinswandel kann nur durch Aufklärung und Eigenmotivation der Menschen zu selbstbewussten sowie mündigen Verbrauchern erfolgen. Kitaeinrichtungen und Schulen als Lernort sind dafür wichtige Anlaufstellen. Heute geht zum Beispiel jedes dritte Kind ohne Frühstück in den Unterricht. Das ist schwer vorstellbar, aber leider wahr. Hier können Kitas und Schulen ansetzen und den Wert von gesunder sowie ausgewogener Ernährung vermitteln. Sich mit Essen und Lebensmitteln auszukennen, hat heute viel mit dem sozialen Status zu tun. Essen ist zu einem Identifikationsmittel geworden. Das Interesse an gutem Essen hat zugenommen, und parallel dazu entwickelt sich die Küche wieder zum zentralen Bestandteil des familiären Lebens. Aber tatsächlich richtig gekocht wird weit weniger als früher. Wir brauchen deshalb langfristige Programme, die alle Menschen in jeder Lebenslage direkt erreichen. Ein anderer Aspekt der Wertschätzung von Nahrungsmitteln ist die Preisgestaltung. Über diese können wir vermitteln, was uns das Essen wert ist, welches wir konsumieren. Preise erhalten dadurch als Teil der WertJeannine Pflugradt schöpfungskette eine herausragende Bedeutung. Sie sagen dem Verbraucher nicht nur, dass das Produkt von hoher Qualität ist, sondern auch, dass es hochwertig produziert wurde. Leider geht der Trend derzeit noch zum Billigmarktsegment. „Hauptsache billig“ müssen unsere Lebensmittel sein. Das ist für mich persönlich verwirrend; denn wenn wir uns zum Beispiel einen Neuwagen kaufen, entscheiden wir über den Preis, ob der Wagen, den wir kaufen, eine gute Qualität hat. Warum zahlen wir also nicht auch etwas mehr für ein gutes Stück Fleisch oder für frisches Obst und Gemüse? Wertschätzung umfasst somit die Produktion, den Kauf und den Verzehr des Nahrungsmittels sowie die Vermeidung von Abfall. Hier ist meiner Meinung nach aber jeder einzelne Verbraucher gefragt. Das erfordert ein Umdenken beim Konsum. Mit dem weiteren Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland muss auch das Verpflegungssystem für Kinder und Jugendliche überdacht werden. Schulverpflegung verstehen wir Sozialdemokraten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die als gleichwertiger Bestandteil in das Schulleben integriert werden sollte. ({0}) Die Sensibilisierung für dieses Thema muss dort beginnen, wo die Lernbereitschaft von Menschen am größten ist, nämlich in den Kitas und in den Schulen. Zunächst betrifft das die Bereitstellung einer ausgewogenen, gesunden Verpflegung, die sich mindestens an den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung orientieren sollte. Zumindest aber sollte geprüft werden, wie ein gesichertes Kontrollsystem die Einhaltung dieser Standards gewährleisten kann. Deshalb fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, die Bundesregierung auf, in Zusammenarbeit mit den Bundesländern den Worten unseres Bundesministers Christian Schmidt Taten folgen zu lassen, nämlich die DGE-Qualitätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung flächendeckend in Deutschland zu etablieren und ein Nationales Qualitätszentrum Schulessen, wie es Bundesminister Schmidt auf dem Bundeskongress Schulverpflegung angekündigt hat, einzuführen. Dieses Zentrum sollte bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und den Schulvernetzungsstellen angesiedelt sein.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Pflugradt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Maisch?

Jeannine Pflugradt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004375, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Sie haben gerade davon gesprochen, dass Bund und Länder gemeinsam die DGE-Standards zur Pflicht machen sollen. Das finden wir sehr gut. Ich möchte Sie fragen, wie Sie in diesem Zusammenhang zum Kooperationsverbot stehen: Finden Sie es förderlich für eine solche Zusammenarbeit im Bildungsbereich?

Jeannine Pflugradt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004375, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Kooperationsverbot ist nicht förderlich. Ich persönlich habe da auch einen ganz eigenen Standpunkt: Ich plädiere für die Aufhebung des Kooperationsverbotes, damit die Länder einen Partner an der Seite haben, nämlich den Bund. ({0}) Zurück zu meiner Rede: Ein wichtiger Schritt ist, die DGE-Standards an Kitas und Schulen im Ausschreibungsverfahren und in den Verträgen mit den Trägern zu verankern. Nur wer sich daran hält, sollte den Auftrag zur Verpflegung von Kindern und Jugendlichen bekommen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Forderung nach einem Qualitätsnachweis, dem sogenannten Ernährungs-TÜV für Anbieter. Vergessen werden darf bei der heutigen Debatte nicht, dass die Gemeinschaftsverpflegung auch in anderen Bereichen des Lebens, also über Kita und Schule hinaus für den eigenen Lebensstil bedeutend ist. Ich spreche mich an dieser Stelle mit Nachdruck dafür aus, angepasste Qualitätsstandards als Mindeststandards vorzusehen und sie insbesondere bei der Verpflegung in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und anderen öffentlichen Kantinen genauso strikt durch die Länder umsetzen zu lassen wie bei der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen. ({1}) Kranke und pflegebedürftige Menschen sowie Arbeitnehmer im Arbeitsalltag benötigen eine vollwertige Ernährung, die an ihre Bedürfnisse und Lebensumstände angepasst sein sollte. Das muss zumindest in der Gemeinschaftskantine gewährleistet sein. Gerade die Vernetzungsstellen Schulverpflegung leisten im Lebensabschnitt Kita und Schule gute Arbeit, wenn es um die Verbreitung von Qualitätsstandards und Qualifizierung geht. Sie sind für die Einrichtungen die zentrale Anlaufstelle bei allen Fragen rund um die Schulverpflegung und erhöhen dadurch auch die Akzeptanz der Verpflegungsangebote. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesländer deshalb auf, weiterhin ihren finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Vernetzungsstellen Schulverpflegung zu leisten, damit der Bund nach 2016/2017 nicht aus der Finanzierung aussteigt. Die Vernetzungsstellen müssen als zentrale Beratungsstellen für die Kita- wie die Schulverpflegung verankert werden. In einigen Bundesländern arbeiten die Vernetzungsstellen mit den Landfrauen zusammen. Sie unterstützen die Schulen deutschlandweit dabei, den Ernährungsführerschein als Bildungsmaßnahme für Grundschulkinder anzubieten, durchzuführen und bei Erfolg zu überreichen. Diese Bildungsmaßnahme sollte weiterhin durchgeführt werden können, wenn nicht sogar ausgebaut werden. Ich freue mich, dass der Nationale Aktionsplan IN FORM weiterhin durch den Bund gefördert wird und Niederschlag im kommenden Präventionsgesetz finden wird, in dem die Folgen von Fehlernährung sowie Bewegungsmangel angemessen berücksichtigt werden müs7502 sen. Ich wünschte mir, dass an einigen Stellen der Initiative IN FORM Anpassungen vorgenommen würden, zum Beispiel, wenn geförderte Projekte keinen Mehrwert bieten und keinen Beitrag zur Prävention gegen Übergewicht leisten. Das gilt insbesondere, wenn gleichzeitig an anderen Stellen gespart wird. Nur gute Projekte müssen fortgeführt und durch weitere Maßnahmen ergänzt werden. Die Projekte müssen genau betrachtet werden, um festzustellen, ob sie zielführend sind. Insbesondere Kinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien sind von Fehlernährung betroffen. Gerade für uns Sozialdemokraten ist es eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, für ihre Teilhabe an gesunder Ernährung zu sorgen. Wir wollen sie vor Fehlernährung schützen und allen Kindern unabhängig von Herkunft, Bildung und Einkommensstatus der Eltern eine Chance auf ein gesundes Leben geben. ({2}) Zum Abschluss möchte ich einen Aspekt eines gesunden Lebensstils aufgreifen, der mir persönlich sehr wichtig ist. Nach einem Ranking der Deutschen Diabetes Gesellschaft steht eine Stunde Bewegung am Tag an erster Stelle, wenn es um die Wirksamkeit einzelner Methoden zur Prävention von übergewichtsbedingten Krankheiten geht. Bewegung und ausgewogene Ernährung gehören also zusammen und müssen gemeinsam betrachtet werden. Körperlich aktiv zu sein, bedeutet nicht, ständig Sport zu treiben. Vielmehr sollten die Möglichkeiten genutzt werden, im Alltag das Maß an eigener Bewegung zu steigern: Anstatt des Autos kann man mal das Fahrrad nehmen oder anstatt des Fahrstuhls die Treppe; da fasse ich mir an die eigene Nase. Es gilt, ein Bewusstsein für positive Effekte von Bewegung zu schaffen, also die Motivation zur Alltagsbewegung zu stärken. Im Alltag müssen vor allem zielgruppenspezifische Möglichkeiten zur Bewegung geschaffen werden. Die Anreize zur Bewegung müssen so attraktiv wie möglich gestaltet sein. Sportvereine können den Wunsch nach sportlicher Betätigung erfüllen und sind darüber hinaus ein wichtiger gesellschaftlicher Anlaufpunkt hinsichtlich der sozialen Integration. Der soziale Status darf - das gilt auch hier - kein Hindernis für die Mitgliedschaft in einem Verein sein. Am Ende meiner Rede möchte ich die herausragende Stellung der Familie für die Weitergabe eines gesunden Lebensstils hervorheben. Wir alle vermitteln als Eltern mit jedem Wort und jeder Handlung direkt und unmittelbar Werte fürs Leben. Wir sind lange Zeit die Vorbilder für die eigenen Kinder, für den eigenen Nachwuchs. Ich hoffe jedenfalls für mich, dass mein Sohn das genauso sieht. Unsere Kinder zu unterstützen und Hilfestellung zu geben, wenn sie diese brauchen, ob beratend oder finanziell, das muss für alle Eltern oberste Priorität haben. Ein gesunder Lebensstil enthält deshalb notwendigerweise beide von mir angesprochenen Komponenten, eine ausgewogene Ernährung und ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität. Beides sollte durch gesetzliche Rahmenbedingungen oder empfohlene Richtlinien unterstützt werden. Den Weg dorthin muss aber jeder Mensch alleine gehen. Vielen Dank. ({3})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Koalition hat einen ordentlichen Antrag zur Ernährung vorgelegt. ({0}) Da steht auch nichts wirklich Falsches drin. Aber ({1}) angesichts der aktuellen Herausforderungen in dem gesamten Bereich Ernährung und Landwirtschaft wirkt das eher wie ein hilfloser Versuch, irgendwo mit dem Stopfen anzufangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die ganze Scheune marode ist, dann hilft es wenig, vorne dran eine kleine, aber feine neue Hundehütte mit einem schicken Dach zu stellen. Das sieht zwar gut aus, aber es regnet trotzdem noch ins Heu rein. ({2}) Gesunde Ernährung gibt es nämlich nur auf der Basis einer gesunden Lebensmittelerzeugung. Im UNO-Jahr der Böden sei an das Ökolandbauprinzip erinnert: gesunder Boden, gesunde Pflanzen und Tiere, gesunde Lebensmittel, gesunder Mensch. Herr Minister Schmidt, dabei geht es nicht darum, dass die IGW die Landwirtschaft der letzten 50 Jahre zeigt, sondern dass sie auch zeigt, wie es in den nächsten zehn Jahren weitergeht. ({3}) Es geht um eine bäuerliche Landwirtschaft als Grundlage einer gesunden Agrarstruktur. Es geht um eine Erzeugung ohne ungesunde Zutaten wie Gentechnik oder Pestizide. Es geht um eine Erzeugung, die Menschen, Tiere und Agrarökosysteme gesund hält. An dieser Stelle ein Wort zu den Antibiotika. Der prophylaktische Einsatz von Antibiotika ist ja verboten und nicht nur nicht wünschenswert. Das sollte auch der Herr Minister wissen. ({4}) Es geht aber auch um die Erhaltung unserer Standards bei TTIP und CETA, um Wahlfreiheit und Transparenz. Wir erleben seit Jahrzehnten ein dramatisches Höfesterben. Aber statt bei der GAP-Reform die Interessen der kleinen und mittleren Betriebe zu vertreten, hat die Bundesregierung die Interessen der Agrarindustrie vertreten. Denn wer profitiert von den nach oben ungedeckelten Direktzahlungen? Das sind doch nicht die kleinen und mittleren Betriebe. Eine gesunde Agrarstruktur braucht natürlich auch eine vielfältige Wertschöpfungskette. Vielfalt und Qualität erfordern Kompetenz, wie sie im Lebensmittelhandwerk angelegt ist. Insofern sind wir zu Recht stolz auf die Vielfalt unserer Wurst- und Backwaren. Natürlich müssen wir zur Stärkung von Landwirtschaft und Handwerk unsere geografischen Spezialitäten verstärkt unterstützen. Aber Minister Schmidt möchte angesichts von TTIP nicht mehr jede Wurst schützen. Zu gesunden Zutaten gehören ganz bestimmt nicht Gentechnik oder Pestizide. Die Ablehnung der Gentechnik ist gut begründet. Ihre Folgen sind bekannt: weniger Sortenvielfalt, Monopolisierung, Patentierung, steigende Pestizidmengen und eine fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft. Und was macht die Große Koalition? Sie machen in der EU den Weg frei für neue Anbau- und Importzulassungen. Jetzt wollen Sie auch noch bei TTIP die in Europa bereits bestehende Kennzeichnungspflicht für Gentech-Zutaten in Lebens- und Futtermitteln opfern. Minister Schmidt hat in der Tagesschau einen Vorschlag präsentiert, nach dem die Bürgerinnen und Bürger künftig jeden einzelnen Artikel mittels Barcode und Smartphone auf mögliche Gentech-Zutaten abscannen müssen, wenn sie wissen wollen, ob Gentech drin ist. Das ist doch der absolute Gipfel der Verbrauchertäuschung. Man schreibt es nicht im Klartext drauf, und dann wird es schon keiner merken. ({5}) Ich bin wirklich fassungslos. Die Verhandlungen sind noch nicht einmal richtig in die heiße Phase gekommen, da räumt die Bundesregierung schon freiwillig die Grundpfeiler des europäischen Verbraucher- und Umweltschutzes ab. Sie streben in Ihrem Koalitionsvertrag die Kennzeichnungspflicht für Nachkommen von geklonten Tieren und deren Fleisch an. Das finden wir richtig. Aber Sie wissen doch ganz genau, dass eine solche Kennzeichnung mit dieser Art von TTIP, mit diesem Verhandlungsmandat und unter den aktuellen Verhandlungsbedingungen nicht zu bekommen ist. Auch die Ausweitung der bestehenden Gentechnikkennzeichnung auf tierische Lebensmittel, die unter Verwendung von gentechnisch veränderten Futtermitteln produziert werden, wird mit CETA und TTIP so nicht zu realisieren sein. Das wurde in unseren Gesprächen mit Ausschuss und Minister in den USA mehr als deutlich. Das hat uns auch unsere Studie noch einmal bestätigt. Wenn Sie die Wahlfreiheit der Verbraucher bei TTIP opfern, rettet uns auch kein Opt-out mehr vor der Gentechnik. Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von SPD und Union, in Ihrem Antrag stehen viele gute Dinge. ({6}) - Schön. - Aber eine bessere Wertschätzung - Kollegin Pflugradt hat die Wertschätzung angesprochen - von Lebensmitteln werden wir nur erreichen, wenn wir Lebensmittel wertorientiert erzeugen mit einer Land- und Lebensmittelwirtschaft, die unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhält, ({7}) anständig mit Mensch und Tier umgeht und auf moderne ökologische Konzepte statt auf Risikotechnologien setzt. Mit Ihrem heutigen Antrag haben Sie pünktlich zur IGW den Tisch hübsch eingedeckt. Jetzt sollten Sie über den Tellerrand schauen und mit uns die Agrarwende und die Gentechnikfreiheit unterstützen. Danke schön. ({8})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Mechthild Heil. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es bereits gehört: Heute beginnt die Grüne Woche. Dies ist ein Grund, einmal mehr über gesunde Ernährung und über die Wertschätzung von Lebensmitteln gemeinsam zu sprechen. Wir haben in Deutschland eine luxuriöse Situation: Noch nie waren Lebensmittel so günstig wie heute. Vor 100 Jahren haben wir etwa 50 Prozent unserer Konsumausgaben für Nahrungsmittel aufgebracht, heute sind es nur noch 15 Prozent. Auch das ist sozial, Frau Vogt. Lebensmittel waren noch nie so sicher wie heute: 99,7 Prozent aller angebotenen Lebensmittel sind sicher. Damit sind sie viel sicherer als noch vor einem Jahrzehnt. ({0}) Noch viel wichtiger ist: Die allermeisten Deutschen haben genug zu essen. Das ist auch für unser Land nicht immer selbstverständlich gewesen. Ein Blick auf die Welt zeigt, wie außergewöhnlich gut es uns heute in Deutschland geht. Wir müssen sehen, dass weltweit jedes Jahr mehr Menschen an Hunger sterben als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen. Über 800 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Jeder Deutsche, jeder von uns, wirft im Schnitt im Jahr ungefähr 82 Kilo Lebensmittel weg. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Das darf uns nicht egal sein, und das müssen wir ändern. ({1}) Deswegen sage ich an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an unsere damalige Verbraucherschutz7504 ministerin Ilse Aigner, die die Initiative „Zu gut für die Tonne“ ins Leben gerufen hat. Mit dieser Initiative hat sie viele erstmals auf dieses Problem aufmerksam gemacht. 2012 - wir haben es eben schon gehört - haben wir einen fraktionsübergreifenden Antrag für die Eindämmung der vermeidbaren Lebensmittelverluste vorgelegt. Manches hat sich seitdem getan, aber das ist noch längst nicht genug. Deshalb wollen wir heute unsere Forderung noch einmal ganz stark bekräftigen. Uns geht es darum, die gesunde Ernährung zu stärken. Die Kollegin Landgraf hat schon einige wichtige Punkte aufgezählt, zum Beispiel hohe Standards bei der Verpflegung in Schulen und Kitas zu verankern und bei Kindern und Jugendlichen verstärkt für Ernährungsaufklärung zu sorgen. Das alles geschieht unter dem Motto: Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sondern durch den Lebenswandel. Dieser Kneipp’schen Weisheit möchte ich hinzufügen: Gesundheit kann man auch nicht von der Politik verordnet bekommen. Zwei Aspekte in dem Antrag sind mir besonders wichtig. Erstens. Ernährung ist nur ein Bestandteil eines gesunden Lebensstils. Zu einem gesunden Lebensstil gehört weitaus mehr, zum Beispiel Bewegung - wir haben es schon gehört -, Erholung, vielleicht auch Ausgeglichenheit und - das sage ich als Rheinländerin - bestimmt auch eine Portion Lachen. ({2}) Zweitens. Unsere Politik will Menschen zu einem gesunden Lebensstil ermuntern und sie dabei unterstützen. Wir wollen die Menschen aber nicht zwingen und nicht bevormunden, auch dann nicht, wenn es zu ihrem angeblich Besten geschieht. Ich betone das in meinen Reden immer wieder, weil es für mich von zentraler Bedeutung ist und weil es zugleich auch der Kern unserer christlichdemokratischen Verbraucherpolitik ist: In einer freien Gesellschaft sind staatliche Beschränkungen ein hoher Preis, den wir nur dort zahlen dürfen, wo es für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger absolut unvermeidlich ist. ({3}) Nehmen wir ein Beispiel aus dem Antrag, das auch hier schon Erwähnung gefunden hat und durch die Presse gegangen ist: Wir wollen gemeinsam mit der Wirtschaft darauf hinwirken, dass „quengelfreie“ - gemeint sind natürlich: süßigkeitenfreie - Kassen in Supermärkten angeboten werden. Der Schokoriegel und die Gummibärchen an der Kasse sind für Kinder verführerisch, und das Quengeln in der Kassenschlange ist für Kinder eben auch immer einen Versuch wert; die meisten von uns kennen das. Einige Supermärkte haben mit sogenannten Familienkassen schon darauf reagiert. Ja, wir begrüßen solche Initiativen aus der Wirtschaft. Aber was wir nicht brauchen, sind staatliche Regulierungen zur Warenpräsentation in Supermärkten. Unser Antrag sieht sie auch nicht vor. Es wird kein staatliches Verbot von Quengelzonen geben. Hier ist nicht irgendein Gesetz die Lösung, sondern an dieser Stelle sind Erziehung und Ernährungsbildung gefragt. ({4}) Denn eine Frage bleibt unbeantwortet: Was dürfte dann überhaupt noch im Kassenbereich liegen? Batterien? Kosmetik? ({5}) Zeitungen und Zeitschriften, von deren Cover die Kinder von retuschierten Schönheiten oder SchokoladenglasurMuffins angelacht werden? ({6}) Wollen wir wirklich staatlich vorgeben, welches Warensortiment supermarktkassentauglich ist? Von mir dazu ein klares Nein. ({7}) Natürlich will ich, genauso wie wohl jeder hier im Saal und die Besucher auf der Tribüne, dass sich die Menschen gesund ernähren und sich ausreichend bewegen. Ja, sie sollen ein glückliches und langes Leben führen; klar, das will jeder von uns. Unsere Aufgabe - auch unsere Aufgabe als Politiker - ist dabei, für Bedingungen zu sorgen, unter denen es möglich ist, die Menschen zu einem gesunden Lebensstil zu motivieren, für Aufklärung und Information zu sorgen und die Menschen zu fördern und zu unterstützen. Das alles sehe ich als Aufgabe des Staates an. Aber zu denken, der Staat, die Politik wisse immer und in jedem Bereich besser, was für den Einzelnen gut ist, ist für mich anmaßend. ({8}) Denn die staatliche Überregulierung geht auf Kosten der Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen. ({9}) Das ist die Währung, in der wir für ein Mehr und Mehr an staatlicher Fürsorge bezahlen. Deshalb muss immer genau abgewogen werden, in welchen Fällen der Staat eingreifen muss und wo der staatliche Eingriff die Freiheit des Einzelnen unverhältnismäßig beschränkt. Die Union und wir von der CDU stehen für eine Politik der sicheren Lebensmittel, der Förderung eines gesunden Lebensstils, der Vermeidung von Lebensmittelabfällen und der Wertschätzung unserer Lebensmittel. Das geschieht durch Aufklärung und Bildung. Und: Die Union steht für eine Politik der Wahlfreiheit der Verbraucher. Vielen Dank. ({10})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank, Frau Kollegin Heil. - Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin Helga Kühn-Mengel. ({0})

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Essen hält Leib und Seele zusammen“, sagt ein Sprichwort und betont damit auch seine Bedeutung für Kommunikation und Miteinander. Aber gesunde Ernährung beeinflusst, wie wir wissen, nicht nur das Wohlbefinden, sondern ist auch Grundlage für körperliche Gesundheit. Für immer mehr Menschen entwickelt sich die Ernährungssituation zum Risikobereich. Über die Hälfte der Erwachsenen und etwa 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, ein Viertel der Erwachsenen und 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutlich adipös. Die Folgeerkrankungen sind bekannt. Die Bedeutung der nicht übertragbaren Erkrankungen, der non-communicable diseases, wird von der WHO deutlich herausgestellt. In Europa verursachen diese chronischen Erkrankungen bereits 86 Prozent der vorzeitigen Todesfälle und 77 Prozent der Krankheitslast; das wurde jetzt noch einmal von der Deutschen Allianz gegen Nichtübertragbare Krankheiten herausgestellt. Es geht hier nicht nur um Leben und Lebensqualität, sondern eben auch um Folgekosten. Wir haben in Deutschland viele Projekte, die darauf abzielen, das Verhalten der Einzelnen zu beeinflussen und zu verändern; aber Appelle an Einsicht und Vernunft sind nicht sehr erfolgreich, sind nicht langfristig, sind nicht flächendeckend erfolgreich. Vor allem erreichen sie in zu geringem Maße diejenigen Bevölkerungsgruppen, die keinen hohen Bildungsstand haben und nur über ein geringes Haushaltseinkommen verfügen. Gerade diese Gruppen sind jedoch besonders belastet. Schon die erste bundesweite und europaweit größte Untersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, 2002 in Auftrag gegeben und in den Folgejahren durchgeführt, gab eindeutige Hinweise darauf, dass Adipositas, Merkmale von Essstörungen, Bewegungsmangel, Tabakkonsum, Alkoholkonsum verstärkt bei Kindern und Jugendlichen aus sozial belasteten Verhältnissen festzustellen sind, und eine Folgeuntersuchung, KiGGS Welle 1 von Dezember 2013, bestätigte die Tendenzen: Menschen aus dem untersten Fünftel der Einkommens- und Vermögensverteilung haben, wie Professor Rosenbrock feststellt, in jedem Lebensalter ein ungefähr doppelt so hohes Risiko, zu erkranken. Wie erreichen wir die Menschen besser? Wir haben im Präventionsparagrafen im SGB V schon vor Jahren einen wichtigen Halbsatz eingeführt: dass Prävention das Ziel haben muss, die Ungleichheit von Gesundheitschancen zu vermindern. Deswegen: Es geht nicht nur um Verhaltensprävention, sondern auch um Verhältnisprävention, darum, Rahmenbedingungen so zu verändern, dass gesundes Leben von Anfang an gefördert wird. ({0}) Nur ein solches Vorgehen erreicht alle Schichten, vor allem diejenigen, die in besonderem Maße belastet sind. Deswegen ist es richtig, dass im jetzt vorliegenden Entwurf des Präventionsgesetzes ein ganz besonderer Schwerpunkt - einer von acht - gesetzt wird bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ein weiterer Schwerpunkt wird bei der Stärkung des Settingansatzes gesetzt, also bei der Arbeit in den Lebenswelten der Kinder. Über die Lebenswelten erreicht man alle: im Betrieb, im Wohnheim, im Heim, in der Pflege, im Quartier. Nur ein Beispiel: Wenn wir den Kindergartenalltag umstrukturieren, wenn gemeinsam ein gesundes, nahrhaftes Frühstück zusammengestellt und eingenommen wird, wenn naturnahe Erlebnisse, gemeinsames Einkaufen und Zubereiten eines gesunden Essens, partizipatives Gestalten gelernt und die Erkenntnisse dann auch noch nach Hause getragen werden, haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Kinder nehmen solche Angebote mit großer Offenheit und auch gern an. Kochen erfüllt eine Vielzahl von Bedürfnissen; das wurde jetzt auch auf einem Workshop der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft Zahngesundheit in Wildbad Kreuth festgestellt manchmal kommt auch Gutes von dort. ({1}) Kinder, so die Studie, fanden es toll, zu kochen, weil sie dann gemeinsam etwas mit den Eltern machen, weil sie zeigen können, was sie gelernt haben, weil sie es spannend finden - wörtlich -, wie aus einfachen Dingen ein richtiges Essen wird. Also kann man doch sagen, dass wir auch im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung offenbar eine gute Chance haben, auch auf eine eher klassische Art und Weise zur Förderung der Gesundheit beizutragen. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Als Nächster spricht der Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU. ({0})

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eingangs möchte ich den Verantwortlichen für diese Debatte ein großes Kompliment aussprechen. 12.20 Uhr mittags am Eröffnungstag einer der weltweit größten Ernährungsmessen hier in Berlin: Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für eine Debatte über gesunde Ernährung und die Wertschätzung von Lebensmitteln. ({0}) Ich frage Sie durchaus sehr ernsthaft - und nicht nur wegen des Regenwetters draußen -: Haben Sie in den vergangenen Tagen Ihre Teller immer leergegessen? ({1}) Johann Philipp Förtsch hat bereits im Jahr 1690 in einem Singspiel folgenden Vers verwendet: Weil Speis und Trank in dieser Welt doch Leib und Seel’ zusammenhält. Dieser Vers hat eine ungebrochene Bedeutung bis zum heutigen Tag. Ja, es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Menschen gut ernähren können. International gab es viele Kriege wegen Nahrungsmitteln. Aktuell - so haben wir heute mehrfach gehört - können sich geschätzte 800 Millionen Menschen nicht satt essen. Dagegen leben wir hier in Deutschland im wahren Schlaraffenland. Unsere Regale sind voll mit bezahlbaren sehr guten Produkten. Deshalb ist es vielleicht sogar ein bisschen verständlich, dass sich gewisse Wohlstandsbegleiterscheinungen einstellen. Die Wertschätzung für Lebensmittel, für die Produzenten - hier denke ich insbesondere an die Urproduzenten, unsere Landwirte; darauf komme ich noch zurück -, für die Natur und für die Ressourcen ist in der Tat ein Stück weit verloren gegangen. Es geht uns allen, wie wir glücklicherweise unisono bekunden, um die Bewahrung der Schöpfung. „Moral“, „Ethik“, „Nachhaltigkeit“, „Respekt“ und „Verantwortung“ sind geflügelte Worte, die wir bei unserer politischen Arbeit jeden Tag sehr ernst nehmen müssen. Das Kernthema Lebensmittelverschwendung wurde angesprochen, und ich möchte jetzt kurz auf die Landund Ernährungswirtschaft eingehen. Sie hat eine gewaltige wirtschaftliche Bedeutung - insbesondere für die ländlichen Räume. 4,5 Millionen Menschen in Deutschland sind dort tätig; das sind rund 11 Prozent aller Erwerbstätigen. Gleichwohl gibt es weiterhin einen gewaltigen ungebremsten Strukturwandel in der Landwirtschaft. Nur circa 2 Prozent der Erwerbstätigen sind Landwirte. Woran liegt das? Dafür gibt es durchaus viele Gründe. Nie war - ich kenne keinen Betrieb - Reichtum der Grund dafür, Höfe zu schließen. Die Landwirte arbeiten hart. Die Tierhalter tun dies oft an 365 Tagen im Jahr. Die Abhängigkeit vom Wetter und andere Unbilden des Lebens sorgen ebenfalls für Probleme, und die schlechte wirtschaftliche Lage - die Einkommen in der Landwirtschaft liegen weit unter dem gewerblichen Vergleichslohn - tut das Übrige. ({2}) Das Schlimmste aber - das erlebe ich live und höre ich jeden Tag; lassen Sie mich das sagen - sind die Anfeindungen gegenüber unseren Landwirten von außen. Es gibt Diffamierungen und Beschuldigungen. Das nimmt unseren Bauern die Freude an ihrer Arbeit - mit fatalen Folgen. Auch ich sage: Natürlich gibt es schwarze Schafe. Die sollen wir auch benennen. Aber weit mehr als 90 Prozent unserer Landwirte leisten eine hervorragende Arbeit. Sie produzieren die weltweit mit am besten kontrollierten Nahrungsmittel - sowohl in der pflanzlichen als auch in der tierischen Produktion. ({3}) Was ist zu tun? Wir müssen den Dialog in der Gesellschaft führen. Wir brauchen solche Debatten wie die heutige. Wir brauchen auch eine Politik der Wertschätzung und müssen diese Politik aktiv begleiten. Wir müssen uns und der Bevölkerung klarmachen, dass Verbraucher, die Konsumenten, und die Erzeuger voneinander profitieren. Auch über Moral, Ethik und den Lebensmittelhandel müssen wir reden. Ich sage ganz klar: Unsere Landwirte sind immer bereit - das wird auch offen bekundet -, höhere Standards umzusetzen. Ich bin dem Minister für den Hinweis sehr dankbar, dass sich in den letzten 50 Jahren im Bereich des Tierwohls sehr viel positiv verändert hat. Aber es geht auch darum, dass man gute Produkte nicht zu Ramschpreisen herstellen kann. Es ist verheerend, wenn in den Flyern samstags ausgerechnet Nahrungsmittel als Lockmittel angepriesen werden. ({4}) Es muss jedem hier in Deutschland bewusst sein: Tierwohl kann es nicht zum Schnäppchenpreis geben. ({5}) Also müssen wir weiterhin gemeinsam aufklären und deklarieren. Ich befürworte ausdrücklich die TierwohlOffensive, die privatwirtschaftlich durch die ganze Branche initiiert wurde. Das sind Chancen, sich aufeinander zuzubewegen. Ich bin gegen eine einseitige Ordnungspolitik, insbesondere gegen eine national einseitige Ordnungspolitik, weil wir Gefahr laufen, dadurch Produktion aus dem Land zu verlagern. Frau Maisch, Sie haben das Thema Eier angesprochen. Wir alle erinnern uns mit Schrecken daran, dass der Selbstversorgungsgrad in Deutschland unter 50 Prozent gefallen war, ({6}) weil wir die Hühnerhaltung einseitig und sehr schnell verändert haben. ({7}) - Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie eine Zwischenfrage stellen. ({8}) Ich bin dafür, dass wir europaweit gleiche Standards und gleiche Wettbewerbsbedingungen haben. Ich bin auch dafür, dass wir sehr gute Bedingungen für die Haltung unserer Tiere haben. Aber der Verbraucher ist der Gekniffene, wenn wir die Produktion aus dem Land jagen; ({9}) denn unsere Regale werden nachher mit Produkten gefüllt, die vielleicht weniger hohen Standards genügen. Ich könnte noch viel sagen, aber meine Zeit läuft schon langsam ab. Ich mache einen Vorschlag. Ich finde, in großen Teilen ist diese Debatte heute hier sehr fair verlaufen. Lassen Sie uns doch alle gemeinsam mit gutem Beispiel vorangehen. Lassen Sie uns Themen und Probleme anpacken, gemeinsam, gerne auch fraktionsübergreifend: zum Wohle unserer Landwirtsfamilien, die das verdient haben, und im Sinne unserer regionalen, gesunden Nahrungsmittel. Bürger und Verbraucher müssen erkennen, was sie kaufen. Sie müssen durchaus noch ein bisschen kritischer werden. Auf TTIP kann ich jetzt nicht mehr eingehen, würde ich sonst noch gerne machen.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Lieber Kollege Gerig, Ihre Zeit ist nicht abgelaufen, sie kommt erst noch. Aber die Redezeit ist leider zu Ende.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Präsident, danke für den Hinweis. - Es geht um den Erhalt unserer schönen und von allen Bürgern geliebten Kulturlandschaft. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen eine schöne und erfolgreiche Internationale Grüne Woche. Nutzen wir sie für gute, konstruktive Gespräche! Ihnen allen, insbesondere unserer Ernährungsbranche, wünsche ich ein gutes neues Jahr. Danke schön. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Für eine Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Ostendorff.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Gerig, ich bin ein bisschen älter. Gestatten Sie mir, dass ich noch einmal erzähle, wie das damals mit den Hühnern war. ({0}) Ich glaube, dass Sie das nicht genau wissen können, weil Sie damals noch nicht im Parlament waren. Es gab in der Tat Klagen der Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Die damalige nordrhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn und der damalige niedersächsische Landwirtschaftsminister Funke, der die Klage zuerst geführt hat - er wurde später Bundeslandwirtschaftsminister - waren der Meinung, dass man Hühner nicht länger in Käfigen in Löschblattgröße ihr Leben fristen lassen sollte. Dies hat das höchste deutsche Gericht für richtig befunden. Ich bin niemand, der Recht und Gesetz anzweifelt. Von daher stimme ich dem Gericht ausdrücklich zu. Diese Rechtsprechung galt es dann umzusetzen. Deutschland hat in einem langen Prozess zwischen Bundeslandwirtschaftsministerium - die zu der Zeit amtierende Ministerin hieß Renate Künast - und den Bundesländern entschieden, wie man das Gerichtsurteil umsetzt. Dies ist - insbesondere darauf wollte ich hinaus; Kollege Priesmeier weiß das auch noch - von hohen Zuschüssen für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ flankiert worden. Für den Umstieg hätten die Hühnerhalter enorme staatliche Hilfen erhalten. Allerdings beobachteten wir im Folgenden, dass es immer wieder Hinweise an die Verbände der Geflügelwirtschaft gab: Verhaltet euch ruhig! Wartet ab, was passiert! Macht nichts! - Das hat allerdings dazu geführt, dass Nachbarländer - insbesondere das für uns Nordrhein-Westfalen und besonders für Westfalen immer schwierige Nachbarland Holland - gesagt haben: „Macht so weiter! Wir sehen das anders, und wir werden anders reagieren“, und das haben sie getan. Der Handel, lieber Alois Gerig, hat so reagiert, dass er entschieden hat, dass Eier mit der Kennziffer 3 nicht mehr in den Verkauf kommen. Ich habe selber Gespräche mit Aldi und mit anderen Kolleginnen und Kollegen geführt. Aldi hat gefragt: Wo gibt es in Deutschland Eier, die nicht die Kennziffer 3 haben? - Diese Eier gab es nicht, weil die Wirtschaftsverbände dazu aufgerufen hatten, die Umstellung nicht vorzunehmen und das im Bundeshaushalt bereitgestellte Geld nicht abzurufen. Diese Mittel sind fast gar nicht in Anspruch genommen worden. Es waren enorme Summen. Das hat in der Tat dazu geführt, dass Holland eine starke Marktstellung erhalten hat. Ich finde nur, die Schuldzuweisung, die du damit verbunden hast, war bei der Faktenlage eindeutig falsch. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Herr Kollege Gerig, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern, und ich sehe, dass Sie sie wahrnehmen wollen.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme sie sehr gerne wahr. - Lieber Kollege Ostendorff, es ist richtig: Ich bin noch nicht so lange in der Politik, aber, wie man an meinen grauen Haaren erkennen kann, durchaus schon lange auf der Welt. Ich wollte mit meiner Aussage niemanden angreifen, weder eine Partei noch irgendwelche Personen. Ich habe lediglich auf die Aussage der Kollegin Maisch reagiert, die gesagt hat, wie gut die Eier in unseren Regalen sind. Mir ist dazu noch eingefallen, dass wir nicht alle Eier sehen, die wir in den Regalen haben. Wissen wir, was in all den Produkten enthalten ist, in denen Eier verwendet wurden? ({0}) Ich will überhaupt nicht verteidigen, was damals in der Geflügelhaltung gelaufen ist. Ich habe das nur als Mahnung dafür genannt, was passieren kann, wenn wir national einseitig Gesetze verabschieden. Wir müssen uns sehr gut überlegen, welche ordnungspolitischen Maßnahmen und welche Gesetze wir angehen, auch im Hinblick auf den Tierschutz. Vielleicht ist es unklug, zu schnell allzu viele Enddaten zu setzen, die wir aus wissenschaftlicher Sicht - und ich bin dankbar, dass wir sehr viel Geld für die Forschung aufwenden - später in der Praxis nicht halten können. Der Verbraucher ist der Gekniffene, wenn die Produktion ins Ausland verlagert wird. Der Verbraucher muss die Chance haben, gezielt nach regionalen deutschen Produkten zu greifen. Das ist der Verbraucher, den ich mir wünsche. Dann haben wir Win-win-Situationen in Deutschland. Ich weiß, es ist ein steiniger Weg. Ich sage noch einmal: Lassen Sie ihn uns gemeinsam gehen! ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Jetzt hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Alle Menschen müssen essen. Das klingt natürlich sehr banal, ist es aber nicht. Mir ist in meiner Umgebung schon bedeutet worden, dass etlichen Kolleginnen und Kollegen nun zur Mittagszeit der Magen knurrt. Das heißt, wir befassen uns hier mit einem Politikfeld, das existenziell ist. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Meinungsforschung durch eine Umfrage bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland herausgefunden hat, dass die wichtigste Forderung der Menschen an die Politik ist, dass wir, das Parlament, für gesunde und sichere Lebensmittel zu sorgen haben. Das Thema bewegt die Menschen. Es ist unbestritten, dass die meisten sich und ihre Kinder gesund ernähren wollen. Wie wir von der Kollegin Kühn-Mengel, die uns dazu eindrucksvolle Zahlen vorgetragen hat, gehört haben, gelingt das jedoch nicht allen oder oft nur mit äußersten Mühen und Anstrengungen. Wir wollen das ändern. Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag bei den Ursachen der Schwierigkeiten ansetzen. Es muss für alle Menschen leichter werden, sich gesund zu ernähren, und zwar egal, wie viel Geld jemand verdient oder welchen Schulabschluss er besitzt. Verbraucherinnen und Verbraucher, insbesondere Eltern und Kinder, werden heutzutage mit ungesunden Lebensmitteln und dem dazugehörenden Marketing geradezu überflutet. Im Automaten auf dem Bahnsteig gibt es praktisch nur Schokoriegel. Der Schulkiosk verkauft vor allem Cola und Brause. Die Kantine, wenn es denn überhaupt eine gibt, bietet wenig an, das schmackhaft und gesund ist. Im Supermarkt an der Kasse steht, wie wir verschiedentlich gehört haben, auf Augenhöhe von Kindern Süßkram. In Grundschulen werden Produktproben von Keksen und Würstchen verteilt. Chipshersteller sponsern Schulfußballturniere inklusive T-Shirts mit Logo. In Produkten, die als gesund und geeignet für Kinder oder sogar für Babys erscheinen, steckt viel zu viel Zucker, Fett oder Salz. Gegen diese Flut kommen viele alleine kaum noch an, erst recht nicht Kinder. Besonders betroffen von Fehlernährung und den daraus folgenden Erkrankungen sind Familien mit niedrigem Einkommen; auch hierzu hat Frau KühnMengel die Zahlen genannt. Die aktuelle Situation vergrößert also die soziale Ungleichheit. Gegensteuern können wir hier nicht, indem wir Menschen vorschreiben, was sie essen oder wie sie sich verhalten sollen. Nein, wir müssen gesündere Verhältnisse schaffen. Selbstverständlich wollen wir weiterhin Ernährungsaufklärung und Verbraucherbildung an Schulen fördern, auch wenn sich nicht gleichzeitig etwas daran ändert, welche Lebensmittel wo angeboten und wie sie vermarktet werden. Wenn sich aber das Ernährungsumfeld nicht ändert, dann werden Aufklärungsund Bildungskampagnen nicht viel nutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass es leichter wird, das erworbene Wissen auch anzuwenden. Um das Bild der Flut noch einmal aufzugreifen: Wenn zu erwarten ist, dass eine Stadt regelmäßig überflutet wird, würden wir auch nicht lediglich den Schwimmunterricht fördern oder Prospekte verteilen, die erklären, wie man Boote baut, und dann hinterher vielleicht sagen: Wer nicht genug Geld und Zeit hatte, sich ein Boot zu bauen, ist selber schuld, dass er sich nicht gerettet hat. Nein, wir würden dann Dämme bauen. Wir würden es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen, die Menschen gemeinsam vor der Flut zu schützen. Genau solche Dämme müssen wir auch gegen die Flut ungesunder Lebensmittel und mangelnder Bewegung bauen. ({0}) Unser Antrag setzt hier erste wichtige Impulse. Wir wollen verpflichtende Qualitätsstandards für Schulmensen und öffentliche Kantinen, damit alle Kinder lernen, wie gut gesundes Essen schmecken kann. Wir wollen künftig keine Werbung mehr für ungesunde Lebensmittel wie Süßigkeiten, Süßgetränke oder Knabberzeug in Grundschulen und Kitas. Wenn Schulen werbefrei sind, dann kann Ernährungsbildung auch sehr viel besser wirken. Wir wollen die Lebensmittelwirtschaft in die Pflicht nehmen. Supermärkte sollen süßigkeitenfreie Kassen anbieten, um Eltern das Einkaufen mit Kleinkindern erträglicher zu machen. ({1}) In Großbritannien ist das übrigens längst Alltag. Auch bei uns gibt es mittlerweile einige Geschäfte, die das anbieten. Wir wollen aber, dass das Ernährungsministerium - der Herr Staatssekretär ist noch da - gemeinsam mit der Wirtschaft eine Strategie zur Reduktion von Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten entwickelt. Auch dafür - man soll es kaum glauben - gibt es in Europa Vorbilder, nämlich Finnland, Dänemark und Großbritannien sowieso. Sie alle kennen das afrikanische Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. - In der Tat. Auf die Ernährung bezogen heißt das: Es sind alle mitverantwortlich für die steigenden Raten ernährungsbedingter Krankheiten wie Diabetes, Herzerkrankungen oder Krebs. Deshalb sind auch alle gefordert, dabei zu helfen, diesen Trend umzukehren und insbesondere die Ernährung von Kindern in diesem Land zu verbessern. Gefordert sind wir also alle, auch die Wirtschaft, die noch sehr viel Luft nach oben hat, was ausgewogene Produktrezepturen und ehrliche Werbung angeht. Wir müssen dafür sorgen, dass alle, die Verantwortung haben, diese auch wahrnehmen können. Wir bauen dann Dämme, wo es nötig ist. Vielen Dank. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Vielen Dank, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. - Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Rudolf Henke von der Unionsfraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks. - Das hat Auguste Escoffier, französischer Meisterkoch, vorgetragen. Auguste Escoffier verdanken wir die Küchenrevolution des vorigen Jahrhunderts hin zu einer leichteren, hin zu einer verdaulichen Küche. Man höre und staune: Der erste Küchenchef der Ritz-Restaurants hat sogar von der Notwendigkeit mehrgängiger Menüs Abschied genommen. Es sind auch Skeptiker wie George Bernard Shaw, die sich mit der Ernährung befassen. Er hat einmal gesagt: Keine Liebe ist aufrichtiger als die Liebe zum Essen. - Wir sehen daran, in welche Emotionalität wir eintauchen, wenn wir uns mit der Frage der Ernährung und der Wertschätzung von Lebensmitteln befassen. Ich freue mich, dass ich aus der Sicht der Gesundheitspolitik als Arzt ein paar Gedanken dazu beitragen darf. In unserem gemeinsamen Antrag werben wir, die Koalitionsfraktionen, für die Bedeutung einer gesunden und ausgewogenen Ernährung für einen gesunden Lebensstil und für die Prävention ernährungsbedingter Krankheiten. Das Thema ist nicht ganz neu. Hippokrates von Kos, der von 460 bis 377 lebte und von dem der hippokratische Eid stammt, verdanken wir drei Lehrsätze: Was uns am Leben erhält, kann uns auch krank machen. Krankheiten überfallen den Menschen nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern sind die Folgen fortgesetzter Fehler wider die Natur. Um die Gesundheit zu erhalten: nicht bis zur Sättigung essen, sich vor Anstrengungen nicht scheuen. Ich bin dankbar für die vielen richtigen und wichtigen Hinweise in dieser Debatte auf die Notwendigkeit, die Verhältnisse zu beeinflussen. Aber das wäre nur die eine Seite; denn genauso wichtig ist es natürlich, den Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit im Sinne der Aufklärung zu ermöglichen, damit man sich nicht als den Verhältnissen ausgeliefert empfindet. Sagen wir den Menschen auch, dass es nötig ist, ihr eigenes Verhalten selbst in die Hand zu nehmen und zu steuern und nicht fehlzuinterpretieren, dass sie gegenüber der Werbung ausgeliefert seien. ({0}) In der Tat ist beispielsweise die Fettleibigkeit ein bedeutender Risikofaktor für viele ernste gesundheitliche Beschwerden; darauf ist schon verschiedentlich aufmerksam gemacht worden. Wir müssen davon ausgehen, dass die Kosten durch ernährungsbedingte Krankheiten jährlich bei bis zu 70 Milliarden Euro liegen können. Die Folgekosten erklären circa 7 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen. Alle rechnen damit, dass diese Kosten weiter ansteigen wegen Erkrankungen wie Adipositas, Bluthochdruck, koronaren Herzkrankheiten oder Diabetes mellitus. Diese Krankheiten sind nicht nur das Drama der Betroffenen, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Ernährungsbedingte Krankheiten bedeuten Herausforderungen für die Gesundheit, für die Wirtschaft, für die Entwicklung in Deutschland und in Europa. Deswegen sind präventionspolitische Ansätze eine gesellschaftspolitische Aufgabe von hohem Stellenwert. Das wollen wir mit dem Präventionsgesetz aufgreifen, das wir noch in diesem Frühjahr beraten werden. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Krankenkassen ihre verfügbaren Mittel für die Gesundheitsvorsorge verdoppeln, dass gesundheitsförderliche Verhaltensweisen stärker unterstützt und gesundheitliche Risiken reduziert werden. Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung müssen zielgenauer auf tatsächlich wirksame Maßnahmen und auf solche Bevölkerungsgruppen konzentriert werden, die bisher schlecht erreicht wurden. Fakt ist leider auch, dass mit vielen Präventionsleistungen oftmals nur die erreicht werden, die ohnehin bereits gesundheitsbewusst leben und auf ihre Ernährung besonders achten. Von allen in Anspruch genommenen Präventionskursen in Deutschland sind derzeit nur 5 Prozent dem Thema Ernährung gewidmet. Krankenkassen machen also viel mehr erfolgreiche Bewegungskurse, viel mehr erfolgreiche Stressbewältigungskurse. An die Ernährung gehen die Leute trotz der Bedeutung, die sie für die Gesundheit hat, nicht so gerne heran. Das hat vielleicht etwas mit der von Shaw genannten Liebe zum Essen zu tun. Es stellt sich daher die Frage: Wie kann man eine bessere Nutzung präventiver Leistungen gerade im Bereich der Ernährung erreichen? Da ist es schon von Bedeutung, dass wir mit den Präventionskursen der Krankenkassen mehr Angebote zur Stärkung von Eltern und Kindern zur Verfügung stellen. Gesundheit beginnt nicht erst im Erwachsenenleben. Je früher Kinder lernen, auf sich zu achten, desto erfolgreicher sind Präventionsmaßnahmen. ({1}) Deshalb ist es wichtig, mit den Kleinsten zu beginnen und dies in allen Altersgruppen fortzuführen. Der Gemeinsame Bundesausschuss soll durch das Präventionsgesetz die Möglichkeit erhalten, die Kinder- und Jugenduntersuchungen in diesem Sinne weiterzuentwickeln und darüber zu entscheiden, welche Untersuchungen auch im Schul- und Jugendalter sinnvoll und notwendig sind und zu welchen Aspekten der Arzt oder die Ärztin die Eltern beraten soll. In den bevorstehenden Beratungen des Präventionsgesetzes wollen wir darauf achten, dass diesen Aspekten Rechnung getragen wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestern haben wir im Gesundheitsausschuss des Bundestages ein weiteres mit Ernährung zusammenhängendes Thema intensiv besprochen, nämlich das fetale Alkoholsyndrom, also die vorgeburtliche, oft schwerwiegende Schädigung eines Kindes durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Der entscheidende Punkt, was das Aufnehmen von Produkten der Landwirtschaft angeht, ist hier, dass wir sagen: Es gibt bestimmte Lebenssituationen, zum Beispiel im Straßenverkehr, bei der Arbeit mit Maschinen, wenn man Arzneimittel zu sich nimmt oder wenn man schwanger ist, für die das Gebot „gar kein Alkohol“ gelten muss. ({2}) Eine letzte Bemerkung. Es ist davon gesprochen worden - ich glaube, Mechthild Heil hat es gesagt -, dass wir die Freiheit der Entscheidung des Verbrauchers erhalten wollen. Wie schaffen wir es aber, den Trend zu immer mehr Übergewicht zu brechen? Es gibt weltweit nicht einen einzigen Staat, der zeigen kann, dass der Trend zur Zunahme des Durchschnittsgewichts der Bevölkerung umgekehrt worden ist - nicht ein einziges Land, egal welche Wirtschaftsordnung oder welche Gesellschaftsordnung ein Land hat. Nicht einem einzigen Land in der Welt ist das bisher gelungen. Ich finde, wir müssen nicht in dieser, aber in der nächsten Legislaturperiode auch über die Frage nachdenken, inwieweit durch Elemente, wie wir sie zur Reduktion des Tabakkonsums eingesetzt haben - ich denke an steuerliche Maßnahmen, etwa an bestimmte Verbrauchsteuern im Bereich ungesunder Lebensmittel -, Erfolge erzielt werden können. Ich kann da keine Ergebnisse vorwegnehmen. Das gelingt mit Sicherheit nicht in dieser Legislaturperiode. Aber ich finde, wir müssen diese Frage mit einer Zukunftsperspektive diskutieren, weil es unser gemeinsames Ziel sein muss, sowohl dem Bewegungsmangel wie auch der Fehlernährung zu begegnen. Der italienische Schauspieler Giorgio Pasetti hat einen klugen Satz gesagt: Die gesündeste Turnübung ist das rechtzeitige Aufstehen vom Esstisch. Ich wünsche Ihnen guten Appetit, wenn Sie jetzt zum Mittagessen gehen. ({3}) Stehen Sie davon rechtzeitig wieder auf! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/3726, 18/3730 und 18/3733 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nach dieser intensiven Debatte über das richtige und gute Essen wünsche ich denen, die jetzt in die Mittagspause gehen, einen guten Appetit. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesverantwortung wahrnehmen - Kommunen bei Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsberechtigte schrittweise übernehmen Drucksache 18/3573 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion Die Linke. ({2})

Susanna Karawanskij (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004322, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Am Tage seiner Amtseinführung hat der erste linke Ministerpräsident, Bodo Ramelow in Thüringen, als erste Amtshandlung den Winterabschiebestopp für Flüchtlinge nicht nur gefordert, sondern verfügt. ({0}) Das ist richtig so, das ist gut so, und das sollte auch beispielhaft sein; ({1}) denn diese Aufgabe ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir zu stemmen haben. Wir können und dürfen unsere Verantwortung nicht beiseiteschieben. Wir alle hier sind gefordert, schnell und vor allen Dingen auch gewissenhaft zu handeln. Die Aufgabe, Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen, sie gut zu versorgen und rasch zu integrieren, ist vor allen Dingen international und europäisch begründet. Wir müssen all denen das Wasser abgraben, die den schrecklichen terroristischen Überfall in Paris missbrauchen, die nun noch mehr gegen friedliche Mitbürgerinnen und Mitbürger anderer Herkunft und Religion hetzen. Wir sollten hier im Hohen Hause beide Sätze verinnerlichen: „Nous sommes Charlie“ und „No Pegida“. ({2}) Mehr denn je brauchen wir dauerhaft Aufklärung und Debatten, um der Instrumentalisierung der Morde von Paris mit der gesamten Kraft der Demokratie entgegenzutreten; denn skrupellos wird von einigen Unverbesserlichen gegen den Islam im Allgemeinen, aber auch gegen Asylsuchende und Flüchtlinge gewettert. Unsere Ziele müssen ein echtes Miteinander und auch die gelebte Solidarität sein. ({3}) Das bedeutet, dass wir Politikerinnen und Politiker allen Sorgen und Ängsten der Menschen mit Offenheit begegnen müssen. Es sind oft genug Ängste vor allen Dingen vor sozialem Abstieg, aber auch Ängste, die mit unbegründeten Vorurteilen verbunden sind. Umso wichtiger ist es, dass wir uns heute auch mit der Finanzierung der Unterbringung, Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden beschäftigen. Die Unterbringung von Menschen, die aus Not zu uns kommen, verursacht in den Ländern und Kommunen ohne Zweifel einiges an Kosten. Es ist wichtig, die Kommunen von dem finanziellen Druck zu befreien, damit keine Abwehrhaltung eingenommen wird. Gerade wenn die Finanzen auf Kante genäht sind, muss der Bund seine Verantwortung wahrnehmen, und das tut er bislang leider immer noch zu wenig. ({4}) Vizekanzler Sigmar Gabriel forderte im November 2014, die Kommunen bei der Unterbringung von Flüchtlingen mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen. Anfang des Jahres forderte er, dass der Bund die Kosten für die Flüchtlingsunterkünfte übernehmen solle. Wir begrüßen solche Forderungen. Aber lassen Sie uns doch bitte nicht vollkommen im Dunklen und vor allen Dingen nicht die auf Lösungen wartenden Kommunen, wie solch eine finanzielle Entlastung für die Kommunen konkret aussehen soll. Es ist bislang herzlich wenig Konkretes passiert. Es liegt kein aktueller Gesetzentwurf vor. Ich gewinne langsam den Eindruck, dass hier wieder einmal vollmundige Versprechen gemacht worden sind, aber den Worten keine entsprechenden Taten folgen. Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, es ist angesichts der aktuellen Lage und Situation höchste Zeit, hier eine Lösung zu finden. Es darf nicht mehr auf Zeit gespielt werden. ({5}) Es ist bedauerlich genug, dass das jüngste Gesetz zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen nur ein Tropfen auf den heißen Stein war und eben nicht die Versprechen des Koalitionsvertrags einlöste. Sie sollten bei Ihren Gesetzentwürfen auch ein wenig weiter denken, dauerhaft für gute Lösungen sorgen und auch in diesem Fall für Kommunen eine Lösung entwickeln. Wir als Linke verfolgen daher eine Doppelstrategie. Aus aktuellem Anlass fordern wir, die Kommunen finanziell so auszustatten, dass eine schnelle und gute Hilfe für Flüchtlinge möglich ist. In einem zweiten Schritt - da denken wir langfristig - wollen wir die Kommunen nachhaltig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen, und zwar nicht nur exakt bei den Ausgaben für die Flüchtlingsunterbringung.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Karawanskij, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Susanna Karawanskij (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004322, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Die Koalitionäre haben ja noch genug Zeit, darauf einzugehen. - Das Grundproblem ist ja die chronische Unterfinanzierung der Kommunen. Ich möchte hier noch einmal auf unsere konkreten Forderungen eingehen. Wir Linke fordern die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Asylbewerberinnen und Asylbewerber dürfen nicht Bürgerinnen und Bürger zweiter und dritter Klasse sein. Solange dieses Gesetz noch nicht abgeschafft ist, muss der Bund den Ländern die Ausgaben für die Leistungen an Asylsuchende zu 100 Prozent erstatten. ({0}) Daneben muss der Bund auch bei den Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung, kurz KdU, Verantwortung übernehmen; denn diese sind eine nicht unerhebliche Belastung für die Kommunen. Wir fordern hier einen Stufenplan für die Kostenübernahme. So sollen die Kommunen zunächst um 50 Prozent, ab dem Jahr 2017 um 75 Prozent und ab dem Jahr 2019 um 100 Prozent entlastet werden. Meine Damen und Herren, nutzen wir heute die Gelegenheit! Lassen Sie uns gemeinsam auf Bundesebene mehr Verantwortung übernehmen! Stimmen Sie unserem Antrag zu! Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen der Demokratie setzen! Lassen Sie uns kurzfristig wie langfristig die kommunalen Finanzen auf ein stabiles Fundament stellen! Vielen Dank. ({1})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Marian Wendt.

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, vielen Dank. - Ich möchte nur für die Koalition feststellen, dass wir mit dem Programm zur Entlastung der Kommunen schon begonnen haben, auch wenn es die Vertreter der Linksfraktion vielleicht noch nicht ganz mitbekommen haben: 500 Millionen Euro in diesem Jahr, 500 Millionen Euro im nächsten Jahr, 35 Millionen Euro für Impfkosten. Das Wichtigste, was wir festgelegt haben, sind aber baurechtliche Vereinfachungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen. ({0}) Es geht ja nicht nur um die reinen Kosten, sondern auch darum, wie die Menschen human untergebracht werden können. Ich komme aus einem Wahlkreis - das ist der Wahlkreis Nordsachsen, um Leipzig herum -, wo dies geschieht, wo die Möglichkeiten durch die Änderung des Baurechts genutzt werden, um humane Unterbringung umzusetzen. Ich glaube - da spreche ich für die Fraktion der CDU/ CSU insgesamt -, dass es die größte Entlastung für die Kommunen wäre, wenn wir die Voraussetzungen schafften, dass den Menschen geholfen werden kann, die wirklich Hilfe benötigen, dass vor allem die aus dem Irak und aus Syrien unterstützt werden, zugleich aber dafür sorgten, dass die, die kein Recht zum Aufenthalt in unserem Land haben, möglichst zügig wieder ausreisen. Deswegen halten wir einen Winterabschiebestopp nicht für sinnvoll. Durch mehr freie Kapazitäten würde man die Kommunen am besten unterstützen. Allein in meinem Wahlkreis machen die, die aus Serbien kommen und entsprechend abgeschoben werden müssten, 25 Prozent aus. ({1}) Wenn das passieren würde, würde unser Landkreis sehr stark entlastet werden. Vielen Dank. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Frau Kollegin Karawanskij, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern.

Susanna Karawanskij (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004322, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Wendt, wir beide kommen aus demselben Wahlkreis, Nordsachsen. Insofern ist mir die Situation sowohl in Sachsen als auch in Nordsachsen nicht ganz unbekannt. Ich bin ebenfalls sowohl mit dem Landrat als auch mit den Bürgermeistern im Gespräch. Sie haben mich möglicherweise falsch verstanden. Ich habe nicht gesagt, dass der Bund nichts tut. Ich habe nur gesagt, dass das ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Ich habe in der Debatte über den Gesetzentwurf zur Entlastung der Länder und Kommunen gesagt, dass das ein Schritt in die richtige Richtung ist, bei weitem aber noch nicht ausreicht. Wenn Sie hier davon sprechen, dass eine menschenwürdige Unterbringung das Ziel ist, dann trennt uns in dieser Frage tatsächlich sehr wenig. Nur wir sind nicht der Meinung, dass man diese Frage über Gewerbegebiete bzw. Baurechtsverordnungen lösen sollte. Wir haben dazu den Vorschlag eingebracht, dass beispielsweise eine bessere interkommunale Zusammenarbeit möglich sein sollte; denn es gibt tatsächlich Kommunen, die in ihrem kommunalen Wohnungsbestand freie Kapazitäten haben. Man kann beispielsweise über die Lockerung des Königsteiner Schlüssels nachdenken und - nach unserem aktuell vorliegenden Vorschlag darüber, dass man die Kommunen und Landkreise von den Kosten entlastet und das über die Länder ausgleicht. Insofern trennt uns von dem Anliegen nichts. Nur, wir hätten es gern ein bisschen präziser. Wir haben einen konkreten Antrag vorgelegt. Dazu bitten wir Sie einfach um Zustimmung. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass gerade im Winter - das habe ich vorhin zu Beginn meiner Rede gesagt der Abschiebestopp, den Bodo Ramelow als erste Amtshandlung eingeführt hat, richtig ist. Dass er damit nicht so verkehrt liegt, kann man daran ablesen, dass auch Schleswig-Holstein dem gefolgt ist. Ich hoffe, dass auch noch weitere Bundesländer folgen werden. Das ist einfach ein humanitärer Akt. Ich habe auch gesagt, dass es eine gesamtgesellschaftliche und auch eine europäische Aufgabe ist, der wir uns hier zu stellen haben. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Jetzt hat das Wort der Kollege Axel Fischer für die Unionsfraktion. ({0})

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Lesen des Antrags „Bundesverantwortung wahrnehmen“ der Linken habe ich mich zweimal vergewissern müssen, welches Datum dieser Antrag trägt, und zwar mit Blick auf die Finanzsituation der Kommunen. Ihre Darstellung allgemein verarmter und weiter darbender Kommunen wäre vielleicht 2009 in Zeiten der grassierenden Finanzkrise mit hoher Arbeitslosigkeit angemessen gewesen. Heute ist sie es sicher nicht mehr; denn schon die christlich-liberale Bundesregierung war sich der prekären Lage der Kommunen im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 bewusst und hat schnell und umfassend Abhilfe geleistet. Die Große Koalition knüpft mit ihrer konsequenten kommunalen Finanzentlastung heute nahtlos an. So können Länder und Kommunen heute auf Basis der größten Kommunalentlastung in der Geschichte durch den Bund handeln. ({0}) Meine Damen und Herren, das ist verantwortungsvolle Politik, die SPD, CDU und CSU hier gemeinsam Axel E. Fischer ({1}) zum Wohle der Kommunen und der Menschen leisten. Dazu gehören - ich zähle sie jetzt auf, weil Sie gemeint haben, das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein zum Beispiel folgende Maßnahmen: Kinderbetreuung: Für den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige und die Beteiligung an der Finanzierung der Betriebskosten hatte der Bund bereits insgesamt 4 Milliarden Euro in den Jahren 2009 bis 2013 und ab 2014 jährlich 770 Millionen Euro bereitgestellt. Im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Fiskalvertrages hat der Bund zusätzlich für Investitionen 580,5 Millionen Euro und für Betriebskosten 2013 18,75 Millionen Euro, 2014 37,5 Millionen Euro und ab 2015 jährlich 75 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Kosten der Unterkunft und Heizung, Grundsicherung für Arbeitsuchende: Hier fordern Sie eine schrittweise Übernahme der Kosten durch den Bund. Fakt ist: Der Bund trägt bereits heute etwa ein Drittel dieser Kosten. In der vergangenen Legislaturperiode wurden die Kommunen durch eine höhere Bundesbeteiligung in den Jahren 2011 bis 2017 um etwa 9 Milliarden Euro entlastet. Ab diesem Jahr werden die Kommunen darüber hinaus mit 1 Milliarde Euro pro Jahr zusätzlich unterstützt. Das erfolgt in den Jahren 2015 bis 2017 hälftig durch einen höheren Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft und Heizung und hälftig durch einen höheren Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung: Die Verständigung im Jahr 2011 und die schrittweise erfolgende Erhöhung der Erstattung der Nettoausgaben der Kommunen verursacht Entlastungen im Zeitraum von 2012 bis 2017 von weit über 20 Milliarden Euro. ({2}) Zur weiteren Entlastung der Kommunen hat der Bund 2012 zugesagt, jeweils die aktuellen Nettoausgaben des laufenden Kalenderjahres zu erstatten. Für 2014 erstattet der Bund nunmehr knapp 5,5 Milliarden Euro und übernimmt auch in den Folgejahren die Nettoausgaben vollständig. Steuern: vollständige Entlastung der Länder und Gemeinden von Steuermindereinnahmen im Rahmen des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 in Höhe von rund 2 Milliarden Euro bis 2017. Entflechtungsmittel: Die Entflechtungsmittel werden in den Jahren ab 2014 bis zu ihrem Auslaufen im Jahr 2019 in unveränderter Höhe von jährlich 2,6 Milliarden Euro weitergezahlt. Bildung: Trotz Zuständigkeit der Länder beteiligt sich der Bund mit circa 13,5 Milliarden Euro von 2010 bis 2017 am Hochschulpakt. Zudem regelt der Koalitionsvertrag, dass die Kommunen darüber hinaus im Rahmen der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Umfang von 5 Milliarden Euro jährlich von der Eingliederungshilfe entlastet werden sollen. Im geltenden Finanzplan ist diese Entlastung bereits vorgemerkt. Der gesetzlichen Umsetzung steht somit nichts mehr im Wege; sie kann rechtzeitig erfolgen. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es kommt nicht von ungefähr, dass Städte und Gemeinden bereits in den letzten Jahren Überschüsse ausgewiesen haben. Das heißt, sie haben insgesamt mehr Geld eingenommen, als sie ausgegeben haben, und das trotz steigender Ausgaben für soziale Leistungen. Allein im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres haben die Kommunen Rekordüberschüsse in Höhe von mehr als 5,3 Milliarden Euro ausgewiesen - wohlgemerkt in einem halben Jahr. Mit diesen Überschüssen sind auch viele finanzschwächere Kommunen wieder in der Lage, langfristig zu planen und notwendige Investitionen zu tätigen. Die Sachinvestitionsausgaben der Kommunen steigen bereits seit 2012 wieder an. Das freut uns und zeigt deutlich, wie wichtig uns Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Bürger vor Ort sind, wie groß wir Subsidiarität schreiben. Ich verbinde diesen großen Erfolg für die kommunale Selbstverwaltung immer gerne mit dem Namen unseres langjährigen Kollegen Peter Götz, der wie kein anderer jahrzehntelang mit Herzblut für die Entlastung der Kommunen gekämpft hat. ({3}) Meine Damen und Herren, die Linken zeichnen in ihrem Antrag trotzdem ein Zerrbild der Finanzsituation der Kommunen im Allgemeinen und fordern den Bund auf, Verantwortung zu übernehmen. Sie unterschlagen dabei die vielfältigen Anstrengungen und Maßnahmen, mit denen der Bund in den vergangenen Jahren die Kommunen in herausragender Weise finanziell und administrativ entlastet und unterstützt hat; ein paar Beispiele habe ich genannt. ({4}) Mit den vielfältigen Maßnahmen des Bundes in den vergangenen Jahren und den bereits beschlossenen Unterstützungen in den kommenden Jahren können die Kommunen selbstbewusst und befreit in die Zukunft blicken. So stelle ich mir bei der Lektüre des Antrags die Frage: Worauf zielt er eigentlich ab? Sie schreiben darin, dass Sie Aufgaben der Kommunen in eine Bundesauftragsverwaltung überführen wollen. Über die Länder, die für die Kommunalfinanzen und die Wahrnehmung der Aufgaben durch die Kommunen in unserem Staat verantwortlich sind, findet sich in Ihrem Antrag nichts - gar nichts! ({5}) Wir wollen eigenständige Kommunen, in denen die Menschen überall in Deutschland nach ihren Sitten und Gebräuchen das Zusammenleben dezentral möglichst weitgehend selbst gestalten und regeln können. ({6}) Wir wollen eben nicht, dass bundesweit alle nach der Pfeife einer Zentralinstanz tanzen müssen. Auch deshalb Axel E. Fischer ({7}) bejahen wir die Länder als weitere Elemente des Föderalismus. Es ist doch bezeichnend, dass die Länder in Ihrem Antrag gar nicht vorkommen, und das, obwohl Sie als Linke mit der Übernahme von Regierungsverantwortung in mehreren Ländern mittlerweile die Geschicke der Menschen lenken und in Thüringen sogar einen Ministerpräsidenten stellen. Warum verleugnen Sie diese Verantwortung in Ihrem Antrag? Warum zeigen Sie nur auf den Bund und klammern die Länder völlig aus? Die Linke formuliert in diesem Hause häufig die Forderung nach mehr Geld für viele oder gar für alle. Warum wollen Sie sich eigentlich so klammheimlich aus Ihrer Verantwortung stehlen, wenn es um das Bezahlen der Rechnung geht? Warum sind Sie nicht einmal ehrlich und sagen offen, dass die finanziellen Probleme der Kommunen vor allem regionale Probleme der vom Strukturwandel betroffenen Industrieregionen im Westen Deutschlands sind? Ich werde Ihnen sagen, warum: Denn dann müssten Sie erklären, warum Sie die knappen Bundesmittel nach dem Gießkannenprinzip über das Land verteilen wollen, anstatt den von Überschuldung betroffenen Kommunen zielgenau zu helfen. Lassen Sie mich auch klarstellen: Die Finanzierung kommunaler Spaßbäder ist bestimmt nicht Aufgabe des Bundes. ({8}) Kommunen, die durch ein Anwachsen des Zuzugs aus anderen EU-Mitgliedstaaten besonders betroffen sind, sehen sich mit erheblichen Belastungen bei der kommunalen Daseinsvorsorge konfrontiert. Hier leistet der Bund Unterstützung und wird das auch weiterhin tun. Dies sind wir bereits im vergangenen Jahr angegangen. Die besonders betroffenen Kommunen wurden per einmaliger Soforthilfe um 25 Millionen Euro entlastet. Dies erfolgte über eine entsprechende Anhebung der Bundesbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung. Im Zusammenhang mit der Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden Länder und Kommunen um 31 Millionen Euro, ab 2016 sogar um 43 Millionen Euro jährlich entlastet. Abschließend komme ich auf das Datum Ihres Antrags zurück, den 17. Dezember 2014. Denn während Ihre Fraktion noch mit der Ausformulierung von finanziellen Forderungen an den Bund beschäftigt war, hatte sich die Bundeskanzlerin bereits mit den Ländern über die Hilfen zur Unterbringung von Asylbewerbern verständigt. Bund und Länder - alle Länder - waren sich darüber einig, dass für die finanzielle Unterstützung von Ländern und Kommunen durch den Bund eine ausgewogene und abschließende Regelung für die Jahre 2015 und 2016 getroffen wurde. Das passierte am 11. Dezember des vergangenen Jahres, immerhin eine Woche vor dem Datum, an dem Sie diesen Antrag eingebracht haben. Das zeigt eines: Diese Bundesregierung und die Große Koalition lösen Probleme gemeinsam mit den Ländern, bevor Sie überhaupt in der Lage sind, die Probleme zu erkennen und entsprechende Forderungen zu schreiben. Herzlichen Dank. ({9})

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Britta Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fischer, Sie haben eben die Situation der Kommunen sehr einseitig zu beschreiben versucht und gleichzeitig den Vorwurf an die Linke gerichtet, dass deren Beschreibung der kommunalen Lage besonders einseitig gewesen wäre. Ich finde das nicht zielführend. ({0}) Ich finde es richtig, darüber zu sprechen, dass in den letzten Jahren Fehler korrigiert und vom Bund aus gemeinsame Maßnahmen mit den Ländern vereinbart worden sind. Dafür war auch nicht - nach Ihrer Farbenlehre die CDU oder gar die FDP verantwortlich. Vielmehr haben Bund und Länder in der letzten Legislaturperiode gemeinsam erkannt, dass die Kosten für die Grundsicherung im Alter, die durch die Folgen prekärer Beschäftigung und Altersarmut entstehen, nicht mehr fast ausschließlich von den Kommunen gestemmt werden können. Von den fast 5 Milliarden Euro, Tendenz steigend, hat der Bund bis zur letzten Legislatur nur 16 Prozent übernommen. Vor diesem Hintergrund bedurfte es einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Länder insgesamt und des Bundes, hier zu sagen: Das geht nicht. Wir müssen in Zukunft 100 Prozent der Kosten der Grundsicherung im Alter übernehmen; denn die Kommunen haben null Steuerungsfähigkeit, haben null Einfluss auf diese Bundesaufgabe und brauchen die Verantwortung des Bundes. - Insofern war es richtig und gut, das zu tun. ({1}) Wenn Sie über die Kommunen sprechen, dann lohnt es sich, auch über die sehr heterogene Situation der Kommunen zu sprechen. Nur dann werden Sie den Kommunen insgesamt gerecht. Die Kommunen sind nicht alle in derselben Situation. Es gibt Kommunen, die ihre Haushalte aufgrund guter Steuereinnahmen in erheblichem Maße sanieren konnten. Im letzten Jahr gab es zusätzliche Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro für die Kommunen. Es gibt selbstverständlich Kommunen, die davon profitiert haben. Aber es gibt gleichzeitig ganz viele Kommunen, die davon in keiner Art und Weise profitiert haben. Verlieren Sie diese doch nicht aus dem Blick. Wir müssen das doch insgesamt betrachten. ({2}) Wir haben mittlerweile eine Zweiklassengesellschaft bei den Kommunen. Es gibt Kommunen, denen es gut geht und die aus eigener Kraft Aufgaben übernehmen, investieren, vor Ort gestalten können, und es gibt Kommunen, die das längst nicht mehr können und nicht wissen, wie sie mit ihren Kassenkrediten und der Notverwaltung umgehen sollen. Wir müssen dieser Situation insgesamt gerecht werden, und zwar die Länder und der Bund; das ist ganz wichtig. ({3}) Dazu haben Sie uns sehr viele Zahlen genannt, sei es bei der Grundsicherung im Alter oder sei es die gerade vom Bundesrat beschlossene Flüchtlingsunterstützung in Höhe von 500 Millionen Euro, auf die sich Bundestag und Bundesrat verständigt haben. Ja, diese Zahlen sind richtig. Aber folgende Zahlen haben Sie nicht erwähnt: In den Kommunen besteht ein Investitionsstau in Höhe von 118 Milliarden Euro. Warum ist das so? Warum widmen wir als Bund uns diesem Thema nicht? Wir wissen, dass die Kommunen dieses Problem nicht aus eigener Kraft bewältigen können. Hier kann sich der Bund nicht wegdrücken. ({4}) Gleichzeitig gibt es bei den Kommunen Kassenkredite in Höhe von 48 Milliarden Euro. Diese sind nicht einfach abzuarbeiten. Für Kommunen in einer Haushaltsnotlage ist das ein Block, der da steht und nicht einfach zu bewältigen ist. Gleichzeitig haben wir es mit Kosten für Sozialleistungen in Höhe von 48,7 Milliarden Euro zu tun. Diese betreffen soziale Pflichtaufgaben des Bundes. Deshalb knüpfen wir, auch wir Grüne, natürlich immer wieder beim Bund an. Man kann es sich nicht so einfach machen und sagen: Das ist Länderaufgabe. Soziale Pflichtaufgaben, soziale Leistungen des Bundes, die für die Kommunen Pflichtaufgaben sind, haben wir von Bundesseite aus mitzufinanzieren. Das ist unsere Verpflichtung. ({5}) Im Jahr 2017 werden die Kommunen insgesamt Kostenaufwendungen für Sozialleistungen in Höhe von 54,5 Milliarden Euro haben. Da ist es gut, 100 Prozent der Kosten für die Grundsicherung im Alter zu übernehmen. Das sind 5 bis 6 Milliarden Euro. Das ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein. Deshalb ist es richtig, sich zu überlegen: Wo sind weitere Punkte, bei denen wir für Bundesleistungen auch Verantwortung aus dem Bundeshaushalt übernehmen müssen? Da appelliere ich an Sie: Tun Sie nicht so, und verschieben Sie die Verantwortung nicht immer nach dem Motto „Wir tun genug, jetzt sind mal die Länder dran“. Am Ende geht es doch um die Menschen, die vor Ort in den Städten und Gemeinden leben und gleichwertige Lebensbedingungen und auch eine gute Lebenssituation haben wollen. Sie haben das Thema Kinderbetreuung angesprochen. Das ist ein sehr gutes Beispiel. Wir haben einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung beschlossen. Dieser Rechtsanspruch gilt für alle, das heißt 100 Prozent. Wenn in einer Stadt wie Bielefeld zum Beispiel 43 oder 44 Prozent der Menschen mit Kindern, die dort leben, diesen Rechtsanspruch geltend machen wollen, dann müssen wir auch Kindertagesbetreuungsplätze für so viele Kinder bereithalten. Gezahlt werden vom Bund aber nur 37 bzw. 38 Prozent. Da machen wir in Berlin es uns zu einfach. Wir können doch nicht einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung ab dem vollendeten ersten Lebensjahr beschließen, dann die Kosten aber nur für eine Quote bezahlen und sagen: Den Rest zahlen die Kommunen vor Ort. Wir tragen hier eine Verantwortung, der wir als Bund im Moment nicht nachkommen. Deshalb appelliere ich an Sie: Tun Sie nicht so selbstgefällig. Wir haben massenhaft Aufgaben, die wir zu bewältigen haben. ({6}) Ich komme zu dem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Neulich haben Sie die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, die meine Fraktion beantragt hatte, abgelehnt. Wir halten es für falsch, dass die Kommunen so viel Verantwortung für Menschen, die fliehen, übernehmen müssen. Das ist aber nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist ein humanitärer: Warum werden Menschen, die zu uns fliehen, die Asyl suchen, die auf der Flucht sind, bei den sozialen Leistungen aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes anders behandelt, regelrecht deklassifiziert? Unterhalb des Existenzminimums gibt es noch ein Minimum für Menschen auf der Flucht. Das ist falsch. ({7}) Wir haben für unsere Initiative zur Abschaffung hier keine Mehrheit gefunden. Es ist aber richtig, dieses Thema anzugehen. Deshalb ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wo die Verantwortung des Bundes liegt. Sie haben von den 500 Millionen Euro gesprochen. Diese Maßnahme ist gut und richtig - darauf haben sich Bund und Länder verständigt -, aber jetzt kann man sich nicht selbstgefällig zurücklehnen; denn wir wissen, es werden noch viel mehr Menschen kommen. Viele Menschen sind vor Krieg und Terror auf der Flucht. Denen müssen wir - das ist unsere humanitäre Verantwortung - hier Asyl gewähren, denen müssen wir hier Raum und Platz bieten. Wir müssen sie willkommen heißen. Das tun ganz viele Bürgerinnen und Bürger durch unglaubliches Engagement und Unterstützung vor Ort. Wir müssen unseren Beitrag leisten, indem wir die Kommunen in die Lage versetzen, diese Flüchtlingsarbeit, diese Flüchtlingsunterstützung zu leisten. ({8}) Es reicht nicht aus, zu sagen: Wir haben doch jetzt einmal etwas gegeben. - Es geht um Integrationskurse, Migrationsberatung, die Betreuung von traumatisierten Menschen, die Aus- und Weiterbildung für junge Flücht7516 linge, die nach Deutschland kommen, und um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Johannes Singhammer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002800

Liebe Kollegin Haßelmann, darf ich Sie an die vereinbarte Redezeit erinnern?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin sofort fertig. - Zum Thema BImA: Warum werden die Immobilien nicht kostengünstiger zur Verfügung gestellt? ({0}) Es geht auch um die Gesundheitskarte, die eingeführt werden muss. All das sind Aufgaben, bei denen die Kommunen die Unterstützung nicht nur der Länder, sondern auch des Bundes brauchen. Deshalb: Lehnen Sie sich hier nicht zurück und sagen: Wir haben schon genug getan. - Hier gibt es eine große Herausforderung. Wer vor Krieg und Terror flieht, muss unabhängig von der Kassenlage auf Hilfe in unserem Land bauen können. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Swen Schulz, SPD-Fraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass der Bund seine Verantwortung wahrnehmen soll, dass er bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern helfen soll und dass er die Kommunen entlasten soll. Das ist im Grundsatz alles richtig, und darum machen wir das auch. ({0}) Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, ganz ohne auf den Antrag der Linken zu warten. Ich will gerne noch einmal einen Überblick geben: Zunächst tun wir ganz grundsätzlich viel für die Kommunen, unabhängig von der Frage Flüchtlinge und Asylbewerber. Wir übernehmen die vollen Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Das macht bis 2018 eine Gesamtentlastung in Höhe von etwa 25 Milliarden Euro aus. 2015 und 2016 kommen je 1 Milliarde Euro hinzu, 2017 sogar noch mehr als 1 Milliarde Euro. Die Koalition hat weiterhin vereinbart, die Kommunen ab 2018 um 5 Milliarden Euro jährlich zu entlasten. Wir leisten viel bei der Kinderbetreuung: 750 Millionen Euro. Wir stocken die Mittel für den Städtebau auf: 700 Millionen Euro. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Koalition muss wahrlich niemand erklären, dass die Kommunen gestärkt werden müssen, und uns Sozialdemokraten schon gar nicht, um das noch hinzuzufügen. ({1}) Nun konkret zu den Flüchtlingen und Asylbewerbern. Außenminister Steinmeier hat es vor einiger Zeit so formuliert: Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Das führt dazu, dass mehr Menschen nach Deutschland kommen und Schutz suchen. Bei all den Diskussionen, die wir hier so führen, müssen wir uns immer im Klaren darüber sein, dass die unmittelbaren Nachbarstaaten der Krisenländer ungleich mehr zu schultern haben. Aber - klar - es gibt eine Zunahme der Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland. Das stellt manche Kommune tatsächlich vor Probleme. Auch in dieser Hinsicht hat die Koalition bereits gehandelt. Das ist teilweise schon gesagt worden. 500 Millionen Euro stehen in diesem Jahr, 2015, für Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung. Für das Jahr 2016 stehen noch einmal 500 Millionen Euro zur Verfügung. Wir haben das Asylbewerberleistungsgesetz reformiert. Dies bringt in diesem Jahr eine Entlastung für die Kommunen von 31 Millionen Euro. Ab 2016 werden es sogar 43 Millionen Euro sein. Außerdem haben wir, Frau Haßelmann, die mietfreie Abgabe von Bundesimmobilien zur Flüchtlingsunterbringung beschlossen. Wir haben eine Entlastung im Zusammenhang mit den Kosten der Zuwanderung aus der EU vereinbart: 25 Millionen Euro. Außerdem haben wir Unterstützung bei Maßnahmen im Gesundheitswesen beschlossen: 10 Millionen Euro jährlich. In diesem Jahr haben wir 40 Millionen Euro für zusätzliche Integrationskurse in den Haushalt eingestellt. Zudem haben wir weitere 10 Millionen Euro im Rahmen der Programme der sozialen Stadt bereitgestellt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch hier sagen wir selbstbewusst: Wir nehmen unsere Verantwortung ernst. Wir unterstützen die Kommunen und helfen ihnen, die Flüchtlinge und Asylbewerber gut aufzunehmen. ({2}) Ich will aber nicht behaupten - damit es hier keine Missverständnisse gibt; Frau Haßelmann hat auf die Unterschiede hingewiesen -, dass damit jetzt alle Probleme gelöst sind. Die Frage, ob sich der Bund über die bisherigen Leistungen hinaus engagieren muss, ist verständlich; denn letztlich ist die Flüchtlingspolitik eine nationale Aufgabe. So müssen wir diese auch verstehen. ({3}) Ich sage das nicht nur, weil Sigmar Gabriel einen entsprechenden Vorstoß unternommen hat, sondern weil ich, wie andere Abgeordnete sicherlich auch, die Situation vor Ort sehe, die eben teilweise schwierig ist. Es ist vollkommen klar, dass wir in der Gesellschaft größere Schwierigkeiten bekommen, wenn es etwa heißen würde: Wir müssen das Schwimmbad schließen, weil wir eine Flüchtlingsunterkunft einrichten müssen. - Wir dürfen auf gar keinen Fall in eine Situation kommen, in Swen Schulz ({4}) der die Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber in Konflikt gerät mit der Daseinsvorsorge, mit wichtigen Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger. Es muss beides zusammen gehen. Es geht auch beides zusammen, gute kommunale Leistungen und eine gute Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Darum werden wir gemeinsam mit den Ländern und Kommunen weitere Maßnahmen erörtern und dann auch zu Lösungen kommen. Damit könnte ich es - gerade als Mitglied des Haushaltsausschusses - eigentlich auch schon bewenden lassen. Wir alle sollten und wollen ja auch Flüchtlinge und Asylbewerber nicht nur als ein Problem für die öffentlichen Haushalte, nicht nur als Kostenfaktor sehen. ({6}) Vor allem ist es ein Gebot der Menschlichkeit, der Nächstenliebe und unseres Grundgesetzes, Menschen in Not zu helfen. Wenn das Geld kostet, dann kostet das eben Geld - das wir aufbringen können. Für die Flüchtlinge muss es doch unverständlich sein, welche Diskussionen wir in Deutschland manchmal führen. Natürlich können wir nicht alle aufnehmen. Natürlich muss es eine neue europäische Flüchtlingspolitik geben. Natürlich müssen wir dazu beitragen, dass die Menschen gar nicht erst fliehen müssen. Die Verfahren müssen sorgfältig durchgeführt, aber auch schnell entschieden werden. Dafür setzen wir mehr Personal ein. Zudem haben wir im Bundesrat mit teilweiser Unterstützung der Opposition die sicheren Herkunftsstaaten neu definiert. Jede Rhetorik aber nach dem Motto „Das Boot ist voll“ ist hanebüchener Unsinn und menschenfeindlich. ({7}) Wie sicherlich viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich in meinem Wahlkreis Debatten über dieses Thema. Besonders heftig wurde es bei mir in Berlin-Spandau, als ich den zuständigen Berliner Senator aufgefordert habe, eine als provisorisch gedachte Einrichtung, Flüchtlingsunterkunft, längerfristig offenzuhalten, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit den Menschen. Manche Anwohner waren sehr aufgebracht. Da habe ich wirklich sehr harte Worte gehört. Ich will hier nicht auf Einzelheiten dieses konkreten Falles eingehen. Ich kann Kritik dann auch verstehen; denn eine große Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber ist für Anwohner, für Nachbarn zunächst einmal eine Belastung. In diesem Fall wurde denen zudem etwas anderes zugesagt als das, was tatsächlich gemacht wurde.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde gerne meinen Gedanken zu Ende führen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sollten daraus lernen, und zwar erstens, dass wir Konflikte mit der Nachbarschaft nach Möglichkeit reduzieren müssen, zuallererst durch Informationen, durch Begegnung und Dialog. Aber manches kostet eben auch Geld, etwa wenn es um bauliche Fragen oder um Angebote für Kinder und Familien und die Betreuung der Menschen geht. Zweitens müssen wir ehrlich sein. Wir müssen uns klar darüber werden, was passiert, und wir müssen das den Bürgern tatsächlich sagen. Auf gar keinen Fall dürfen wir den Fehler wiederholen, den wir früher einmal bei den sogenannten Gastarbeitern gemacht haben, als wir dachten, dass die alle bald wieder weg sein werden. Nein, viele werden bleiben. Wir müssen klar sagen: Das ist gut. Die Menschen sind willkommen. Deutschland braucht Zuwanderung. ({0}) Ich habe mit großem Interesse ein Interview in der Süddeutschen Zeitung mit dem Oberbürgermeister der Stadt Goslar, Oliver Junk, gelesen. Er ist Christdemokrat und will mehr Flüchtlinge in seiner Stadt. Er sagt wörtlich: Wir verlieren Einwohner. Schrumpfende Regionen aber werden weniger attraktiv für die Wirtschaft. Das ist eine Abwärtsspirale, aus der wir raus wollen. … Die Stadt Goslar profitiert von Flüchtlingen, sie sind eine Bereicherung … Der Mann hat recht. ({1}) Wir sind aus ganz handfesten wirtschaftlichen und demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen. Wir müssen mehr Einwanderung wagen, und wir müssen uns eben auch darauf einstellen und die Menschen unterstützen. Das beginnt bei frühen Sprachkursen. In meinem Wahlkreis in Berlin-Spandau haben sich Frauen aus der Nachbarschaft gemeldet und ihre Hilfe für erste Sprachkurse angeboten, weil da staatlich nichts passiert. Ich bin wirklich von diesem ehrenamtlichen Engagement beeindruckt, das es an verschiedenen Stellen gibt und für das wir uns gar nicht genug bedanken können. Aber ich bin sicher, dass wir das auch staatlich besser unterstützen können und müssen. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt weitere Themen, weitere Baustellen. Eric Schweitzer vom DIHK etwa will Flüchtlingen Ausbildung verschaffen und fordert daher ein Verbot der Abschiebung während der Ausbildung. Immerhin haben wir mit dem schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt, mit der Abschaffung von Residenzpflicht und Sachleistungsprinzip, mit der Verbesserung der Unterstützungsmaßnahmen und mit dem schnelleren Swen Schulz ({2}) Zugang zum BAföG schon einiges geschafft. Jetzt müssen weitere Schritte folgen, etwa bei der Bildung, aber auch bei der Gesundheitsversorgung. Ein Zuwanderungsgesetz gehört dazu, ist sozusagen der Rahmen. Die SPD fordert das schon lange. Unser Koalitionspartner fängt mit der Diskussion an. Wir werden das forcieren. Wenn wir ein Zuwanderungsgesetz bekommen, setzen wir ein klares, ein unmissverständliches Zeichen: Deutschland ist ein offenes Land, das Menschen aus anderen Ländern nicht als Last wahrnimmt, sondern anerkennt und willkommen heißt. ({3}) In diesem Sinne: Wir haben viel gemacht, aber haben noch einiges vor. Herzlichen Dank. ({4})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Vogler, Fraktion Die Linke.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Schulz, ich wollte, weil Sie eben die Geschichte aus Ihrem Wahlkreis erzählt haben, darauf hinweisen, dass wir an vielen Orten Probleme damit haben, die Flüchtlinge angemessen, würdevoll und integrativ unterzubringen. Wir waren vor einigen Tagen in meinem Wahlkreis im Münsterland, der eher im ländlichen Raum liegt, unterwegs. Petra Pau als Vizepräsidentin war mit dabei. Wir haben mit Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern sowie mit Menschen aus Flüchtlingsinitiativen gesprochen. Wir haben immer wieder gehört: Die Unterbringung ist ein ganz großes Problem. Wenn es selbst bei uns im ländlichen Raum ein Problem ist, dann liegt es ja auf der Hand, dass es in Städten wie Berlin, Duisburg oder Köln ein noch viel größeres Problem ist. Ich würde Sie fragen wollen, ob es nicht sinnvoll wäre, Immobilien der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, der BImA - sie verfügt über viele, viele Immobilien, ist aber gehalten, diese finanziell bestmöglich zu verwerten -, oder auch andere Liegenschaften des Bundes, die im Augenblick nicht genutzt sind, alte Eisenbahnerwohnungen usw., den Kommunen kostenfrei zur Verfügung zu stellen, damit sie mehr Möglichkeiten haben, die Flüchtlinge dezentral, würdevoll und integrativ unterzubringen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Schulz.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin, Sie haben vollkommen recht. Auch die Bundesimmobilien sind eine Möglichkeit, zur Problemlösung beizutragen. Deswegen haben wir das entsprechend beschlossen. Die BImA stellt mietzinsfrei Immobilien zur Flüchtlingsunterbringung zur Verfügung. Es muss dann vor Ort geklärt werden, welche Liegenschaften dafür geeignet sind. Aber das ist möglich. Das ist ein Beschluss der Großen Koalition und, wie ich glaube, auch ein guter Beitrag. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege Alois Karl das Wort. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich mir gedacht: Das kann ich nur sportlich nehmen. Der französische Baron Pierre de Coubertin hat die Begründung der Olympischen Spiele der Neuzeit unter das Motto „Höher, schneller, weiter“ gestellt. Wenn er Ihren Antrag gelesen hätte, hätte er vielleicht noch „maßloser“ hinzugefügt. ({0}) Es ist eine Ansammlung von Halb- und Nebenwahrheiten, die wir hier lesen. Sie bringen ein tatsächlich bestehendes Problem, nämlich die explodierende Anzahl von Asylbewerbern und Flüchtlingen, in Verbindung mit dem Niedergang der kommunalen Finanzen und fordern, der Bund solle die Defizite durch Zuschüsse egalisieren. So einfach ist die Sache natürlich nicht. Wir haben große Aufgaben zu bewältigen; Frau Haßelmann, da haben Sie schon recht. Wir lehnen uns da auch nicht zurück. Wir wissen, dass auch in den nächsten Jahren - in den nächsten Monaten wahrscheinlich schon - neue große Aufgaben auf uns zukommen werden. Aber wir ziehen daraus andere Schlüsse als Sie. Wir sagen, wenn wir unser Geld auf diejenigen, die es wirklich nötig haben, konzentrieren und es nicht für diejenigen verwenden, die eigentlich kein Bleiberecht bei uns haben, dann haben wir die notwendigen Ressourcen, und wenn wir sie nicht haben, werden wir sie im Bundeshaushalt zur Verfügung stellen. Das ist für uns die richtig angewendete Humanität, die in unserem Lande praktiziert werden muss und die sich in unserem Lande durchsetzen sollte. Das, glaube ich, ist der gravierende Unterschied, den ich in Ihrer Rede gerade ausfindig gemacht habe. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nichts ganz Neues, dass sich die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland explosionsartig erhöht. Vor 36 Jahren, 1979, hatten wir 50 000 Asylbewerber, im Jahr darauf über 100 Prozent mehr, nämlich mehr als 100 000. Vor 25 Jahren, im Jahr 1990, hatten wir in Deutschland 200 000 Asylbewerber, kurz darauf, 1992, 450 000. Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solche Entwicklung ist für diejenigen, die damit befasst sind, immer eine große Herausforderung. Das ist der Bund, das sind die Länder, und das sind die Kommunen. Axel Fischer hat darauf hingewiesen, dass hier natürlich die Länder in der Pflicht sind - selbstverständlich -, dass aber auch der Bund seine Verantwortung wahrnimmt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Dehm? Ja, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich will versuchen, diesen kameradschaftlichen Ton beizubehalten. - Kollege Karl, wären Sie bereit, über den Begriff „explosionsartig“ noch einmal nachzudenken?

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - „Explosionsartig“ bedeutet: sich in ganz ungewöhnlichem Maße vermehrend. Wenn eine Zahl von einem zum nächsten Jahr von 50 000 auf 100 000 steigt, ist das eine geradezu extreme Steigerung. Das ist im Deutschen die ungefähre Bedeutung dieses Ausdrucks. Normalerweise sind Sie des Deutschen ja durchaus mächtig. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstverständlich hat sich die Situation in den letzten 25 oder 15 Jahren verändert, wie ich vorhin gesagt habe. Wir haben heute eine ganz andere Willkommenskultur in Deutschland; Herr Schulz, Sie haben darüber gesprochen, und das ist in der Tat richtig. In den letzten Monaten habe auch ich eine außerordentlich positive Veränderung festgestellt. Es wurden viele private Initiativen gegründet, und Organisationen im karitativen Bereich haben sich engagiert. Ich erwähne allerdings auch die Kirchen und die Klöster, die ihre Tore geöffnet und viele Asylanten und Flüchtlinge untergebracht haben. Ihnen möchte ich an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion für diesen außerordentlichen Akt der Nächstenliebe - so haben wir das früher bezeichnet -, die in unserem Lande in den letzten Monaten um sich gegriffen hat, ganz herzlich und ausdrücklich danken. Auch das gehört zur Realität und zur Wahrheit in diesem Land. ({1}) Es ist völlig selbstverständlich - da lassen wir kein Jota daran rühren -, dass wir jenen, die wegen ihrer politischen Überzeugung, wegen ihrer Glaubensüberzeugung, wegen der anderen Tatbestandsmerkmale, die wir in Artikel 16 a des Grundgesetzes finden, Asyl beantragen können, unsere helfende Hand reichen müssen; das ist gar keine Frage. Das kostet auch Geld; Sie haben das gesagt. Was uns aber ein wenig unterscheidet - Frau Haßelmann, ich gehe noch mal auf Ihre Rede ein -: All jenen, die aus anderen Gründen - aus wirtschaftlichen Gründen - unsere Gastfreundschaft suchen, muss ich sagen, dass wir einen Unterschied machen zwischen rechtmäßig beantragtem Asyl und unrechtmäßig beantragtem Asyl. Da unterscheiden wir uns von Ihnen, und da, meine ich, sollten Sie noch einmal überlegen, ob Sie nicht auch unsere Position einnehmen können. ({2}) Es ist richtig, dass wir Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien jetzt endlich zu sicheren Herkunftsländern definiert haben. Sie wissen, dass ungefähr 25 Prozent der Asylbewerber aus diesen Ländern kommen und 99 Prozent dieser Anträge abgelehnt werden, es aber Monate dauert und viel Geld kostet, Asylbewerber aus diesen Ländern rechtmäßig abzuschieben. Wir hätten viel mehr Kapazitäten zur Verfügung für jene, die aus Syrien, aus dem Irak und aus vielen anderen Ländern unter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer oder sonst woher kommen, um bei uns Asyl zu suchen; auf diese Menschen könnten wir uns dann zu Recht konzentrieren. ({3}) Meine Damen und Herren, ich bitte Sie ausdrücklich darum, dass Sie, wenn wir wieder eine Initiative starten, sichere Herkunftsländer zu definieren, berücksichtigen: Falls tatsächlich in Ländern wie Albanien und Montenegro, Ländern, die ja alle in die EU wollen, die Menschenrechte mit Füßen getreten werden - Sie unterstützen diese Haltung offensichtlich auch noch -, dann hätten diese Länder in der EU nichts zu suchen und ihre Anträge müssten von vornherein mit einem Federstrich abgewiesen werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bund macht viel; das haben wir schon gehört, das muss ich nicht alles noch einmal aufzählen. Wir haben dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, 650 Stellen zur Verfügung gestellt, damit es die große Zahl von Asylanträgen schneller bearbeiten kann. Auch die zweimal 500 Millionen Euro, die der Bund den Städten und Gemeinden 2015 und noch einmal 2016 für die Unterbringung von Asylbewerbern zur Verfügung stellt, sind genannt worden. Ich rufe auch noch einmal in Erinnerung, dass der Bund auch Bundesliegenschaften kostenfrei zur Verfügung stellt. Für die Gemeinden, meine sehr geehrten Damen und Herren - auch an Sie als erste Rednerin der Linken noch mal gesprochen, Frau Karawanskij -, tun wir unendlich viel - mehr als in den Jahrzehnten zuvor. ({4}) Wenn man den Beitrag des Bundes, der zwischen 2010 und 2020 an die Gemeinden fließt, aufaddiert, wird man auf etwa 170 Milliarden Euro Bundesleistung kommen. Das ist schon etwas. Ich meine auch, dass wir manches gemeinschaftlich tun müssen. Wir müssen auf der einen Seite einen ausgeglichenen Haushalt zustande bringen, aber auch viel Unterstützung leisten im Lande und weit darüber hinaus. Ich bin dem Freistaat Bayern ausdrücklich dankbar, dass er bereits vorweggenommen hat, was die Linken jetzt in ihrem Antrag fordern: Der Freistaat Bayern stellt all seine Kommunen frei von den ungedeckten Kosten der Unterbringung und der Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die jetzt in die Städte und Gemeinden Bayerns gekommen sind. Das ist der Nachahmung wert. Hier dürften Sie durchaus, legitimerweise Plagiateur sein. Eine Wallfahrt nach Bayern diesbezüglich, liebe Frau Karawanskij - Frau Jelpke, die jetzt nach mir reden wird, können Sie gleich mitnehmen -, würde niemandem schaden. ({5}) Ich lade ausdrücklich dazu ein. ({6}) - Ja, das kann man auch sagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unseren Städten und Gemeinden geht es - das ist auch schon gesagt worden - unterschiedlich gut. Ich freue mich ausdrücklich darüber, dass in Deutschland mittlerweile mehr als 1 000 Kommunen eine Pro-Kopf-Verschuldung von null haben; das ist gut so. Alle anderen müssten auch danach streben, das zu erreichen. Es gibt auch manche - Sie haben das gesagt -, die hohe Kassenkredite unterhalten; sie umfassen insgesamt 47 Milliarden Euro. Aber da, meine Damen und Herren, müssen wir auch zu unterscheiden wissen: Die Hälfte von diesen 47 Milliarden Euro, 24 Milliarden Euro, entfallen auf lediglich 27 Kommunen, davon 16 aus Nordrhein-Westfalen. Ein Viertel dieser Kassenkredite, 12 Milliarden Euro, werden von lediglich 8 Kommunen beansprucht, davon 7 aus Nordrhein-Westfalen. Das sollte dem einen oder anderen vielleicht ein wenig zu denken geben. Mir steht es nicht an, jetzt Ursachenforschung zu betreiben. Ich sage, dass wir unseren Aufgaben in der Tat nachkommen und dass wir unsere Verpflichtungen auch in Zukunft erfüllen werden. Sie reden uns hier kein schlechtes Gewissen ein; denn das haben wir gar nicht nötig.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Karl.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der Vergangenheit ist schon unendlich viel getan worden, und wenn mehr Flüchtlinge kommen, dann werden wir darauf entsprechend reagieren. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Karl, ich finde, man kann nicht davon reden, dass Flüchtlingsbewegungen explodieren. Das ist allenfalls die Ursache dafür, dass immer mehr Flüchtlinge hierher kommen. Explodieren tun Waffen und Bomben, und ich glaube, gerade Deutschland ist nicht ganz unschuldig daran, dass so viele davon in die Welt verbracht werden. ({0}) Ich will hier noch einmal sehr deutlich sagen: Der Antrag, den die Linke heute hier eingebracht hat, ist Anlass - das zeigt auch die jetzige Diskussion - für eine ganz wichtige Debatte. Wir müssen darüber diskutieren, wie sich die Kommunen, die Länder und vor allen Dingen der Bund an der Beseitigung der zum Teil katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern beteiligen können. Herr Karl, ich war auch gerade in München. Viele Flüchtlinge dort - mindestens 100 Menschen - wurden bei der Erstaufnahme in Zelten untergebracht. Sie sagen hier, Sie würden genug tun. Deshalb frage ich Sie ernsthaft: Was sind Ihre Kriterien für Asylstandards? Was sind Ihre Kriterien für die Würde der Menschen, die hierher in unser Land kommen und Schutz suchen? Es kann nicht wahr sein, dass eine Unterbringung in Zelten diesen Kriterien entspricht. ({1}) Massenunterkünfte für Asylbewerber sind per se unwürdig. ({2}) Ich denke, gerade auch deswegen sind sie häufig Ziel rassistischer Hetze und Gewalt. Das muss endlich der Vergangenheit angehören, und ich gehe ganz fest davon aus, dass das auch geschieht. Die Stadt Schwerte will jetzt Flüchtlinge in dem früheren KZ-Außenlager Schwerte-Ost des ehemaligen KZs Buchenwald unterbringen. Das finde ich wirklich absolut geschmacklos. Es kann ja wohl nicht sein, dass Flüchtlinge in solchen Einrichtungen, die geschichtlich, historisch auch für die Flüchtlinge katastrophal sein müssen, untergebracht werden. ({3}) Es gibt aber auch gute Beispiele. In dieser Woche konnten wir zum Beispiel im ARD-Morgenmagazin sehen, dass sich der Bürgermeister der sächsischen Stadt Gröditz entschieden hat, Flüchtlinge nur noch in Wohnungen unterzubringen. Man konnte dort die Bürger hören - auch Leute, die vorher Ängste hatten -, wie sie sich mit den Flüchtlingen bekannt gemacht haben; sie haben sie durch die Begegnung im Alltag kennengelernt. Es gibt also Möglichkeiten. Einer der zentralen Punkte, die die Kommunen leisten müssen, ist die dezentrale Unterbringung in Wohnungen. Das geht aber eben nur, wenn sich auch der Bund daran beteiligt und die Kommunen nicht alleine lässt. ({4}) Man kann auch auf die Geschichte verweisen. Die Stadt Dortmund und auch andere Städte haben seit Jahren die dezentrale Unterbringung in Wohnungen als Ziel. Meiner Meinung nach brauchen wir genau das, und wir müssen hier auch über eine andere Flüchtlingspolitik reden. Wir werden im Ausschuss hauptsächlich darüber reden müssen - das ist klar -, wie der Bund hier Verantwortung übernehmen kann, aber man muss auch über eine andere, neue Flüchtlingspolitik reden; denn das, was hier passiert, entspricht noch der Abschreckungspolitik in den 80er- und 90er-Jahren, als es den Flüchtlingen möglichst schlecht gehen sollte, damit sie schnell wieder gehen. ({5}) Deswegen müssen eben auch solche Dinge wie Residenzpflicht, Arbeitsverbote und gekürzte Sozialleistungen endlich der Vergangenheit angehören, auch wenn die Regelungen jetzt leicht verbessert worden sind. Die Linke will einen grundsätzlichen Wandel in der Aufnahmepolitik. Menschenwürdige Aufnahmepolitik und schnelle Integration müssen die Ziele dieses Wandels sein. Dazu gehören eben hohe Standards bei der Unterbringung und vor allen Dingen auch bei der Betreuung; denn auch die Beratung fehlt heute fast vollständig für Menschen, die bei uns Schutz suchen. Wir fordern deshalb, dass das System der Verteilung von Asylsuchenden auf die Bundesländer deutlich flexibler gehandhabt wird. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass man Flüchtlinge, die hierherkommen und Verwandte oder Bekannte in Pirna haben, nach Hagen oder sonst wohin schickt. Durch die flexible Verteilung kann das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die Flüchtlinge und gegen Rassismus viel stärker unterstützt werden als durch die Rückkehr zu Massenunterkünften. Eine neue humanitäre und integrative Aufnahmepolitik ist im Übrigen auch die richtige Antwort auf rassistische Hetze und auf Bewegungen wie Pegida. Sie nutzen genau diese Massenunterkünfte, um immer wieder zu mobilisieren. Wir freuen uns auf die Debatte mit Ihnen über eine andere Flüchtlingspolitik und vor allen Dingen über Verantwortung, die der Bund mit wahrzunehmen hat, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Ich danke Ihnen. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Bernhard Daldrup für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben uns vorgestern im Namen von Humanität und Solidarität vor dem Brandenburger Tor versammelt. Heute Morgen haben der Bundestagspräsident und die Bundeskanzlerin zu den Terroranschlägen in Paris und den Angriffen auf Demokratie und Toleranz Stellung bezogen. Jetzt reden wir im Rahmen dieser Debatte aufgrund der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern ganz konkret über die Konsequenzen für praktische Politik. Es ist mir zunächst einmal ähnlich wie Herrn Karl und wie wahrscheinlich uns allen gemeinsam ein besonderes Anliegen, mich bei den vielen Menschen, bei den Tausenden von Menschen in den Städten und Gemeinden unseres Landes für ihr Engagement, für ihre praktische Solidarität, für ihre Mitmenschlichkeit zu bedanken. Das müsste tausendfach geschehen. ({0}) Ich sage das auch deshalb, weil ich mich - ich selber war zu dieser Zeit Ratsmitglied - sehr gut daran erinnere, wie das Anfang der 90er-Jahre war. Ich sehe, dass sich viel zum Guten verändert hat. Aber ich sage auch: Nichts ist von Dauer. Pegida weist den Weg zu Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit. Der Schoß ist immer noch fruchtbar. Darum ist es mir besonders wichtig, auf einen Aspekt hinzuweisen, der vielleicht nur einen kleinen Betrag ausmacht, aber dennoch von eminenter Bedeutung ist, nämlich die Förderung politischer Bildung gegen Rechtsradikalismus und für Demokratie, wie zum Beispiel durch das Programm „Demokratie leben“, dessen Mittel um 10 Millionen Euro erhöht worden sind. Ich halte das für sehr wichtig. ({1}) Sie wissen, dass ich als kommunalpolitischer Sprecher gerne über die Lage der kommunalen Finanzen rede. Frau Karawanskij, wir machen das ja regelmäßig. Bei Ihrem Antrag allerdings rate ich zur Vorsicht. Warum? Frau Haßelmann hat eben darauf hingewiesen: Das Wachstum der Kassenkredite, die Höhe der Sozialausgaben, die Investitionsschwäche der Kommunen haben eine deutlich längere Vergangenheit und vor allen Dingen auch andere Ursachen als die Notwendigkeit zur Unterbringung einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen. Wenn wir jetzt anfangen, die Debatte um die allgemeine Lage der Kommunen und ihre erforderliche Entlastung mit den Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen zu vermischen, wenn wir alles in einen Topf werfen, dann entsteht daraus leicht eine Melange mit einem möglicherweise bitteren Nachgeschmack. ({2}) Allzu leicht liefert man vermeintliche Argumente, die die Ressentiments in der Bevölkerung eher verstärken. Dabei sollte es unsere Aufgabe sein, Vorurteile aufzulösen, aber nicht, sie zu befördern. ({3}) Dazu liefert Ihr Antrag leider keinen Beitrag. Es wäre notwendig, sich mit der Situation der Flüchtlinge und Asylbewerber in den Kommunen konkret auseinanderzusetzen; ich komme darauf gleich zurück. Ich will auch nicht, Frau Haßelmann, bestreiten, dass Ihre Analyse und Ihre Beschreibung zutreffend sind. Ich will auch nichts schönrechnen. Aber trotzdem will ich, ohne im Einzelnen und ausführlich darauf einzugehen, darauf hinweisen - das wissen Sie auch -, dass Bundesregierung und Bundestag schon eine Menge zugunsten der Kommunen gemacht haben: die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung in Höhe von 25 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode und in diesem Zusammenhang auch die Entlastung in Höhe von 1 Milliarde jährlich bis 2017 - das ist angesprochen worden -, die Hilfen beim Städtebau und die Hilfen beim Kitaausbau, der übrigens nicht quotengebunden ist. Diese Hilfen kommen an. Sie lassen sich nicht wegreden; sie lassen sich auch nicht marginalisieren. Das ist ein Erfolg dieser Koalition, und den lassen wir uns nicht kleinreden. ({4}) Trotzdem will ich an dieser Stelle auch sagen: Die Forderung nach einer stärkeren Entlastung bei den Sozialausgaben sozusagen mit einem Antrag zur besseren Finanzierung von Flüchtlingsunterbringungen aufzuwärmen - ich kenne schließlich auch Ihre anderen Anträge hat etwas von Copy-and-Paste; sie hat wenig Neuigkeitswert. Deswegen halte ich fest: Erstens. Bundesregierung und Bundestag setzen Schritt für Schritt die im Koalitionsvertrag zugesagten Wege zur Kommunalentlastung um. Da ist noch nicht alles erreicht; es wird noch weitergehen, auch was die Differenzierung betrifft. Übrigens werden - darauf legen wir großen Wert - auch die 10 Milliarden Euro für die Investitionsförderung sicherlich zur Stärkung der Investitionskraft der Kommunen eingesetzt werden. Zweitens. Es sind bereits sehr konkrete Hilfen in der Asylpolitik und zur besseren Flüchtlingsunterbringung von Bund und Ländern, übrigens auch im Zuge der Änderung - nicht der Abschaffung - des Asylbewerberleistungsgesetzes, beschlossen worden. Beispielsweise entlastet die zeitnahe Eingliederung in die regulären Leistungssysteme und Hilfen nach SGB II und XII bei Vorliegen eines humanitären Aufenthaltstitels die Kommunen um 39 Millionen Euro in 2015; 2016 werden es 52 Millionen Euro sein. Das sind alles keine gewaltigen Beträge, aber sie sollten nicht kleingeredet werden. Die Integrationskurse - mein Kollege hat schon darauf hingewiesen - wurden um 40 Millionen Euro auf 244 Millionen Euro erhöht. Die Personalaufstockung beim BAMF ist schon erwähnt worden. Dass Asylverfahren zeitlich schnell und zügig durchgeführt werden sollen, ist eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag. Die erleichterte Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme nach drei Monaten, die faktische Abschaffung der Residenzpflicht, die Änderungen im Bauplanungsrecht und die mietzinsfreie Überlassung von Flächen und Gebäuden der BImA schaffen mehr Möglichkeiten für eine angemessene Unterbringung. Auch die Erhöhung der Mittel der zuvor unterfinanzierten Migrationsberatung für Erwachsene sei erwähnt. Der Bund hilft den Kommunen auf unterschiedliche Art und Weise, auch wenn es nicht hinreichend ist und wir weiter daran arbeiten müssen. Aber vieles davon entlastet die Transfersysteme und sorgt für Integration und Akzeptanz. Besonders wirkungsvoll ist aber, dass in den Jahren 2015 und 2016 jeweils 500 Millionen Euro bereitgestellt werden, davon die Hälfte durch den Bund über einen einmaligen Festbetrag an der Umsatzsteuer. Die weitere Hälfte wird durch die Länder über einen Zeitraum von 20 Jahren getilgt. Natürlich muss dieses Geld bei den Kommunen landen. Das ist doch gar keine Frage, Herr Karl. Darauf komme ich gleich noch zurück. Leider sind aber die Linken mit ihrer reflexartigen Kritik wegen zu geringer Finanzmittel genauso berechenbar wie die Opposition in meinem Bundesland NRW. Sie kommen zwar nicht aus Nordrhein-Westfalen, Herr Karl, aber Sie sind genauso berechenbar. Weil permanent der Eindruck erweckt wird, als wäre die Situation in Nordrhein-Westfalen etwas anders, will ich Ihnen ein paar Informationen vortragen. Die Verteilung der Flüchtlinge auf Einrichtungen in den Bundesländern erfolgt nach dem Königsteiner Schlüssel. Nordrhein-Westfalen werden 21 Prozent aller Flüchtlinge zugewiesen. Das sind etwa 40 000 Menschen. Das ist mehr als die Einwohnerzahl der Kommune, in der Sie früher Oberbürgermeister gewesen sind: Neumarkt hat meines Wissens 38 000 Einwohner. Das sind also riesige Aufgaben, die bewältigt werden müssen. Nordrhein-Westfalen erhält 108 Millionen Euro vom Bund. 54 Millionen Euro davon werden in Nordrhein-Westfalen unmittelbar und ungeschmälert an die Kommunen weitergeleitet. Die Landespauschale wird nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz um 40 Millionen Euro auf 183 Millionen Euro erhöht. ({5}) - Hören Sie gut zu! - Weitere 14 Millionen Euro stehen für gemeinsame Herausforderungen der Kommunen zur Verfügung: 3 Millionen Euro für Gesundheitsförderung sowie zusätzliche Mittel für Weiterbildung und Sprachförderung, zusätzliche Plätze in Ganztagsschulen und die soziale Arbeit mit traumatisierten Kindern, und 1 Million Euro zusätzlich wird für die Förderung ehrenamtlicher Arbeit zur Verfügung gestellt. Das Land Nordrhein-Westfalen legt noch 37 Millionen Euro obendrauf, die ganz wesentlich für die ErrichBernhard Daldrup tung neuer Erstaufnahmeeinrichtungen mit insgesamt 10 000 Plätzen investiert werden. Ich rede über ganz andere Größenordnungen als die, in denen in den anderen Bundesländern investiert wird. In der Summe werden also nicht nur die 108 Millionen Euro vom Bund, sondern 145 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das alles erfolgt in großer Übereinstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden in Nordrhein-Westfalen. Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage das deswegen, weil ich glaube, dass die finanzielle Unterstützung der Kommunen für die Unterbringung von Flüchtlingen kein Feld für Schwarzer-Peter-Spiele unter demokratischen Parteien sein darf. ({6}) Die Gewinner solcher Debatten stehen jenseits der Demokratie. Die Vorschläge, die im Rahmen der BundLänder-Finanzbeziehungen sowieso verhandelt werden und zwischen den Kommunen und den Ländern noch ziemlich umstritten sind, sind an dieser Stelle nicht besonders ideenreich und innovativ. Deswegen glaube ich, dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der Linken, nicht zustimmen kann. Wir sollten ganz gezielt über eine Politik nachdenken, die Flüchtlingen hilft, zum Beispiel durch einen Rechtsanspruch auf Spracherwerb und Integration in den Arbeitsmarkt, durch die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Nicht-EU-Bürger oder durch ein Einwanderungsgesetz. Auf die Fakten und die wirtschaftliche Begründung dafür hat mein Kollege schon hingewiesen. Wir sollten damit konzeptionell statt populistisch umgehen. Wir Sozialdemokraten sind gerne dazu bereit und laden Sie dazu ein, daran mitzuwirken. Herzlichen Dank. ({7})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Ingbert Liebing, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag der Linken wird der Bogen weit gespannt - das zeigt die Debatte -: von der Unterbringung von Flüchtlingen über das Asylrecht bis hin zu der allgemeinen Finanzlage der Kommunen. Mir liegt sehr viel daran, dass wir dabei keinen falschen Eindruck erwecken. Wir dürfen die Diskussion über die Unterbringung von Flüchtlingen nicht allein auf den finanziellen Aspekt verengen; denn es gibt eine großartige Bereitschaft in den Kommunen quer durch ganz Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen. Ich bin am vergangenen Sonntag in einer kleinen Gemeinde mit 3 000 Einwohnern gewesen, in der eine neue zentrale Landeseinrichtung für die Unterbringung von 500 Asylbewerbern errichtet werden soll. 500 Asylbewerber auf 3 000 Einwohner, das stellt die Gemeinde vor eine große Herausforderung. Aber die Gemeinde sagt Ja zu dieser Einrichtung und will sich darum kümmern. Im Ort bilden sich Initiativen, die die Flüchtlinge willkommen heißen und freundlich aufnehmen wollen. Für mich gehört zu diesem Thema auch, solche Leistungen und eine solche Aufnahmebereitschaft zu würdigen und anzuerkennen. Das möchte ich gerne an den Anfang meiner Rede stellen. Das, was ich in Boostedt erlebt habe, war großartig. ({0}) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie greifen mit Ihrem Antrag die Finanzierung der Flüchtlingsunterbringung auf. Das ist sicherlich ein aktuelles Thema. Aber Ihr Antrag mündet in einem Rundumschlag und endet mit dem alten Lamento, der Bund müsse alles auf der kommunalen Ebene finanzieren und alle Probleme der Kommunen lösen. Das ist natürlich Quatsch und unseriös. ({1}) Es ist unseriös, weil Sie noch nicht einmal sagen, wie viel die Umsetzung Ihrer Vorschläge kosten soll. Über welche Dimension reden wir denn? Beim Asylbewerberleistungsgesetz kämen auf den Bund Kosten in Höhe von etwa 3 Milliarden Euro zu. Bei einer hundertprozentigen Übernahme der Kosten der Unterkunft von Langzeitarbeitslosen im Bereich des SGB II geht es um einen Betrag von etwa 10 Milliarden Euro. Wir reden hier also schlankweg über 13 Milliarden Euro. Sie sagen nicht, wie viel das kostet und wie das finanziert werden soll. Das alles ist nichts anderes als ein Schnellschuss. Was Sie machen, ist populistisch und einfach unseriös. ({2}) Unseriös sind auch Ihre Aussagen zu den Kosten der Unterbringung der Flüchtlinge in den Kommunen. Die Tinte unter der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, in der wir uns darauf verständigt haben, welche Leistungen der Bund übernehmen will, um Länder und Kommunen zu unterstützen, war noch nicht trocken, als Sie im letzten Dezember Ihren Antrag gestellt und gefordert haben, dass noch mehr kommen müsse. Die 1 Milliarde Euro - dieser Betrag ergibt sich in der Summe in diesem und im nächsten Jahr -, auf die wir uns verständigt haben, ist eine wichtige Hilfe für die Länder und in erster Linie für die Kommunen. Immerhin gibt es drei Bundesländer, die bereits heute die Kosten der Flüchtlingsunterbringung in den Kommunen komplett tragen. Das sind Bayern, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern. Es kann kein Zufall sein, dass in diesen drei Bundesländern drei Innenminister der CDU und der CSU mit ihrer Zuständigkeit für die Flüchtlingsunterbringung und für die Kommunen dieses Thema vorangebracht und genau so geregelt haben. ({3}) Frau Karawanskij, Sie sagen in Ihrem Antrag, der Bund solle die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz komplett übernehmen. In Bayern zahlt diese Leistungen komplett das Land. Wenn der Bund diese Leistungen übernimmt, dann kommt nicht 1 Euro zusätzlich in den bayerischen Kommunen an, sondern Sie entlasten die bayerische Landeskasse. Ich weiß nicht, ob das im Interesse Ihres Antrags war, aber solche Folgewirkungen sollte man eigentlich mitberücksichtigen. ({4}) Wichtig ist, was denn eigentlich bei den Kommunen ankommt; denn im Gegensatz zu den drei Ländern, die ich eben genannt habe, gibt es andere Länder, die ganz anders mit dem Thema umgehen. Nordrhein-Westfalen wurde schon genannt. Wenn wir in diesem und im nächsten Jahr den Kommunen zweimal 500 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung stellen, damit sie sich besser um die Unterbringung von Flüchtlingen kümmern können, dann entfällt im Falle von Nordrhein-Westfalen nur die Hälfte auf die Kommunen, die andere Hälfte versickert im Landeshaushalt. Das ist nicht im Sinne der Vereinbarung, das ist nicht im Sinne des Erfinders gewesen. Das ist ein Missbrauch dieser Mittel und geht zulasten der Kommunen. Das gehört zur Gesamtgeschichte dazu. Ich erlebe es in meinem eigenen Bundesland Schleswig-Holstein, wo die Landesregierung bei jedem Thema schreit: Der Bund muss mehr zahlen. - Hier leistet der Bund mehr, aber die Landesregierung hat seit November noch nicht einmal sagen können, was sie denn jetzt mit dem zusätzlichen Geld des Bundes überhaupt machen will. Sie hat noch nicht einmal ein Konzept, wie sie diese zusätzlichen Mittel einsetzen möchte. Auch das ist alles unseriös. ({5}) Stattdessen, Frau Haßelmann, fordert Ihre Parteifreundin Heinold, Finanzministerin in Schleswig-Holstein, ({6}) in dieser Woche noch einmal mehr Geld, obwohl wir doch gerade diese Vereinbarung abgeschlossen haben. Die Vereinbarung besagt ausdrücklich: Für diese zwei Jahre wird eine angemessene und abschließende Regelung über die Finanzierung der Flüchtlingskosten getroffen, und zwar mit dieser zusätzlichen Leistung des Bundes. Es ist nicht in Ordnung, dass dann, wenn der Bund mit den Bundesländern eine Vereinbarung über eine abschließende Regelung trifft, Ländervertreter, in dem Fall die grüne Finanzministerin, sagen: April, April, daran halten wir uns nicht. Wir fordern noch einmal etwas obendrauf. - Eine solche Vorgehensweise ist auch schädlich; denn dadurch wird doch die Bereitschaft auf Bundesebene, auch hier im Hause, reduziert, solche Vereinbarungen zu treffen. Wenn man sich auf Verträge nicht verlassen kann, dann kann man sie künftig nicht mehr abschließen. Deswegen ist diese Vorgehensweise so schädlich. ({7}) In Ihrem Antrag sprechen Sie den Bund an und stellen Forderungen an den Bund. Ich vermisse darin eine klare Forderung auch an die Länder. Wenn wir über die Finanzsituation der Kommunen sprechen, dann müssen wir immer wieder daran erinnern, dass in allererster Linie die Bundesländer für eine aufgabengerechte und angemessene Finanzausstattung zuständig sind. Deswegen halte ich es für falsch, dass wir mit solchen Vorschlägen, wie Sie sie hier vorgelegt haben, die Bundesländer noch weiter entlasten und sie aus ihrer Verantwortung entlassen. Wir sind freiwillig unserer Verantwortung gerecht geworden und haben viel geleistet. Andere Kollegen haben darauf schon hingewiesen. Aber bei dem Thema der Flüchtlingsunterbringung können die Bundesländer viel und mehr tun als bisher, um den Kommunen zu helfen und deren Situation gerecht zu werden. Das wichtigste Thema aus meiner Sicht ist, dass das Asylrecht auch konsequent umgesetzt wird. Dazu gehört, dass wir diejenigen, die Asylrecht genießen, bei uns willkommen heißen und uns angemessen und vernünftig um sie kümmern. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber genauso gehört dazu, dass diejenigen, die diese Fluchtgründe nicht haben, die sich nicht auf das Asylrecht berufen können, wieder nach Hause zurückgebracht werden. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, dass Recht und Gesetz umgesetzt werden. ({8}) Deswegen passen Forderungen wie die nach einem Wintererlass nicht, wonach bis Ende März nicht abgeschoben werden soll, weil schlechtes Wetter ist und es zu kalt ist. Das Asylrecht kann nicht der Wetterlage angepasst werden. ({9}) Deswegen sind diese Entscheidungen in Thüringen und Schleswig-Holstein so falsch. Das verschärft den Problemdruck der Kommunen. Dort werden die jeweiligen Landesregierungen ihrer Verantwortung nicht gerecht. Wir leisten das, was wir tun können, und sogar noch mehr. Wir sind bereit, uns diesem Thema zu stellen, sowohl im Hinblick auf die Finanzlage der Kommunen als auch im Hinblick auf die Flüchtlingsunterbringung. Wir können miteinander erwarten, dass die Länder ihren Anteil dazu beitragen. Das gehört zum Gesamtpaket. Das fehlt im Antrag der Linken. Bei der weiteren Diskussion werden wir auch darüber intensiv sprechen können. Vielen Dank. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3573 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Haushaltsaus- schuss, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Finanzausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke - Federführung beim Finanzaus- schuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei- sungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und SPD - Federführung beim Haushaltsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Da- mit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so- wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: 23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Meiwald, Christian Kühn ({0}), Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Feinstaubemissionen aus Baumaschinen reduzieren Drucksache 18/3554 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Meiwald, Nicole Maisch, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehrweganteil an Getränkeverpackungen erhöhen Drucksache 18/3731 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden Drucksache 18/3314 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Innenausschuss ({4}) Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären Drucksache 18/3647 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({5}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen. Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatzpunkt 4 b. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen dann zu einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist. Zusatzpunkt 4 a. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden“ auf Drucksache 18/3314 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innenausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke - Federführung beim Innenausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - Federführung beim Auswärtigen Ausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung Dritte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung Drucksachen 18/3257, 18/3363 Nr. 2, 18/3588 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3588, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/3257 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Griechenlands Zukunft im Euro-Raum Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Diether Dehm. ({1})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Jean-Claude Juncker sagte im Dezember zur Wahl in Griechenland, er sähe in der nächsten griechischen Regierung lieber „vertraute Gesichter“. Dem PASOK-Vorsitzenden Venizelos huldigte Bundesaußenminister Steinmeier - ich zitiere -: Aus unserer Sicht käme es darauf an, dass die Kräfte, die den Fortschritt in Griechenland gesichert haben, in der Lage sind, diesen Weg fortzusetzen. Wer sind denn diese vertrauten Gesichter? Der PASOK-Vorsitzende und Minister Venizelos bekam 2010 von der jetzigen IWF-Chefin Lagarde einen USBStick, auf dem die Namen von über 2 000 griechischen Steuerhinterziehern mit Schweizer Konto standen. Dieses vertraute Gesicht Venizelos ließ den USB-Stick mit vertrauten Namen zwei Jahre lang in seinem Schreibtisch vergammeln - ein wahrhaft vertrautes Gesicht und vertraut den Steuerhinterziehern von der Deutschen Bank, die ihn vertraulich beraten hatten. ({0}) Oder der Regierungschef Samaras von der Nea Dimokratia, der Schwesterpartei der CDU, von dem griechische Abgeordnete hartnäckig behaupten, er habe ihre Stimme zu kaufen versucht, um bei der - gescheiterten Präsidentenwahl im Dezember seinen rechten Kandidaten durchzubringen - ein vertrautes Gesicht für die Finanzoligarchen! Inzucht, Korruption und der Staat als Selbstbedienungsladen. Das sind die vertrauten Gesichter der jahrzehntelangen Vetternwirtschaft dieser beiden durch und durch korrupten Parteien ND und PASOK, ({1}) mit denen die Große Koalition hier übrigens in brüderlicher Hilfe verbunden ist. Alexis Tsipras hingegen ist die seriöse Stimme ({2}) und das gute neue Gesicht des jungen Griechenland, ({3}) das sich aus dem Schlamassel erhebt, den Sie angerichtet haben, ein junger Vertreter der ältesten Demokratie, von der Sie sich in vielen Fragen eine Scheibe abschneiden können. ({4}) Mittlerweile beruft sich selbst die Welt auf Brüsseler Stimmen, die einen Schuldenschnitt für Griechenland wollen. Was sind wir hier, was sind Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch verteufelt worden, als wir schon 2013 einen neuen Schuldenschnitt gefordert haben? ({5}) Damals waren es noch 94 Prozent der griechischen Schulden, die in privater Hand waren, in der Hand von Banken und Großspekulanten; die wären damals betroffen gewesen. Heute sind 88 Prozent der griechischen Staatsschulden in traurigem Besitz der europäischen Steuerzahler. Allein für die deutschen Steuerzahler geht es um rund 75 Milliarden Euro. ({6}) - Melden Sie sich zu Wort! Ich antworte dann gern. ({7}) - Das geht immer! Das geht in diesem Parlament immer! ({8}) Sie verwechseln das mit anderen Parlamenten. - Die Banker und Steuerhinterzieher bekamen von Frau Merkel aber erst die Zeit, ihre Schäfchen ins Trockene und die Schrottpapiere in öffentliche Hand zu bringen. ({9}) Das alte Prinzip wurde wieder einmal wahr: Gewinne werden privatisiert, Verluste der Allgemeinheit aufgebürdet. Die vertrauten Gesichter waren von vertrauten Beratern wie Goldman Sachs bei der Euro-Einführung systematisch und mit Lügen beraten worden, bewusst mit LüDr. Diether Dehm gen beraten worden; sonst wäre es zu der EuroEinführung gar nicht gekommen. ({10}) Die Griechen bezahlen dafür jetzt mit unendlichem Schmerz. Das Elend habe ich in meiner Rede im Dezember ausführlich dargestellt, zum Beispiel Anstieg der Zahl der Totgeburten um 21 Prozent und der Kindersterblichkeit um 43 Prozent. Dagegen will SYRIZA, will Alexis Tsipras, nicht nur für die Griechen, sondern für das ganze Europa: die Bekämpfung der humanitären Krise im Land, die Reorganisation des Staates - beispielsweise Verminderung der Zahl der Ministerposten von 18 auf 10 -, die Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung - übrigens, bei Steuerhinterziehung war die Troika immer sehr lax und sehr flexibel, während sie bei den sozialen Kürzungen immer eisern und unerbittlich war -, die Wiederbelebung der Wirtschaft und die Stärkung der Arbeitnehmerrechte. ({11}) Sie haben die Chance, Ihre Fehler wiedergutzumachen, wenn Alexis Tsipras am 25. Januar zum Ministerpräsidenten gewählt werden wird. ({12}) Dann sinnen Sie nicht auf Rache, sondern helfen Sie! Dann tricksen Sie nicht, auch wenn Ihnen das Ergebnis nicht gefallen sollte! Dann werfen Sie Alexis Tsipras und seinem Linksbündnis nicht Knüppel zwischen die Beine, sondern akzeptieren Sie das demokratische Votum des griechischen Volkes! ({13}) Auch wir haben die Wahl: Troika oder Menschenrechte, Troika oder wirtschaftliche Vernunft. ({14}) Es gilt, Demokratie und Sozialstaatlichkeit wieder zu ertüchtigen. ({15}) Es gilt, einer Deflation entgegenzuwirken. Es gilt, eine langanhaltende Rezession zu verhindern, die ganz Europa in den Schlund ziehen kann. ({16}) Ein Neuanfang in Griechenland ist eine Chance für Europa zum Umdenken.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Dehm, jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. - Solidarität mit Griechenland und einem sozialen Aufbruch mit Alexis Tsipras ist darum Solidarität mit den Menschen auch bei uns und in ganz Europa. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister. ({0})

Dr. Michael Meister (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002733

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Januar finden in Griechenland Parlamentswahlen statt. ({0}) Das Ergebnis ist offen, und wir als Bundesregierung beteiligen uns nicht an Spekulationen, wie eine solche Wahl ausgeht. ({1}) Während der Kollege Dehm eben versucht hat, hier am Pult den griechischen Wahlkampf zu führen, ({2}) werden wir als Bundesregierung uns am Wahlkampf in Griechenland nicht beteiligen. ({3}) Wir haben 2012, als während des ersten und vor Beginn des zweiten Hilfsprogramms für Griechenland eine Parlamentswahl in Griechenland stattgefunden hat, den griechischen Wahlkampf zur Kenntnis genommen, haben das Ergebnis zur Kenntnis genommen und haben mit den Verantwortlichen die notwendigen Schritte hinsichtlich der Reformprogramme besprochen. Auch damals haben wir keine Empfehlungen im Wahlkampf und zu Entscheidungen der griechischen Innenpolitik gegeben. Den Respekt, den wir vor drei Jahren gelebt haben, den leben wir auch jetzt. ({4}) Insofern ist die Haltung der Bundesregierung, Herr Dehm, unverändert. ({5}) Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zu nachhaltigem Wachstum zu kommen. ({6}) Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zu nachhaltiger, dauerhafter Beschäftigung von Menschen zu kommen. ({7}) Wir unterstützen Griechenland dabei, zu nachhaltig tragfähigen Staatsfinanzen zu kommen. ({8}) Diese Haltung, die wir jetzt seit mehr als vier Jahren einnehmen, werden wir unabhängig vom Wahlausgang in Griechenland auch nach diesen Wahlen und einer entsprechenden Regierungsbildung einnehmen. ({9}) Was ist das Problem? Das Problem ist, dass in Griechenland zweifellos an den Stellen, die ich eben genannt habe, strukturelle Veränderungen notwendig waren und sind ({10}) und dass wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Kapitalmärkte Griechenland die Zeit, die notwendig war, um diese Reformen durchzuführen, nicht gegeben haben. Da haben wir uns in großer europäischer Solidarität dazu entschlossen, Griechenland im Rahmen des ersten und des laufenden zweiten Hilfsprogramms die Zeit für die notwendigen Reformen zu geben. Wir leben in Europa in einer Verantwortungsgemeinschaft. Wir leben die Verantwortung, indem wir die beiden Hilfsprogramme angeboten und zur Verfügung gestellt haben. Und die Griechen leben in der Verantwortung, die vereinbarten notwendigen Strukturreformen entsprechend zur Umsetzung zu bringen. An dieser Stelle will ich darauf hinweisen, dass die Gültigkeit von Verträgen, die wir schließen, hier Verträge der griechischen Regierung mit der Troika, nicht davon abhängt, welche Personen der Regierung angehören, sondern die Verträge, die geschlossen wurden, gelten unabhängig von Regierungsbeteiligungen, ({11}) von Personen und Parteien. Deshalb unterstellen wir, dass, ganz gleich, wie die Wahl ausgeht und wie die Regierungsbildung ausgeht, die Verträge, die wir geschlossen haben, weiter gelten werden. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Griechenland hat die Zeit seit 2010 genutzt. Wir können deutliche Erfolge sehen. Nach sechs Jahren Rezession haben wir in Griechenland 2014 zum ersten Mal ein realwirtschaftliches Wachstum von 0,6 Prozent gesehen. Und wenn die Vorhersagen eintreten, wird Griechenland im laufenden Jahr eine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften innerhalb der Euro-Zone sein. Es wird ein Wachstum der griechischen Volkswirtschaft von nahezu 3 Prozent vorausgesagt. Das ist eine positive Wende. ({13}) Wir hatten in Griechenland ein Staatsdefizit von 15 Prozent bezogen auf das Jahr 2009. Wir finden im Jahr 2014 ein Staatsdefizit, das unter 3 Prozent liegt. Das heißt, Griechenland gehört mittlerweile zu den Ländern, die 2014 das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent eingehalten haben; eine sehr positive Entwicklung. Aber dieser Rückgang ist nicht hinreichend, sondern er bedeutet, dass man weiter vorangehen muss und weiter konsolidieren muss. Wir hatten in Griechenland in den vergangenen Jahren einen Abbau von Beschäftigung. Aber auch dies hat sich im Jahr 2014 verändert. Wir haben 2014 in Griechenland zum ersten Mal seit Beginn der Programme wieder einen Aufbau der Beschäftigung. Es ist prognostiziert, dass auch in diesem Jahr dieser Beschäftigungsaufbau mit mehr Schwung weitergeht. Wir gehen davon aus, dass wir Ende 2015 etwa 2,5 Prozent mehr Menschen in Beschäftigung haben werden als zu Beginn des Jahres. ({14}) Dementsprechend reduzieren sich die Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland ist zwar auf einem sehr hohen Niveau. Aber wir sehen eine Trendwende. Die Arbeitslosenzahlen in Griechenland gehen zurück. Genau das wollen wir erreichen. Wir sind sicher, dass die Arbeitslosigkeit weiter zurückgehen wird. Auch bei den Einkommen haben wir eine Trendwende. Nachdem mehrere Jahre lang die Einkommen zurückgegangen sind, haben sie sich mittlerweile stabilisiert. Die Einkommen der Menschen beginnen wieder zu steigen. ({15}) In genau dieser Situation findet jetzt die Wahl statt. Bei dieser Frage geht es um etwas ganz Einfaches. Herr Dehm, mich treibt nicht die Frage um, ob in der nächsten Regierung Kommunisten sitzen, sondern die Frage: Wird der Erfolgsweg, der in Griechenland in den vergangenen fünf Jahren eingeschlagen wurde - wie ich eben dargestellt habe: mit sehr viel Erfolg -, von einer Reformregierung weitergeführt, ({16}) oder wird dieser Erfolgsweg abgebrochen, sodass all die Mühen, die die Menschen in Griechenland auf sich genommen haben, umsonst waren? Das ist die Frage, die jetzt beantwortet werden muss. ({17}) Über diese Frage werden wir mit der künftigen griechischen Regierung in Ruhe sprechen. ({18}) Herr Dehm, Sie haben die Themen Schuldenstand und Schuldenschnitt angesprochen. Ich will Sie darauf hinweisen, dass Sie sich offenkundig mit dieser Sache relativ wenig beschäftigt haben. Die Tilgungszahlungen für Griechenland sind - je nachdem, ob Sie auf das erste oder zweite Hilfsprogramm schauen - bis 2020 bzw. 2023 ausgesetzt. Das heißt, die Frage der Schuldenbedienung stellt sich für Griechenland in den nächsten Jahren überhaupt nicht. ({19}) Deshalb ist der Schuldenstand für die Frage, wie es in Griechenland weitergeht, momentan vollkommen irrelevant. ({20}) Wir sollten aber keine irrelevante Frage diskutieren, sondern wir sollten uns auf die entscheidenden relevanten Fragen konzentrieren und darauf Antworten geben. Aber weil Sie das nicht wollen, weichen Sie auf Felder aus, die überhaupt keine Relevanz haben. ({21}) Meine Damen und Herren, das zweite GriechenlandProgramm wäre am 31. Dezember 2014 ausgelaufen. Griechenland hat den Antrag gestellt, dieses Programm um zwei Monate zu verlängern, bis Ende Februar 2015. Der Deutsche Bundestag hat am 18. Dezember vergangenen Jahres zugestimmt. Wir halten uns genau an dieses Programm. Wenn das Programm zu Ende ist, dann wird die neue griechische Regierung entscheiden müssen, ob sie einen neuen Antrag stellt: entweder eine zeitliche Ausdehnung des bestehenden Programms oder möglicherweise ein neues Programm. Das ist aber keine Entscheidung, die der Deutsche Bundestag, die Europäische Kommission oder wer auch immer zu treffen hat, sondern es ist eine Entscheidung, die die griechische Regierung zu treffen hat. Wenn die griechische Regierung ihre Entscheidung getroffen hat, dann wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag über den Antrag, sofern er gestellt wurde, informieren. Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, dass jede griechische Regierung mit dieser Fragestellung seriös umgehen wird; denn in dem Moment, in dem man Verantwortung hat, trägt man nicht nur Verantwortung für das, was man sagt, sondern auch für das, was aus dem Handeln bzw. Nichthandeln folgt. Ich habe vorhin gesagt, dass wir Verantwortung für Griechenland gelebt haben. Die Griechen müssen Verantwortung für sich leben. Das heißt im Klartext: Als wir Hilfe und damit mehr Zeit gewährt haben - ganz gleich, ob im Rahmen des ersten oder des zweiten Programms -, war für uns immer klar, dass diese Zeit genutzt werden muss, um Probleme zu lösen. Deshalb wird es keine Programme geben, die nicht dazu beitragen, dass die Probleme eines Landes, das Hilfsprogramme benötigt - in diesem Fall Griechenland -, auch gelöst werden. In diesem Geist sollten wir diskutieren. In diesem Geiste sollten wir das, was wir in Europa positiv erreicht haben, weiterführen. Danke schön, meine Damen und Herren. ({22})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unglücklich ist das Land, über dessen Innenpolitik so intensiv in Deutschland diskutiert werden muss, könnte man vielleicht sagen. Wir haben jetzt zwei Reden gehört, in denen versucht wurde, die griechische Lage zu beschreiben und vielleicht an der einen oder anderen Stelle politisches Kapital daraus zu schlagen. Keiner der beiden Redner hat das eigentliche Thema der Aktuellen Stunde genannt, nämlich: Griechenland hat eine Zukunft im Euro-Raum. - Punkt. ({0}) Jetzt könnte man sich schon fragen, warum dies eigentlich weder Herr Dehm, der hier der größte Freund der Griechen ist - Diether, du bist ein guter Freund von Alexis Tsipras; ({1}) das ist okay, er ist ein netter Kerl -, noch der Vertreter der Bundesregierung gesagt haben. Um es ein bisschen zuzuspitzen: Sie haben es versäumt, nach Veröffentlichung der Spiegel-Meldung am Sonntag mit einem eindeutigen Dementi klarzustellen, dass Griechenland im Euro-Raum bleibt, ({2}) und haben die Debatte tagelang weiterlaufen lassen und damit die Gespenster der Vergangenheit beschworen. ({3}) Da können Sie über Tsipras und Diether Dehm reden, so viel Sie wollen. Der Unterschied zwischen Ihnen und Diether Dehm ist: Ihnen glauben die Märkte noch. ({4}) Wie können Sie es überhaupt verantworten, nach fünf Jahren dieser unsäglichen Austrittsdebatte nichts dazu zu sagen? Sie haben gesagt: Wenn man nichts tut, ist man mitverantwortlich. - Ihr Schweigen war meiner Ansicht nach unverantwortlich. ({5}) Jetzt muss man auch mal sagen: Ich weiß gar nicht, wer dieser Meldung im Spiegel eigentlich geglaubt hat. Ich glaube, ihr von der Linken seid nicht so doof, dass ihr der Meldung geglaubt habt. ({6}) Alle gehen dann raus und kommentieren es irgendwie; es laufen Hinterbänkler von der Union herum, und dann kommen wieder alle möglichen Debatten. Wir haben Griechenland in den letzten Jahren ungefähr 250 Milliarden Euro geliehen. Glaubt irgendjemand, dass sich Merkel und Schäuble, wenige Wochen bevor die letzte Tranche von ungefähr 1,5 Milliarden Euro ausgezahlt werden soll, plötzlich überlegen: „Jetzt machen wir es doch ganz anders“? So hirnverbrannt kann doch nicht mal eine Große Koalition agieren. ({7}) Man muss aber auch sagen: Die große Koalition der Freunde Griechenlands besteht nicht aus der Linkspartei und der CDU/CSU. Ich weiß, dass ihr von der Linken euch in dieser Hinsicht mit manchen CSU-lern sehr einig seid; aber das ist dann Gauweiler und nicht Fuchtel. ({8}) Um es klarzustellen: Ich werde niemals vergessen, wie Gregor Gysi in der mündlichen Verhandlung über die Griechenland-Hilfe vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gesagt hat: Kein weiteres deutsches Geld nach Griechenland! - Das war eine deutsche Debatte, die ihr dort geführt habt, und keine europäische. Da hilft es auch nicht, eine solche Aktuelle Stunde zu verlangen. ({9}) Diether, weil ich schon geahnt habe, dass an dieser Stelle die CDU/CSU klatschen wird: Ich werde ebenso niemals vergessen, wie die unsägliche Geschichte zustande kam, als die Bild-Zeitung irgendwo anrief und irgendjemanden suchte, der das mit dem Kauf der griechischen Inseln forderte. Wer war sich nicht doof genug, das zu fordern? Das waren damals Abgeordnete von der FDP und der Mittelstandsbeauftragte der CDU/CSU. Sie sind bei diesem Thema mit der Linkspartei in einem Boot, ({10}) weil Sie keine Stabilität beim Thema Griechenland an den Tag legen. ({11}) Es gibt in diesem Haus eine Fraktion, der bewusst ist, dass das Wichtigste, was Griechenland braucht, Stabilität ist. Diese Fraktion hat seit 2009 immer gesagt: Griechenland bleibt im Euro, weil wir es wollen, und wenn es ein bisschen kostet, dann kostet es ein bisschen; wenn es ein bisschen mehr kostet, kostet es ein bisschen mehr. Dieser Überzeugung waren nicht die Linkspartei und die CDU/CSU, sondern die Grünen - sie sind die Freunde Griechenlands. So ist das nämlich! ({12}) - Die SPD hat dann auch mitgemacht. ({13}) Jeder weiß, dass in Griechenland viele Fehler passiert sind; ich möchte das ausdrücklich sagen. Der IWF würde niemals behaupten, er hätte alles richtig gemacht. Die Troika würde niemals behaupten, sie hätte alles richtig gemacht. ({14}) Ich rede in Athen auch mit Leuten vom IWF und in Brüssel mit Leuten, die sagen, dass unterschiedliche Sachen falsch gemacht wurden. Sie würden nicht sagen: Nur wir haben alles falsch gemacht. Sie würden sagen: Auch Herr Samaras und Herr Papandreou haben Fehler gemacht. - Meiner Ansicht nach waren die Grünen nie relevant genug. Aber wenn die Grünen im politischen System Griechenlands ebenso wichtig gewesen wären, dann würde ich sagen, auch sie hätten Fehler gemacht. Genauso muss man sagen, dass Herr Tsipras ein Kind seines gesellschaftlichen Systems ist. Er ist kein Schreckgespenst, Diether. Es könnte sich jedoch früher oder später herausstellen, dass er im Gegensatz zu euch ein Realpolitiker ist, und dann werdet ihr, so wie ihr es gerade gegenüber anderen getan habt, auch Herrn Tsipras beschimpfen. ({15}) Ich bin fest davon überzeugt, dass es zwischen Ankündigungen und Wahrheit eine entscheidende Variable gibt, und das ist die Handlungsfähigkeit, die man verändern kann. ({16}) Deswegen ist es wichtig, dass wir Griechenland, egal welche Regierung an die Macht kommt, auf seinem Weg begleiten, um Fehler im Bereich Soziales, aber auch in anderen Bereichen wie Korruption und Staatswesen zu korrigieren. Das dürfen wir nicht durch Debatten über einen Austritt gefährden. Das wird Griechenland niemals helfen. Wir sollten auf die Nachhaltigkeit in unseren Handlungen im sozialen und im ökologischen Sinne achten. Dafür müssen wir gemeinsam einstehen. Danke. ({17})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Johannes Kahrs, SPD-Fraktion.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt drei Wortmeldungen gehört, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: zum einen die haltlose, manchmal dümmliche Polemik von der Linken, wie man sie halt kennt, dann den Sachvortrag der Bundesregierung, in dem die Fakten darstellt wurden, ({0}) und schließlich den Beitrag von den Grünen, in dem deutlich wurde, dass in diesem Hause Konsens darüber besteht, dass Griechenland eine Zukunft im Euro-Raum hat. Dafür haben der Bundestag und die Bundesregierung in all den unterschiedlichen Facetten, die ich seit 1998 kenne, immer gestanden. Natürlich hätte man einige Meldungen im Spiegel dementieren können. Natürlich kann man dem einen oder anderen vorwerfen, dass er einen Fehler gemacht hat. Da in unserem Land häufig gefragt wird: „Warum geben wir den Griechen immer wieder Geld?“, muss man in dieser Debatte darauf verweisen, dass in diesem Hause, von der SPD über die Grünen bis zur CDU/CSU, Konsens darüber besteht, dass wir den Griechen helfen wollen ({1}) und dass wir wollen, dass Griechenland eine Zukunft im Euro-Raum hat. Das sind wir Europa und den Griechen schuldig. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass die Griechen natürlich ihren Teil dazu beitragen müssen, dass sie eine Zukunft im Euro-Raum haben. Es muss deutlich werden, dass das Vertrauen, das die Europäische Union, die Bundesrepublik Deutschland, der IWF und insbesondere die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Griechenland setzen, auch gerechtfertigt ist. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille; das ist nun einmal so. ({2}) Wir können jetzt lange darüber philosophieren, warum die Griechen in diese Situation hineingeschlittert sind. So etwas passiert ja nicht in drei Jahren, sondern daran waren sehr viele griechische Regierungen unterschiedlichster Art beteiligt. ({3}) Das Ganze ist über Jahrzehnte gewachsen. Da ist auch viel Misswirtschaft entstanden. Ich glaube, man muss immer wieder dafür werben und dafür kämpfen, dass sich die Situation ändert. Denn wir alle haben ein Interesse daran, dass die Griechen alleine und vernünftig klarkommen, damit sie nicht immer auf ausländische Hilfe angewiesen sind; schön finden die das auch nicht. Deswegen ist es gut, wenn Griechenland die griechische Zukunft allein bestimmen kann. Dabei sollten wir ihnen helfen. Nicht gut ist allerdings, Herr Dehm, dass Sie sich in der heutigen Diskussion, in der wir alle gemeinschaftlich für eine Zukunft Griechenlands im Euro-Raum werben, hierhinstellen und stumpf griechischen Wahlkampf machen. Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wer in Griechenland die Wahl gewinnt. Ich werde es auch nicht entscheiden. ({4}) - Wer meine Leute sind, das können Sie sowieso nicht beurteilen. ({5}) Ich bin mir ganz sicher, dass die Leute, die Sie gerade bejubeln, nicht Ihre Leute sind; denn die finden Sie auch peinlich. Im wahren Leben wissen die, dass Sie es nicht können. ({6}) Wenn man sich das dann in der Sache anschaut, stellt man fest, dass sich der griechische Oppositionsführer in den letzten Wochen und Monaten sehr stark geändert hat. Er hat Dinge erzählt, die Ihnen hier nicht über die Lippen kommen würden. ({7}) Er weiß nämlich auch: Wenn er die Chance hat, diese Wahl zu gewinnen, dann wird er sehr vernünftig sein müssen. Noch einmal: Ich entscheide am Ende nicht, wer in Griechenland die Wahl gewinnt. Ich will es auch gar nicht entscheiden. Das sollen die Griechen entscheiden, ({8}) ohne Hilfe von Herrn Dehm und ohne billige Polemik. Das ist eine rein griechische Entscheidung. Dann werden die Griechen eine Regierungsbildung vornehmen. Auch das ist hervorragend so und wird von uns nicht beeinflusst. Dann wird die griechische Regierung, wie auch immer sie zusammengesetzt sein wird, entscheiden, was sie tun will. Das nennt man, Herr Dehm, Demokratie. ({9}) Damit haben Sie aber ein Problem; das weiß ich. ({10}) Aber das macht überhaupt nichts. Und wenn die griechische Regierung eine Entscheidung trifft und sagt, sie würde gerne mit der Europäischen Union diesen Weg gemeinsam weitergehen, dann wird man mit ihr darüber reden müssen. ({11}) Natürlich wird man ihr auch sagen, dass die alte griechische Regierung Verträge geschlossen hat, und zwar für Griechenland. Daran wird sich auch eine neue Regierung halten. Das ist auch gut so. Dann wird man diese Diskussion führen. Das Schöne an Deutschland ist: Diese Diskussion führt nicht nur die Regierung - so gut das alles war, was Herr Meister gesagt hat -, sondern diese Diskussion wird auch im Deutschen Bundestag geführt, und zwar genau dann, wenn es an der Zeit ist, und nicht, wenn die Linkspartei eine Aktuelle Stunde beantragt hat. Vielen Dank. ({12})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft Griechenlands liegt im EuroRaum; darüber sind wir uns einig. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich das unterstreichen, was der Kollege Sarrazin hier gesagt hat. Ich sage das wohlbegründet und mit Überzeugung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mich zunächst gefragt, warum die Linke diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Sie war doch so besorgt, dass der Spiegel-Artikel in diesem Zusammenhang und die Vorgänge danach Einfluss auf die Wahlen in Griechenland haben könnten. Es war Ihnen zunächst ja peinlich, hier über all diese Themen zu sprechen. Wenn man nicht darüber reden sollte, was ursprünglich Ihre Intention war, dann hätte man sagen müssen: Antrag auf Beendigung der Debatte. - Ich würde mich hinsetzen, und dann wäre die Sache erledigt. Jetzt habe ich aber bei der Rede des Herrn Dehm gelernt, dass er hier seinerseits in ungeahnter Weise Wahlkampf für seine politische Richtung machen wollte. Das ist ein Vorgang, den ich bisher im Deutschen Bundestag noch nicht erlebt habe. ({0}) Unabhängig davon sage ich, dass wir mit dem Thema, das in dem Artikel, der diese Diskussion ausgelöst hat, angesprochen worden ist, sehr vorsichtig umgehen sollten. Wir dürfen nicht leichtfertig Diskussionen führen, ob ein Land Mitglied oder nicht Mitglied in der EuroZone sein soll. Was ich in diesem Zusammenhang meine, habe ich zu Beginn gesagt. Wir haben unabhängig von der Mitgliedschaft Griechenlands in der Euro-Zone für Griechenland eine Verantwortung, weil Griechenland Mitglied der Europäischen Union ist. Auch wenn ein anderer Schritt gegangen würde, wäre das nicht ohne Konsequenzen und ohne Folgen für uns. ({1}) Ein ganz wichtiger Punkt ist Verlässlichkeit. Ich glaube, wir dürfen feststellen - viele haben das schon festgestellt -, dass sich Griechenland bisher immer auf unsere Solidarität und die der gesamten Euro-Zone verlassen konnte; die beiden Hilfsprogramme für Griechenland und die Anstrengungen der Bundesrepublik Deutschland sind ja dargestellt worden. ({2}) Der Herr Staatssekretär hat es sehr deutlich gemacht: Es gibt momentan keinen Grund, über einen Schuldenschnitt oder sonstige Schritte zu diskutieren, weil wir Griechenland, was die Zinsbedienung und die Tilgung angeht, sehr weit entgegengekommen sind, sodass sich diese Frage im Moment gar nicht stellt. Aber Verlässlichkeit hat natürlich nicht nur eine, sondern zwei Seiten. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Verlässlichkeit bedeutet auch, dass internationale Verträge, die ein Land durch seine legitimen Vertreter geschlossen hat, von deren Nachfolgern eingehalten werden müssen. Ich gehe davon aus, dass Griechenland auch in Zukunft Vertragstreue an den Tag legen wird. Ich glaube, das ist im ureigensten Interesse Griechenlands; denn die Griechen - der Herr Staatssekretär hat das eindrucksvoll dargestellt - haben viel unternommen. Das griechische Volk hat Opfer bringen müssen, hat Einschnitte hinnehmen müssen. Das war ja alles nicht so ganz einfach und nicht so ganz leicht. Insofern wäre es sehr schade, wenn die Erfolge, die erreicht worden sind - von der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit über die Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und die Rückgewinnung der Wirtschaftskraft bis hin zur Haushaltskonsolidierung; dies alles wurde schon dargestellt -, zunichtegemacht würden, wenn dieser hoffnungsvolle Prozess gestört würde. Ich meine, es liegt im beiderseitigen Interesse, in unserem Interesse bzw. dem der EuroZone und im Interesse der griechischen Bürger, dass der eingeschlagene Weg, der richtig ist, weitergeführt wird. Wir werden auch in Zukunft die dafür notwendige Solidarität aufbringen. ({3}) Man sieht ja auch, dass diese schwierigen Reformprozesse, die zunächst als bittere Medizin empfunden werden, durchaus Erfolge zeitigen. Wir haben das bei Irland, Spanien und Portugal gesehen. Warum sollen diese Reformen nicht auch in Griechenland letztlich zu für uns alle nutzbringenden Ergebnissen führen? Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich steht ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone überhaupt nicht zur Debatte. Ein solcher Austritt würde nach meiner Überzeugung die Probleme in Griechenland nur verschärfen. Daran kann es keinen Zweifel geben; ich glaube, ich habe das hinreichend dargelegt. Der Erhalt der vollständigen Euro-Zone scheint in unser aller Interesse zu liegen, im Interesse der gesamten Euro-Zone und im Interesse der gesamten Europäischen Union. Auch daran kann es keinen Zweifel geben. Wir haben heute natürlich eine etwas günstigere Situation als mitten in der Finanzkrise, weil sich die europäischen Institutionen weiterentwickelt haben, weil wir auch hier Reformen durchgeführt haben, weil wir uns gegen Krisen stärker gewappnet haben.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Kalb, es wäre jetzt in unserem Interesse, wenn die Redezeit eingehalten würde.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Der Euro ist das sichtbarste Symbol der europäischen Einigung und ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung des Wohlstands der Menschen in allen beteiligten Staaten. Herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Als Nächster hat das Wort Andrej Hunko, Fraktion Die Linke. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Sarrazin, ja, Griechenland hat eine Zukunft im EuroRaum. Das sagt auch die Linke ganz klar. Aber wir sagen auch ganz klar: ({0}) Griechenland hat keine Zukunft unter dieser TroikaPolitik, die dieses Land in den Abgrund gestürzt hat. ({1}) Ich will daran erinnern, dass wir seit fünf Jahren darüber diskutieren und wir von Anfang an gesagt haben: Diese Programme, die Griechenland aufgezwungen werden, sind unsozial, undemokratisch und ökonomisch kontraproduktiv. ({2}) Ich glaube, dass die Entwicklung der letzten fünf Jahre diese Einschätzung bestätigt hat. Das sind die Gründe, warum wir diese Programme abgelehnt haben. Wir haben sie natürlich auch abgelehnt, weil ein Großteil der sogenannten Hilfsgelder nicht der griechischen Bevölkerung zugutekamen, sondern zu über 80 Prozent in die Finanzmärkte geflossen sind. ({3}) Diese Reformen waren unsozial. Ich will das, auch wenn wir schon viele Beispiele dafür vorgetragen haben, belegen und aus der Welt - Springer-Presse - vom 28. Dezember 2014 zitieren. Dieser Artikel stützt sich auf einen Bericht von über 160 Menschenrechtsorganisationen, der kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurde. Ich zitiere: Es steht mehr als schlecht um sein Land, - Griechenland wie ein aktueller Bericht der FIDH, eines internationalen Dachverbands von 178 Menschenrechtsorganisationen, dokumentiert. ({4}) Die Autoren ziehen eine erschreckende Bilanz der Rettungspolitik der Troika aus Europäischer Zentralbank ({5}), EU-Kommission und IWF. Seit dem Ausbruch der Krise wurden demnach nicht nur Pensionen und Einkommen um teilweise 50 Prozent gekürzt, sondern Millionen Menschen ihrer Existenz beraubt. „Die entsetzlichen Auswirkungen, die die Krise nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Demokratie und die Menschenrechte hatte, können nicht mehr geleugnet werden“, schreiben die FIDH-Autoren. „Wir werden Zeugen eines Übergangs in einen Zustand, bei dem elementare Grundrechte und der Rechtsstaat herausgefordert und abgebaut werden.“ Noch immer seien 28 Prozent der Griechen arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit liege bei 61 Prozent. Seit dem Ausbruch der Krise hätten 180 000 Kleinunternehmen schließen müssen … Laut inoffiziellen Quellen sind 2,5 Millionen Bürger ohne Krankenversicherung. - Bei 10 Millionen Einwohnern. Auch das hat gravierende Folgen: Binnen eines halben Jahres stieg die HIV-Infektionsrate um 52 Prozent, 62 Menschen starben an dem wieder aufgetauchten West-Nil-Virus. Seit dem Ausbruch der Krise hat sich die Selbstmordrate verdoppelt. So weit Die Welt vom 28. Dezember 2014. Das ist der Scherbenhaufen der bisherigen Griechenland-Politik, und das muss neu justiert werden. ({6}) Viele internationale Organisationen und Parlamente haben in der Zwischenzeit diese Troika-Politik kritisiert, die maßgeblich von der deutschen Politik mitgeprägt wurde. Ich erinnere an die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Juni 2012. Auch das Europäische Parlament hat im vergangenen Jahr eine Resolution verabschiedet, in der es zum Beispiel heißt, dass das Mandat der Troika als „unklar, intransparent und einer demokratischen Kontrolle entbehrend wahrgenommen“ werde. ({7}) Weiter heißt es, es stehe außerhalb des europäischen Rechts. Die Kürzungen hätten negative Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik. Herr Dr. Meister, Sie sprechen von einer positiven Entwicklung, von einem Erfolgsweg. Die Wirtschaft in Griechenland ist jedoch um über 25 Prozent eingebrochen. Die sozialen Folgen habe ich eben benannt. Es ist doch blanker Zynismus, wenn man dann von einer positiven Entwicklung und von einem Erfolgsweg spricht. ({8}) Die Wahlen in Griechenland bieten die Chance auf einen Umschwung dieser Politik nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa. Es gibt in Griechenland den Spruch: Anatropi stin Ellada, minima stin Europi. Zu Deutsch: Der Umschwung in Griechenland ist ein Zeichen für Europa. Wenn man sich einmal die Debatte anschaut, die in anderen europäischen Ländern und auf internationaler Ebene geführt wird, zum Beispiel in der New York Times, dann stellt man fest, dass gesagt wird, dass in Europa ein anderer Weg mit Blick auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik notwendig ist. ({9}) Europa steht am Rande einer Rezession und ist schon in eine Deflation hineingeschlittert. Das kann langwierige Folgen und weitere Rezessionen nach sich ziehen. Deshalb muss dringend umgesteuert werden. Der mögliche Wahlsieg von SYRIZA kann ein Auftakt sein und eine politische Diskussion auch in anderen europäischen Ländern befördern. Es ist dringend notwendig, dass wir europaweit umsteuern, weil die bisherige Wirtschafts- und Finanzpolitik die gesamte Euro-Zone in die Krise geführt hat. Vielen Dank. ({10})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Michael Roth.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Zuschauertribüne begrüße ich den neuen griechischen Botschafter, Panos Kalogeropoulos. Herzlich willkommen! Wir freuen uns, dass Sie dieser Debatte beiwohnen. ({0}) Wir alle in Europa haben Griechenland viel zu verdanken. Deutschland und Griechenland sind seit vielen Jahrzehnten enge Freunde und Partner. Griechinnen und Griechen haben in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter zu uns oder flüchteten vor einer furchtbaren Militärdiktatur. Diese Griechinnen und Griechen machen unser Land reicher. Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern mit griechischen Wurzeln verbinden uns mit dem Heimatland der Demokratie. Im Bundestag und in der Regierung gibt es viele, denen die deutsch-griechischen Beziehungen ein ganz besonderes Herzensanliegen sind. Ich selbst habe in dem knappen Jahr meiner Amtszeit als Staatsminister für Europa viele Male Griechenland besucht. Ich weiß, dass es viele Abgeordnete und viele Regierungsvertreter gibt, die intensiven Kontakt zu den Griechen pflegen. Mir wie auch vielen anderen war es immer wichtig, damit ein Zeichen zu setzen: Deutschland steht fest und solidarisch an der Seite Griechenlands, gerade auch in diesen schweren Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die das Land durchlebt. ({1}) Dass Wahlen in unseren EU-Partnerländern Interesse und Aufsehen hervorrufen, belegt doch eines: Ja, es gibt eben doch eine europäische Öffentlichkeit. Der Ausgang von Wahlen in Frankreich, in Slowenien oder auch in Griechenland ist für uns in Deutschland mindestens ebenso bedeutsam wie Wahlen in unseren Bundesländern. Es ist also gut, dass wir unseren Blick auch nach Athen, nach Thessaloniki oder nach Syros richten. Aber es gilt eben auch: Parlamentswahlen und auch vorgezogene Wahlen sind in der EU ein völlig normaler demokratischer Vorgang. ({2}) Daher rate ich uns allen zu ein bisschen mehr Gelassenheit und auch Vertrauen im Vorfeld der Wahlen. Denn am 25. Januar haben die Griechinnen und Griechen das Wort. Wir sollten uns von Deutschland aus nicht in den griechischen Wahlkampf einmischen, auch nicht mit aufgeregten Debatten über Schreckensszenarien. Wir sollten uns auch hier im Deutschen Bundestag davor hüten, bereits im Vorfeld von Wahlen, bevor auch nur ein einziger Stimmzettel in einer Wahlurne liegt, Analysen vorzunehmen. Ganz im Gegenteil: Jetzt sollte für uns im Vordergrund stehen: Wie können wir Griechenland ermutigen, den eingeschlagenen Weg der Reformen entschlossen weiterzugehen? Wie können wir den Menschen etwaige Ängste vor Reformen nehmen? Wir alle wissen, egal wo wir politisch stehen: Es gibt noch sehr viel zu tun. Die griechische Wirtschaft muss wieder flottgemacht werden. Der Staat muss modernisiert werden. Strukturreformen müssen konsequent durchgeführt werden. Dabei Michael Roth ({3}) muss vor allem auch die soziale Balance gewahrt werden. Die Menschen in Griechenland brauchen jetzt Jobs und Perspektiven. Das gilt vor allem für die 1,2 Millionen Menschen ohne Arbeit. Jeder zweite Jugendliche in Griechenland hat keinen Job, hat keine Perspektive. Das ist eine Tragödie, und zwar nicht nur für Griechenland, sondern für uns alle, die wir ein Herz haben. ({4}) Deshalb werden die Europäische Union und Deutschland weiterhin als Partner bereitstehen, um Griechenland tatkräftig zu unterstützen. Der Vorwurf, den ich auch von Ihrer Seite immer wieder höre, stimmt nicht: Es gibt keine reine Austeritätspolitik. Die europäische Agenda legt mittlerweile den Schwerpunkt auf einen Dreiklang aus Haushaltskonsolidierung, Strukturreformen sowie Wachstum und Investitionen für mehr Beschäftigung, übrigens auch auf Drängen des Bundestages und der deutschen Bundesregierung. Schauen wir uns doch die Politik der vergangenen Monate in Europa an: Wir treiben konkrete Initiativen für Wachstum und Beschäftigung und für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts in Griechenland und anderswo in Europa voran. Nun müssen diese Initiativen couragiert und entschlossen umgesetzt werden. Die Bundesregierung ist sich sicher: Die gute Zusammenarbeit wird auch mit der kommenden griechischen Regierung fortgesetzt. Denn wir alle wollen, dass Griechenland Mitglied der Euro-Zone bleibt. Es gibt in dieser Frage keinerlei Kurswechsel. ({5}) Ich finde, der griechischen Regierung und den Bürgerinnen und Bürgern Griechenlands gebühren Respekt, Anerkennung und Dank für all das, was sie bislang geleistet haben. Wir alle wissen: Dies ist teilweise mit schweren Zumutungen verbunden gewesen. Alle, die jetzt von einem Rückzug aus dem Euro oder gar aus der EU fabulieren, die ihr Heil im Nationalstaat alter Prägung, den es so nicht mehr gibt, suchen, sollten wissen: Unsere Antwort heißt immer noch und jetzt erst recht: Ein gemeinsames Europa ist gut für Griechenland, aber eben auch gut für Deutschland. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Jetzt hat das Wort Dr. Gerhard Schick von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum kommt es zu dieser Debatte? Es kommt dazu, weil die Zusammengehörigkeit im Euro-Raum wieder einmal zur Disposition gestellt worden ist. Angefangen hat es mit irgendwelchen Quellen des Spiegel in der Bundesregierung. Dazu hat mein Freund und Kollege Manuel Sarrazin das Nötige gesagt: So etwas darf man nicht so lange laufen lassen, es sei denn, man hat ein Interesse daran. - Ich muss sagen: Ich finde, es war unverantwortlich, das laufen zu lassen. ({0}) Ähnliches gilt aber auch für die Linkspartei und andere, die meinten, man könne die Zusammengehörigkeit in Europa wieder einmal ein bisschen zur Disposition stellen. Ich glaube, wer aus den letzten Jahren der Krise in Europa, vielleicht aber auch aus den letzten Tagen etwas gelernt hat, dem muss doch klar sein: Europa gehört zusammen. Wir werden keine Rückschritte bei der europäischen Integration machen, bloß weil es ökonomisch und sozial derzeit etwas schwierig ist. ({1}) Irgendwann kam die Aussage: Es gibt keinerlei Kurswechsel. - Dabei haben Sie sich zu Recht auf die Frage bezogen, ob Griechenland im Euro-Raum bleiben soll. Hierbei haben Sie unsere volle Unterstützung. Aber es gibt natürlich einen Punkt, an dem ein Kurswechsel schon nötig wäre. ({2}) - Natürlich. - Stellen Sie sich doch einmal vor, die Wirtschaft in Deutschland würde über fünf oder sechs Jahre so zusammenschrumpfen und die Arbeitslosigkeit so dramatisch steigen, wie es in Griechenland der Fall war. Wer in diesem Haus würde es dann wagen, zu sagen: „Wir machen weiter so“? Niemand würde das wagen. ({3}) Deswegen ist es, glaube ich, richtig, zu sagen: Es gibt Veränderungsbedarf. Auch wir sehen ihn, nicht in der Form, dass wir die Hausaufgaben der griechischen Politikerinnen und Politiker machen müssen, sondern weil wir Sorge um unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in Europa haben. ({4}) Das gilt erstens im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung und die sozialen Härten. Wenn so viele junge Menschen perspektivlos sind, dann ist das keine gute Sache für Europa. Wir wollen, dass die Menschen, die in den nächsten Jahren in Europa leben, Europa mit Zukunftsperspektive und neuem Aufbruch verbinden und nicht mit der Perspektivlosigkeit, die viele Menschen in Griechenland heute empfinden müssen. Ich finde, das sollte auch unsere heutige Debatte prägen. ({5}) Neben der Gesundheits- und Sozialpolitik gilt das zweitens in Bezug auf die Frage: War es denn richtig, so einseitig auf eine schnelle Schuldensenkung zu setzen? Man muss sagen: Das hat ja wohl nicht geklappt. ({6}) Der Schuldenstand Griechenlands ist heute deutlich höher, als er damals war. Der Versuch, dieses Problem mit einer Radikalkur zu lösen, hat nicht geklappt. Deswegen muss man da ein Stück weit anders agieren. Sie, Herr Staatssekretär, haben gerade gesagt, die griechische Wirtschaft wachse in der Euro-Zone insgesamt am stärksten. Aber das können Sie doch wohl nicht sagen, ohne hinzuzufügen, dass die Euro-Zone insgesamt in einer desaströsen wirtschaftlichen Lage ist, dass wir dringend mehr Investitionen brauchen und dass die Situation überhaupt nicht zufriedenstellend ist. Ich bitte Sie, da endlich nachzulegen. ({7}) Drittens gilt es, sich genau mit der Frage eines Schuldenschnitts zu beschäftigen. Klar ist doch: Aktuell ist der Schuldenstand Griechenlands nicht das zentrale Problem, weil das Land mit einem Zinsdienst von 1,8 Prozent der Wirtschaftsleistung im Moment nur geringe Zinsen auf seine Staatsschulden zahlt; nach anfänglichen Fehlern wurden die Schulden ja inzwischen für längere Zeit gestundet. Ein Schuldenschnitt bringt also keine unmittelbare Entlastung; das ist richtig. Aber wer kann sich denn vorstellen, dass ein solcher Schuldenstand wirklich abgetragen werden kann? ({8}) Das ist eine große Hypothek für die Zukunft. Deswegen ist die Forderung, die wir seit längerem erheben und die viele Ökonomen unterstützen, richtig: Wir brauchen einen Weg der Entschuldung, der natürlich wieder an bestimmte Konditionen und Vereinbarungen geknüpft ist. Genau das ist unser Vorschlag. ({9}) Dieser Vorschlag ist in der längeren Perspektive zwar richtig, schafft aber kurzfristig keine Entlastung. Wir können aber nicht einfach zusehen; denn die soziale und wirtschaftliche Lage bleibt weiter schwierig. Da braucht es Antworten, und zwar nicht nur die, dass die griechische Regierung da irgendwas einfordert. Wir müssen - auch aus unserem Interesse an einer funktionierenden Entwicklung in Griechenland - schauen, dass wir Investitionen stärken und dass die Schwächsten in der griechischen Gesellschaft Unterstützung bekommen; das ist uns allen wichtig wegen der Zukunft Europas. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Antje Tillmann, CDU/CSU, das Wort. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im letzten Jahr haben wir den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs begangen, der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jährte sich zum 75. Mal. Gott sei Dank haben wir seitdem keine solchen Jahrestage mehr! Europa ist für mich nicht nur eine Union in Finanzangelegenheiten, sondern vor allem eine Friedens- und Werteunion. Europa ist mir persönlich sehr viel mehr wert als ein Hilfspaket. Diese Werteunion bedeutet aber, dass man vertrauensvoll zusammenarbeitet und Regeln, die man sich gegeben hat, einhält ({0}) und dass man versucht, eine Politik zu machen, die nicht zulasten der europäischen Partner geht. Wer Fehler in seiner Landespolitik macht, sollte diese Fehler auch selbst ausbügeln müssen. Trotzdem gibt es Situationen, wo wir füreinander einstehen müssen und Hilfen erforderlich sind. ({1}) Genau so ist es gewesen. Es ist auch keineswegs so, dass Griechenland das einzige Land gewesen wäre, das Fehler gemacht hat. Ich erinnere nur an 2005, wo wir die rote Laterne in Europa getragen haben, wo wir dazu beigetragen haben, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen. Das war nicht zuletzt der Beginn einer Staatsschuldenkrise in Europa; es gab also auch Fehler, die wir gemacht haben. ({2}) Seitdem haben wir alle gemeinsam versucht, Europa finanzpolitisch sicherer zu machen. Griechenland hat uns aufgerüttelt. Wir haben teilweise - nicht nur wegen der Banken- und Staatsschuldenkrise, auch wegen Griechenland - finanzpolitisch den Atem angehalten. Das war aber auch positiv: Es hat dazu geführt, dass wir Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, bei denen wir nicht geglaubt hätten, dass das in dieser Geschwindigkeit geht. Ich nenne den Fiskalvertrag, bei dem innerhalb von anderthalb Jahren fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Schuldenbremse in ihren Verfassungen ratifiziert haben. ({3}) Deutschland hat sich verpflichtet, seinen Schuldenstand bis 2022 auf unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren. Und schon geht es wieder los: Sollen die Verträge eingehalten werden? Die erste Null im Haushalt führt dazu, dass viele Seiten sagen: Na, so ernst war das nicht gemeint. - Da sind wir gefragt, die Verträge, die wir unterschrieben haben, einzuhalten. ({4}) Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder fitgemacht, wir haben das 3-Prozent-Defizitkriterium konkretisiert. Doch auch da geht es schon wieder los: Es wird jetzt interpretiert und ausgelegt, es sollen zusätzliche Maßnahmen in die 3 Prozent eingerechnet werden dürfen. Auch da besteht die Gefahr, dass Verträge, die gerade erst vereinbart wurden in der Europäischen Union, schon wieder nicht eingehalten werden. Gut, dass wir den ESM eingeführt haben aufgrund der Situation in Griechenland. Wie hätte es ausgesehen, wenn ein größeres Land uns dazu gezwungen hätte, einen solchen Mechanismus einzurichten! Wie gut, dass wir an dieser Stelle anhand eines kleineren Landes Ergebnisse und Gefahren diskutieren konnten! Innerhalb kürzester Zeit haben wir eine Bankenunion samt Aufsicht und Bankenabwicklung vereinbart. Hätten wir diese Bankenunion schon vor der GriechenlandKrise gehabt, dann hätte ein großer Teil der griechischen Probleme da abgeladen werden können, wo er hingehört: bei den Anteilseignern, bei denjenigen, die aus Krisen mit Gewinn hervorgehen. Wir haben erstmalig ein Bail-in eingeführt: Anteilseigner müssen sich nun in Krisensituationen an der Rettung von Instituten beteiligen. Das hätte auch Griechenland schon geholfen. Auch hier tun wir gut daran, darauf Wert zu legen, dass diese Vereinbarungen eingehalten werden. Griechenland hat sich auf den Weg gemacht, die Vereinbarungen, die es eingegangen ist, einzuhalten. Ja, das ist ein langer und schmerzhafter Weg - ich weiß, dass wir den Menschen in Griechenland viel abverlangen mit diesen Maßnahmen -; aber Griechenland hat sich auf den Weg gemacht, und die ersten zarten Pflänzchen des Erfolgs kann man sehen: Das Wachstum liegt bei 3 Prozent, und bei der Unterschreitung des Maastricht-Kriteriums von 3 Prozent Defizit steht Griechenland besser da als manch anderes Land, das heute auch in der Diskussion ist. Diesen Weg sollten wir weitergehen. Wenn wir bei all diesen Verträgen jedes Mal, wenn irgendwo Wahlkampf ist, eine Diskussion im Deutschen Bundestag führen würden, dann könnten wir uns Verhandlungen ganz sparen. Deshalb gibt es aus meiner Sicht auch überhaupt keinen Grund, das heute zu thematisieren. Auch vonseiten Griechenlands gibt es aktuell nicht den Wunsch, die Verträge zu ändern. Sie sind abgeschlossen und werden hoffentlich bis Ende Februar auch eingehalten. Nach der Wahl wird man gucken, wie es dann weitergeht. Selbstverständlich kann man zu jeder Zeit über neue Situationen sprechen. Ich tue das am liebsten dann, wenn ich glaube, dass bei allen Anstrengungen in manchen Bereichen noch Luft nach oben ist. Das ist beim Kampf gegen die Steuerhinterziehung, ({5}) bei der Privatisierung und bei der Verschlankung der Verwaltungen der Fall. Je besser sich Griechenland hier aufstellt, umso besser können wir reagieren und an der einen oder anderen Stelle nachjustieren. Ich glaube aber, im Moment tun wir alle gut daran, unsere Zusagen einzuhalten - wir in Deutschland und auch Italien und Frankreich mit ihren Haushalten, aber auch Griechenland. Wir sollten das tun, damit diese Wertegemeinschaft bestehen bleibt. Europa ist wertvoll - für Deutschland und für Griechenland. ({6}) Ich hoffe, dass wir dieses wertvolle Europa nicht durch Finanzprobleme gefährden. Das sollten wir nicht tun. Wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Auf diesen Weg haben wir uns alle gemeinsam gemacht. ({7})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Ewald Schurer, SPD. ({0})

Ewald Schurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! In meinem Bewusstsein und, ich denke, auch im Bewusstsein des Parlaments hier ist und bleibt Griechenland selbstverständlich inmitten des politischen Europas und der Währungsunion. Das ist vom Vertrag her so angelegt. Nach gewissen Irritationen ist und bleibt Griechenland integrativer Bestandteil dieser Europäischen Währungsunion. Griechenland gehört in meinem Bewusstsein genauso zu Europa wie jedes der 16 Bundesländer zu Deutschland. Das ist Ausdruck des föderativen europäischen Bewusstseins und für mich eine zentrale Aussage, die von den Kolleginnen und Kollegen in der Debatte hier bisher weitgehend bestätigt wird. Bei den Wahlen am 25. Januar 2015 werden die griechischen Bürgerinnen und Bürger von Thessaloniki im Norden über Athen bis zur griechischen Inselwelt und nicht der Deutsche Bundestag entscheiden. Die Wahl wird ein politisches Datum markieren, und mit deren Ergebnis werden wir vernünftig umgehen müssen. Das werden wir - so zeigt es diese Debatte - auch tun. Der Bundestag entscheidet diese Wahlen keinesfalls. Die offene und qualitativ gute Diskussion ist aber eine Botschaft, die auch in der Öffentlichkeit in Griechenland ankommt, ohne hier im engeren Sinne irgendwie wahlbeeinflussend wirken zu wollen. Es ist eine Tatsache, dass Griechenland in diesem schwierigen Prozess der letzten fünf bis sechs Jahre fast ein Drittel an Wertschöpfung, an wirtschaftlicher Tätigkeit und an Arbeitsplätzen verloren hat. Um die Kritik der Opposition aufzunehmen: Das ist sicherlich suboptimal gelaufen. Wir müssen uns der jetzigen gesellschaftlichen Realität in Griechenland zuwenden. Es kann jetzt mit Blick auf den europäischen Geist nur darum gehen, dass sich jedwede Regierung - es wird eine Koalition geben -, die nach dem 25. Januar 2015 antritt, sehr schnell der gesell7538 schaftspolitischen und ökonomischen Realität zuwenden wird. Ich bin davon überzeugt, dass das gelingen wird. Ich habe im Internet gelesen, dass der Spitzenkandidat von SYRIZA gesagt hat, dass er die Haushaltskonsolidierung im Falle eines Wahlsieges weiterhin uneingeschränkt fortsetzen wird. Er unterstützt das, was wir Sozialdemokraten und die Union, aber auch die Grünen gesagt haben. Wir wollen alles tun, damit es in Griechenland wieder Investitionen in Wertschöpfung gibt. Konsolidierung und Wertschöpfung: Das muss für die griechische Regierung und für die EU als Partner Griechenlands die große Formel sein. Ich bin davon überzeugt, dass Griechenland nach den erschütternden Absenkungsprozessen künftig zum Beispiel auch wieder eine soziale Infrastruktur braucht. Natürlich brauchen die Menschen in Griechenland möglichst bald auch wieder einen Zugang zum Gesundheitssystem. Die Menschen dort brauchen eine Gesundheitskarte - wie in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern -; das ist unbestritten. Dahin muss es beim ökonomischen und sozialen Wiederaufbau des Landes gehen. Das ist die Ziellinie, zumindest von uns Sozialdemokraten. Ich habe hier in der bisherigen Diskussion dazu sehr viel Zustimmung wahrgenommen. Griechenland braucht den Ausbau der gesamten technischen und logistischen Infrastruktur für eine bessere Wertschöpfung, ({0}) weil es am Ende darum geht, künftig die Schulden des Landes, unabhängig von der technischen Linie, zu bedienen. Es braucht wieder einen gestärkten Wertschöpfungsprozess - der Herr Staatssekretär Meister hat ihn ganz am Anfang angesprochen -, weil er die Voraussetzung für neue Arbeit, höhere Leistungen und damit das Zurückzahlen der Schulden am Ende des Tages als mittelfristige und langfristige Perspektive ist. Nur so geht es. Dieses Ziel muss Griechenland in der Zukunft verfolgen. Darüber gibt es trotz verschiedener Interpretationen vielleicht einen Minimalkonsens heute in dieser doch guten Debatte des Deutschen Bundestages. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Ende der Debatte, aber auch meines Beitrages sei noch einmal gesagt: Das europäische Bewusstsein hat neben den ökonomischen und sozialen Tatbeständen auch eine psychologische Komponente. Die Solidarität mit Griechenland in der jetzigen Phase ist von allen Rednerinnen und Rednern in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht worden. Die Botschaft, die von dieser heutigen Aktuellen Stunde Richtung Griechenland ausgeht, ist ganz klar: Die Bundesregierung, die Koalition, teilweise auch die Oppositionsparteien, wollen die positive Entwicklung Griechenlands, egal wie die Wahlen ausgehen. In diesem Sinne glaube ich, dass wir diese Entwicklung mit Optimismus und mit Tatkraft unterstützen werden. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jürgen Hardt von der CDU/CSU das Wort. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen fünf Jahren, seit wir uns hier mit dem Thema Euro-Rettung beschäftigen, sind drei von vier Parteien hier im Hause mit diesem Thema, wie ich finde, sehr verantwortungsvoll umgegangen. ({0}) - Ich meine die in diesem Hause vertretenen Parteien. Wir haben damals vor einer schwierigen Entscheidung gestanden. Im Grunde standen wir vor einer Weggabelung mit drei ganz unterschiedlichen Wegen. Der erste Weg wäre gewesen: Deutschland und die anderen Staaten zahlen alles. Das wäre nicht nur den Steuerzahlern in diesen Ländern schwer vermittelbar gewesen, sondern das hätte auch mit Blick auf die Ursachen der Krise keine Probleme gelöst. Das hätte uns vielleicht einen kleinen zeitlichen Aufschub verschafft, aber das Problem wäre umso schwerer auf uns zurückgefallen. Der zweite Weg wäre gewesen: Wir kapitulieren vor der Situation und nehmen in Kauf, dass der Euro-Raum diffundiert und zusammenbricht. Was das für die europäische Wirtschaft, insbesondere für die deutsche Wirtschaft - Exportnation Nummer eins -, für Folgen gehabt hätte, sehen wir heute bei einem Blick auf die Schweizer Börse. Dort kann man sehen, wohin es führt, wenn der Kurs einer Währung kurzfristig nach oben schnellt und mit welchen Schwierigkeiten die Wirtschaft dann zu kämpfen hat. Das wäre auch aus deutscher Sicht keine Lösung gewesen. Der dritte Weg war der komplizierte, anstrengende und langwierige, aber, wie wir heute sehen, letztlich erfolgreiche Weg. Wir haben gesagt: Wir wollen diesen Ländern, die Hilfe brauchen, solidarisch zur Seite stehen. Wir wollen ihnen helfen. Wir wollen ihnen aber auch abverlangen, dass sie die notwendigen Reformen durchführen. Insofern war die Meldung, die herumgeisterte, es gäbe in der Politik der Bundesregierung gegenüber Griechenland einen Kurswechsel, eine selbstgebratene Zeitungsente. Wir haben stets all unsere Hilfsprogramme, unabhängig davon, an welches Land sie gerichtet waren, mit den Ländern gemeinsam ausgestaltet und gesagt: Hier sind die Hilfen, auf die ihr euch verlassen könnt. Dort sind die notwendigen Anpassungsmaßnahmen, die ihr vornehmen müsst. In dieser ganzen Diskussion, gerade in diesen Tagen, hat der Musikant der Linken - so möchte ich ihn heute einmal bezeichnen - mit seiner Büttenrede - das sage ich im Hinblick auf seine kämpferische Rede ({1}) eine reine Wahlkampfveranstaltung abgehalten. An Ihre Adresse sage ich ganz konkret: Wir dürfen Ursache und Wirkung nicht miteinander verwechseln. Die Situation in Griechenland ist für ganz viele Menschen bitter: für junge Menschen, Rentner, Menschen, die auf soziale Unterstützung angewiesen sind, die einen Arbeitsplatz suchen und ihren vorherigen vielleicht verloren haben, weil das bisherige Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig ist. All das ist bitter, aber die Ursache dafür liegt natürlich in einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik griechischer Vorgängerregierungen. ({2}) Es gibt dann die Behauptung, dass die sogenannte Austeritätspolitik der falsche Weg sei, um wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. ({3}) Ich sage Ihnen ganz konkret: Die Staaten in der Europäischen Union, angefangen bei Deutschland, die die solidesten Staatsfinanzen haben, haben auch beim Arbeitsmarkt, bei der Wirtschaftsentwicklung und bei Investitionen und Wachstum die besten Zahlen. ({4}) Von daher ist diese These allein durch die reale Betrachtung der Europäischen Union, wie sie sich heute darstellt, zu widerlegen. ({5}) Dass in einem europäischen Land gemäß der Verfassung demokratische Wahlen durchgeführt werden, ist nichts, was uns oder die Finanzmärkte in irgendeiner Weise erschrecken müsste. Es müsste uns vielmehr erschrecken, wenn keine Wahlen stattfinden würden. Denn es ist in europäischen Staaten üblich, dass sie als Demokratien regelmäßig Wahlen durchführen. Ich glaube, dass die Regierung der Griechen, die nach der Wahl zustande kommt, auch nichts an den fundamentalen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit ändern kann. Diese bestehen darin, dass wir auf einem Weg der langsamen und schweren Konsolidierung der Staatsfinanzen sind. Ich glaube deshalb, dass es unabhängig von der Frage, wer dieses Land zukünftig regieren wird, mit Griechenland in der Euro-Zone weitergehen wird. Ich glaube, dass das im Interesse der gesamten Euro-Zone, aber auch im Interesse Griechenlands ist. Die Belastungen Griechenlands durch die Staatsschulden, die überwiegend aus den Programmen finanziert werden, sind verglichen mit dem, was man auf dem Kapitalmarkt an Zinsen zahlen müsste, relativ niedrig. Insofern ist das Verbleiben in dem System auch im griechischen Interesse. Es ist allein haushalterisch von großem Vorteil. Die Hilfsprogramme, die die Europäische Union anbietet, sind ebenfalls einzigartig. Auf sich allein gestellt könnte ein Staat so etwas nie erreichen. Insofern habe ich keine Sorge, dass die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands bei ihrer Wahlentscheidung im Hinterkopf haben, was sie geleistet und an Opfern gebracht haben, und dass sie sich darüber im Klaren sind, dass sie die Chance haben, die Früchte dieser Opfer und dieser Leistungen einzufahren, wenn sie auf dem Kurs bleiben, den wir gemeinsam mit ihnen eingeschlagen haben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte hat Norbert Barthle für die CDU/CSU das Wort. ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende einer solchen Aktuellen Stunde muss man sich die Frage stellen: Cui bono? Wem nutzt es eigentlich? Ich glaube, genutzt hat es Griechenland. Wir konnten heute die Gelegenheit ergreifen, vor dem Deutschen Bundestag nochmals klarzustellen, dass wir die Zukunft Griechenlands im Euro-Raum sehen. Es ist Aufgabe dieses Parlaments, das entsprechend zum Ausdruck zu bringen. Lieber Kollege Manuel Sarrazin, du bist doch derjenige, der immer sagt: Das ist nicht Angelegenheit der Regierung, sondern des Parlaments. - Die Regierung muss also nicht auf jeden durch eine Zeitungsmeldung entstehenden Medienhype reagieren, sondern wir tun das und stellen klar, wie die Sachlage ist: Unsere Einstellung zu Griechenland hat sich in keiner Weise verändert. ({0}) Die Situation hat sich verändert. Das ist richtig. Wir haben Brandmauern errichtet. Wir haben den ESM und die Bankenunion. Wir haben Portugal, Irland und Spanien gesichert. Insofern gibt es nicht mehr die Ansteckungsgefahren, die es seinerzeit gab. Aber unsere Position ist dieselbe geblieben. Wem hat das nichts genutzt? Ich bin überzeugt, den Linken. ({1}) Und warum? Herr Kollege Dehm, die Art und Weise, wie Sie den griechischen Wahlkampf ins deutsche Parlament gezogen haben, finde ich etwas beschämend. Sie haben ein Bild von Griechenland gezeichnet, das ich mir nicht zu eigen mache. Sie haben die Namen Samaras, Venizelos und Papandreou genannt. Sie haben von politischer Inzucht und Korruption geredet, ({2}) und dann haben Sie eine Person und eine Partei angesprochen, nämlich Tsipras und die SYRIZA, und das seien die Guten. ({3}) Dieses Bild von Griechenland habe ich nicht, Herr Dehm. Deshalb mache ich mir das, was Sie darstellen, nicht zu eigen. Ich finde das beschämend. ({4}) Eines muss man auch Herrn Tsipras vorwerfen, Herr Dehm. Er erklärt nicht nur seinem Volk, sondern der gesamten Öffentlichkeit, dass Griechenland vor allem von der Schuldenlast, die ihm die europäischen Geldgeber auferlegt haben, erdrückt werde. Er spricht sogar von „Fiscal Waterboarding“. Das ist meines Wissens eine ziemlich üble Methode, jemanden zu quälen. ({5}) - Ich mache keinen Wahlkampf, sondern ich stelle Dinge richtig. ({6}) Sie sollten sich einmal mit der Sachlage auseinandersetzen. Es gab ein erstes Griechenland-Programm. Das waren bilaterale Kredite. Kredite aus dem ersten GriechenlandProgramm muss Griechenland in den Jahren 2020 bis 2040 tilgen, und Griechenland bezahlt keine Zinsen für diese Kredite. Es zahlt über Jahre keine Tilgung und keine Zinsen. Es gab ein zweites Griechenland-Programm im Rahmen der EFSF. Die Kredite aus diesem Programm muss Griechenland von 2023 bis 2057 tilgen. Es muss keine Zinsen zahlen. Griechenland muss also derzeit weder tilgen noch Zinsen zahlen. Wo herrscht dort bitte „Fiscal Waterboarding“? ({7}) Die einzigen Kredite, die Griechenland derzeit bedient, sind die des IWF. Ich habe kein Problem damit, dass Griechenland mit dem IWF über eine Streckung dieser Kredite verhandelt. Wer aber die europäischen Geldgeber ins Benehmen setzt und behauptet, sie seien schuld an den in Griechenland bestehenden Schuldenproblemen, zeichnet ein falsches Bild. Damit komme ich zu den Grünen. Sie haben sich die Forderung nach einem Schuldenschnitt zu eigen gemacht. Das werde ich im Leben nicht verstehen. ({8}) Denn jede Diskussion über einen Schuldenschnitt untergräbt das letzte Vertrauen privater Geldgeber; öffentliche Geldgeber lassen wir einmal außen vor. ({9}) Sie haben offenbar nicht verstanden, worum es geht. Ziel unserer europäischen Rettungsschirme ist nicht, einem Land seine Schulden abzunehmen, ({10}) sondern Ziel ist es, das betreffende Land in die Lage zu versetzen, sich zu erträglichen Zinsen auf dem Kapitalmarkt wieder selbst zu versorgen, also auf eigenen Füßen zu stehen. Das ist unser Ziel. ({11}) Der ESM ist kein Schuldentilgungsfonds, sondern ein Rettungsfonds. Das haben Sie offensichtlich noch nicht begriffen. Ziel muss es sein, dass sich Griechenland möglichst schnell wieder selbst Kredite zu erträglichen Zinsen - wie schon einmal geschehen - auf dem Kapitalmarkt beschaffen kann; ({12}) darauf sind unsere Bemühungen gerichtet. Darin unterstützen wir das Land mit all unseren Kräften. ({13}) Zum Ende der Debatte weise ich noch auf Folgendes hin: Herr Gabriel hat die europäischen Geldgeber davor gewarnt, sich erpressen zu lassen. Auch das ist richtig. Solidarität? - Ja, aber wir verstehen unter Solidarität etwas anderes als die Linken. Wir sind nicht nur mit Linken solidarisch, sondern mit allen. Aber Solidarität setzt auch Solidität voraus, also Hilfe gegen Selbsthilfe. Dabei bleibt es. Ich bin zuversichtlich, dass Griechenland eine gute Zukunft hat. Ich wünsche diesem Land alles Gute. Danke. ({14})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte Drucksache 18/3561

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Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache teilnehmen wollen, sich zu setzen, damit wir die Debatte beginnen können. Als erster Redner in der Debatte hat der Herr Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort. ({1})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle erinnern uns noch sehr gut: Kaum vier Monate ist es her, als wir hier im Hohen Haus mit großem Ernst über unsere Verantwortung im Kampf gegen ISIS debattiert haben. Mit Entsetzen in der Stimme sind Sie in Ihren Redebeiträgen der Blutspur gefolgt, die ISIS bei seinem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch im Irak hinterlassen hat. Vor vier Monaten hatten die terroristischen Horden schon ein Drittel des Landes unter ihre blutige Herrschaft gebracht. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der gesamte Irak in ihre Hände fallen würde. Auf dem Weg dorthin wurde alles niedergebrannt und niedergemetzelt, was sich ihnen in den Weg stellte. Systematisch wurden Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, die männlichen Bewohner ermordet, Frauen vergewaltigt und auf neu errichteten Sklavenmärkten verkauft oder zur Befriedigung der ISIS-Kämpfer während der Kampfpausen - ein unvorstellbares Martyrium - nach Syrien geschickt. Gerade vier Monate ist es her, als uns der Hilfeschrei der Menschen aus Sindschar erreichte. Tag für Tag tiefer drang der barbarische Feldzug des ISIS in die Berglandschaft des Nordirak vor. Tal für Tal, Dorf für Dorf fiel in die Hände von ISIS. Tausende waren tot. Der Rest war schutzlos. Die irakische Armee war nicht präsent oder kämpfte nicht. Die kurdischen Peschmerga waren kaum imstande, sich gegen gut ausgerüstete ISIS-Truppen zur Wehr zu setzen. Den Menschen im Sindschar, vornehmlich Jesiden, denen, die noch lebten, blieb nichts als die Flucht, eine gefahrvolle Flucht, auf der viele noch Opfer des ISIS wurden oder auf bergigen Pfaden bei sengender Hitze und ohne Wasser verdurstet sind. Diejenigen, die sich mit letzter Kraft retten konnten, haben überlebt, weil es einen Zufluchtsort im kurdischen Arbil gab, in Flüchtlingslagern, in Kirchen oder bei Verwandten. Dass dieser Zufluchtsort erhalten geblieben ist, dass die Region Nordirak-Kurdistan nicht in die Hände des ISIS gefallen ist, dass der Vormarsch des ISIS gerade hier zum Halten gebracht worden ist, das ist zuallererst das Verdienst der Peschmerga. Es ist deren Mut und Bereitschaft zu verdanken, sich den ISIS-Horden auch mit unzureichender Ausrüstung entgegenzustellen. ({0}) Aber dass wir aus Deutschland heraus einen Beitrag dazu leisten konnten, darüber bin ich froh. ({1}) Ich bin froh, dass wir Verantwortung in Kenntnis aller Risiken und inmitten von Unwägbarkeiten übernommen haben. Den Dank dafür höre ich nicht nur in Arbil, sondern auch in Bagdad. Aber ich sage das nicht, weil wir einen Anlass zum Schulterklopfen oder zur Selbstzufriedenheit hätten; denn nichts ist erledigt. Humanitär ist nichts erledigt, weil Zehntausende Flüchtlinge in überforderten Lagern sind und mit dem Nötigsten versorgt werden müssen. Sie müssen gerade jetzt im Winter vor dem Erfrieren geschützt werden. Wir sind Gott sei Dank ganz vorne dabei mit humanitärer Hilfe. 100 Millionen Euro haben wir bereitgestellt. Aber wir sind weiter gefordert. Ich darf sagen: Auch dank der Haushaltsentscheidung dieses Parlaments werden wir weiterhelfen können. Dafür meinen herzlichen Dank. ({2}) Auch politisch ist nichts erledigt. Der politische Neuanfang unter Ministerpräsident al-Abadi war gut. Sein Schritt auf diejenigen zu, die in der irakischen Politik ausgegrenzt waren, war richtig. Die Einigung mit dem Nordirak über die Verteilung der Öleinnahmen war notwendig. Aber all das reicht nicht. Die Unterstützung vieler sunnitischer Stämme für ISIS wird nur enden, wenn Sunniten sichtbare Präsenz in Staat und Armee eingeräumt wird. Nur so wird ISIS der Boden für seine verbrecherische Politik entzogen. Genau darum muss es im Kern im Irak jetzt gehen. Aber auch militärisch ist nichts erledigt. Die Peschmerga - das wissen Sie - sind keine Offensivarmee. Sie werden kaum in der Lage sein, großflächige Geländegewinne zu erreichen. Worauf es jetzt ankommt, ist - das scheint manchem wenig zu sein -, zu sichern, was im Augenblick gehalten wird. Dazu haben wir beigetragen. Ich will sagen: Das ist zentral für Arbil, für die Menschen in der Region und auch für die Sicherheit der Flüchtlinge; denn auch humanitäre Hilfe wird nur ankommen, wenn wir die nicht von ISIS besetzten Teile des Nordiraks als Zone von Ruhe und Sicherheit bewahren. Um dies zu gewährleisten, haben uns sowohl Bagdad als auch Arbil um weitere Unterstützung gebeten, weil gerade auch in den Kämpfen der letzten Monate nicht nur Ausrüstungs-, sondern auch Ausbildungsmängel deutlich geworden sind. Ich verspreche: Wir werden nichts an unserer humanitären Verpflichtung oder an der politischen Verantwortung bei der Suche nach Lösungen vernachlässigen, aber ich plädiere sehr dafür, dass wir uns der erbetenen Ausbildungsunterstützung der Iraker nicht verweigern. Die Bundesregierung hat entschieden, der Bitte zu folgen und mit maximal 100 Soldatinnen und Soldaten und im Verbund mit anderen Europäern Ausbildungshilfe in der Region Kurdistan-Irak zu leisten, nicht mehr und nicht weniger. Es geht nicht um einen Kampfeinsatz, es geht nicht um Partneringmodelle à la Afghanistan, es geht strikt um bedarfsorientierte Ausbildung und Beratung von der Schwerstverwundetenversorgung über Minenräumung bis zum Umgang mit Sprengfallen. Wir kooperieren mit internationalen, vornehmlich europäischen Partnern, aber alles bleibt in der Gesamtverantwortung der kurdischen Behörden. Ich finde, das ist verantwortbar, dazu sollten wir bereit sein, und deshalb bitte ich um Ihre Unterstützung. ({3}) Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: In der öffentlichen Diskussion ist gelegentlich die Frage aufgeworfen worden, ob es für diesen Einsatz überhaupt eines Mandates des Deutschen Bundestages bedarf. Es mag Gründe für die damit verbundene Rechtsauffassung geben. Wir haben uns dennoch für diesen Weg und für einen Antrag auf ein Bundestagsmandat entschieden. Sie wissen, einer Ermächtigung nach Kapitel VII der UN-Charta bedarf es für das entschiedene Ausbildungsund Beratungsengagement im Nordirak nicht. Bagdad und Arbil haben erstens eindeutig und schriftlich genau um dieses Engagement gebeten. Zweitens hat der Sicherheitsrat festgestellt, dass ISIS eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellt. Beschlossen wurde nicht nur eine Resolution, zum Schutze der Staaten Maßnahmen zu treffen, durch die der Zufluss von Foreign Fighters in die Konfliktregion gestoppt und ebenso die Financiers der radikalislamistischen Gruppierungen verfolgt werden; aufgefordert hat der Sicherheitsrat vielmehr auch die internationale Gemeinschaft, darüber hinaus den Irak in seinem Kampf gegen ISIS zu unterstützen. Dieser Aufforderung kommen wir im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten nach. Damit ist den völkerrechtlichen wie den grundgesetzlichen Voraussetzungen Genüge getan. Ich bitte um die Unterstützung dieses Hauses. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin spricht Christine Buchholz, Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spiegel Online meldet gerade, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages die Verfassungsmäßigkeit dieses Einsatzes in Zweifel zieht. Die Linke teilt diese Einschätzung und fordert die Regierung auf, sich dazu zu positionieren. ({0}) Wir sind nicht der Meinung, dass die Schwelle für Auslandseinsätze der Bundeswehr weiter herabgesetzt werden soll. ({1}) Aber lassen Sie mich inhaltlich gegen dieses Mandat argumentieren. Im Jahr 2001 haben die USA und ihre Verbündeten ihren sogenannten Krieg gegen den Terror begonnen. Afghanistan und Irak wurden angegriffen und besetzt. Das hat den Terror offenkundig nicht gestoppt. Schaut man sich die Gräueltaten des IS und die Ausbreitung von terroristischen Organisationen in Ländern wie Jemen, Syrien, Irak an ({2}) und schaut man sich die terroristischen Aktivitäten in Europa an, wie die schrecklichen Anschläge in Paris, dann muss man feststellen: Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sagen: Es ist auch der von den USA und ihren Verbündeten geführte Krieg gegen den Terror, es sind die Drohnenangriffe auf Hochzeitsgesellschaften, es sind die nächtlichen Razzien in Dörfern, es ist Abu Ghureib, was Hass geschürt und einen fruchtbaren Boden für die Ausweitung des Dschihadismus geschaffen hat. ({3}) Ohne den Angriff auf den Irak im Jahre 2003, ohne die folgende Invasion des Landes durch die US-geführte Koalition der Willigen, die Hunderttausende Menschen das Leben kostete und die religiöse Spaltung vertiefte, würde es den sogenannten Islamischen Staat, diese unheilige Allianz aus Dschihadisten und Anhängern des früheren Diktators Saddam Hussein, gar nicht geben. ({4}) Die vergangenen Bundesregierungen haben den sogenannten Krieg gegen den Terror mal direkt, mal indirekt unterstützt. Auch im Irak ist Deutschland schon längst Teil der Koalition der Willigen. ({5}) Die Linke hält diese Ausrichtung im Grundsatz für falsch. ({6}) Bei dem Bundeswehreinsatz, der heute erstmals im Plenum diskutiert wird, geht es nicht nur um die Ausbildung von Kämpfern in Irakisch-Kurdistan; vielmehr soll der geplante Einsatz auch das Regime in Bagdad unterstützen. Dieses Regime kann sich nur mithilfe von radikalschiitischen Milizen halten, die, so Amnesty International, völlig straflos Verbrechen an sunnitischen Gefangenen und Zivilisten begehen. ({7}) Der Innenminister in Bagdad selbst ist Führer einer dieser Milizen. ({8}) Dort, wo die schiitischen Milizen Orte erobern, gibt es sogenannte ethnische Säuberungen, zum Beispiel in Dschurf al-Sachar, wo im Oktober 80 000 Sunniten vor den Milizen flohen. Im Dezember haben Offiziere der irakischen Armee das sunnitisch besiedelte Ackerbaugebiet um Bagdad zur „Killing Zone“ erklärt, in der jeder Mensch getötet werde. Ich sage: Die Bundeswehr darf nicht zum Bündnispartner eines solchen Regimes werden. ({9}) Denn es bringt genau die Bedingungen hervor, die zur sektiererischen Spaltung des Landes und zum Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates geführt haben. ({10}) - Nun regen Sie sich nicht auf. Sie haben ja genug Redezeit in diesem Saal. Der Luftkrieg der Koalition der Willigen geht unterdessen weiter. Diese Bomben treffen immer wieder auch Zivilisten. Obgleich es darüber Belege gibt, wird hier im Bundestag nicht einmal die Frage nach zivilen Opfern gestellt. Ich sage Ihnen: Der Tod von Frauen, Kindern und Männern schafft neuen Hass und stärkt genau jene, die Sie zu bekämpfen vorgeben. ({11}) Schauen wir uns das Mandat genau an: Die Bundeswehr soll also nicht nur die kurdischen Peschmerga, sondern auch irakische Streitkräfte ausbilden. Die Bundeswehr entsendet Offiziere auch in die Stäbe der irakischen Streitkräfte und in die Stäbe der Kriegskoalition in Kuwait. Die einzusetzenden Fähigkeiten reichen von Beratung, Ausbildung und Führung bis hin zur Lagebilderstellung durch das militärische Nachrichtenwesen. Schrittweise treibt die Bundesregierung Deutschland immer tiefer in einen Krieg hinein, dessen Ende unabsehbar ist, und das macht die Linke nicht mit. ({12}) Das Elend der zum Teil schwer traumatisierten Flüchtlinge im Nordirak ist kaum zu ertragen. Wir sagen: Ja, es muss mehr humanitäre Hilfe im Norden geleistet werden, um die katastrophale Situation der Flüchtlinge zu verbessern. Auch muss das absurde PKKVerbot endlich aufgehoben werden, um den kurdischen Widerstand zu stärken. ({13}) Doch all das wird zunichtegemacht, wenn die Bundesregierung gleichzeitig weiter Öl ins Feuer gießt und im Bündnis mit US-Luftwaffe und radikal-schiitischen Milizen sunnitische Bevölkerungsteile in die Hände des IS treibt. Verlassen Sie den Weg von Krieg und Waffenlieferungen! Stellen Sie den Frieden und den Kampf gegen Armut und Ausgrenzung im Irak ins Zentrum Ihrer Bemühungen! Ändern Sie Ihre Politik! Denn dann können Sie tatsächlich von sich behaupten, die Ursachen des internationalen Terrorismus zu bekämpfen; mit diesem Mandat allerdings nicht. ({14})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen das Wort. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir waren mit einer Delegation vor fünf Tagen in Bagdad und Arbil. An diesem Tag haben 4 Millionen Menschen in Frankreich und viele Hunderttausende in Deutschland eindrucksvoll und unmissverständlich gezeigt, dass die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen und Monate uns alle angehen. Es geht dabei nicht allein um den Kampf gegen den Terror - darum geht es auch -, sondern auch um die Werte, die angegriffen worden sind: ({0}) die Achtung vor dem Leben anderer, das Recht, die eigene Religion frei und friedlich zu leben, die Freiheit der Meinung und des Wortes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist diese Überzeugung, die uns eint - von den Straßen von Paris bis tief in die Flüchtlingslager in Arbil hinein. ({1}) Die Franzosen haben es auf den Punkt gebracht. Sie haben gesagt: Je suis Charlie. Je suis flic. Je suis juif. „Ich bin Charlie“, das lässt sich fortsetzen: Ich bin Jeside. Ich bin Kurde. Ich bin Christ. Ich bin Moslem. In Frankreich hat der Terror 17 Menschen das Leben gekostet, und wir trauern um jeden einzelnen. In Syrien und im Irak hat ISIS Millionen Menschen brutalster Verfolgung ausgesetzt, sie zu Flüchtlingen gemacht, Zigtausende niedergemetzelt; die meisten davon übrigens muslimischen Glaubens. Daher ist es gut, dass unter den über 60 Staaten, die sich zusammengetan haben, um ISIS zu stoppen, neben vielen westlichen Ländern vor allem auch arabische Staaten die Initiative ergriffen haben. Ich habe am Montag die Gelegenheit gehabt, mit dem jordanischen König zu sprechen. Er hat mir versichert, dass die arabischen Staaten es als ihre eigene Pflicht ansehen, den Terror zu stoppen, der den Irak an den Rand des Abgrunds gebracht hat, aber inzwischen auch die Menschen überall auf der Welt bedroht. Er sagte es ungefähr so: Das ist unser Kampf, den wir führen wollen. Wir wollen ihn gewinnen, aber wir brauchen eure Hilfe. Meine Damen und Herren, diese Hilfe wollen wir ihnen geben. ({2}) Ebenso haben es die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung zum Ausdruck gebracht. Sie wollen sich ISIS entgegenstellen, sie wollen an der Einheit des Iraks und an der Teilhabe aller arbeiten, aber sie brauchen dafür Unterstützung. Daher ist es auch gut, dass Deutschland sich ebenfalls nach seinen Möglichkeiten einbringt: politisch - darauf ist Frank-Walter Steinmeier eingegangen -, mit Hilfe für die Flüchtlinge - ich verweise auf Gerd Müller als Bundesminister für Zusammenarbeit -, aber nicht zuletzt auch mit Hilfe für diejenigen, die sich ISIS militärisch entgegenstellen. Im Norden des Iraks sind das die Kurden, die seit Monaten ISIS abwehren und den Flüchtlingen Schutz geben. Wir konzentrieren uns mit unserer Hilfe auf die Region Kurdistan-Irak. Mir war aber auch wichtig, in Bagdad deutlich zu machen, dass diese Unterstützung dem Gesamtirak gilt. Das wird verstanden. Und Staatspräsident Masum hat sich dafür auch ausdrücklich bedankt. Meine Damen und Herren, unsere bisherige Unterstützung war wirksam. Kommandeure der Peschmerga haben uns eindrucksvoll geschildert, wie wichtig zum Beispiel der Einsatz der MILAN-Rakete ist. Zuvor standen sie ISIS machtlos gegenüber. Sie mussten ohnmächtig mitansehen, wie von ISIS mit Sprengmaterial gefüllte Autos oder Lastwagen in die Peschmerga-Stellungen hineingelenkt wurden, quasi fahrende Bomben mit verheerender Wirkung. Mithilfe der MILAN waren die Peschmerga in der Lage, etliche solcher Selbstmordkommandos zu stoppen, das heißt, den Feind auch auf Distanz zu halten. Das hat nicht nur viele Menschenleben gerettet, sondern das hat auch den Mut und die Zuversicht der Peschmerga gehoben, ISIS tatsächlich standhalten zu können. Das, meine Damen und Herren, ist in unserem Sinne; denn diese Peschmerga stehen nicht nur für ihr Land ein. Sie stehen auch für uns alle gegen ISIS ein. ({3}) Wir wollen daher auf diesen Erfahrungen aufbauen. Wir wollen unsere Hilfe verstetigen. Präsident Barsani hat uns gegenüber noch einmal sehr deutlich gemacht, dass die Kurden beides brauchen: Ausrüstung und Ausbildung. Die Peschmerga sind gut organisiert; sie sind entschlossen, standzuhalten - aber es fehlt an vielem. Das beginnt bei wintertauglichen Stiefeln, geht über die eben erwähnte MILAN weiter, endet aber nicht zuletzt auch bei Sanitätsmaterial. Sie haben uns geschildert, wie viele Peschmerga, wenn sie an der Front verletzt werden, sterben, die nicht sterben müssten, weil basales Verbandsmaterial fehlt und banale Techniken wie beispielsweise das Abbinden bei einem Durchschuss nicht beherrscht werden. Es fehlt Material, es fehlt Wissen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten genau hinhören, was gebraucht wird, und prüfen, ob und wie wir helfen können. Wir wollen mit diesem Mandat ein Ausbildungszentrum in Arbil aufbauen, das unter der Leitung der Kurden steht, aber dessen Ausbildungsbereich wir koordinieren. Das geschieht gemeinsam mit anderen europäischen Partnern und in Abstimmung mit der Allianz. Dabei richten wir uns ausdrücklich nach dem Ausbildungsbedarf, den die Peschmerga anzeigen. Das beginnt bei der Grundausbildung, geht über Minenabwehr bis hin zur eben erwähnten medizinischen Versorgung. Bis zu 100 Soldaten wollen wir einbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die dort an vorderster Front kämpfen, brauchen unsere Hilfe. Diese Hilfe muss und wird nicht nur aus Deutschland kommen. Wir können aber einen spürbaren, einen substanziellen und einen nachhaltigen Beitrag leisten. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle in diesem Haus teilen die Überzeugung, dass die Terrororganisation ISIS bekämpft werden muss. Um es klar zu sagen: Meine Fraktion hält auch die militärische Ausbildung von kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern für einen sinnvollen Beitrag dazu. Das hat ja auch bisher schon stattgefunden, allerdings nicht vor Ort im Irak, sondern hier in Deutschland. Das war gut so. Jetzt hat die Bundesregierung entschieden, doch einen Ausbildungseinsatz vor Ort im Irak durchzuführen. Wir gehen ganz offen in die Prüfung dieses Mandates. Wir halten seine Absicht durchaus für sinnvoll, und wir stehen zu dem Grundsatz: Im Zweifel muss es ein Mandat geben. Es muss dann aber auch inhaltlich die rechtlichen Voraussetzungen für einen Einsatz der Bundeswehr im Ausland erfüllen. ({0}) Ich sehe nicht - und ich sage ganz bewusst: leider nicht -, dass Ihnen das mit diesem Mandat gelungen ist. Ich teile Ihre Position, dass die völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein solches Mandat gegeben sind. Es gibt die Aufforderung der irakischen Regierung an die UN-Mitgliedstaaten, ihr Unterstützung im Kampf gegen ISIS zu leisten. Es gibt eine Einladung durch die irakische Zentralregierung und durch die kurdische RegionalDr. Frithjof Schmidt regierung an die deutsche Regierung. Das ist völkerrechtlich ausreichend. Aber ein Mandat, das Sie nach Artikel 24 des Grundgesetzes beantragen, muss zusätzlich die Bedingung erfüllen, dass der Auslandseinsatz im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfindet. Das ist bisher - und ich sage wieder: leider - offenkundig nicht der Fall. Es gibt kein UN-Mandat, und es bleibt ein politischer Fehler, dass Sie sich nicht energisch dafür einsetzen. ({1}) Jetzt versuchen Sie, das Fehlen eines Mandates durch zwei Elemente rechtlich einfach zu ersetzen. Sie beziehen sich auf die vage formulierte Resolution 2170 des Sicherheitsrates vom August 2014, in der ganz allgemein zur Unterstützung des Iraks beim Kampf gegen die Terroristen aufgerufen wird, und Sie beziehen sich auf eine Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrates vom September 2014, die noch allgemeiner formuliert ist und außerdem von ihrem Status her völkerrechtlich nicht bindend ist. Damit können Sie das Fehlen eines UNMandates wirklich nicht ersetzen. Das reicht nicht. Das ist nicht verfassungskonform. ({2}) Herr Außenminister, ich verstehe in diesem Zusammenhang nicht, warum die Bundesregierung nicht wenigstens einen Beschluss der Europäischen Union herbeigeführt hat, der die Mitgliedstaaten zu Ausbildungsmissionen im Irak auffordert. Das könnte das Fehlen eines UN-Mandates heilen. Deshalb frage ich die Bundesregierung ausdrücklich: Weshalb haben Sie das bisher nicht getan? Warum setzen Sie stattdessen auf diese abenteuerliche Interpretationsakrobatik von UNTexten? Ich verstehe das nicht. Auch der gute Zweck heiligt nicht das Aushöhlen der politischen Vorgaben durch unsere Verfassung. Das darf nicht sein. ({3}) Ich habe noch eine andere politische Kritik an Ihrem Mandatstext. Sie vermengen bei der Formulierung der Aufgaben die Ausbildungsmission mit einem Blankoscheck für Waffenlieferungen in den Nordirak, und zwar für den Zeitraum eines ganzen Jahres. Gerade gestern erreichten uns die Nachrichten, dass die Bundeswehr nicht weiß, an welche Einheiten und wohin genau die bisher gelieferten Waffen in Kurdistan gehen. Die Bundesregierung erklärt dazu dann einfach, dass ihr keine Erkenntnisse vorliegen, dass gegen die Endverbleibserklärung verstoßen wird. Wer auf dieses Problem nur mit Sokrates - „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ - antwortet, der hat das Problem der Proliferation nicht einmal ansatzweise verstanden. ({4}) Sie müssen diesen Blankoscheck für Waffenlieferungen aus diesem Mandat wieder streichen. Ich kann meiner Fraktion - und ich sage: leider - bisher nicht empfehlen, einem so formulierten Mandat zuzustimmen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Bevor ich das Wort an den nächsten Redner übergebe, hat Dr. Neu das Wort zu einer Kurzintervention.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann in dieser Frage dem Kollegen Schmidt durchaus zustimmen. Wenn man sich die rechtliche Begründung anschaut, dann erkennt man, dass hier ein Kuddelmuddel rechtlicher Hilfskonstrukte herangezogen wurde, das darüber hinwegtäuschen soll, dass es keine explizite Resolution des Sicherheitsrates gibt, die die militärischen Möglichkeiten eröffnet. Das heißt, Sie bauen hier etwas Halbseidenes auf und sagen dann: Wir können das schon machen. Der Punkt ist: Sie bemühen Artikel 24 des Grundgesetzes. Womit eigentlich? Es gibt kein Sicherheitskollektiv in Form eines Ad-hoc-Systems. Es ist die UNO, gegebenenfalls die NATO, wenn es nach dem Urteil von 1994 geht. Aber darauf können Sie sich nicht beziehen. Sie können sich auch nicht auf die derzeitige Gemeinschaft als loser Verbund beziehen, weil auch das nicht zulässig ist. Ich bin froh, dass - ich habe gehört, dass auch noch andere den Wissenschaftlichen Dienst bemüht haben - der Wissenschaftliche Dienst meine Position in dieser Frage so bestätigt hat. Es gibt allerdings einen Wermutstropfen. Der Bezug auf Artikel 87 a als erweiterter Verteidigungsbegriff zieht auch nicht; denn das würde Artikel 24 GG überflüssig machen. Artikel 24 hindert Artikel 87 a daran, ausgedehnt zu werden. Wenn die SPD der Auffassung ist - intern natürlich -, dass das eine Grauzone ist, und die Linke ein bisschen anstachelt, sie möge doch klagen, so kann ich nur sagen: Wir werden Ihnen die Kastanien nicht aus dem Feuer holen. Sie haben die Mehrheit. Machen Sie doch eine Reform des Grundgesetzes. Ändern Sie den Artikel. Dann können Sie handeln wie Sie wollen. Das, was Sie gerade abliefern, ist desaströs. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat Rainer Arnold von der SPD das Wort. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In vielen Teilen der Erde leiden die Menschen unter dem Terror der selbsternannten Gotteskrieger. Dass dieses Problem längst auch in Europa angekommen ist, haben wir alle in der letzten Woche auf erschreckende Art und Weise erfahren müssen. Der Irak ist Teil des Problems, und trotzdem ist im Irak einiges anders. Es geht dort nicht um punktuelle terroristische Attacken; dort sind Mörderbanden unterwegs, die ihre Kämpfer aus der halben Welt zusammenholen, um dort ein Kalifat, also ein religiös verbrämtes, brutales, menschenverachtendes und totalitäres Staatssystem zu errichten. Diese Schwierigkeiten werden von der engen Wechselbeziehung zwischen den Problemen in Syrien und im Irak und vom Problem des inneren Zerfalls des Iraks überlagert. Es ist wohl wahr: Der Irak wurde in den letzten Jahren nicht gut regiert. Nur: Können wir den Menschen, die jetzt unter dem Terror leiden, sagen: Wir lassen euch deshalb im Stich, weil ihr eine fürchterlich schlechte Regierung hattet? - Was ist das für eine zynische Herangehensweise, die die Linke hier mal wieder vorgeführt hat? ({0}) Wir waren vor einigen Tagen im Irak. Der Besuch in Arbil und Bagdad hat deutlich gemacht: Alle, die dort Verantwortung tragen, haben endlich verstanden, dass sie unglaublich voneinander abhängen, dass sie dieses Land nur zusammenhalten und stabilisieren können, wenn sie gut zusammenarbeiten. Dies ist ein Fortschritt. Die Probleme in Syrien und im Irak kann man in der Tat nicht militärisch, sondern nur politisch regeln. Aber mit dem IS gibt es keine politische Lösung. Dieser Konflikt wird am Ende militärisch entschieden. Da frage ich schon: Können wir zuschauen, wenn der IS Millionen Menschen in die Flucht treibt, wenn der IS Hunderttausende ermordet und vertreibt? - Ich glaube, nicht. Wir haben traditionell eine besondere Verbindung zu den Kurden im Norden Iraks; auch in der deutschen Zivilgesellschaft gibt es viele gute, gewachsene Verbindungen. Deshalb glaube ich schon, dass wir Deutsche gerade für die Kurden in dem Gebiet eine besondere Verantwortung tragen; das gilt natürlich auch für Christen, Jesiden und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften. Es ist gut, dass die Bundesregierung schnell und in einem guten Umfang humanitäre Hilfe auf den Weg gebracht hat; das ist und bleibt ein Schwerpunkt des deutschen Engagements insbesondere im Norden Iraks. Die Entwicklung in den letzten Monaten zeigt den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland auch, dass Peter Struck bereits vor Jahren recht hatte, als er sagte: „Unsere Sicherheit wird … auch am Hindukusch verteidigt …“ Ich sage: Die deutsche Sicherheit wird auch im Irak verteidigt. ({1}) Es ist nun einmal so, dass zerfallende Staaten oder Staaten, die Rückzugsraum für Terroristen sind, Ausbildungs- und Trainingszentren für Menschen akzeptieren, die auch unser Leben und unsere Sicherheit bedrohen. ({2}) Eines ist auch klar: Wenn der IS im Irak obsiegen würde, dann würde diese fürchterliche, fundamentalistische, terroristische Idee gerade in den verwirrten Köpfen derer, die bei uns auf der Verliererstraße sind, gewaltbereit sind und eine Affinität zur Gewalt haben, eine neue und stärkere Strahlkraft gewinnen. Deshalb ist es perspektivisch so wichtig, dass der IS dort nicht auf die Siegerstraße gelangt. Wenn das alles so ist und wir uns auch einig darüber sind, dass wir selbst dort nicht eingreifen wollen - ich meine, wir sollten dort auch nicht eingreifen -, dann müssen wir diejenigen, die das an unserer Stelle tun und auch für unsere Interessen sterben, am Ende so starkmachen, dass sie diesen Gegner zunächst einmal stoppen - dies ist gelungen - und ihn perspektivisch und mittelfristig tatsächlich zurückdrängen können. Wir tun das gemeinsam mit 60 anderen Partnern. Es ist richtig und wichtig, dass die arabische Welt zunehmend erkennt: Es ist zuallererst ihr Problem, und sie muss zuallererst mehr leisten. In diesem Bereich ist aber alles auf einem guten Weg. Deutschland stellt verantwortungsvoll Ausbildung und Ausstattung bereit. Es gibt eine innere Logik: Wer ausbildet, der muss auch dafür sorgen, dass die Soldaten der Peschmerga neben ihren erlernten Fähigkeiten auch das notwendige Gerät haben, um sich dem Terror entgegenzustellen. Wenn es um große Waffensysteme geht, wird es schwierige Debatten geben; die sollten wir sorgsam führen. Wir sollten keine schnellen Entscheidungen treffen. Es gibt aber auch Dinge, die schnell gehen können. Die Frau Ministerin hat die dramatischen Berichte angeführt - wir haben es gehört -, dass Menschen sterben, nur weil Verbandsmaterial fehlt. Daher mein Appell an die Regierung: Helfen Sie schnell und unbürokratisch! Liefern Sie Kleidung und Verbandsmaterial! Unsere Unterstützung dafür haben Sie. Wenn wir gemeinsam mit dem einen Drittel der Länder der Vereinten Nationen, die sich an der Anti-ISAllianz beteiligen - Deutschland leistet keinen besonders großen, aber einen angemessenen Beitrag -, unsere Verantwortung im Interesse der Menschen im Irak und im Interesse unserer Stabilität in den nächsten Monaten wahrnehmen, dann wird es uns kurzfristig gelingen - da bin ich zuversichtlich -, den Terror zu stoppen; das haben wir bei unserem Besuch gesehen und gehört. Mittelfristig wird es auch gelingen, den Terror des IS aus dem Irak zu verdrängen. Damit mich am Ende niemand falsch versteht: Ich meine damit nicht, dass er von der Bildfläche verschwindet. Er wird uns möglicherweise noch viele Jahre an anderer Stelle, in anderen Zusammenhängen beschäftigen. Deutschland sollte seinen Interessen und seiner Verantwortung gerecht werden. Deshalb stimmen wir diesem Mandat zu. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner spricht Philipp Mißfelder von der CDU/CSU. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich der Bundesregierung meinen Dank aussprechen für den ganzheitlichen Ansatz, den sie bezüglich der Ausrichtung dieses Mandats gewählt hat. Es fügt sich in eine lange Reihe von wichtigen Entscheidungen ein, die wir bezüglich Kurdistan/Nordirak getroffen haben. Die mit Abstand schwierigste Entscheidung - neben der Entscheidung, die wir heute treffen - war sicherlich die im September, was ja mit Sondersitzungen sowohl der Ausschüsse als auch des gesamten Plenums verbunden war. Die Verteidigungsministerin hat damals zu Recht von einem Tabubruch gesprochen; denn wir haben Waffen in ein Spannungsgebiet geliefert, was wir sonst - mit Ausnahme unseres Verbündeten Israel - nicht machen. Ich finde, diese Ausnahme von der Regel ist genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt. Die Entwicklung gibt uns im Nachhinein recht. Es ist schon angesprochen worden: Die Kurden haben viele Garantien und Versprechen gegeben, und sie haben diese Versprechen auch gehalten. Ich möchte daher zunächst einmal die kurdischen Streitkräfte dazu beglückwünschen, dass sie so erfolgreich gegen den IS vorgegangen sind. Aus einer nahezu hoffnungslosen Situation heraus haben sie das Blatt gewendet. Es gilt, sie dabei zu unterstützen, dass sie nicht erneut in eine hoffnungslose Situation geraten. Deshalb: Mein herzlicher Glückwunsch und alles Gute für die Streitkräfte im Norden des Irak! Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ wird allerdings nicht nur durch militärische Mittel zu gewinnen sein, sondern vor allem dadurch, dass man nicht nur den Norden des Irak, sondern den Irak insgesamt stabilisiert. Insofern ist der ganzheitliche Ansatz - vernetzte Sicherheit, entwicklungspolitische Maßnahmen, aber auch diplomatische Gespräche - genau der richtige Weg. Unser Engagement wird weiterhin von der Hoffnung getragen, dass der Irak nicht auseinanderfällt. Allerdings ist die Situation nach wie vor sehr fragil. Man darf nicht unterschätzen, dass es Kräfte im Irak gibt, die dieses Land jederzeit auseinanderbrechen lassen könnten. Deshalb muss man gewappnet sein. Die Ertüchtigung unserer Partner ist deshalb ein zentrales Vorhaben. Es ist richtig, Barzani und Talabani im Norden bei den anstehenden Reformen zu unterstützen. Ich bin dafür, dass wir neben der Ausbildungsmission auch einen politischen Beitrag dazu leisten, eine wirkliche Militärreform oder Wehrreform im Norden durchzusetzen. Natürlich ist das Engagement der Peschmerga zu begrüßen. Aber die enge Bindung an einzelne Stämme ist im Norden des Irak langfristig sicherlich eine Herausforderung. Ich nenne als Beispiel die Jesiden. Vielen hier im Bundestag ist die Situation der Kurden keineswegs gleichgültig. Frau Buchholz, ich teile das, was Sie gesagt haben, in 99 Prozent der Fälle nicht, aber ich unterstelle Ihnen, dass Sie ein ehrliches Interesse an der Region haben. Es kommt darauf an, zu entscheiden, welchen politischen Beitrag wir leisten können, um die verschiedenen kurdischen Kräfte miteinander zu versöhnen. Deshalb halte ich eine Wehrreform bzw. eine Militärreform für zentral; denn dadurch verfügen nicht nur einzelne Stämme über Einheiten, sondern es findet eine Demokratisierung statt, was zu einem besseren politischen System im Norden führt. Dafür können wir einen zentralen Beitrag leisten. Dabei setze ich meine Hoffnungen auch in die aktuelle Regierung im Norden Kurdistans im Irak, die wir brauchen, um dort erfolgreich zu sein. Wir müssen die humanitäre Hilfe verstärken. Dort, wo es möglich ist, müssen wir die Zusammenarbeit in der Entwicklungspartnerschaft so weit vorantreiben, dass die Region nicht in der Flüchtlingsschwemme untergeht. Das ist eine riesengroße Herausforderung, nicht nur für die Türkei, sondern insbesondere auch für Kurdistan. Was dort passiert, stellt uns vor eine Aufgabe, die uns sicherlich noch eine lange Zeit beschäftigen wird. Die Flüchtlinge sind nicht gekommen, um im Nordirak zu bleiben, aber die Prognose, dass sie dort längere Zeit bleiben müssen, ist eindeutig. Deshalb glaube ich, dass man auch darüber reden muss, wie man mit dieser Masse von Menschen umgeht. Die Stadt Arbil - das haben ja viele von uns, die diese Region besucht haben, selber gesehen - ist überhaupt nicht darauf vorbereitet. Es darf nicht passieren, dass, nachdem wir die militärische Katastrophe abgewendet haben, durch eine humanitäre Katastrophe das Geschäft von ISIS übernommen wird. Insofern ist unser Engagement gleichrangig wichtig, und wir müssen es an dieser Stelle auch forcieren. Ich danke in diesem Zusammenhang dem BMZ, dass es so engagiert Projekte vorantreibt. Wir sollten das BMZ dabei unterstützen, dies noch zu verstärken, wo es möglich ist. Ich glaube auch, dass es der richtige Weg ist, sowohl die kurdischen Streitkräfte als auch die Ausbildungsmission der internationalen Allianz, die einen größeren Ansatz und den Gesamtirak im Blick hat und nicht auf Kurdistan begrenzt ist, zu unterstützen. Das gibt uns vielleicht die Gelegenheit, die irakischen Streitkräfte insgesamt zu stärken. Das wäre notwendig, um überhaupt wieder politischen Spielraum zu schaffen. Deshalb blicke ich optimistisch auf dieses Mandat. Trotzdem bleibt uns die Herausforderung erhalten. Deshalb ist dieses Engagement auch sinnvoll. Ich bitte um Ihr Vertrauen für dieses Mandat. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner spricht Florian Hahn, ebenfalls von der CDU/CSU. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich noch gut erinnern, als in der letzten Sommerpause die Diskussion um mögliche Hilfeleistungen für die Kurden im Nordirak vor dem heranrückenden bzw. heranstürmenden ISIS begann. Wir standen damals vor drei Alternativen: erstens nichts zu tun und zuzusehen, wie ganze Volksgruppen bestialisch ausgerottet zu werden drohten, zweitens selbst in den Konflikt militärisch und mit „boots on the ground“ einzugreifen oder drittens diejenigen zu unterstützen, die sich in der Region dem IS entgegenstellen. Wir haben uns nach reiflicher Überlegung und Diskussion neben der humanitären Hilfe für die dritte Variante entschieden. Es war richtig, den Kurden im Nordirak Waffen, Munition und Ausrüstung zu liefern. Die Peschmerga konnten in den letzten Monaten den weiteren Vormarsch des ISIS aufhalten. Der Einsatz der von uns gelieferten Mittel war dabei entscheidend. Das haben die Kurden kürzlich bei den Gesprächen in Arbil mit unserer Ministerin, an denen ich mit Kollegen teilnehmen konnte, sehr eindrucksvoll deutlich gemacht. Endlich haben die Kurden etwas in der Hand, um dem heranstürmenden Daesh etwas entgegenzusetzen. So konnte beispielsweise am Tag unseres Besuchs in Arbil ein Selbstmordanschlag verhindert werden. Ein Lkw, beladen mit Sprengstoff, von einem Selbstmordattentäter gesteuert, konnte durch den Einsatz der MILAN-Rakete noch vor den Reihen der Peschmerga bekämpft und ausgeschaltet werden. Auch konnte ein gelieferter Dingo bereits Leben retten. Bei dem Beschuss desselben, der zur völligen Zerstörung des Fahrzeugs führte, konnten die kurdischen Insassen so gut wie unverletzt aussteigen. Aber nicht nur die bessere Bewaffnung hat zu einer gestiegenen Verteidigungsfähigkeit der Peschmerga geführt, sondern auch die damit verbundene Steigerung der Moral, des Selbstbewusstseins; denn endlich konnte der Mythos der Unbesiegbarkeit des IS gebrochen werden. Trotzdem ist die Gefahr durch den IS noch lange nicht gebannt. Nach den Anschlägen in Paris ist uns noch klarer, dass die Kurden im Irak den IS für ihre eigene Sicherheit und Freiheit, aber auch für uns alle bekämpfen. Zu Recht hat der UN-Sicherheitsrat festgestellt, dass vom IS eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ausgeht und dass alle Staaten aufgefordert sind, den Irak im Kampf gegen den IS zu unterstützen. Schon 60 Nationen, nicht nur aus dem Westen, haben sich dieser Allianz gegen den IS angeschlossen. Gemeinsam muss verhindert werden, dass es zu einer Ausweitung des Schreckenskalifats kommt, zur Unterjochung einer ganzen Region, zum Abschlachten aller Menschen mit abweichenden religiösen Auffassungen. Die Unterstützung der Menschen vor Ort hilft letztlich auch uns. Deshalb halte ich einen Ausbildungseinsatz insbesondere zusammen mit niederländischen und italienischen Partnern grundsätzlich für politisch richtig und wichtig. Die Kurden haben uns erzählt, dass die etwa 800 gefallenen Kämpfer der Peschmerga hauptsächlich deshalb ums Leben kamen, weil sie insgesamt nur ungenügende Kenntnisse über das richtige Verhalten im modernen Gefecht, über den Umgang mit Minen und die notwendige Erstversorgung nach Verwundung haben. Die Ausbildung in diesen Bereichen ist daher richtig, dringend geboten und wird Leben retten. Es handelt sich also um keinen Kampfeinsatz, sondern um eine Ausbildungsmission mit einer Mandatsobergrenze von 100 deutschen Soldatinnen und Soldaten. Unsere Soldaten sollen bei ihrer Ausbildung durch kurdische Kräfte geschützt werden. Offen gesagt, habe ich ein wenig Sorge, ob das ausreichend ist. Schließlich sind wir dort, weil die Peschmerga eben nicht gut ausgebildet sind. Ich hätte mir deshalb eine höhere Mandatsobergrenze gewünscht. Schließlich haben wir bei anderen Ausbildungsmissionen, wie in Mali, deutlich mehr Soldaten im Einsatz. Wir sollten daher auf die Sicherheit unserer Soldaten ganz besonders achten, sie zusammen mit den internationalen Partnern sicherstellen und möglicherweise bedarfsgerecht nachsteuern. Zur Endverbleibsklausel möchte ich Folgendes sagen: Wir sollten uns ganz genau überlegen, ob wir den Kurden unterstellen, dass sie denen Waffen verkaufen, die sie gerade um ihrer eigenen und unserer Sicherheit willen bekämpfen. Angesichts der militärischen Situation im Nordirak sollten wir nicht vergessen, dass im kurdischen Gebiet, das eine eigene Bevölkerung von etwa 5 Millionen Menschen hat, inzwischen 1,6 Millionen Flüchtlinge angekommen sind, die von den Kurden verantwortungsvoll versorgt werden. Das ist eine unglaubliche Herausforderung für diese Region, bei der wir bereits Unterstützung leisten und auch weiterhin Unterstützung leisten müssen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3561 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({0}) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksache 18/3698

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Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Achim Post von der SPD das Wort. ({1})

Achim Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004378, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über die Verlängerung des Mandats Active Fence in der Türkei. Beginnen müssen wir mit der dramatischen Lage in Syrien. Seit fast vier Jahren leidet die syrische Bevölkerung nun schon unter dem Bürgerkrieg. Das ist eine humanitäre Katastrophe, die einem das Herz zerreißt: 200 000 Menschen wurden bislang getötet. 1,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer mussten fliehen. Zehnmal so viele Flüchtlinge wie zu Beginn des Mandats vor zwei Jahren sind mittlerweile in der Türkei. Das ist eine große Aufgabe für die Türkei, die bewundernswert gemeistert wird. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen auch sagen: So klar die Türkei Assad bekämpft, so zweifelhaft ist ihre Haltung zum ISIS. ({0}) All dies verlangt geradezu nach einer Debatte und letztlich nach einer Entscheidung im Deutschen Bundestag. Deshalb diskutieren wir heute über die Fortschreibung des laufenden Bundestagsmandats. Sie wissen, dass das Bundeskabinett eine Verlängerung des Mandats bis zum 31. Januar 2016 beschlossen hat. Damit sollen auch weiterhin zwei deutsche Patriot-Abwehrsysteme an der Grenze zu Syrien stationiert werden. Warum ist aus unserer Sicht, aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion, eine Verlängerung notwendig? Mit diesem Mandat verfolgen wir unser aller Ziel: eine Befriedung und politische Lösung des Konflikts. Lassen Sie mich drei Punkte nennen. Erstens. Die Türkei braucht Solidarität. Die Lage für die Türkei hat sich deutlich erschwert. Jeden Tag kommen mehr Flüchtlinge. Gerade durch den Konflikt in Syrien ist unser NATO-Partner eines der am stärksten belasteten Länder der Region. Zweitens. Die Türkei braucht Sicherheit. Die Türkei verfügt über kein eigenes Raketenabwehrsystem. Die ballistischen Raketen des syrischen Regimes könnten große Teile des türkischen Territoriums erreichen. Auch das Restrisiko syrischer Chemiewaffen kann nicht völlig ausgeschlossen werden. Diese schwierige Lage kann die Türkei nicht alleine bewältigen. Sie ist deshalb auf Unterstützung angewiesen, auch auf unsere Unterstützung, meine Damen und Herren. ({1}) Als Mittel militärischer Abschreckung soll das Mandat auch weiterhin verhindern, dass sich der syrische Konflikt auf die Türkei ausweitet. Dies leisten mit großem Einsatz bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, denen der Dank des Deutschen Bundestags gebührt. ({2}) Dabei bleibt klar: Die Obergrenze von 400 Soldatinnen und Soldaten wird nicht überschritten. Der Einsatz trägt nicht zur Unterstützung einer Flugverbotszone bei. Unsere Beteiligung ist und bleibt ausschließlich eine Maßnahme der Verteidigung. Deshalb gilt nach wie vor Punkt drei: Die Türkei braucht Verlässlichkeit. Insbesondere Deutschland als strategischer Partner der Türkei sollte diese Verlässlichkeit zeigen. Zusammengefasst. Die SPD-Fraktion unterstützt eine Verlängerung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Mission Active Fence. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt, dass Deutschland damit zum Schutz der Bevölkerung in der Türkei, der einheimischen Bevölkerung und der Flüchtlinge, beiträgt. All diese Menschen haben Solidarität, haben Sicherheit und haben Verlässlichkeit verdient. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächste Rednerin spricht Sevim Dağdelen von den Linken. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leider ist Bundesaußenminister Steinmeier bei dieser wichtigen Debatte nicht zugegen. ({0}) - Ich habe „leider“ gesagt. Ich habe gar nicht hinterfragt, ob das berechtigt oder nicht berechtigt ist. Man muss zunächst einmal konstatieren, dass die Bundesregierung mit dieser Einsatzverlängerung für die Bundeswehr die deutsche Öffentlichkeit schlicht hinters Licht führt. Zunächst einmal stimmen die Begründungen in keinster Weise. Sie sagen, Sie kämen Erdogan gegen die syrische Bedrohung zur Hilfe. Dazu wurden im Wesentlichen drei Vorfälle als Grundlage für diesen Einsatz angeführt, bei denen Syrien türkische Souveränität verletzt haben soll. Da ist zunächst einmal der Abschuss eines türkischen Militärflugzeugs durch die Syrer. Das Erdogan-Regime sagte, der Abschuss ist über internationalem Luftraum erfolgt. Aber der NATO-Bericht äußert große Zweifel an der Version der Türkei. Darüber hat Monitor noch im vergangenen Jahr berichtet. All diese Berichte scheinen Sie schlicht nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Zweitens führten Sie das Attentat in der Stadt Reyhanli an. Bis heute gibt es keine Feststellung, dass Täter die Syrer sind. Es gibt im Gegenteil jedoch zahlreiche Berichte, die in die Richtung des türkischen Geheimdienstes weisen. Auch die dritte Begründung für diesen Einsatz, der Granatenbeschuss von türkischem Territorium durch die syrische Armee, ist sehr zweifelhaft angesichts dessen, dass dieser Beschuss offensichtlich aus den von den Rebellen kontrollierten Gebieten kam. Trotz dieser fragwürdigen Begründungen durch die Türkei für diesen Einsatz bezeichnen Sie die Türkei als einen vertrauensvollen Partner, der Solidarität und Zuverlässigkeit verdient und dem es mit der fortgesetzten Stationierung der Patriots unter die Arme zu greifen gilt. Sie gehen sogar so weit, Erdogan Besonnenheit gegenüber Syrien zu attestieren. Doch ich frage Sie von der Regierung: Verhält sich der NATO-Partner Türkei gegenüber den Menschen in Syrien tatsächlich besonnen? Im letzten Jahr griffen islamistische Terroristen das armenische Dorf Kassab im Norden Syriens von der Türkei aus an und zerstörten dort die christlichen Kirchen und verwüsteten das ganze Dorf. Kassab ist vom türkischen Territorium fast komplett umschlossen, kann man sagen. Meinen Sie deshalb wirklich, es sei der türkischen Regierung verborgen geblieben, dass islamistische Gotteskrieger mit schweren Waffen von ihrem Territorium aus auf Kassab schießen? Wie wollen Sie eigentlich Ihr Attest der Besonnenheit für Erdogan den Nachfahren der Überlebenden des Völkermords an den Armeniern, der sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, erklären, die jetzt vor diesen islamistischen Gotteskriegern flüchten müssen, die sie von türkischem Territorium aus angreifen? ({1}) Sie sagen jetzt: Die Türkei muss mehr gegen den Terror tun. - Aber angesichts des Verhaltens der türkischen Regierung klingt dies zumindest in meinen Ohren wie blanker Hohn. Denn wie können Sie mit Ihrem Attest der Besonnenheit für das Erdogan-Regime den Menschen in Kobane unter die Augen treten, die sich seit Monaten gegen die Angriffe des „Islamischen Staates“ verteidigen? Wie erklären Sie den mutigen Frauen und Männern in Kobane, dass der NATO-Partner Türkei die Grenze gegenüber den kurdischen Enklaven im Norden Syriens geschlossen hat, während die türkische Grenze gegenüber den vom „Islamischen Staat“ kontrollierten Gebieten offen ist? Das möchte ich von Ihnen wissen. ({2}) Sie als Bundesregierung haben sich solidarisch mit Charlie Hebdo erklärt. Gestern wurde die Veröffentlichung der türkischen Version der Satirezeitung in der Türkei verboten, und sie wurde überall konfisziert. Wieder einmal wurden Journalistinnen und Journalisten in der Türkei angegriffen. Dazu dürfen wir und vor allen Dingen Sie als Bundesregierung nicht schweigen. ({3}) Zeigen Sie endlich, dass Sie nicht einverstanden sind mit der Repression und der Terrorförderung Erdogans und seiner Marionette - so wird Ministerpräsident Davutoglu in der Türkei trefflich beschrieben - in Syrien. Dieser Terror schlägt jetzt eben auch nach Europa zurück. Dies erklärte uns der libanesische Außenminister bereits im Frühjahr letzten Jahres bei einer Reise des Außenministers Steinmeier. Die Terrorförderung gegen Assad und gegen Syrien, meinte er damals, ist brandgefährlich, weil sich der Terror irgendwann gegen Europa richten wird. ({4}) Deutsche Außenpolitik darf nicht weiter auf einer Täuschung der Bevölkerung und der Partnerschaft mit autoritären Regimen beruhen. Deshalb bitte ich Sie: Kehren Sie um! Beenden Sie endlich Ihre Nibelungentreue zum Erdogan-Regime in der Türkei, und ziehen Sie die Bundeswehr dort ab! ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe das Wort.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dağdelen, erlauben Sie mir nur den einen Hinweis: „Erdogan-Regime“ ist nicht die bei uns übliche Bezeichnung für demokratisch gewählte Staatsoberhäupter oder demokratisch gewählte Regierungen. ({0}) Wir verstehen unter „Regime“ etwas anderes. ({1}) Zum Mandat, über das wir hier heute debattieren. Im November des Jahres 2012 hatte unser NATO-Partner Türkei die NATO zum Schutz seiner Bevölkerung und seines Territoriums um Unterstützung gebeten. ({2}) Dieser Bitte gingen zahlreiche Grenzverletzungen von syrischer Seite mit Toten unter der türkischen Zivilbevölkerung voraus. Deswegen sollte für uns alle nachvollParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe ziehbar sein, dass sich unser Bündnispartner zunehmend bedroht fühlte. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Türkei unverändert der vom syrischen Bürgerkrieg am stärksten betroffene NATO-Verbündete ist. Deutschland verfügt neben wenigen anderen Partnern über die erforderlichen Waffensysteme, die im Verbund den Schutz gegen ballistische Raketen gewährleisten können. Deshalb hatten wir uns im Jahr 2012 entschieden, ab Januar 2013 zusammen mit den USA und den Niederlanden Patriot-Flugabwehrraketensysteme in der Türkei zu stationieren. Das sind die bekannten Fakten. Der Einsatz hat sich in diesen Jahren militärisch bewährt. Über die rein militärische Komponente hinaus hat dieser Einsatz auch weiter gewirkt, hat auch politisch gewirkt. Mit dieser solidarischen Maßnahme sind eine Ausweitung der bewaffneten Auseinandersetzung über Syrien hinaus und eine Beeinträchtigung der Sicherheit der Türkei wirksam verhindert worden. Unsere Bereitschaft im Bündnis hatte auch einen weiteren, einen abschreckenden Effekt. Er hat dem AssadRegime nämlich deutlich die Grenzen aufgezeigt und somit letztlich dazu beigetragen, dass Syrien sein Chemiewaffenprogramm offengelegt hat und die Waffen dann mit vereinten Kräften der internationalen Gemeinschaft vernichtet werden konnten. Durch die von der deutschen Marine abgesicherte Vernichtung syrischer Giftgasbestände auf hoher See konnte das Bedrohungspotenzial in dieser Region zerstört werden. Auch das ist ein wichtiger politischer Erfolg, der erreicht worden ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Folgen des syrischen Bürgerkriegs und der Vorstoß der Terrormiliz IS haben starke Auswirkungen auf die gesamte Region. Über 1,5 Millionen Flüchtlinge wurden allein von der Türkei aufgenommen und verlangen unserem Partner große Anstrengungen ab. In dieser schwierigen Lage hat uns unser NATO-Partner erneut gebeten, im Rahmen der Integrierten Luftverteidigung der NATO türkisches Territorium und türkische Staatsbürger zu schützen. Das und nichts anderes ist der Kern dieses Mandates, über das wir hier heute erneut debattieren: Ein NATO-Partner hat um Hilfe gebeten. Für die Bundesregierung ist völlig klar: Bündnissolidarität ist ein hohes Gut, ein Gut, dem gerade wir Deutschen uns verpflichtet fühlen sollten, weil wir davon über Jahrzehnte in besonderer Weise profitiert haben. Wir stehen zu unseren Partnern in der Allianz, und wir stehen zu unseren Zusagen. Das ist ein starkes Zeichen für die NATO und auch für die gesamte internationale Gemeinschaft. Deswegen wiederhole ich mich noch einmal: Wenn man sieht, dass es seit der Stationierung der NATO-Raketenabwehr in der Türkei keine wesentlichen Grenzverletzungen von syrischer Seite mehr gegeben hat, dann sollte die abschreckende und damit erfolgreiche Wirkung unserer Mission für jeden Menschen guten Willens auch offensichtlich und erkennbar sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dennoch lässt sich aufgrund der fragilen Sicherheitslage in Syrien eine Bedrohung durch ballistische Raketen - und seien es nur fehlgeleitete und durch solche ohne chemische Kampfstoffe derzeit nicht wegdiskutieren. Deswegen ist es auch nachvollziehbar, dass sich unser Bündnispartner Türkei von den damit verbundenen Auswirkungen auch weiterhin bedroht fühlt. Für uns alle, denke ich, steht außer Frage, dass wir, wie schon bisher, mit Nachdruck an politischen Lösungen der Konflikte arbeiten. Das heißt aber ebenso, dass wir, wenn wir von Partnern um Hilfe gebeten werden und wir über Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügen, einen konkreten Beitrag zu leisten, auch mit einem solchen konkreten Engagement Bündnissolidarität leben und uns als verlässlicher Partner erweisen werden. Nach wie vor sieht auch der NATO-Oberbefehlshaber, sieht die NATO insgesamt eine begründete Bedrohung für die Türkei. Es besteht weiterhin ein Risiko, dem immer noch begegnet werden muss. Deshalb erklärt sich Deutschland seit zwei Jahren bereit, bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten in die Türkei zu entsenden. Zusammen mit den USA und den Niederlanden halten wir Flugabwehrraketensysteme vom Typ Patriot in der Türkei im Einsatz. Auch wenn die Niederlande diesen Auftrag im NATO-Rahmen an eine spanische Patriot-Einheit weitergegeben haben, ändert sich hierbei operativ nichts. Für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind drei Punkte entscheidend: Erstens. Der Einsatz erfolgt ausschließlich zu defensiven Zwecken, also zum Schutz der türkischen Bevölkerung und des türkischen Staatsgebietes. Zweitens. Der Einsatz dient nicht der Einrichtung oder Überwachung einer Flugverbotszone in Syrien. Das Bundestagsmandat zieht hier eine ganz klare Grenze. Drittens. Unsere Soldatinnen und Soldaten werden dem NATO-Oberbefehlshaber unterstellt. Er ist durch den NATO-Rat beauftragt. Der Einsatz erfolgt im Rahmen der sogenannten Integrierten Luftverteidigung der NATO im Einklang mit dem dazugehörigen Verteidigungsplan. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann feststellen: Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hat sich in diesem Jahr bewährt. Bis heute schützen wir die türkische Bevölkerung und das türkische Territorium erfolgreich vor Angriffen mit syrischen Raketen, und das bei hoher Akzeptanz durch die Menschen, wie ich erst vor wenigen Tagen bei einem Besuch feststellen konnte, ({3}) und unter Bedingungen, die sich durch das gute Miteinander mit den türkischen Soldaten, die dort eng mit uns zusammenarbeiten, deutlich verbessert haben. Ich möchte allen, den deutschen Soldatinnen und Soldaten und auch denen unserer Partner, meinen Dank und meinen Respekt für diesen erfolgreichen Einsatz aussprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Die bereits angesprochenen Rahmenbedingungen unseres rein defensiven Einsatzes bleiben unverändert. Als Stichwort nenne ich die Obergrenze von 400 Soldatinnen und Soldaten, die wir bei weitem nicht erreichen. Knapp 250 Soldatinnen und Soldaten sind dort vor Ort. Unser Partner USA wird sein Engagement ebenfalls fortsetzen, und Spanien hat seine Bereitschaft zur Teilnahme vom Ende dieses Monats an bereits beschlossen. Wir sind weiter eingebunden in ein Bündnis von Partnern und leisten weiterhin unsere Solidarität. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Mandates Active Fence Turkey für die kommenden zwölf Monate. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Dr. Tobias Lindner von den Grünen das Wort.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zum dritten Mal über das Mandat Active Fence. Bei jeder Beratung über dieses Mandat hat sich die Lage in der Türkei und im türkisch-irakisch-syrischen Grenzgebiet elementar verändert. Deswegen ist es bei jeder Beratung notwendig, sorgfältig zu prüfen, ob die Gründe für dieses Mandat noch gegeben sind. ({0}) Meine Fraktion hat es sich nie einfach gemacht. Ich erinnere mich an die erste Beratung. Genau die Gründe, Herr Staatssekretär, die Sie eben genannt haben, die Bedingungen, unter denen die Patriot-Systeme stationiert werden können - die Unterstellung unter den NATOOberbefehlshaber und die Unmöglichkeit, in den syrischen Luftraum einzugreifen -, waren und sind für uns elementar. Dieses Mandat muss auf das beschränkt bleiben, wofür es da ist, nämlich die Türkei, unseren Bündnispartner, schützen zu können. Es muss aber auch darum gehen, bei jeder Beratung neu zu erörtern: Ist die Situation der Bedrohung noch gegeben? Wir haben hier eine ambivalente Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen: Zum einen können wir zum Glück feststellen, dass hoffentlich alle Chemiewaffen in Syrien vernichtet worden sind; das ist ein großer Fortschritt. ({1}) Wir müssen allerdings mit Bedauern feststellen, dass es in Syrien nach wie vor ballistische Waffen gibt, die natürlich eine Bedrohung für die Türkei darstellen können, und wir müssen mit noch größerem Bedauern feststellen, dass durch das Erstarken des „Islamischen Staates“ eine Situation eingetreten ist, die sich für mich persönlich noch verworrener als vor einem Jahr darstellt. Deswegen kann ich persönlich nachempfinden, dass sich der NATOBündnispartner Türkei bedroht fühlt und um Hilfe gebeten hat. Herr Staatssekretär, ich würde Ihnen zustimmen: Das Hilfeersuchen eines Bündnispartners ist eine ernste Angelegenheit, und es darf nur in gewichtigen Fällen dazu kommen, dass man einem solchen Ersuchen nicht nachkommt. Aber genauso möchte ich feststellen: Ein solches Hilfeersuchen entbindet uns als Parlament nicht davon, genau hinzusehen und zu prüfen: Sind Gründe dafür gegeben? Vor allem entbindet es die Bundesregierung nicht, darauf hinzuwirken, dass man etwas gegen das Entstehen von Bedrohungen in der Region tut und mehr humanitäre Hilfe in dieser Region geleistet wird. ({2}) Wenn wir einen Bündnispartner unterstützen, dann sollten wir das nicht blind tun. Kritik an der türkischen Regierung ist an dieser Stelle nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten. Die türkische Regierung hat in den letzten zwölf Monaten nicht immer eine rühmliche Rolle in diesem Konflikt gespielt. Im Gegenteil, sie ist aus meiner Sicht nicht konsequent genug gegen islamistischen Terror in dieser Region vorgegangen. Sie muss klarstellen, dass es weder direkte noch indirekte Unterstützung - auch nicht durch Unterlassen - von Islamisten gibt, und sie muss noch mehr Anstrengungen an den Tag legen, um den Friedensprozess mit den Kurden voranzutreiben. ({3}) Wenn wir über dieses Mandat reden, müssen wir als Deutscher Bundestag, gleich wie wir abstimmen, auch unsere Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in diesen Einsatz entsenden, im Blick haben. Ich sage das in Gegenwart auch des Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes, den ich auf der Tribüne begrüßen darf. Durch meine schriftliche Frage an die Bundesregierung ist offenbar geworden, dass wir die Zusage gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die sich in einen Auslandseinsatz begeben, dass sie nach vier Monaten Dienstzeit im Ausland zwanzig Monate in Deutschland ihren Dienst tun können, bei diesem Einsatz inzwischen in über einem Drittel der Fälle nicht einhalten können. Ich fordere deshalb an dieser Stelle die Bundesregierung auf: Wenn dieses Mandat im Bundestag beschlossen wird, dann müssen Sie alles, aber auch wirklich alles tun, damit wir diese Zusage gegenüber den Soldatinnen und Soldaten einhalten können. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Türkei hat uns um Unterstützung gebeten. Diese Bitte müssen wir ernst nehmen und genauso ernsthaft prüfen. Wir sollten ein solches Ansinnen nur aus gewichtigen Gründen verwehren. Wir dürfen unsere Augen aber nicht vor einer fragwürdigen Politik und vor der Belastung unserer Soldatinnen und Soldaten verschließen. Mit diesen Prämissen wird meine Fraktion in die anstehenden AusschussberaDr. Tobias Lindner tungen zu diesem Mandat gehen und dann in der zweiten und dritten Lesung ihre Entscheidung treffen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Thomas Hitschler das Wort. ({0})

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in der Türkei. Derzeit befinden sich auf Bitten der türkischen Regierung etwa 260 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Osten unseres NATO-Partnerlandes als Teil einer NATO-Mission. Auftrag der Bundeswehr ist in erster Linie, die Grenzregion um die Stadt Kahramanmaras mit den bodengestützten Mittelstrecken-Flugabwehrraketen Patriot zu schützen. Im Gegensatz zu den selbsternannten patriotischen Abendlandverteidigern hierzulande sind die Patriot-Systeme der Bundeswehr aufgrund einer realen Bedrohung dort. Infolge des grauenvollen Bürgerkriegs schossen syrische Regierungstruppen 2012 mehrfach über die gemeinsame Landgrenze in türkisches Gebiet. In der Nähe der Grenze liegt die Region Kahramanmaras. Allein in der Großstadt gleichen Namens leben mehr als eine halbe Million Menschen. Hinzu kommt, dass es unmittelbar vor der Stadt ein großes Flüchtlingslager mit 17 000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen gibt. Diese Menschen haben in dem Konflikt bereits so gut wie alles verloren. Wir müssen uns etwas vor Augen führen: Im Jahr 2012 verfügte das syrische Regime über ein beträchtliches Arsenal an Chemiewaffen und über Mittel, diese auf die Türkei abzufeuern. Von Kahramanmaras bis zur syrischen Grenze sind es etwa 100 Kilometer. Eine ballistische Rakete fliegt in der Regel mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit und überbrückt diese Distanz in einem Augenblick. Die Menschen in und um Kahramanmaras lebten im Sommer 2012 mit der Situation, dass alles, was sie kannten, ohne Vorwarnung ausgelöscht werden konnte. Daher bat die Regierung des NATO-Mitglieds Türkei im Herbst 2012 um Beistand. Dieser Bitte leisteten wir Folge. Mit den Patriot-Systemen füllt die Bundeswehr gemeinsam mit anderen Partnern eine Fähigkeitslücke der türkischen Streitkräfte, indem sie einen aktiven Schutzschild an der türkisch-syrischen Grenze errichtet. Diese Fähigkeit, die wir als besondere Spezialität in unser gemeinsames Bündnissystem einbringen, kann die Türkei selbst nicht vorweisen. Man muss Hilfe leisten, wenn man darum gebeten wird - das ist etwas, auf das in einer Freundschaft und in einem Bündnis Verlass sein muss. Die Patriot-Systeme der Bundeswehr sind wie die Soldatinnen und Soldaten, die sie bedienen, in diesem Bereich top. Im Militärjargon wird von einer Kill Probability von mehr als 90 Prozent gesprochen. Das bedeutet, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 Prozent ein auf die Region Kahramanmaras abgefeuerter Flugkörper abgefangen werden kann. Den Menschen in Kahramanmaras und im gesamten Grenzgebiet wird somit ein Stück weit Sicherheit zurückgegeben. Sie vertrauen auf ihren Bündnispartner Deutschland und damit auch auf uns, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vor ein paar Wochen hatte ich die Chance, mir in Ankara und in Kahramanmaras selbst ein Bild von der Lage zu machen. Die türkische Regierung ist dankbar für den deutschen Beitrag und vertraut auf unsere Freundschaft und auf unsere Bündnissolidarität, so wie wir dankbar sein sollten, dass die Türkei insgesamt 1,6 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus humanitären Gründen aufgenommen hat und diese schier unglaubliche Anzahl an Menschen als Gäste willkommen heißt. Auch wenn ich nicht jede innenpolitische Entwicklung in der Türkei begrüße, ja vieles stark kritisiere: In Bezug auf die Flüchtlingsproblematik können wir der Türkei nur herzlich danken. ({0}) Die Regierung in Ankara weiß aber auch, dass der Konflikt in Syrien noch lange nicht beigelegt ist. Die Gefahr eines erneuten Raketenschlags auf türkischem Boden bleibt also bestehen. Zugegeben: Die Bedrohungslage hat sich für die Türkei etwas verschoben. Die Bitte unseres Partners bleibt aber bestehen, und sie ist auch gerechtfertigt. Daher bitte ich Sie, den Wunsch der türkischen Regierung nach einer Fortsetzung der Bundeswehrmission sehr ernst zu nehmen. Dass es die Türkei mit der Partnerschaft innerhalb der NATO ernst meint, zeigt auch die mittlerweile gute Situation unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort. Ob Unterbringung, sanitäre Einrichtungen, Verpflegung, Zusammenarbeit mit den türkischen Streitkräften - alles scheint nach meinem Eindruck mittlerweile sehr gut zu laufen. Wir alle wissen, dass das nicht immer so war. Die Soldatinnen und Soldaten vor Ort, von denen manche dreimal oder öfter im Rahmen von Active Fence im Einsatz waren, verdienen ebenfalls den Respekt und die Anerkennung dieses Hauses. ({1}) Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch an die Gelben Bänder der Verbundenheit, die wir alle vor den Feiertagen unterschrieben haben. Diese Geste der Verbundenheit ist vor Ort unglaublich gut angekommen. Ich hatte die Ehre, der Truppe in Kahramanmaras eines dieser Bänder zu übergeben als Zeichen dafür, dass wir die Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen, dass wir nicht einsame Entscheidungen treffen und dann einmal sehen, wie sich die Lage entwickelt. Nein, ich habe vor Ort mitgeteilt, dass die Mehrheit des Deutschen Bundestages dankbar ist, wenn Menschen ihrem Land auch über die Feiertage dienen, und sie dann nicht vergessen sind; ganz im Gegenteil. ({2}) Nutzen wir diese Debatte, um den Soldatinnen und Soldaten vor Ort ein klares Zeichen der Unterstützung für den Einsatz und die gute Arbeit, die sie leisten, zu senden! Nutzen wir die Chance, unseren Freunden in der Türkei zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen, wenn sie uns brauchen! Bitte stimmen Sie daher der Verlängerung des Mandats zu. ({3})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Philipp Mißfelder, CDU/CSU, das Wort. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich dem Dank an die Soldatinnen und Soldaten, die dort wirklich hervorragende Arbeit leisten, an. Herr Kollege Hitschler hat es schon angesprochen: Dass die Host Nation Türkei jetzt bessere gastgeberische Qualitäten zeigt als am Anfang, ist auf jeden Fall beruhigend. Das Land ist ja generell dafür bekannt, ein sehr guter Gastgeber zu sein. Das war zu Beginn der Operation allerdings nicht so. Insofern schließe ich mich Ihrem Optimismus an, dass das so bleiben wird. Ich möchte zur Situation in der Türkei noch ein paar Anmerkungen machen, weil das für den Rahmen des Mandats nicht ganz unwichtig ist. Staatssekretär Brauksiepe hat vorhin dankenswerterweise richtiggestellt, dass wir mit der Türkei sehr eng verbunden sind und das Land als wichtigen NATO-Partner ansehen. Frau Dağdelen, ich glaube, auch ein großer Teil der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland teilt Ihre Einschätzung nicht. Man kann sicherlich vieles kritisieren; aber Ihre einseitigen Überlegungen zur türkischen Regierung gehören hier nicht hin. Sie können kritische Punkte ansprechen; aber wir sollten nicht versuchen, anhand dieses Mandats, das durch außenpolitische Rahmenbedingungen geprägt ist, hier im Deutschen Bundestag innertürkische Debatten zu führen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Türkei für uns der Dreh- und Angelpunkt ist, wenn es um die strategische Ausrichtung der Nahostpolitik oder auch der Nordafrikapolitik Deutschlands geht. Gar keine Frage: Wir brauchen die Türkei als verlässlichen Partner. Gerade haben wir über Kurdistan im Nordirak gesprochen. Ohne das Engagement der Erdogan-Administration hätte Kurdistan im vergangenen Jahr sicherlich nicht eine so gute Entwicklung genommen. Trotzdem gibt es dort natürlich große Probleme, auch wegen des Machtkampfs im Nahen Osten. Ich denke dabei an die Auseinandersetzungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und als aufstrebende Macht auch der Türkei.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen zu?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Es mag sein, dass es sowohl in der Türkei als auch in Deutschland unterschiedliche Ansichten über Erdogan, seine Macht und die Strukturen gibt. Aber zu zwei Dingen möchte ich Sie hier kurz befragen. Erstens. Was sagen Sie zu den konkreten Punkten, die ich in meiner Rede erwähnt habe, beispielsweise dazu, dass der Abdruck einiger Seiten aus der Satirezeitung Charlie Hebdo gestern verboten worden ist, die Ausgaben der entsprechenden Zeitungen konfisziert worden sind und Journalisten angegriffen worden sind? Möchten Sie dazu weiter schweigen? Zweitens. Was denken Sie, wie man den Menschen, die in Kobane seit Monaten gegen den IS kämpfen, erklären kann, dass die IS-Kämpfer in den Krankenhäusern auf türkischem Territorium behandelt werden können, aber die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer vor der Grenze verbluten müssen, weil sie wegen des Embargos nicht ins Land dürfen? - Auf diese Fragen hätte ich gerne eine Antwort. Als Drittes möchte ich Sie fragen, weil Ihr Kollege, Herr Brauksiepe, ohne irgendeinen Beleg behauptet hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei für den Patriot-Einsatz sei, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass das bislang erst ein repräsentatives Meinungsforschungsinstitut, der German Marshall Fund, untersucht hat. Dieses amerikanische Institut hat im November 2012 eine Umfrage gemacht, nach der über 57 Prozent der Menschen in der Türkei gegen den PatriotEinsatz waren. ({0}) Wie kommen Sie oder Ihr Kollege dann dazu, ohne irgendeinen Beleg zu behaupten, dass die Mehrheit der Bevölkerung für den Einsatz sei? Bislang gibt es keine Umfrageergebnisse in dieser Richtung.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich fange mit der letzten Frage an, Frau Dağdelen. Ich weiß nicht, auf welcher empirischen Grundlage die Aussage von Herrn Brauksiepe erfolgt ist. Ich kann nur sagen, dass ich in Gesprächen mit Vertretern der Türkei den Eindruck hatte, dass der Einsatz durchaus willkommen ist. Ich kenne die Umfrage nicht - das sage ich ganz offen -, verweise aber darauf, dass wir bei Mandaten für Einsätze, die wir für sinnvoll erachten, auch häufig mit Umfragewerten konfrontiert werden, die wir nicht befriedigend finden. Militärische Aktivitäten scheinen ofPhilipp Mißfelder fenbar immer eine politische Führungsaufgabe zu sein, um es einmal so zu formulieren. Zu Ihren beiden anderen Fragen. Was die Zeitschrift angeht, habe auch ich mit großem Interesse die türkischen Reaktionen verfolgt. Das finden wir natürlich nicht gut; das ist gar keine Frage. Die Meinung in Deutschland ist ganz klar, dass Satire definitiv zur freien Meinungsäußerung gehört. Ich möchte allerdings an dieser Stelle bemerken, dass ich auch großen Respekt vor den Gefühlen aller Menschen habe, die gläubig sind. Das gilt sowohl, wenn im Kölner Dom jemand Unruhe stiftet, als auch dann, wenn in der Erlöser-Kirche in Moskau Unruhe gestiftet wird oder Mohammed aus der Sicht des Gläubigen beleidigt wird. Diese religiöse Verletztheit rechtfertigt allerdings nicht, Menschen in Straflager zu sperren. Sie rechtfertigt auch nicht, Menschen in die Luft zu sprengen oder zu erschießen. Das hat die türkische Regierung aber auch nicht getan. ({0}) - Dass eine Partei in einem Land, das mehrheitlich sehr gläubig ist, versucht, gesellschaftliche Entwicklungen wie die Ausprägung des Islams, an der Sie sich bekanntermaßen stören - man kann in der Tat sehr intensiv diskutieren, ob die AKP auf dem richtigen Weg ist -, abzubilden, trägt sicherlich erst einmal zur Befriedung bei. Das ist gar keine Frage. Aber wir sind mit der Wahl der Mittel der Türkei nicht einverstanden. Das machen wir auch bei jeder Begegnung mit dem Botschafter deutlich. Sie haben Kobane angesprochen. Die Situation dort zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Darauf werde ich noch im Fortgang meiner Rede eingehen. Der Einsatz ist deshalb notwendig, weil die Türkei sich innenpolitisch in einer ganz anderen Bedrohungssituation befindet als wir. In jüngster Zeit hat es wieder Selbstmordattentate gegeben. Das trägt in der Türkei innenpolitisch zu einer aufgeheizten Stimmung bei, die bei uns, wie ich glaube, mindestens genauso groß wäre, wenn wir in Berlin, Köln oder anderswo in Ballungszentren mit solchen konkreten Bedrohungssituationen konfrontiert wären. Das darf man nicht unterschätzen. Der zweite wichtige Punkt ist die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Syrien. Auch an dieser Stelle widerspreche ich der Türkei in vielen Punkten massiv. Denn wir dürfen die Debatte darüber, wer das kleinere Übel ist - die islamistischen Fundamentalisten, die gegen Assad kämpfen, oder Assad selbst -, nicht führen. Auch von russischer Seite ist zu hören, dass sie Assad im Vergleich zu ISIS als das kleinere Übel betrachten. Das darf nicht der Maßstab sein. Ähnlich ist das Argumentationsmuster der türkischen Seite, die nicht offiziell, aber durch die Blume sagt: Wir müssen mit der Opposition in Damaskus, auch wenn sie nicht gemäßigt sein sollte, zusammenarbeiten, um Assad, den schlimmeren Schlächter, auszuschalten. - Das darf nicht Maßstab unserer Politik sein, und das ist es auch nicht. Aber es zeigt die Komplexität dieses Konflikts. Die Feststellung, dass es keinen Frieden mit Assad geben wird - das habe ich selbst mehrmals gesagt, und das haben auch Vertreter der Regierung zur Genüge getan und dass nur eine Friedenslösung ohne Assad vorstellbar ist, ist so nicht mehr zu halten. Die Situation hat sich verändert. Des Weiteren hat sich die Opposition, die die Türkei anfangs tatkräftig unterstützt hat, in eine so negative Richtung entwickelt, dass man sich eigentlich wünscht, dass keine der beiden Seiten die Macht erhält bzw. behält. Vor diesem Hintergrund ist die Komplexität des Syrien-Konflikts auf jeden Fall gegeben. Nichtsdestotrotz sage ich, dass ein politischer Prozess mit unzähligen Gesprächen, den wir nach wie vor anstreben, auch wenn sich der Fokus der Öffentlichkeit verschoben hat, richtig ist. Wir müssen mit der Türkei eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Insofern bewerte ich den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in Berlin zu Beginn dieser Woche als Erfolg. Wir sollten unseren Weg fortsetzen. Die Verlängerung des Mandats ist richtig. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU, das Wort. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns die Situation der Türkei und ihrer Bevölkerung noch einmal deutlich vor Augen führen. Der überwiegende Teil der Außengrenzen der Türkei ist nicht gerade von Sicherheit und Stabilität gekennzeichnet. 900 Kilometer Grenze zu Syrien und 350 Kilometer Grenze zum Irak zeigen das. Hunderttausende Flüchtlinge sind inzwischen über diese Grenzen in die Türkei geflohen, geflüchtet vor dem Bürgerkrieg und der barbarischen Daesh, die auf bestialische Weise mordet und vergewaltigt; wir alle kennen die Bilder. Vor diesem Hintergrund kann ich verstehen, dass die Türkei und vor allem ihre Bevölkerung ein riesiges Sicherheitsbedürfnis haben, das sich die meisten von uns nicht vorstellen können. Vielleicht hilft uns die Erinnerung an die Zeit vor 1990, als gerade wir Deutsche ein solch großes Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität hatten. Wir müssen und wollen als verlässlicher Partner in der NATO der Türkei in dieser Situation weiterhin zur Seite stehen und sie unterstützen. Wir haben deswegen vor zwei Jahren das Mandat Active Fence zum ersten Mal auf den Weg gebracht. Hintergrund war die mögliche Bedrohung der Türkei durch Kurzstrecken- und Mittelstreckenwaffen sowie durch chemische Waffen aus dem Bürgerkriegsgebiet Syrien. Deshalb haben wir gemeinsam mit unseren Freunden aus den Niederlanden und den Vereinigten Staaten mit dem Patriot-System einen Schutzschild aufgebaut. Wir waren uns schon damals einig, dass das Risiko eines syrischen Angriffs nicht sehr hoch ist. Inzwischen hat sich dieses Bedrohungsszenario verändert. Nach meiner Einschätzung hat sich das Risiko verringert. In den letzten zwei Jahren wurden keinerlei ballistische Angriffe auf die Türkei unternommen. Die chemischen Waffen konnten wir inzwischen gemeinsam weitestgehend vernichten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Gerade mit Blick auf das vorhin skizzierte Sicherheitsbedürfnis der türkischen Bevölkerung halte ich einen plötzlichen und überstürzten Abzug der Patriot-Systeme für nicht richtig; das wäre ein falsches Zeichen. Allerdings sollten wir das kommende Jahr nutzen, um in enger Abstimmung mit unserem Bündnispartner Türkei zu klären, ob man wirklich noch von einer Bedrohung durch Raketen ausgehen kann oder ob wir nicht auf andere Weise eine viel nützlichere Unterstützung anbieten können. Schließlich bedeutet ein solcher Einsatz, der uns pro Jahr 20 Millionen Euro kostet, gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten eine nicht zu unterschätzende Belastung. Die meisten der auf dem Patriot-System ausgebildeten Soldaten müssen jedes Jahr - der Kollege Lindner hat das schon dargelegt für mehrere Monate in die Türkei in den Einsatz, weg von zu Hause, weg von der Familie. Wenn dieser Einsatz dann sicherheitspolitisch kaum noch einen Nutzen hat, ist er langfristig nicht mehr darstellbar. Zudem werden erhebliche Fähigkeiten im Bereich der Luftverteidigung durch diesen Einsatz gebunden. Die Möglichkeit der NATO, auf andere Szenarien zu reagieren, ist damit stark eingeschränkt. Für die Türkei als wirtschaftlich aufstrebende und erfolgreiche Nation in einer unruhigen Region wäre vielleicht mittelfristig der Aufbau eigener Kapazitäten im Bereich der bodengebundenen Luftabwehr ratsam. Inzwischen haben 1,7 Millionen Menschen Zuflucht in der Türkei gesucht. Ihre Unterbringung und Versorgung ist für den türkischen Staat eine unglaubliche Herausforderung. Ich kann mir vorstellen, dass wir als Partner bei der Bewältigung dieser Herausforderung vor Ort in der Türkei noch viel hilfreicher sind als mit unseren Patriot-Systemen in Kahramanmaras. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3698 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Christian Kühn ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Zukunft der Tierhaltung - Artgerecht und der Fläche angepasst Drucksache 18/3732 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu setzen bzw. ihre Gespräche außerhalb des Saals fortzusetzen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Agrarier wollen zur Eröffnung der Grünen Woche; deshalb herrscht ein gewisser Zeitdruck, dass ihr, Kolleginnen und Kollegen, die Plätze einnehmt. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin besorgt, besorgt und erbost. In den vielen Jahren und Jahrzehnten, in denen ich mich agrarpolitisch engagiere, habe ich schon sehr viel erlebt. Diskurse können hart, müssen aber immer sachlich geführt werden. Das Maß der unsachlichen Feindseligkeit hat dieser Tage Ausmaße angenommen, die auch mich überrascht haben. Die Grünen redeten, so der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, Herr Krüsken, über Landwirte „wie Pegida über Ausländer“. ({0}) Solche Äußerungen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, gehen eindeutig zu weit. Derartig furchtbare Vergleiche verbitte ich mir aufs Schärfste. ({1}) Wer sich sprachlich auf dieses unterirdische Niveau begibt, der diskreditiert sich als Gesprächspartner für konstruktive Diskussionen, den lassen wir Grüne in Zukunft allein die Gräben ausheben und vertiefen. Wir Grüne sind für die Landwirtschaft, für lebendige ländliche Räume, für artgerechte Tierhaltung und vor allen Dingen für eine Situation für die Bäuerinnen und Bauern, in der sie sorgsam und nachhaltig mit Boden und Tieren umgehen können und angemessen dafür entlohnt werden. ({2}) Die Agrarpolitik der CDU/CSU hat die Landwirtschaft jedoch in eine Sackgasse geführt. Von den zahlreichen Missständen will ich exemplarisch drei aufführen. Ich könnte noch 20 andere hinzufügen; aber dazu fehlt die Zeit. Erstens. 5 Prozent der Betriebe bekommen rund 42 Prozent der EU-Direktzahlungsansprüche - das sind 2,4 Milliarden Euro Steuergeld - pro Jahr. Dabei wäre genug Spielraum auf nationaler Ebene gewesen, diese Gelder in den Erhalt und die Förderung der ländlichen Räume zu investieren. Doch Sie als Bundesregierung haben sich anders entschieden. Zweitens. Allein die Region Weser-Ems, beispielhaft für viele andere Veredelungsregionen in Nordwestdeutschland, produziert einen Gülleüberschuss für 250 000 Hektar Ackerland. Die Flächen sind mit Nährstoffen überlastet, das Grundwasser erst recht. Drittens. Durch die Exportorientierung der Bundesregierung sind die Erzeugerpreise deutlich volatiler geworden. Die Bauern werden zu Produktionssteigerungen verleitet, die der Weltmarkt in Kürze nicht mehr aufnehmen kann und auch heute schon nur noch bedingt aufnimmt. Das ist keine nachhaltige Politik. Das sind Missstände, die alle Bäuerinnen und Bauern bewegen. ({3}) Zeitgleich mit der nicht mehr verkraftbaren Intensivierung der Landwirtschaft wird der Preisdruck auf die Tierhalter dermaßen verschärft, dass sie gezwungen sind, ihre Tierbestände über ein selbst gewolltes Maß hinaus zu vergrößern. Tierhalter wollen ihre Tiere anständig behandeln; aber bei einem Schweinefleischpreis von 1,25 Euro pro Kilo wird das sehr schwierig. Bäuerinnen und Bauern sind keine verrohten Tierquäler, nur weil kein Bio-Logo am Hoftor klebt. Doch die ökonomischen Zwänge sind zum Teil so stark, dass die Gefahr besteht, Abstriche beim Tierschutz zu machen, um die Rentabilität und das Familieneinkommen zu sichern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist das politische Problem. ({4}) Wenn eine Stalleinheit aus knapp 40 000 Hähnchen bestehen muss und die Tiere in 33 Tagen schlachtreif sein müssen, da die Tierhaltung sonst nicht mehr rentabel ist, dann gibt es viele Fragen, Fragen, die auch wir zu lösen haben. Minister Schmidt hat vor wenigen Tagen gesagt - er sagt ja manchmal auch bemerkenswerte Dinge -: „Ab einer bestimmten Größe stoßen die Betreuungsmöglichkeiten an ihre Grenzen.“ ({5}) Wie wahr! Deshalb ist der Strukturwandel keine zu begrüßende Entwicklung, sondern ein Verlust, ein Verlust für den ländlichen Raum, ein Verlust für den landwirtschaftlichen Mittelstand und den Tierschutz. Dem müssen wir entgegenwirken. ({6}) Die Entwicklung zu immer größeren Anlagen in Kombination mit einem schon unanständigen Preisdumping bei tierischen Produkten, Nitrat und Phosphat im Grundwasser und antibiotikaresistenten Keimen im Fleisch und im Stall führen zu einem wachsenden Unbehagen der Bevölkerung gegenüber dem, was in den abgeschotteten Tierhaltungsanlagen zwischen Nordsee und Ruhrgebiet passiert. Dieses Unbehagen werden übermorgen wieder viele Tausend Demonstrierende unter dem Motto „Wir haben es satt!“ auf die Straßen von Berlin tragen. Diese Menschen sind keine Bauernhasser. Diese Menschen mögen das Land; sie mögen die Natur. Sie wollen hochwertige Lebensmittel von artgerecht gehaltenen Tieren, die für ihre Ställe nicht zurechtgestutzt und nicht mit Antibiotika gepusht werden. Ihre und unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es, diese beiden Gruppen zusammenzubringen, endlich eine Diskussion aufzunehmen, wie wir in Zukunft in Deutschland Landwirtschaft betreiben wollen, ob wir die Lieferanten für China sein wollen und die chinesischen Milchbauern in den Abgrund schicken wollen oder ob wir hier, angepasst an die Bedürfnisse unserer europäischen Bevölkerung, produzieren wollen. Die Feindseligkeit aber, die von Ihnen, von CDU und CSU, teilweise beschworen wird, ({7}) gibt es in dieser Form gar nicht. Sie verhindert konstruktive Entwicklungsprozesse hin zu einer tier- und umweltverträglichen nachhaltigen Landwirtschaft, vor allen Dingen mit fairen Preisen für alle Beteiligten. Wenn Sie weiterhin nur die Klientelpolitik des Bauernverbandes umsetzen, die für die größten 5 Prozent der Betriebe auf dem Rücken des bäuerlichen Mittelstands ausgetragen wird, dann machen Sie eine Politik gegen die Landwirtschaft, eine Politik gegen lebendige ländliche Räume, eine Politik gegen artgerechte Tierhaltung und vor allen Dingen eine Politik gegen die Masse der Bäuerinnen und Bauern. ({8})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion.

Dieter Stier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004168, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Termingerecht zum heutigen Beginn der 80. Internationalen Grünen Woche in Berlin starten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antrag abermals den Versuch, einen Generalangriff auf die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft zu reiten. ({0}) Nun könnte man als Agrarpolitiker ja froh sein, dass wir diese Landwirtschaftsdebatte am Nachmittag und nicht fünf Minuten vor Mitternacht in diesem Hohen Hause führen. Man könnte das, wenn Sie diese Debatte nicht abermals zeitgleich mit dem Besuchs- und Gesprächswunsch von zwei EU-Kommissaren und dem Eröffnungsabend der Internationalen Grünen Woche, dem größten Ereignis der Branche in unserem Land, terminieren würden. ({1}) Ich bin der Meinung, dass wir zu diesem Zeitpunkt als Agrarpolitiker des Gastgeberlandes für diese Gespräche zur Verfügung stehen sollten. Ich hielte das für unser Land, für Europa und für die Lösung der auch von Ihnen angesprochenen Themen für sehr wichtig. ({2}) Mit dem von den Oppositionsfraktionen heute gewählten Debattenzeitpunkt machen Sie das jedoch zum wiederholten Male teilweise unmöglich. Ich finde das nicht redlich. Ich will zunächst aber den heutigen Abend, den unmittelbar bevorstehenden Eröffnungsabend der Grünen Woche in unserer Hauptstadt, zum Anlass nehmen, mich im Rahmen dieser Debatte bei allen in der Branche Tätigen dafür zu bedanken, dass sie 365 Tage im Jahr, egal ob Wochentag, Sonntag oder Feiertag, für ihre Tiere sorgen, sowie dafür, dass sie den ländlichen Raum pflegen und die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Menschen in unserem Land und in Europa satt sind. ({3}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich fraktionsübergreifend diesem Dank anschließen können und nicht gerade heute mit neuen Forderungen an die Branche auftreten. Ich verhehle nicht, meine Damen und Herren, dass ich mir auch wünschen würde, dass die Medien in unserem Land gerade anlässlich der Grünen Woche diese Wertschätzung vermehrt erkennen ließen und über die fleißige Arbeit vieler in der Branche Tätiger berichten würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ARD-Morgenmagazin - die ARD ist immerhin ein gebührenfinanzierter öffentlich-rechtlicher Sender ({4}) berichtet heute, dass ausgerechnet Berlin sich zum Zentrum der veganen Szene entwickelt. ({5}) Statt anlassbezogen über einen bäuerlichen Betrieb oder über einen Betrieb der Ernährungsbranche zu senden - dabei ist mir, lieber Kollege Ostendorff, der konventionell produzierende genauso wichtig wie der Biobetrieb -, wurde heute Morgen im Ersten Deutschen Fernsehen berichtet, dass man mittlerweile auch eine vegane Lederpeitsche im Sexshop erwerben könne, welche aus alten Fahrradschläuchen hergestellt werde. ({6}) Mir zumindest fehlt dafür jedes Verständnis. Beim Lesen Ihres Antrags habe ich festgestellt: Ich stimme immerhin damit überein, dass der Viehbesatz in manchen Regionen vielleicht zu hoch ist und dass wir darüber diskutieren sollten. Sie suggerieren aber, dass das flächendeckend so sei, und das ist einfach falsch. Deshalb lehne ich auch die Einführung von Obergrenzen ab. Mein Heimatbundesland Sachsen-Anhalt weist als Flächenland heute einen deutlich geringeren Viehbesatz auf als vor 25 Jahren. Es gäbe hier genügend weitere Möglichkeiten, durch Tierhaltung und Veredelung Wertschöpfung und damit Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu schaffen. Sicherlich gibt es in einigen Fällen auch Missstände - das bestreiten wir überhaupt nicht -, aber unsere Tierschutzgesetzgebung ist heute schon - nicht erst seit der Novelle des Tierschutzgesetzes, die wir in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben - auf einem hohen Niveau, und sie ermöglicht den Landesbehörden auch einen entsprechenden Vollzug im Sinne der Tiere. Dieser Rechtsvollzug muss stattfinden. Auch hier beweist das Land Sachsen-Anhalt am Beispiel des Falls Straathof, dass es dazu in der Lage ist. ({7}) Wenn ich nun einige Forderungen aus Ihrem Antrag herausgreife, dann stelle ich fest, dass diese teilweise auch nicht schlüssig sind, wenn es um einen verbesserten Tierschutz geht. Mir erschließt sich nach wie vor nicht, warum Sie einem Tier innerhalb von Deutschland in einem meist hochmodernen Transportfahrzeug nur einen vierstündigen Transport zumuten wollen, im europäischen Maßstab aber für acht Stunden plädieren. Ich komme zu einer weiteren Feststellung aus Ihrem Antrag. Auch ich bin der Meinung: Es muss nicht täglich Fleisch in der Ernährung sein. ({8}) Ich schätze jeden, der das anders sieht, kann und will aber niemandem seine Art und Weise der Ernährung vorschreiben. Nun zu weiteren Inhalten Ihres Antrags. Sie schildern die Welt der Landwirtschaft in den düstersten Farben, die man sich nur vorstellen kann: Konsumenten würden konventionell erzeugtes Fleisch rundweg ablehnen; Tierhaltung fände nur in drangvoller Enge statt; der landwirtschaftliche Alltag bestünde ausschließlich aus Tierleid, verseuchten Böden, vergifteten Gewässern und verpesteter Luft. Das ist Ihr verhängnisvolles Zerrbild der Realität. Meine Damen und Herren, Sie stellen den gesamten Antrag unter den Leitgedanken der artgerechten Tierhaltung. ({9}) Der Notwendigkeit einer solchen stimme ich zu. Wir alle sind uns darüber einig, dass unsere Nutztiere vernünftig gehalten werden sollen. „Vernünftig“ bedeutet in erster Linie „artgerecht“. Selbstverständlich muss es für die Umsetzung artgerechter Haltungsbedingungen auch vernünftige Kriterien geben. Diese erachte ich durch unsere bestehenden Gesetze und Verordnungen, aber auch durch politische Initiativen als schon ausreichend vorhanden. Natürlich kann man darüber hinausgehende Forderungen entwickeln. Die müssen sich aber immer am Maßstab der Praxistauglichkeit messen lassen. Hierzu bleibt Ihr Antrag gute Ideen schuldig. Was Sie zu bieten haben, ist, wie immer, nichts Neues, ({10}) eine üppige Sammlung alter Forderungen im aggressiven Gewand restriktiver Instrumente. ({11}) Durch Ihre Diktate, Zwangsverpflichtungen und Beschränkungen wäre die Landwirtschaft in Deutschland in vielen Fällen nicht mehr handlungsfähig. Dass wir nicht den Regulierungsmethoden von gestern anhängen und trotzdem den Tierschutz in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung konsequent stärken, das haben wir mit unserer Tierwohl-Initiative, für die ich Minister Christian Schmidt außerordentlich dankbar bin, unter Beweis gestellt. Wir werden mit dieser das Tierwohl weiter stärken. Es wird Mitte des Jahres erste Ergebnisse beim Prüf- und Zulassungsverfahren für serienmäßig hergestellte Stalleinrichtungen geben. Lassen Sie mich gegen Ende meiner Rede auch noch einmal Ihr negativ aufgeladenes Bild der Landwirtschaft aufhellen und richtigstellen. Landwirtschaftliche Unternehmer sind nicht der Gegner ihrer eigenen Nutztiere, sondern haben stets ein persönliches Interesse an einer artgerechten Tierhaltung. Deswegen setzen sie auch Maßnahmen zu dieser um. Zur Nutztierhaltung gehört aber dennoch eine unabdingbare Tatsache, der man sich stellen muss: Nutztierhaltung bedingt immer einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Tiere einerseits und den wirtschaftlichen Anforderungen der Menschen andererseits. Nur vor diesem Hintergrund kann auch eine artgerechte Tierhaltung von Nutztieren verstanden werden. Diese Einsicht kann ich bei Ihnen jedoch leider nicht erkennen. Ihr vorliegender Antrag bleibt daher auch bei mehrmaliger Betrachtung nichts weiter als die Aneinanderreihung der gescheiterten Antragsversuche der letzten Jahre. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Wenn jährlich deutlich mehr als 410 000 Besucher der Internationalen Grünen Woche mit unserer Landwirtschaft und unserem ländlichen Raum zufrieden sind, dann können wir keine so schlechte Agrarpolitik gemacht haben. Nachdem Sie heute ja noch aufs Demonstrieren zu sprechen gekommen sind, was zurzeit groß in Mode ist, und darauf verwiesen haben, dass es am Samstag eine Demo unter dem Motto „Wir haben es satt!“ gibt, Herr Ostendorff, sage ich Ihnen: Es gibt auch eine Demo unter dem Motto „Wir machen Euch satt“. Ich werde zu der zweiten Demo gehen. Vielen Dank. ({12})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich glaube, bei uns allen dreht sich das Kopfkino jetzt noch um die vegane Lederpeitsche. ({0}) Aber kommen wir zurück zum eigentlichen Thema: Früher haben wir Agrarpolitiker uns ja oft beschwert, dass die Debatten erst so spät in der Nacht stattfanden und vielfach überhaupt nicht beachtet wurden. Heute gibt es gleich drei Agrardebatten an einem Tag: eine am helllichten Vormittag und zwei noch vor dem Sandmännchen. Also ich finde, das ist ein großer Fortschritt. ({1}) Die Diskussionen zur Zukunft der Landwirtschaft sind ja richtig und wichtig. Es ist gut, dass es vielen nicht gleichgültig ist, wer die Lebensmittel wo und wie produziert. Es ist auch gut, dass am kommenden Sonnabend friedlich demonstriert wird, weil moralische und ethische Werte und auch die natürlichen Lebensgrundlagen bedroht sind. Demokratie lebt doch von Meinungsvielfalt und Einmischung. Ich als Linke habe es auch satt, dass Geld die Welt immer mehr regiert. ({2}) Nur der Ton der Debatte ist mir manchmal etwas schrill. In einer Welt der Reizüberflutung muss man manchmal zuspitzen; das ist richtig. Aber auch dann kann und muss die Kritik sachlich bleiben. Das gilt für alle Seiten, auch für den Bauernverband. Wenn sein Generalsekretär wirklich gesagt hat: „Teile der Grünen reden über Landwirtschaft wie Pegida über Ausländer“, dann hat er sich, wie ich finde, im Ton vergriffen und sollte das zurücknehmen. ({3}) Die Kritik ist aber leider oft auch etwas einseitig. Ja, auch die Landwirtschaft muss sich bewegen und muss umdenken. Ich erlebe aber in den Betrieben sehr viel mehr davon als in Lobbyistenkreisen oder bei den Funktionären. Gerade als Tierärztin finde ich das Prinzip ganz wichtig, dass die Haltungsbedingungen an die Bedürfnisse der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt. Das gilt übrigens auch für Heim- und Haustiere. Ich finde es auch gut, dass mein eigener Berufsstand, der der Tierärzte, sich unterdessen sehr intensiv in die Debatte einbringt. Gerade als Linke will ich aber, dass sich die Kritik vor allem an die richtet, die von dem jetzigen System profitieren, also zuallererst an Supermärkte, die Lebensmittel billig verschleudern und selbst dabei satte Gewinne einstreichen, denen egal ist, ob die Erzeugerpreise auch die Erzeugerkosten decken. Ich finde, das können wir als Gesetzgeber nicht dulden. ({4}) Deshalb gehört eine gerechtere Gewinnverteilung vom Stall bis zum Supermarkt in diese Debatte. Dann müssen Lebensmittel auch nicht zwangsläufig teurer werden, wenn Tiere unter besseren Bedingungen gehalten werden. Als Linke sage ich auch ganz klar: Ich möchte nicht nur über das Wohl der Tiere in den Ställen diskutieren, sondern auch über das Wohl der Menschen, die sie betreuen. ({5}) Sie sollen gut ausgebildet sein. Sie sollen fair bezahlt werden. Auch ihre Arbeitsbedingungen müssen sich verbessern. ({6}) Der öffentliche Druck ist unterdessen sehr erfolgreich. Wir haben Bewegung in die Diskussion gebracht, auch im Bundestag. Vielleicht nicht bei Herrn Stier, aber sonst durchaus. Selbst Kollege Holzenkamp von der Union sagte gestern öffentlich, dass sich die Landwirtschaft neu denken muss. Auch er äußert kartellrechtliche Bedenken gegen die Marktdominanz von vier großen Supermarktketten. Auch die Initiative Tierwohl der Lebensmittelbranche ist doch eine Reaktion auf den öffentlichen Druck. Der Bundesagrarminister beharrte zwar gerade in einem Interview mit der Märkischen Oderzeitung darauf, Deutschland brauche keine Agrarwende, aber zwei Sätze später sagt er: „Allerdings betrachte ich Megaställe, in denen niemand mehr den Überblick hat, mit Sorge.“ Ich finde: Auch seine Seele kann noch gerettet werden. ({7}) Apropos Megaställe: Die Linke hat bereits im Juni 2014 einen Antrag in den Bundestag zu diesem brennenden Problem eingebracht. Wir fordern unter anderem, die Größe von Tierbeständen am Standort und in Regionen zu deckeln. Um nicht wieder falsch verstanden zu werden: Es geht nicht darum, dass kleinere oder größere Bestände mehr oder weniger Tiergesundheitsprobleme haben. Aber wir wollen keine 40 000 Schweine oder 400 000 Hähnchen an einem Standort, ({8}) erst recht nicht, da wir wissen, dass im Fall einer Tierseuche, zum Beispiel der Schweinepest oder der Vogelgrippe, alle Tiere vorsorglich getötet werden müssen. Das ist nicht zu verantworten. ({9}) In der Debatte im Juli 2014 gab es noch viel Kritik an diesem Vorschlag. Unterdessen wird sehr ernsthaft und breit darüber diskutiert, ob solche Bestandsobergrenzen nicht doch gebraucht würden. Auch dort haben wir in der Debatte etwas bewegt. Heute legen die Grünen einen umfangreichen Katalog von Vorschlägen vor. Ich finde, dass dieser Katalog eine intensive Behandlung verdient. Dort stehen viele Dinge, die wir teilen; vielleicht nicht alle. Aber ich finde, diese Diskussion muss jetzt weitergehen. Vielleicht kann sie etwas sachlicher und fachlicher stattfinden. Ich hoffe da auf die SPD. ({10})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Christina Jantz, SPD-Fraktion. ({0})

Christina Jantz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004313, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtzeitig zur Grünen Woche beglücken uns die Bündnisgrünen mit einem Antrag zur Zukunft der Tierhaltung, die artgerecht und der Fläche angepasst sein soll. ({0}) Die Überschrift ist gut. Inhaltlich kommt der Antrag an vielen Stellen über bloße Symbolforderungen leider nicht hinaus; sei es drum. Sie kennen mich, meine Damen und Herren, und wissen, dass ich gerne die Gelegenheit nutze, um über den Tierschutz zu sprechen. Mit schlichten Forderungen kommen wir nämlich nicht weiter, sondern nur mit einer vernünftigen Agrar- und Tierschutzpolitik, die nicht stigmatisiert, sondern alle Beteiligten mitnimmt. Als Tierschutzbeauftragte meiner Fraktion freue ich mich, dass es uns gelungen ist, dem Tierschutz in der Koalition und in der Regierung Gehör zu verschaffen. ({1}) Gute Tierschutzpolitik geht einher mit guter Agrarpolitik, Verbraucherpolitik, Arbeits- und Sozialpolitik und natürlich mit dem Umweltschutz. Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Punkte herausgreifen, die wir im Bereich des Tierschutzes im Rahmen eines breiten Dialoges mit allen Beteiligten bereits angeschoben haben und umsetzen werden. Bereits seit Jahren ist es unser erklärtes Ziel, die Haltungsbedingungen von Tieren zu verbessern. Ich zum Beispiel kann die Bilder von grausamen Bedingungen in Mastställen, die immer wieder im Fernsehen flimmern, nur sehr schwer ertragen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wir müssen endlich etwas tun. Die Haltungsbedingungen sind den Tieren anzupassen und nicht die Tiere passend zurechtzustutzen wie beispielsweise durch das Kupieren oder dem Abkneifen von Schnäbeln. ({2}) Hier gibt es sicher nicht nur eine Lösung. So einfach ist es leider nicht. Die Haltungsbedingungen müssen insgesamt angepasst und optimiert werden. Wozu eine völlig artfremde Tierhaltung führt, sehen wir beispielsweise in der Putenmast. Die Tiere werden auf engstem Raum zusammengepfercht und gemästet. Damit die Tiere dies überhaupt überleben und so schnell wachsen, werden oftmals Antibiotika eingesetzt. Das heißt, wollen wir den kritisierten Antibiotikaeinsatz tatsächlich reduzieren, müssen sich insbesondere die Haltungsbedingungen ändern und müssen wir den Tieren mehr Platz für ein gesundes und artgerechtes Leben bieten. Damit sage ich nicht, dass ich für ein generelles Antibiotikaverbot bin. Wenn Tiere krank sind, müssen sie selbstverständlich behandelt werden. Antibiotika dürfen aber kein Mittel sein, um artfremde Haltungsbedingungen zu ermöglichen. Dennoch teilen mir viele Putenhalter mit, dass sie gezwungen sind, die Tiere wie beschrieben auf engem Raum zusammenzupferchen. Der Preis, den sie pro Tier erzielen, ist zu gering, um andere Haltungsbedingungen umsetzen zu können. Das Fleisch wird vom Einzelhandel nämlich größtenteils als Sonderangebot verkauft, sei es an der Fleischtheke oder als Bestandteil von Wurst, Fertiggerichten und, und, und. Ich fordere daher das Ministerium, aber auch uns alle auf, nach Möglichkeiten zu suchen, diesen viel zu sehr ausgeweiteten „Sonderangeboten“ zu begegnen. ({3}) Wie wir feststellen, reichen freiwillige Bekenntnisse und öffentliche Diskussionen nicht immer aus; es bedarf doch des motivierenden Drucks des Gesetzgebers, wie beispielsweise bei dem von uns auf den Weg gebrachten Prüf- und Zulassungsverfahren für Tierhaltungssysteme. In einem ersten Schritt wollen wir die Haltung von Legehennen verbessern. Die Erfahrungen damit sollen direkt genutzt werden, um die Bedingungen für weitere Tierarten zu verbessern. Natürlich dürfen die Vorgaben keine Investitionen hemmen, und dennoch müssen sie zu echten Verbesserungen führen und Rechtssicherheit für Hersteller und Landwirte schaffen. Wir sind uns mit dem Landwirtschaftsminister einig, dass wir die erforderlichen gesetzlichen Anpassungen auf nationaler Ebene vornehmen müssen. Aber auch auf europäischer Ebene müssen wir um Mitstreiter werben und die Vorhaben vorantreiben. Auch deshalb haben wir uns seitens der SPD-Fraktion im letzten Jahr mit Experten aus dem europäischen Ausland sowie Vertretern der Verbände und NGOs zu genau diesem Thema ausgetauscht: Verbesserung der Tierhaltung. Aus meiner Sicht lässt sich eine gute Tierhaltung nicht auf die Anzahl der in einem Stall gehaltenen Tiere reduzieren. Für mich ist vielmehr das Wie entscheidend. Die Gespräche und Erfahrungen zeigen ganz deutlich: Nur im Dialog gelangen wir zu besseren Haltungsbedingungen. Wir wollen keine Schnellschüsse. Wir wollen tragfähige Entscheidungen. Wir wollen spürbare Verbesserungen für die Tiere, keine bloße Deckelung des Bestandes. Denn was bringt es einer Kuh, wenn sie zwar nur mit 15 weiteren Kühen im Stall steht, dafür aber angebunden ist? ({4}) Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir auch aufgrund der Emissionsproblematik nachsteuern müssen; das wird meine Kollegin Rita Hagl-Kehl gleich weiter ausführen. Auch hier brauchen wir gut durchdachte Lösungen, denn sonst spielen wir mit dem Vertrauen in die Versorgungssicherheit und mit der Existenz vieler Bauern in diesem Land. Wir brauchen die Landwirte, denn auch sie sind wichtige Experten, wenn es um Verbesserungen in der Tierhaltung geht. Ich stehe für einen offenen Dialog mit allen Beteiligten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den Tierschutz messbar verbessern. Das heißt auch, dass wir Indikatoren entwickeln müssen, die hierüber Auskunft geben. Auch dafür muss die Forschung für eine moderne Landwirtschaft und im Sinne des Tierschutzes gestärkt werden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich fordere nicht ein bloßes Mehr an Geldern für die Forschung. Vielmehr müssen die Forschungsprojekte und ihre Zielsetzungen aufeinander abgestimmt werden und zwischen dem Bund und den Ländern besser koordiniert werden, die Ergebnisse zusammengeführt und transparent dargestellt werden. Meine Damen und Herren, packen wir es weiter an, im Sinne des Tierschutzes! Herzlichen Dank. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thomas Mahlberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Mahlberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Duisburg gibt es seit 50 Jahren ein Delfinarium. Die Duisburger waren große Pioniere in Mitteleuropa, wenn es um die Delfinhaltung geht. Die Zuchterfolge und der Besucherzuspruch im Delfinarium im Zoo Duisburg sprechen für sich. Trotzdem versuchen Tierschützer und auch viele Grünen-Politiker, den Delfinarien den Garaus zu machen. ({0}) Die Delfinhaltung war schon in der vergangenen Wahlperiode ein großes Politikum. In einer Anhörung des Ausschusses - das habe ich noch einmal nachgelesen haben sich die meisten Sachverständigen für die Delfinhaltung ausgesprochen. Auch im Landtag NordrheinWestfalen, dem ich zehn Jahre lang angehört habe, fand letztes Jahr im Naturschutzausschuss eine Expertenanhörung statt, bei der mehrere Experten der Behauptung, die Delfinhaltung sei Tierquälerei, widersprochen haben. ({1}) Eine wissenschaftlich fundierte Basis zur Bewertung der Delfinhaltung ist also gegeben und eindeutig: Die Delfinhaltung ist keine Tierquälerei. Aber nein, den Gegnern der Delfinhaltung ist das nicht genug; denn das Fachliche ist ihnen egal. Sie machen mit ihren Diffamierungskampagnen weiter. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sehe ich auch bei Ihnen, wenn ich mir Ihren Antrag zur Nutztierhaltung anschaue. ({2}) - Ich komme jetzt zu Ihrem Antrag. - Es gibt eine gewisse Parallele bei der Vorgehensweise. Auch Sie sind besondere Gutmenschen, die nach Verboten rufen, aber natürlich keine Lösungen anbieten. Auch Ihnen ist es egal, was die Fachleute und die Praktiker von Ihren Wunschvorstellungen halten. Warum sind Sie eigentlich nicht bereit, die vielen positiven Entwicklungen in der Landwirtschaft zu sehen? Sind Sie im Ernst der Überzeugung, dass unsere moderne Tierhaltung die Gesundheit der Menschen etwa gefährdet? Was ist daran verwerflich, dass unsere gesunden und sicheren Lebensmittel so viel Nachfrage im Ausland finden? Warum gibt es diese Exportfeindlichkeit bei Ihnen? Wir haben eben im Gesundheitsausschuss im Gespräch mit Phil Hogan einiges darüber gehört, was uns gerade der Export bringt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Antrag greift unbestritten wichtige Themen auf - da waren sich, glaube ich, alle Redner unisono einig -, ist aber gespickt mit Ihrer Verbotsmentalität, die uns an dieser Stelle nicht weiterbringt. Lassen Sie uns über die Zukunft unserer Nutztierhaltung reden, aber lassen Sie uns das wissensbasiert und praxisorientiert tun. Ein guter Ansatz ist die Tierwohl-Initiative „Eine Frage der Haltung - neue Wege für mehr Tierwohl“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Mit der im September 2014 gestarteten Initiative will das Ministerium die verschiedenen Maßnahmen, zum Beispiel die Brancheninitiative Tierwohl und das Tierschutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes, koordinieren und damit konkrete Verbesserungen im Tierwohl erreichen, „die sich am wirtschaftlich und auch wissenschaftlich Machbaren orientieren“. Unser Bundesminister Christian Schmidt hat uns in einer Ausschusssitzung seinen Maßnahmenkatalog vorgestellt. Zusammen mit dem von ihm eingesetzten „Kompetenzkreis Tierwohl“ greift er wichtige Punkte auf: Sachkunde der Tierhalter, Stalleinrichtung, Tierschutz bei Schlachtung, Forschung, nichtkurative Eingriffe bei Nutztieren. Das Thema der nichtkurativen Eingriffe findet sich auch in Ihrem Antrag. Und was ist Ihr Vorschlag? Große Überraschung: ein striktes Verbot. Warum verschweigen Sie aber, dass mit einem sofortigen strikten Verbot mehr Tierleid und weniger Tierwohl entstünde? Sie wissen doch genau, dass das Schwanzkupieren bei Schweinen und das Schnabelkürzen bei Geflügel keine Spaßbeschäftigung der Tierhalter ist. Die Tierhalter nehmen es vor, weil sie Schlimmeres verhindern wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wissen doch, dass es sonst zu Kannibalismus kommen könnte und damit Verletzungen und Entzündungen die Tiere plagten. Es ist Ihnen doch bewusst, dass die Problematik durchaus komplex ist und dass es mit einem Verbot nicht getan ist. Warum haben Sie nicht den Mumm, das öffentlich zu sagen? Warum setzen Sie auf so billige Quasilösungen, die letztendlich niemandem - und schon gar nicht den Tieren - helfen würden? Klar ist: Auch wir wollen, dass die Haltungseinrichtungen den Bedürfnissen der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt; das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. ({3}) Wir wollen einen Ausstieg aus den nichtkurativen Eingriffen; das ist auch klar. Dieses Ziel steht für jeden nachzulesen gleich an Platz zwei des Maßnahmenkatalogs des Bundesministeriums. Dort finden Sie, im Gegensatz zu Ihrer populistischen Forderung, einen forschungsbasierten und praxisnahen Ansatz. ({4}) Lernen Sie doch von uns und unserem Bundesminister: Zuerst wird geforscht und in der Praxis erprobt, was - wissenschaftlich abgesichert und praxisreif - zum Regelfall gemacht werden soll. ({5}) Zu Ihrer Ignoranz gegenüber fachlicher Kompetenz und zu Ihrem Dauermantra gehört die nun wieder erhobene Forderung nach Tierbestandsobergrenzen. Es haben sich bereits sehr viele Agrarexperten dazu geäußert und bestätigt - wir haben es, glaube ich, gerade von der Kollegin Jantz gehört -, dass das Tierwohl nicht allein von der Größe des Bestandes abhängig ist. Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Lars Schrader, den Leiter des Instituts für Tierschutz und Tierhaltung des Friedrich-Loeffler-Instituts - er ist sicherlich auch Ihnen als Fachmann bekannt - mit den Worten zitieren, dass „die viel diskutierte Größe der Bestände für die Tiergerechtheit keine Rolle spielt“. Viel wichtiger als die Bestandsgröße ist die Betreuung durch den Tierhalter, die richtige Fütterung, ein gut strukturierter und an die Bedürfnisse der Tiere angepasster Stall. Es ist ein Irrweg, davon auszugehen, dass es einem Tier in einem kleineren Bestand automatisch besser geht. Wir müssen weg von der Bestandsgrößendebatte und hin zu einer Einzeltierbetrachtung, wie ich meine. Uns in der Unionsfraktion geht es nicht um ideologische Grabenkämpfe, sondern um messbare Fortschritte in Sachen Tierschutz. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, geht es in erster Linie um Stimmungs- und Angstmache. ({6}) Mit Ihrem Antrag, meine ich, beweisen Sie erneut, dass Sie nicht wirklich interessiert sind, ernsthaft und konstruktiv über die Zukunft der Nutztierhaltung und unserer Landwirtschaft insgesamt zu diskutieren. Es scheint Ihr politisches Kalkül, eine ganze Branche zu diffamieren, die Bürgerinnen und Bürger in Angst zu versetzen und mit unausgegorenen Vorschlägen zu überschütten. Mit Ihrem ideologischen Dünkel verlangen Sie eine Landwirtschaft, die rückwärtsgewandt ist und die nicht imstande wäre, die wachsende Weltbevölkerung sicher und gesund zu ernähren. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf die immer zur Zeit der Internationalen Grünen Woche stattfindende Demo „Wir haben es satt!“; das ist ja gerade zur Sprache gekommen. Ich habe gehört, es gibt Teilnehmer hüben wie drüben, an der einen und der anderen Demo. Umso mehr freue ich mich, dass am Samstag eine Gegendemo unter dem Motto „Wir machen Euch satt“ stattfinden wird. Dort wollen Landwirte von großen und kleinen, von ökologischen und konventionellen Betrieben zeigen, dass sie gesprächsoffen sind. Sie wollen sowohl mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern als auch mit der Politik reden. Sie wollen, dass man mit ihnen redet, statt über sie. ({7}) Ich frage Sie: Ist das zu viel verlangt? Wir als Unionsfraktion wollen die Zukunft der Tierhaltung und der Landwirtschaft zusammen mit unseren Landwirten und nicht gegen sie gestalten. ({8}) Wir wollen diesen Prozess im Dialog mit Verbraucherinnen und Verbrauchern und auf einer fundierten wissenschaftlichen Grundlage führen. Wir greifen nicht zurück auf einfache Lösungen, die in Wirklichkeit keine Lösungen sind. Wir wollen weiterhin unserem Auftrag aus dem Grundgesetz nachgehen und die Tiere als unsere Mitgeschöpfe schützen. Dafür werden wir die TierwohlOffensive des Bundesministeriums, die auch in unserem Koalitionsvertrag verankert ist, kritisch begleiten und konstruktiv mitgestalten. Wir haben es satt - um Ihren Lieblingskampfspruch zu verwenden, liebe Grünen -, dass Sie unsere bäuerlichen Familien diskreditieren. Wir lehnen Ihren Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, entschieden ab. Herzlichen Dank. ({9})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Rita Hagl-Kehl von der SPD-Fraktion. ({0})

Rita Hagl-Kehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004287, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tierhaltung ist ein wichtiges Thema, das für verschiedene, eng miteinander verbundene Bereiche der Landwirtschaft von großer Bedeutung ist. Im Hinblick auf den Tierschutz besteht die Notwendigkeit, bessere Tierhaltungsbedingungen in den landwirtschaftlichen Betrieben zu ermöglichen, um den Bedürfnissen der Tiere gerecht zu werden. Durch eine artgerechte Tierhaltung wird sowohl die hochqualitative Produktion von Lebensmitteln als auch die Tiergesundheit langfristig aufrechterhalten, wie meine Kollegin Christina Jantz bereits ausgeführt hat. Genauso bedeutsam ist die artgerechte Tierhaltung aber auch für den Umweltschutz. Die Art und Weise, wie Nutztiere gezüchtet werden, beeinflusst direkt das Niveau der Verschmutzung von Luft, Boden und Grundwasser. Die zu hohe Anzahl der Tiere in Tierhaltungsanlagen oder der Zuwachs an Anlagen selbst führt zur Erhöhung der Güllemenge, die zur Belastung von Luft und Grundwasser durch hohe Ammoniak- und Nitratemissionen deutlich beiträgt. ({0}) Der Nitratgehalt des Grundwassers ist regional verschieden, wobei in Regionen mit Massentierhaltung oder Sonderkulturen besonders hohe Werte erreicht werden. Die Belastung der Gewässer wird durch Überdüngung immer größer. Deswegen muss die Nitratbelastung gesenkt werden. ({1}) Es sollten nicht mehr Tiere gehalten werden, als mit eigenem Futter versorgt werden können. Der Import von Futtermitteln führt zu einem Überschuss an Gülle, der die Umwelt belastet. Der Nitratgehalt im Grundwasser hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Die zu hohen Nitratmengen können große Schäden sowie hohe Kosten für die Entfernung der Nitrate aus dem Trinkwasser verursachen. Dafür gibt es ausreichend Beispiele. Zum Beispiel in der Stadt Plattling in Niederbayern, in meinem Wahlkreis, wird das zu hoch belastete Grundwasser mit Wasser aus Tiefenbohrungen ver7564 mischt, um den Nitratgehalt zu reduzieren. Meine Frage lautet: Wer trägt die Kosten? Der Verbraucher, wir alle. ({2}) Ein anderes Beispiel dafür ist München, wo das Wasser aus den Gebirgsregionen hergeleitet wird und den Landwirten, die ökologisch wirtschaften, Flächen billig verpachtet werden. Wie Ihnen sicher bekannt ist, belegen wir in der EU den zweitschlechtesten Platz, was die Wasserqualität anbelangt, und das liegt nicht nur an dem Messverfahren. Im Oktober 2013 hat die EU-Kommission gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen unzureichender Umsetzung der Nitratrichtlinie der EU eingeleitet. Dieses Verfahren ist auch der Grund für die Novellierung der Düngeverordnung, die das Hauptinstrument zur Umsetzung der Richtlinie darstellt. Natürlich muss uns allen daran gelegen sein, die Wasserqualität zu verbessern, damit wir unseren Kindern und Enkelkindern ein Land hinterlassen können, in dem man das Leitungswasser weiterhin trinken kann. ({3}) Ein Ziel der vorgesehenen Änderung der Düngeverordnung ist die Einbeziehung aller organischen und organisch-mineralischen Düngemittel in die nach EGNitratrichtlinie einzuhaltende Obergrenze von 170 Kilogramm Stickstoff je Hektar im Durchschnitt des Betriebes. Um die ökologische Verträglichkeit der Tierhaltung zu gewährleisten, müssen diese Werte unbedingt berücksichtigt werden. Die ökologisch verträgliche Tierhaltung sollte als Teil der Landwirtschaftspolitik, die auf Nachhaltigkeit und ressourcenschonende Produktion ausgerichtet ist, betrachtet werden. Eine nachhaltige Landwirtschaft sollte sowohl im Interesse der Landwirte und der Verbraucher sein als auch der Umwelt und dem Tierwohl dienen und dabei eine Qualitätsstrategie verfolgen. ({4}) Das ist der Kern einer zukunftsfähigen Agrarpolitik, für die wir uns als SPD-Bundestagsfraktion einsetzen. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Demonstration eingehen, die vorhin erwähnt wurde: Es nützt uns nichts, wenn wir heute einen Antrag verabschieden und die Verbraucher nur demonstrieren. Der Verbraucher muss sein Kaufverhalten ändern. Das ist genau das, was wir brauchen. ({5}) Dann können wir auch anderes Fleisch produzieren. Ich danke Ihnen. ({6})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3732 an den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marco Wanderwitz, Ute Bertram, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Welt neu denken - Der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahre 2019 Drucksache 18/3727 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste Rednerin in dieser Aussprache die Abgeordnete Ute Bertram, CDU/CSU-Fraktion.

Ute Bertram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir starten heute kulturpolitisch mit einem wirklich schönen Thema in das neue Jahr, mit unserem Antrag „Die Welt neu denken - Der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahre 2019“. Natürlich sind es bis 2019 noch vier Jahre, aber dieses Jubiläum soll ein kulturelles Großereignis werden, und das braucht entsprechend Vorlauf. Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir das Ereignis von Bundesseite unterstützen wollen. Diese Absicht wollen wir als Große Koalition mit unserem Antrag präzisieren. Stellen wir uns zunächst einmal die Frage: Was ist das Bauhaus? Das Bauhaus war eine Schule für Gestaltung, die zwischen 1919 und 1933 nacheinander an drei Orten in Deutschland existierte. Der Name sollte die Verbindung aus Kunst und Handwerk ausdrücken, in Anlehnung an die Bauhütten der mittelalterlichen Kathedralen. Ich höre oft, das Bauhaus sei nicht nur eine Architektur- oder Designschule, sondern vor allem eine Idee. Diese Idee kann man gut in meinem Heimatort studieren. Bei uns in Alfeld, südlich von Hildesheim, in Niedersachsen, steht das Fagus-Werk. Es wird oft als das Gründungswerk des Bauhauses bezeichnet und ist deshalb auch UNESCO-Welterbestätte geworden. Der junge und damals noch völlig unbekannte Walter Gropius entwarf 1911 eine neue Fabrikhalle für die Schuhleistenfabrik Fagus. Der mutige Eigentümer unterstützte die außergewöhnlichen Ideen des jungen Architekten Gropius. Dieser entwarf eine geradezu revolutionär helle und luftige Arbeitshalle aus Glas und Stahl. Das stand in völligem Gegensatz zur bisherigen Vorgehensweise, an den Räumen für die einfachen Arbeiter zu sparen. Gropius dagegen wollte ein gesundes Arbeitsklima schaffen. All diese Elemente haben das Bauhaus zum Wegweiser in die Moderne gemacht. Durch die Industrialisierung und die technischen Neuerungen entstanden ganz neue Möglichkeiten für Architektur und Design. Das Bauhaus nutzte sie zu sozialen Zwecken. So entstand der neue Lebensentwurf für den modernen Menschen im Industriezeitalter, unabhängig von seiner sozialen Zugehörigkeit. Diese Idee ist es, die Geschichte geschrieben hat, in Deutschland und in der Welt. Wer genau hinsieht, erkennt überall die prägenden Spuren dieser Schule. Bis heute kennen wir Fassaden aus Glas und Stahl. Bis heute drücken wir vom Bauhaus inspirierte Türklinken und sitzen auf vom Bauhaus inspirierten Stühlen. Wir wissen es nur oft nicht. Auch dieses gute Stück wäre ohne das Bauhaus wohl nicht denkbar gewesen. ({0}) Der langjährige Chefdesigner von Apple spricht gern davon, wie er sich vom deutschen Industriedesign und den Bauhaus-Prinzipien hat inspirieren lassen. Nicht umsonst gilt das Bauhaus international als unser erfolgreichster kultureller Exportartikel. Von Alfeld ging Walter Gropius dann nach Weimar, wo er 1919 das Bauhaus gründete. Die Hochschule arbeitete aber von Anfang an unter widrigen Umständen. Sechs Jahre später zog sie nach Dessau. 1933 wurde sie in Berlin unter den Nazis schließlich verboten. Keine 1 300 Studenten hatte sie bis dahin gehabt. Paradoxerweise lässt sich die weltweite Wirkung des Bauhauses von der Katastrophe des Dritten Reiches nicht trennen. Denn durch das Verbot in Deutschland verstreuten sich ihre Anhänger über die Welt und legten im notgedrungenen Exil den Grundstein für den weltweiten Erfolg. Die Ideen des Bauhauses verbreiteten sich überall auf der Welt, in Amerika, in der Sowjetunion, in Polen, in Israel, in der Schweiz, in Japan und in Mexiko. Genau deshalb wird das Jubiläum international auch stark wahrgenommen werden. Im Bauhaus-Archiv in Berlin zählt man weitaus mehr ausländische als deutsche Besucher. Das wird sich 2019 natürlich noch einmal steigern, zumal wir ordentlich die Werbetrommel rühren wollen. Nun zu ein paar Punkten aus unserem Antrag. Ganz wichtig ist uns Kulturpolitikern von CDU/CSU und SPD, dass wir die notwendigen baulichen Voraussetzungen für das Jubiläumsjahr schaffen. Da ist auch schon viel passiert. In Berlin wird endlich der längst fällige Erweiterungsbau zum Bauhaus-Archiv entstehen. Der Bund hat dafür 28,1 Millionen Euro bereitgestellt. Das BauhausMuseum in Dessau wird der Bund mit 12,5 Millionen Euro kofinanzieren. Für den Neubau des Bauhaus-Museums in Weimar sind gut 11 Millionen Euro Bundesmittel geflossen. Aber auch die vielen kleinen Orte wie die May-Siedlung in Frankfurt, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, die Hochschule für Gestaltung in Ulm oder das Fagus-Werk in Alfeld, sie alle sollen den erwarteten Besucheranstürmen gerecht werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in Förderprogrammen zum Beispiel für den Städtebau oder den Denkmalschutz die UNESCO-Welterbestätten des Bauhauses in den nächsten Jahren angemessen zu behandeln. Aber wir wollen natürlich nicht nur bauen. Wir müssen das Jubiläum auch nutzen, um die überragende Wirkung des Bauhauses auf die Weltgeschichte innerhalb Deutschlands bekannter zu machen. Außerdem wollen wir ganz gezielt auch international für uns als Kulturnation, als Geburtsstätte des modernen Designs werben. Deshalb wollen wir eine breite Palette von Veranstaltungen und Bildungsangeboten im Vorhinein, aber auch und vor allem im Jahr 2019. Die Kulturstiftung des Bundes bekommt vom Bund immerhin 5 Millionen Euro zusätzlich, um das BauhausJubiläum mit Projekten zu begleiten. Koordiniert werden die Jubiläumsplanungen momentan aus den drei großen Bauhaus-Stätten Dessau, Weimar und Berlin. Alle Bundesländer, in denen eine Bauhaus-Stätte liegt, haben sich zu einem Bauhaus-Verbund zusammengeschlossen. Wir als Bundestag wünschen uns, dass es eine gesamtgesellschaftliche Initiative gibt, die dieses Jubiläum trägt. Inhaltlich werden auch Vermittler deutscher Kulturpolitik wie das Goethe-Institut oder auch die Deutsche Welle aufgefordert werden, an diesem Bauhaus-Jubiläum mitzuwirken. Natürlich soll ein Schwerpunkt auch in Bildung und Forschung gesetzt werden. Denn nicht jeder Schüler oder Student in Deutschland weiß, dass sein iPhone durch das Bauhaus beeinflusst wurde. Wenn es nach uns geht, weiß er es spätestens 2019. Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dass dieses Jubiläumsjahr zu einem Ereignis mit Strahlkraft wird, das sowohl national als auch international Ausstrahlung hat. Vielen Dank. ({1})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner in dieser Debatte erteile ich das Wort dem Abgeordneten Harald Petzold, Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004374, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich gebe der Kollegin Bertram völlig recht: Die Welt neu denken der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahr 2019 ist ein guter Einstieg in unsere kulturpolitischen Diskussionen in diesem Jahr. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen - die Welt neu denken -, können Sie mir einen vernünftigen Grund dafür nennen, warum Sie in dieses Denken nicht vorab auch die Oppositionsfraktionen einbezogen haben? ({0}) So wie Sie hier vorgehen, reklamieren Sie das Bauhaus quasi für sich selbst als eine kulturelle Angelegenheit mit Ursprung in den wenigen Jahren der Weimarer Demokratie. Für uns war das Bauhaus in seiner politischen Wirkung vor allem ein Ausdruck und eine Reaktion auf die schroffen sozialen Gegensätze. Deswegen ist sein kulturelles Erbe eines, das niemand für sich allein beanspruchen darf. ({1}) Deswegen sagen wir: Dieses 100-jährige Jubiläum, das Sie im Koalitionsvertrag zu Recht als ein Jubiläum von weltweiter Strahlkraft bezeichnen, ist eine Angelegenheit des ganzen Landes, des ganzen Volkes und demzufolge selbstverständlich auch aller im Bundestag vertretenen politischen Kräfte. Über welche Punkte sollten wir vielleicht noch einmal gemeinsam diskutieren? Grundsätzlich haben Sie beim Bauhaus-Jubiläum auf jeden Fall unsere Unterstützung. Ich habe den Antrag einem meiner Nachbarn zum Lesen gegeben. Er hat ihn sich angesehen und mich danach gefragt: Warum redet ihr im Bundestag über Baumärkte? Ich fragte Ihn: „Wie kommen Sie denn darauf?“, und er antwortete: Na, hier steht doch „Exportartikel“. ({2}) Genau, wir sollten das Bauhaus nicht auf einen kulturellen Exportartikel reduzieren. ({3}) Die Kollegin Bertram hat hier völlig richtig Walter Gropius als Beispiel genannt. Für Gropius war Bauen und vor allen Dingen der Wohnungsbau eine zutiefst soziale Aufgabe. Es ging ihm um bessere Lebensverhältnisse für alle. Deswegen, denke ich, müssen diese Ideen - wir haben mit der Siemensstadt ein Beispiel vor der Haustür - eigentlich einen viel größeren Stellenwert in unserer Würdigung des Bauhaus-Jubiläums einnehmen. ({4}) Wenn wir die Bedeutung der Ideen und Inhalte des Bauhauses für unsere heutige Gesellschaft stärker in den Vordergrund rücken wollen, dann müssen wir auch die unterschiedlichen Ideen und Strömungen, für die seine Leiter und die Akteure stehen, stärker herausarbeiten und öffentlich würdigen. Dann werden Sie auch nicht umhin kommen, neben Walter Gropius und neben Ludwig Mies van der Rohe auch den zweiten Bauhausdirektor stärker zu berücksichtigen und zu würdigen: Hannes Meyer. Seine Ideen und Bauwerke wurden viel zu lange totgeschwiegen und sind nahezu vergessen. Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass der überzeugte Sozialist Meyer für das Bauhaus die Losung „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ ausgegeben hatte, oder damit, dass er - im Gegensatz zu den teuren iPhones von heute - erschwingliche Bauhaus-Produkte für alle wollte, oder damit, dass er darüber hinaus einen wissenschaftlich fundierten Unterricht und das Kooperationsprinzip propagierte, die Idee einer kollektiven und kooperativen Gestaltung. Das ist in einer Zeit, in der Individualismus zum Heiligen Gral gesellschaftlichen Zusammenlebens erklärt wird, natürlich nicht beliebt. Folglich muss unserer Meinung nach sowohl in dem vorliegenden Antrag als auch in dem Drehbuch für das 100-jährige Bauhaus-Jubiläum der Person Hannes Meyers und insbesondere dem von ihm entworfenen Bau der ehemaligen Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau, meinem Betreuungswahlkreis, eine viel größere Bedeutung beigemessen werden. Bisher kommt das nur am Rande vor. ({5}) Ich denke, wir brauchen für die Bauvorhaben in Berlin und Dessau konkrete und abrechenbare Zeit- und Maßnahmeschienen. Die späte Bewilligung der Bundesgelder birgt nach unserer Auffassung die Gefahr in sich, dass die Häuser nicht rechtzeitig bis 2019 fertiggestellt werden. Meine Damen und Herren, „die Welt neu denken“ ist ein wunderbarer Anspruch, sowohl zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum als auch in unserer heutigen Zeit. Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Lassen Sie uns das gemeinsam umsetzen und tatsächlich einen Antrag aller Fraktionen auf den Weg bringen! Der Kollege Kühn hat diesen Vorschlag in der Ausschussberatung mit den Vertretern des Bauhaus-Verbundes deutlich formuliert. Ich finde, diese Idee ist unbedingt zu unterstützen. Vielen Dank. ({6})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bauhaus-Idee gehört zu den großen und nachhaltigen kulturellen Impulsen, die von unserem Land ausgingen. Wie bereits erwähnt, in kurzen Zügen: 1919 von Walter Gropius als Kunstschule in Weimar gegründet, 1925 nach Dessau gezogen und 1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlossen, prägen seine innovativen Gestaltungsansätze noch heute. Im Nationalsozialismus galten viele Entwürfe der Bauhaus-Gestalter als „entartet“. Bauhäusler mussten emigrieren. Besonders der linksgerichtete, avantgardistische Lebensstil der Bauhaus-Anhänger war es, der den Nazis übel aufstieß: Am Bauhaus Frauen in Hosen? Ein Unding im reaktionären Bild der NSDAP. Das brutale Aus der deutschen Bauhaus-Bewegung multiplizierte die Bauhaus-Idee und trug sie in viele Länder. Bauhaus-Protagonisten emigrierten in die USA, zum Beispiel Josef Albers, aber auch in die Sowjetunion wie Hannes Meyer oder ins heutige Israel wie Arieh Sharon. Aus der Bauhaus-Philosophie abgeleitet entwickelten sich dort neue Architektur-, aber auch Produktund Kommunikationsdesignstile. Doch - auch das muss ein wichtiger Blickpunkt sein das Bauhaus-Konzept hat auch in unserem Land Maßstäbe für Stadtentwicklung und Architektur gesetzt und vor allem die soziale Dimension des Bauens akzentuiert. Ein Element hier in Berlin wurde schon genannt: Es gibt insgesamt sechs Siedlungen der Moderne, die seit 2008 als Weltkulturerbe in dieser Stadt zu besichtigen sind. Im Design war es der Wille, Möbel und Gebrauchsgegenstände als Werkzeuge für alle zu bauen. Dahinter lag eine zutiefst soziale Idee: den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu rücken. Viele Bauhaus-Erfindungen wie zum Beispiel die Einbauküche erweisen sich bis heute als funktional. Die WagenfeldLeuchte steht international als Symbol für gutes Design. Auch im parlamentarischen Komplex finden wir gelegentlich Möbel im Stil der Bauhaus-Ästhetik. Die Bauhaus-Schule verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. Es ging nicht nur um Design, Kunst und Architektur. Ebenso wichtig war der pädagogische Zugang zu diesen Künsten und Objekten. Als Walter Gropius 1919 in Weimar das Staatliche Bauhaus eröffnete, verkündete er: Als Lehrling aufgenommen wird jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren Begabung und Vorbildung vom Meisterrat als ausreichend erachtet wird. Damals revolutionär - ist das heute selbstverständlich? Es bleibt eine Herausforderung, auf Begabung zu achten. Die Reformpädagogik des Bauhauses entwickelte somit neue Methoden, begabte Menschen zu künstlerischkulturell-ästhetischem Handeln zu befähigen. Diese Konzepte sind bis heute ungebrochen aktuell und sollen deshalb beim Jubiläum einen besonderen Raum entfalten. Es gibt Elemente, die jetzt schon reifen, zum Beispiel mobile Module des Fliegenden Klassenzimmers, um in die Pädagogik der unterschiedlichen Schulstufen einzufließen, Forschungsvorhaben, die sich dem großen Thema „Kreativität und Pädagogik“ widmen. Die drei Länder mit Bauhaus-Einrichtungen - Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin - haben sich bereits 2012 mit einigen anderen Bundesländern zum „Bauhausverbund 2019“ zusammengeschlossen. Dieser Verbund wird die Aufgabe haben, das Jubiläum vorzubereiten, weiter reifen zu lassen. Klar ist, dass mit den bereitgestellten Mitteln - Gott sei Dank im Haushalt 2015 deutlich markiert - die Kernstandorte der Bauhaus-Tradition gestärkt werden; aber auch außerhalb der Zentren von Weimar, Dessau und Berlin finden wir Bauhaus-Zeugnisse. Kollegin Bertram hat vorhin auf das Fagus-Werk in Alfeld aufmerksam gemacht. Ich erinnere zum Beispiel an die Dammerstock-Siedlung in Karlsruhe, an die Häuser „Lange“ und „Esters“ und, ähnlich wie in Alfeld, den VerSeidAGKomplex in meiner Heimat in Krefeld oder an die Bauten „Experimentierfeld modernen Bauens“ in Hagen überall markante Zeugnisse der Bauhaus-Tradition. Unser Antrag nimmt deshalb die bedeutenden Bauten des Bauhauses außerhalb der Museumsstandorte mit in den Blick. Bereits im Vorfeld des Jubiläums sollen auch dort Ausstellungen, Bildungs- und Forschungsprojekte das kulturelle Erbe des Bauhauses herausstellen und in Erinnerung rufen. Denkmalschutzprogramme können Möglichkeiten bieten, marode, leidende Substanz auf Vordermann zu bringen, sodass im Jahre 2019 alles im besten Licht erscheint. Eben deshalb ist es wichtig, dass die Bund-Länder-Kooperation, aber auch die Kooperation mit den Bauherren und Eigentümern reift, intensiviert wird: damit wir zu einer gemeinsamen Anstrengung kommen. „Die Welt neu denken“, unter diesem Motto wird es ab diesem Jahr ein umfangreiches gemeinsames Programm geben, das auf das Jubiläum hinläuft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Antrag will die Regierungskoalition all dies rechtzeitig akzentuieren und den Blick auf das außergewöhnliche Jahr 2019 lenken. Es ist, Herr Petzold, in der Tat auch eine Einladung an die Opposition, gemeinsam darüber nachzudenken, wie dieser Antrag, den ich schon für hervorragend halte, möglicherweise noch reifen kann. Sie sind herzlich eingeladen, sich an diesem Wettbewerb zu beteiligen, sodass wir dann hinterher gemeinsam als Parlament diesen Weg gehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freundinnen und Freunde des Bauhauses! 1919 hielt in Deutschland die Moderne Einzug: Bei der Wahl zur Nationalversammlung durften erstmals Frauen wählen und gewählt werden. Die Weimarer Nationalversammlung Christian Kühn ({0}) gab Deutschland eine parlamentarische, demokratische Verfassung. In Weimar gründete Walter Gropius das Staatliche Bauhaus; das war sozusagen der künstlerische Aufbruch Deutschlands in die Moderne. Der Bauhaus-Stil ist bis heute, ins 21. Jahrhundert hinein, ungemein modern, schön, zeitlos und attraktiv. Das Bauhaus ist bis heute mehr als eine hippe Stilrichtung es ist ein Wegweiser in die Zukunft, ein humanistischer Ansatz für den Alltag. Die Verbindung von Ästhetik und Praxis, die das Bauhaus verkörpert, ist Kunst, die wir alle im Alltag erleben können. Das Bauhaus steht für Einfachheit, Schönheit, Funktionalität, die allen Menschen zugänglich sein soll. Der Zugang zur BauhausSchule war eben nicht abhängig von der sozialen Schicht oder dem Geldbeutel der Eltern, sondern allein von der Begabung; auch das ist ein Fingerzeig dafür, wie wir Bildungspolitik und Kulturpolitik betreiben sollten. ({1}) Das Bauhaus war Vorreiter für Feminismus und soziale Gerechtigkeit, und mit dem Neuen Bauen sollten Räume für souveräne Bürgerinnen und Bürger der neuen demokratischen Gesellschaft geschaffen werden. Das Bauhaus sorgte auch für sozialen Wohnungsbau. Auch das ist ein Fingerzeig in unsere heutigen Tage hinein. ({2}) Beispiele für entsprechende Siedlungen in meinem Bundesland sind der Weißenhof und der Dammerstock in Karlsruhe. Das Bauhaus hat bis heute unzweifelhaft Einfluss darauf, wie wir wohnen und wie unsere Wohnungen gestaltet sind. Im 21. Jahrhundert ist das Bauhaus-Design allgegenwärtig - und das eben nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das Bauhaus wurde durch die NS-Diktatur gezwungen, seine Aktivitäten ins Ausland zu verlagern. Die Nazis konnten die Bauhaus-Schule zwar schließen, aber sie konnten den Geist des Bauhauses nicht auslöschen und nicht brechen. Die Ideen des Bauhauses wurden von den Lehrenden in die ganze Welt getragen: zum Beispiel nach Tel Aviv - ich denke hier an die Weiße Stadt - oder auch in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Architektur des modernen Amerika maßgeblich vom Bauhaus geprägt wurde. 2019 feiern also nicht nur die Menschen in Dessau, Weimar und Berlin das Bauhaus, sondern die Menschen auf der ganzen Welt - in Israel, in den USA, in China, in Australien und auch in Brasilien. Deshalb ist es wichtig, dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur als ein deutsches Jubiläum begreifen, sondern den internationalen Charakter mit all unseren Aktivitäten betonen. ({3}) Gleichwohl müssen wir dieses Bauhaus-Jubiläum als ein Jubiläum nationalen Ranges begreifen. Deshalb wünsche ich mir, dass der Bauhausverbund 2019 weiter wächst und dass alle 16 Bundesländer daran teilhaben; denn in allen Bundesländern gibt es Architekturschulen, Designschulen und Orte, an denen das Bauhaus gewirkt hat. Ich finde, deswegen sollten sich alle 16 Bundesländer zusammenschließen, damit es wirklich ein Jubiläum der ganzen deutschen Nation wird und das Bauhaus in ganz Deutschland seinen Platz hat. ({4}) Es wurde hier schon betont, dass es die Bedeutung des Bauhaus-Jubiläums unterstrichen hätte, wenn wir heute einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten. ({5}) Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen haben die Bedeutung dieses Jubiläums herausgestellt. Ich hätte es aber schön gefunden, wenn wir hier gemeinsam - alle vier Fraktionen dieses Hauses - einen überfraktionellen Antrag eingebracht hätten. Ich finde, die Kulturpolitik und das Bauhaus-Jubiläum eignen sich nicht für parteipolitische Spiele. Deswegen ist es schade, dass wir es im Kulturausschuss nicht geschafft haben, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Dennoch geht Ihr Antrag in die richtige Richtung. Ich bin mir aber sicher: Wenn wir daran mitgewirkt hätten, dann wäre er an der einen oder anderen Stelle noch ein bisschen besser geworden. ({6}) Nichtsdestotrotz freuen wir uns darüber, dass der Haushaltsausschuss die finanzielle Grundlage für die baulichen Voraussetzungen bei den drei Bauhaus-Einrichtungen geschaffen hat. Damit enden aber eben nicht die Aufgaben, die wir hier haben. Gebäude allein gestalten noch kein Jubiläum. Wir brauchen eine Koordination. Deswegen muss hier im Hause jetzt schnell - auch gemeinsam - darauf hingewirkt werden, dass es eine zentrale Geschäftsstelle für den Bauhausverbund 2019 gibt. Es ist dafür zu sorgen, dass die drei Geschäftsstellen in Dessau, Weimar und Berlin mit dieser internationalen Mammutaufgabe nicht alleingelassen werden. ({7}) Wir müssen unsere Bauhaus-Aktivitäten international ausrichten. Gerade dieser Punkt ist mir in dem Antrag zu kurz gekommen. Wir brauchen auch mehr Werbemaßnahmen jenseits der Deutschen Welle. Wir müssen unsere internationale Kulturpolitik für 2019 auch auf dieses Bauhaus-Jubiläum in Gänze ausrichten. Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist ganz elementar, dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur dafür nutzen, ein schönes Jubiläum zu feiern und des Bauhauses zu gedenken, sondern auch, um die Institutionen, die das Christian Kühn ({8}) Bauhaus bis heute tragen, über das Jahr 2019 hinaus nachhaltig zu stärken; denn nach 100 Jahren Bauhaus müssen weitere 100 Jahre Bauhaus folgen. Dafür will ich werben, damit die Idee des Bauhauses auch in den nächsten 100 Jahren weiter um diesen Globus kreist. Danke schön. ({9})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Ulrich Petzold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich in meinen Kindertagen das erste Mal vor dem Bauhaus in Dessau stand, war ich doch etwas irritiert. Das sollte etwas Besonderes sein? So sahen doch alle wirklich modernen und neuen Gebäude aus. Ja, selbstverständlich hatte sich innerhalb von nicht einmal 50 Jahren der Stil der Bauhaus-Künstler gegen den Gigantomanismus des Nationalsozialismus und gegen den Zuckerbäckerstil des Stalinismus durchgesetzt. Doch eigentlich war das Bauhaus in seiner Struktur kaum noch zu erkennen, insbesondere die Meisterhäuser in Dessau nicht. Wir hatten nach 1990 richtig viel zu tun, um die Schönheit dieser Struktur wiederherzustellen. Wir haben es trotz der Überbauung geschafft. Ich glaube, dass uns das Bauhaus zeigt, was mit geringem Aufwand alles errichtet und wie mit wenig Material ausgekommen werden kann. Das ist etwas Beispielgebendes, etwas sehr Schönes. Das Bauhaus ist und war aber mehr als einfaches und sparsames Bauen. Es war mehr als effizientes und zeitloses Bauen. Das Bauhaus - das wurde vorhin schon erwähnt - war und ist mehr als Architektur und Design. Das Bauhaus ist eine Idee. Für diese Idee fand sich 1925 in der aufstrebenden Industrie- und Kulturstadt Dessau der ideale Nährboden, sodass sich das Bauhaus, das sich ganz bewusst Werkstatt und nicht Schule oder Universität nannte, in diesem liberalen Klima ansiedeln konnte. Internationalität und Gleichberechtigung der Geschlechter waren in Dessau nie eine Frage und könnten vielleicht auch gerade in dem aufgeregten Klima unserer heutigen Diskussion über den Islam beispielgebend sein. In Diktaturen und Unrechtssystemen ist für die Ideen des Bauhauses kein Raum. Vorhin wurde an Hannes Meyer erinnert. Nach einigen Jahren in Moskau ist er 1936 wieder geflüchtet. Man muss also immer das Ganze betrachten. Das Bauhaus und seine Idee sind Teil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sein Jahrestag ist und kann für uns ein Grund sein, uns selbst zu hinterfragen. Bereits das Jubiläum „90 Jahre Bauhaus“ wurde 2009 in einem würdigen Rahmen begangen, das uns jedoch auch deutlich machte, dass die Zusammenarbeit der wichtigsten Bauhaus-Stätten Berlin, Dessau und Weimar zu wünschen übrig ließ. Dass jetzt das Jubiläum 2019 in Zusammenarbeit der Länder und Bauhaus-Einrichtungen in einem Bauhausverbund vorbereitet wird, verbessert die Möglichkeit des Bundes, sich effektiv einzubringen. So ist es, nachdem sich Berlin und Sachsen-Anhalt mit der Stadt Dessau auch finanziell zu ihrer Verantwortung bekannt haben, dem Bund möglich, das Bauhaus-Archiv in Berlin und ein Bauhaus-Museum in Dessau mit Millionenbeträgen zu fördern. Wenn ich mich ganz besonders für die Unterstützung für Dessau bedanke, möge man mir das als Landeskind und Wahlkreisabgeordnetem bitte nachsehen. Unserer Staatsministerin Frau Professor Grütters bin ich sehr dankbar, dass sie, solange bei den Städten und Ländern Unklarheiten bestanden, durch einen Leertitel im Haushalt alle Möglichkeiten offengehalten hat. Besondere Verdienste, gerade für das Museum in Dessau, haben sich aber unsere Haushälter Rüdiger Kruse und Johannes Kahrs erworben, die im Haushaltsausschuss den Leertitel mit der erforderlichen Summe von 12,5 Millionen Euro gefüllt haben. Auch die Landesregierung Sachsen-Anhalt und der Stadtrat Dessau haben mit wegweisenden Haushaltsbeschlüssen und auch Standortbeschlüssen letztendlich den Knoten durchgeschlagen. Doch ich hoffe auch auf einen Beitrag des Ministeriums für Umwelt und Bau, das Jubiläum „100 Jahre Bauhaus“ zu nutzen, um für das Bauhaus neue wegweisende Maßstäbe zu setzen. Der Erweiterungsbau des Umweltbundesamtes in Dessau ist als Plus-EnergieBürogebäude vorgesehen, das erste Plus-Energie-Bürogebäude der Welt. Die Idee des Bauhauses, Komfort und Ressourceneffizienz zusammenzubringen, kann hier vervollkommnet werden. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir mit einem solchen Bau nicht nur auf die Vergangenheit blicken, wenn wir den 100. Jahrestag der Bauhaus-Gründung begehen, sondern etwas Neues und Zukunftsgerichtetes schaffen. Ich glaube, dann würden wir diesen Jahrestag auf eine wirklich gute Weise feiern. Danke schön. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Michelle Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Michelle Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004359, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag würdigen wir die Leistung und die Strahlkraft eines einzigartigen künstlerischen Werkes. Wir tun dies im Plenum des Deutschen Bundestages, weil die Bauhaus-Schule Kultur und Gesellschaft bis heute weltweit beeinflusst. Das haben die Kolleginnen und Kollegen gerade schon jeder für sich und für uns allgemein formuliert. Wir tun das, weil das Bauhaus mehr ist als zeitloses, nüchternes Design und auch mehr als ein feststehendes Regelwerk von Form und Farbe. Wenn ich jetzt wie meine Vorrednerin und Vorredner versuche, die Idee des Bauhauses zusammenzufassen, dann will ich es so formulieren: Das Bauhaus ist die Idee, menschliche Grundbedürfnisse über die der Wirtschaft und der Industrie zu stellen. ({0}) Das Bauhaus ist eine Kunst, die humanistischen Prinzipien folgt, und es ist sicherlich auch eine Haltung. Deswegen wurden seine Künstler, Architekten, Maler und Bildhauer von den Nazis verfolgt; denn jede Diktatur, jedes totalitäre System, fürchtet die mächtige Kraft von Kunst und Kultur. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, fördern sie. Wir investieren: in Frieden und Kooperation, in die Freiheit der Kunst, in die Gleichwertigkeit der Menschen und in eine offene, moderne Gesellschaft. Auch die Nazis haben es nicht vermocht, das dauerhaft auszulöschen. ({1}) Eines der wohl stärksten Symbole hierfür ist die Weiße Stadt, die White City - Kollege Kühn hat es gerade angesprochen -, in Tel Aviv in Israel. Es ist die weltweit größte Ansammlung von Häusern im Bauhaus-Stil. Mitten im modernen Tel Aviv stehen rund 4 000 solcher Gebäude. Seit 2003 sind sie als einzigartiges Phänomen moderner Architekturgeschichte Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Als Vertreterin im Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ will ich das besonders hervorheben. Denn die Bundesregierung hat erst vor einigen Wochen beschlossen, dabei zu helfen, dieses Kulturgut zu erhalten. ({2}) - Das ist in der Tat einen Applaus wert. Wer von Ihnen schon einmal dort war, weiß, welche Geschichte sich hinter den zerfallenen Fassaden und grau verfärbten Wänden verbirgt und welche Bedeutung diese Gebäude für die deutsch-israelischen Beziehungen haben. Viele der Baumaterialien, mit denen die Häuser gebaut wurden, sind nämlich von den verfolgten Juden selbst mitgebracht worden. Die Ausfuhr von Bargeld hatten die Nazis mit hohen Zöllen belegt, damit aus der Verfolgung und der Flucht von jüdischen Menschen auf perfide Weise noch ein zusätzlicher Profit geschlagen werden konnte. In Tel Aviv wollte man hingegen eine Stadt aus neuer Sachlichkeit und einer offenen Gesellschaft bauen, wie es das Bauhaus lehrte: flache Dächer, Balkone, Gärten, die eine Begegnung zwischen Menschen möglich machten. Daran soll sich auch die Sanierung orientieren. Zum deutsch-israelischen Projekt wird die White City aber auch, weil wir dabei mit deutschen Produkten, Fachwissen und Handwerkskunst gefragt sind. Partner wie die Industrie- und Handelskammer, Bauhaus-Institutionen und Universitäten sollen ihre Kompetenzen dazu beisteuern. Mit dem Max-Liebling-Haus stellt die Stadt Tel Aviv zudem ein Gebäude zur Verfügung, in dem ein lebendiger Austausch zwischen Handwerkern, Restauratoren und Künstlern entstehen soll. Übrigens hat das Bauhaus nie einen Unterschied zwischen Handwerkern und Künstlern gemacht. Das Bauhaus hat sich am griechischen Begriff „Kali Technis“, dem „guten Handwerker“, orientiert. Ich wünsche mir, dass in diesem Sinne Räume für junge Menschen aus Handwerk und Kunst entstehen, die sich dort begegnen können. ({3}) Im Sinne dieser Entstehungsgeschichte, aber gerade auch deshalb, weil wir in diesem Jahr 50 Jahre diplomatische Beziehungen mit Israel feiern, freut es mich, dass das BMU kurz vor Weihnachten beschlossen hat, das Ganze zu fördern. Ich danke der Deutsch-Israelischen Gesellschaft dafür, dass sie uns vorangetrieben hat, Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf dieses gute Stück Kulturpolitik aufmerksam zu machen, und nicht zuletzt den Haushältern, die sich dafür eingesetzt haben. Ich komme zum Schluss. Wenngleich die lebendige Tradition der vielleicht wichtigsten Designschule mit der Vertreibung seiner kühnsten Protagonisten in Deutschland unwiderruflich abgeschnitten wurde, rufen wir uns doch in Erinnerung, was das Bauhaus-Archiv selbst formuliert: „Das Bauhaus gehört der Welt, aber es kommt aus Deutschland.“ So beginnen wir das Jubiläum im Jahr 2019. Herzlichen Dank. ({4})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Freudenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In vier Jahren feiert das Bauhaus einen runden Geburtstag, seinen 100. Der vorliegende Antrag stellt sozusagen die Planung für die Geburtstagsfeier dar. Die Planung ist ausgesprochen gut. Wir alle gemeinsam können uns auf das Bauhaus-Jahr 2019 freuen. Die Idee des Bauhauses markierte damals zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Umbruch in Architektur, Kunst und Design. Das Bauhaus markierte damals auch einen Aufbruch, gesellschaftlich, kulturell und politisch. Woran erkannte man diesen künstlerischen und architektonischen Aufbruch? Im Manifest für das staatliche Bauhaus schreibt Walter Gropius 1919 wörtlich von den alten Kunstschulen, die es nicht vermochten, Handwerk und Kunst zu vereinen. Er erteilte der alten Salonkunst eine klare Absage und appellierte an Bauherren, Künstler, Bildhauer und Maler, zum Handwerk zurückzukehren und das Trennende zwischen Kunst und Handwerk einzureißen. Die Produkte dieser Ideen kennen wir. Auf den schwarzen Freischwingerstühlen verbringen wir heute noch viele Konferenzstunden. Der Tisch aus Eschenholz aus der Feder von Mies van der Rohe ist noch heute in Design und Funktion nahezu unschlagbar. Wenn ich heute durch die Gebäude des Bundestages unterirdisch gehe, dann erinnert mich die Sichtbarkeit des Konstruktiven an die Ideen der großen Meister der 20er-Jahre. Dieser Umbruch des Gestalterischen ging natürlich einher mit einem gesellschaftlichen Aufbruch, weg von den Schlössern, den Palästen und den Burgen. Die Architektur des Bauhauses öffnete die Räume, ließ Licht herein und schuf Transparenz. Es war kein Zufall, dass das in der Weimarer Republik geschah. Das Bauhaus ebnete auch den Weg hin zu einer Demokratisierung des Bauens. Wer in einem Gebäude arbeitete, wurde nicht mehr in dunkle Kammern abgeschoben. Er bekam den Raum, den er für seine Tätigkeit brauchte. Diese Zweckmäßigkeit der Form ist noch heute für uns Standard beim Bauen. Dass die architektonische und die gestalterische Avantgarde jener Zeit nach Deutschland kam, kann uns meiner Meinung nach noch heute ein bisschen stolz machen. Deutschland, das Land der Dichter, der Denker und auch der Designer, daran sollten wir anknüpfen. ({0}) Auch wenn die Versuchung groß ist, sollten wir uns davor hüten, das Bauhaus auf eine deutsche Errungenschaft zu reduzieren. Studenten aus aller Welt kamen zum Bauhaus. Die Schule stand für Weltoffenheit. Man verständigte sich zunächst nur über die gemeinsame Sprache des guten Designs. Das Bauhaus verstand sich als modern, offen und tolerant, Werte, von denen wir gerade in diesen Tagen erfahren müssen, dass sie nicht selbstverständlich sind und immer wieder verteidigt werden müssen. ({1}) Es ist daher kein Wunder, dass es die Nationalsozialisten waren, die dieser Bewegung ein jähes Ende setzten. Dass Weimar, Dessau und Berlin die Zentren des Bauhaus-Jahres sein werden, haben meine Vorredner schon erwähnt. Dennoch gibt es auf der ganzen Welt Zeugnisse von dem, was Kreative in den 20er-Jahren hier in Deutschland begründeten, Zeugnisse, die nicht unbedingt in Stahl und Beton gegossen sein müssen, sondern vor allem im kulturellen und gestalterischen Gedächtnis bis heute wirken. So wie meine Vorrednerinnen und Vorredner Beispiele genannt haben, möchte ich natürlich darauf hinweisen, dass es auch in Bayern echte Bauhäuser gibt. Walter Gropius schuf beispielsweise im Auftrag der Porzellanfirma Thomas in Amberg in der Oberpfalz mit der sogenannten Glasmacherkathedrale sein letztes Meisterwerk des modernen Funktionalismus. Er selbst konnte die Fertigstellung 1970 nicht mehr erleben, aber das Gebäude ist bis heute als Kristallglasmanufaktur in Betrieb. Selbstverständlich leistet auch die CSU ihren Beitrag zur allgemeinen Bauhaus-Freude. Meine Partei verkauft - Sie haben es in diesen Tagen in den Zeitungen lesen können - ihre Parteizentrale in der Nymphenburger Straße und kauft ein neues Gebäude. Wir nennen das unser Vereinsheim. Wenn Sie uns da einmal besuchen wollen, können Sie sich schon einmal die Adresse notieren. Die CSU residiert künftig in der Mies-van-der-RoheStraße Nummer 1. Herzlichen Dank. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3727 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe ab 2016 Drucksache 18/3415 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1}) Haushaltsausschuss Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre hierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({2})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Über die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe diskutieren wir schon länger. In den Bundestagswahlkämpfen der vergangenen Jahre hat die Forderung immer wieder eine Rolle gespielt. Es gibt keine Veranstaltung, in der dieses Thema nicht genannt wird, entweder von der Landwirt7572 schaft oder von Gartenbaubetrieben oder auch von Baumschulen. Das allein wäre aber natürlich noch kein Grund für die Linke, diesen Antrag heute hier einzubringen. Wir sind relativ unverdächtig, die Positionen des DBV einfach so zu übernehmen, schon gar nicht unkritisch. Aber so, wie ich sonst unterschiedliche Positionen zu denen des Deutschen Bauernverbandes sehr deutlich benenne, so muss ich ihn unterstützen, wenn er einmal recht hat. ({0}) Dazu gehört eben die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe. Dabei geht es nicht um ein Rundum-sorglos-Paket, wie immer unterstellt wird, sondern einfach nur um Hilfe zur Selbsthilfe. Ja, es geht auch um den Verzicht auf Steuereinnahmen. Deshalb ist es für die Linke besonders wichtig, zu begründen, warum das trotzdem im Sinne des Gemeinwohls notwendig ist, und, ja, wir schaffen damit für die Landwirtschaft eine Sonderrolle; aber auch das möchte ich gerne begründen. Uns sind die Ernährungssicherung und die Ernährungssouveränität eben nicht nur im globalen Süden sehr wichtig, sondern auch im eigenen Land. Deshalb hat die Existenzsicherung der einheimischen Landwirtschaft für uns einen hohen gesellschaftlichen Wert. Es geht uns dabei um die Sicherung der Versorgung in den Regionen durch die Landwirtschaft und damit um Gemeinwohlinteressen. ({1}) Das ist übrigens der linke Plan B als Gegenentwurf zur aktuellen Agrarpolitik, der die Landwirtschaft vor allem als Zulieferer für den Agrarmarkt wettbewerbsfähig machen will. Genau das ist nicht unser Leitbild. Zur Sonderrolle der Landwirtschaft: Die landwirtschaftliche Erzeugung ist neuen Risiken ausgesetzt, die die Betriebe selbst kaum beeinflussen oder selbst mit hellseherischen Fähigkeiten kaum vorsorglich berücksichtigen können. So gibt es zum Beispiel völlig neue, neu eingeschleppte oder zurückkehrende Tierseuchen. Erinnern wir uns an das Schmallenberg-Virus, das ohne Vorwarnung zu hohen Verlusten in der Schaf- und Ziegenhaltung führte und bis dahin völlig unbekannt war. Man wusste überhaupt nicht, wie man damit umgehen sollte. Oder ich erinnere an die mysteriöse Bestandserkrankung, die chronischer Botulismus genannt wird. Wie sollen sich Betriebe davor schützen, wie sollen sie damit umgehen, wenn nicht einmal die Wissenschaft weiß, welche Ursachen die Krankheit hat! Hier wird Unterstützung gebraucht, auch deshalb, weil Tierseuchenkassen dieses Risiko nicht abdecken. Auch bei den Pflanzen lauern bisher völlig unbekannte Gefahren. Ich erinnere an die aus Asien eingeschleppte Kirschessigfliege - sie bereitet aktuell Obstund Weinbauern schlaflose Nächte - oder daran, dass der Eichenprozessionsspinner unterdessen die Eichen nicht nur kahlfrisst, sondern sie auch zum Absterben bringt. Da die Raupenhärchen ein gesundheitliches Risiko darstellen, kann man dieses Holz nicht einmal mehr verwerten. Ich denke, auch diese Last können wir den Betrieben nicht allein überlassen. ({2}) Auch der Klimawandel ist zu einem hohen betriebswirtschaftlichen Risiko geworden. Aktuell ist der Winter so milde, dass er Winterkulturen sogar schadet. Frost ohne Schnee ist ein Problem. Trockenheiten wechseln sich mit zu viel Wasser ab, entweder von oben oder von unten. Neue Sorten müssen getestet werden, weil bislang bewährte mit den neuen Bedingungen nicht klarkommen. Ich finde, auch das können wir den Betrieben nicht allein überlassen. ({3}) Einen dritten Risikobereich möchte ich benennen. Die Natur gibt der Landwirtschaft lange Produktionszyklen vor. Ein kurzfristiges Reagieren auf Preisachterbahnen auf dem Weltagrarmarkt ist kaum möglich. Wenn zum Beispiel eine Kuh trächtig ist, wird sie nach circa neun Monaten und neun Tagen ein Kalb zur Welt bringen und danach auch Milch geben, egal ob der Milchpreis gerade wieder einmal abstürzt oder nicht. ({4}) Oder wenn erst einmal eingesät ist, kann man das Saatgut nicht wieder ausbuddeln, wenn der Preis für das Erntegut gerade verfällt. Verschärft werden diese Preisschwankungen durch die spekulativen Wetten an der Börse auf Ernten, die noch nicht einmal eingesät sind. ({5}) Also, es gibt erhebliche Risiken für die landwirtschaftlichen Betriebe, die selbst vorsorglich handelnde Betriebe existenziell gefährden können. Ich finde, deswegen brauchen sie Unterstützung. ({6}) Es gibt aber immer wieder auch Phasen, in denen es besser läuft. Beispielsweise war 2014 für viele Milchbetriebe ein sehr gutes Jahr mit 25 Prozent Plus im Durchschnitt auf das Betriebsergebnis. Ackerbaubetriebe wiederum hatten ein Minus von 23 Prozent in ihren Büchern stehen. Unterdessen ist aber der Milchpreis wieder im absoluten Sinkflug. Genau das stellt uns doch vor die Frage: Helfen wir mit Steuergeldern aus, wenn wieder einmal eine Krisensituation ist? Oder verzichten wir auf einen kleinen Teil der Steuern in guten Jahren, damit die Betriebe für schlechte Jahre Vorsorge leisten können? ({7}) Wir finden, die zweite Variante ist wesentlich sinnvoller. Das finden nicht nur wir, sondern das findet sogar der grüne Landwirtschaftsminister in Baden-Württemberg, Herr Bonde. Die Union hat 2012 einen entsprechenden Parteitagsbeschluss gefasst. Ich meine, dann kann man das hier auch so beschließen. Vielen Dank. ({8})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Guten Abend, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Alles Gute noch für 2015, auch dem Präsidium. - Ein schönes Thema. Alle Jahre wieder kommt das Christuskind; alle Jahre wieder kommt rechtzeitig zur Grünen Woche ein von den Linken gestellter Antrag auf Ermöglichung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe. Letztes Mal haben wir die Redebeiträge dazu zu Protokoll gegeben; heute debattieren wir darüber. Das mache ich auch gern. Vielen Dank, Frau Tackmann, für das Verständnis, das Sie für die Situation der deutschen Landwirtschaft insgesamt gezeigt haben. Aber zur Sache. Welche Ausnahmen für die Landwirtschaft - das frage ich als aktiver Bauer - gibt es in der gesamten Gesetzgebung? Ich sage einmal mit allem Ernst: Ich bin schon über 20 Jahre Abgeordneter. Es ist selbstverständlich, dass wir in § 13 a Einkommensteuergesetz die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft pauschaliert haben. Erst vor einigen Monaten haben wir erneut beschlossen, dass die Kleinstbetriebe einen besonderen Schutz behalten. Wir haben diesen Schutz sogar noch verbessert. Wir haben auf der anderen Seite vor mehr als zwei Jahren in einer Nachtaktion, so könnte man sagen, gerade wegen Problemen wie Überflutung oder zu große Trockenheit Mehrgefahrenversicherungen zu Sonderkonditionen begünstigt. Ich könnte jetzt behaupten, dass ich dafür schubkarrenweise Dankesschreiben bekommen habe. Bei vielen wird das als etwas Selbstverständliches abgehakt. Ich verweise leidenschaftslos auf das, was unsere Politik draußen im Lande bewirkt hat. Zum eigentlichen Thema. Steuerberaterinnen oder Steuerberater wären die großen Gewinner bei einer Änderung in Ihrem Sinne, Frau Kollegin. Man müsste eine Bilanz fünf, sechs oder sieben Jahre offenhalten, bis man einen endgültigen Bescheid bekommt, weil man dann die 50 000, 70 000 oder 100 000 Euro, die man in die Rücklage eingezahlt hat, mit 6 Prozent Zinszuschlag pro Jahr versteuern muss. Das ist heute geltendes Recht. Dann möchte ich einmal die Gesichter derjenigen sehen, die dafür die Verantwortung tragen. Dabei muss man all die Ausnahmen sehen. Vor allem: Es geht um zwei Kalenderjahre. Die Erträge, die zu versteuern sind, werden auf zwei Wirtschaftsjahre gesplittet. Da könnte man überlegen: Bezieht man noch ein weiteres Jahr mit ein? Wenn man dann im Betrieb in die Schlussbesprechung mit dem Steuerberater geht, muss man überlegen: Wie war das denn vor 36 Monaten? Zum Thema Ansparabschreibung. Wir haben schon jetzt die Möglichkeit, bis zu 40 Prozent der Kosten eines Investitionsgutes, das erst in der Zukunft angeschafft wird, steuerwirksam zurückzustellen; die Beträge werden dann aufgebraucht. Zu diesem Thema, liebe Freunde, noch Folgendes: Der Antrag, dass man die strenge Zuordnung etwas lockert, wird in diesen Monaten mit Sicherheit noch einmal gestellt werden. Heute ist es so, dass ich sagen muss: Ich kaufe einen Schlepper. Der kostet 100 000 Euro. Ich soll für die Ansparrücklage womöglich auch noch die Marke nennen. Ich meine, es geht darum, zu erreichen, dass man den Betrieben da Freiheit lässt, sodass sie den Vorteil erhalten, egal was sie investieren, dass sie also nicht unbedingt den Mähdrescher kaufen müssen, der genannt worden ist, sondern auch einen Traktor kaufen können. Das ist derzeit zu eng gestrickt. Solche Öffnungsmöglichkeiten, die den Staat aktuell kein Geld kosten, sollte man schon wohlwollend prüfen. Dann haben wir in § 7 g Einkommensteuergesetz, wenn ich mich recht erinnere, eine Regelung zur Reinvestition, wenn man Land teuer verkauft. Derzeit ist das sehr eng gefasst; das kann man schon kritisch anmerken. Zu überlegen wäre, dass man die Mittel nicht zwingend in Grund und Boden anlegen muss, sondern vielleicht auch in Bauten oder Maschinen reinvestieren kann - allein schon aus dem folgenden Grund: Mainz ist meine Landeshauptstadt. Wenn dort in steigendem Maß Erlöse aus Landverkäufen reinvestiert werden müssen, ergehen Kaufgebote für Flächen in 10, 20 oder 40 Kilometer Entfernung und verteuern dort unnötig das Land, nur weil man gezwungen ist, um Steuern zu sparen, die Mittel wieder in Grund und Boden anzulegen. Das sind die Baustellen, die man in Angriff nehmen müsste. Zum Schluss der ganzen Debatte noch Folgendes: Das, was mir auch vom Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes schon jahrelang gesagt wurde, war Ausfluss der Debatten der Agrarpolitiker, um das ins Wahlprogramm der Union zu bekommen. Ich sage frank und frei: Ich habe schon immer gegen den Afghanistan-Einsatz gestimmt; das hat seine Gründe. Wenn ich von einer Sache nicht überzeugt bin, dann vertrete ich sie auch als Vizepräsident des Bauernverbandes nicht, selbst wenn man glaubt, man müsse mich dazu zwingen. Ich bin frei gewählter Abgeordneter. Das sagte ich auch meinem Präsidentenkollegen. Ich bin von dieser Sache nicht überzeugt, weil das Offenhalten einer Bilanz so viele Schwierigkeiten mit sich bringt und weil dieser ganze Wust damit verbunden ist. Es ist nicht praxisgerecht. Denken wir über die anderen Baustellen nach, die wir im Sinne der deutschen Landwirtschaft notwendigerweise angehen sollten! Was haben wir in den letzten Jahren alles steuerlich geschafft, und welches Ringen hatten wir auch beim Erbschaftsteuerrecht, um zu erreichen, dass beim Ertragswertverfahren die Landwirtschaft privilegiert, geschützt außen vor bleibt! Das war doch keine selbstverständliche Sache bei der Neiddebatte damals. Vielleicht hat auch mein Argumentieren im letzten Sommer beim Verfassungsgericht mit dazu beigetragen, dass das Urteil in Karlsruhe zum Ertragswertverfahren für alle Betriebe und die Industrie den Schutz der aktiven landwirtschaftlichen Betriebe berücksichtigt hat; das hatte einen besonderen Stellenwert in dem Urteil des Verfassungsgerichts. Das zeigt meine Grundeinstellung, unsere Grundeinstellung. Liebe Kameraden von den Linken, ({0}) dass Sie immer zur Grünen Woche diesen Antrag stellen, beeindruckt mich weiß Gott nicht. ({1}) Zufälligerweise zitieren Sie den Deutschen Bauernverband rauf und runter. ({2}) Davon war ich als Vizepräsident sehr angetan. Aber lassen wir es dabei! Hier stellt sich sofort auf der Basis des Gleichheitsgrundsatzes die Frage nach der Ungerechtigkeit: Was machen wir mit Skiliften in Tourismusgebieten? Was machen wir mit der Bauwirtschaft? Da ist man manchmal 8, 10 oder 14 Wochen genauso blockiert. Dann kommen immer mehr Ausnahmen. Dann kostet uns das nicht 1,5 oder 2 Milliarden Euro, wie berechnet,

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Herr Kollege.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- sondern dann kostet uns das in der Einführungszeit 6 bis 7 Milliarden Euro, und das bei dem großen haushaltspolitischen Ziel, das wir uns gegeben haben, nämlich Nullverschuldung. Von dieser Linie rücken wir nicht ab, auch nicht bei diesem Punkt. Danke schön. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher, die Sie gerade gehen! Es ist ja vielleicht auch eine nicht ganz so spannende Debatte. - Herr Schindler, bei der Einleitung zu Ihrer Rede musste ich ein bisschen schmunzeln. Da haben Sie Ihre Ablehnung mit den heute schon vorhandenen Ausnahmen und Besonderheiten zum Beispiel hinsichtlich Einkommensteuer oder Umsatzsteuer begründet. Ich erinnere mich gerade bezüglich der Umsatzsteuer, dass Brüssel uns darauf aufmerksam machen musste, dass Pferde im Wesentlichen nicht zum Verzehr genutzt werden, sondern als Reitpferde und zu anderen Zwecken, und deshalb für diese nicht mehr der verminderte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent infrage komme. Ich erinnere mich, dass Sie in einem sich daran anschließenden Berichterstattergespräch auf Holzrückepferde aufmerksam gemacht haben und dann auch noch durchgesetzt haben, dass der Verkauf dieser Pferde nach wie vor mit 7 Prozent besteuert wird. ({0}) Das ist ein Ausnahmetatbestand, zu dem ich sage: Ich hoffe, dass dann, wenn wir uns noch einmal mit dem Thema Umsatzsteuer befassen, ({1}) obwohl Ihre Fraktion da ja wirklich eine Verweigerungshaltung an den Tag legt, wenigstens Sie uns unterstützen, damit wir da endlich zu einer vernünftigen Regelung kommen. ({2}) Nur so viel dazu. Richtig ist, es bestehen Risiken. Diese haben Sie von der Linken benannt. Allerdings haben Sie Risiken benannt, die gar nichts mit dem Wetter zu tun haben. Sie haben TTIP angeführt, Sie haben die schwankenden Handelspreise aufgeführt. Richtig ist, man sollte Risikovorsorge betreiben. Eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage, wie die Fraktion Die Linke sie vorschlägt, ist allerdings, wie ich denke, weder sachgerecht noch ordnungspolitisch vertretbar. Warum? Wir haben einmal - Herr Schindler hat es erwähnt das Problem der Abgrenzung. Wie soll ich denn gegenüber dem Gastwirt im Bayerischen Wald, der im Moment sehr über einen verregneten Sommer und einen bisherigen Winter ohne Schnee stöhnt, begründen, dass er seine Einkommensverluste steuerlich nicht geltend machen kann, aber der Landwirt nebenan schon? ({3}) Wie soll ich die Abgrenzung zu den vielen Nebenerwerbslandwirten vornehmen oder denjenigen, die neben der Landwirtschaft auch noch andere Geschäfte betreiben? Ich sehe da vor meinem geistigen Auge den Finanzbeamten, der darüber entscheiden soll, welcher Betrag auf die Landwirtschaft entfällt und welcher Betrag aus anderen Geschäften kommt. Wie verhält es sich mit der Tatsache, dass immer dann, wenn steuerliche Entlastungen beschlossen werden, gerade die großen Betriebe die Nutznießer sind? Schon allein deshalb hat es mich gewundert, dass dieser Vorschlag aus den Reihen der Linken kommt. Wenn Sie nämlich eine solche steuerliche Maßnahme machen, können Sie sie nicht nur auf kleine und mittlere bäuerliche Betriebe begrenzen. ({4}) Es verhält sich so: Es gibt schon eine Reihe von Sonderkonditionen für die Landwirtschaft. Ich denke, wie schon erwähnt, an die Abrechnung der Umsatzsteuer auf Basis von Durchschnittssteuersätzen oder der pauschalisierten Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer. Da soll jetzt noch etwas draufgesetzt werden. Wenn dahinterstünde, dass Sie die Landwirtschaft zusätzlich fördern wollen - ich will nicht von Subvention sprechen -, dann wäre gerade das ein Grund, genau das nicht zu machen. Wir wollen nämlich, dass Förderungen transparent sind, dass wir ihre Wirkungen erkennen können und sie somit auch steuern können. Auch hier also ein falscher Ansatz. Lassen Sie mich an dieser Stelle klar sagen: Wenn wir die Landwirtschaft fördern, dann an der richtigen Stelle und nicht mit solchen Einzelfallregelungen, wie Sie sie hier vorschlagen. Es ist also ordnungspolitisch falsch, es ist sachlich falsch. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass wir bei der Debatte, die wir noch vor uns haben, jetzt hergehen und sagen: Wir wollen eine steuerrechtliche Sonderregelung schaffen. Lassen Sie mich noch etwas sagen, gerade vor dem Hintergrund, dass Sie die Risiken angeführt haben. Sie haben die Klimaveränderung angeführt, Sie haben, wie gesagt, TTIP angeführt. Sie haben die schwankenden Preise im Handel und auch im Bezug von Düngemitteln und anderen Materialien angeführt. Lassen Sie uns doch wirklich an den Ursachen ansetzen, und nicht an der Wirkung. Ich wünsche mir von der linken Seite und auch von der anderen Seite mehr Unterstützung für eine klare Zielsetzung in Richtung einer ökologischen Landwirtschaft. Dann haben Sie manche Probleme, von denen Sie hier sprechen, nicht mehr. ({5}) Wenn Sie das hinkriegen, dann sind Sie wirklich dabei, an der Basis Sicherheit herzustellen und Risiken zu verringern. ({6}) - Sie müssen an mehreren Schrauben drehen; das ist richtig. Aber die wichtigste Schraube ist - hier erwarte ich Ihre Unterstützung, die der CDU/CSU und auch die der Sozialdemokraten - eine vernünftige ökologische Landwirtschaft. Vielen Dank. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörer! Wir haben hier so etwas wie eine zweijährige Wiederholung eines Themas. So wie regelmäßig die Grüne Woche kommt, so kommt regelmäßig der Antrag der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für die Landwirtschaft - überraschenderweise nicht immer von den gleichen Leuten. Ich erinnere an einen Vorstoß der Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner im Jahr 2009. Sie hat das Thema besetzt, sich an Peer Steinbrück gewandt und ihn gebeten, doch darüber nachzudenken. Er hat darüber nachgedacht und hat es rundweg abgelehnt. Er hat es mit dem Argument abgelehnt: Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes - Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes bestehen keine hinreichend sachlichen Rechtfertigungsgründe für eine Risikoausgleichsrücklage. Da andere Branchen vergleichbar hohe Risiken eingehen oder gar stärkeren Marktschwankungen unterliegen - damals war es die Automobilwirtschaft; das war 2009 -, würde einzig die Land- und Forstwirtschaft steuerlich gefördert. Er wies darauf hin, dass wir - das wurde auch vom Kollegen Schindler angesprochen - eine ganze Menge besonderer Regelungen für die Land- und Forstwirtschaft haben. Sie bilanzieren nicht nach dem Kalenderjahr, sondern nach dem Wirtschaftsjahr; das heißt, sie können ihre Gewinne in zwei Rechnungsjahre aufspalten und haben dadurch gute Möglichkeiten, den Gewinn auf zwei Veranlagungszeiträume aufzuteilen. Das war 2009. Dann gab es 2012 einen neuen Vorstoß - diesmal von den Linken. Sie bezogen sich auf ein Gutachten. Das Gutachten ist vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Auftrag gegeben worden, fiel allerdings nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatten. Auch in diesem Gutachten wird die Rücklage komplett abgelehnt, weil sie keine wirkliche Entlastung erreicht, da die Steuerzahlung lediglich in die Zukunft verschoben wird. Das ist genau der Punkt. Sie haben die ganze Zeit gesagt, Sie wollen die Landwirtschaft unterstützen, Sie wollen sie fördern, Sie wollen Ernährungssicherheit herstellen. In Wirklichkeit wird allerdings nur eine Steuerzahlung in die Zukunft verschoben und keine Subvention geleistet. Das muss man immer im Kopf haben. Damals haben Sie davon gesprochen, dass es darum geht, 35 Millionen Euro an die Landwirte zu verteilen. Diesmal steht in Ihrem Antrag kein Finanzvolumen. Ich weiß nicht, ob das Ganze inzwischen nichts mehr kostet. Oder wie haben Sie sich das vorgestellt? Sie haben jetzt einen neuen Antrag eingebracht. Er ist inhaltlich fast gleich, allerdings sind beachtliche neue Risiken der Landwirte dazugekommen. Neben dem Klimawandel - vor zwei Jahren gab es ihn so noch nicht, er hat sich verstärkt - und der afrikanischen Schweinepest - sie gab es vor zwei Jahren auch noch nicht - sind die Risiken von TTIP und die Folgen des russischen Importstopps ({0}) in der Begründung für die Ausgleichsrücklage hinzugekommen. Normalerweise ist es für die Landwirte immer etwas risikoreich, ihrem Betrieb nachzugehen. Klima gab es schon immer. ({1}) Auch Tierseuchen gab es schon immer, und es gab schon immer irgendwelche Handelsabkommen. Es mag sein, dass wir jetzt vielleicht neue Erreger haben, aber wir haben auch neue Impfstoffe. Ich glaube, das gleicht sich aus. Fälle von Infektionen mit dem Blauzungen- und dem Schmallenberg-Virus ziehen sich durch die letzten Jahre - das stimmt -; aber da hilft keine Steuererleichterung. Die Viren werden weiterhin auftauchen, unabhängig davon, ob die Landwirte Geld haben oder nicht. Wie stark die Landwirte davon betroffen sind, hängt natürlich von der Art des Betriebes ab. Auch dafür haben Sie keine Lösung. Sie wollen nämlich nicht gezielt Betriebe mit besonderen Risiken fördern, sondern die Förderung streuweise über alle Betriebe verteilen, wodurch die großen Betriebe - die Kollegen sagten es schon - erheblich mehr erhalten als die kleinen; das ist ein sehr wichtiger Kritikpunkt. Wie gesagt: Sie benennen kein Volumen der Entlastung; Sie haben es nicht berechnet oder berechnen wollen. Sie differenzieren bei der Förderung überhaupt nicht; Sie schieben die Förderung einfach dem ganzen Sektor zu. Dass Ihre Fraktion dabei auf die Historie verweist - nach dem Motto: das hat der Landwirtschaftsverband schon immer gefordert, deswegen muss es richtig sein -, finde ich ein bisschen überraschend. ({2}) - Die Begründung fand ich nicht so überzeugend. ({3}) Schwierig ist auch die Umsetzung des Antrags. Sie müssen sich das einmal überlegen. In Ihrem Antrag haben Sie geschrieben: Die Höhe der Rücklage sollte sich aus den betrieblichen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirtschaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes betragen. Das bedeutet aber, dass man eine gewisse Vision braucht, wie die nächsten Jahre sein werden. Ein Landwirt muss schon abschätzen können: Bin ich in einem Risikojahr oder nicht? Ich halte das für sehr schwierig. Nach zwei durchschnittlichen Jahren, vielleicht mit einem Jahr, in dem es einen harten Sommer gab, kann ein Landwirt schlecht abschätzen, ob der nächste Sommer wieder hart wird, ob ein Risikojahr folgen wird und eine Rücklage gebildet werden muss. Er kann schlecht abschätzen, ob nach einem guten Jahr, in dem der Milchpreis ein bisschen höher war, eine Rücklage gebildet werden muss, weil der Milchpreis im nächsten Jahr bestimmt wieder niedriger ist. Das abzuschätzen, ist nicht nur für den Steuerberater schwierig, sondern auch für den landwirtschaftlichen Betrieb eigentlich unmöglich. Jede Versicherungsmöglichkeit ist besser als Ihre Rücklage. ({4}) Wir haben in der Versicherungsbranche eine Menge gemacht; wir haben zusätzliche Risiken aufgenommen, die versichert werden können. Wir können auch gerne darüber reden, ob man noch mehr versichern kann, ob man sich gegen die Folgen von TTIP absichern kann. Von mir aus! Wenn Sie eine Versicherung dafür finden, ist mir das recht. Ob man sich gegen die ganzen Viren absichern kann? Von mir aus! Jedenfalls ist alles besser als die von Ihnen vorgeschlagene Rücklage. Wir von der SPD waren übrigens schon immer dagegen. Die CDU/CSU hat ein bisschen geschwankt, aber Kollege Schindler war auch immer dagegen; das will ich hier wohlwollend sagen. Ich halte den Antrag nicht nur für überflüssig, sondern auch von der Ausrichtung her für schädlich. Er bringt den Landwirten nichts außer ein bisschen mehr Publicity zur Grünen Woche; er bringt keine Erleichterung im Betriebsablauf. Wenn Sie den Landwirten wirklich helfen wollen, dann sorgen Sie für einen fairen Wettbewerb, ({5}) für eine gute Landwirtschaft, die unter fairen Bedingungen produziert, und für faire Preise. Helfen Sie mit, die Massentierhaltung einzudämmen, den Flächenverbrauch einzudämmen, die Intensivtierhaltung einzuschränken ({6}) und vielleicht den Antibiotikaverbrauch zu beschränken. Helfen Sie dabei, eine gute Ernährung für die Verbraucher zu sichern. Das nutzt allen: den Verbrauchern, der Landwirtschaft in ihrem Bestand und dem Image sowieso. Nun möchte ich die restlichen Minuten meiner Redezeit denen zur Verfügung stellen, die noch auf die Grüne Woche gehen wollen. Deswegen beende ich meine Rede etwas eher. Ich denke, da ist mir keiner böse. Ich wünsche allen eine schöne Zeit auf der Grünen Woche. Setzen Sie sich intensiv mit den Landwirten und ihren Problemen auseinander, ({7}) und sparen Sie sich den nächsten Antrag in zwei Jahren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe verbliebenen Gäste hier im Plenarsaal! Die Vorredner haben darauf hingewiesen: Dieses Thema hat das Hohe Haus schon des Öfteren beschäftigt; mich beschäftigt es zum ersten Mal. ({0}) Ich widme mich diesem Thema sehr gerne. Schon damals, im Jahre 2012, ist ein ähnlicher Antrag der Linken von allen übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Es scheint heute, dass es wieder so kommt. Wir haben uns den Antrag angesehen und haben festgestellt - die Vorrednerin hat darauf hingewiesen -: Es gibt wenig Neues. Neue Krisen sind hinzugekommen. Der Antrag ist nach wie vor wenig konkret. Es ist nur das Stichwort „Rücklagenbildung“ enthalten. Wie man das löst, wie das umgesetzt, administriert werden soll, steht nicht darin. ({1}) Die Gegenargumente, die damals vorgetragen wurden, gelten noch immer. Sie werden heute aber gerne noch einmal von allen vorgetragen; denn wie heißt es so schön: Die Wiederholung ist die Mutter der Pädagogik. Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben einen längeren Prozess durchlaufen, was dieses Thema angeht. Es ist darauf hingewiesen worden: Wir haben das Für und Wider immer wieder abgewogen, sind aber zu dem Ergebnis gekommen, dass das beabsichtigte Ziel durch eine Risikoausgleichsrücklage nicht erreicht werden würde. Das deckt sich übrigens mit dem Ergebnis einer Untersuchung von Professor Bahrs, die ebenfalls angesprochen wurde. Dort heißt es, eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage würde keinen wesentlichen Beitrag zur Abfederung von markt- und wetterbedingten Risiken in der Landwirtschaft leisten. Wir sollten uns überlegen, was mit einer solchen Rücklage - wenn man dieses Thema angehen und den Gleichheitsgrundsatz, der auch schon angesprochen wurde, beiseiteschieben würde - eigentlich erreicht werden soll. Es geht um eine Verbesserung der Liquidität der Agrarbetriebe durch einen Glättungseffekt bei den Einkünften und durch einen Zinseffekt aufgrund der Stundung der Steuerzahlungen, die auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden. Wir müssen uns aber fragen, ob dieser Effekt tatsächlich erreicht wird, und wenn er erreicht wird, welchen Umfang er in den einzelnen Betrieben einnehmen würde, sodass er tatsächlich eine Entlastung für den einzelnen Betrieb darstellt. Beim Glättungseffekt kommt es zu einer Verstetigung der Höhe des zu versteuernden Einkommens, indem in guten Jahren eine Rücklage gebildet wird, die in schlechten Jahren aufgelöst wird. Hier kommt es aufgrund der Jahresabschnittsbesteuerung, wie wir sie in Deutschland haben, und des linear-progressiven Steuertarifs unter Umständen zu Steuerentlastungen. Das setzt allerdings voraus, dass der jeweilige Betrieb der Steuerprogression unterliegt; das ist bei vielen aber gar nicht der Fall. Ganz ohne Auswirkung bleibt der Glättungseffekt bei Agrarbetrieben, die ihre Einkünfte nach § 13 a Einkommensteuergesetz, also nach den Durchschnittssätzen, versteuern, bei denjenigen, die in der Proportionalzone des Einkommensteuertarifs liegen - also bis 15 Prozent und über 42 Prozent sowie bei der Reichensteuer über 45 Prozent -, sowie bei Kapitalgesellschaften, die mit 15 Prozent einheitlich besteuert werden. Wenn überhaupt ein Glättungseffekt erreicht wird, dann wäre er bei den meisten Unternehmen recht überschaubar. Im Zuge des schon angesprochenen Gutachtens hat Professor Bahrs ermittelt, dass die Betriebe lediglich um durchschnittlich 174 Euro pro Jahr entlastet werden würden. Ich bezweifle, dass die Risiken, die Sie angesprochen haben, damit abgegolten werden könnten. Das Gutachten stellt zusammenfassend fest, dass etwa 30 Prozent der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rücklage ziehen würden. Bei weiteren 30 Prozent läge der Vorteil lediglich bei 100 bis 500 Euro, und die Hälfte der prognostizierten Entlastungen entfiele auf nur 10 Prozent der Agrarbetriebe. Die Einführung einer Risikoausgleichsrücklage verfehlt somit das Ziel, eine Liquiditätsentlastung in der Breite, also für viele Betriebe, zu erzielen. Sie nützt nur einigen wenigen. Dies sind im Wesentlichen die großen und ertragreichen Betriebe und nicht diejenigen Betriebe, die die Liquiditätshilfe brauchen, wenn sie denn kommen würde. Das liegt auch daran, dass durch die Betriebe ein sogenannter Risikoausgleichsfonds aus liquiden Mitteln in Höhe der Rücklage auf der Aktivseite gebildet würde, damit die Liquidität im Unternehmen bleibt und nicht abfließt. Dies setzt aber bei den Unternehmen einen positiven Cashflow voraus, der es ihnen ermöglicht, Finanzmittel zu separieren und temporär auf Liquidität zu verzichten. Das können eher die Unternehmen, die die Krisen wahrscheinlich auch ohne Rücklagenbildung überstehen würden, für die also eine gewisse Kapitalbildung möglich ist, die eine gewisse Größe und Ertragskraft haben. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Auflösung der Rücklage und des Ausgleichsfonds an bestimmte Bedingungen geknüpft sein müsste. Es wird erhebliche Schwierigkeiten bei der Definition, der Messung und der Bewertung der Ertragsminderung geben, die Grund für die Auflösung der jeweiligen Rücklagen sein wird. Das Ganze schafft mehr Verwaltungsaufwand sowohl bei den Agrarbetrieben als auch bei den Finanzbehörden. Eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage macht das Steuerrecht nicht einfacher und auch nicht gerechter. Im Steuerrecht gibt es schon jetzt Möglichkeiten für die Agrarbetriebe zur Glättung der Einkünfte - das ist angesprochen worden -: die Verlustverrechnung gemäß § 10 d Einkommensteuergesetz, den Investitionsabzugsbetrag gemäß § 7 g Einkommensteuergesetz und die Durchschnittsbesteuerung nach § 4 a Einkommensteuergesetz. Den neben dem Glättungseffekt vorhin angesprochenen Zinseffekt können wir aufgrund der momentanen Niedrigzinsphase meines Erachtens beiseiteschieben. Ihm sollten wir keine weitere Bedeutung beimessen, weil die liquiden Mittel, die in dem Fonds angelegt werden, keine größeren Erträge ausweisen werden, sodass der Erfolg für die Unternehmen gering sein wird. Es bleibt also festzuhalten, dass die mit der Einführung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage zu er7578 wartenden Liquiditätseffekte entweder gering sind oder nur eine kleine Zahl von Betrieben erreichen, und zwar gerade solche, die aufgrund ihrer Kapitalstärke krisenfester sind. Wir halten die Einführung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage weder für angemessen noch für notwendig, weil die mit ihr beabsichtigten, wenn auch gut gemeinten Ziele nicht erreicht werden können. Herzlichen Dank. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als letzter Rednerin in der Aussprache erteile ich das Wort der Abgeordneten Rita Stockhofe, CDU/CSUFraktion. ({0})

Rita Stockhofe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004419, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag - das haben wir heute schon gehört - ist nicht wirklich neu. Aber er enthält einen guten Grundgedanken; das wurde schon festgestellt. Der Finanzausschuss ist zwar federführend, aber ich möchte jetzt einmal ein bisschen aus der Sicht der Landwirtschaft berichten, weil die Landwirtschaft betroffen ist und ich Mitglied im Landwirtschaftsausschuss bin. Schauen wir uns an, wofür die Landwirtschaft zuständig ist: Sie versorgt die Menschen mit hochwertigen Produkten, mit Essen und Trinken. Sie erhält unsere Kulturlandschaft, hegt und pflegt sie. Sie ist aber auch dazu da, Heimat zu gestalten. Das sind große Aufgaben, die sie wahrnimmt. Ich denke, wir alle wissen das zu würdigen. Es gibt Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um eine gute Landwirtschaft gewährleisten zu können. Dazu gehören beispielsweise eine gute Ausbildung des Betriebsleiters, hochwertiges Saatgut, effiziente Landmaschinen und Ähnliches. Diese Voraussetzungen sind durch den Bewirtschafter beeinflussbar. Es gibt aber auch Voraussetzungen, die nicht beeinflussbar sind - wir haben es heute mehrmals gehört -, wie Klima, Embargos, Krankheiten und Ähnliches. Natürlich wäre es schön, wenn die Landwirte dieses Risiko nicht tragen müssten. Aber die Landwirte wissen, dass sie Unternehmer sind, und Unternehmer tragen ein unternehmerisches Risiko. ({0}) Sie wissen auch mit diesem Risiko umzugehen. Es gibt eine Bauernweisheit, die besagt: Der Bauer sollte eine Ernte auf dem Feld haben, eine in der Scheune und eine auf der Bank. Natürlich wissen wir, dass das nicht immer zu realisieren ist, auch wenn es angestrebt wird. Aber ich glaube, vernünftig mit Geld umgehen können gerade die Bauern besonders gut, und sie geben auch nicht schnell auf. Ich unterstelle einmal, dass der Antrag der Fraktion Die Linke gut gemeint ist. Aber wenn wir jetzt sehen, dass wir es gerade geschafft haben, eine schwarze Null zu erreichen, dann muss man sagen: Das ist wirklich ein ganz zartes Pflänzchen, das wir da haben, um mal bei der Landwirtschaft zu bleiben. Dieses Pflänzchen muss gehegt und gepflegt werden. Da können wir doch nicht aufgrund von Ad-hoc-Anträgen, deren Umsetzung unheimlich viel Geld kosten würde und bei denen wir gar nicht wissen, ob dieses Geld nachher bei der Landwirtschaft ankommt, ob sie wirklich einen Nutzen davon hat, das Risiko eingehen, dieses zarte Pflänzchen wieder eingehen zu lassen. Lassen Sie uns also bitte alle daran mitwirken, diese Pflanze wachsen zu lassen, damit es uns in Zukunft besser geht. Das tut auch unseren Kindern, Enkelkindern und unserer zukünftigen Landwirtschaft sehr gut. Darauf sollten wir achten. ({1}) Es wurde schon ein paarmal das Gutachten von Professor Bahrs zitiert, der gesagt hat, dass gerade die finanzstarken Betriebe von der Umsetzung dieses Vorschlags, der vorgetragen worden ist, profitieren würden. Ich glaube, es sind nicht die finanzstarken Betriebe, die wir in Krisenzeiten unterstützen müssen, sondern die, die nichts für schlechte Zeiten zurücklegen können. Es wurde ein Vergleich mit Skiliften, mit Außengastronomie und Ähnlichem gemacht. Dieser Vergleich stimmt natürlich. Auch da gibt es ein unternehmerisches Risiko; das müssen die Betreiber selber tragen. Wie gesagt, die Landwirte können es auch. Wir müssen vielleicht noch folgenden Unterschied machen: Wenn ein Skilift nicht fährt, dann tut das nur dem Betreiber weh. Wenn die Landwirtschaft keine Erträge einfährt, dann tut es jedem weh, weil die Landwirtschaft alle versorgt. Von daher finde ich die Ausnahmesituation, die wir in anderen Bereichen wie bei Ansparabschreibungen und Ähnlichem haben, sehr gut und sehr wichtig. Ich halte es für einen guten Vorschlag - Norbert Schindler hat es vorhin schon einmal kurz erwähnt -, wenn man da ausbaut. Das hätte keinen Einfluss auf die schwarze Null, würde aber den Bauern helfen und wäre vielleicht ein guter Ansatz. ({2}) Herr Gambke von den Grünen hat vorhin gesagt, dass die Umsatzsteuer bei Pferden deswegen erhöht worden ist, weil man Pferde ja nicht essen kann. Ich kenne Betriebe, denen es richtig wehgetan hat, dass gerade Pferde, die man nicht essen kann, mit dem allgemeinen Umsatzsteuersatz von 16 Prozent belegt werden. Das betrifft landwirtschaftliche Betriebe, deren Flächen in Natur-, Landschafts- oder Wasserschutzgebieten liegen. Sie sind extrem eingeschränkt. - Herr Gambke, das ist ein konkretes Beispiel. Sie brauchen nicht den Kopf zu schütteln. ({3}) - Das können Sie gar nicht wissen. Das ist nämlich bei mir in der Nähe. ({4}) - Kann ich jetzt fortfahren? ({5}) Auf alle Fälle hat dieser Betrieb extreme Bewirtschaftungseinschränkungen hinzunehmen. Aber wie die Bauern so sind, schmeißen sie nicht das Handtuch, sondern suchen nach Alternativen. Der Betrieb befindet sich in der Nähe des Ruhrgebiets. Es gibt also viele Verbraucher vor Ort. Daher stellt er auf Pensionspferde um. Das Futter erzeugt er selber, und Weideflächen sind vorhanden. Das ist ein gutes Projekt für diesen Betrieb. Dann kam die Gesetzesänderung, und er zahlt seitdem 16 Prozent Steuern, die er vorher nicht gezahlt hatte. ({6}) Wissen Sie, wie weh dem Betrieb das tut? ({7}) Das ist bei Betrieben mit Pensionspferden nicht richtig. Das tut diesen Betrieben richtig weh. Man sollte überlegen, ob man diesen Betrieben wehtun möchte oder nicht und in der Praxis nachfragen, wie das ankommt. ({8}) Dieser Vorschlag ist nicht geeignet. Dieser Vorschlag ist geeignet, ein Bürokratiemonster aufzubauen, das von den Steuerberatern eingefangen werden muss. Da die Steuerberater ihre Leistung in Rechnung stellen, ist das Ganze aus Sicht des einzelnen Bauern nicht effektiv. Abschließend möchte ich Folgendes sagen: Der Beruf des Landwirts oder der Landwirtin ist ein ganz toller Beruf, den viele junge Menschen ausüben. Sie gehen mit viel Ehrgeiz und viel Ideologie in den Beruf hinein und wissen, dass sie eine große Verantwortung tragen für Tiere, für die Landschaft und Ähnliches. Lassen Sie uns gemeinsam Voraussetzungen schaffen, dass auch in Zukunft Menschen diesen Beruf gerne erlernen möchten und von den Erlösen auch leben können. Danke schön. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({0}) Drucksache 18/3699 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion. ({2})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare. - Dieses Sprichwort beschreibt sehr treffend den Druck der Bürokratie auf uns Menschen. Wir alle wünschen uns weniger Bürokratie, weniger Formulare. Ich zum Beispiel muss jedes Jahr für die Krankenkasse eine Bescheinigung ausfüllen und Auskünfte über meine mitversicherte Tochter geben, ob sie noch studiert, seit wann sie studiert und wie lange noch, wie viel Geld sie mit ihren Jobs verdient hat, muss Studien- und Verdienstbescheinigungen beifügen usw. Ich habe großes Glück, dass ich sehr gewissenhafte Kinder habe, die mir selbstverständlich sämtliche Bescheinigungen unverzüglich zukommen lassen. ({0}) Ich weiß aber auch von Fällen, bei denen das nicht so konfliktfrei abläuft. So eine sicherlich wichtige Datenmeldung kann sich dann sehr schnell zu einer zeit- und nervenaufreibenden Angelegenheit werden. Ich freue mich deshalb sehr, dass sich das Ministerium für Arbeit und Soziales vorgenommen hat, überbordende Bürokratie abzubauen und Verwaltungsvorgänge zu vereinfachen. ({1}) Das ist eine wirklich gute und wichtige Sache. Viele reden nur davon. Wir setzen es um. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute über einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der elektronischen Meldeverfahren für die Sozialversicherungen. Hierbei geht es zum Beispiel darum, An-, Ab- und monatliche Beitragsmeldungen von Beschäftigten bei den Kranken- und Unfallkassen sowie bei der Renten-, der Arbeitslosen- und der Pflegeversicherung zu erleichtern. Ein weiteres Ziel ist es, die elektronischen Verfahren insgesamt gesetzesfest zu machen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich konnte es fast nicht glauben: Jährlich finden sage und schreibe 400 Millionen Meldevorgänge statt. Das ist eine enorme, eine beeindruckende Anzahl. Wir beschäftigen uns heute mit dem größten Massenverfahren zur Übermittlung von Informationen in der Bundesrepublik. So viel zur Dimension. Wir haben über 42 Millionen Beschäftigte in Deutschland. Deren Sozialversicherungsdaten müssen von den rund 4 Millionen Unternehmen regelmäßig an die öffentlichen Stellen gemeldet werden. All diese Meldungen sorgen dafür, dass Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherungen umgehend über Leistungsansprüche entscheiden und diese auszahlen können. Damit das klappt, brauchen wir leistungsfähige Systeme. Diese werden jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Nutzen aller weiter optimiert. ({4}) Das Ministerium hat sich dabei sehr viel Mühe gegeben. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde nicht mal so eben aus dem Ärmel geschüttelt. Nein, über zwei Jahre harter Arbeit sind dem Gesetzestext mit dem Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ - kurz OMS - vorausgegangen. Dabei wurde nicht hinter verschlossenen Türen gearbeitet. Im Gegenteil, man hat alles sehr genau mit den betroffenen Akteuren diskutiert. Arbeitgeber und Fachleute aus den Verwaltungen waren genauso beteiligt wie natürlich auch Softwareentwickler, die anwenderfreundliche technische Lösungen finden müssen, die dann hoffentlich auch funktionieren. Auch die Datenschutz- und Datensicherheitsexperten wurden nicht vergessen. Das ist insbesondere deshalb sehr wichtig, weil es um den Austausch von personengebundenen Daten geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt ein umfassender Abschlussbericht vor, den wir alle - davon gehe ich aus - mit großem Interesse gelesen und studiert haben. Dieser umfasst sagenhafte 1 989 Seiten. Ich hätte ihn mitgebracht, konnte ihn aber leider nicht tragen. ({5}) Er ist übrigens zusammen mit weiteren Informationen zu dem OMS-Projekt für jede und jeden im Internet frei zugänglich. Wir erkennen hieran eindrucksvoll, wie viel Arbeit mit dem Abbau von Bürokratie verbunden ist. Ich bedanke mich bei allen, die daran beteiligt waren. Das waren nicht wenige. 260 Menschen haben an diesem Projekt mitgearbeitet. Danke schön dafür. ({6}) Ihr Einsatz lohnt sich allemal; denn unnötige Bürokratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor allem Zeit und Nerven. Zudem werden unsere Unternehmen durch zu viel Bürokratie in ihrem Schaffensdrang regelrecht ausgebremst. Schauen wir auf den Mittelstand, der uns allen sehr am Herzen liegt. Fast 4 Millionen kleine und mittlere Unternehmen sind betroffen. Sie sind unsere Garanten für Wachstum und Beschäftigung. Ich habe bei mir in Schleswig-Holstein mit einem Handwerksmeister gesprochen und ihn gefragt: Wie sieht es bei Ihnen ganz konkret mit den Sozialversicherungsmeldungen aus? - Seine Antwort war ernüchternd. Für seinen Betrieb mit sechs Beschäftigten, die in fünf unterschiedlichen Krankenkassen versichert sind, benötigt er monatlich zwei Tage für die zum Teil recht umständlichen Meldeverfahren. Er wäre sehr froh, wenn es an dieser Stelle Vereinfachungen und damit Zeitersparnis geben würde. Das ist Zeit, die er dringend für seinen Betrieb benötigt. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommen wir diesem Wunsch nach. Wir packen das Bürokratiemonster bei den Hörnern und weisen es ein Stück weit in seine Schranken. ({8}) Schauen wir auf die Arbeitgeber. Sie tragen die Hauptlast der Meldungen. Für sie vermindert sich der Aufwand am meisten, und zwar um jährlich rund 130 Millionen Euro. Die öffentliche Verwaltung spart durch dieses Gesetzesvorhaben wertvolle Arbeitszeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umfang von jährlich etwa 17 Millionen Euro. Die Bürgerinnen und Bürger sparen vor allem Nerven, aber auch Zeit und Portokosten dadurch, dass bestimmte Bescheinigungen zukünftig nicht mehr in Papierform, sondern elektronisch übermittelt werden können. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der von allen Akteuren weitestgehend Unterstützung findet, machen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Wir werden aber weiter am Ball und im engen Austausch mit den Betroffenen bleiben, damit wir gemeinsam weitere gute Lösungen finden nach dem Motto: So wenig Verwaltung wie möglich und nur so viel wie nötig. - Vielleicht wird dann auch einmal für mich und für alle genervten Eltern der Meldebogen mit den Daten der Kinder für die Krankenkassen wegfallen. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt für die Fraktion Die Linke Matthias W. Birkwald. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt mit dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“, kurz OMS, soll den Datenaustausch zwischen Arbeitgebern und Sozialversicherungsträgern verbessern. Ja, Frau Staatssekretärin, das klingt erst einmal gut. Ich bin sicher, die Rednerinnen und Redner der Union werden gleich wie Frau Hiller-Ohm soeben den Bürokratieabbau und die sinnvollen Erleichterungen für die Unternehmen loben. Es könnte alles so einfach sein, ist es aber nicht. Darum muss ich Ihnen etwas Wasser in den Wein gießen. Erstens. Mehr Computer und bessere Software einzusetzen, ist für größere Unternehmen und ihre Steuerberatungsfirmen oft eine feine Sache. Aber viele kleine und mittlere Unternehmen können sich das schlicht nicht leisten. Es ist zu teuer für sie. Ein Beispiel: In Ihrem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass kleine und mittlere Unternehmen täglich, also jeden Tag, elektronische Daten bei den Sozialversicherungen abrufen müssen. Der Normenkontrollrat und der Bundesrat sind sich da einig und sagen: Das ist nicht sinnvoll. - Sie ignorieren das. Deswegen sage ich: Äußern Sie sich doch einmal zu den Bedenken der kleinen Unternehmen. ({0}) Zweitens. Wir wissen, dass der Bürokratieabbau den Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft einschränkt. Denken Sie bitte einmal an die unrühmliche Vorgeschichte des OMS-Projektes. Das 2002 gestartete Projekt ELENA, also das elektronische Entgeltnachweisverfahren, hatte gigantische Ausmaße. ELENA sollte 60 Millionen Papierbescheinigungen von Arbeitgebern und 190 Formulartypen überflüssig machen. Machen wir es kurz: Am Ende hatten 35 000 datenschutzbewegte Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen geklagt, und ELENA wurde 2011 aus Datenschutz- und aus Kostengründen eingestampft. Gut so! ({1}) Aber schon ein Jahr später wurde das OMS-Projekt ins Leben gerufen, um alternative Modelle eines elektronischen Arbeitgebermeldeverfahrens zu prüfen. ({2}) Heute setzen Sie erste Ergebnisse dieses ELENA-Nachfolgeprojektes um. Warum sind wir Linken da wohl skeptisch? Sie haben nicht aus Ihren Fehlern gelernt. Sie haben wieder den gleichen Dienstleister beauftragt, nämlich die Informationstechnische Servicestelle der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Firma, die ITSG, wie sie abgekürzt heißt, hat aber in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei dem Versuch gespielt, das unsinnige und teure IT-Großprojekt ELENA durchzusetzen. Ich sage: Das Scheitern von ELENA ist auch das Scheitern der Firma ITSG. Das macht uns skeptisch. ({3}) In der Machbarkeitsstudie zum OMS-Projekt finden sich an vielen Stellen starke Bedenken und deutliche Kritik vonseiten der Datenschützerinnen und Datenschützer. Was ist daraus eigentlich geworden? Haben Sie diese berücksichtigt? ({4}) Werden Sie diese berücksichtigen? Ich bin gespannt und hoffe, dass Sie bald etwas dazu vorlegen. Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem erfreulichen Thema kommen. Volljährige Waisen haben bisher Anspruch auf eine Waisenrente, wenn sie sich noch in der Ausbildung befinden. Wenn sie aber mehr als um die 500 Euro eigenes Einkommen im Monat haben, kann ihnen ihre Waisenrente gekürzt werden. Die Rentenversicherung muss das Einkommen daher jährlich ermitteln und gegebenenfalls anrechnen - bisher. Aber was bringt das? Einem Verwaltungsaufwand von 12,5 Millionen Euro im Jahr stehen laut Bundesrechnungshof nur 2,6 Millionen Euro an Einnahmen gegenüber. Deshalb hat er vorgeschlagen, das Einkommen der Waisen bei der Berechnung der Waisenrente künftig gar nicht mehr zu prüfen. Die Hinzuverdienstgrenze soll also wegfallen, da Waisen unter 25 Jahren meist kein nennenswertes Einkommen haben. Das heißt auf Deutsch: Die betroffenen Waisen werden im Monat durchschnittlich 15 bis 20 Euro mehr in der Tasche haben. Da sage ich: Das ist wirklich Bürokratieabbau im Interesse der Betroffenen und nicht im Interesse der Arbeitgeber. Frau Staatssekretärin, das hat die Bundesregierung gut gemacht. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Birkwald, Sie würden das jetzt gut machen, wenn Sie zum Ende kämen.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin, das mache ich sofort. Ich sage nur noch: Räumen Sie unsere Datenschutzbedenken und Zweifel am OMS-Projekt aus! Bis dahin bleiben wir skeptisch. Herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Gabriele Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gabriele Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004402, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bundestag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Damit wollen wir unter anderem die technischen und organisatorischen Abläufe bei den elektronischen Meldeverfahren zwischen den Sozialversicherungsträgern und den Arbeitgebern verbessern und die Bürokratiekosten, die durch die Informationspflichten entstehen, senken. Zum Hintergrund. Es gibt in der Tat, Frau Kollegin Hiller-Ohm, 400 Millionen Meldevorgänge im Bereich der sozialen Sicherung. Allein die Anzahl der Sozialversicherungsmeldungen beläuft sich auf rund 230 Millionen. Es handelt sich dabei um Daten von 40 Millionen Beschäftigten bei 3,5 Millionen Arbeitgebern; streiten wir uns nicht um ein paar Zehntausend. Diese vielen Daten müssen an die Sozialversicherungsträger übermittelt werden. Die Bundesregierung hat unter Federführung des Ministeriums für Arbeit und Soziales das Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ initiiert. Ziel des Projektes war, wie der Name schon sagt, in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Softwareherstellern und Sozialversicherungsträgern Vorschläge zur Optimierung der Meldeverfahren im Bereich der sozialen Sicherung zu erarbeiten. Unter Beteiligung der Praktiker, die sich täglich mit den Datenermittlungs-, Prüfungs- und Übertragungsverfahren befassen, sollten weitere Potenziale zur Verbesserung der Beitrags-, Melde- und Antragsverfahren erschlossen werden. Der vorliegende Gesetzentwurf basiert auf den Ergebnissen der gemeinsamen Projektarbeit, an der sich die betroffenen Akteure beteiligt haben, darunter auch die Sozialversicherungsträger, ihre Spitzenverbände, die Bundesagentur für Arbeit, die Sozialpartner und das Statistische Bundesamt. Das Ergebnis war: Es besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es hat sich im Rahmen dieses Projektes herausgestellt, dass die Praxis die Theorie sozusagen überholt hat. Die Verfahren haben sich in der Praxis teilweise erheblich weiter entwickelt als im Gesetz geregelt. Deswegen geht es jetzt auch darum, wichtige Bestandteile der Meldeverfahren in diesem Gesetzentwurf klar zu definieren und damit die Verfahrenssicherheit zu erhöhen. Worum geht es im Detail? Wir wollen die Verbesserung der Datenqualität, zum Beispiel durch die Festlegung technischer Übertragungsverfahren und einheitlicher Fristen. Wir wollen, dass Verfahrenskomponenten wie Kommunikationsserver und weitere technische Beschreibungen gesetzlich eindeutig definiert werden. Weitere Anregungen aus der betrieblichen Praxis, zum Beispiel die erweiterte Anwendung der Vorschriften für die Nutzung der Entgeltbescheinigung, sollen aufgegriffen werden. Diese Änderung ist im Sinne der Arbeitgeber, weil damit Vereinfachungen im Bescheinigungswesen einhergehen. Wir wollen die Bürokratie insgesamt abbauen und die Arbeitgeber von Verwaltungsaufwand entlasten. ({0}) Ich mache mir keine Illusionen: Dieses Gesetz wird nicht dazu führen, dass die Bürokratie in Deutschland plötzlich eingeht wie eine Pflanze ohne Wasser. Aber wir müssen einen Schritt tun, und dies ist für die Bundesregierung der nächste logische Schritt bei dem von ihr verfolgten Konzept, die Bürokratiekosten dauerhaft zu senken. Vor meiner Zeit im Bundestag habe ich in Wutöschingen im Kreis Waldshut die Firma ACO mit aufgebaut und war lange mit dem Meldewesen betraut. Ich habe mich oft genug geärgert, wenn Meldedaten irgendwo im Datennirwana verschwunden sind und ich zeitaufwendig und damit teuer nachmelden musste. Die neue Regelung kommt zwar für mich zu spät; ich denke aber, dass sich wenigstens meine Kollegen darüber freuen. Zusätzlich sind Änderungen im Rentenrecht vorgesehen, so die Angleichung des Waisenrentenrechts an das Steuer- und Kindergeldrecht. Der Wegfall der Einkommensanrechnung auf Waisenrenten bei volljährigen Waisen führt zur Verwaltungsvereinfachung. Ich bin froh, dass dies sogar dem Kollegen Birkwald gefällt, der ja sonst nicht viel Gutes an diesem Gesetzentwurf gefunden hat. ({1}) Zum Schluss möchte ich auch auf die Kosten zu sprechen kommen. Der einmalige Umstellungsaufwand für Arbeitgeber und Sozialversicherungsträger wird sich zwar auf einen Betrag von rund 93 Millionen Euro belaufen; es wird aber erwartet, dass sich die Kosten für die Arbeitgeber bereits im ersten Jahr bezahlt machen, für die Sozialversicherungsträger innerhalb weniger Jahre. Insgesamt soll sich aus der Reduzierung der Bürokratiekosten und Informationspflichten für die Arbeitgeber eine Entlastung von rund 126 Millionen Euro, für die Sozialversicherungsträger von rund 7 Millionen Euro jährlich ergeben. Mein Fazit: Der vorliegende Gesetzentwurf wird den durch die Weiterentwicklung der Meldeverfahren in der Praxis gewachsenen Ansprüchen gerecht. Wir möchten Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in den Meldeverfahren stärken und durch optimierte und vereinfachte Verfahren die Arbeitgeber entlasten. Ich finde, dieser Gesetzentwurf böte doch mal eine schöne Gelegenheit, dass alle Fraktionen gemeinsam zustimmen; die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls wird ihm zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grünen sind für Bürokratieabbau und für vereinfachte Regelungen. Der Gesetzentwurf bringt in der Tat eine ganze Reihe von kleineren Schritten, die Bürokratieabbau ermöglichen: Vereinfachungen, Software an vernünftigen Stellen einsetzen; insofern sind das viele Schritte in die richtige Richtung. Aber es gibt natürlich - da schließe ich mich dem Kollegen Birkwald an - auch ein paar Fragen: Was ist mit den kleinen und mittleren Unternehmen? Was ist mit dem täglichen Datenabgleich? Das könnte die schon überfordern; das müsste man noch einmal prüfen. Auch die Frage des Datenschutzes muss natürlich noch einmal intensiver betrachtet werden. Wir finden es grundsätzlich richtig, in diese Richtung zu gehen; aber das sind natürlich kleine Schritte. Wenn man eine wirkliche Vereinfachung im sozialen Sicherungssystem haben wollte, müsste man noch an ganz andere Bereiche gehen: Im Transfersystem, Grundsicherungssystem wäre da noch viel mehr zu machen. Wir warten da sehnsüchtig auf den Gesetzentwurf zur sogenannten Rechtsvereinfachung, auch wenn wir wissen, dass auch da nicht der große Wurf kommen wird. Aber das wäre eigentlich die spannendere Debatte: Was kann man im Grundsicherungssystem verändern? Noch spannender und umfangreicher wäre die Debatte über die Frage: Was ist eigentlich mit den Familienleistungen? Aber das wäre dann eine ganz andere Baustelle. Bei den Sozialversicherungen - das muss man vielleicht noch einmal betonen, auch gegenüber der Öffentlichkeit - ist, was die Effizienz angeht, gar nicht so wahnsinnig viel zu vereinfachen oder zu verbessern, weil die Sozialversicherungen im Gegensatz zu privaten Versicherungen ohnehin schon sehr geringe Verwaltungskosten haben - für uns Grüne ein Grund, bei der kapitalgedeckten Alterssicherung auch über ein öffentlich organisiertes Basisprodukt für die Riester-Rente nachzudenken. Die Verwaltungskosten wären geringer; aber auch sonst fänden wir das eine sinnvolle Idee. ({0}) Aber nun zu dem Gesetzentwurf. Auch da, finden wir, hätte man an manchen Stellen durchaus noch ein bisschen weitergehen können. Die Waisenrente ist schon angesprochen worden. Wir finden es richtig, dass die Einkommensanrechnung wegfallen soll. Der Aufwand ist tatsächlich viel größer als der Ertrag, und für die Betroffenen ist das eine deutliche Verbesserung. Man könnte aber noch einen Schritt weitergehen und fragen: Warum ist die Höhe der Waisenrente eigentlich vom Einkommen der Eltern abhängig? Wenn man sagen würde: „Die Waisenrente ist für alle gleich“, wäre das auch noch mal eine Vereinfachung, und gerechter wäre es eigentlich auch, wenn die Leistung einkommensunabhängig wäre. ({1}) Der Nationale Normenkontrollrat geht in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf auch auf die Unfallversicherung ein. Dort steht: Der Normenkontrollrat bedauert, dass an den papiergebundenen Lohnnachweisen … über das Jahr 2015 hinaus festgehalten werden soll. Es ist natürlich schade, dass das an dieser Stelle nicht elektronisch geht. Der Grund dafür steht allerdings auch in der Stellungnahme. Es gibt nämlich Differenzen zwischen den Lohnnachweisen und den aggregierten Lohnsummen. An dieser Stelle könnte man vielleicht auch einmal über den Vorschlag nachdenken, ob es nicht sinnvoll wäre, die Arbeitgeberbeiträge grundsätzlich einfach auf der Basis der Lohnsumme zu berechnen, anstatt jeden einzelnen Fall einzeln abzurechnen. Das würde kleine und mittlere Unternehmen sehr von der Bürokratie entlasten. Ein großer Wurf wäre es, wenn man bei der Pflege-, der Kranken- und der Rentenversicherung endlich einmal die Bürgerversicherung angehen würde und diesbezüglich nicht nur zu einer Harmonisierung innerhalb der Sozialversicherungen, sondern auch mit dem Steuersystem kommen würde; denn wenn das komplette Einkommen die Basis ist, dann muss man das logischerweise mit dem Steuersystem vereinheitlichen. Die Beitragserhebung könnte dann über das Finanzamt geregelt werden. Solche großen Schritte gehen Sie nicht. Wie gesagt: Es sind viele kleine Schritte, die wir durchaus positiv sehen, aber der große Wurf ist das leider noch nicht. Vielen Dank. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Danke schön. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Astrid Freudenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Meldeverfahren in der sozialen Sicherung sind in der Summe das größte und komplexeste Massenverfahren zur Weitergabe von Informationen der Arbeitgeber an öffentliche Stellen in Deutschland. Allein die Anzahl der Meldevorgänge beträgt jährlich etwa 400 Millionen. Übermittelt werden die Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten bei circa 3,7 Millionen Arbeitgebern. Diese Zahlen beeindrucken uns und können uns auch ein bisschen Sorge vor einer überbordenden Bürokratie bereiten. Als CSU-Abgeordnete fällt es mir natürlich schwer, jetzt einen waschechten Preußen zu zitieren, aber der Vater der deutschen Sozialpolitik selbst, Otto von Bismarck, warnte bereits vor 124 Jahren: „Die Bürokratie ist es, an der wir alle kranken.“ ({0}) Genau diese Bürokratie möchten wir abbauen - zumal dann, wenn sie nicht wirklich nötig ist. Das haben wir uns als Koalition ganz dick in unser Hausaufgabenheft geschrieben; das ist im Koalitionsvertrag eindeutig fixiert. Und das gilt natürlich auch hinsichtlich der Meldeverfahren in der sozialen Sicherung. Vor allem seit 2006 haben sich durch die gemeinsame, verschlüsselte Datenübertragungsbasis große Potenziale für Entbürokratisierung ergeben. Alle Verfahrensbeteiligten - die Arbeitgeber, die Softwareunternehmen und die Sozialversicherungsträger - sehen das System als durchdacht, sicher und sparsam an. Trotzdem gibt es natürlich auch hier noch Verbesserungspotenziale. Das hatte die christlich-liberale Koalition auch erkannt, weshalb sie das Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ ins Leben gerufen hat. In den Jahren 2012 und 2013 wurden in dem Projekt Vorschläge aller beteiligten Akteure - vor allem der Arbeitgeber - auf ihre Machbarkeit hin überprüft. Es ging darum, inwieweit das Verfahren besser, einfacher und günstiger gemacht werden könnte. Dabei gab es natürlich keine Denkverbote. Arbeitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichen der Sozialversicherungen bewerteten schließlich die eingereichten Vorschläge. Dabei wurde die fachliche Seite genauso wie die organisatorische und die technische Seite berücksichtigt. Aber eben auch Kostengesichtspunkte und der Datenschutz spielten eine ganz wesentliche Rolle. Herausgekommen sind ganz konkrete, umsetzbare Handlungsvorschläge zur Optimierung der Meldeverfahren in unserer sozialen Sicherung. Im vergangenen Jahr hat das Kabinett beschlossen, diese Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Das tun wir nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Er beinhaltet im Wesentlichen die Umsetzung der Vorschläge zur Verbesserung der Datenqualität und zur Stärkung der Verfahrenssicherheit, eine eindeutige gesetzliche Definition von Verfahrenskomponenten wie Kommunikationsservern und Annahmestellen, die Rechtssicherheit schaffen sollen, und eine gesetzliche Grundlage für das von Rentenversicherungsträgern entwickelte Projekt zur elektronischen Annahme von Bescheinigungen. Damit wird ein Projekt erfolgreich abgeschlossen, das in eindrücklicher Weise zeigt, wie gut die Zusammenarbeit von Politik und Praxis funktionieren kann und wie fruchtbar eine solche Zusammenarbeit ist. Mit diesen Maßnahmen entlasten wir die Arbeitgeber in Deutschland spürbar. Ihr jährlicher Erfüllungsaufwand reduziert sich nach einem einmaligen Umstellungsaufwand um rund 126 Millionen Euro. Das bewirken vor allem die geringeren Kosten aus den Informationspflichten. Es ist aber auch unsere Aufgabe, keine neue Bürokratie aufzubauen. Deshalb ist der Beschluss des Bundeskabinetts vom Dezember letzten Jahres sehr zu begrüßen, der eine von der CSU geforderte Bürokratiebremse vorsieht: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand muss demnach durch 1 Euro der Entlastung ausgeglichen werden. So können wir weiter Bürokratie abbauen, die Rechtssetzung verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen stärken. Herzlichen Dank. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3699 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Roth ({0}), Annalena Baerbock, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gipfeljahr 2015 - Durchbruch schaffen für Klimaschutz und globale Gerechtigkeit Drucksache 18/3156 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute traf auch ich wie andere von Ihnen 15 15-Jährige, die den Bundestag besucht haben; junge Menschen, die in dem Jahr auf die Welt gekommen sind, als die internationale Gemeinschaft die Millenniumsziele beschlossen hat. Tatsächlich wurde mit diesen Zielen in den vergangenen 15 Jahren weltweit viel erreicht: Die Zahl der Armen wurde halbiert, die Kindersterblichkeit wurde um fast die Hälfte gesenkt, und 90 Prozent aller Kinder haben inzwischen einen Zugang zu Bildung, sie werden eingeschult. Das sind Zahlen, die für die Zukunft große Hoffnung machen. Um genau diese Zukunft geht es. Im Gespräch mit den jungen Menschen wird allerdings auch ganz offensichtlich, welche Risiken wir mit unserem Lebensstil, mit unserer Art des Wirtschaftens, des Produzierens und des Konsumierens den nächsten Generationen aufbürden. Die globale Kooperation, die wir brauchen, der Anspruch an eine Global Governance, steckt in der Krise. Claudia Roth ({0}) In der Welt von heute verschärft sich die soziale Ungleichheit. Sie geht quer durch alle Staaten. Es brechen neue Krisen aus, Gewalt entgrenzt sich. Wir stehen kurz vor dem Klimakollaps, und am Ende wird all dies Demokratien sehr schwer belasten. Deswegen haben diese jungen Menschen zu Recht hohe Anforderungen und Erwartungen an das Jahr 2015; denn es ist ein Jahr, in dem über die Wege in die Zukunft entschieden wird und in dem wichtige Entscheidungen getroffen werden, also ein globales Jahr. Im Jahr 2015 muss der Durchbruch für Klimaschutz und für internationale und globale Gerechtigkeit endlich gelingen. ({1}) Den Schlüssel zum Erfolg, nicht den Schlüssel zu weiteren Rückschritten haben wir selber in der Hand. Wir können nicht zuletzt mit der deutschen G-7-Präsidentschaft dazu beitragen, überhaupt wieder Vertrauen in die notwendige globale Verantwortung zu schaffen. Vertrauen herstellen setzt aber voraus, dass wir selber in Vorleistung treten; denn in vielen Punkten - das zeigen die Anforderungen der Sustainable Development Goals haben auch wir einen Riesennachholbedarf. In vielen Punkten ist auch Deutschland ein Entwicklungsland. Genau das anzuerkennen und dagegen eine andere Politik voranzutreiben, das erwarte ich von der Bundesregierung und von uns in diesem Jahr. ({2}) Das fängt mit dem G-7-Gipfel im schönen bayerischen Elmau an. Auch da sind politische Signale die Voraussetzung für den Erfolg dieses schicksalhaften Gipfeljahrs. Denn wenn Deutschland sich nicht für ein schnelles Auslaufen der Subventionen für fossile Energieträger einsetzt, wenn es keine Initiativen zur Stärkung der VN etwa durch eine Aufwertung des Umweltprogramms UNEP gibt, wenn die reichen Staaten sich nicht ohne Wenn und Aber zum Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung bekennen, dann wird der Startpunkt für dieses Jahr verfehlt, und die Gipfel drohen, einer nach dem anderen zur großen Enttäuschung zu werden. Denn schöne Worte allein reichen nicht aus. Es gibt die schönen Worte aus dem Entwicklungsressort und dem Umweltressort. Aber das reicht nicht. Wir brauchen endlich konkrete Umsetzungspläne für die neue Nachhaltigkeitsagenda ({3}) aus dem Landwirtschaftsministerium, dem Finanzministerium, dem Wirtschaftsministerium und dem Infrastrukturministerium. Von dort ist bislang leider wenig gekommen. Die großen Versprechen - auch auf sie wird es ankommen - zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung sind längst nicht umgesetzt. Auch deswegen kommt es in Elmau darauf an, glaubhaft zu machen, dass Deutschland bereit ist, jährlich 1,2 Milliarden Euro mehr in die globale Entwicklung und 500 Millionen Euro mehr in den Klimaschutz zu investieren. Wenn das nämlich nicht passiert, dann droht der Gipfel über die Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba zu scheitern, und wenn Addis Abeba keine Fortschritte bringt, dann wird der Nachhaltigkeitsgipfel in New York zur Farce. Und wenn New York zur Farce wird, dann kommt in Paris beim großen Klimaabkommen ganz wenig heraus. Das können wir uns alle nicht leisten. ({4}) Mit unserem grünen Antrag versuchen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg für ein erfolgreiches Gipfeljahr 2015 zu beschreiben. Ich lade Sie herzlich ein, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Die Zukunft wartet nicht. Die 15 15-Jährigen - und nicht nur sie - werden es uns allen danken. Vielen Dank. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat Peter Stein, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen der Grünen, zu Beginn frage ich Sie: Was wollen Sie mit diesem Antrag erreichen? Wir reden schon zum wiederholten Male über dieses Thema, das Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Weite Teile sind nur eine Aufzählung dessen, was uns in diesem Jahr 2015 erwartet. Das ist nichts Neues: Das sind die Verhandlungen zu den SDGs, die G-7-Präsidentschaft Deutschlands und nicht zuletzt - das ist sicherlich sehr wichtig - die Klimakonferenz in Paris. Alles in Ihrem Antrag ist mit der Aufforderung an die Regierung verbunden, dies zu einem möglichst guten Abschluss zu bringen. Das ist selbstverständlich. Dazu braucht es keine Aufforderung. ({0}) Sie haben es wiederum geschafft, in den Überschriften so ziemlich jedes Thema im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit anzuführen und dann völlig unkonkret zu bleiben. Sie erwarten die Konkretisierung von der Regierung, ({1}) und zwar zu Recht. Das erwarten wir auch, und das wird geliefert. Zudem ist Ihr Antrag, auch was die Vereinten Nationen betrifft, teilweise widersprüchlich. In der Einleitung stellen Sie fest, dass die Vereinten Nationen durch den Sicherheitsrat blockiert sind und dass das, was in der Vergangenheit abgeliefert worden ist, enttäuschend war. Das beschreiben Sie so, um danach aber festzustellen, dass die UNO unsere ganze Hoffnung ist. Richtig ist: Wir müssen die Vereinten Nationen in diesem Punkt stärken. ({2}) Auch darin sind wir völlig d’accord. Auch das müssen wir heute nicht ausdiskutieren. Das ist nichts Neues. ({3}) Auf die Klimafrage möchte ich jetzt nicht weiter eingehen. Das wird mein Kollege Matern von Marschall machen, der an der Klimakonferenz in Lima teilgenommen hat. Er kann deshalb viel besser darüber berichten. Ich möchte nur so viel sagen: Ich hatte bereits in meiner Rede vor Weihnachten exakt zu demselben Themenkomplex im Plenum gesagt: Wir werden als Bundesrepublik Deutschland alles dafür tun, dass Paris ein Erfolg wird. - Paris muss auch ein Erfolg werden. Das ist heute auch nicht zum ersten Mal gesagt worden. Ich wiederhole es aber gerne. Das ist auch unsere Auffassung als CDU/CSU-Fraktion. Darin sind wir, glaube ich, im ganzen Haus völlig d’accord. ({4}) Sich bei den globalen Fragen auf einen reinen Topdown-Ansatz zu verlassen, halte ich aber für kurzsichtig. Das bedeutet nämlich nicht, dass wir deswegen unsere Anstrengungen auf dem Weg nach Paris reduzieren würden, sondern lediglich, dass wir einen gangbaren Weg suchen und auch hilfreiche Alternativen betrachten müssen, zum Beispiel die Verstetigung der Klima- und Entwicklungspolitik, und zwar nicht nur auf der internationalen, sondern auch auf der nationalen und der subnationalen Ebene, und die Verstärkung der Anstrengungen auf diesen Ebenen. Als Vorbild dient hier das, was die großen C-40-Städte bereits auf der kommunalen Ebene eingeleitet haben. Länder wie Deutschland können und müssen dabei vorangehen und anderen den Weg zeigen. Sie müssen bereit sein, dabei Risiken einzugehen. Wir sind bereit dazu und tun das gerade. Gerade deshalb schaut die Welt auf uns. Erlauben Sie mir noch einen Kommentar zu einem Satz in Ihrem Antrag. Ich halte es für absolut unangemessen, dass Sie die Abwesenheit der Kanzlerin bei einer einzelnen Konferenz kritisieren. Wie Sie wissen, ist die Kanzlerin nicht faul und nimmt an zahlreichen Konferenzen teil. ({5}) Sie ist sehr gut organisiert, hat aber einen Terminkalender, dem wahrscheinlich drei Abgeordnete Ihrer Fraktion nicht gerecht werden können. Sie hat außerdem in der Regierung beispielsweise mit der Umweltministerin, dem Landwirtschaftsminister, dem Minister für Entwicklungszusammenarbeit und dem Vizekanzler starke Partner, die über höchste Sachkompetenz verfügen. Allein deswegen, wegen des Seitenhiebs auf die Kanzlerin, können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben an den SDG-Prozess große Erwartungen. Die überwiegend positiven Entwicklungen werden fortgesetzt und durch neue Aspekte ergänzt. Ganz wichtig ist: Wir werden endlich unserer globalen Verantwortung dadurch gerecht, dass die SDGs und die Regeln der Klimaverhandlungen für alle Staaten gleichermaßen gelten. Wir werden schlussendlich die Trennung in Verursacher und Betroffene aufheben. Das gilt für Industrie- und Schwellenländer genauso wie für Entwicklungsländer. Das halte ich für einen guten Ansatz; dieser stammt übrigens vom Klimaschutzgipfel in Lima.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Stein, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roth?

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir bleibt ja nichts anderes übrig, Frau Roth. ({0}) - Wie im Ausschuss: Ja, gerne.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Stein, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie unserem Antrag zustimmen würden, wenn wir bereit wären, die Anmerkung, dass Frau Merkel lieber beim BDI war als bei Ban Ki-moon, zu streichen? ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt, allein deswegen schon können wir nicht zustimmen. Aber vielleicht gibt Ihnen mein Kollege Matern von Marschall darauf die richtige Antwort. Es ist natürlich zu begrüßen, dass die SDGs nach derzeitigem Stand möglichst umfangreich gestaltet werden, um sich den komplexen Herausforderungen unserer Zeit vollständig zu stellen. Was auch sonst? Das ist unser Ziel. Ich sehe allerdings an dieser Stelle die Gefahr, dass eine Aufblähung in 17 Goals, 169 Targets und Tausende Details genau das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigen, zur Folge haben könnte. Zu viel Klein-Klein im Inhalt kann dazu führen, dass die Ziele beliebig werden, dass sich jeder das heraussucht, was er am leichtesten erfüllen kann, und dass das große Ganze nicht mehr zu bewerten ist. Eine schlankere und verbindlichere Version der 17 Ziele, hinter denen wir ausdrücklich stehen, halte ich für zielführender. Ein weiterer Punkt, den ich für wichtig halte, betrifft den Begriff der Nachhaltigkeit. Er ist nicht abschließend mit Klima- und Umweltthemen beschrieben, sondern umfasst gerade in der Entwicklungszusammenarbeit auch Demokratisierungsprozesse, Bildung, insbesondere die berufliche Ausbildung, das Gesundheitswesen und den nachhaltigen Aufbau einer starken Wirtschaftsstruktur in den Zielländern. Wir haben hier seitens der CDU/ CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion einen Paradigmenwechsel vorgenommen, den wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in den Vordergrund stellen. Sie sagen hierzu nichts. Ihr Antrag bleibt weit hinter dem Regierungshandeln zurück. So werden wir keine Entwicklungspolitik machen. Die SDG-Agenda als Ganzes ist nur dann nachhaltig, wenn sie von allen Staaten in allen relevanten Bereichen abgebildet, mitgetragen und umgesetzt wird.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Stein, denken Sie an die Redezeit.

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Noch zwei Sätze. - Das heißt für uns, die Entscheidungen anderer souveräner Staaten und Regierungen zu akzeptieren, selbst wenn sie im Ergebnis nicht unseren Erwartungen entsprechen. Begegnungen auf Augenhöhe und echte Partnerschaft beginnen schon bei der Verhandlungsführung und enden noch lange nicht bei der Umsetzung. Das ist nachhaltig. Herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieses Jahr ist ein Gipfeljahr, in Bayern der G-7Gipfel. Wir haben die Entwicklungsfinanzierungskonferenz in Äthiopien, die große Nachhaltigkeitskonferenz in der UNO in New York und den Klimagipfel Ende des Jahres in Paris. Die großen Themen stehen also auf der Agenda: globale Gerechtigkeit und Klimaschutz. Herr Stein, ich denke, es lohnt sich schon, über diese Themen so oft wie möglich zu diskutieren; denn nach wie vor sind Armut und Perspektivlosigkeit auch Ursachen für Krisen und Kriege, und sie sind unter anderem auch ein Nährboden für Terror. Das haben wir in den letzten Tagen leidvoll erleben müssen. Deswegen, finde ich, ist es überfällig, auch über die Ursachen von Terrorismus viel grundsätzlicher und weniger oberflächlich zu diskutieren. Diese Diskussion hat mir leider heute doch sehr gefehlt. ({0}) Weltweite soziale Ungleichheit und die Zerstörung des Planeten sind die zentralen Herausforderungen, die im Rahmen einer neuen, nachhaltigen Politik für mehr globale Gerechtigkeit thematisiert werden sollen. Es zeigt sich aber schon, dass sehr unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Während zum Beispiel die UNO und viele Länder des Südens sehr stark auf die weltweite soziale Ungleichheit zwischen Staaten und innerhalb von Staaten fokussieren, ist das beispielsweise für die Bundesregierung überhaupt kein Thema. Das kommt in dem Papier als Schwerpunkt überhaupt nicht vor. Das halte ich schlichtweg für einen entwicklungspolitischen und politischen Skandal. ({1}) Wenn 86 Personen weltweit so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dann zeigt sich doch, dass diese Reichtumskonzentration massiv zerstörerisch wirkt und dass wenige nach wie vor auf Kosten der Mehrheit leben - und das trotz jahrzehntelanger Entwicklungszusammenarbeit -, weshalb wir eine weltweite Politik der Umverteilung dringend benötigen, die wir auch schon seit Jahren fordern. ({2}) Es fehlt wieder ein weiteres ganz großes Thema in diesen Textentwürfen - das haben wir schon bei den MDGs massiv kritisiert -, nämlich die Überwindung von Krieg als Mittel der Politik. Das wäre der größte Beitrag, den wir für Entwicklung leisten können. ({3}) Die Ausgaben für die weltweite Rüstung könnten wir umwidmen - wir sind bei Rüstungsausgaben von über 1 Billion Euro weltweit pro Jahr -, um endlich Entwicklung und Klimaschutz zu finanzieren. Das ist ein Bereich, der mir im Antrag der Grünen fehlt. Das wäre nämlich eine sehr innovative Entwicklungsfinanzierung, die wir seit Jahren fordern: Umwidmung der Rüstungsgelder zur Erreichung von Entwicklungszielen. ({4}) Wir haben viel über die SDGs diskutiert, auch schon im Zusammenhang mit anderen Anträgen. Deshalb möchte ich mich jetzt auf einen Punkt in Ihrem Antrag konzentrieren. Es gibt viele Dinge in dem Antrag, die auch wir unterstützen. Wir finden zum Beispiel den Ansatz, dass wir bei uns beginnen müssen, sehr gut. Es ist ganz klar: Wir müssen bei uns anfangen. Auch was verbindliche Zusagen zur Klimaschutzfinanzierung und Entwicklungsfinanzierung angeht, sind wir einverstanden. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist die große Fokussierung auf den G-7-Gipfel; denn viele von uns sind schon gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm auf die Straße gegangen. Das sind völlig überholte Gipfel, die eine Politik des 19. Jahrhunderts darstellen. Die reichsten und mächtigsten Staaten der Erde, die gerade einmal 10 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, treffen sich, um ihre Interessen zu formulieren. Meistens werden Entwicklungsthemen instrumentalisiert, um dem Ganzen einen wohltätigen Anstrich zu geben. Gleichzeitig geht es doch um die Frage des Zugangs zu Ressourcen, um den Kampf um diese Ressourcen, der oft militärisch ausgetragen wird. Ich kann mir jetzt schon vorstellen, dass es ein großes Bild geben wird, wie der G-7-Gipfel sich gemeinsam gegen den Terror ausspricht, währenddessen auch diese Staaten für Terror verantwortlich sind. Schauen wir uns die Drohnen-Kriege an oder die CIA-Foltergefängnisse in Europa. Hier sind viele G-7-Regierungen für den existierenden Terror verantwortlich. Wenn wir diese Doppelmoral nicht überwinden, dann kommen wir auch zu keiner neuen Politik. Genau deshalb werden wir gemeinsam mit vielen anderen auch wieder im schönen Bayern gegen den G-7-Gipfel auf die Straße gehen. Danke. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Bärbel Kofler, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist eine Chance, dass wir in der ersten Sitzungswoche des Jahres 2015 über das Europäische Jahr für Entwicklung reden können. Auf einer Vielzahl von Konferenzen haben wir die Möglichkeit, Entwicklungspolitik und Klimapolitik wirklich zusammenzubringen und voranzubringen. Darüber wird noch öfter zu reden sein. ({0}) Ich finde den von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon vorgelegten Vorschlag, 17 Ziele zu benennen, gut. Für mich ist ganz wichtig, zu betonen: Wir müssen versuchen, dafür zu sorgen, dass darüber auf dem UN-Gipfel in New York im September eine Einigung herbeigeführt wird. Denn es kommt darauf an, dass möglichst alle Staaten mitmachen und diese Ziele zu erreichen versuchen. Der SDGs-Prozess, also der Prozess zur Festlegung der Nachhaltigkeitsziele, hat eine andere Qualität, eine Qualität, die weit über das hinausgeht, was im Rahmen der Millenniumsentwicklungsziele vereinbart wurde. Das ist das Spannende an diesem Prozess. Darauf müssen wir uns, glaube ich, einlassen. Daran müssen wir mehr arbeiten. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Wir haben das Millenniumsentwicklungsziel 1, ein sehr wichtiges Ziel - die Bekämpfung und Beseitigung der extremen Armut bis zum Jahr 2015 -, leider nicht erreicht. Wir haben aber auch Erfolge erzielt - auch das möchte ich an dieser Stelle einmal sagen -: Es ist gelungen, 700 Millionen Menschen aus extremer Armut herauszuführen. Das bedeutet, dass man nicht mehr unter Hunger in seiner extremsten Ausprägung leidet und dass man Chancen für das eigene Leben hat. Aber das reicht nicht. Es ist uns nicht gelungen, zu verhindern, dass immer noch Millionen Menschen auf dieser Erde von extremer Armut betroffen sind. Wir laufen Gefahr, in vielen Bereichen - ob es der Klimawandel oder die soziale Gerechtigkeit sind - Menschen, die aus extremer Armut herausgeholt worden sind, wieder in den vorherigen Zustand zurückfallen zu lassen. Darum geht es bei den Nachhaltigkeitszielen: dass wir Erfolge nicht nur einmal erreichen und Statistiken damit schmücken, sondern dass wir diese Erfolge nachhaltig sichern. ({1}) Für uns Sozialdemokraten gehört zum Thema „Rettung aus extremer Armut und Hunger“, dass wir es mit den Themen „Beseitigung von Ungleichheiten auf diesem Planeten“ und „Schaffung von Zugang zu menschenwürdiger Arbeit“ zusammenbringen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass das Ziel „Schaffung von Zugang zu menschenwürdiger Arbeit“ eines der 17 Ziele ist, die im Vorschlag von Ban Ki-moon genannt werden. Das halte ich - ich glaube, das tun wir gemeinsam, Herr Stein - für einen entscheidenden, einen wichtigen Punkt. ({2}) Wenn es nicht gelingt, Menschen Zugang zu sozialer Sicherheit, zu menschenwürdiger Arbeit zu geben, wenn es nicht gelingt, ihnen damit Wege aus der Perspektivlosigkeit aufzuzeigen, dann ist die logische Konsequenz das Steigen von gesellschaftlichen Spannungen bis hin zu Gewalt und Gefährdung des inneren Friedens in vielen Ländern. Wir wissen ja, dass genau in den Ländern, in denen aus sozialen Gründen Stabilität und Sicherheit gefährdet sind, extreme Armut am meisten zunimmt und die Rettung aus extremer Armut am schwierigsten möglich ist. Das ist einer der entscheidenden und wichtigen Punkte. Ähnliches gilt für die Frage des Klimawandels. Er ist eine der großen Ursachen dafür, dass Menschen wieder in extreme Armutssituationen geraten können. Wir haben das auf verschiedenen Reisen in verschiedenen Situationen erlebt. Wir haben den Verlust von Anbauflächen, die Verdorrung ganzer Landstriche, den Verlust des Zugangs zu sauberem Trinkwasser gesehen. Für die betroffenen Menschen bedeutet das, dass sie ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, also den Rückfall in eine Situation, aus der sie vielleicht schon einmal mit vielen Anstrengungen und Maßnahmen herausgeführt werden konnten. Gleichzeitig stehen wir vor dem Problem des großen Energiebedarfs der Entwicklungsländer - auf der Klimakonferenz in Paris werden wir uns mit dem Thema Klimawandel noch ganz anders auseinandersetzen müssen und der damit verbundenen Chance, den Entwicklungsländern einen Zugang zu unterschiedlichen Energieformen zu ermöglichen. Wir alle wissen, dass das Fehlen des Zugangs zu Energie eines der großen Entwicklungshemmnisse in vielen Ländern ist. Es muss uns gelingen, dieses Recht auf Entwicklung für die Menschen und die Länder darzustellen und gleichzeitig zu sehen, wo die ökologischen Grenzen unseres Planeten sind. Deshalb wird hier die spannende Frage sein: Wie kriegen wir gemeinsam weltweit eine Energieversorgung hin, die Effizienz und regenerative Energien in den Mittelpunkt stellt? ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Aber jetzt ist die Redezeit wirklich abgelaufen.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Allein diese beiden Punkte zeigen, wie groß die Herausforderungen sind und wie viele Gedanken wir uns auch in diesem Jahr noch machen müssen, um diesen Punkten zum Durchbruch zu verhelfen. Die Chancen liegen bei der Konferenz in Addis Abeba, bei der Konferenz in New York und auch beim Klimagipfel in Paris. Wir sollten dieses Jahr gut nutzen. Danke. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Matern von Marschall, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Antragsteller von den Grünen, es ist schon darauf hingewiesen worden: Diese Thematik ist ein bisschen repetitiv. Sie ist deswegen nicht weniger wichtig. Ich bin dankbar dafür, dass sie aufgerufen wird. Im Nachhaltigkeitsbeirat, im Umweltausschuss und auch im Europaausschuss spielt sie eine große Rolle. Ob das bei manchen den Eindruck erweckt, dass ihre Themenvielfalt etwas schrumpft, das müssen Sie selber prüfen. Ich sehe jedenfalls gewisse Ermüdungserscheinungen auch bei Ihnen. In unserer Reisegruppe, die in Lima gewesen ist, waren auch Frau Höhn und Frau Baerbock. Die kann ich in Ihren gelichteten Reihen jetzt so schnell nicht finden. Herr Schwabe ist da. Frau Bulling-Schröter ist auch nicht da. - So weit zur Bedeutung, die Sie dem Thema einräumen. ({0}) - Gut; sie ist krank, entschuldigt. Ich habe sie heute noch gesehen. Was mich, wenn man über Wiederholung spricht, ein bisschen überrascht, ist Folgendes: In Ihrem Papier - ich weiß nicht, ob sozusagen die Autoren sich jetzt unter uns befinden - kommt nicht weniger als zehnmal der Begriff der sozial-ökologischen Transformation vor. ({1}) Das ist doch eine gewisse Häufung des Begriffs der sozial-ökologischen Transformation. ({2}) Ich habe recherchiert - vielleicht ein bisschen rasch und festgestellt, dass das ein Begriff ist, der im Wesentlichen in sehr linken Foren zu finden ist. ({3}) - Ich zitiere nachher noch ein bisschen. Dann müssen Sie sich einmal überlegen, ob Sie diesen Antrag nicht lieber mit den Kolleginnen und Kollegen der Linken zusammen formuliert hätten. Ich merke daran, dass da bei Ihnen schon ein bisschen Diskussionsbedarf ist. Sei es, wie es sei; das scheint eine Entwicklung zu sein, die prägnant ist. Ich will jetzt zu den Sachverhalten kommen. Deutschland - natürlich auch die Europäische Union - bekennt sich zu dem Klimaschutzvertrag, den wir dann in Paris verabschieden wollen. Wir gehören auch zur Gruppe derjenigen Länder, die bis März die sogenannten INDCs vorlegen werden. Das ist wichtig. Ich hoffe, dass viele andere Länder noch folgen werden und dass viele Länder das zumindest bis zur Jahresmitte tun werden. Es geht einfach darum, darzulegen, welche Sektoren in den Klimaschutz einbezogen werden. Es geht dann im Folgeprozess um Präzisierung. Da ist noch viel Arbeit zu leisten. Gute Vorarbeit ist in Lima von Ministerin Hendricks geleistet worden, begleitet auch von Minister Müller. Aber es ist noch viel zu tun, um das auszuarbeiten, was in den nächsten Monaten präzisiert werden muss. Schlussendlich muss nicht nur gesagt werden: „Was machen wir? Welche Sektoren beziehen wir ein?“, sondern auch: Wie machen wir es, und - das ist besonders wichtig - wie kann das überprüfbar gemacht werden? ({4}) Dieser Prozess, der in den nächsten Monaten vor uns steht, ist besonders schwierig. Daran müssen wir arbeiten. Ich glaube, wir haben eine ganz gute Chance - Frau Roth, Sie haben es angesprochen - mit Blick auf den G-7-Gipfel. Es sind drei große Nachhaltigkeitsthemen im Arbeitsprogramm unserer Präsidentschaft. Wir können darauf hinweisen, dass wir selbst mit unserem nationalen Aktionsprogramm Klimaschutz, Defizite durchaus anerkennend, in den Jahren bis 2020 und damit vor Gültigkeit des Pariser Vertrages noch eine Menge Arbeit vor uns haben. Durch die Präzisierung im nationalen Aktionsprogramm und auch im NAPE, im Effizienzplan, können wir die Freunde in der G-7-Gruppe vielleicht auch ermutigen und ermuntern, so etwas in der Präzision, die wir hier in Deutschland, ich glaube, in vorbildlicher und nachahmenswerter Weise leisten - das haben wir in Lima gemerkt -, zu implementieren. Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt. Ich glaube, das ist eine Riesenchance. Es ist gerade keine schlechte Konstellation - Frau Hänsel, Sie haben es, glaube ich, kritisiert -, dass wir unterhalb der UN-Ebene nicht nur die EU, sondern auch die G 7 und viele weitere Formate haben, in denen Ländergruppen ihre Ziele vorantreiben. Ich will auf einen Punkt hinweisen, der in Ihrem Antrag vollkommen fehlt: Wesentlich ist, dass wir in Forschung investieren und dass wir vor allen Dingen auch die Chance eröffnen, dass sich über den freien Markt die erfolgreichsten, preiswertesten und saubersten Technologien in der Welt verbreiten. Auch das ist ein nennenswerter Punkt, der zu mehr Gerechtigkeit beiträgt, weil so auch Länder, die sich das ansonsten nicht leisten könnten, preiswert gute Technologien einkaufen können. ({5}) Ich glaube - damit möchte ich zum Schluss kommen -, dass wir eine große Chance haben, mit unseren französischen Freunden, denen wir in diesen Tagen aus traurigem Anlass in besonderer Weise sehr verbunden sind, in Paris zu einem Erfolg zu kommen. Sie haben sich ja auch hohe Ziele gesetzt. Ich denke, dass Deutschland, das ja die G-7-Präsidentschaft innehat, vor diesem Pariser Gipfel alle anderen Länder in besonderer Weise ermutigen kann, hier voranzuschreiten. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Frank Schwabe, SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, das kann man schon einmal sagen: Es ist das Verdienst der Grünen, dass wir jetzt, auch wenn es schon etwas später ist, darüber diskutieren, dass 2015 ein entscheidendes Jahr für Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung und die Frage der Menschenrechte ist. ({0}) Auch wenn wir darüber schon ein paarmal diskutiert haben, kann es ja nicht schaden, das immer wieder zu betonen. Es liegt in der Tat ein Jahr vor uns, in dem auch die Abfolge der verschiedenen Veranstaltungen und Gipfel uns die Chance gibt, die Dinge gemeinsam zu betrachten, also Ökonomie, Ökologie und Soziales gemeinsam zu betrachten, aber auch die Welt vernetzt zu betrachten, Stereotype zu überwinden, über die eine Welt zu reden, nicht mehr so sehr in Erste, Zweite und Dritte Welt zu unterteilen. Dazu müssen sich natürlich alle Teile der Welt verändern. Auch wir selbst werden uns verändern müssen. ({1}) Deutschland nimmt in diesem wichtigen Jahr eine bedeutende Rolle ein: Das ist die G-7-Präsidentschaft, wie schon erwähnt wurde. Diese müssen wir für nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz nutzen. Chancen ergeben sich aber auch daraus - auch daran will ich hier erinnern -, dass wir erstmalig den Vorsitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen innehaben. Auch die Themen, die dort behandelt werden, gehören in den Bereich von nachhaltiger, zukunftsfähiger Entwicklung. ({2}) Weil die Dinge zusammengehören, weil Menschenrechte integraler Bestandteil sowohl des SDG-Prozesses als auch des Klimaschutzprozesses sind, will ich - ich kann auch gar nicht anders, weil ich mir gerade noch einmal ein Video angeschaut habe - einige Stunden, bevor wieder eine Auspeitschung des Bloggers Raif Badawi stattfindet, sagen, dass ich es gut finde, dass der Bundestagspräsident heute Morgen so klare Worte dazu gefunden hat. ({3}) Ich habe mir gerade noch einmal ein Video bei YouTube angeschaut, in dem seine Kinder, die ja zum Glück mittlerweile in Kanada leben, zu sehen waren. Es ist wirklich herzzerreißend, was man da sieht. Die Auspeitschung ist ein barbarischer Akt, und es muss klar sein: Wenn die Führung Saudi-Arabiens - man muss immer sagen: es ist die Führung in Saudi-Arabien; es sind nicht die Menschen - einen anständigen Platz in der Weltgemeinschaft haben will, dann muss sie ganz schnell von dieser barbarischen Tat absehen. Dann muss das aufhören. ({4}) Die Welt ist eben nicht auf einem nachhaltigen Pfad. Es ist schwer, die Dinge zu ändern, aber es ist dringend notwendig. Meine Mutter hat immer zu mir gesagt - das ist ja ein Zitat aus der Bibel -: Man hat das Gefühl, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Das gilt für viele Länder der Welt, eben auch deswegen, weil es kompliziert ist, sich zu verändern. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland insbesondere die Chance des G-7-Gipfels nutzt. Ich will daran erinnern, dass im Programm nicht nur etwas zum Klimaschutz und zu nachhaltiger Entwicklung steht, sondern zum Beispiel auch zur Situation der Weltmeere. Das ist ein ganz zentrales Thema, das wir in den Mittelpunkt rücken müssen. Da geht es in der Tat um die Vermüllung der Weltmeere. Es wird aber auch ein anderes spannendes Thema angesprochen: Das ist der Unterwasserbergbau, für den es bisher kaum vernünftige internationale Regelungen gibt. Ich glaube, wir ahnen noch gar nicht, welcher Schaden da zurzeit angerichtet wird. Ich finde gut, dass das Thema Bestandteil des G-7-Gipfels sein soll. Dann geht es natürlich in der Tat auch um den Klimaschutz, um ein Momentum für den Klimaschutz. Das ist die Chance, die von deutscher Seite entsprechend genutzt werden kann. Es geht um die Finanzierung bis zum Jahr 2020, darum, glaubwürdig zu zeigen: Wie können wir einen Aufwuchspfad schaffen, um die 100 Milliarden US-Dollar zu erreichen? Es geht darum, zu überlegen: Wie können wir das Erfolgsmodell aus Deutschland, die erneuerbaren Energien, noch stärker in der Welt fördern? Es geht auch ein bisschen darum, wie wir die internationalen Organisationen stärken können, wie endlich aus dem UN-Umweltprogramm eine UN-Organisation gemacht werden kann. Zusammen mit anderen Aktivitäten wie dem Petersberger Klimadialog und einer überzeugenden eigenen Klimaschutzpolitik in Deutschland können wir dafür sorgen, dass das Jahr 2015 ein erfolgreiches internationales Jahr wird. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3156 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe Drucksache 18/3562 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch dieses so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange, SPD. ({1})

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe dient der Umsetzung europarechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland in das nationale Recht. Die Vorgaben aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012 sollen umgesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass das in Artikel 6 Absatz 3 der EU-Menschenrechtskonvention garantierte Recht des Angeklagten, sich in einer Strafsache durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, verletzt sei, wenn das Gericht die Berufung des abwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines von ihm bevollmächtigten Verteidigers als Vertreter verwirft. Genau dies ist aber die zwingende Folge des geltenden § 329 Absatz 1 Satz 1 unserer Strafprozessordnung. Die Vertragsstaaten der Konvention haben sicherzustellen, dass ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen mit der Konvention übereinstimmen. § 329 StPO ist daher entsprechend zu ändern. Es stellt sich dann natürlich die weitere Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, was bei Nichterscheinen des Angeklagten mit dessen Berufung geschehen soll, wenn sein Rechtsmittel nicht mehr verworfen werden kann. Im deutschen Strafprozessrecht gilt im Grundsatz, dass gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfindet. Das geltende Strafprozessrecht räumt dem Verteidiger daher bisher auch nur in wenigen Fällen eine über die Verteidigung hinausgehende Befugnis zu einer tatsächlichen Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung ein. Der rechtskräftige Abschluss eines Strafverfahrens kann aber im Interesse der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege natürlich nicht allein von der Bereitschaft des Angeklagten zum Erscheinen in der Berufungshauptverhandlung abhängig sein. Der Gesetzentwurf bestimmt daher als weitere Konsequenz aus dem Urteil, dass dann ohne den Angeklagten mit dem schriftlich bevollmächtigten Verteidiger als dessen Vertreter verhandelt werden kann, soweit nicht besondere Gründe eine Anwesenheit des Angeklagten erfordern, etwa weil sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten machen muss. Entfällt die Vertretungsbefugnis oder die Vertretungsbereitschaft des Verteidigers während der in der Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Berufungshauptverhandlung oder entfernt sich der Vertreter einfach unentschuldigt, sieht der Gesetzentwurf als Rechtsfolge dann wieder eine Verwerfung der Berufung des Angeklagten vor. Denn die eingeräumte Vertretungsmöglichkeit soll nicht zugleich eine Möglichkeit zur Verschleppung des Verfahrens durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger eröffnen. Damit, meine Damen und Herren, wird einerseits das Recht des Angeklagten auf eine Vertretung in der Berufungsverhandlung entsprechend gestärkt, andererseits aber auch kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheit in der Berufungshauptverhandlung begründet. Die in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgenommene Abwägung zwischen dem Interesse an der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung und seinem Recht auf Vertretung durch einen Verteidiger wird im Entwurf insbesondere nicht zum Anlass genommen, die begrenzten Möglichkeiten, eine Vertretung des abwesenden Angeklagten auch in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vorzunehmen, auszuweiten und damit maßgebliche Strukturprinzipien der deutschen Strafprozessordnung zu ändern, die dem Anspruch auf rechtliches Gehör des Angeklagten, aber auch der Schaffung einer möglichst sicheren Entscheidungsgrundlage der Gerichte dienen. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf dient zum anderen der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses zu Abwesenheitsentscheidungen aus dem Jahr 2009. Mit dem vorliegenden Entwurf wird der EU-Rahmenbeschluss durch eine entsprechende Änderung der §§ 83, 87 b und 88 a des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen umgesetzt. Dort werden abschließend die Fälle geregelt, in denen ausnahmsweise eine Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung einer Abwesenheitsentscheidung besteht. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um konstruktive Beratungen in den Ausschüssen und schließlich um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Halina Wawzyniak, Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf soll das Recht des oder der Angeklagten auf Vertretung in Berufungsverhandlungen gestärkt werden und - es ist schon gesagt worden - der Rahmenbeschluss über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe umgesetzt werden. Für die Nichtjuristinnen und Nichtjuristen unter uns: Die Berufung ist eine zweite Tatsacheninstanz. Das heißt, es werden nicht nur Rechtsfragen geklärt, sondern auch Tatsachenfragen. Berufung können Angeklagte und Staatsanwaltschaft einlegen; das zu wissen, ist bei diesem Thema vielleicht nicht ganz unwichtig. ({0}) Zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses will ich an dieser Stelle gar nicht viel sagen; das ist okay, das können Sie so machen. Ich will vielmehr auf die Änderung der Strafprozessordnung eingehen. Nun ist es ja so, dass Sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben, dass Sie sich der Strafprozessordnung und dem Jugendgerichtsgesetz insgesamt zuwenden wollen. Es gibt auch eine Expertenkommission beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, die umfassende Vorschläge zur Reform der Strafprozessordnung erarbeitet. Das ist insgesamt begrüßenswert. Da wir hier keine Umsetzungsfrist haben, hätte ich persönlich es besser gefunden, wenn wir die Änderung des § 329 StPO, über den wir jetzt reden, in die umfassende Reform mit eingebunden hätten. Um es gleich zu sagen: Ich finde das, was Sie vorschlagen, nicht komplett falsch, aber ich glaube, dass das Teufelchen - es ist nur ein Teufelchen, kein Teufel - im Detail steckt. Sie haben gesagt - das ist völlig richtig -, dass mit der Änderung des § 329 StPO ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt wird. Nach diesem Urteil kann sich der Angeklagte in der Berufungsverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. § 329 Absatz 1 Satz 1 - auch darauf haben Sie hingewiesen - hat das bisher nicht in allen Fällen vorgesehen. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt: Das ist ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Insofern ist die von Ihnen in dem Satz 1 vorgenommene Klarstellung, nach der die Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung bei Nichterscheinen des Angeklagten oder eines Vertreters grundsätzlich nicht möglich ist, ausdrücklich zu begrüßen. Ich sehe ein kleineres Problem - deswegen sprach ich vom Teufelchen und nicht vom Teufel - in der Neuregelung des § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO. Sie sieht vor, dass unter bestimmten Bedingungen die Berufung ohne Verhandlung zur Sache dennoch verworfen werden kann. Ihre Begründung, es solle verhindert werden, dass ein Verfahren verzögert und eine weitere Verhandlung vereitelt wird, kann ich nachvollziehen. Deswegen schlagen Sie jetzt vor, dass die Berufung ohne Verhandlung zur Sache verworfen werden kann, wenn aufgrund bestimmter Handlungen die Fortführung der Hauptverhandlung dadurch verhindert wird, dass weder der Rechtsanwalt noch der Angeklagte anwesend ist. Ich finde es auch richtig, dass Sie in der Begründung darauf hinweisen, dass eine zwangsweise Vorführung des Angeklagten nicht möglich ist. Deswegen ändern Sie konsequenterweise auch § 330 StPO; das ist so weit alles in Ordnung. Ich würde trotzdem einen kleinen, konstruktiven Änderungsvorschlag machen. Ich würde Sie darum bitten, darüber nachzudenken, ob wir bei den in § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO genannten Gründen eine Zweitansetzung vorsehen können, bevor die Berufung ohne Verhandlung verworfen wird. Ich weiß: Auch das würde möglicherweise zu Verzögerungen oder zu einer Verlängerung führen. Aber wenn wir gesetzlich festschreiben, dass in diesem Fall eine Zweitansetzung stattfinden soll, und wenn zu dieser Zweitansetzung niemand erscheint, dann ist es aus meiner Sicht nachvollziehbar, dass man davon ausgehen kann, dass der Angeklagte oder der Rechtsanwalt, der ihn vertritt, kein Interesse mehr hat. So würden wir den Prinzipien eines fairen Verfahrens, des rechtlichen Gehörs und der richterlichen Aufklärung näherkommen. Ich bitte Sie, über diesen Vorschlag konstruktiv nachzudenken. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Prozessuale Verfahrensrechte sind wesentlicher Bestandteil eines Rechtsstaates. Deswegen beschäftigen wir uns heute in erster Lesung - das ist der erste Teil des Gesetzentwurfs - mit der Stärkung der Rechte des Angeklagten. Staatssekretär Lange und die anderen Vorredner haben es bereits gesagt: Das geht zurück auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es geht um einen Fall, in dem der Kläger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei einer Verhandlung des Berufungsgerichts persönlich nicht anwesend war. Er zog es aus bestimmten Gründen vor, nicht zu dieser Verhandlung zu gehen. Ohne seine Anwesenheit ist die Berufung direkt verworfen worden. Dagegen hat er sich gewendet; denn er wurde vor dem Berufungsgericht anwaltlich vertreten. Er ist der Meinung: Das verstößt gegen sein Recht auf Zugang zu einem Gericht, gegen sein Recht auf rechtliches Gehör und gegen sein Recht auf einen Verteidiger seiner Wahl. All das sind wesentliche Rechte, die ein Rechtsstaat vorsieht, genauso wie das Recht der Unschuldsvermutung, das Recht, dass keine Strafe ohne gesetzliche Grundlage verhängt werden darf, und das Recht auf ein faires Verfahren. Es war richtig, dass das Ministerium einen Entwurf zur Überarbeitung des § 329 Absatz 1 Satz 1 der StPO vorgelegt hat; denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass eine Berufung nicht schon deshalb verworfen werden darf, weil der Angeklagte in der Verhandlung fehlt, aber sein Verteidiger anwesend ist. Der vorliegende Gesetzentwurf wirft - das ist gerade von Kollegin Wawzyniak formuliert worden - an der einen oder anderen Stelle noch Fragen zu Feinheiten auf. Über die können wir diskutieren. Schauen wir uns die Formulierung an. Sie lautet: Soweit nicht besondere Gründe die Anwesenheit des Angeklagten erfordern, findet die Hauptverhandlung auch ohne ihn statt, wenn er durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist. Fragen wirft dieser Entwurf nach meiner Meinung dahin gehend auf, weil der Verteidiger in dieser Situation als Vertreter des Angeklagten auftritt. Möglicherweise würde das seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege nicht gerecht werden, wenn er lediglich Tatsachen vorträgt. Wenn es um Rechtsfragen oder um technische Fragen geht, sehe ich kein Problem. Wenn der Verteidiger aber einen neuen Sachvortrag in der Berufungsverhandlung bringt, dann sehe ich das Problem, dass seine Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege in ein etwas schiefes Licht gerät. Der Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung ist richtig. Es ist auch richtig, dass der abwesende Angeklagte in der Hauptverhandlung durch den Verteidiger vortragen lassen kann. Aber man muss bedenken, dass immer die höchstpersönliche Einlassung bevorzugt wird und dass sich durch Lücken in der Einlassung Nachfragen ergeben können. Eine Klärung wäre in einer solchen Situation nicht möglich. - All diese Punkte müssen wir noch klären. Der Entwurf in Gänze ist sicherlich sehr zu begrüßen. Nehmen wir uns ein Beispiel an § 73 OWiG: Es kann dann auf die Anwesenheit des Betroffenen verzichtet und auf den Rechtsanwalt abgestellt werden, wenn keine neue Einlassung zum Sachverhalt erfolgt. Ich könnte mir vorstellen, dass in einem solchen Fall diese Regelung erfolgversprechend ist, sodass der Verteidiger nur noch zu rechtlichen oder technischen Fragen Stellung nimmt. Bei einem neuen Sachvortrag stelle ich mir das etwas schwierig vor. Ich hoffe, dass wir im anstehenden Berichterstattergespräch in der kommenden Woche diese Fragestellung noch einmal gemeinsam diskutieren und dann diesen grundsätzlich sehr zu begrüßenden Entwurf auch gemeinsam zu einem erfolgreichen Gesetzgebungsverfahren führen können. Mein Eindruck ist: Ich glaube, es wird uns gelingen, das auch über alle Fraktionen hinweg hinzubekommen, weil die Intention, die Absicht, Rechte zu stärken, richtig ist. Das wollen wir gemeinsam. Es muss dann eben nur ein rundes Paket werden. Ich glaube, das können wir im anstehenden Berichterstattergespräch erreichen. Ich würde mich freuen, wenn uns das gemeinsam gelingt, und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen wir uns Folgendes vor: Ein erdachter Grüner wird fotografiert. Dieses Foto von ihm taucht im Internet auf. Auf diesem Foto sieht man ihn in seinem Garten sitzen, und im Hintergrund steht eine Pflanze, die wie eine Hanfpflanze aussieht. ({0}) Er wird angezeigt. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren ein. Er kommt vor Gericht - die meisten Strafprozesse beginnen übrigens beim Amtsgericht; ungefähr 70 Prozent, nehme ich einmal an, habe aber keine genauen Zahlen - und wird dort von einem unverständigen alten Richter verurteilt, der sich mit Hanf und Pflanzen usw. nicht so gut auskennt. ({1}) Er sagt: Das ist aber total ungerecht. Ich bin nicht zur Verhandlung hingegangen, ({2}) weil ich davon ausgegangen bin, dass vor deutschen Gerichten immer Gerechtigkeit geübt und die Wahrheit gefunden wird. ({3}) Deshalb geht er in Berufung. Das kann man nur beim Amtsgericht tun. Wenn man beim Landgericht, wie Uli Hoeneß, anfängt, kann man keine Berufung einlegen. Da gibt es nur die Möglichkeit der Revision. - Er geht also in Berufung - das ist die zweite Tatsacheninstanz - und nimmt sich einen ganz tollen Verteidiger - einen Idealverteidiger; ich will keinen Namen nennen ({4}) und sagt sich: Da habe ich jetzt einen, der mich raushaut. Der hat ganz eindeutige Argumente. Daran kann das Berufungsgericht gar nicht vorbei. - Er geht nicht zur Verhandlung, hat Wichtigeres zu tun, weil er sagt: Ich werde ja in der zweiten Instanz sowieso freigesprochen. Nach der geltenden Rechtslage ist es in der Tat so, dass die Berufung, wenn der Angeklagte nicht krank ist, verworfen wird. Dann wird nicht nur nicht ausreichend argumentiert, sondern dann wird auch gar nicht verhandelt und die Berufung verworfen. Ich finde es natürlich außerordentlich gut, dass der Europäische Gerichtshof nun gesagt hat: Das ist nicht in Ordnung. Ein Angeklagter muss auch das Recht haben, sich vertreten zu lassen, wenn er meint, dass eine andere Person ihn besser verteidigen kann. Wenn der Angeklagte einen Anwalt beauftragt und deshalb die Berufung verworfen wird - das geht nicht. Ein Angeklagter muss auch, ohne dass er anwesend ist, Gerechtigkeit finden. Jetzt denkt man, dass dies umgesetzt wird, weil das Justizministerium gesagt hat: Da der Europäische Gerichtshof das für richtig hält, setzen wir das um und sagen in Zukunft: Wenn der Anwalt nicht nur über eine Verteidigervollmacht verfügt, sondern auch über eine Vollmacht, die ihn zur Vertretung des Angeklagten berechtigt - das ist nämlich eine eigene Vollmacht; das ist in der Regel nicht der Fall, das wird häufig verwechselt -, dann kann auch verhandelt werden. Ich fasse einmal Absatz 1 und Absatz 2 des § 329 StPO aus dem Gesetzentwurf zusammen. Aber das Bundesjustizministerium hat es nicht dabei bewenden lassen, sondern hat gesagt: Wir müssen doch wieder Einschränkungen vornehmen. Es geht nicht, wenn erstens der Verteidiger aus irgendeinem Grund den Saal verlässt, zum Beispiel weil er es eilig hat oder zu einem anderen Prozess geht, bei dem er besser verdient - dann ist er vielleicht kein so guter Verteidiger -, weil dann nicht mehr verhandelt werden kann, wenn zweitens der Angeklagte selber im Prozess anwesend war und während der Verhandlung geht und wenn er sich drittens extra verhandlungsunfähig macht und deshalb nicht erscheinen kann. In diesen Fällen kann er sich nicht vertreten lassen. Das sind die Einschränkungen. Nehmen Sie doch einfach den Europäischen Gerichtshof ernst, und lassen Sie die Regelung, wie ich sie am Anfang dargestellt habe, wie Sie sie auch gesehen haben - Frau Wawzyniak auch -, bestehen, und zwar ohne die genannten Einschränkungen, weil das zu solch blöden Überlegungen führt wie: Wenn der Angeklagte nicht kommt, weil er sich selber verhandlungsunfähig gemacht hat, muss ein Arzt befragt werden. Der muss dann erst einmal geholt werden. Er muss den Angeklagten untersuchen, weil er ein Gutachten abgeben soll, ob der Angeklagte tatsächlich verhandlungsunfähig ist. Wir sind mit der Regelung bzw. mit der Richtung grundsätzlich einverstanden - das ist klar; der Europäische Gerichtshof will die Rechte der Angeklagten stärken -; ohne diese Einschränkungen würden wir die Regelung für richtig halten, sie befürworten und dafür stimmen. Nun gibt es aber einen anderen Vorschlag. Wir müssen uns im Ausschuss und in den Berichterstattergesprächen zusammensetzen und den einen oder anderen Sachverständigen hinzuziehen. Wir werden uns das alles genau anhören und schauen, ob dabei am Ende ein Kompromiss herauskommen kann, damit der Verteidiger in dem Fall, den ich gebildet habe, sagen kann: Die Pflanze sieht nur so aus wie eine Hanfpflanze. ({5}) Oder: Das ist gar keine richtige Hanfpflanze, in der Cannabis ist, das man auch rauchen kann, sondern das ist eine Nutzhanfpflanze, deren Besitz gar nicht strafbar ist. ({6}) Damit könnte der gute Verteidiger den Angeklagten freibekommen. Dazu brauchte er den Mandanten gar nicht. ({7})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Danke schön. - Nächster Redner ist Dirk Wiese, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ströbele, ich glaube, in Ihrem Vortrag fehlte nur diese Frage: Hat H. S. sich strafbar gemacht? Beurteilen Sie den Fall prozessual! - Dann könnten wir den Fall heute in dieser Runde gemeinsam lösen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kernstück des vorliegenden Gesetzentwurfs sind in Umsetzung des sogenannten Neziraj-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Neuregelung des § 329 StPO sowie die Umsetzung des Rahmenbeschlusses „Abwesenheitsentscheidungen“ des Rates aus dem Jahre 2009. Entsprechend der Urteilsvorgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte soll künftig ein Nichterscheinen des Angeklagten nicht mehr zwingend zur Verwerfung der Berufung führen, sofern ein nachweislich zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger an seiner statt erscheint und eine Anwesenheit des Angeklagten nicht aus besonderen Gründen erforderlich ist. Der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange hat die Hintergründe des Urteils sowie die Umsetzung des Rahmenbeschlusses bereits fundiert dargestellt. Um Wiederholungen hier und jetzt zu vermeiden, möchte ich mich daher auf die drei zentralen Punkte des Gesetzentwurfs beschränken. Erstens: Vertretung durch Verteidiger. Der Angeklagte kann sich künftig durch einen nachweislich zur Vertretung bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen. „Nachweislich bevollmächtigt“ heißt hier, dass der Angeklagte sich von einem mit schriftlicher Vertretungsvollmacht bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen muss. Zweitens: kein Recht auf Abwesenheit in der Hauptverhandlung. Lassen Sie mich hier ausdrücklich klarstellen, dass mit den Neuregelungen in dem heute zu debattierenden Gesetzentwurf kein Recht auf Abwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung begründet werden soll. Der Angeklagte ist selbstverständlich nach wie vor verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen. Zusätzlich wird in allen Fällen, in denen die Aufklärungspflicht des Gerichts die persönliche Anwesenheit des Angeklagten gebietet, seine Anwesenheit auch weiterhin durch die auch zukünftig vorgesehenen Zwangsmittel der Vorführung sichergestellt werden können. Drittens: besondere Gründe für Anwesenheit des Angeklagten. Das Gericht kann überdies auch weiterhin die Anwesenheit des Angeklagten im Berufungsverfahren anordnen, sofern besondere Gründe dies erforderlich machen. Solche sind etwa bei konkreten Anhaltspunkten dafür gegeben, dass die Aufklärung bestimmter Umstände oder die Erhebung bestimmter Beweise ohne den Angeklagten nicht möglich sein werden. Als Beispiel sei hier eine Gegenüberstellung mit Zeugen oder Mitangeklagten genannt. Das Erfordernis der besonderen Gründe ist den deutschen Gesetzen übrigens nicht fremd. So findet sich in § 50 Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz, der auch für die Berufungsverhandlung gilt, diese Voraussetzung wieder. Sie sehen, auch wenn in diesem Beispiel „besondere Gründe“ dafür vorliegen müssen, dass in der Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden kann: Der Rechtsbegriff der „besonderen Gründe“ ist - siehe § 50 Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz - alles andere als neu. Ich komme zum Schluss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schützen wir die Rechte des Angeklagten entsprechend dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, geben aber gleichzeitig den Gerichten genug Instrumente mit, um die Anwesenheit des Angeklagten in notwendigen Fällen sicherzustellen. Ich freue mich auf die parteiübergreifenden Beratungen, die demnächst anstehen, und danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Das war hinsichtlich der Redezeit vorbildlich. - Der nächste Redner ist Herr Dr. Volker Ullrich, CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte dreht sich um die gesetzgeberische Umsetzung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Kern geht es um die Frage: Kann sich der Angeklagte in der Berufungsverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen? Das deutsche Recht kennt dem Grundsatz nach keine Verhandlung ohne den Angeklagten. Ich möchte in wenigen Sätzen ausführen, weshalb dieses Prinzip richtig ist: Es geht nicht nur um die Sicherstellung des rechtlichen Gehörs des Angeklagten, sondern auch um eine objektive Chance des Gerichts, die Wahrheit zu finden. ({0}) Diese Wahrheitsfindung soll durch den persönlichen Eindruck des Angeklagten sichergestellt werden. Dennoch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gesagt, es verletze den Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren, wenn ein verteidigungsbereiter Verteidiger, der bevollmächtigt worden ist, in der Berufungsverhandlung nicht verhandeln kann, sondern das Verfahren durch Urteil abgewiesen wird. Es ist auch richtig, dass sich die Bundesregierung nach diesem Urteil nicht darauf verlässt, dass es die Rechtsprechung alleine regeln wird, sondern eine gesetzliche Regelung getroffen wird. ({1}) Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber jene: Inwiefern wollen wir das Recht auf eine Verhandlung ohne den Angeklagten in unserer Rechtsordnung berücksichtigen? Anders ausgedrückt: Nehmen wir einen Paradigmenwechsel hin zu einem Strafverfahren ohne Angeklagten vor oder nicht? Diese Frage ist durchaus von Relevanz, weil sich die europäischen Rechtsordnungen in diesem Bereich deutlich unterscheiden. Das deutsche Recht kennt im Prinzip keine Verhandlung ohne den Angeklagten, während in Frankreich, in Italien oder auch in den Beneluxstaaten eine solche Verhandlung durchaus an der Tagesordnung ist. Ohne dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu nahe treten zu wollen: Diese unterschiedlichen Konzepte der Verhandlung ohne Angeklagten waren sicherlich auch ausschlaggebend für dieses Urteil. Festzuhalten ist aber: Es gibt kein Recht, wonach der Anwalt den Angeklagten ersetzt, sondern es gibt nur das Recht, dass der Verteidiger in der Berufungsverhandlung für den Angeklagten spricht. Da wir unsere Prinzipien der Strafprozessordnung bewahren wollen, sollten wir dieses Urteil meiner Meinung nach nur sehr restriktiv umsetzen. Vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden Umsetzung dieses Urteils begrüße ich die Einwände des Bundesrates. Der Bundesrat hat nämlich gesagt, der Verteidiger solle in der Berufungsverhandlung nur dann zum Zuge kommen, wenn er explizit für diesen Termin bevollmächtigt wird. Nach dem Wortlaut des Regierungsentwurfs könnte es schon ausreichen, dass der Verteidiger irgendwann im Verlauf des Strafverfahrens bevollmächtigt worden ist, möglicherweise schon in der ersten Instanz, damit er in der Berufungsverhandlung ein Stück weit an die Stelle des Angeklagten tritt. Das soll vor dem Hintergrund der Stellung des Rechtsanwalts eigentlich verhindert werden. Der Rechtsanwalt ist nicht allein Partei, sondern auch Organ der Rechtspflege. Angesichts dieser besonderen Ausgestaltung sollte der Anwalt auch nicht durch eine strafprozessuale Reform stärker in die Rolle der Partei gedrängt werden. Deswegen bitte ich, dass wir die Frage, inwiefern der Anwalt bevollmächtigt werden muss, im Laufe der Beratungen noch einmal diskutieren. Meine Damen und Herren, im Übrigen empfehle ich uns, dass wir uns auf die guten Traditionen unserer Strafprozessordnung besinnen. Die Verhandlung bei Anwesenheit des Angeklagten gehört zu unseren rechtsstaatlichen Traditionen. Diese sollten wir bewahren. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3562 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Wie ich sehe, ist das nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann ({0}), Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Elektronische Gesundheitskarte stoppen Patientenorientierte Alternative entwickeln Drucksache 18/3574 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss Digitale Agenda Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke. ({2})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! 1 213 960 000 Euro - so viel hat die elektronische Gesundheitskarte die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen bis gerade eben gekostet, über 1,2 Milliarden Euro für eine Karte, die bisher nicht mehr kann als die alte Krankenversicherungskarte. Das soll wohl noch länger so bleiben, zumindest schreibt dies das Bundesministerium für Gesundheit in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion vom November des letzten Jahres. Nun steht im SGB V: Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen sollen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. - Die Linke sagt: Die E-Card, diese elektronische Gesundheitskarte, ist weder zweckmäßig noch wirtschaftlich. Auch deshalb lehnen wir sie ab. ({0}) Wir teilen auch die Sorge vieler Versicherter, Ärztinnen und Ärzte, Datenschützerinnen und Datenschützer, dass eine zentrale Struktur den Schutz der sensiblen Sozialdaten im Gesundheitswesen vor Missbrauch auf Dauer nicht gewährleisten kann. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag, der Ihnen heute vorliegt: Stoppen Sie die E-Card jetzt, bevor weitere Milliarden an Krankenkassenbeiträgen in diesem schwarzen Loch der Gesundheitspolitik versickern! ({1}) Wir fordern Sie auch auf, endlich ernst zu machen und ernsthaft über moderne IT-Lösungen für das Gesundheitswesen nachzudenken. Wir müssen jetzt Alternativen zur E-Card prüfen. Es ist doch so, dass schon die einfachsten Anwendungen die Gematik, also die Betreibergesellschaft, vor schier unüberwindliche Schwierigkeiten zu stellen scheinen. Bis heute gibt es keine Konzepte und keinen verbindlichen Zeitplan für patientenrelevante Anwendungen. Das kann man zum Beispiel daran erkennen - der vdek, der Verband der Ersatzkassen, weist in einer Pressemitteilung darauf hin -, dass die derzeitige Karte nicht einmal über genügend Speicherplatz verfügt, um einen Medikationsplan darauf zu speichern. Ein Medikationsplan ist keine große Datei, sondern maximal ein DIN-A4-Blatt mit ein bisschen Text, vielleicht 1 Kilobyte. Zu einem Zeitpunkt also, an dem Millionen Menschen über Smartphones mit etlichen Gigabyte Speicherplatz verfügen und USB-Sticks oder Speicherkarten nicht mehr die Welt kosten, ist das ein echter Anachronismus. ({2}) Wir brauchen für das Gesundheitswesen IT-Lösungen, die sowohl in Sachen Datenschutz als auch in Sachen Funktionalität zweckmäßig und ausreichend, aber eben auch datensparsam und zukunftssicher sind. ({3}) Das Bundesgesundheitsministerium allerdings möchte bei der E-Card weiter aufs Gaspedal treten. Aus dem Ministerium verlautbart jetzt, die E-Card sei ein Sportwagen, der leider nur in der Garage stehe. Jetzt aber solle eine sechsspurige Autobahn gebaut werden, auf der der Flitzer dann mit Tempo 250 losrasen könnte. Das Bild finde ich ein bisschen schräg. Es zeigt auch, dass Sie umwelt- und verkehrspolitisch vielleicht nicht ganz auf dem neuesten Stand sind. Ich muss Ihnen vorwerfen ich bleibe dabei im Bild -, dass Sie offensichtlich einen Sportwagen gebaut haben, der nicht einmal genug Platz im Kofferraum hat, um eine kleine Kiste Bier oder Mineralwasser darin zu transportieren. Wenn Sie jetzt nicht auf die Bremse treten, Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, dann droht die E-Card zum BER der Gesundheitspolitik zu werden, ({4}) der immer mehr Geld verschlingt, ohne dass wir jemals erfahren, wann er denn endlich funktionieren wird. ({5}) Wir fordern: Stoppen Sie die E-Card jetzt! Gehen wir zurück auf Los! Entwickeln wir neue Alternativen, patientenfreundlich und datensparsam! Beenden Sie den Druck auf die Skeptikerinnen und Skeptiker unter den Versicherten! Die alten Krankenkassenkarten können gültig bleiben. Für diejenigen, die sich keine E-Card zulegen wollen, muss das Ersatzverfahren auf Papier weiter möglich sein. Ich freue mich auf jeden Fall auf die weiteren Beratungen, auch zum E-Health-Gesetz. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. - Nächste Rednerin ist Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linken! Sie bringen hier einen Antrag mit dem Titel „Elektronische Gesundheitskarte stoppen - Patientenorientierte Alternative entwickeln“ ein. Eigentlich braucht man bei dieser Überschrift schon gar nicht mehr weiterzulesen. Erstens ist klar, dass es sich hierbei um reine Obstruktionspolitik im Hinblick auf ein national bedeutendes Großprojekt handelt. ({0}) Wenn Sie die eGK stoppen wollen, kommen Sie damit außerdem schlichtweg zu spät; denn die eGK ist seit Januar dieses Jahres für alle gesetzlich Versicherten bindend. ({1}) Zweitens wird schon beim Lesen des Titels klar, dass Sie mit keiner Alternative aufwarten. Das hat auch Ihr Vortrag, Frau Vogler, deutlich gemacht. Es wird Zeit, dass Sie aufhören, völlig überzogene Schreckensszenarien zu zeichnen, und mit Sachlichkeit zum Gelingen dieses Vorhabens beitragen. Es geht um viel mehr als um eine Plastikkarte. Interessanterweise gestehen Sie bereits im ersten Satz Ihres Antrags zu - ich zitiere daraus -: Die digitale Datenspeicherung und -übertragung kann helfen, die Gesundheitsversorgung qualitativ zu verbessern sowie effizienter und sicherer zu gestalten. Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben uns jedenfalls eine optimale und vor allem moderne Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben. Genau deshalb arbeiten wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner an der Digitalisierung des Gesundheitswesens. ({2}) Weil Sie hier vieles verzerrt dargestellt haben, liebe Frau Vogler, möchte ich in dieser Debatte gern zunächst einmal grundsätzlich einordnen, wo wir stehen. Es geht um eine Entwicklung, die uns in nahezu sämtlichen Lebensbereichen seit Jahrzehnten beschäftigt, nämlich um die fortschreitende Digitalisierung. Sie ist auch im Gesundheitswesen vielerorts angekommen. Doch gerade wenn es um den Transfer und die Speicherung von gesundheitsrelevanten Daten geht, bewegen wir uns oft noch im analogen Zeitalter. Da war zugegebenermaßen nicht alles schlecht. Aber es geht viel besser, als Anamnesen auf Karteikärtchen festzuhalten, Befunde zu faxen, Arztbriefe mit der Post zu verschicken oder für jedes Rezept persönlich beim Arzt erscheinen zu müssen. Das können wir natürlich noch die nächsten 20 Jahre so machen, wie Sie es vorschlagen. Aber aus meiner Sicht kostet das viel Geld und Zeit, die die Ärzte und Praxisteams viel besser nutzen könnten, nämlich für die Versorgung des Patienten. ({3}) Es ist klar, dass wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht deswegen fordern, weil wir gerne elektronische Spielereien vorantreiben wollen, sondern uns geht es in erster Linie um die Versorgung der Patienten und die Verbesserung der Informationsverarbeitung, vor allem im Gesundheitswesen. Wir Gesundheitspolitiker stehen im Hinblick auf die Versorgung vielen Herausforderungen gegenüber; über nichts anderes haben wir im ersten Jahr dieser Legislaturperiode hier gesprochen. Die Menschen leben länger. Sie werden aber auch länger krank sein. Es wird viel mehr chronisch Kranke geben. Diese wechseln oft zwischen den verschiedenen Sektoren in unserem Gesundheitssystem: zwischen einem niedergelassenen Arzt, einer Klinik, einem Rehabetrieb. Hier müssen Daten leicht ausgetauscht werden können. Elektronische Arzt- und Entlassbriefe können die Arbeit erheblich erleichtern. Außerdem wollen wir für alle Menschen eine Versorgung auf Spitzenniveau vorhalten, egal ob sie in einer Stadt oder auf dem Land leben. Gerade bezüglich der Versorgung im ländlichen Raum - es ist absehbar, dass sich dort zukünftig weniger Ärzte niederlassen wollen; das ist ein Fakt, den wir berücksichtigen müssen brauchen wir neue Ansätze und ein besseres Versorgungsmanagement. Dies kann zum Beispiel durch die Telemedizin, die wir auch vorantreiben wollen, geleistet werden. ({4}) Dies, verehrte Damen und Herren, sind nur einige Beispiele, weshalb ich in der Digitalisierung des Gesundheitswesens grundsätzlich eine große Chance sehe, die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland zu verbessern. ({5}) Warum Sie all diese Neuerungen den Versicherten vorenthalten wollen, das müssen Sie uns hier einmal erklären, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken! ({6}) Wir sind einfach nur froh darüber, dass Sie hier keine Regierungsverantwortung tragen. Jetzt erkläre ich Ihnen noch einmal, wie das mit der Telematikinfrastruktur und mit der eGK geplant ist: Es hilft nichts, wenn wir in Deutschland viele Inseln haben, wo der elektronische Fortschritt Einzug hält, dieser aber beispielsweise beim Transfer von Daten endet. Was nützt ein papierloses Krankenhaus, wenn zum Schluss Arzt- und Entlassbriefe doch per Post verschickt werden müssen? Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel daran, dass sich daran etwas ändern muss. Wir brauchen ein sicheres Netz für Gesundheitsdaten. Diese Idee ist nicht neu; sie gibt es seit zehn Jahren. Ich gebe zu: Das hat sehr viel Geld gekostet, vielleicht auch ein bisschen zu viel. Deswegen müssen wir jetzt Gas geben, um hier weiter voranzukommen. ({7}) Bereits 2004 hat der Gesetzgeber den Auftrag für dieses Projekt an die Selbstverwaltung gegeben. Wir müssen uns das einmal vorstellen: Es handelt sich dabei um ein Projekt, bei dem 70 Millionen Versicherte, 2 100 Krankenhäuser, 21 000 Apotheken und 208 000 Haus-, Fachund Zahnärzte miteinander vernetzt werden. Frau Kollegin, Sie bemühten eben das Bild mit dem Sportwagen; dieses Bild wird oft bemüht. Es handelt sich bei diesem Netz in der Tat um eine Datenautobahn zwischen den verschiedenen Leistungserbringern, dem Patienten und insgesamt den Akteuren im Gesundheitswesen. Auf dieser Datenautobahn sollen bald viele Sportwagen flitzen; dahinter stehen wir. Die elektronische Gesundheitskarte ist sozusagen der elektronische Schlüssel, mit dem die Patienten auf ihre Daten zugreifen können. Der Patient bestimmt - das ist auch etwas, was Sie in der Debatte immer wieder falsch darstellen -, welche Daten gespeichert werden und wer Zugriff auf die Daten hat. Viele von Ihnen, die das Vorhaben des Aufbaus einer Telematikinfrastruktur schon länger begleiten als ich, wissen um die Blockaden in den Selbstverwaltungsstrukturen. Das sind an sich schöne Strukturen, die auch oft effektiv arbeiten; aber in diesem Fall gab es hier große Blockaden, und die gilt es aufzulösen. Es ist wichtig, dass die Versicherten endlich eine handfeste Leistung erhalten. Die Versicherten interessiert nämlich nicht, wer wann wem in welcher Sitzung mit welchen Forderungen die Laune verdorben hat. Entscheidend ist die Frage: Wie können wir den Nutzen der Digitalisierung für die Menschen spürbar machen? Ziel muss es sein, dass die elektronische Gesundheitskarte samt Telematikinfrastruktur einen erkennbaren Mehrwert für die Versorgung der Menschen hat. Wir von der CDU/CSUFraktion setzen uns dafür ein und stecken nicht den Kopf in den Sand, wie es die Kolleginnen und Kollegen von der Linken tun. ({8}) Wir möchten, dass die Telematikinfrastruktur so schnell wie möglich kommt und möchten dann auch so schnell wie möglich Anwendungen sehen. Deshalb machen wir jetzt ein Gesetz. Wir nennen es kurz neumodisch E-Health-Gesetz; länger heißt es: Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen. Ich bin sehr froh, dass sich Minister Gröhe persönlich an die Spitze dieser Bewegung gestellt hat. Für den Aufbau der Telematikinfrastruktur gibt es - auch das erkläre ich Ihnen gerne - einen klaren Plan: Die Testphasen sollen bis Anfang 2016 abgeschlossen sein. Danach soll das bundesweite Roll-out erfolgen. Bei der Frage, welche Anwendungen künftig digital laufen sollen, ist langfristig natürlich vieles vorstellbar. Zunächst wollen wir die Notfalldaten auf die elektronische Gesundheitskarte packen und auch den elektronischen Medikationsplan. Sie können sich natürlich darüber lustig machen; aber es ist für viele Menschen, gerade chronisch Kranke, die viele Medikamente nehmen, sehr wichtig, dass diese Daten schnell verfügbar sind. ({9}) Vor dem Hintergrund der vielen sinnvollen Neuerungen, die mit der eGK und der Telematikinfrastruktur verbunden sind, lehnen wir den Antrag der Linken ab. Ihnen fällt zu diesem Thema nicht mehr ein, als das hochbetagte Datenschutzgespenst aus der Mottenkiste zu holen ({10}) und Behauptungen aufzustellen, die klar von der Hand zu weisen sind. ({11}) Erstens. Anders als Sie es darstellen - das ist ganz wichtig -, ist kein Zentralserver geplant, auf dem alle Daten lagern. Die Gesundheitsdaten werden dezentral gespeichert, und zwar größtenteils dort, wo sie entstehen, nämlich beim Arzt, im Krankenhaus und bei den Krankenkassen oder auf externen Speichern. Hier gibt es klare Regeln, wer wie wann auf die Daten zugreifen darf. Zweitens. Alle Versicherten dürfen selber auswählen, welche Gesundheitsdaten über ihre Karte abrufbar und wem sie zugänglich sein sollen. Auch hier streuen Sie den Menschen immer wieder Sand in die Augen. Drittens. Wenn die Telematikinfrastruktur erst einmal steht, dann werden die Sicherheitsstandards bezüglich der Gesundheitsdaten weitaus höher sein als heute. Sie können ja schlecht behaupten, dass beispielsweise ein Fax sicherer ist als das, was wir hier planen. ({12}) Erlauben Sie mir abschließend noch eine Anmerkung. Ihr Antrag ist für mich - ich verfolge das alles seit einem Jahr etwas genauer - einmal mehr nur ein Symbol für die Tragik der Diskussionen rund um die eGK. Die Schwarzmaler und Verschwörungstheoretiker haben leider im Diskurs der letzten zehn Jahre die Oberhand gehabt. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir von der CDU/ CSU-Fraktion freuen uns jedenfalls auf die Verbesserungen im Gesundheitswesen durch mehr Digitalisierung und bleiben am Ball. Vielen Dank. ({13})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Maria KleinSchmeink, Bündnis 90/Die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anders als die Rednerin von der CDU/CSU würde ich nicht sagen, dass es sich nicht lohnt, den Antrag der Linken zu lesen. Es werden die richtigen Fragen gestellt; es wird aber die falsche Antwort gegeben. ({0}) Es ist nämlich nicht die richtige Antwort, die elektronische Gesundheitskarte zu stoppen. Wenn wir den Datenschutz ernst nehmen und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie die Möglichkeiten IT-gestützter Gesundheitsversorgung miteinander in Verbindung bringen und zu einem guten Ausgleich führen wollen, dann müssen wir den Fragen nachhaltbar nachgehen und gleichzeitig nach adäquaten Lösungen suchen. ({1}) Das ist Ihnen, meine lieben Freundinnen und Freunde von der Linken, mit Ihrem Antrag nicht gut gelungen. Es geht hier um folgende Fragen: Erstens. Wie können wir elektronisch gestützte Patienteninformationen für eine Verbesserung der Patientenversorgung einsetzen? Wir wissen, dass es schon heute sehr viele IT-gestützte Verfahren gibt. Es gibt viele Informationen - das wurde schon gesagt - in allen Versorgungssystemen, die wir sinnvollerweise miteinander verknüpfen müssen, um eine gute Versorgung zu erreichen. Zweitens. Wie können wir einen an die neuen Erfordernisse angepassten Datenschutz gewährleisten? Wir müssen dafür sorgen, dass die Standards, die wir einzuhalten haben, wirklich die höchstmöglichen Standards sind; denn die Gesundheitsdaten sind äußerst sensibel. Diese Daten haben einen staatlichen Schutz verdient. Wir müssen sicherstellen, dass jeder Patient und jeder Versicherte darauf vertrauen kann, dass diese Daten tatsächlich sicher sind. ({2}) Drittens. Es geht nicht nur um den Datenschutz, sondern auch darum, wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewahrt werden kann. Es muss gewährleistet sein, dass jeder Patient und jeder Versicherte selber entscheiden kann, welche Daten zugänglich gemacht werden und welche nicht. ({3}) Viertens. Wir müssen überlegen, ob wir nach den Enthüllungen von Snowden nicht noch einmal auf das Sicherheitskonzept schauen müssen, das zehn Jahre alt ist. Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ist eben ein sehr langwieriges Verfahren. ({4}) Wir müssen uns fragen, ob alle Komponenten und Verfahren datenschutzrechtlich auf dem richtigen Stand sind. Auch diese Frage ist zu stellen. ({5}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es stellt sich natürlich die Frage, ob Sie diesen Dingen auch wirklich nachgehen. Wir als Grüne haben eine Kleine Anfrage gestellt; ich habe auch schriftliche Fragen eingereicht. Ich muss sagen: Das Ministerium ist gerade auf den Teil, in dem es um Datenschutzstandards und die Selbstbestimmung der Patienten und der Versicherten geht, nicht adäquat eingegangen. Das werden wir im weiteren Verfahren, auch beim geplanten E-HealthGesetz, noch einmal deutlich anmahnen. ({6}) Kommen wir zu der Frage: Was ist überhaupt mit dem geplanten E-Health-Gesetz? Wie müssen wir das bewerten? Zunächst einmal müssen wir feststellen - Frau Leikert, Sie wollten mit dem Auto ganz schneidig losfahren -, dass nach Ausgaben von 1 Milliarde Euro innerhalb von zehn Jahren das Ergebnis einer Gesundheitskarte mit einem nichtvaliden Lichtbild, die nicht mehr kann als die Versichertenkarte, eine erbärmliche Ausbeute ist. Da müssen wir in der Tat besser werden. ({7}) Wir werden aber nicht dadurch besser, dass Sie jetzt sagen: Wir müssen Gas geben. - Wir müssen etwas anderes machen: Wir müssen die Verfahren beschleunigen und klare Zeitpläne einfordern. Wir müssen die Selbstverwaltung ermahnen und dürfen nicht zulassen, dass sie die Verfahren ausbremst. Das aber ist zehn Jahre lang erfolgreich geschehen. Deshalb stehen wir heute mit einem so erbärmlichen Ergebnis da. ({8})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte denken Sie an die Redezeit. Sie ist abgelaufen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine Frage, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren um das E-Health-Gesetz eine große Rolle spielen wird, will ich noch kurz ansprechen: Erlauben wir bezogen auf die Telematikinfrastruktur und die eGK sogenannte Mehrwertdienste? Das wird eine große Frage sein. Sie können sicher sein: Wir werden dieses Thema kritisch begleiten. Ich bin sehr gespannt, was ich dann von Ihnen höre. Danke schön. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Nächster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und der Aufbau der Telematikinfrastruktur sind ein Prozess, mit dem wir uns viele Jahre lang beschäftigt haben und der uns über viele Jahre begleitet. Vor diesem Hintergrund ist bei uns allen eine gewisse Unruhe zu spüren - die Kollegin Leikert hat das angesprochen -; denn wir wollen endlich dafür sorgen, dass das Ganze jetzt langsam, aber sicher in die Pötte kommt und nicht weiter verzögert wird. ({0}) Wir von der Großen Koalition wollen endlich Schub in die Sache bringen. Wir wollen dafür sorgen, dass die nötige Konsequenz an den Tag gelegt wird und wir zügig vorankommen. Wir müssen Fahrt aufnehmen, damit wir mit der nötigen Geschwindigkeit vorankommen. Die Patientinnen und Patienten - das will ich zum Thema Patientenfreundlichkeit deutlich sagen - sollen endlich die Vorteile genießen können, die in der elektronischen Gesundheitskarte und in der Telematikinfrastruktur stecken. ({1}) Ich muss deutlich sagen: Ihr Antrag ist an dieser Stelle völlig kontraproduktiv. Mit dem von Ihnen geforderten Stopp ist, anders als es in der Überschrift steht, nicht nur der Stopp der elektronischen Gesundheitskarte gemeint. Sie wollen auch die Telematikinfrastruktur, also all das, was für die anderen Dinge erforderlich ist - die eGK ist ja nur ein kleiner Teil des Ganzen - in den Stopp einbeziehen. Das ist der absolut falsche und für die Versicherten auch nicht tragbare Weg, im Übrigen auch der Weg, der am Ende die größten Kosten verursachen wird. ({2}) Sie hätten Ihren Antrag anders überschreiben müssen; die Kollegin Leikert hat das schon gesagt. Sie verlangen ja keinen Stopp. Sie hätten schreiben müssen: Einsammeln und Einstampfen der elektronischen Gesundheitskarte und vertragswidriges Brechen der Verträge, die wir haben, um die Testphase durchzuführen. Außerdem hätten Sie noch eine finanzielle Bewertung vornehmen müssen. - Das kann nun wirklich nicht der richtige Weg sein. Diesen Weg werden wir sicherlich nicht mitgehen. Die Koalition hat sich den Ausbau der Telemedizin zum Ziel gesetzt. Es bedarf aller Anstrengungen - ich bin dem Ministerium sehr dankbar, dass es mit dem angekündigten, zielgerichteten E-Health-Gesetz den nötigen Weg beschreiten wird -, damit wir dieses für die Patientinnen und Patienten gut nutzbare und vernünftige System endlich auf die Spur setzen. Eine gut nutzbare elektronische Gesundheitskarte gibt dem Patienten und der Patientin die Hoheit über ihre Daten, eine Hoheit, die im Moment übrigens gar nicht besteht. Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal versucht hat, an seine Daten zu kommen. Erstens rennen Sie von Pontius zu Pilatus. Zweitens wird Ihnen von dem einen oder anderen immer noch gesagt: Ich muss noch einmal gucken, ob ich Ihnen Ihre Röntgenaufnahmen geben kann. Wir wollen den Patientinnen und Patienten die Hoheit über ihre Daten geben; das ist unser Ziel. Wir wollen auch - das war aus meiner Sicht nicht strittig, insofern weiß ich nicht, was bei der Selbstverwaltung strittig sein soll -, dass sie die Hoheit über ihre Daten selbstbestimmt wahrnehmen können. Gerade dafür sollen sie die elektronische Gesundheitskarte nutzen können, damit sie - im Zweifel gemeinsam mit dem Arzt - entscheiden, welche Daten von wem genutzt werden können. ({3}) Das, liebe Antragsteller, ist doch Patientenorientierung in Reinform. Insofern können Sie nicht einfach sagen: Wir brauchen eine patientenorientierte Alternative, die Sie im Übrigen gar nicht benennen. Das ist ja schön; dann forschen wir erst einmal wieder zehn Jahre. Wir brauchen die Gesundheitskarte. Wir brauchen sie natürlich in vernünftiger Form, und wir brauchen auch einen vernünftigen Mehrwert, einen vernünftigen Nutzen der Gesundheitskarte. Damit meine ich keinen Mehrwert bei den Dienstleistungen, sondern nutzbare Leistungen auf der Gesundheitskarte, um das kurz klarzustellen, damit wir nicht schon an dieser Stelle in die Diskussion einsteigen. Wir müssen mehr Schwung beim Aufbau hinlegen. Ich bin dankbar für das Autobeispiel. Ich habe nämlich auch eines. Wir müssen einen Gang zulegen und dürfen keinesfalls bei voller Fahrt den Rückwärtsgang einlegen. Das wäre nicht zielführend; das bringt nicht das, was wir wollen. ({4}) Eines muss man kritisch in Richtung Selbstverwaltung sagen, die schon mehrfach angesprochen worden ist. In erster Linie ist dabei die Selbstverwaltung gefragt; denn sie hat seit Jahren den Auftrag, als Gesellschafter der Gematik das Ganze auf die Spur zu setzen und vernünftig voranzubringen. Sie ist auch dafür verantwortlich, das Ganze zu lösen. Allerdings scheint das nicht richtig zu funktionieren. Wenn die Kassenärztliche Vereinigung jetzt schon wieder den Stopp der Gesundheitskarte fordert - sie würde deshalb Ihren Antrag höchstwahrscheinlich sehr wohlwollend betrachten -, dann macht sie dies als ein Teil der Selbstverwaltung, die die gesetzliche Aufgabe hat, die elektronische Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur voranzubringen. Das verstehe ich nicht unter einem patientenfreundlichen Umgang mit dem, was wir erwarten. ({5}) Vor all dem gibt es ein gewisses Verständnis für den Ärger der Kassen und dafür, dass sie die Versichertengelder nicht mehr gerne herausrücken. Aber, liebe Kassen, das kann nicht Sinn und Ziel sein. Mit einem schlichten Mittelstopp erreichen wir nicht das, was wir wollen. Das erreichen wir vielmehr mit dem E-HealthGesetz. Wir erreichen das damit, dass wir klare Vorgaben machen, klare Werte aufsetzen, klar regeln, wann es wie weitergeht, und das Ganze entsprechend mit Sanktionen begleiten. Damit erreichen wir, dass wir an dieser Stelle weiterkommen. Wir wollen und wir brauchen für die Patientinnen und Patienten eine Versorgungsstruktur, eine gute und sichere Telematikinfrastruktur, und wir brauchen auch die Sicherheit für Wirtschaft und Industrie, damit sie für den Patienten nützliche Leistungen aufsetzen kann, damit auf dieser Datenautobahn etwas „fahren“ kann. Vor all dem müssen wir endlich die Tests beginnen. Vor all dem muss die Telematikinfrastruktur endlich vernünftig ans Laufen kommen. Das wollen wir als Große Koalition. Wir wollen, dass die Patienten über die elektronische Gesundheitskarte als Schlüssel die Hoheit über ihre Daten haben. Ich denke, das System ist durchaus als sicher zu bezeichnen. Viele Datenschützer teilen diese Ansicht durchaus. Eine funktionierende Telematikinfrastruktur ist in Zukunft der Schlüssel für die Kommunikation im Gesundheitswesen. Sie wird unsere Versorgung stärken - auch das ist schon angesprochen worden - und damit von großem Nutzen sein. Wenn auch Sie, liebe Antragsteller, all dies für die Patienten wollen, dann ist es das Einfachste, Sie ziehen Ihren Antrag zurück und unterstützen uns und vor allen Dingen das Ministerium dabei, das E-Health-Gesetz vernünftig und schnell auf den Weg zu bringen. Wir möchten ernsthaft eine vernünftige, gute IT-Struktur im Gesundheitswesen. Machen Sie mit! Das wird uns freuen. Ihrem Antrag zustimmen werden wir nicht. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. - Einen schönen guten Abend von mir. Jetzt kommen wir langsam auf die Zielgerade. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3574 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften Drucksache 18/3248 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) Drucksache 18/3748 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Innen- ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3748, den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung auf Drucksache 18/3248 in der Ausschussfas- 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Claudia Roth sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen gestimmt hat die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung durch Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Richard Pitterle, Susanna Karawanskij, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sonderermittler zur Aufarbeitung der CumEx-Geschäfte einsetzen Drucksache 18/3735 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sachverhalt klingt technisch kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Das Finanzamt ist zehn Jahre lang umfunktioniert worden. Anstatt Gelder dafür zu sammeln, dass wir alle öffentliche Leistungen bekommen, ist das Finanzamt zu einer Geldsammelmaschine für Multimillionäre und Banken geworden, und zwar dadurch, dass die Betreffenden Steuererstattungen bekommen haben, die sie nicht verdient haben. Damit verhält es sich in etwa so, als ob man für ein Kind zweimal Kindergeld bekäme. ({0}) Da sich deutlich nachweisen lässt, dass die Fonds, die eingerichtet wurden, nur an Multimillionäre vertrieben wurden, handelt es sich in der Wirkung um eine Umverteilung von unten nach oben in einem eklatanten Ausmaß. Dieser Fehler hätte nie passieren dürfen. Er ist aber leider zehn Jahre lang vorgekommen. Wir wissen nicht genau, wie groß das Volumen des Schadens ist. Laut unserem Antrag gehen Schätzungen aus Branchenkreisen von 12 Milliarden Euro aus. Da sich nach unserem Kenntnisstand das Volumen bestimmter Teilgeschäfte einzelner Banken im dreistelligen Millionenbereich bewegt, halten wir diese Schätzung für durchaus realistisch. Nun stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren? Diese Frage geht uns alle an; denn das hat in der Zeit begonnen, als das Finanzministerium von Minister Eichel geleitet wurde, hat sich in der Regierungszeit der Großen Koalition fortgesetzt - damals wurde ein falscher, fast schädlicher Korrekturversuch unternommen - und wurde erst unter Finanzminister Schäuble beendet, allerdings relativ spät. Zudem haben wir das damals im Finanzausschuss nicht wirklich erfasst. Daher tragen alle Verantwortung. Dieser müssen wir gerecht werden. ({1}) Es stellen sich viele Fragen: Warum hat die Finanzaufsicht nicht mitbekommen, was die Banken dort machen? Warum hat der Fiskus nicht früher etwas unternommen, obwohl es bereits 2002 entsprechende Hinweise vom Bankenverband gab? Warum wurde nicht rechtzeitig gegengesteuert? Ist der Staat dazu nicht in der Lage gewesen, weil er es nicht verstanden hat, und müssen wir deswegen seine Kompetenzen stärken, oder ist hier bewusst falsch gehandelt worden? Dann ist die Verantwortung zu klären. Wir meinen, dass man hier nicht zur Tagesordnung übergehen kann, wenn der Staat in solch eklatantem Maße das Gegenteil von dem tut, was die Bürger von ihm erwarten, nämlich das Steuergeld für die Befriedigung ihrer Interessen einzusetzen und nicht für die Erreichung der Renditeziele weniger Investoren. ({2}) Nun machen wir einen Vorschlag, wie man darangehen könnte. Mit diesem Vorschlag spielen wir als Opposition Ihnen den Ball zu. Wir schlagen vor, einen Sonderermittler einzusetzen, der dieser Sache auf den Grund geht, sodass wir im Parlament die notwendigen Konsequenzen ziehen können. Er oder sie soll die Frage beantworten, wie es dazu kommen konnte, wo die Verantwortlichkeiten sind, ob die jetzt getroffenen Maßnahmen, um den Schaden zu reduzieren - es laufen jetzt Gerichtsverfahren, der Fiskus versucht, das zu korrigieren; inwieweit das erfolgreich sein wird, wird man sehen -, adäquat sind und ob für die Zukunft Vorkehrungen getroffen sind, dass sich so ein Skandal, wahrscheinlich der größte Steuerskandal unseres Landes, nicht noch einmal wiederholen kann. ({3}) Jetzt gibt es Argumente, die ich gehört habe, warum dieser Vorschlag vonseiten der Koalition nicht mitgetragen werden könne. Ich höre, ein Sonderermittler sei nicht vorgesehen. Es gibt aber viele Beispiele von Fällen, in denen Sonderermittler eingesetzt worden sind. Das kann ein Untersuchungsausschuss machen, das Parlamentarische Kontrollgremium hat es gemacht, Joschka Fischer hat eine Historikerkommission eingesetzt, der Innenminister Friedrich hat damals einen Sonderermittler im Zusammenhang mit den NSU-Akten eingesetzt. Es gibt also eine Reihe von Vorbildern, wo das gemacht worden ist. In diesem Fall würde es sich auf jeden Fall lohnen. ({4}) Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns unserer gemeinsamen Verantwortung hier gerecht werden! Wenn ich Bürgerinnen und Bürgern erzähle, was hier passiert ist, ist das Entsetzen sehr groß. Ich glaube, die einzige Antwort, die man auf Fehler in dieser Größenordnung in einer Demokratie geben kann, ist, nun wirklich alles daranzusetzen, dass sich so etwas nicht noch einmal wiederholt, es wirklich aufzuarbeiten und nicht parteipolitische Interessen an einer Vertuschung in den Vordergrund zu stellen. Es geht vielmehr darum, unsere Verantwortung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern wahrzunehmen, die erwarten, dass der Staat mit ihrem Geld das tut, was wir ihnen sagen, nämlich Leistungen für Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zur Verfügung zu stellen. Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gerhard Schick. - Nächster Redner in der Debatte ist Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Es geht bei Cum-Ex-Geschäften nicht um ein Steuergestaltungsmodell, sondern es geht dabei aus meiner Sicht schlicht um Betrug. Das hat nichts mehr mit einem Wettlauf zwischen Fiskus und findigen Beratern zu tun, um einen Wettstreit darum, wer vielleicht besser die Feinheiten des Steuerrechts ausnutzen kann. Das könnte man vielleicht noch sportlich sehen. Bei den Cum-Ex-Geschäften geht es vielmehr letztendlich um eines: Das ist eine Schweinerei. ({0}) Eine einmal abgeführte Kapitalertragsteuer kann nur einmal bescheinigt werden. Das war auch schon immer die Meinung des Bundesfinanzministeriums. Das ist auch logisch, und diese Logik, dass man eine einmal abgeführte Kapitalertragsteuer nur einmal bescheinigen kann, müsste auch denjenigen eingeleuchtet haben, die hier doppelt kassiert haben. Ich halte dieses Vorgehen wie gesagt für betrügerisch. Die rechtliche Einordnung sollten wir aber den zuständigen staatlichen Strafverfolgungsbehörden überlassen, den Gerichten und den Staatsanwaltschaften. Es ist nicht die Aufgabe des Bundestages und nicht Aufgabe der Bundesregierung, hier die Strafbarkeit festzustellen. Dafür gibt es gesonderte Institutionen. ({1}) Deshalb halte ich auch den Antrag, einen Sonderermittler einzusetzen, lieber Kollege Schick, mit Verlaub für Unfug. Was soll das für ein Sonderermittler sein? 008? Mit welcher Lizenz? Was soll das? Wir haben nach der Strafprozessordnung die Staatsanwaltschaften. Die ermitteln in eigener Zuständigkeit als zur Objektivität verpflichtetes Organ der Rechtspflege. Sie können auf die Polizei zurückgreifen, und sie können auf die Beamten der Steuerfahndung zurückgreifen. All das ist möglich, das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Deswegen geht es hier nicht um die Einsetzung eines Sonderermittlers. Wenn Sie von der Linken das wollen, dann können Sie dieses Instrument vielleicht nutzen, um den Verbleib der SED-Millionen oder -Milliarden zu untersuchen. Das wäre etwas für einen Sonderermittler. Aber lassen wir das. ({2}) Wenn Sie, Herr Kollege, wirklich eine Aufklärung wollen - das wollen auch wir -, wenn Sie die politisch Verantwortlichen für dieses mögliche Versagen feststellen wollen, dann beantragen Sie einen Untersuchungsausschuss. Das steht Ihnen frei, und das steht Ihnen als Opposition zu. Das ist auch Ihre Aufgabe, und das ist völlig in Ordnung. Deswegen brauchen wir keinen Sonderermittler, für den es letztendlich keine verfassungsrechtliche Grundlage gibt. Soweit es darum geht, die strafrechtliche Verantwortung zu klären, ist dies Aufgabe der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Daran führt kein Weg vorbei. Es ist auch nicht so, wie es hier gerade dargestellt wurde: dass der Gesetzgeber nicht reagiert hätte. Es gab Erlasse, und es gab Versuche, diese unsäglichen Modelle zu stoppen. Was man aber auch sagen muss, ist, dass diese Modelle immer wieder variiert wurden. Findige Menschen - Berater, Fondsverkäufer, Banker - haben Gestaltungsräume genutzt und diese Modelle immer wieder geändert. Wir haben 2007 eine Regelung eingeführt, dass die Nutzung bei inländischen Abwicklungsbanken keine unberechtigten Steuerbescheinigungen mit sich bringt. Was war die Folge? Man ist auf ausländische Banken ausgewichen. Das BMF hat darauf im Jahr 2009 mit einem BMF-Schreiben reagiert, und man hat die Erfordernisse an Steuerbescheinigungen im Zusammenhang mit Leerverkäufen über ausländische Kreditinstitute geändert. Der Missbrauch, der daraufhin wieder erfolgte, wurde - Sie haben es richtig gesagt - unter Wolfgang Schäuble 2011 mit dem OGAW-IV-Umsetzungsgesetz durch eine grundsätzliche Umstellung der Systematik zur Erhebung von Kapitalertragsteuern tatsächlich beendet. Damit wurde diesen Modellen endgültig die Grundlage entzogen. Ich jedenfalls hoffe inständig und ich bin auch zuversichtlich, dass unsere Ermittlungsbehörden, dass unsere Gerichte hier mit aller notwendigen Härte gegen diese - ich muss es noch einmal sagen - Schweinerei vorgehen, dass klar festgestellt wird, dass die Cum-Ex-Geschäfte unzulässig waren, dass sie rechtswidrig waren, dass diese Praxis endlich entlarvt wird. Ich glaube aber, einen Sonderermittler, dessen Einsetzung Sie hier vorschlagen, brauchen wir dazu nicht. Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Kollege Gutting. - Nächster Redner in der Debatte ist Richard Pitterle für die Linke. ({0})

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die, die noch nie von CumEx-Geschäften gehört haben: Das war ein wahrer Goldesel für Banken und Superreiche. Zwischen 2002 und 2012 wurde der Staat damit um schätzungsweise 12 Milliarden Euro gebracht. 12 Milliarden Euro, das ist fast das Doppelte des Entwicklungshilfeetats für dieses Jahr. Und wer durfte letzten Endes die Zeche zahlen? Richtig, wieder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Folgendes ist passiert: Durch komplizierte Konstruktionen bei Aktienverkäufen konnten sich Banken und Großinvestoren zweimal vom Staat Steuern erstatten lassen, obwohl diese Steuer nur einmal gezahlt worden ist. Erst 2012 wurde dieser Praxis per Gesetz ein Riegel vorgeschoben. Waren diese Geschäfte illegal? Oder wurde nur eine Regelungslücke ausgenutzt? Das zu klären, ist tatsächlich Sache der Gerichte. Womit wir uns jedoch endlich intensiv beschäftigen müssen, ist die Rolle, die das zu jener Zeit von SPD und Union geführte Bundesfinanzministerium in dieser Sache gespielt hat. Offensichtlich hatte die politische Leitung des Ministeriums die Kontrolle über die Geschehnisse verloren. Viel schlimmer noch: Sie ist trotz Hinweisen, wie zum Beispiel durch den Bundesverband deutscher Banken im Jahr 2002, untätig geblieben. Fünf Jahre später wurde zwar der Versuch unternommen, den Raubzug der Vermögenden zu stoppen, über ausländische Banken konnte er jedoch noch bis zur Gesetzesänderung 2012 fortgesetzt werden. Meine Damen und Herren, zehn Jahre lang wurde dieser Umverteilung von unten nach oben zugesehen. Das ist schlichtweg ein Skandal! ({0}) Deswegen fordern wir, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, die Einsetzung eines Sonderermittlers, damit endlich lückenlos aufgeklärt wird, warum so lange nichts unternommen wurde. „Im Dunkeln ist gut munkeln“, sagt ein Sprichwort. Von diesem scheint sich die Bundesregierung leiten zu lassen, weil sie nämlich offensichtlich kein Interesse an der Aufklärung hat. Das lassen wir Ihnen so nicht weiter durchgehen. ({1}) Bereits vor zwei Jahren hatte die Linke eine klitzekleine Anfrage zu diesem Thema gestellt. In seiner Antwort behauptete Schäubles Ministerium, erst seit 2009 von Cum-Ex-Geschäften über ausländische Banken gewusst zu haben. Ich frage Sie: Wer hat dem Minister den Hinweis des Bankenverbands von 2002 vorenthalten? Das ist doch nicht mehr zu fassen! ({2}) Aber es kommt noch schlimmer: In der Antwort auf eine Anfrage der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen behauptet die Bundesregierung, in dem Schreiben des Bundesverbands von 2002 sei ja nur auf die abstrakte Möglichkeit dieser Geschäfte hingewiesen worden, nicht aber darauf, dass auch die Gefahr bestehen könnte, dass jemand diese Möglichkeit nutzt. ({3}) Meine Damen und Herren, bei allem Respekt, das ist doch lächerlich und an Naivität nicht zu überbieten. ({4}) Es ist allseits bekannt, dass auf den Finanzmärkten selbstverständlich jede Möglichkeit ausgelotet wird, um Profite zu machen. Das sollte sich auch bis zum jeweiligen Finanzminister herumgesprochen haben. Bei Menschen, die Hartz IV beziehen, wird streng kontrolliert, ob ja kein Cent zu viel hinzuverdient wird. Aber wenn bei den Cum-Ex-Geschäften der Superreichen ein paar Milliarden Euro unter die Räder kommen, lehnen Sie es ab, genau hinzuschauen. Es besteht dringender Anlass, die Versäumnisse im Finanzministerium hier endlich aufzuarbeiten. ({5}) Bündnis 90/Die Grünen und die Linke sind jedenfalls gewillt, das zu tun. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben ein Recht darauf, zu erfahren, wer zu verantworten hat, dass Geld an Banken und Superreiche verschenkt worden ist. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Pitterle. - Nächster Redner in der Debatte: Lothar Binding für die SPD. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich irritiert ein wenig die Aufregung über eine Regelungslücke, die man schließen musste, im Verhältnis zu der Aufregung über die Tatsache, dass es Steuerbetrug gibt. Ich meine, dass der Steuerbetrug eine größere Aufregung verdient als das Bestehen einer Regelungslücke. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde eben vorgetragen, dass diese Cum-Ex-Geschäfte eigentlich schon weit zurückreichen, möglicherweise - ich glaube, Gerhard Schick hat es gesagt - bis ins Jahr 2002. ({0}) Denken wir einmal zurück: Damals war Christine Scheel Vorsitzende des Finanzausschusses und verantwortlich. Wenn ich mich richtig erinnere, hat damals auch die Linke diese komplexen Gestaltungen entlang der Börsenstichtage bzw. Hauptversammlungen nicht so durchdrungen, dass sie einen Antrag gestellt hätte, diese Lücke zu schließen. Es gab mehrere Anläufe, das zu tun; es war hochkomplex. Ich rege mich über das auf, was da tatsächlich passiert ist. Das war nur mit den Banken möglich. Da glaubte man, es sei ein legales Geschäft, einmal eine Steuer zu bezahlen und dann, weil wir eigentlich faire Regelungen der Rückerstattung haben, eine Gestaltung zu wählen, bei der man den Betrag zweimal zurückbekommt. Man vergriff sich gewissermaßen am Staatsschatz, betrog die Gemeinschaft. Das ist, finde ich, ein Verhalten, bei dem sich von selbst verstehen muss, dass es nicht in Ordnung ist. Dahin gehört die Aufregung eigentlich. Da müssen wir sehr viel schärfer zugreifen. Ich würde sagen: Das ist strafwürdiges Unrecht. ({1}) In Juristenkreisen wird das gelegentlich ein bisschen bestritten. Man sagt: Das war ja rechtsförmlich zulässig. - Ich muss sagen: Es gibt Dinge, die sich von selbst verbieten. - Professor Seher hat den Begriff des Erfolgsunrechts benutzt. Das verstehe ich so: Wenn man im Unrecht angekommen ist, hatte man Erfolg. - Das ist eine wunderbare Definition dafür, wie man sich im Unrecht bereichern kann und das dann rechtsförmlich rechtfertigt. Da mache ich nicht mit. Das ist für mich nicht einzusehen. ({2}) Selbst wenn der Gesetzgeber zu spät etwas verboten hat - das stimmt -, was sich eigentlich von selbst verbietet, selbst wenn die Finanzverwaltung zu spät erkannt hat, wie diese komplexen Vorgänge funktionieren, selbst wenn das alles wahr ist: Ein privater Investor muss sich von einem leistungslosen Parasiten unterscheiden, und das ist hier nicht mehr der Fall. Deshalb wollen wir dagegen vorgehen. Ich bin Minister Schäuble dankbar, dass er es geschafft hat, jetzt in einem dritten Schritt diese Lücke wirklich zu schließen. Wie hat er das gemacht? Durch ein vollständiges Umstellen des Erstattungssystems in der Körperschaftsteuer! Das war ein sehr großes Rad. Bisher war es so, dass die die Kapitalertragsteuer an den Fiskus abführende Stelle eine andere war als die Stelle, die die Kapitalertragsteuerzahlung bescheinigte. Wenn zwei Funktionen so auseinanderfallen, kann es sein, dass die Beteiligten nicht genug voneinander wissen und dass Menschen das ausnutzen. Für mich ist die eigentliche Kritik auf die zu richten, die es ausgenutzt haben in dem Wissen, dass es rechtswidrig ist. ({3}) - Das brauchen wir nicht aufzuarbeiten, weil alles aufgearbeitet ist. Es gibt hinreichend Transparenz. Es gibt sogar eine Personalaufstockung beim Bundesamt für Steuern. Es gibt hinsichtlich Cum-Ex-Geschäften eine Unterstützung der Länder seitens des Bundes. Es ist eigentlich alles transparent. Wir waren in den drei gesetzgeberischen Verfahren hinreichend beteiligt wie auch bei der Erarbeitung der jüngsten Lösungsvorschläge. Der Blick zurück hilft hier überhaupt nicht weiter. ({4}) Lasst uns doch nach vorne schauen. Was passiert denn gegenwärtig? Ich frage einmal die Grünen, insbesondere Gerhard Schick: Passiert denn gegenwärtig in ähnlicher Weise irgendetwas wie vor zwölf Jahren, das wir jetzt nicht erkennen? Lasst uns doch danach suchen, was jetzt passiert und was es an zukünftigen Aufgaben gibt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege Binding, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick zu oder nicht?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen, ({0}) weil ich denke, dass es schon sehr spät ist. Wir werden das hier ja noch mehrfach behandeln, weil es ein sehr großes und wichtiges Thema ist. Ich glaube auch, dass es hilft, wenn wir schauen, wer sich rechtfertigen müsste. Keiner kann sich davon freisprechen, es nicht rechtzeitig reguliert zu haben. ({1}) Weder ihr von den Linken noch wir noch ihr von den Grünen oder ihr von der CDU/CSU. Niemand. Insofern tragen wir alle die gleiche Verantwortung. Aufzuklären gibt es nichts. Was ist denn offen? Die technischen Fragen zu klären, ist eine relativ einfache Angelegenheit. Wenn wir aber heute die technischen Fragestellungen klären - manche Leute fragen sich ja, warum das Cum-Ex-Geschäfte heißt; das kann ich gerne noch erklären -, dann entdecken solch skrupellose Leute, die es bisher schon ausgenutzt haben, morgen eine neue Technik, weil es uns in einer unmoralischen Gesellschaft nie gelingen wird, alles so zu regulieren, Lothar Binding ({2}) dass kein Gauner mehr eine Chance hat, das auszunutzen. ({3}) Auch wenn es rechtsförmlich oder legal ist, ist das nicht in Ordnung. ({4}) Es heißt eben deshalb Cum-Ex-Trade bzw. Cum-ExGeschäft, weil es darum geht, dass Leute unmittelbar vor einer Hauptversammlung Aktien verkaufen, mitunter kombiniert mit Auslandsgeschäften und Leerverkäufen, und zwar mit Dividende, also cum Dividende, die dann einen Tag nach der Hauptversammlung - das ist der sogenannte Ex-Tag - beim Käufer Dividendenansprüche generieren, um auf diese Weise durch unterschiedliche Besitzer der gleichen Aktie doppelte Ansprüche zu erzeugen. Damit wird ein ungerechtfertigter Vorteil erschlichen. Wenn wir die jetzt vorhandenen Instrumente und die jetzt gültige Regelung betrachten, dann stellen wir fest ich bin mir gar nicht sicher, dass die Grünen dem nicht folgen können -, dass es jetzt sehr gut geregelt ist. Es ist ja auch nicht so, dass im vorliegenden Antrag gesagt würde, es sei jetzt nicht gut geregelt. Jetzt ist es sehr gut geregelt, und ich glaube, dass wir damit sehr gut leben können. Die Frage ist nun: Was soll eigentlich so ein Sonderermittler machen? Er könnte uns erklären, was in der Vergangenheit war. Er schreibt einen Aufsatz bzw. ein Gutachten über die Vergangenheit. Das hilft uns aber für die Zukunft gar nichts. Das kann uns für zukünftige Fragestellungen nicht helfen, weil das, was da untersucht würde, ja untersucht ist. ({5}) Ich habe mich nun gefragt, warum das Instrument des Sonderermittlers beantragt wurde und nicht ein Untersuchungsausschuss. Wir haben doch ein Instrument, das sehr scharf ist. Man könnte doch einen Untersuchungsausschuss beantragen. Wenn einem diese Sachverhalte so wichtig sind und so wesentlich erscheinen, könnte man doch einen Untersuchungsausschuss anstrengen. Ich fände es spannend, zu sehen, welche Aufgaben dieser sich geben würde. Ich glaube aber, dass auch dieses Instrument nicht zielführend ist. Deshalb sollten wir jetzt keinen vordergründigen Aktionismus an den Tag legen, sondern sensibel schauen, was gegenwärtig passiert. Wir haben ja den festen Vorsatz, dass uns das nicht wieder passiert. Schönen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege Binding. - Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Schick.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da ich persönlich angesprochen worden bin, möchte ich es doch noch einmal kurz klarstellen. Ich teile völlig die Empörung gegenüber den Investoren. ({0}) Diese Form, Geschäfte zu machen, bei denen die Rendite ausschließlich darin besteht, die Öffentlichkeit zu schädigen, darf nicht vorkommen. Genau deswegen besteht Aufklärungsbedarf; denn diese Geschäftsmodelle sind auch von öffentlich-rechtlichen Landesbanken betrieben worden. Genau deswegen müssen wir auch auf der staatlichen Seite dringend schauen, wie so etwas passieren konnte. ({1}) Der zweite Punkt. Es ist argumentiert worden, dass doch jetzt alles gut sei und wir uns den künftigen Sachen widmen können. Wenn wir aber nicht wissen, warum es sein konnte, dass der Finanzaufsicht, dem Fiskus, dem Finanzministerium und allen Fraktionen so lange Zeit das Problem, das so große Ausmaße hat, nicht bekannt geworden ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass die Schweinereien, die heute passieren, auch unter unserem Radar bleiben. ({2}) Deswegen ist es unsere Verantwortung, die Defizite aufzuarbeiten, um dies künftig zu verhindern; denn die Ressourcen dazu brauchen wir. ({3}) Ein kurzer letzter Punkt. Der Hinweis, dass alle Parteien dies nicht verhindern konnten, zwingt uns, gemeinsam aufzuarbeiten. Und da sollte der Fingerzeig gegen die anderen unterbleiben. Die Bürger erwarten anderes von uns. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Binding, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten. Wenn Sie nicht wollen, dann brauchen Sie auch nicht.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Doch, ganz kurz. - Ich will nur ganz kurz erwidern, weil ich in keinem einzigen Punkt mit Ausnahme des Verfahrens widerspreche. Lassen Sie uns die Gegenwart untersuchen und nicht mit Blick auf eine aufgeklärte Vergangenheit Bekanntes reflektieren. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Binding. - Der letzte Redner in dieser Debatte ist Philipp Graf Lerchenfeld für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Lerchenfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004340, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Präsidentin! Hohes Haus! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gäste sind nicht mehr zu begrüßen, verständlicherweise. ({0}) Ich denke, heute haben wir eine hohe moralische Entrüstung gesehen. Ich verstehe das, lieber Kollege Schick, was Sie hier gesagt haben. Ich glaube, wir müssen uns ganz klar darüber sein, dass Betrug immer möglich ist, dass kriminelle Handlungen natürlich auch möglich sind und dass solche Dinge erst nach einem gewissen Zeitablauf entdeckt werden. Wir sind uns vollkommen klar darüber. Nehmen wir zum Beispiel eine Betriebsprüfung. Hier haben wir meistens Betriebsprüfungszeiträume von fünf Jahren. Wir haben darüber hinaus noch entsprechende Finanzklagen. Wir haben entsprechende Dinge, die das Ganze zeitlich verzögern. Deswegen sind durchaus Reaktionen auf entsprechende betrügerische Fälle erst mit Verzögerung zu erwarten. Ich glaube, es sind mittlerweile sämtliche Maßnahmen ergriffen worden, um diese Probleme zu erhellen, um diese Probleme tatsächlich auszugrenzen. Im Jahr 2007 ist im Jahressteuergesetz der erste Bruch gemacht worden, indem man gesagt hat, dass inländische Geschäfte so nicht mehr abgewickelt werden können. Im Jahr 2012 hat man durch ein weiteres Gesetz verhindert, dass solche Geschäfte mit ausländischen Banken und Geschäfte, die ohne Intermediär stattfinden, unterbunden wurden. Somit ist die Frage, die Sie in Ihrem Antrag gestellt haben, ob die getroffenen Maßnahmen zur Schadensbegrenzung adäquat sind, eigentlich gelöst. Die zweite Frage, die sich stellt, ist: Sie wollen einen Sonderermittler einführen. Unsere Verfassung kennt das Instrument des Sonderermittlers eigentlich nicht. Wir haben, wie der Kollege vorhin richtig ausgeführt hat, das Instrument des Untersuchungsausschusses. Hier können wir als Parlament entsprechende Maßnahmen ergreifen. Das wäre durchaus überlegenswert. ({1}) Nur glaube ich, dass mittlerweile mit großer Sorgsamkeit vonseiten des Finanzministeriums reagiert wurde. Man muss sich auch darüber klar sein, dass Cum-ExTransaktionen hochgradig komplizierte Dinge sind, die nur mit hohem Sachverstand und mit exzellentem Wissen tatsächlich geprüft werden können. Das geht nicht einfach so durch - ich sage einmal - irgendeinen Finanzbeamten. Das Bundeszentralamt für Steuern hat zusätzlich personelle Ressourcen bereitgestellt, damit zum Beispiel auffällige Erstattungserträge auch aus der Vergangenheit geprüft werden können. Den Bundesländern wurde in diesem Zusammenhang vom Bundeszentralamt noch eine Unterstützung bei Außenprüfungen angeboten. Letztlich findet jetzt ein vernünftiger Wissenstransfer zwischen Bund und Ländern statt, der genau diesen Sachverhalten entsprechend Rechnung trägt. Ich denke, man sieht aber auch, dass immer wieder Vergangenheitsfälle neu aufgedeckt werden, weil sie zu den vorherigen Fällen unterschiedlich waren. Das führt zu entsprechenden Strafmaßnahmen und Steuerzahlungen. Der deutsche Fiskus wird sich hier sicherlich schadlos halten. Ein besonders augenfälliger Streitfall in diesem Zusammenhang ist im Moment die Klage von verschiedenen Steuerpflichtigen gegen die Bank Sarasin in der Schweiz: Mehrere Kläger verlangen von der Bank Schadensersatz in Millionenhöhe, weil sie bei diesen Geschäften angeblich falsch beraten worden sind. Die Bank Sarasin in Basel hatte das Cum-Ex-Vehikel im Frühling 2010 aufgebaut, genau mit dem Ziel, dafür in Deutschland groß zu werben und es hier zu vermarkten. Jetzt sehen sich die Bank und ihr privater Eigentümer entsprechend umfänglichen Ermittlungen schweizerischer und deutscher Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt. Liebe Kollegen, die Finanzverwaltung war grundsätzlich immer der Auffassung, dass es sich bei diesen Geschäften nicht um ein Modell zur steuerlichen Gestaltung, sondern um unzulässige Gestaltungen oder - wie der Kollege Gutting vorhin ganz richtig gesagt hat - um Betrug handelt. Diese Haltung ist Gott sei Dank mittlerweile vom BFH bestätigt worden. ({2}) Die frühen Hinweise, die ursprünglich gegeben worden sind, waren so unkonkret, dass man wirklich nicht erkennen konnte, was da tatsächlich vorgegangen ist. Die Ausgestaltung der Modelle wurde insgesamt möglichst groß verschleiert, damit eine Aufdeckung schwierig wurde. Es ist meiner Ansicht nach nicht notwendig, die vergangenen Sachverhalte zu prüfen. Vielmehr müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass hier alle Maßnahmen richtig ergriffen worden sind. Ihr Antrag ist deswegen nicht notwendig und damit abzulehnen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Graf Lerchenfeld. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3735 an den Finanzausschuss vorge- schlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Vizepräsidentin Claudia Roth Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Einrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungs- professur für Friedenspolitik und Völker- recht Drucksachen 18/1329, 18/1643 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der Universität Bonn verhindern Drucksachen 18/1330, 18/1642 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be- schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einrich- tung einer Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Frie- denspolitik und Völkerrecht“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1643, 1) Anlage 3 den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/ 1329 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von der Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der Universität Bonn verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1642, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1330 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Gegenstimmen von den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 16. Januar 2015, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, was immer Sie machen, noch einen schönen, friedlichen, hedonistischen Donnerstagabend.