Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
zur ersten Plenarsitzung im neuen Jahr und nutze die Gelegenheit gerne, Ihnen auch auf diesem Wege noch einmal persönlich alles Gute für das begonnene neue Jahr
zu wünschen.
Seit der letzten Sitzungswoche haben die Kollegin
Azize Tank ihren 65. Geburtstag sowie die Kollegin
Barbara Lanzinger und der Kollege Ralf Kapschack
ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des gesamten
Hauses möchte ich hierzu herzlich gratulieren und für
das neue Lebensjahr alles Gute wünschen.
({0})
Der Kollege Wolfgang Tiefensee hat sein Bundestagsmandat niedergelegt. Für ihn ist der Kollege Detlef
Müller nachgerückt, der bereits in der 16. Legislaturperiode Mitglied des Deutschen Bundestages war. Für
den verstorbenen Kollegen Andreas Schockenhoff hat
die Kollegin Ronja Schmitt die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Schließlich ist der Kollege
Thorsten Hoffmann für den ausgeschiedenen Kollegen
Ronald Pofalla als Mitglied des Deutschen Bundestages
nachgerückt. Ich darf Sie im Namen des Hauses herzlich
begrüßen und wünsche uns und Ihnen eine gute Zusammenarbeit.
({1})
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die SPDFraktion schlägt vor, als ordentliches Mitglied des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas,
Telekommunikation, Post und Eisenbahnen den Kollegen Johann Saathoff als Nachfolger für den Kollegen
Dirk Becker zu berufen. - Dagegen gibt es offenkundig
keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Saathoff als
ordentliches Mitglied des Beirats gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte
zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD
Bundeshaushalt 2014 ohne neue Schulden
({2})
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
anlässlich der Terroranschläge in Frankreich
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Ernährung für alle
Drucksache 18/3733
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren
({4})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden
Drucksache 18/3314
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Innenausschuss ({6})
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem
Präsident Dr. Norbert Lammert
Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären
Drucksache 18/3647
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({7})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE
Griechenlands Zukunft im Euro-Raum
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 3 - Aktionsplan „Zivile
Krisenprävention“ - wird von der heutigen Tagesordnung abgesetzt. Stattdessen wird die Bundeskanzlerin
eine Regierungserklärung anlässlich der Terroranschläge
in Frankreich abgeben.
Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 18. Dezember 2014 ({8}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Personalrechts der Beamtinnen und Beamten der früheren Deutschen
Bundespost
Drucksache 18/3512
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Der am 14.November 2014 ({11}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({12}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dämpfung des Mietanstiegs auf angespannten
Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung
({13})
Drucksache 18/3121
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Der am 18. Dezember 2014 ({15}) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({16}), dem Innenausschuss
({17}) und dem Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ({18}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Uwe Kekeritz, Claudia Roth ({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Iguala ist kein Einzelfall - Zur Menschenrechtslage in Mexiko
Drucksache 18/3552
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({20})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Der am 18. Dezember 2014 ({21}) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({22}), dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({23}) und
dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({24}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheitsabkommen brauchen Standards
Drucksache 18/3553
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({25})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Veränderungen der Tagesordnung
einverstanden? - Ich höre dazu keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Liebe
Gäste auf der Besuchertribüne! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche wurde Frankreich von
brutalen terroristischen Anschlägen erschüttert. 17 Menschen wurden skrupellos ermordet, andere zum Teil lebensgefährlich verletzt: Journalisten, Künstler und Polizisten, die für die Republik ihren Dienst taten, unter
ihnen ein Muslim, sowie vier Franzosen jüdischen Glaubens. Die Ereignisse haben uns alle schockiert und
empört; denn wir haben sofort verstanden: Der Mordanschlag von Paris galt nicht allein einer bestimmten
Zeitung und den Menschen, die sie machen, er galt der
Freiheit der Meinung und der Presse. Er war ein demonstrativer Angriff auf die freie und offene Gesellschaft, auf unsere geschriebene und ungeschriebene Verfassung, unsere Überzeugungen und unsere Werte.
Wir fühlen uns mit unseren französischen Freunden
verbunden im Schmerz und in der Trauer um die Opfer,
aber auch in der Entschlossenheit, dieser Herausforderung gemeinsam zu begegnen. Franzosen und mit ihnen
Menschen überall in der Welt, auch viele Deutsche, geben seit Tagen eine ebenso entschiedene Antwort auf
Präsident Dr. Norbert Lammert
diesen Angriff auf die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die demonstrativ erhobenen
Stifte und Plakate als Zeichen für das freie Wort, die millionenfach geteilte Parole „Je suis Charlie“, „Ich bin
Journalist, bin Jude, bin Polizist, bin Ahmed“, vermitteln
die unmissverständliche Botschaft: „Nous sommes tous
Charlie“. Wir alle sind gemeint. Wir lassen uns nicht einschüchtern, und schon gar nicht werden wir die Prinzipien aufgeben, die seit der Französischen Revolution
gemeinsame Grundlage der europäischen Zivilisation
geworden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
({26})
Wir sind überzeugt: Wenn es Freiheit geben soll,
muss sie für alle gelten. Wenn es Gleichheit geben soll,
muss sie für alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten
bedeuten, unabhängig von Herkunft, Glaube und Geschlecht. Wenn Brüderlichkeit mehr ist als ein Wort,
muss sie sich in Solidarität für die Schwächeren, die Ärmeren, die Benachteiligten in unseren Gesellschaften
ausdrücken.
Demokratie ist die in Europa gewachsene Verfassung
der Freiheit. Aber wir wissen auch, zumal aus der langen
schwierigen eigenen Geschichte, dass Freiheit nur möglich ist, wenn Zweifel erlaubt sind: Zweifel an dem, was
wir kennen, was wir gelernt haben, was wir wissen und
zu wissen glauben, was wir zu glauben gelernt haben.
Der Zweifel ist der Zwillingsbruder der Freiheit. Ohne
Zweifel an tradierten Positionen und Kritik an bestehenden Verhältnissen gibt es weder Fortschritt noch Freiheit. Deshalb hat die Freiheit der jeweils eigenen Meinung, der Rede, der Kunst und nicht zuletzt der Presse
eine herausragende, unaufgebbare Bedeutung für die Lebensbedingungen in unseren demokratisch verfassten
Gesellschaften. Deshalb werden wir sie von niemandem
zur Disposition stellen lassen.
({27})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entschlossenheit braucht es über den Tag hinaus; denn die Bedrohung
ist nicht eingebildet, sie ist real, jederzeit und überall,
auch bei uns. Wir werden in Staat und Gesellschaft stärker als bisher vorbeugend handeln müssen, wollen wir
verhindern, dass junge Männer und auch Frauen für den
Islamismus und Dschihadismus anfällig werden und
frustriert, verblendet und verführt von Deutschland aus
für eine menschenverachtende Ideologie in einen gottlosen Krieg ziehen.
Mit Kulturkampf hat Terrorismus sicher nichts zu tun,
mit Religion schon gar nicht. Unser Gegner ist nicht der
Islam, sondern der Fanatismus,
({28})
nicht Religion, sondern Fundamentalismus.
Wir dürfen auch nicht übersehen, dass es längst einen
erbitterten Machtkampf in der islamisch geprägten Welt
gibt, der wenig mit Religion, aber viel mit platten Herrschaftsansprüchen zu tun hat.
Wer in Deutschland die angebliche „Islamisierung des
Abendlandes“ auf öffentlichen Straßen und Plätzen proklamiert, betreibt Demagogie statt Aufklärung.
({29})
Wer wirklich an Aufklärung interessiert ist, muss sich
als Christ fragen, ob er Muslimen vorurteilslos und aufgeschlossen gegenübertritt und ihnen einen gleichberechtigten Platz in unserer Gesellschaft ermöglicht. Wem
unter den Muslimen über rhetorische Floskeln hinaus
tatsächlich an Aufklärung gelegen ist, muss sich mit der
Frage auseinandersetzen, warum noch immer im Namen
Allahs Menschen verfolgt, drangsaliert und getötet werden.
({30})
Diese Herausforderung, meine Damen und Herren,
begegnet uns allerdings nicht nur als unerklärliche und
unentschuldbare Tat verirrter einzelner Fanatiker. Auch
mit staatlicher Autorität wird im Namen Gottes gegen
Mindeststandards der Menschlichkeit verstoßen.
Saudi-Arabien hat wie beinahe alle Länder dieser
Welt das Attentat in Paris „als feigen Terrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam verstößt“, und zwei
Tage später den Blogger Raif Badawi in Jeddah öffentlich auspeitschen lassen. Wegen Beleidigung des Islams
und Auflehnung gegen die Autoritäten ist er zu tausend
Peitschenhieben verurteilt worden, die nach dem Urteil
in den nächsten 20 Wochen alle acht Tage vollzogen
werden sollen.
Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islam
nicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös begründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun,
reicht nicht aus - und sie ist auch nicht wahr, ebenso wenig wie die beschwichtigende Behauptung, die Kreuzzüge hätten nichts mit dem Christentum zu tun und die
Inquisition auch nicht und die Hexenverbrennung natürlich auch nicht.
Die Zusammenhänge sind jeweils offenkundig. Die
Frage, wie die gezielte Demütigung und Vernichtung
von Menschen im Namen Gottes überhaupt möglich ist,
und die noch wichtigere Frage, wie sichergestellt werden
kann, dass so etwas nie wieder geschieht, sind durch Tabuisierung nicht zu beantworten.
({31})
Umso notwendiger und wichtiger ist die eindeutige
Stellungnahme von führenden Repräsentanten islamischer Vereine und Verbände, wie wir sie am Dienstagabend am Brandenburger Tor eindrucksvoll erlebt haben.
Deshalb möchte ich den Veranstaltern und allen Teilnehmern an dieser Kundgebung meinen Dank und unseren
Respekt ausdrücken.
({32})
Ich freue mich, dass heute Morgen an dieser Veranstaltung im Deutschen Bundestag neben den Botschaftern Frankreichs und Israels Repräsentanten aller Religionsgemeinschaften teilnehmen, die ich herzlich bei
uns begrüße.
({33})
Meine Damen und Herren, religiöse Orientierungen
haben für gesellschaftliches wie für politisches Handeln
weltweit keineswegs an Bedeutung verloren, sondern offensichtlich zugenommen. Religion und persönliche
Präsident Dr. Norbert Lammert
Glaubensüberzeugungen gehören auch zur Lebenswirklichkeit in Deutschland als einem säkularen Staat. Das
friedliche Zusammenleben von Menschen, Völkern, Nationen und Kulturen ist aber nur möglich auf der Basis
von Verständigung, Verständnis und Toleranz. Deshalb
ist die Ermutigung zum Dialog richtig.
Ein solcher Dialog von Menschen unterschiedlicher
Überzeugungen und mit unterschiedlicher kultureller
Herkunft hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn
die Bereitschaft besteht, zuzuhören, dazuzulernen und
unterschiedliche Überzeugungen wechselseitig zu respektieren. Auch und gerade in liberalen Gesellschaften
gilt, dass die wechselseitige Rücksichtnahme im privaten wie im öffentlichen Leben das Zusammenleben erleichtert. Es ist auch Politikern zumutbar, Journalisten
und Künstlern nicht weniger, mit den Freiheitsrechten
unserer Verfassung verantwortlich umzugehen und Rücksicht zu nehmen auf das, was anderen buchstäblich heilig ist.
({34})
Die ganz große Mehrheit in unserem Land bekennt
sich zur religiösen Vielfalt, zur weltoffenen Gesellschaft.
Deutschland steht zu seiner humanitären Verpflichtung,
Menschen, die traumatisiert dem Krieg und immer häufiger dem islamistischen Terror entkommen sind, Schutz
zu bieten, und es nimmt im internationalen Bündnis
seine Aufgabe wahr, Staaten und Völkern, die unter dem
Terror leiden, beizustehen. Über unsere Betroffenheit
angesichts des Anschlags in Frankreich vergessen wir
nicht, dass zeitgleich unschuldige Menschen, darunter
vor allem Muslime, zu Tausenden Opfer des Terrorismus
werden, unvorstellbare Verbrechen mit unglaublichen
Begründungen, in Nigeria, in Pakistan, in Syrien oder
dem Irak - jeden Tag!
Wir alle müssen die Werte der westlichen Demokratie, die längst universelle Werte der Menschheit geworden sind, gemeinsam verteidigen, und wir werden ihre
Gegner entschlossen bekämpfen. Die Idee der unantastbaren Würde des Menschen wird am Ende stärker sein
als ideologisch verblendeter Hass.
({35})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere besondere
Solidarität gilt in diesen Tagen unseren französischen
Freunden. Unser tiefes Mitgefühl ist bei allen Angehörigen der Getöteten und bei den vielen Verletzten.
Ich bitte Sie, sich im Gedenken an die Opfer, als Zeichen unseres Respektes, unserer Anteilnahme und unserer Solidarität von den Plätzen zu erheben.
({36})
Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung
auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
anlässlich der Terroranschläge in Frankreich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 60 Minuten vorgesehen. - Hierzu stelle ich Einvernehmen fest. Dann verfahren wir so.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({37})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir sind erschüttert und fassungslos über den Tod von 17 unschuldigen Menschen,
die am Mittwoch der vergangenen Woche in Paris dem
blanken Hass des internationalen Terrorismus zum Opfer
gefallen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der
Opfer, den Verletzten und dem französischen Volk. Ich
habe Präsident Hollande das tiefempfundene Beileid der
Menschen in Deutschland übermittelt.
Deutschland und Frankreich verbindet eine besondere
Freundschaft. Deutschland und Frankreich stehen in diesen schweren Tagen zusammen. Deutschland und Frankreich stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass es
hier, bei uns in Deutschland, keine Sicherheit gibt, wenn
es dort, in Frankreich, keine Sicherheit gibt. Wir stehen
in dem Bewusstsein zusammen, dass das deutsche und
das französische Schicksal in unserer globalisierten Welt
untrennbar miteinander verbunden sind. Wir stehen auch
in dem Bewusstsein zusammen, dass der Terror nicht
erst mit dem 11. September 2001 in die Welt gekommen
ist und dass er auch nicht von heute auf morgen verschwinden wird.
Terror war nie weg. Terror hat immer existiert: in den
Konzentrationslagern, in den Gulags, in den Morden an
Walther Rathenau oder Matthias Erzberger, in den Morden an Martin Luther King, an Zoran Djindjic, an Hanns
Martin Schleyer oder in den schrecklichen Morden des
NSU. Diese Aufzählung ist beileibe nicht vollständig,
schon gar nicht systematisch; darauf kommt es mir auch
gar nicht an.
Terror steckt auch in den Bomben auf Deutsche, die
in Tunesien Urlaub machen wollten, oder in den Bomben, die in Bussen zündeten, die durch israelische Städte
fuhren. Terror steckt auch in der beklemmenden Abfolge
der Mordtaten, die wir allein im letzten Jahr erleben
mussten: in der Enthauptung von Geiseln im Irak, in der
grausamen Verfolgung und Ermordung aller, die sich der
Herrschaft und der totalitären Glaubensauslegung des IS
im Irak und in Syrien entgegenstellen, im Anschlag auf
das Jüdische Museum in Brüssel, in den tödlichen
Schüssen auf einen kanadischen Soldaten vor dem Parlament in Ottawa, in der Geiselnahme und Ermordung von
Mitarbeitern und Gästen eines Cafés in Sydney, in dem
auch in seiner Dimension kaum fassbaren Massenmord
an mehr als 100 Kindern in einer Schule in Pakistan, in
den Gräueltaten der Gruppe Boko Haram in Nigeria, deren ganzes Ausmaß wir nur erahnen können.
Nun, zu Beginn des neuen Jahres, hat der Terror Paris
erschüttert. Er richtete sich gegen drei Gruppen von
Menschen: gegen die Journalisten von Charlie Hebdo,
ermordet für ihre Zeichnungen, gegen die Polizisten, ermordet in Ausübung ihres Dienstes, gegen die Kunden
eines koscheren Supermarkts, ermordet, weil sie Juden
waren oder die Mörder davon ausgingen, dort Juden anzutreffen.
In den schlimmen Stunden, die Paris und die Franzosen zwischen Mittwochmittag und Freitagnachmittag der
letzten Woche durchlitten, ging es um zwei der großen
Übel unserer Zeit, die nicht immer, aber häufig Hand in
Hand gehen: um mörderischen islamischen Terrorismus
und Antisemitismus, den Hass auf Juden. Wir gedenken
heute hier im Bundestag der 17 bei diesen Anschlägen
ermordeten Menschen.
Das weltweite Entsetzen über die Anschläge und der
Trotz, mit dem viele reagiert haben, hatten schnell zwei
Symbole: „Je suis Charlie“, die Plakate, die die Menschen als Zeichen ihrer Identifikation mit der Satirezeitung hochhielten, und die Zeichenstifte, das Werkzeug
der Karikaturisten. Millionen Menschen aus aller Welt
spüren, dass es in der Auseinandersetzung mit den Terroristen um eine unserer Grundfreiheiten geht: um die
Freiheit der Presse, die Freiheit, zu schreiben, zu filmen,
zu veröffentlichen - ohne Zensur. Es ist der Artikel 5 unseres Grundgesetzes, der diese Freiheit garantiert. Er gehört für mich neben dem Artikel 1 zur Unantastbarkeit
der Würde des Menschen, dem Artikel 2 zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem Artikel 3 zur Gleichheit
aller Menschen vor dem Gesetz und dem Artikel 4 zur
Freiheit des Glaubens zu den größten Schätzen unserer
Gesellschaft.
({0})
Die Pressefreiheit ist nicht zu trennen von der Meinungsfreiheit des einzelnen Bürgers. Ja, Bürger sein und
nicht Untertan, das ist doch nur möglich, wenn es eine
freie Presse gibt, wenn wir ungehindert an die Informationen kommen können, die uns eine eigene Meinung,
ein eigenes Urteil erlauben.
Viele Staaten auf der Welt haben sich auf dem Papier
ihrer Gesetze und Verfassungen der Pressefreiheit verschrieben. Die Wirklichkeit spricht oft eine andere Sprache: „Reporter ohne Grenzen“ listet für 2014 66 Journalisten auf, die wegen ihrer Arbeit getötet wurden,
119 Entführungen, 178 Journalisten in Haft. „Reporter
ohne Grenzen“ schreibt, die Morde an Journalisten würden immer grausamer, und die Zahl der Entführungen
wachse rasant. Aus zu vielen Ländern gibt es von verfolgten, gequälten und ermordeten Journalisten zu berichten. Pressefreiheit auf dem Papier ist also noch nicht
viel wert, sie ist immer konkret, sonst gibt es sie nicht. In
viel zu vielen Ländern dieser Welt gibt es sie nicht.
Wir in Deutschland, wir in Europa haben wahrlich
keinen Grund, mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen,
zu leidvoll war das jahrhundertelange Blutvergießen auf
unserem Kontinent, bis hin zum von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Schoah. Aber wir können
nach all den Schrecken der Vergangenheit davon erzählen, dass wir in Europa endlich einen Umgang mit unserer Vielfalt gelernt haben, der aus dieser Vielfalt das
meiste macht. Wir können davon erzählen, dass die Eigenschaft, die uns dazu befähigt hat, die Toleranz ist. Sie
ist eine anspruchsvolle Tugend. Sie ist nicht mit Standpunktlosigkeit zu verwechseln, wie auch die Freiheit
niemals mit Bindungslosigkeit zu verwechseln ist, sondern stets und für jeden mit Verantwortung verbunden
ist. Das gilt für unser persönliches Leben wie für die
Politik wie auch für die Medien; das gilt für alle.
Freiheit und Toleranz haben niemals das geringste
Verständnis für Gewalt durch Links- oder Rechtsextremismus, für Antisemitismus oder für Gewalt im Namen
einer Religion. Freiheit und Toleranz sind ihre eigenen
Totengräber, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützen.
Religionsfreiheit und Toleranz meinen nicht, dass im
Zweifelsfall die Scharia über dem Grundgesetz steht.
Freiheit und Toleranz bedeuten nicht wegsehen oder das
Messen mit zweierlei Maß.
Ich bin am Sonntag zusammen mit meinen Kollegen
aus der Bundesregierung, den Ministern Sigmar Gabriel,
Thomas de Maizière und Frank-Walter Steinmeier, in
Paris gewesen. Auch die Vizepräsidentin des Deutschen
Bundestages, Claudia Roth, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Hans-Peter
Friedrich, und die Vorsitzenden von Bündnis 90/Die
Grünen, Simone Peter und Cem Özdemir, waren da, um
den Millionen von Franzosen auf den Straßen und Plätzen Frankreichs zu zeigen: Deutschland fühlt sich ihnen
in Freundschaft und Solidarität nah.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die
Mörder von Paris mit ihren Taten jeden mitfühlenden
Menschen angewidert und abgestoßen haben, dann haben die mehr als 3 Millionen Menschen in Paris und anderen französischen Städten am Wochenende wie auch
die Menschen vorgestern bei der Mahnwache am Brandenburger Tor diesen Beweis geliefert.
({1})
Es ist ein Meer von Freiheitsfreunden, die im Angesicht
der Verbrechen das Gemeinsame ineinander entdecken
- vielleicht klarer als je zuvor -, ein Meer von Bürgern,
die sich aufrichten, wenn der Terror sie in die Knie zwingen will, ein Meer von Menschen, das sich nicht der
kranken Logik der Terroristen folgend in christlich, muslimisch, jüdisch, nichtgläubig spalten lässt.
Auch wir in Deutschland wollen und werden uns
nicht spalten lassen. Wir lassen uns nicht spalten von denen, die heute Menschen in Deutschland anpöbeln, bedrohen und angreifen, wenn sie sich irgendwie als Juden
zu erkennen geben oder für den Staat Israel Partei ergreifen. Wir machen unmissverständlich klar: Jüdisches Leben gehört zu uns, es ist Teil unserer Kultur und Identität. Diskriminierung und Ausgrenzung dürfen bei uns
keinen Platz haben.
({2})
Deshalb werden wir antisemitische Straftaten konsequent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgen. Die
Bekämpfung des Antisemitismus ist unsere staatliche
und bürgerliche Pflicht. Das gilt genauso auch für Angriffe auf Moscheen. Auch sie nehmen wir nicht hin,
auch sie werden konsequent verfolgt; denn wir lassen
uns nicht von denen spalten, die angesichts des islamistischen Terrors Muslime in Deutschland unter einen Generalverdacht stellen. Jede Ausgrenzung von Muslimen
in Deutschland, jeder Generalverdacht, verbietet sich.
({3})
Als Bundeskanzlerin nehme ich die Muslime in unserem
Land dagegen in Schutz, und das tun wir in diesem
Hause alle.
({4})
Die allermeisten Muslime in Deutschland sind rechtschaffene, verfassungstreue Bürger. Wir müssen hier
zweierlei auseinanderhalten: Wir garantieren, dass der
Glaube des Islam in Deutschland im Rahmen unserer
Verfassung und der übrigen Gesetze frei ausgeübt werden kann, und wir bekämpfen jede Form islamistischer
Gewalt mit der ganzen Entschlossenheit unseres Rechtsstaates.
Das bedeutet unter anderem:
Erstens. Hassprediger und Gewalttäter, die im Namen
des Islam vorgehen, ihre Hintermänner und geistigen
Brandstifter des internationalen Terrorismus werden mit
aller Konsequenz und mit allen Mitteln bekämpft, die
uns als Rechtsstaat zur Verfügung stehen.
Zweitens. Die Bundesregierung hat gestern die Einführung eines Ersatz-Personalausweises beschlossen,
der nicht zum Verlassen Deutschlands berechtigt. Damit
wollen wir die Ausreise deutscher Staatsbürger in Konfliktgebiete und Terrorlager unterbinden; denn wir betrachten das Phänomen der Ausreise zumeist junger
Menschen, die sich in Syrien und im Irak terroristischen
Gruppierungen anschließen, mit großer Sorge. Diejenigen, die später nach Deutschland zurückkehren, haben
mit ihrer zunehmenden Verrohung auch für uns in
Deutschland das größte Gefahrenpotenzial.
Drittens. Die Bundesregierung wird in Kürze das Gesetzesvorhaben des Justizministers zur verbesserten Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung und zur Strafbarkeit der Ausreise in Konfliktgebiete beschließen. Es
handelt sich hierbei um die Umsetzung der entsprechenden UN-Resolution.
Viertens. Der Europäische Rat im Februar 2015 wird
sich auch mit den Maßnahmen befassen, die die Innenminister von elf EU-Mitgliedstaaten am letzten Wochenende in Paris beraten haben: Maßnahmen zum Kampf
gegen den illegalen Waffenhandel, zur Zusammenarbeit
der Transitstaaten, zur Überwachung der Reisebewegungen an den EU-Außengrenzen und zum Abgleich der
Fluggastdaten von Gefährdern.
Fünftens. Wir müssen den Sicherheitsbehörden insgesamt die erforderliche personelle und finanzielle Ausstattung verschaffen, die sie benötigen, um unsere Sicherheit bestmöglich zu gewährleisten.
({5})
Wir müssen sie in die Lage versetzen, ihre Arbeit auch
unter veränderten Lageanforderungen und veränderten
technischen Rahmenbedingungen zu erbringen. Dem
dient auch die Novelle des Bundesverfassungsschutzgesetzes, und ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um allen, die sich um die Sicherheit unseres Landes verdient
machen, ein herzliches Dankeschön zu sagen.
({6})
Sechstens. Der Europäische Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht haben den Rahmen beschrieben,
in dem eine Regelung der Mindestspeicherfristen für
Kommunikationsdaten erfolgen kann. Angesichts der
parteiübergreifenden Überzeugung aller Innenminister
von Bund und Ländern, dass wir solche Mindestspeicherfristen brauchen, sollten wir darauf drängen, dass
die von der EU-Kommission hierzu angekündigte überarbeitete EU-Richtlinie zügig vorgelegt wird, um sie anschließend auch in deutsches Recht umzusetzen.
({7})
Siebtens. Bei der Arbeit unserer deutschen Nachrichtendienste und auch bei der Zusammenarbeit mit unseren
Partnerdiensten muss ohne jeden Zweifel stets die Balance von Freiheit und Sicherheit gewahrt werden. Aber
ebenso ohne jeden Zweifel ist und bleibt der Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg für unsere Sicherheit absolut unverzichtbar.
({8})
Achtens. Deutschland wird sich als Teil der internationalen Gemeinschaft unvermindert politisch, humanitär sowie mit militärischer Ausrüstung und Ausbildung
am Kampf gegen die Terrormiliz IS im Irak oder in Syrien beteiligen. Unsere Beteiligung wird nicht in Syrien
stattfinden, aber die IS ist dort tätig.
Neuntens. Wahrlich nicht zuletzt müssen wir darauf
hinwirken, dass sich junge Menschen bei uns gar nicht
erst von extremistischen Rattenfängern angesprochen
fühlen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb vielfältige Aktivitäten und Projekte, die Toleranz fördern, Sozialkompetenz und Demokratieverständnis stärken, gerade auch für die Jugend- und Elternarbeit. Wir müssen
bereits in den Familien allen Formen extremistischer
Diskriminierung und Gewalt den Boden entziehen.
Meine Damen und Herren, Terroristen sagen, sie
wollten den Staat und seine Repräsentanten, den Westen,
ein System oder wie immer es heißt, treffen. Auslöser
soll eine misslungene Kindheit, eine misslungene Schulkarriere, persönliche Zurücksetzung sein. Andere sagen,
außerdem sei Religion im Spiel. - Nein, all das überzeugt mich nicht.
Jeder Terrorist, der eine Explosion auslöst oder der
Schüsse abgibt, weiß, dass er Menschen trifft, die er in
der Regel nicht einmal kennt, die ihm nichts getan haben, die ihm nichts schuldig sind. Jeder Terrorist trifft
daher eine eigene persönliche Entscheidung, für die er
die Verantwortung übernehmen muss. Sie kann mit einer
misslungenen Kindheit nicht gerechtfertigt werden. Sie
hat auch mit Religion insgesamt nichts zu tun.
({9})
Wahrscheinlich hat sie mit einer speziellen Auslegung
von Religion zu tun, die in der Anmaßung besteht, an
der Stelle Gottes handeln, strafen, töten zu dürfen. Das
aber ist für mich Gotteslästerung; nichts anderes.
({10})
Die tatsächlichen Beweggründe von Terrorismus liegen anderswo. Sie liegen in der Überzeugung, über anderen zu stehen, weil man meint, Gottes Stellvertretung
zu sein, weil man eine historische Mission haben will,
weil man überzeugt ist, durch Glaube, Herkunft, Abstammung, Geschlecht über anderen zu stehen.
Die allermeisten Menschen in Deutschland sind keine
Feinde des Islam. Sie sind in ihrem Urteil unsicher, auch
ratlos. Sie sind nicht mit dem Koran aufgewachsen, ich
persönlich auch nicht. Sie tun sich schwer damit, wenn
ich den Gedanken des früheren Bundespräsidenten
Wulff unterstütze, als er zum Tag der Deutschen Einheit
im Jahre 2010 sagte - ich zitiere ihn noch einmal -:
Zuallererst brauchen wir aber eine klare Haltung,
ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte
oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu
Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu
Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu
Deutschland.
({11})
Die Menschen fragen mich, welcher Islam gemeint
ist, wenn ich diesen Gedanken zitiere. Sie wollen wissen, warum Terroristen den Wert eines Menschenlebens
so gering schätzen und ihre Untaten stets mit ihrem
Glauben verbinden. Sie fragen, wie man dem wieder und
wieder gehörten Satz noch folgen kann, dass Mörder, die
sich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit dem
Islam zu tun haben sollen. Ich sage ausdrücklich: Das
sind berechtigte Fragen. Ich halte eine Klärung dieser
Fragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, und
ich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewichen werden.
({12})
Meine Damen und Herren! Wir alle haben Fremdbilder im Kopf. Niemand von uns ist ohne Fremdbilder. Sie
bestehen aus Erfahrungen, Gehörtem, aus ungeprüften
eigenen Vorstellungen, auch aus Ängsten. Sie sind teils
richtig und teils falsch. Bei manchen werden Fremdbilder zu Feindbildern. Das lässt sich durch Aufklärung
und Kennenlernen verhindern.
Langfristig hilft nur Demokratie als Lebensprinzip. In
der Schule können Heranwachsende lernen, wie Standpunkte zu entwickeln sind und dass das bessere Argument am Ende zählt. In den Schüler- und Jugendvertretungen kann gelernt werden, wie legitime Ansprüche
durchgesetzt und Kompromisse geschlossen werden.
Auch Betriebs- und Personalräte können Schulen der
Demokratie sein, ebenso Sportvereine, in denen erfahren
werden kann, wie das Einhalten von Regeln allen dient.
In den Städten und Gemeinden engagieren sich unzählige Bürger unseres Landes. Sie beraten, weil sie Bescheid wissen. Viele finden den Weg in die Kommunalparlamente. Sie stellen sich der Wahl der Bürgerinnen
und Bürger. Tausende verbringen ihre Freizeit damit,
sich in der Kirchenarbeit zu engagieren. Bis ins hohe Alter arbeiten Frauen und Männer für andere, sorgen sich
darum, dass Altersgenossen mit Lebensmitteln versorgt
werden, begleiten sie, bringen Patienten in Krankenhäusern Lesestoff und setzen sich an ein Bett, um ein Gespräch zu beginnen. Diese Bürgerinnen und Bürger, sie
sind die stillen Helden unseres Lebens.
({13})
Wir sollten unsere Gesellschaft wachrütteln für dieses
Lebensprinzip der Demokratie: für das Mitreden, Mitentscheiden, Hilfeleisten und dafür, Verantwortung zu
übernehmen. Kaum etwas ist wichtiger für unser Lebensgefühl als die Erfahrung, geschätzt, gebraucht und
in dieser großen zivilen Gemeinschaft der Freiheit und
Verantwortung respektiert zu werden. Das ist unser Gegenentwurf zur Welt des Terrorismus, und er ist stärker
als der Terrorismus.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich stimme Ihnen bei der schärfsten Verurteilung der erlebten Terroranschläge in vollem Umfange
zu. Ich begrüße auch die gemeinsame Verurteilung durch
den Bundestag, halte diese allerdings für selbstverständlich.
Diese Attentate sind ein Angriff auf die Demokratie,
die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und das Recht
auf Leben. Es ist völlig legitim, Satire mal als geschmackvoll, mal als geschmacklos einzuschätzen. Aber
Satire darf alles, sonst kann sie ihren Charakter nicht
austragen.
({0})
Ein großes Erlebnis war für mich die Mahnwache am
Brandenburger Tor auf Einladung der muslimischen Verbände. Die gemeinsame Verurteilung der terroristischen
Akte durch Christinnen und Christen, Muslima und
Muslime, Jüdinnen und Juden, Atheistinnen und Atheisten, kurz: durch die gesamte Gesellschaft, war ein wichtiger Akt.
Wir müssen nun allerdings den Missbrauch der Terroranschläge durch die Anführer der Pegida-Bewegung
verhindern.
({1})
Ein demokratisches, tolerantes und weltoffenes Zusammenleben mit friedlichen Bürgerinnen und Bürgern,
auch mit anderer Kultur und anderen Religionen, muss
gefördert werden. Die große Mehrheit der Menschen
ging für diese Ziele auf die Straße. Pegida spricht für
eine Minderheit, nicht für das Volk. Die große Mehrheit
denkt und handelt völlig anders.
({2})
Deshalb ist es wichtig, dass wir Pegida geschlossen verurteilen. Niemand sollte versuchen, zum halben parlamentarischen Arm dieser Bewegung zu werden.
({3})
Es existieren abstrakte Ängste vor dem Fremden. Mitläufer, die keine Nazis sind, müssen wir für die Gesellschaft zurückgewinnen; das wird schwer genug. Wir
brauchen eine gemeinsame Aufklärungskampagne durch
ein Aufklärungsbündnis aller Fraktionen im Bundestag,
aller kirchlichen Konfessionen und aller Gewerkschaften
zusammen mit der Kunst, der Kultur, dem Sport und den
Wissenschaften.
({4})
Aber die Hauptverantwortung liegt bei der Politik. Ich
sage das hier so offen: Beim Abbau von Ängsten haben
wir alle versagt. Wir sollten diesbezüglich selbstkritisch
über uns nachdenken.
({5})
Menschen in Not brauchen Hilfe. Staat und Gesellschaft sind verpflichtet, ihnen zu helfen. Das gilt nicht
nur für durch Krieg und Bürgerkrieg traumatisierte
Flüchtlinge, sondern auch für alle Bürgerinnen und Bürger, die in große Not geraten sind. Deshalb müssen wir
allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, wie Sie
es getan haben, Frau Bundeskanzlerin, danken, die so
viel Zeit damit zubringen, Flüchtlingen und anderen zu
helfen.
({6})
Aber ich füge hinzu: Die Demonstrantinnen und Demonstranten von Pegida würden, wenn sie in der gleichen Situation wären wie die Flüchtlinge, ebenso Hilfe verlangen und erwarten und wahrscheinlich auch bekommen.
Der Ruf der Union nach stärkeren Geheimdiensten
sowie schärferen Gesetzen und insbesondere nach einer
Vorratsdatenspeicherung löst - das gilt auch für das, was
Sie dazu gesagt haben, Frau Bundeskanzlerin - die Probleme nicht, im Gegenteil.
({7})
Dieser Versuch wurde jedes Mal unternommen und blieb
wirkungslos. In Frankreich gibt es eine umfassende Erfassung von Vorratsdaten sowie eine sehr enge Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizei. Das schreckliche Attentat konnte so aber nicht verhindert werden.
Das Gegenteil ist richtig: Umfassende Bürgerrechte und
eine stärkere Demokratie sind wichtige Voraussetzungen
im Kampf gegen den Terrorismus.
({8})
Der Terrorismus, für den der Islam missbraucht wird,
hat Ursachen. Al-Qaida und „Islamischer Staat“ sind
auch Folge und Produkte von Militärinterventionen. AlQaida entstand im Krieg in Afghanistan während der Besatzung durch die Sowjetunion. Damals rüsteten die
USA die Taliban und diese Terrorgruppe im Kampf gegen die Sowjetunion auf nach dem Motto „Der Feind
meines Feindes ist mein Freund“. Nach dieser Logik
wurde auch im Bürgerkrieg in Syrien verfahren. Die
USA, Saudi-Arabien, Katar und andere Golfstaaten unterstützten Terrororganisationen im Kampf gegen Assad.
Der „Islamische Staat“ entstand. Erst spät, viel zu spät
wurde diese offene Unterstützung eingestellt. Der Irakkrieg von 2003 war völkerrechtswidrig und ein großer
Fehler mit verheerenden Folgen.
({9})
Wenn wir die Ursachen und Bedingungen von Terrorismus wirksam bekämpfen wollen, dann heißt das für
uns: Wir müssen weltweit für die Achtung des Rechts
auf Leben eintreten.
({10})
Das wiederum verlangt, zu begreifen: Erstens. Die Strategien von NATO und den USA, Regimewechsel und die
Durchsetzung ökonomischer Interessen von außen durch
Krieg herbeizuführen, sind nicht nur gescheitert. Im
Krieg wird Leben vernichtet. Dadurch entsteht eine Verachtung des Rechts auf Leben. Diese Verachtung ist eine
Bedingung des Terrorismus. Im Krieg entsteht mehr und
neuer Hass, der zur Verachtung von Leben, aber auch zur
Bereitschaft zu Terrorismus führen kann. Wenn als Kollateralschaden eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan
getötet wird, was, glauben Sie von Union, SPD und Grünen denn, entsteht im Umfeld: Freundschaft, Dankbarkeit oder Hass?
Man kann anderen Gesellschaften auch nicht eine andere Kultur aufzwingen. Der Afghanistan-Krieg sollte
al-Qaida zerstören. Diese Terrororganisation ist aber nur
umgezogen nach Pakistan und hat dort gerade über
100 Kinder getötet. Not und Elend in Afghanistan haben
sich vergrößert. Sie alle wissen, dass Ihre Entscheidung
für den Afghanistan-Krieg falsch war, haben aber nicht
den Mut, das einzuräumen und die entsprechenden
Schlussfolgerungen zu ziehen.
({11})
Ohne die genannte falsche Aufrüstung in Syrien und
ohne den falschen Irakkrieg gäbe es den „Islamischen
Staat“ nicht, zumindest nicht so, wie er heute existiert.
({12})
Die Staaten in Libyen, im Irak, im Sudan und in Somalia
sind zerstört. Wer Terrorismus überwinden will, muss
Kriege stoppen.
({13})
Deutschland darf sich nie wieder an Kriegen beteiligen
und - wie beim Jugoslawien-Krieg - das Völkerrecht
über Bord werfen.
Zweitens. Die deutschen Waffenexporte, zumindest
die an Diktaturen und in Kriegs- und Krisengebiete,
müssen doch unverzüglich gestoppt werden, auch und
gerade an das auspeitschende Saudi-Arabien.
({14})
Drittens. Terrorismus nutzt auch Hunger, Armut,
Elend und Bildungsnotstand oder die Angst der Menschen, in Hunger, Armut, Elend oder Bildungsnotstand
abzustürzen, aus. Der Kampf gegen Hunger, Armut,
Elend und Bildungsnotstand ist also nicht nur aus humanistischen Gründen, nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit erforderlich, sondern auch, um begünstigende Bedingungen für den Terrorismus zu überwinden,
um die Achtung für Menschenleben zu erhöhen.
({15})
Jedes Jahr sterben auf der Erde 70 Millionen Menschen und davon 18 Millionen an Hunger oder den Folgen von Hunger, obwohl wir weltweit Nahrungsmittel
besitzen, die die Menschheit zweimal ernähren könnten.
Wir können die Fragen der Hungernden nicht beantworten, wir müssen den Hunger endlich überwinden.
({16})
Es entsteht immer mehr Reichtum in immer weniger
Händen, während sich andererseits die Armut weltweit
verbreitet, auch in Europa, auch in Deutschland. Wir
brauchen eine andere Entwicklungspolitik für die Krisenregionen, die Not und Elend überwindet, die Entwicklung ermöglicht; nicht die Interessen der eigenen
Konzerne dürfen der Maßstab sein. Das ist übrigens
auch die beste Friedenspolitik und die beste Politik zur
Bekämpfung von Ursachen von Flucht.
Viertens. Auch die Menschheitsfragen wie die Nachhaltigkeit in der Ökologie, die Verhinderung einer Klimakatastrophe müssen endlich gelöst werden. Wenn gerade bei großen Staaten ökonomische Interessen den
Vorrang haben, dann bringt das eine Verachtung zum
Recht auf Leben zum Ausdruck.
Wir brauchen also, wenn wir Terrorismus wirksam
bekämpfen wollen und auch aus vielen anderen Gründen, gerade in den USA und im gesamten Westen und
auch hier in Deutschland eine Wende in der Politik. Lassen Sie uns die Situation ernst nehmen und gemeinsam
über Konsequenzen beraten.
({17})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Kotting-Uhl das Wort.
Herr Gysi, ich hatte mich zu einer Zwischenbemerkung gemeldet, als Sie davon geredet haben, dass der
Kriegseinsatz in Afghanistan mit ursächlich für den Terrorakt verantwortlich ist, der vor kurzem passiert ist, und
für den Terror insgesamt, den wir erleben. Ich möchte
mich als eine Parlamentarierin, die nie für diese Einsätze
in Afghanistan war, die keinem dieser Einsätze je zugestimmt hat, sondern sie immer konsequent abgelehnt hat,
und zwar mit einer Argumentation, in der Sie, die Fraktion Die Linke, und ich uns durchaus nahe stehen, gegen
die Unterstellung verwahren, dass das gesamte Parlament mit Ausnahme der Fraktion Die Linke diesen heutigen Terror mitverursacht hat. Der Terror war vor dem
Einsatz in Afghanistan da.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den
Anschlägen von Paris wollten die Terroristen nicht nur
in Frankreich, sondern in ganz Europa Angst und Schrecken verbreiten. Das war ein Angriff auf die freie Presse,
das war der Versuch, freie Menschen in einer offenen
Gesellschaft einzuschüchtern, aber das ist den Terroristen nicht gelungen; sie haben ihr Ziel nicht erreicht.
({0})
Denn die Franzosen haben am Sonntag die stärkste
Antwort gegeben, die man sich vorstellen kann. Sie haben nicht nach Vergeltung und Rache gerufen, sie haben
nicht den Polizeistaat gefordert, sondern Millionen sind
auf die Straße gegangen, um zu trauern, aber auch um
klar zu zeigen: Wir lassen uns von den Terroristen nicht
spalten, wir stehen zusammen, wir bieten dem Terror die
Stirn, und wir verteidigen die Freiheit, die Demokratie
und die Menschlichkeit.
({1})
Frankreich hat damit der Welt eindrucksvoll gezeigt,
dass Freiheit und Demokratie stärker sind als die zerstörerischen Kräfte von Terror und Hass. Ich finde, dafür
müssen wir den Franzosen dankbar sein.
({2})
Die Terroranschläge in Paris lenken den Blick auch
auf die Situation der Muslime in Deutschland; denn sie
haben es in diesen Zeiten schwer. Ihr Glaube, ihre Religion, der Islam, wird durch die tägliche Berichterstattung über die Kriege im Nahen Osten und in Afrika nur
noch in der hässlichen Fratze des Dschihadismus dargestellt und wahrgenommen. Abend für Abend setzen sich
diese Bilder in den Köpfen fest. Dass sich die Terroristen
auf den Islam berufen und damit das religiöse Empfinden vieler friedlicher Muslime mit Füßen treten, das ist
eigentlich schon schlimm genug. Wenn jetzt aber Millionen friedfertiger Muslime in Deutschland in einen Topf
mit Terroristen geworfen werden, dann ist das eine unverantwortliche politische Brandstiftung.
({3})
Wir alle wissen: Das kann leicht zu einer Eskalation der
Gewalt führen. Deshalb müssen wir uns jetzt vor die
Muslime stellen.
({4})
Die Organisation Pegida und ihre Demonstranten fordere ich auf, endlich aufzuhören mit der Stimmungsmache gegen Andersgläubige und gegen Einwanderer in
Deutschland.
({5})
Diese Leute hätten dem Bundespräsidenten zuhören sollen, als er am Dienstag auf dem Pariser Platz gesagt hat:
Egal ob Juden, Christen, Muslime oder Nichtgläubige:
„Wir alle sind Deutschland!“ - Das sollte sich Pegida zu
Herzen nehmen.
({6})
Ich freue mich, dass an die 100 000 Menschen in
Leipzig, in München, in Hannover, in Berlin und in anderen Städten auf die Straße gegangen sind und dagegen
demonstriert haben. Das zeigt, dass die demokratische
Mitte in Deutschland die unsäglichen Aktionen von Pegida nicht länger widerspruchslos hinnehmen will.
({7})
Aber wir müssen uns auch fragen, warum sich über
500 junge Menschen aus Deutschland islamistischen
Terrormilizen angeschlossen haben. Der islamistische
Terror übt mit seiner Ideologie von Gewalt, Macht und
Märtyrertum offenbar eine große Anziehungskraft auf
immer mehr junge Menschen aus. Unter dem Deckmantel der Religion nutzt er die Schwäche junger Menschen.
Wer keinen Schulabschluss hat, wer keine Arbeit findet,
wer ein schwaches Selbstwertgefühl besitzt, wer sich
ausgegrenzt fühlt und keine Aufstiegschancen hat, der
ist anfälliger für eine solche Ideologie. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das in keiner
Weise Terror und Gewalt rechtfertigen kann.
Aber richtig ist trotzdem: Ausgrenzung ist immer der
Nährboden für Radikalisierung. Deshalb müssen wir
diese Radikalisierung im Ansatz verhindern.
({8})
Deshalb ist es gut, dass die Jugendministerin die Mittel
für Prävention aufgestockt hat. Wir haben alle notwendigen arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Wir müssen
die Jugendlichen fördern und fordern, und wir müssen
sie aus dieser Ecke herausholen, bevor die salafistischen
Hassprediger sie dort abholen können.
({9})
Dabei müssen uns selbstverständlich auch die muslimischen Verbände in Deutschland unterstützen.
Meine Damen und Herren, Prävention hilft vor allem
auf lange Sicht. Aber im Augenblick müssen wir sagen:
Was in Paris passiert ist, das kann überall in Europa passieren. Wir hier in Deutschland hatten sicher auch
Glück. Aber in den vergangenen Jahren ist es gelungen,
mehrere Anschläge zu verhindern. Ich habe deshalb Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden und möchte ihnen
ausdrücklich für ihre schwierige Arbeit danken.
({10})
Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir alles tun,
um uns vor diesem Terror zu schützen. Eine potenzielle
Gefahr sind vor allem die vielen Rückkehrer aus Syrien
oder aus dem Irak. Gestern hat das Kabinett den Gesetzentwurf des Innenministers beschlossen, um gewaltbereiten Dschihadisten den Personalausweis entziehen zu
können, wenn sie ausreisen wollen. Der Justizminister
wird einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Terrorfinanzierung und zur schärferen Bestrafung von Reisen in
Terrorcamps vorlegen. Das sind richtige und notwendige
Schritte.
Gesetze allein aber genügen nicht. Ich will - das, was
ich heute in der Zeitung über IS-Aktivisten in Wolfsburg
gelesen habe, bestärkt mich darin -, dass unsere Sicherheitsbehörden in der Lage sind, gewaltbereiten Rückkehrern 24 Stunden am Tag auf den Füßen zu stehen.
Kein gewaltbereiter Syrien-Rückkehrer darf sich in
Deutschland mehr unbeobachtet fühlen, meine Damen
und Herren.
({11})
Wenn die personellen Ressourcen dafür nicht ausreichen, dann müssen wir sie rasch erhöhen.
Auch über das Thema Mindestspeicherfristen sollten
wir in der Koalition in Ruhe reden.
({12})
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart:
Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und
die Nutzung von Telekommunikationsverbindungsdaten umsetzen.
Daran fühlen wir uns gebunden. Allerdings ist die Umsetzung zurzeit nicht möglich; denn der Europäische Gerichtshof hat die EU-Richtlinie für nichtig erklärt und für
eine Neufassung sehr strenge Auflagen erteilt.
Deshalb ist es jetzt an der Kommission, eine neue
Richtlinie zu erarbeiten. Das sollten wir zunächst abwarten.
({13})
Das gebietet auch der Respekt vor den beiden höchsten
Gerichten in Deutschland und in der Europäischen
Union. Wir sollten ohnehin - da stimme ich der Kanzlerin zu, und das machte auch der französische Premierminister in seiner Rede vor der Nationalversammlung deutlich - die ganze Diskussion mit Augenmaß und
Nachdenklichkeit führen; denn wenn wir unsere Freiheit
im Interesse einer vermeintlich perfekten Sicherheit zu
sehr einschränken, dann fehlt am Ende beides; dann haben wir weder Freiheit noch Sicherheit.
({14})
Wenn wir Pegida und den damit verbundenen Stimmungsmachern in unserem Land das Wasser abgraben
wollen, dann müssen wir auch offen über Einwanderung
reden. Deutschland verliert im kommenden Jahrzehnt in
jedem Jahr 400 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter,
und diese Lücke lässt sich nicht allein durch eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen oder durch die
Qualifizierung von Arbeitslosen schließen. Dazu brauchen wir qualifizierte Einwanderer in großer Zahl, und
darauf müssen wir alle vorbereiten.
({15})
Deutschland ist schon jetzt ein Einwanderungsland.
Wir sind das drittattraktivste Einwanderungsland der
Welt. Allein in den letzten beiden Jahren sind über
900 000 ganz überwiegend gut und sehr gut ausgebildete
Einwanderer aus der EU zu uns gekommen.
({16})
Ohne diese Einwanderer gäbe es keine Überschüsse in
den Sozialversicherungen. Ohne diese Einwanderer und
die Steuern, die sie zahlen, hätten wir im letzten Jahr
auch keinen ausgeglichenen Haushalt erreicht, meine
Damen und Herren.
({17})
Wir brauchen die Zuwanderung auch, um die Renten
in einer alternden Gesellschaft finanzieren zu können.
Ohne Einwanderung wird natürlich auch die Investitionstätigkeit von Unternehmen gedämpft; denn Unternehmen
investieren nicht, wenn die Bevölkerung schrumpft. Nur
als Einwanderungsgesellschaft können wir Wachstumsgesellschaft bleiben. Deshalb ist die Einwanderung positiv
für Deutschland. Besonders die Freizügigkeit in der EU
ist ein großer Jobmotor.
Ich will deshalb, dass wir in der Koalition gemeinsam
über Einwanderung diskutieren. Wir müssen die bestehenden Regeln überprüfen, und wir müssen offen diskutieren, nach welchen Regeln Einwanderer nach Deutschland kommen sollen. Auf diese Klarheit haben die
Menschen in diesem Land einen Anspruch.
({18})
Daneben muss natürlich völlig klar sein, dass wir
Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen, bei uns aufnehmen. Wir müssen sie
schneller integrieren; das heißt vor allem, sie durch
Sprachkurse schnell mit der deutschen Sprache vertraut
machen.
Deutschland wird sich durch Zuwanderung verändern. Unser Land wird internationaler und vielfältiger.
Aber das ist in einer globalisierten Welt kein Schaden
und kein Nachteil; im Gegenteil, das ist ein Vorteil; das
ist ein ökonomischer und kultureller Vorteil für Deutschland. Deshalb brauchen wir ein positives Verhältnis zur
Einwanderung. Und daran, meine Damen und Herren,
sollten wir gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank.
({19})
Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Acht Tage sind seit den schrecklichen Anschlägen in Paris vergangen: acht Tage der Trauer, acht
Tage des Schocks über die Angriffe auf unsere Freiheit,
unsere Werte; aber auch acht Tage, die bei allem Schrecken, bei aller Trauer Mut machen. Die Menschen sind
in Frankreich, in Deutschland und überall auf der Welt
zusammengerückt. Wir erleben nicht Wut und Rachedurst, sondern Besonnenheit und trotzigen Mut.
({0})
Die Botschaft ist eindeutig: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir lassen uns unsere offene und freie Gesellschaft nicht nehmen. Wir stehen zusammen - für Toleranz und ein friedliches Zusammenleben verschiedener
Kulturen und Religionen.
({1})
Diese acht Tage bergen ein Versprechen. Ein Versprechen darauf, dass es den Terroristen nicht gelingt, uns zu
spalten; wir stehen zu unseren Werten. Ein Versprechen
darauf, dass wir uns angesichts des Schreckens auf unsere Stärken, Menschenrechte, Demokratie, Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, unseren Zusammenhalt besinnen. Das wird nicht leicht. Es ist eine
Herausforderung für uns alle, um dieses Versprechen
Wirklichkeit werden zu lassen. Aber nur das kann die
Antwort auf die Anschläge auf die Redaktion von
Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt sein,
auf die Anschläge gegen die Pressefreiheit, gegen die
Religionsfreiheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Attentäter von
Paris waren Franzosen. Aus Deutschland und Europa
reisen Hunderte junge Menschen in den Nahen Osten,
um Gewalt und Terror zu säen. Sie sind Europäer, sie
sind Deutsche. Es sind keine Fremden, es sind keine anderen, es sind Söhne und manchmal auch Töchter unserer Gesellschaft. Was treibt junge Menschen zu solch unmenschlichen Taten? Was hätten wir tun können, um sie
von diesem Pfad des Hasses und der Gewalt abzubringen? Und was können wir zukünftig dagegen tun?
Zur Antwort gehören sicherlich Integration und Bildung. Wir brauchen Prävention. Wir müssen verhindern,
dass junge Menschen zu brutalen, unberechenbaren Fundamentalisten werden.
({2})
Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, wie wir,
auch wenn es sehr schwer sein mag, möglichst viele derjenigen in unsere Gesellschaft zurückholen können, die
sich bereits radikalisiert haben. Nur wenn wir die Wurzeln des Hasses in unserer eigenen Gesellschaft angehen, können wir das Versprechen der letzten acht Tage
wahr werden lassen. Da haben wir alle - Christen, Muslime, Juden, Agnostiker, Atheisten - eine sehr große
Aufgabe vor uns.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terror inmitten
Europas fordert uns heraus. Wie können wir für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen? Hier
sind Stärke und Augenmaß gefordert. Zorn ist ein
schlechter Ratgeber. Westliche Regierungen haben dieses Augenmaß bereits einmal missachtet. Nach dem
11. September 2001 haben sie unsere Werte teilweise aus
den Augen verloren. Die Politik hat Freiheiten im Namen des Kampfes gegen den Terror unverhältnismäßig
eingeschränkt. Auch in Deutschland wurden Grundrechte missachtet und der Datenschutz verletzt. Wir halfen in Europa den USA, wie aus dem Bericht des Senats
erkennbar ist, bei der Folter. Damit haben wir unsere
Glaubwürdigkeit, unsere eigenen Werte beschädigt. Diesen Fehler dürfen wir nicht erneut begehen. Wir dürfen
diese Lehren nicht vergessen.
({4})
Mehr Datenspeicherung und vermeintliche Gesetzesverschärfung sind falsche Reflexe. Wenn unsere Freiheit
angegriffen wird, dann dürfen wir unsere Freiheit doch
nicht selbst aufgeben.
({5})
Die Sicherheit steht im Dienste der Freiheit, im Dienste
der Menschen, nicht umgekehrt. Gegen Kalaschnikows
macht die Vorratsdatenspeicherung der Daten aller Bürger, auch aller unbescholtenen Bürger, doch keinen Sinn.
Das haben die Anschläge in Paris gezeigt. In Frankreich
gibt es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006. Sie ist unverhältnismäßig. Sie stellt alle Bürger unter Generalverdacht. Die Attentäter waren doch bereits polizeibekannt.
Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, die ausreichend Geld und Personal hat, damit sie rechtsstaatliche,
solide Polizeiarbeit leisten kann.
({6})
Offene Gesellschaften sind verwundbar und werden
immer verwundbar sein. Wir müssen den Mut haben,
uns dieses einzugestehen. Nur dann können wir besonnen handeln. Nur dann können wir das Versprechen der
letzten acht Tage wahr werden lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik in einer offenen Gesellschaft kann so hart sein, dass sie verletzt. Satire kann schmerzen. Aber die Antwort darauf darf niemals Gewalt sein.
({7})
Aber so haben die Attentäter von Paris geantwortet. Sie
sind losgezogen und haben Menschen ermordet. Eine
grausame und verblendete Tat. Dabei haben sie sich auf
den Islam berufen. Aber es ist kein Kampf des Islam gegen den Westen, sondern ein Kampf von Feinden der
Freiheit gegen Freunde der Freiheit. Die meisten Opfer
des weltweiten islamistischen Terrors sind selbst Muslime. Nahezu zeitgleich zu den Anschlägen in Paris töteten fundamentalistische Terroristen der Boko Haram in
Nigeria Hunderte von Menschen. In Syrien, im Irak morden und foltern die Terroristen des IS.
Gewalt im Namen der Religion ist ein Problem, das
viele Religionen kennen. Es ist kein singuläres Problem
des Islam. Aber ein Teil der Antwort darauf muss im
Streit innerhalb des Islam gefunden werden. Imame
weltweit haben Gewalt und Hass verurteilt, zum wiederholten Male. Der Zentralrat der Muslime hat gemeinsam
mit anderen zu einer Kundgebung für Toleranz und
Weltoffenheit aufgerufen. Viele von uns Abgeordneten
waren am Brandenburger Tor. Wir danken dem Zentralrat sehr für seine Initiative.
({8})
Millionen von Muslimen weltweit stehen fassungslos
vor dem, was im Namen ihrer Religion verübt wird. Sie
machen unmissverständlich klar, dass sie diesen Missbrauch nicht dulden werden. Aber nur wenn der kritische
Diskurs innerhalb des Islam weiter stattfindet und wenn
wir dabei an der Seite der Muslime stehen, können wir
das Versprechen der letzten acht Tage wahr werden lassen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten acht
Tagen haben wir viele Zeichen der Toleranz, des Miteinanders, des Zusammenstehens erlebt. Umso empörter
macht es mich, wenn ich nach Dresden blicke, wenn ich
sehe, dass dort am letzten Montag wieder Tausende Pegida-Anhänger auf den Straßen waren. Wer bei Pegida
mitmarschiert, will eine geschlossene, eine enge Gesellschaft, eine die ausgrenzt, und zwar nach innen und außen, und eine die letzten Endes mehr Hass erzeugt.
({10})
Vor diesen Rissen in unserer Gesellschaft dürfen wir
nicht die Augen verschließen. Der Antisemitismus gehört leider immer noch zur traurigen Realität in Deutschland und in Europa. Viele Menschen in Deutschland haben Vorurteile gegenüber dem Islam. Rechtsextremisten
und -populisten wie Le Pen haben hohe Zuläufe.
2015 steht Europa vor einer Reihe von wichtigen
Wahlen: in Griechenland, in Spanien, in Großbritannien,
in Frankreich. Bei diesen Wahlen wird nicht allein über
die nationale Politik, sondern auch über die Zukunft
Europas entschieden. Jetzt ist es an uns Europäern, zu
zeigen, was für ein Europa wir wollen: ein Europa, das
für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie steht. Die
letzten Tage lassen mich hoffen, dass die Menschen wieder erleben, was wir mit Europa gewonnen haben, was
uns an Europa liegt - einem Europa, in dem die Menschen wieder miteinander diskutieren, einem Europa, in
dem sich die Menschen füreinander interessieren, einem
Europa, in dem die Menschen für die Werte Europas und
füreinander einstehen, einem Europa, das lebendig ist.
({11})
Die ganz große Mehrheit der Menschen hat erkannt,
dass es Zeit ist, Farbe zu bekennen: gegen Rassismus,
gegen Vorurteile, gegen Menschenfeindlichkeit. Nur
wenn wir gemeinsam für die Demokratie, für die Freiheit eintreten, nur dann können wir das Versprechen der
letzten acht Tage wahr werden lassen. Die letzten acht
Tage machen mir da große Hoffnung.
Vielen Dank.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Volker Kauder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Als uns die Nachricht von dem schrecklichen Verbrechen in Paris erreicht hat, waren wir zunächst fassungslos und konnten gar nicht glauben, dass Terroristen in
eine Redaktion eindringen, die Namen der einzelnen
Journalisten aufrufen und sie beim Namensaufruf erschießen. Das ist eine Qualität, die wir so bisher noch
nicht erlebt haben. Wir alle verneigen uns vor den Angehörigen der Opfer, vor unseren französischen Freunden.
Ja, es ist völlig richtig, dass wir als eine erste Konsequenz aus diesem furchtbaren Verbrechen sagen: Wir
stehen in Europa zusammen.
({0})
Dass wir zusammenstehen, hat der Zug durch Paris am
vergangenen Sonntag so eindrucksvoll gezeigt. Dass wir
in Europa bei einer der vielleicht größten Herausforderungen zusammenstehen, um Menschlichkeit und Demokratie durchzusetzen, haben wir am Dienstag am
Brandenburger Tor erlebt. Mich hat in besonderer Weise
beeindruckt, dass hier in Berlin und in anderen Städten
Deutschlands Menschen zu Tausenden zusammengekommen sind - spontan, ohne dass es irgendjemand organisiert hat. Was sich da am Brandenburger Tor gezeigt
hat, das ist ein Deutschland, auf das wir stolz sein können.
({1})
Es waren alle aus der Gesellschaft dabei, alle Religionsgruppen. Dies hat mich beeindruckt.
Es ist der Satz des Bundespräsidenten zum Abschluss
seiner Rede, der uns leiten muss: „Wir alle sind Deutschland“ - wir alle, die wir hier in Deutschland leben, Muslime, Juden, Christen, Angehörige aller anderen Religionsgruppen.
({2})
Es gibt Ereignisse in der Politik, im persönlichen Leben, bei denen nachher nichts mehr so ist, wie es vorher
war. Viele von uns spüren, dass das, was da in Paris geschehen ist, und die Solidaritätskundgebungen, die es
auch bei uns gegeben hat, vielleicht einiges verändern
könnten, in einer Geschwindigkeit, wie wir es zunächst
gar nicht zu hoffen gewagt haben.
Ich habe bei den vielen Begegnungen mit Christen,
Muslimen, Hindus und Vertretern anderer Religionen
dieser Welt erfahren, was es bedeutet, wenn man wegen
seines Glaubens, seiner Einstellung bedrängt und verfolgt wird. Ich habe immer wieder erlebt, dass die Reaktionen nach Anschlägen auf Kirchen und andere Einrichtungen unterschiedlich bzw. zögerlich waren. Umso
mehr müssen wir anerkennen - und wir erkennen es
auch an -, dass sich die Muslime angesichts der Ereig7486
nisse eindeutig von Gewalt distanziert haben. Auf der
Veranstaltung des Zentralrats der Muslime, die mich
sehr bewegt hat, wurde gesagt: Mord und Terrorismus
haben mit dem Islam nichts zu tun.
({3})
Die notwendige und auch schwierige Diskussion ist
damit aber noch lange nicht beendet. Sie wird weitergehen, und sie muss auch weitergehen. Ich stimme all jenen zu, die heute Morgen gesagt haben, dass dies eine
Aufgabe der Muslime selbst ist, dass wir sie dabei unterstützen müssen, indem wir anerkennen, dass sich da etwas bewegt. Aber es muss auch klar sein - darauf ist
vom Bundestagspräsidenten und von der Bundeskanzlerin hingewiesen worden -, dass die Werte und die Menschenrechte, die wir durch die Französische Revolution
und die Aufklärung für uns gewonnen haben, die die Generationen vor uns für uns erstritten haben, nicht zur
Disposition stehen dürfen und auch nicht zur Disposition
stehen.
({4})
Wir dürfen auch nicht zulassen, dass universale Menschenrechte - das wird immer wieder versucht - von einigen auf einmal als eine Errungenschaft des Westens
gesehen werden, die mit anderen gar nichts zu tun haben.
Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, dass es heißt:
Eure Menschenrechtsposition hat mit unserem kulturellen Verständnis nichts zu tun. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, die universellen Menschenrechte sind in der
Menschenrechtscharta der UNO niedergelegt, und sie
haben nichts mit kulturellem Verständnis in dem einen
oder anderen Land zu tun. Wir müssen sie verteidigen.
({5})
In der Menschenrechtskonvention, die 1948, also im
letzten Jahrhundert, beschlossen wurde, sind Erkenntnisse enthalten, die in die heutige Zeit übertragen werden können. Jeder hat das Recht, seinen Glauben frei
und unbedrängt öffentlich zu leben. Dazu gehört natürlich auch, nichts zu glauben; auch dies ist geschützt. In
der Menschenrechtskonvention steht ausdrücklich auch
- dies gehört dazu -, dass jeder das Recht hat, seinen
Glauben frei zu wechseln, dass es ein Menschenrecht ist,
seinen Glauben zu ändern. Fast alle Länder dieser Welt
- bis auf ganz wenige - haben das unterschrieben. Man
ist immer wieder erstaunt, dass selbst in Ländern, die die
Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, die
Menschenrechte nicht oder nicht ganz eingehalten werden. Deswegen haben wir die Verpflichtung, immer wieder auf die Menschenrechtskonvention hinzuweisen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass es
ohne Religionsfreiheit nirgendwo auf der Welt Freiheit
geben kann. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen
- das ist eine Erkenntnis zahlreicher Reisen, die ich unternommen habe -, dass das Verweigern von Religionsfreiheit und das Unterdrücken von Menschen, sodass sie
ihren Glauben nicht frei leben dürfen, Anlass für größte
Auseinandersetzungen sind. Das muss gerade in dieser
Zeit gesagt werden. Dazu gehört ganz klar: Wer für Religionsfreiheit weltweit eintritt, tritt natürlich auch für Religionsfreiheit in unserem Land ein. Ich will mich gar
nicht über Inhalte der einzelnen Religionen unterhalten.
Ich sage nur: Religionsfreiheit in unserem Land bedeutet, dass jeder das Recht hat, seine Gebets- oder Gotteshäuser zu bauen. Das heißt: Natürlich haben die Muslime, unterstützt von uns, das Recht, hier ihre Moscheen
zu bauen.
({6})
Aber es gehört auch noch etwas anderes dazu - das
muss ich sagen, nachdem der türkische Ministerpräsident in dieser Woche Deutschland besucht hat -: So wie
wir wollen und dafür eintreten, dass die Muslime hier
ihre Moscheen bauen dürfen, so wollen wir, dass auch
die Christen in der Türkei ihre Kirchen bauen dürfen.
({7})
Dieser Zustand ist noch längst nicht erreicht.
Wir haben heute zu Recht immer wieder gehört, dass
unsere Werte, zu denen natürlich die Freiheitsrechte und
das zentrale Recht der Pressefreiheit gehören, nicht
preisgegeben werden dürfen und wie wichtig die Pressefreiheit für eine freie Gesellschaft ist. Das betrifft aber
nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Freiheit
der Kunst, die Freiheit, darin seine Meinung auszudrücken. Es wäre furchtbar, wenn Schriftsteller in Zukunft
ihre Bücher prüfen lassen müssen, bevor sie sie veröffentlichen. Das geht überhaupt nicht. Die Freiheit von
Presse, Kunst und Kultur muss geschützt werden.
({8})
Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann stellen
wir fest, dass die Pressefreiheit von denen besonders gefürchtet wird - dazu gehört leider Gottes auch manches
Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft -, die
Menschenrechte und Freiheit in ihrem Land nicht hundertprozentig verwirklichen. Deswegen muss dafür in
besonderer Weise eingetreten werden. Da kann es natürlich sein, dass Dinge geschehen, die nicht jeder richtig
und gut findet. Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass zur Freiheit Verantwortung gehört. Freiheit
und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille.
Natürlich muss jeder selbst prüfen, wo Grenzen sind.
Aber diese können nicht gesetzlich festgelegt werden.
Ich will nicht gesetzlich festlegen, ob diese oder jene
Karikatur zulässig ist, überhaupt nicht. Trotzdem sage
ich: Wir alle haben allen Grund, uns immer wieder zu
prüfen, wie nahe wir einem anderen treten dürfen in der
Ausnutzung unserer Freiheit. Ich kann nur darauf hinweisen: Besondere Sorgfalt muss darauf gelegt werden,
mit den religiösen Gefühlen und den heiligsten Symbolen einer Religion nicht verantwortungslos zu spielen.
({9})
Das kann nicht durch eine Verschärfung von Gesetzen
erreicht werden, sondern da ist die Gesellschaft aufgerufen, zu widersprechen und zu sagen: Wir wollen zwar,
dass dies möglich ist, aber wir akzeptieren nicht, dass
dies gemacht wird. - Insofern haben wir manchmal allen
Grund, zu widersprechen, wenn christliche Symbole in
dieser Weise betroffen sind. Es wäre aber auch schön,
wenn der eine oder andere die Muslime versteht und in
Schutz nimmt, wenn deren heiligste Symbole attackiert
werden.
({10})
Ich finde, wir in der Bundesrepublik Deutschland, die
Regierung, aber auch die Große Koalition, haben angemessen reagiert. Natürlich müssen sich Regierung und
Parlament aber die Frage vorlegen: Können wir noch etwas tun, können wir noch etwas verbessern, um das Risiko eines solchen Anschlags zu verringern? Ganz ausschließen lässt es sich nicht. Ich finde die Maßnahme,
die jetzt beschlossen worden ist, um ausreisebereite
junge Menschen an der Ausreise zu hindern, indem man
ihnen den Personalausweis entzieht, richtig. Es ist auch
sinnvoll, diejenigen zu beobachten, die wieder einreisen.
Aber wir müssen uns auch mit einer anderen Frage
beschäftigen. Alle für die Sicherheit relevanten Persönlichkeiten unterschiedlicher parteipolitischer Zugehörigkeiten sagen, dass wir die Möglichkeiten, Kontaktdaten
zu prüfen, um daraus Erkenntnisse zu erzielen, verbessern müssen. Es geht um den Begriff der Vorratsdatenspeicherung; dieser Begriff gefällt mir gar nicht, aber
bisher ist nichts Besseres auf dem Markt. Ich möchte mit
einem Missverständnis aufräumen - das haben auch Sie,
Herr Hofreiter, wieder angesprochen -: Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht ausschließlich ein Präventionsinstrument, sondern eines von vielen möglichen Ermittlungsinstrumenten.
({11})
Ohne sie wüssten wir so manches nicht, auch in Frankreich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass man die
eine oder andere Erkenntnis - wie groß war die Zelle,
und mit wem haben die telefoniert? - nur durch den Zugriff auf diese Daten gewonnen hat.
({12})
- Wir bereden das in aller Ruhe. - Aber da unsere Provider, unsere Kommunikationsgesellschaften jetzt Flatrates anbieten, bei denen nach wenigen Stunden alle Daten
gelöscht werden, werden Sie niemanden mehr finden.
Wie wollen Sie denn Verbrechen im Internet aufdecken,
wenn niemand mehr eine Spur im Internet hinterlässt?
Deswegen müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,
ob wir eine solche Möglichkeit nutzen wollen oder nicht.
({13})
Ich bin dankbar dafür, dass offenbar Bewegung in dieses
Thema gekommen ist, dass die Bereitschaft gestiegen
ist, etwas zu tun, in den verfassungsrechtlichen Grenzen
natürlich.
Die Menschen müssen den Eindruck haben, dass wir
das tun, was möglich ist. Daher ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass Menschen nicht mit unangemessenen Formulierungen in der Öffentlichkeit auftreten
sollten. Da Pegida und andere hier mehrfach angesprochen worden sind, will ich Folgendes dazu sagen: Wir
haben uns von den Äußerungen, die dort fallen, klar distanziert. Ich bekomme jeden Tag Hunderte von E-Mails,
weil ich gesagt habe: Was dort streckenweise formuliert
wird, ist unakzeptabel. Das sage ich noch einmal: Dort
fallen Äußerungen, die wir nicht akzeptieren dürfen und
denen wir widersprechen.
({14})
Mich hat es etwas befremdet, dass heute Morgen in
dieser Debatte wieder einmal über diese Gruppe gesprochen wurde. Am letzten Samstag waren aber in Dresden
35 000 Menschen auf dem Platz - das waren mehr als
Pegida zusammenbringt -, um sich zu diesem Rechtsstaat zu bekennen. Darüber sollten wir häufiger reden.
Wir sollten häufiger darüber reden, dass es mutige Menschen gibt, die sich zu diesem Rechtsstaat bekennen, zu
Offenheit, zu Liberalität und zu Toleranz.
({15})
Darüber müssten auch die Medien häufiger berichten.
Sie sollten nicht über die Gruppe berichten, die unser
Land nicht repräsentiert, sondern häufiger über diejenigen, die das repräsentieren, was die allermeisten Menschen in diesem Land für richtig halten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein
Hinweis. Herr Kollege Oppermann, wenn ein Koalitionspartner will, dass man über ein Thema redet, dann
redet man darüber. Das gilt für Sie, und das gilt auch
dann, wenn wir etwas wollen und dann darüber reden.
Eines möchte ich aber schon sagen: In der Diskussion
über ein sogenanntes Zuwanderungs- bzw. Einwanderungsgesetz ist der Eindruck erweckt worden, als ob wir
uns in einem völlig rechtsfreien Raum bewegen würden.
({16})
- Nein, heute Morgen hat der Kollege Oppermann gesprochen, Frau Kollegin. - Dazu will ich nur sagen: Man
kann ja aus Ihrer Sicht sagen, dass man sich das eine
oder andere anschauen will. Wir haben aber ein ganzes
Paket von Regelungen für Zuwanderung und Einwanderung. Da gibt es keinen rechtsfreien Raum.
({17})
Sie haben zu Recht drauf hingewiesen, dass ohne Einwanderung bzw. Zuwanderung unsere Sozialversicherungssysteme, die Arbeitsplatzsituation usw. anders aussähen. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen,
dass sich eine gute Entwicklung vollzogen habe, was
stimmt, und auf der anderen Seite sagen, es gebe überhaupt keine Regelungen und deswegen müsse man etwas
unternehmen. Deshalb rate ich auch hier zu einem größeren Maß an Gelassenheit. Wir haben sehr viel gemacht.
Jetzt will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir haben
dafür gesorgt, dass die Asylverfahren schneller ablaufen
und die Menschen, wenn sie hier sind, schneller in Arbeit kommen können. Das ist sehr schön formuliert worden; jetzt kommt es aber darauf an, das umzusetzen.
Da kann ich nur sagen: Es wäre eine große Tat und
auch notwendig, damit Menschen nicht in der Isolation
leben und auf dumme Gedanken kommen, dass wir all
denjenigen, die Arbeit und Ausbildung suchen, auch Arbeit und Ausbildung verschaffen. Diesen Punkt sehe ich
an erster Stelle. Nicht über neue Zuwanderung sollte geredet werden, sondern diejenigen, die da sind, sollten
jetzt endlich in Arbeit gebracht und in die Gesellschaft
integriert werden.
({18})
Hier viel zu erreichen, das ist eine große Aufgabe, die
vor uns liegt. Dieser Aufgabe werden wir uns stellen. Da
sind wir an Ihrer Seite.
({19})
Eva Högl ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Anschläge in Paris waren ein Angriff auf wehrlose Menschen. Sie waren ein Angriff auf die Meinungs- und
Pressefreiheit. Die Morde waren aber vor allen Dingen
ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft, unsere Werte
und unsere Demokratie. Wir alle waren gemeint mit diesen Anschlägen.
Die Attentäter wollen damit eines erreichen: Sie wollen die Menschen in Frankreich, in Deutschland, uns alle
in Europa und in der Welt, tief verunsichern und unsere
Gesellschaft spalten. Meine Damen und Herren, das
wird ihnen nicht gelingen.
({0})
Für uns ist klar: Unsere demokratische Gesellschaft
darf sich nicht einschüchtern lassen. Freiheit und
Rechtsstaatlichkeit lassen wir uns nicht nehmen. Wir
werden die Freiheit nur dann verteidigen können, wenn
wir eine offene und freie Gesellschaft erhalten, in der
Presse- und Meinungsfreiheit sowie Religionsfreiheit,
Einwanderung und Vielfalt selbstverständlich sind. Deshalb reagieren wir auf Terror, auf Morde und auf Extremismus mit Augenmaß und mit den Mitteln unseres
Rechtsstaates; denn wir sind nicht wehrlos.
Es gibt überhaupt keinen Grund für hektischen gesetzgeberischen Aktionismus.
({1})
Die Gefahr, die von gewaltbereiten Extremisten ausgeht,
die aus Kriegsgebieten in Syrien und Irak nach Deutschland zurückkehren, ist uns bekannt. Unsere Sicherheitsbehörden sind hier sehr wachsam und handlungsfähig.
Wir bekämpfen Terrorismus ganz entschieden und haben
schon Wochen vor den Anschlägen in Paris wichtige Regelungen zur Terrorismusbekämpfung auf den Weg gebracht.
Ich erwähne, dass der Bundesinnenminister bereits im
Herbst ein sehr weitgehendes Betätigungsverbot des IS
erlassen hat. Neben der Verwendung von Kennzeichen
des IS sind nunmehr auch die Unterstützung und die
Sympathiewerbung strafbar.
Gestern hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf
verabschiedet, der vorsieht, ausreisewilligen Dschihadisten neben dem Reisepass auch den Personalausweis zu
entziehen, wenn sie unter dem Verdacht stehen, terroristische Aktivitäten zu verfolgen. Eine Ausreise über die
Türkei beispielsweise in den Nahen Osten ist dann nicht
mehr möglich.
Künftig werden sich radikale Islamisten auch dann
strafbar machen, wenn sie Deutschland verlassen wollen, um sich an Gewalttaten im Ausland zu beteiligen
oder sich für die Teilnahme daran in einem Camp ausbilden zu lassen. Damit setzen wir eine UN-Resolution um.
Außerdem werden wir mit einem eigenständigen
Straftatbestand der Terrorismusfinanzierung die Finanzquellen von Terroristen trockenlegen.
Das sind drei wichtige Maßnahmen zur Terrorbekämpfung, die wir auf den Weg gebracht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden auch
den Verfassungsschutz schlagkräftiger machen. Das ist
auch dringend erforderlich. Wir haben im NSU-Untersuchungsausschuss gesehen, dass es viele Unzulänglichkeiten bei den Nachrichtendiensten gibt und insbesondere die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzämter
von Bund und Ländern verbessert werden muss. Wir
werden auch die personelle und technische Ausstattung
der Sicherheitsbehörden weiter verbessern.
Eines ist auch sehr wichtig: die europäische Kooperation. Wir als SPD begrüßen ganz ausdrücklich den Beschluss der EU-Innenminister in Paris vom Sonntag, gemeinsam und in enger Abstimmung in Europa gegen
Terror vorzugehen. Für uns gilt: Wir brauchen in Europa
mehr Zusammenarbeit und nicht weniger.
({2})
Wir bauen auch die Prävention aus und stärken den
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir werden alles dafür tun, dass sich kein junger Mensch menschenfeindliDr. Eva Högl
chen und gewalttätigen Organisationen anschließt. Wir
unterstützen alle Aktivitäten, die den interreligiösen Dialog fördern und sich gegen Hass und gegen Gewalt richten. Wir reden nicht nur, sondern wir handeln auch.
({3})
Wir haben deshalb das so wichtige Bundesprogramm
„Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus,
Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ und somit Aktivitäten zur Demokratieförderung ganz deutlich unterstützt,
indem wir in diesem Jahr insgesamt rund 50 Millionen
Euro dafür bereitstellen. Dieser wichtige Beschluss des
Bundestages ist eine ganz starke Aussage, weil wir damit viele Initiativen, Verbände und Vereine bei der Förderung von Demokratie sehr wirksam unterstützen können.
({4})
Unsere gemeinsame Antwort auf Terror ist: Sicherheit
und Zusammenhalt, Freiheit ohne Angst. Diesen Weg
werden wir gemeinsam weitergehen.
Herzlichen Dank.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Anschläge in Paris haben uns alle erschüttert und fassungslos gemacht. Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei den Opfern und deren Familien. In dieser Debatte ist schon zum Ausdruck gekommen - ich will es
auch meinerseits unterstreichen -: Unbestritten ist: Diese
Anschläge waren Anschläge auf unsere Freiheit, auf unsere Werte, auf die Art und Weise, wie wir zusammenleben, wie wir miteinander umgehen. Es waren Anschläge
auf die offene Gesellschaft in der westlichen Welt.
({0})
So groß die Trauer und die Betroffenheit auch sind,
die Reaktion der Menschen in Paris, in Berlin, in vielen
anderen Städten Europas, ja in der ganzen Welt macht
auch Mut. Sie haben Solidarität mit Frankreich gezeigt
und zeigen sie nach wie vor über die Grenzen hinweg.
Sie stehen auf, sie gehen auf die Straße für unsere Werte,
für Freiheit, für Demokratie, für Toleranz und gegen Fanatismus, gegen Fundamentalismus und gegen Terror.
Am Dienstagabend nahmen Tausende von Menschen an
der Mahnwache der Muslime für Toleranz und Weltoffenheit in Berlin teil. Ich danke den Organisatoren für
die rasche Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse in
Paris. Im gemeinsamen Manifest der großen Religionsgemeinschaften in Deutschland wird auch deutlich: Im
Namen Gottes darf nicht getötet werden. Daran, dass
50 Staats- und Regierungschefs in Paris auf die Straße
gehen, dass sich Millionen von Menschen zum Marsch
der Freiheit aufmachen und dass ein muslimischer Arbeiter in dem von Terroristen heimgesuchten jüdischen
Geschäft vier Menschen rettet, wird deutlich: Unsere
Werte sind stärker als der Terror.
({1})
Die Reaktionen der Menschen, der Politiker zeigen
auch: Wir in der freien, offenen Gesellschaft lassen uns
nicht auseinanderdividieren, wir lassen uns nicht spalten,
und wir lassen uns auch nicht einschüchtern. Im Gegenteil: Wir rücken ein Stück näher zusammen, nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Europa und in der Welt.
Ich hoffe sehr, dass vom Anfang dieses Jahres, so bitter
der 7. Januar 2015 für uns alle war, das Signal ausgeht,
dass es an der Zeit ist, uns unserer Grundwerte, der
Werte, die uns zusammenhalten, wieder bewusster zu
werden, als es vielleicht sonst im Alltag der Fall ist, und
diese auch aktiv zu verteidigen. Denn die Würde jedes
einzelnen Menschen, egal woher er kommt und wie er
aussieht, die gegenseitige Toleranz, das Recht auf Leben, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Glaubensfreiheit - all das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind Werte, die uns zusammenhalten, Werte, die uns
auch die Kraft geben, gegen Fundamentalismus, gegen
Fanatismus und gegen Terror anzugehen.
({2})
Aber natürlich stellen sich in so einer Situation auch
Fragen, beispielsweise: Kann so etwas auch bei uns passieren? Sind wir gerüstet? Tun wir alles für die Sicherheit? Auch wenn wir wissen, dass nicht alles zu verhindern ist, haben wir die Aufgabe - das ist die originäre
Aufgabe des Staates -, für die Sicherheit unserer Bürger
zu sorgen.
Wir alle wissen: ISIS und Al-Qaida bedrohen nicht
nur einige fremde Staaten weit weg von uns, sondern sie
bedrohen auch uns. Wir alle wissen: Wer unsere Werte
vernichten will, der greift uns an. Wer unsere französischen Freunde mit Terror und mit Schrecken überzieht,
der meint auch uns.
Deshalb war und ist es richtig, dass wir die Kurden in
ihrem Kampf gegen die Barbarei der Dschihadisten unterstützen, mit humanitärer Hilfe, mit Ausrüstung und
auch mit Waffen. Deshalb war und ist es richtig, dass wir
die Menschen in den betroffenen Regionen vor Ort unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist
es auch richtig, dass wir die Ausreise der Dschihadisten
unterbinden und Rückkehrer genauer beobachten.
({3})
Unser Kampf gegen den Terrorismus beginnt nicht
erst nach den Anschlägen in Paris. Aber diese Anschläge
in Paris sind vielleicht Grund und Anlass, noch einmal in
aller Ruhe und ohne Aktionismus zu überdenken, ob wir
alles getan haben und ob wir unseren Kampf vielleicht
noch etwas verstärken müssen. Unser Kompass muss dabei, denke ich, ein zentraler Grundsatz unserer Rechtstradition sein, nämlich die Verhältnismäßigkeit. Es muss
gelten: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit
wie nötig.
Ich will mich im Wesentlichen auf drei Punkte beschränken:
Erstens. Wir brauchen einen besseren Überblick darüber, woher die Gefährder kommen und wohin sie wollen. Dazu gehört, dass wir an den Außengrenzen der Europäischen Union die Kontrollen intensivieren. Dazu
gehört auch ein internationaler Informationsaustausch;
dieser muss verbessert werden.
({4})
Das gilt zum Beispiel auch für die Fluggastdaten.
Zweitens. Wir unterstützen die Bundesregierung bei
allen Maßnahmen im Kampf gegen den Extremismus.
Das gilt für den Bundesinnenminister - auch für die
Maßnahmen, die er gestern wieder eingeleitet hat - genauso wie für den Bundesjustizminister. Ich bin sehr
froh, dass nun die Umsetzung der UN-Resolution auf
den Weg gebracht wird; denn, meine Damen und Herren,
wer terroristische Vereinigungen finanziell unterstützt,
der muss strafrechtlich leichter verfolgt werden können
als bisher.
({5})
Gleiches gilt auch für den Besuch von Terrorcamps.
Ich füge aber bewusst hinzu: Unserer Meinung nach
reicht das nicht. Wir sollten auch Sympathiewerbung für
terroristische Vereinigungen, wie das früher der Fall war,
wieder unter Strafe stellen.
({6})
Unsere Botschaft muss sein: Islamistischer Terror hat
auf deutschem Boden keinen Platz.
Drittens. Wir müssen die Mindestdauer der Speicherung von Verbindungsdaten neu regeln; das wurde vorhin schon angesprochen. Ich plädiere sehr dafür und
bitte darum, das ohne parteipolitische Scheuklappen zu
machen und auf den Rat der Sicherheitsleute und der Sicherheitsbehörden, der Polizeigewerkschaften, all derjenigen, die mit der Bekämpfung von Kriminalität und
Terrorismus zu tun haben,
({7})
zu hören und diese Ratschläge auch ernst zu nehmen.
({8})
Es kann doch nicht sein, dass wir Verbindungsdaten im
Bereich der Telekommunikation dann speichern, wenn
es um Rechnungen geht, aber dann, wenn es um die Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus geht, nicht.
Das ist nicht mein Verständnis von Sicherheit für die
Bürger unseres Landes, meine Damen und Herren.
({9})
Es ist vielmehr unsere Aufgabe - so verstehe zumindest ich meine politische Arbeit, ebenso die Kolleginnen
und Kollegen meiner Fraktion -, für das Wohlergehen
der Bürger und für ein glückliches Leben der Menschen
zu sorgen. Zu einem glücklichen Leben gehören Freiheit
und Sicherheit; das eine, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, geht nicht ohne das andere. Freiheit und Sicherheit gehören in einem demokratischen Rechtsstaat
zusammen.
({10})
Nur aus der Balance dieser beiden Werte schöpft unsere
Gesellschaft ihre Kraft.
Lassen Sie uns mit der gebotenen Sorgfalt und Gelassenheit, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, aber auch mit
der notwendigen Entschiedenheit an die Lösung dieser
Aufgabe gehen!
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs-
punkt, Tagesordnungspunkt 4 a und 4 b, sowie zum Zu-
satzpunkt 3 unserer Tagesordnung:
4 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD
Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen
Drucksache 18/3726
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung
Drucksache 18/3730
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Ernährung für alle
Drucksache 18/3733
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundeslandwirtschaftsminister Christian
Schmidt.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema Ernährung mit all seinen Facetten
mobilisiert uns heute in Berlin. Gestatten Sie mir aber,
dass ich mich, bevor wir uns dem Thema Ernährung mit
all seinen Facetten widmen, bei dem stellvertretenden
Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz
Josef Jung, für seinen Einsatz und für sein Engagement
in unserem gemeinsamen Themenbereich herzlich bedanke.
Das so wichtige Amt hat er nun, wie die Fraktion entschieden hat, auf gleicher Ebene im Bereich der Außenund Sicherheitspolitik übernommen, nachdem Andreas
Schockenhoff bedauerlicherweise von uns gegangen ist.
Lieber Franz Josef, herzlichen Dank! Du kehrst damit
ein Stück zu den Wurzeln zurück, aber im Kern musst du
als Rheingauer Winzer und Politiker mit Herz bitte auch
unserer Sache verbunden bleiben. Die Grüne Woche
steht dir genauso offen wie uns allen.
({0})
Mein Gruß geht natürlich auch an Gitta Connemann.
Es steht mir aber nicht zu, heute zu besprechen und zu
erörtern, wie es im Ausschuss weitergehen wird. Das
wird bei anderer Gelegenheit erfolgen.
Ich möchte mich dafür bedanken, dass sich die eingebrachten Anträge sehr intensiv mit der Thematik der Ernährung befassen. In diesem Jahr findet zum 25. Mal
eine gemeinsame Grüne Woche statt. Das Wort „grün“ in
der Grünen Woche ist kein politisches Grün, sondern ein
Grün, das das Selbstbewusstsein des Landes ausdrückt.
Die Lodenjankerträger haben Berlin in den 20er-Jahren
mit einer neuen Farbe überrascht. Schon damals wurde
klar, dass die Stadt ohne das Land nicht leben kann.
In diesem Jahr findet zum 80. Mal - zum 25. Mal
wieder gemeinsam - die Grüne Woche statt. Lassen Sie
mich bei dieser Gelegenheit auch an die agra in Markkleeberg erinnern, auf der die wichtige Entwicklung des
landwirtschaftlichen Bereichs in der damaligen DDR dokumentiert wurde. Dies wird auch jetzt in Leipzig im
Rahmen von Landwirtschaftsausstellungen in vielfältiger Weise fortgesetzt. Die Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft hat sich hier sehr aktiv engagiert und eingebracht.
({1})
Wenn wir alle wollen, dass sich alle Menschen auf
unserer Erde ausreichend und angemessen ernähren können, dann müssen wir effizient produzieren. Wenn wir
dabei unsere natürlichen Ressourcen als Lebensgrundlage für unsere Kinder und Enkel sowie alle nachfolgenden Generationen erhalten wollen, dann müssen wir
natürlich effizient nachhaltig sein. Das ist ein hoher Auftrag.
Auf der zweiten Welternährungskonferenz - der ersten seit vielen Jahren, die die Vereinten Nationen ausgerichtet haben - hat Papst Franziskus den denkwürdigen
Satz gesagt: „Gott vergibt immer … Die Erde aber vergibt nie.“ Das ist ein wichtiger Hinweis, den wir alle aufnehmen müssen. Wir müssen zu einer nachhaltigen
Bewirtschaftung kommen, um die Ernährung der Menschen zu sichern.
Dem Millenniumsziel „Armut und Hunger bekämpfen“ sind wir einen Schritt nähergekommen, aber noch
immer gibt es 800 Millionen Menschen auf der Welt, die
unter Unterernährung bzw. Mangelernährung leiden.
Dem stehen 500 Millionen Menschen gegenüber, deren
Ernährung nicht ganz den Regeln und Vorschlägen der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Sie
leiden unter Adipositas durch Überernährung bzw. Fehlernährung. Darüber sollte man sich überhaupt nicht erheben; denn in vielen Fällen ist Fehlernährung eine
Folge der sozialen Umstände.
Deswegen müssen wir das im Verbund sehen. Ein
Auftrag, den ich aus Rom mitgenommen habe, ist übrigens, dass wir diese Frage zwischen den verschiedenen
Ressorts und Politikbereichen abstimmen und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Ich bedanke mich beim
Bundesentwicklungsminister und beim Bundesminister
für Gesundheit dafür, dass wir diese Maßnahmen bereits
auf den Weg gebracht haben. Das Präventionsgesetz ist
ein Teil dieses integrativen Verständnisses von Ernährungspolitik.
Wie wollen wir uns ernähren, und wie wollen wir das
realisieren? Mein Anspruch ist, dass wir den gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft der Ernährung gestalten und Deutschland zum Vorreiter in der Beantwortung dieser Fragen machen.
({2})
Aber wie machen wir das, und wohin soll die Reise gehen? Wie sind die Rahmenbedingungen? Ich glaube, hier
müssen wir eine politische und kulturelle Debatte führen.
Es geht um die Frage, wie wir mit dem Wissen umgehen, dass laut vielen Erkenntnissen - manchmal stellen
sich Erkenntnisse als überholt heraus und werden durch
neuere ersetzt - Essen schädlich sein kann, aber Essen
für die menschliche Existenz unverzichtbar ist. Denken
wir an die Vorstellungen, die Jean-Jacques Rousseau vor
Jahrhunderten entwickelt hat, also „Zurück zur Natur“
und der Mensch sei der Schädiger der Natur, und das sei
zu beenden. Man spürt, dass diese Denkweise möglicherweise zwar sehr idealistisch ist, aber einige Denkfehler beinhaltet. Das kann es nicht sein.
Wir dürfen uns jedoch auch nicht erheben und so tun,
als wüssten wir ganz genau, was jeder zu essen oder
nicht zu essen habe. Wir müssen extreme gesundheitliche Gefahren reduzieren. Wir müssen aber vor allem informieren. Wir dürfen den Teller nicht mit Regelungen
vollpacken.
Es ist notwendig, dass wir verbindliche Informationen
geben. Die Lebensmittelinformationsverordnung, die auf
europäischer Ebene beschlossen wurde und die ich umgesetzt habe, mit ihren Regelungen zur Allergenkennzeichnung loser Ware zeigt, wie spannend die Abwägung zwischen einer Art Beipackzettel auf der einen
Seite und einer viel zu kursorischen und nicht ausreichend in die Tiefe gehenden Information für Lebensmittel auf der anderen Seite ist. Ich denke, wir haben gute
Maßstäbe gefunden. Damit will ich nicht sagen, dass
sich daran nichts ändern kann, wenn wir aufgrund von
neuen Erkenntnissen neue Informationen bereitstellen
müssen. Aber diese Informationen müssen gut abgreifbar und verständlich sein. Wir können und werden es
nicht schaffen, dass wir jeden Menschen vor einem
Essen zu einem Kundenseminar einladen und ihm dann
vielleicht auch noch die Entscheidung abnehmen.
({3})
Wir müssen allerdings bei Kindern und Jugendlichen
sehr genau auf die Ernährung schauen. Schulverpflegung ist in der Tat ein ganz wichtiger Punkt. Ich nenne
hier das Deutsche Netzwerk Schulverpflegung. Wir
müssen und werden daran arbeiten, dies finanziell entsprechend zu unterstützen. Ich halte das für eine ganz
wichtige Maßnahme.
In der Schulverpflegung wird die Grundlage dafür gelegt, wie man sich ernährt und was man isst. Dabei lernt
man, dass nicht nur die vier Ps allein die Ernährung ausmachen: Pasta, Pommes frites, Pizza und Pfannkuchen,
wie unsere Untersuchung gezeigt hat. Diese sind gut,
aber nur in Maßen. Ich denke, hier besteht Handlungsbedarf, dieses Thema in einer fürsorglichen, aber nicht dirigistischen Art und Weise anzupacken.
Lassen Sie mich nicht nur die Frage stellen: „Wie
wollen wir produzieren?“, sondern auch auf die Fragen
zu sprechen kommen, die besonders strittig diskutiert
werden. Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen,
was die Kritiker in diesem Zusammenhang sagen. Erst
gestern habe ich gelesen, dass eine Gruppe von Menschen gegen Tierhaltung überhaupt ist. Das ist zwar eine
klare Position, aber die Frage, wie sich dann der Mensch
ernähren soll, wird nicht beantwortet.
Ich denke, dass wir bei der Tierhaltung Bedarf für
Verbesserung und Veränderung haben. Da tun wir auch
was. Ich will das an zwei Beispielen zeigen: Das eine
Beispiel bezieht sich auf den Bereich der Geflügelkäfige
im Rahmen der Tierhaltungsverordnung, die wir jetzt angegangen sind und die in Kürze auf den Tisch gelegt und
auf den Verordnungsweg gebracht wird, und das andere
Beispiel bezieht sich auf Modell- und Demonstrationsvorhaben für mehr Respekt bei der Haltung von Schweinen. Hier hat unser Haus viel Geld in die Hand genommen. Wir suchen nun bis zu 120 Betriebe, die in der
Praxis testen, wie wir beispielsweise mit der Frage der
Reduzierung von nichtkurativen Eingriffen umgehen
können.
Wichtig ist mir, dass der Trend, der da und dort in
Wortmeldungen zu erkennen ist, sich nicht in der Wahrnehmung verfestigt. Es ist nicht so, dass unser Essen
heute schlechter wäre als früher. Nein, es ist besser, es ist
gesünder, und es ist besser überwacht.
({4})
Es ist auch nicht so, dass Tiere im Stall unter unsäglichen Bedingungen gehalten werden. Es gibt Ausreißer,
über die wir reden müssen.
Aber man sollte den Erlebnisbauernhof auf der Grünen Woche - das werde ich auch heute Nachmittag in
meiner Eröffnungsrede ansprechen, aber aus Respekt gegenüber dem Parlament, finde ich, sollte ich das jetzt
schon sagen - durch einen Erlebnisbauernhof ergänzen,
der zeigt, wie die Landwirtschaft vor 50 oder 100 Jahren
ausgesehen hat.
({5})
Sie werden feststellen, dass Tierhaltung nach modernen
Systemen, an denen wir auch heute arbeiten, weitaus
tierfreundlicher ist als die Tierhaltung früher.
({6})
Wir sollten auch vor denen Respekt haben, die ich als
die stolzen Lodenjankerträger aus den 20er-Jahren bezeichnet habe. Es ist nicht schön, und es ist nicht in Ordnung, dass ein Berufsstand - damit meine ich nicht die
Funktionäre, sondern den Landwirt und die Landwirtin sich in der gesellschaftlichen Diskussion nicht mehr wiederfindet und sich potenziell immer gleich auf die Anklagebank gestellt sieht. Wir müssen den Dialog über
Fragen suchen. Wir müssen aber auch die, die produzieren, respektieren.
({7})
Ich bin sicher, dass uns das gelingt. Dann müssen wir
auch über die kritischen Fragen der Grünen Gentechnik
bzw. der Novel Foods - Novel Foods sind Sachen, die
mit Wachstum und Pflanzen gar nichts mehr zu tun haben - reden. Das können wir nicht einfach laufen lassen,
genauso wenig, wie wir die Grüne Gentechnik oder beispielsweise Wachstumsbeschleuniger in Hormonabgaben bei Fleisch laufen lassen können. Das geht nicht.
({8})
Deswegen müssen die Standards auf europäischer Ebene
so bleiben, wie sie sind. Ich glaube, das ist in der letzten
Woche sehr deutlich geworden.
({9})
Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass wir in diesen
Fragen viel Gutes an guten Beispielen zeigen können,
dass es aber auch darum geht - damit komme ich zur
zweiten Welternährungskonferenz zurück -, unsere
Erkenntnisse, unser Wirtschaften und auch unsere Erfahrungen auf andere Länder zu übertragen. Ich treffe morgen und übermorgen an die 70 Landwirtschaftsministerkollegen aus der ganzen Welt und Vertreter der Vereinten
Nationen, der Welternährungsorganisation und von
Nichtregierungsorganisationen, mit denen wir über die
Frage reden wollen, wie wir das, was die Schöpfung uns
als Möglichkeit gibt, für die Ernährung nutzen können
und wo wir etwas ändern und wo wir besser werden
müssen. Ich denke, dass von Berlin ein Zeichen in die
richtige Richtung ausgehen kann.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Minister. - Nächste Rednerin ist
für die Fraktion Die Linke die Kollegin Karin Binder.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die prominente Redezeit haben wir heute einerseits sicherlich dem
Herrn Minister, aber andererseits auch der Internationalen Grünen Woche zu verdanken. Ich denke, es ist eine
gute Gelegenheit, bei einem solchen Anlass in Berlin unseren Themen auch im Bundestag mehr Aufmerksamkeit
zu verschaffen. Das darf sich aber nicht darin erschöpfen, dass Sonntagsreden gehalten oder Schaufensteranträge vorgelegt werden. Nein, wir müssen hier und heute
auch Verbindlichkeit schaffen.
({0})
Ich teile meinen Redebeitrag in zwei Bereiche auf,
nämlich in den großen Bereich Klarheit und Wahrheit
und den ebenso großen Bereich Theorie und Praxis. Zur
Klarheit und Wahrheit gehören für mich Information,
Kennzeichnung, das Thema Werbung und die Lebensmittelbuch-Kommission.
Damit fange ich am besten gleich an. Die Deutsche
Lebensmittelbuch-Kommission ist eine Einrichtung, die
beispielsweise definieren darf, wie viel Leber eine Leberwurst enthalten muss, damit sie als solche bezeichnet
werden darf - der Anteil an Leber darf tatsächlich gering
sein -, oder bis zu welchem Anteil Schweinefleisch
- dieser Anteil darf tatsächlich größer als erwartet sein sich eine Wurst Geflügelwurst nennen darf. Ich halte
dies für nicht zulässig. Diese Kommission hat die Aufgabe, Verbraucherinteressen zu wahren und nicht die Interessen der Lebensmittelwirtschaft. Diese hat sich aber
leider bisher in dieser Kommission in den meisten Fällen
durchgesetzt.
({1})
Deshalb fehlt echte Information und gibt es keine Transparenz. Wir müssen in unserem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft dringend darüber reden, wie
eine solche Kommission künftig zusammengesetzt wird,
wie sie zu arbeiten hat, wie viel Transparenz hergestellt
werden soll, was zu veröffentlichen ist und wer hier tatsächlich das Sagen hat, und zwar im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({2})
Klarheit und Wahrheit bedeuten auch Informationsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher nach
dem Verbraucherinformationsgesetz. Bisher gibt es einen solchen Anspruch nicht. Wenn ein Verbraucher bei
einer Firma anruft, um mehr über die sozialen Herstellungsbedingungen zu erfahren, dann wird er keine Auskunft bekommen. Wir möchten aber, dass im Verbraucherinformationsgesetz ein solcher Anspruch verankert
wird. Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen Lebensmittel produziert werden. Das muss verbindlich geregelt werden.
({3})
Ein weiteres Thema ist die Kennzeichnungspflicht. Sie
werden feststellen, dass sich derzeit auf Verpackungen die
sogenannte GDA-Kennzeichnung befindet. Auch hier hat
sich leider die Lebensmittelwirtschaft durchgesetzt. Wir
würden gerne die Ampelkennzeichnung einführen, und
zwar verbindlich; denn nur so lässt sich beim Einkaufen
schnell erkennen, wie hoch der Anteil an Zucker, Fett
oder Salz tatsächlich ist und ob es Alternativen gibt.
Beim Einkaufen kann man Produktbeschreibungen in
1,2 Millimeter Schriftgröße nicht geschwind überfliegen, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Deshalb wollen wir die Ampelkennzeichnung verbindlich
einführen.
Lebensmittelwerbung darf außerdem nicht irreführend sein. Wir wollen keine Vermengung von echter Information und Werbung. Wir wollen erst recht nicht,
dass Kinder durch Lebensmittelwerbung bespaßt und
verführt werden. Wir wollen, dass die Bereiche, für die
sich Kinder interessieren, frei von Werbung sind. Egal
ob es um Gummibären oder Müsli- und Schokoriegel
geht, Kinder sollen nicht als Kunden gewonnen und konditioniert werden.
({4})
Denn falsches Ernährungsverhalten wird oft schon im
Kindesalter angeeignet, und diese Fehlernährung setzt
sich im Erwachsenenalter fort.
Kommen wir nun zum Thema „Theorie und Praxis“.
Ein wichtiger Punkt ist die Verführung von Kindern im
Kassenbereich; das hat in den letzten Tagen hohe Wellen
geschlagen. Zwei Stunden nachdem ich eine Erklärung
dazu abgegeben habe, habe ich eine Rückmeldung von
der Süßwarenindustrie erhalten; es ging also ziemlich
schnell.
({5})
Eltern, die mit ihren Kindern im Supermarkt einkaufen,
wissen, wovon ich rede. Kurz vor der Kasse beginnt die
Süßwarenzone. Kinder, die nach dem Einkauf ohnehin
müde, quengelig und aufgedreht sind, bleiben in diesem
Bereich in der Regel stehen, weil sie unbedingt dieses
oder jenes noch haben möchten. Die Eltern, die sicherlich wissen, dass diese Produkte nicht guttun und dass es
zu Hause ausreichend Süßigkeiten gibt, kaufen diese
Produkte dann doch, um Ruhe zu haben. Wir wollen den
Kassenbereich süßwarenfrei haben,
({6})
damit Kinder nicht zu einem höheren Konsum von Süßigkeiten verführt werden.
({7})
So viel zur Quengelzone.
Jetzt komme ich zum Thema „Gesunde Ernährung für
alle“. Mir ist es wichtig - ich finde auch die Ansätze in
dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht schlecht -,
die DGE-Standards, also die Standards der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung, verbindlich zu verankern,
auch für die Gemeinschaftsverpflegung, auch für Seniorenheime, auch für Krankenhäuser, aber insbesondere
für Schulen und Kindertagesstätten. Ich halte es für extrem wichtig, hier verbindlich geregelte Qualitätsstandards zu haben, weil nur so tatsächlich qualitativ hochwertige Verpflegung gewährleistet ist und nicht der Preis
die Schulverpflegung diktiert.
Leider ist das heute der Fall. Deshalb ist für mich
auch ganz klar: Wir brauchen eine Verbindlichkeit, und
wir brauchen eine verbindliche Finanzierung durch den
Bund. Anders werden das die Bundesländer und die
Kommunen nicht hinbekommen. Wir brauchen eine
Schulverpflegung, deren Qualität definiert ist und für die
es einen Zuschuss vom Bund von 4 bis 5 Euro pro Kind
gibt. Der Bund muss für die Für- und Vorsorge der Kinder zuständig sein, er muss Prävention im Sinne einer
gesunden Ernährung betreiben.
({8})
Das müssen wir verbindlich regeln, damit beim
Thema der gesunden Ernährung Theorie und Praxis
nicht auseinanderklaffen und damit die Kinder schon in
jungen Jahren Zugang zu einer gesunden Ernährungsweise bekommen. Dann können sie auch als Erwachsene
das, was sie als Kinder erfahren haben, praktizieren und
ein gesundes Leben führen.
({9})
Jetzt habe ich noch einen letzten Punkt. Der betrifft
die Lebensmittelvernichtung.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.
Ich habe noch einen Schlusssatz.
Wenn wir wollen, dass die Vernichtung von Lebensmitteln um 50 Prozent reduziert wird und die Verschwendung von Lebensmitteln aufhört, dann müssen
wir die gesamte Kette ins Auge fassen. Es müssen verbindliche Regeln für die Lebensmittelerzeugung und den
Handel her. Dazu brauchen wir die Ergebnisse einer Studie, die leider noch nicht vorliegen. Ich kann Sie nur auffordern: Lassen Sie zu, dass auch der Handel und die
Hersteller in die Pflicht genommen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin Ute
Vogt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
unserem Antrag „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“ heißt es: „Politik und Staat können
und wollen den Menschen keinen bestimmten Lebensstil
vorgeben.“
({0})
Ich denke, es ist richtig, dass wir deutlich machen: Es
geht nicht darum, dass wir Menschen vorschreiben, was
sie in ihren Einkaufskorb legen oder was sie am Ende essen und trinken sollen, aber es geht schon darum, dass
wir hier Mitverantwortung dafür tragen, dass sich die
Menschen darauf verlassen können, dass die Lebensmittel, die sie kaufen, auch sicher sind.
({1})
Es ist für uns ein soziales Grundrecht, dass Lebensmittel gesund und bezahlbar sind und dass Menschen die
Möglichkeit haben, gesunde Lebensmittel zu erwerben,
egal ob sie sie an der Lebensmitteltheke kaufen, ob sie
auf den Markt gehen, ob sie unmittelbar beim bäuerlichen Erzeuger einkaufen oder ob sie im Discounter ihre
Lebensmittel erstehen. Ich denke, dafür stehen wir in der
Verantwortung.
Es gibt erfreulicherweise und Gott sei Dank sehr viele
verantwortungsvolle Lebensmittelproduzenten, vor allem auch in der bäuerlichen Landwirtschaft. Wir werden
auf der Grünen Woche Gelegenheit haben, viele von ihnen zu treffen und uns davon zu überzeugen, dass in
Deutschland Lebensmittel von hoher Qualität produziert
werden.
({2})
Aber es gibt genauso Bereiche, in denen oft schwerwiegende Missstände herrschen. Wir können heute Morgen diese Debatte nicht führen, ohne nicht auch darauf
hinzuweisen, dass gerade erst vor drei Tagen wieder eine
neue Meldung über den Einsatz von Antibiotika bei der
Fleischerzeugung in unseren Gazetten zu lesen war. Ich
zitiere aus der Süddeutschen Zeitung: „Ekel für wenig
Geld“. So lautete dort eine Überschrift. In einer Untersuchung des BUND wurde festgestellt, dass billiges
Fleisch besonders häufig mit antibiotikaresistenten Keimen belastet ist. Das war im Übrigen eine Untersuchung,
wie sie von der Stiftung Warentest vor etwa einem Jahr
schon einmal durchgeführt worden war - mit leider ähnlich erschreckenden Ergebnissen. Laut Zeitung waren
drei von vier Putenfleischproben schwer belastet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch hier sind wir
in der Verantwortung, Fehler, die im System liegen,
ebenfalls zu beheben. Es leiden hier Verbraucherinnen
und Verbraucher. Es leiden hier im Übrigen auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in diesen Betrieben
arbeiten und zum Teil ausgebeutet werden, und es leiden
nicht zuletzt auch die Tiere, die man unter Bedingungen
hält, die nichts mehr mit artgerechter Haltung zu tun haben.
({3})
Wenn es um Ernährung und gesunde Lebensmittel
geht, spielen viele Faktoren eine Rolle. Durch die Einführung des Mindestlohns haben wir es zum Beispiel geschafft, gerade in der Lebensmittelbranche zumindest
bessere Arbeitsbedingungen als solche an der untersten
Grenze festzulegen. Was trotzdem noch angepackt werden muss - ich bin froh, dass Ministerin Nahles dieses
Thema angeht -, ist das Thema Werkverträge, das gerade im Bereich der Fleischproduktion eine große Rolle
spielt. In diesem Bereich werden oft osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter missbraucht, um billig zu produzieren.
({4})
Es geht darum, dass wir das, was der Minister mit der
Einrichtung des „Kompetenzkreises Tierwohl“ angestoßen hat, gerade auch in der Lebensmittelproduktion ernst
nehmen, dass wir wahrnehmen, dass Tiere, die zusammengepfercht leben, krank werden, dass diejenigen
Tiere, die krank werden, mehr Antibiotika brauchen und
dass das dann wiederum zu einer Schädigung der Verbraucherinnen und Verbraucher führt. Deshalb sollte
man die Haltungsbedingungen den Tieren anpassen und
nicht umgekehrt. Auch das ist eine Regelung, die für uns
im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf gute und sichere Lebensmittel notwendig ist.
({5})
Für uns gehört dazu, dass wir uns der Aufgabe stellen,
das Tiergesundheitsrecht neu zu ordnen und auch die
Verordnungspraxis zu überprüfen. Aber ich will ausdrücklich sagen: Die Praxis der Verordnung von Antibiotika - ungeprüft, ohne vorherige Spezifizierung - ist
nicht nur ein Thema für die Tierärzte, sondern auch der
Humanmedizin. Dieses Thema betrifft nicht zuletzt die
Hygienemaßnahmen in den Krankenhäusern. Ich glaube,
das ist das nächste große Themenfeld, das wir zusammen mit unseren Gesundheitspolitikerinnen und -politikern angehen sollten.
({6})
Schließlich geht es uns darum, dass wir die Macht der
Verbraucherinnen und Verbraucher stärken, dass wir dafür sorgen, dass die Lebensbedingungen von Tieren verbessert werden und dass die Herkunft der Produkte auf
den Produktverpackungen nachlesbar ist, dass es Labels
mit nachvollziehbaren Beschriftungen gibt und dass es
nicht bei dem Wirrwarr bleibt, wie wir es im Moment in
vielen Kennzeichnungsbereichen leider haben.
In diesem Zusammenhang bin ich durchaus Ihrer
Meinung, Kollegin Binder, dass wir auch das Thema Lebensmittelbuch-Kommission behandeln sollten; denn es
kann nicht sein, dass das Ministerium mit großem Engagement das Internetportal www.lebensmittelklarheit.de
beworben hat und dass wir auf der anderen Seite eine
Kommission haben, die eigentlich permanent zur Verunklarung beiträgt. Wir sind gerne bereit, da noch einmal
die Initiative zu ergreifen.
({7})
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen: Die
Struktur der Lebensmittelbranche in Deutschland umfasst vier große Anbieter, die ein Oligopol bilden. Diese
vier Großen haben eine besondere Verantwortung, wenn
es darum geht, den Wert der Lebensmittel entsprechend
zu schätzen. Es geht nicht, dass diejenigen, die sich
Mühe geben, Lebensmittel von hoher Qualität zu erzeugen, im Preis ständig gedrückt werden, dass man die
Hersteller geißelt und knebelt, weil man gemeinsam
praktisch Monopolmacht hat. Auch hier appelliere ich an
die Verantwortung dieser Unternehmen.
Ich denke, dass wir in der Koalition auch schauen
müssen, ob wir nicht eine Möglichkeit finden, in Form
eines Ombudsmanns oder einer Ombudsfrau eine Stelle
zu schaffen, bei der sich auch die melden können, die als
Herstellerinnen und Hersteller, als Produzenten unter
enormen Druck kommen, weil die Lebensmittelbranche
so aufgestellt ist, wie sie ist, und weil die Konkurrenz im
Moment leider hauptsächlich über den Preis läuft.
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Nicole Maisch für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einem Lob anfangen - das soll man ja machen, wenn es angemessen ist -: Der Antrag der Koalition ist nicht schlecht.
({0})
- Ja, darin sind gute Forderungen. Das ist auch einmal
ganz schön. Wir haben sonst viel zu streiten, gerade im
Bereich Landwirtschaft und Ernährung. Es ist gut, dass
es den gemeinsamen Willen aller drei Gruppen gibt, die
hier Anträge vorgelegt haben, dass es den Kindern in
den Schulen und Kindergärten, was das Essen betrifft,
besser gehen soll. Ich finde es erst einmal gut, dass dieser gemeinsame Wille da ist.
({1})
Das ist ein gutes Zeichen, und vor allem ist es ein starkes
Signal an die Bundesregierung, die da aktiv werden
muss.
Aber, ich finde, die Große Koalition müsste sich
schon noch mehr Gedanken machen. Das letzte Mal, als
Sie kooperiert haben, haben Sie das Kooperationsverbot
in die Verfassung hineingeschrieben. Sie wollen jetzt das
Thema Ernährung in den Lehrplänen verankern, Sie
wollen einen TÜV für Caterer an Schulen, Sie wollen
Einfluss auf die Ausschreibung beim Schulessen - und
das alles ohne jede Bundeszuständigkeit. Da wünsche
ich Ihnen viel Erfolg, ganz ehrlich; aber ich glaube, Sie
müssten zuerst einmal einen großen Fehler beheben,
nämlich das, was Sie bei der letzten Föderalismusreform
verbockt haben.
({2})
Das heißt: Weg mit dem Kooperationsverbot! Dann können Sie auch beim Schulessen aktiver werden.
({3})
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei all Ihren schönen
Forderungen. Sehr viel davon fußt darauf, dass der Minister sehr stark aktiv werden muss. Bei allem Respekt,
glaube ich, kann man sagen: Der größte Aktivposten in
dieser Großen Koalition, in dieser Regierung ist er bisher nicht gewesen. Das wissen Sie auch. Deshalb haben
Sie zum Beispiel zum Thema Lebensmittelverschwendung treuherzig in Ihren Antrag geschrieben:
Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag
„Lebensmittelverluste reduzieren“ …
Dieser Antrag ist von Oktober 2012.
Passiert ist seitdem nicht viel. Dieses „Wir bekräftigen“, Herr Schmidt, übersetze ich gern für Sie: Damit
meinen Ihre Leute von CDU/CSU und SPD: Herr
Schmidt, kommen Sie in die Puschen! Setzen Sie um,
was wir hier gemeinsam schon vor fast drei Jahren beschlossen haben!
({4})
Aber interessanter als das, was Sie aufgeschrieben haben, ist das, worüber Sie in Ihrem Antrag schweigen,
nämlich darüber, was unser gutes Essen bedroht, was
Qualität, Gesundheit, Vielfalt und Würde von Mensch
und Tier infrage stellt. Sie sagen in diesem Antrag - anders als die Rede von Frau Vogt vielleicht vermuten lässt kein Wort zu den Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche,
({5})
zu den Zuständen in den Schlachthöfen. Es gibt keine
Forderung, die lautet: Weg mit dem mafiösen Missbrauch von Werkverträgen! Weg mit dem Lohnraub! Es findet sich nichts gegen die Ausbeutung vor allem
von osteuropäischen Beschäftigten. Sie haben keine Forderung zu gutem Arbeitsschutz und keine Forderung
zum Ende des Missbrauchs von Werkverträgen.
({6})
Es ist schön, so etwas hier in Reden zu sagen; aber ich
hätte mir gewünscht, dass Sie das gemeinsam mit der
Union aufschreiben. Das haben Sie bisher noch nicht
hinbekommen.
({7})
Ich finde, man muss an dieser Stelle auch den Fleischbaronen und ihren Subunternehmern - aus welchen
Milieus auch immer sie kommen - sagen: Wir schreiben
das Jahr 2015 und nicht das Jahr 1915, und so müssen
die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen auch sein.
({8})
Sie haben in Ihrem Antrag auch keine Forderung zum
Thema „multiresistente Keime“. Meine Vorrednerin hat
gesagt: 88 Prozent der bei Discountern gekauften Putenfleischproben waren mit antibiotikaresistenten Keimen
verseucht. - Ja! Daraus muss man aber Konsequenzen
ziehen.
({9})
Da reicht es nicht, wenn man sich hier vorn hinstellt und
jammert, sondern da muss man sagen: Weg mit den Reserveantibiotika aus unseren Ställen! Aber das kriegen
Sie, glaube ich, auf der anderen Seite des Hauses nicht
vermittelt, und deshalb steht es nicht in Ihrem Antrag.
({10})
Dann muss man auch sagen: „Weg mit den Mengenrabatten für Antibiotika!“, damit sich diese Dauermedikation finanziell überhaupt nicht mehr lohnt. Auch das
steht nicht im Antrag. Das ist die Schwäche Ihres Antrags: dass Sie da, wo es knirscht und kneift mit der
Union, einfach den Mantel des Schweigens ausbreiten.
({11})
Was falsch läuft bei unserem Essen, das steht nicht in
Ihrem Antrag. Das passt nicht auf den schwarz-roten Erlebnisbauernhof.
({12})
Zu viel Transparenz stört die Harmonie bei der Grünen
Woche. Deshalb wollen Sie auch gar nicht mehr Information für Verbraucherinnen und Verbraucher. Dabei
läuft doch genau da so viel schief.
Gestern haben die Verbraucherzentralen eine Studie
veröffentlicht, gemäß der für 63 Prozent der untersuchten Lebensmittel mit irreführenden Aussagen geworben
wird. Meistens sind es Gesundheitsversprechen - besseres Wachstum, gesunde Knochen, scharfe Augen -, und
sehr oft werden Eltern mit solchen falsch etikettierten
Kinderlebensmitteln übers Ohr gehauen. Wir sagen: Verbrauchertäuschende Werbung, irreführende Produktaufmachung gehört verboten! Da müssen Sie sich dransetzen. Da helfen freiwillige Vereinbarungen nicht weiter.
Ich möchte Ihnen noch einen Vorschlag aus unserem
Antrag unterbreiten, von dem ich denke, es macht sehr
viel Sinn, ihn zu diskutieren, weil spätestens über den
Bundesrat dieser Vorschlag auch hier wieder auftaucht.
Wir haben es mit dem Slogan „Kein Ei mit der Drei“ gemeinsam geschafft, dass Eier aus Käfighaltung weitgehend aus unseren Regalen verschwunden sind, übrigens
auch beim Discounter. Bei den Frischeiern finden Sie
kaum noch solche, die mit einer „3“ gekennzeichnet
sind, auch nicht bei Aldi und Lidl.
({13})
Die, die jetzt den Kopf schütteln, nehme ich gerne einmal mit zum Einkaufen. „Kein Ei mit der Drei“ - das
war ein Erfolg.
({14})
Wir wollen, dass es für Fleisch eine analoge Kennzeichnung gibt. Wir wollen, dass es in Zukunft nicht nur
heißt: „Kein Ei mit der Drei“, sondern auch: „Kein Steak
mit der Drei“ und „Kein Schnitzel mit der Drei“.
({15})
Dann bekommen wir wirklich Transparenz in den
Fleischmarkt. Dann können die Verbraucherinnen und
Verbraucher endlich frei entscheiden.
({16})
Weil wir gerade beim Fleisch sind: Herr Schmidt, Sie
haben ja die Leute erwähnt, die Tierhaltung ganz ablehnen. Das sind die Veganer. Das sind nicht so furchtbar
viele; von denen braucht man sich nicht bedroht zu fühlen. Aber die haben eine Eigenschaft: Die können ganz
hervorragend kochen. Ich habe vorhin mit meiner AG
besprochen: Wir laden Sie gerne einmal ein, mit uns zusammen in eines der vielen veganen Restaurants in Berlin essen zu gehen. Das heißt nicht, dass man am Ende
sämtliche Einstellungen der Veganer übernehmen muss,
aber man kann zumindest sehen, dass man nicht gleich
verhungert, wenn man vegan isst.
({17})
Kolleginnen und Kollegen, am Samstag werden wieder Tausende Menschen hier in Berlin für besseres Essen
und eine andere Landwirtschaftspolitik demonstrieren.
Ich glaube, es ist ein Fehler, vor allem des Bauernverbandes, aber auch von großen Teilen der Union, zu glauben, dass sich diese Demonstration gegen die Bauern
richtet. Mitnichten! Das ist eine Demonstration gegen
Ihre Agrarpolitik.
({18})
Wenn Sie sagen, wir griffen die Bauern an, dann verstecken Sie sich hinter der Branche. Das ist eine Demonstration, die sich gegen eine falsche Agrarpolitik richtet.
({19})
Deshalb werden wir am Samstag hier wieder demonstrieren. Ich glaube, dass es auch diesmal wieder sehr
viele Leute sein werden, die sagen: Wir wollen eine andere Agrarpolitik. Wir wollen besseres Essen. Und dafür
gehen wir gemeinsam auf die Straße.
Vielen Dank.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Maisch. Ich darf Sie insbesondere für die präzise Einhaltung der Redezeit loben.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina
Landgraf, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere heutige Debatte findet ja kurz vor dem
Mittagessen statt. Vielleicht gönnen Sie sich trotz des
Eröffnungsrundganges über die Grüne Woche heute
Abend bereits nachher schon ein warmes Mittagessen in
einem der Restaurants des Bundestages. Angenommen,
Sie schaffen das zeitlich und lassen sich erwartungsvoll
nieder: Was würden Sie dann sagen, wenn der Oberkellner freudestrahlend statt des üblichen Bestecks zwei
Brechstangen aus hartem Stahl neben Ihren Teller legt,
für die heiße Vorspeise einen unförmigen Löffel bringt,
der wie ein Gesetzesparagraf aussieht, und außerdem
statt der gewohnten Speisekarte ein Blatt aus dem Bundesanzeiger mit den aktuellen Speiseverordnungen für
das Restaurant und seine hungrigen Gäste überreicht?
({0})
Freundlich kommentiert der Kellner: Das ist unser kreativer Beitrag, um das Thema gesunde Ernährung endgültig zu knacken. - „Wie bitte?“, werden Sie verdutzt fragen. Mit einer Brechstange kann man sicherlich eine
Walnuss aufschlagen, um an die Frucht zu kommen.
Aber gesundes Essen nach der Vorgabe des Bundesanzeigers? Nein danke!
({1})
Die Nahrungsaufnahme als eine der ältesten Kulturtechniken der Zivilisation funktioniert wohl kaum mit
einer Brechstange. Wir brauchen dafür andere Instrumente, die wir mit Geschick und Grips einsetzen. Am
Ende wollen wir alle die Mahlzeit auch genießen und sie
nicht als profane Energieaufnahme empfinden.
Ich lasse Ihnen allen jetzt gern jegliche Freiheit, diese
eben geschilderte imaginäre Szene zu interpretieren.
({2})
Fakt ist doch eines: Die Brechstange ist sicherlich hilfreich für grobe Dinge auf dem Bau oder beim Abriss,
aber völlig ungeeignet für solche feinsinnigen Dinge des
Lebens wie eben die Ernährung. Sie ist eher eine Angelegenheit des Kopfes, der Sinne und des Wissens. Nichts
ist persönlicher und direkter auf den Menschen bezogen
als die Ernährung. Sie ist lebensnotwendig, lebensbejahend und im negativen Falle sogar lebens- und gesundheitsbedrohend. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Jeder Mensch trägt hier eine direkte persönliche
Verantwortung. Wenn er diese noch nicht oder nicht
mehr wahrnehmen kann, so sind es engagierte Menschen, die diesen Schutzbefohlenen zur Seite stehen
müssen. Politik und Staat müssen hier flankierend und
hilfreich wirken, ohne jedoch die eigentliche persönliche
Verantwortung des Einzelnen zu übernehmen oder diese
übernehmen zu wollen.
Das ist auch die Zielrichtung unseres heutigen Antrags. Entscheidend für das Ernährungsverhalten und
insgesamt für eine gesunde oder ungesunde Ernährung
ist die Lebenskompetenz des Menschen mit seinem Wissen, seiner Bildung, seinen Erfahrungen und nicht zuletzt mit seinen ganz persönlichen Veranlagungen. Letztere stellen Eltern nicht selten vor ein Rätsel. Bei meinen
acht heranwachsenden Enkeln erlebe ich selbst mit großem Erstaunen, wie unterschiedlich sich das jeweilige
Ernährungsverhalten entwickelt.
Erziehungswissenschaftler und Weiterbildungsexperten sagen mir, dass rund 80 Prozent der Lebenskompetenz des Menschen nicht in den allgemeinbildenden
Schulen entwickelt wird. Man eignet sie sich durch erfahrungsbezogenes Lernen im Leben vor und nach dem
Schulbesuch an.
({3})
Also ist die gesunde Ernährung eine generationenübergreifende und in jedem Lebensalter wichtige Lernaufgabe. Ihre Erfüllung ist gelebte Eigenverantwortung eines jeden Menschen: für sich selbst und für alle seine
Schutzbefohlenen.
Als Familienpolitikerin möchte ich auch hier mit allem Nachdruck feststellen: Der zentrale Ort für die Entwicklung der erforderlichen Ernährungskompetenz ist
im Normalfall die Familie in ihrer Vielfalt mit ihren Traditionen und Gepflogenheiten.
({4})
Eltern und Großeltern vermitteln noch vor der Schulbildung ihren Kindern und Enkelkindern das Thema „Gesunde Ernährung“ mit ihrem persönlichen Wissen und
ihrem persönlichen Vorbild.
Dieses traditionelle und nicht zu ersetzende Lebenszentrum wird durch Politik und Staat mit vielfältigen Instrumenten aktiv unterstützt; so in der Hauptsache durch
die schulische und berufliche Bildung sowie durch öffentliche Aufklärung. Außerdem sind Bildungsangebote
für Eltern, insbesondere für werdende Mütter, ebenfalls
grundlegende Hilfen.
({5})
Eine hochwertige und altersgerechte Schulverpflegung sowie eine fundierte schulische Ernährungsbildung
sind eine bedeutende öffentliche Unterstützung der gesunden Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Beides ist insofern wichtig, weil immer mehr Kinder und
Jugendliche über etliche Jahre hinweg tagsüber eine
lange Zeit in der Schule verbringen. Die anlässlich des
ersten „Bundeskongresses Schulverpflegung 2014“ im
November vorigen Jahres durch das Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft initiierte Qualitätsoffensive zur Verbesserung des Schulessens ist Basis für
eine gemeinsame Strategie von Bund, Ländern, Kommunen und Schulen.
Der Bundestag unterstützt seit 2008 den Nationalen
Aktionsplan IN FORM als Deutschlands Initiative für
gesunde Ernährung und Bewegung. Damit soll erreicht
werden, dass Kinder gesünder aufwachsen, Erwachsene
gesünder leben und von einer höheren Lebensqualität
und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit profitieren.
Die Fortführung von IN FORM bis zum Jahr 2020 muss
allerdings mit einer stärkeren Breitenwirkung der vielfältigen Aktivitäten und Projekte verbunden werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste auf der
Besuchertribüne, die Internationale Grüne Woche, die
heute Abend eröffnet wird, ist die traditionelle und weltweit bekannte Leistungsschau der Land- und Ernährungswirtschaft. Jährlich nutzen rund 400 000 Besucherinnen und Besucher dieses Treffen, um Speisen und
Getränke aus den Regionen Deutschlands wie auch aus
aller Welt zu probieren und Tiere in Augenschein zu
nehmen. Sie informieren sich über die Entwicklungen in
der Produktion von Lebensmitteln. Die Internationale
Grüne Woche bietet vielfältige Gelegenheiten zur Kommunikation über die Zukunft der Branche sowie über bestehende und zu lösende Probleme.
Essen und Trinken haben in den Lebenswelten der
Bürgerinnen und Bürger immer mehr einen festen und
dauerhaften Platz. Das ist nicht zuletzt der umfangreichen Präsentation in den Medien geschuldet. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land erleben
in ihrem Alltag eine nur schwer zu überblickende Vielfalt und Menge an Angeboten von landwirtschaftlichen
Produkten und Nahrungsmitteln. Wie nie zuvor können
sie dabei auf sichere, qualitativ hochwertige und auch erschwingliche Lebensmittel, insbesondere auf regionale
Produkte, zurückgreifen. Dafür gebührt den Landwirten
und auch den Nahrungsmittelproduzenten Dank und
Wertschätzung.
({6})
Die Entscheidung darüber, in welcher Weise die Angebote und Möglichkeiten genutzt werden, sind stets individuell geprägt, jedoch auch durch viele äußere Faktoren wie Werbung und Verbraucherinformationen positiv
oder negativ beeinflusst. Die zunehmende Diskrepanz
zwischen dem vielfältigen Angebot von hochwertigen
Lebensmitteln, die eine gesunde Ernährung ermöglichen
und befördern, und dem stetigen Anwachsen ernährungsbedingter Krankheiten auf der anderen Seite erhöht
für uns Politiker den Handlungsdruck. Es ist unbestritten: Viele gesundheitliche Probleme haben ihre Ursache
in ungesundem Ernährungsverhalten, zum Beispiel im
übermäßigen Verzehr von energiereicher Kost. Das ist
ein gesellschaftliches Dilemma, aus dem wir nicht mit
Brechstange und Paragrafen herauskommen. Wir brauchen noch mehr zündende Ideen, die jeden dazu inspirieren, bei der gesunden Ernährung mit ganzem Herzen dabei zu sein. Klar ist: Es ist das gemeinsame Ziel der
Koalition von CDU/CSU und SPD, in Deutschland ein
nachhaltig wirkendes gesellschaftliches Umfeld zu
schaffen, das es allen Menschen ermöglicht, sich gesund
und bewusst zu ernähren, und die Bürgerinnen und Bürger in allen Lebenswelten dazu motiviert.
Meine Damen und Herren, meine Rede hatte ich mit
einer fiktiven Szene aus dem Bundestagsrestaurant begonnen. Schließen möchte ich mit einem realen Bild, das
uns das Problem veranschaulicht: Auf dem modern gestalteten Bahnsteig des Bitterfelder Bahnhofs, der unscheinbar grau ist, kann man etwas entdecken: einen
Farbtupfer mit den Slogans „Frisch und Lecker“ und
„Einfach genial!!!“ - mit drei Ausrufezeichen und einem
erhobenen Daumen darunter. Im Hintergrund sind viele
bunte Bonbons einer bekannten Marke zu sehen. Das
Plakat verziert die Seiten- und Rückwand eines üblichen
Selbstbedienungsautomaten mit allerlei Süßem - fest
oder auch flüssig. Wenn irgendwann mal ein mit solcher
Werbung versehener Automat nicht nur in Bitterfeld frisches Obst und gesunde Getränke feilbieten sollte, dann
haben wir - symbolisch gesehen - etwas gekonnt in Sachen gesunde Ernährung. Aber auch hier sollten wir
nicht mit der Brechstange agieren.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Caren Lay von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich freue mich sehr, dass wir zum wichtigen Thema gesunde Ernährung heute in der Kernzeit
sprechen können. Ich finde auch, dass wir es bei so einem wichtigen Thema nicht bei formlosen Appellen belassen sollten, sondern tatsächlich Butter bei die Fische
geben und über genau diejenigen Bereiche sprechen sollten, die eine gesunde Ernährung und die Information
über gesunde Ernährung gefährden. Deswegen meine
ich, dass wir beim Thema gesunde Ernährung beispielsweise auch über das geplante Freihandelsabkommen
zwischen der Europäischen Union und den USA, TTIP,
sprechen müssen.
({0})
Ich finde es gut, dass der Minister heute auch einige
kritische Worte zu einzelnen Punkten gefunden hat; denn
in der Südwest Presse hat er noch vor einiger Zeit erklärt, TTIP sei für die Verbraucher keine Bedrohung,
sondern eine Chance. Da höre ich wohl nicht richtig!
Wenn das Freihandelsabkommen eine Chance ist, dann
ist es eine Riesenchance für die Konzerne, aber doch
nicht für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({1})
Herr Minister, Sie befürchten beispielsweise - das haben Sie auch gesagt -, dass die regionalen Herkunftsbezeichnungen möglicherweise aufgeweicht werden, dass
dann beispielsweise eine Spreewald-Gurke auf den
Markt kommt, die den Spreewald noch nie gesehen hat.
Diese Befürchtung teile ich.
Nehmen wir das Thema Hormonfleisch. Es ist bekannt, dass in der gigantischen und durchindustrialisierten Fleischproduktion in den USA Wachstumshormone
zum Einsatz kommen. Diesen lehnen die Verbraucherinnen und Verbraucher bei uns ab. Der Import von Hormonfleisch in die EU ist zu Recht verboten. Wir finden,
dass das so bleiben soll. Deswegen freut mich, dass der
Minister dieses Thema heute angesprochen hat. Allerdings sehen die NGOs die Gefahr, was den Import dieses
Hormonfleisches in die Europäische Union anbelangt,
noch nicht gebannt.
Das Gleiche gilt für die Gentechnik. Bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern in Europa gehen die
Alarmglocken an, wenn sie hören, dass in den USA der
Großteil der Soja-, Mais- oder Zuckerrübenpflanzen
gentechnisch verändert ist. In Deutschland beispielsweise lehnen 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher Gentechnik ab. Deswegen sagen wir: Europa
darf auch zukünftig kein Markt für Gentechnik sein.
({2})
Wenn wir uns einig sind im Bereich Gentechnikimporte, wenn wir uns einig sind im Bereich Hormon7500
fleischimporte und auch beim Schutz regionaler Herkunftsbezeichnungen, dann freut mich das, Herr Minister.
Aber ich muss schon sagen, dass das geplante
Freihandelsabkommen aus meiner Sicht an anderen Stellen viel größere Gefahren birgt. Auch die müssen heute
angesprochen werden, beispielsweise die geplanten privaten Schiedsgerichte und die Investorenklagen. Zum einen führen sie zu einem erheblichen Demokratieproblem. Zum anderen hat es Auswirkungen auf den Bereich
Lebensmittel und Ernährung, wenn beispielsweise ein
US-amerikanischer Hersteller über den Weg dieser
Schiedsverfahren einklagen kann, den selbst produzierten holländischen Gouda oder die Spreewaldgurke auf
den europäischen Markt zu bringen. Wenn Sie es ernst
meinen mit Ihrer Kritik, dann müssen Sie auch den Mut
haben, sich über die privaten Schiedsgerichte mit den
Konzernen anzulegen.
({3})
Ein weiteres Grundproblem: Wir müssen überlegen, ob
wir als Gesetzgeber überhaupt noch die Möglichkeit haben werden, Standards und Regelungen zu definieren,
die die Gewinne der Konzerne schmälern, oder ob wir
entgangene Gewinne am Ende durch Steuermittel kompensieren müssen.
Die Kernfrage beim Freihandelsabkommen ist nicht:
Kann man hier und da ein wenig herumdoktern und das
eine oder andere Schlimme verhindern? Das ist offenbar
Ihre Position. Vielmehr geht es aus meiner Sicht um die
Frage: Ist mehr Freihandel, ist mehr Globalisierung nicht
grundsätzlich der falsche Weg? Das ist die Position der
Linken. Wir wollen mehr regionale Produktion, und wir
wollen regionale Wertschöpfungsketten. Deswegen sagen wir: Dieses Freihandelsabkommen, das TTIP, muss
verhindert werden.
({4})
Ich freue mich deswegen, dass schon Millionen Unterschriften gegen das TTIP gesammelt wurden. Ich freue
mich, dass wir bei der „Wir haben es satt!“-Demo am
Samstag die Gelegenheit haben werden, unter anderem
dagegen zu demonstrieren.
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zum Verbraucherinformationsgesetz sagen; denn das gehört zu diesem Thema dazu. Das Verbraucherinformationsgesetz in
der derzeitigen Form ist gut gemeint, aber leider ziemlich wirkungslos. 90 Prozent der Anfragen werden mangelhaft beantwortet: zu spät, zu teuer oder unvollständig.
Das ergaben eine Studie der Verbraucherorganisation
Foodwatch und nicht zuletzt eine Kleine Anfrage der
Linksfraktion.
Für uns Linke ist ganz klar: Das VIG muss erstens
leichter anwendbar sein. Es muss zweitens eine Auskunftspflicht der Unternehmen gegenüber den Verbrauchern beinhalten. Die Informationen müssen drittens
kostenfrei sein; denn Transparenz darf nicht vom Geldbeutel der Verbraucher und der Organisationen abhängen.
({5})
Schließlich - und das ist mein letzter Punkt - werden
in der jetzigen Form des VIG die Behörden ausgebremst,
Informationen weiterzugeben. Die Bundesgesetze sind
unklar, und deswegen gibt es immer wieder Situationen,
in denen die Behörden nicht die Namen der Unternehmen nennen können, wenn beispielsweise die Pestizidgrenzwerte im Paprika überschritten oder die Hygienestandards in einer Bäckerei oder in einem Restaurant
nicht eingehalten werden. Es dient deshalb der gesunden
Ernährung, wenn wir als Linke heute erneut fordern: Das
derzeitige Verbraucherinformationsgesetz muss dringend novelliert werden; denn nur durch andere Instrumente können wirkungsvolle Informationen an die
Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich gesund ernähren wollen, weitergegeben werden.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Jeannine
Pflugradt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“: Warum
sprechen wir heute darüber? Heutzutage nehmen sich die
Menschen weniger Zeit für ihre Mahlzeiten. Das Essen
ist kein Erlebnis mehr, sondern nur noch reine Nahrungsaufnahme, und es wird nur noch selten regelmäßig
im Familienverbund genossen. Selbst die grundlegenden
Dinge scheinen nicht mehr selbstverständlich. Die ständige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in Deutschland
führt dazu, dass wir uns über die Werte des Essens und
Trinkens zu wenig Gedanken machen und Nahrungsmittel nicht mehr richtig wertschätzen. Ein Bewusstseinswandel kann nur durch Aufklärung und Eigenmotivation
der Menschen zu selbstbewussten sowie mündigen Verbrauchern erfolgen.
Kitaeinrichtungen und Schulen als Lernort sind dafür
wichtige Anlaufstellen. Heute geht zum Beispiel jedes
dritte Kind ohne Frühstück in den Unterricht. Das ist
schwer vorstellbar, aber leider wahr. Hier können Kitas
und Schulen ansetzen und den Wert von gesunder sowie
ausgewogener Ernährung vermitteln. Sich mit Essen und
Lebensmitteln auszukennen, hat heute viel mit dem sozialen Status zu tun. Essen ist zu einem Identifikationsmittel geworden. Das Interesse an gutem Essen hat zugenommen, und parallel dazu entwickelt sich die Küche
wieder zum zentralen Bestandteil des familiären Lebens.
Aber tatsächlich richtig gekocht wird weit weniger als
früher. Wir brauchen deshalb langfristige Programme,
die alle Menschen in jeder Lebenslage direkt erreichen.
Ein anderer Aspekt der Wertschätzung von Nahrungsmitteln ist die Preisgestaltung. Über diese können wir
vermitteln, was uns das Essen wert ist, welches wir konsumieren. Preise erhalten dadurch als Teil der WertJeannine Pflugradt
schöpfungskette eine herausragende Bedeutung. Sie sagen dem Verbraucher nicht nur, dass das Produkt von
hoher Qualität ist, sondern auch, dass es hochwertig produziert wurde. Leider geht der Trend derzeit noch zum
Billigmarktsegment. „Hauptsache billig“ müssen unsere
Lebensmittel sein. Das ist für mich persönlich verwirrend; denn wenn wir uns zum Beispiel einen Neuwagen
kaufen, entscheiden wir über den Preis, ob der Wagen,
den wir kaufen, eine gute Qualität hat. Warum zahlen
wir also nicht auch etwas mehr für ein gutes Stück
Fleisch oder für frisches Obst und Gemüse?
Wertschätzung umfasst somit die Produktion, den
Kauf und den Verzehr des Nahrungsmittels sowie die
Vermeidung von Abfall. Hier ist meiner Meinung nach
aber jeder einzelne Verbraucher gefragt. Das erfordert
ein Umdenken beim Konsum.
Mit dem weiteren Ausbau der Ganztagsschulen in
Deutschland muss auch das Verpflegungssystem für
Kinder und Jugendliche überdacht werden. Schulverpflegung verstehen wir Sozialdemokraten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die als gleichwertiger Bestandteil in das Schulleben integriert werden sollte.
({0})
Die Sensibilisierung für dieses Thema muss dort beginnen, wo die Lernbereitschaft von Menschen am größten ist, nämlich in den Kitas und in den Schulen.
Zunächst betrifft das die Bereitstellung einer ausgewogenen, gesunden Verpflegung, die sich mindestens an
den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung orientieren sollte. Zumindest aber sollte geprüft werden, wie ein gesichertes Kontrollsystem die
Einhaltung dieser Standards gewährleisten kann. Deshalb fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, die Bundesregierung auf, in Zusammenarbeit mit den Bundesländern den Worten unseres Bundesministers Christian
Schmidt Taten folgen zu lassen, nämlich die DGE-Qualitätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung
flächendeckend in Deutschland zu etablieren und ein
Nationales Qualitätszentrum Schulessen, wie es Bundesminister Schmidt auf dem Bundeskongress Schulverpflegung angekündigt hat, einzuführen. Dieses Zentrum
sollte bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und
den Schulvernetzungsstellen angesiedelt sein.
Frau Kollegin Pflugradt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Maisch?
Gern.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Sie haben gerade davon gesprochen, dass Bund und Länder gemeinsam die
DGE-Standards zur Pflicht machen sollen. Das finden
wir sehr gut. Ich möchte Sie fragen, wie Sie in diesem
Zusammenhang zum Kooperationsverbot stehen: Finden
Sie es förderlich für eine solche Zusammenarbeit im Bildungsbereich?
Das Kooperationsverbot ist nicht förderlich. Ich persönlich habe da auch einen ganz eigenen Standpunkt: Ich
plädiere für die Aufhebung des Kooperationsverbotes,
damit die Länder einen Partner an der Seite haben, nämlich den Bund.
({0})
Zurück zu meiner Rede: Ein wichtiger Schritt ist, die
DGE-Standards an Kitas und Schulen im Ausschreibungsverfahren und in den Verträgen mit den Trägern zu
verankern. Nur wer sich daran hält, sollte den Auftrag
zur Verpflegung von Kindern und Jugendlichen bekommen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Forderung nach einem Qualitätsnachweis, dem sogenannten
Ernährungs-TÜV für Anbieter.
Vergessen werden darf bei der heutigen Debatte nicht,
dass die Gemeinschaftsverpflegung auch in anderen Bereichen des Lebens, also über Kita und Schule hinaus für
den eigenen Lebensstil bedeutend ist. Ich spreche mich
an dieser Stelle mit Nachdruck dafür aus, angepasste
Qualitätsstandards als Mindeststandards vorzusehen und
sie insbesondere bei der Verpflegung in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und anderen öffentlichen Kantinen genauso strikt durch die Länder umsetzen zu lassen
wie bei der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen.
({1})
Kranke und pflegebedürftige Menschen sowie Arbeitnehmer im Arbeitsalltag benötigen eine vollwertige Ernährung, die an ihre Bedürfnisse und Lebensumstände
angepasst sein sollte. Das muss zumindest in der Gemeinschaftskantine gewährleistet sein.
Gerade die Vernetzungsstellen Schulverpflegung leisten im Lebensabschnitt Kita und Schule gute Arbeit,
wenn es um die Verbreitung von Qualitätsstandards und
Qualifizierung geht. Sie sind für die Einrichtungen die
zentrale Anlaufstelle bei allen Fragen rund um die
Schulverpflegung und erhöhen dadurch auch die Akzeptanz der Verpflegungsangebote. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesländer deshalb auf, weiterhin
ihren finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Vernetzungsstellen Schulverpflegung zu leisten, damit der
Bund nach 2016/2017 nicht aus der Finanzierung aussteigt. Die Vernetzungsstellen müssen als zentrale Beratungsstellen für die Kita- wie die Schulverpflegung verankert werden. In einigen Bundesländern arbeiten die
Vernetzungsstellen mit den Landfrauen zusammen. Sie
unterstützen die Schulen deutschlandweit dabei, den
Ernährungsführerschein als Bildungsmaßnahme für
Grundschulkinder anzubieten, durchzuführen und bei
Erfolg zu überreichen. Diese Bildungsmaßnahme sollte
weiterhin durchgeführt werden können, wenn nicht sogar ausgebaut werden.
Ich freue mich, dass der Nationale Aktionsplan
IN FORM weiterhin durch den Bund gefördert wird und
Niederschlag im kommenden Präventionsgesetz finden
wird, in dem die Folgen von Fehlernährung sowie Bewegungsmangel angemessen berücksichtigt werden müs7502
sen. Ich wünschte mir, dass an einigen Stellen der Initiative IN FORM Anpassungen vorgenommen würden,
zum Beispiel, wenn geförderte Projekte keinen Mehrwert bieten und keinen Beitrag zur Prävention gegen
Übergewicht leisten. Das gilt insbesondere, wenn gleichzeitig an anderen Stellen gespart wird. Nur gute Projekte
müssen fortgeführt und durch weitere Maßnahmen ergänzt werden. Die Projekte müssen genau betrachtet
werden, um festzustellen, ob sie zielführend sind.
Insbesondere Kinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien sind von Fehlernährung betroffen. Gerade für uns Sozialdemokraten ist es eine
Frage der sozialen Gerechtigkeit, für ihre Teilhabe an
gesunder Ernährung zu sorgen. Wir wollen sie vor Fehlernährung schützen und allen Kindern unabhängig von
Herkunft, Bildung und Einkommensstatus der Eltern
eine Chance auf ein gesundes Leben geben.
({2})
Zum Abschluss möchte ich einen Aspekt eines gesunden Lebensstils aufgreifen, der mir persönlich sehr wichtig ist. Nach einem Ranking der Deutschen Diabetes Gesellschaft steht eine Stunde Bewegung am Tag an erster
Stelle, wenn es um die Wirksamkeit einzelner Methoden
zur Prävention von übergewichtsbedingten Krankheiten
geht. Bewegung und ausgewogene Ernährung gehören
also zusammen und müssen gemeinsam betrachtet werden. Körperlich aktiv zu sein, bedeutet nicht, ständig
Sport zu treiben. Vielmehr sollten die Möglichkeiten genutzt werden, im Alltag das Maß an eigener Bewegung
zu steigern: Anstatt des Autos kann man mal das Fahrrad
nehmen oder anstatt des Fahrstuhls die Treppe; da fasse
ich mir an die eigene Nase. Es gilt, ein Bewusstsein für
positive Effekte von Bewegung zu schaffen, also die
Motivation zur Alltagsbewegung zu stärken.
Im Alltag müssen vor allem zielgruppenspezifische
Möglichkeiten zur Bewegung geschaffen werden. Die
Anreize zur Bewegung müssen so attraktiv wie möglich
gestaltet sein. Sportvereine können den Wunsch nach
sportlicher Betätigung erfüllen und sind darüber hinaus
ein wichtiger gesellschaftlicher Anlaufpunkt hinsichtlich
der sozialen Integration. Der soziale Status darf - das
gilt auch hier - kein Hindernis für die Mitgliedschaft in
einem Verein sein.
Am Ende meiner Rede möchte ich die herausragende
Stellung der Familie für die Weitergabe eines gesunden
Lebensstils hervorheben. Wir alle vermitteln als Eltern
mit jedem Wort und jeder Handlung direkt und unmittelbar Werte fürs Leben.
Wir sind lange Zeit die Vorbilder für die eigenen Kinder, für den eigenen Nachwuchs. Ich hoffe jedenfalls für
mich, dass mein Sohn das genauso sieht.
Unsere Kinder zu unterstützen und Hilfestellung zu
geben, wenn sie diese brauchen, ob beratend oder finanziell, das muss für alle Eltern oberste Priorität haben. Ein
gesunder Lebensstil enthält deshalb notwendigerweise
beide von mir angesprochenen Komponenten, eine ausgewogene Ernährung und ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität. Beides sollte durch gesetzliche Rahmenbedingungen oder empfohlene Richtlinien unterstützt
werden. Den Weg dorthin muss aber jeder Mensch alleine gehen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Koalition hat einen ordentlichen Antrag
zur Ernährung vorgelegt.
({0})
Da steht auch nichts wirklich Falsches drin. Aber
({1})
angesichts der aktuellen Herausforderungen in dem gesamten Bereich Ernährung und Landwirtschaft wirkt das
eher wie ein hilfloser Versuch, irgendwo mit dem Stopfen anzufangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
die ganze Scheune marode ist, dann hilft es wenig, vorne
dran eine kleine, aber feine neue Hundehütte mit einem
schicken Dach zu stellen. Das sieht zwar gut aus, aber es
regnet trotzdem noch ins Heu rein.
({2})
Gesunde Ernährung gibt es nämlich nur auf der Basis
einer gesunden Lebensmittelerzeugung. Im UNO-Jahr
der Böden sei an das Ökolandbauprinzip erinnert: gesunder Boden, gesunde Pflanzen und Tiere, gesunde Lebensmittel, gesunder Mensch.
Herr Minister Schmidt, dabei geht es nicht darum,
dass die IGW die Landwirtschaft der letzten 50 Jahre
zeigt, sondern dass sie auch zeigt, wie es in den nächsten
zehn Jahren weitergeht.
({3})
Es geht um eine bäuerliche Landwirtschaft als Grundlage einer gesunden Agrarstruktur. Es geht um eine Erzeugung ohne ungesunde Zutaten wie Gentechnik oder
Pestizide. Es geht um eine Erzeugung, die Menschen,
Tiere und Agrarökosysteme gesund hält.
An dieser Stelle ein Wort zu den Antibiotika. Der prophylaktische Einsatz von Antibiotika ist ja verboten und
nicht nur nicht wünschenswert. Das sollte auch der Herr
Minister wissen.
({4})
Es geht aber auch um die Erhaltung unserer Standards
bei TTIP und CETA, um Wahlfreiheit und Transparenz.
Wir erleben seit Jahrzehnten ein dramatisches Höfesterben. Aber statt bei der GAP-Reform die Interessen
der kleinen und mittleren Betriebe zu vertreten, hat die
Bundesregierung die Interessen der Agrarindustrie vertreten. Denn wer profitiert von den nach oben ungedeckelten Direktzahlungen? Das sind doch nicht die kleinen und mittleren Betriebe.
Eine gesunde Agrarstruktur braucht natürlich auch
eine vielfältige Wertschöpfungskette. Vielfalt und Qualität erfordern Kompetenz, wie sie im Lebensmittelhandwerk angelegt ist. Insofern sind wir zu Recht stolz auf
die Vielfalt unserer Wurst- und Backwaren. Natürlich
müssen wir zur Stärkung von Landwirtschaft und Handwerk unsere geografischen Spezialitäten verstärkt unterstützen. Aber Minister Schmidt möchte angesichts von
TTIP nicht mehr jede Wurst schützen.
Zu gesunden Zutaten gehören ganz bestimmt nicht
Gentechnik oder Pestizide. Die Ablehnung der Gentechnik ist gut begründet. Ihre Folgen sind bekannt: weniger
Sortenvielfalt, Monopolisierung, Patentierung, steigende
Pestizidmengen und eine fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft.
Und was macht die Große Koalition? Sie machen in
der EU den Weg frei für neue Anbau- und Importzulassungen. Jetzt wollen Sie auch noch bei TTIP die in Europa bereits bestehende Kennzeichnungspflicht für
Gentech-Zutaten in Lebens- und Futtermitteln opfern.
Minister Schmidt hat in der Tagesschau einen Vorschlag
präsentiert, nach dem die Bürgerinnen und Bürger künftig jeden einzelnen Artikel mittels Barcode und Smartphone auf mögliche Gentech-Zutaten abscannen müssen, wenn sie wissen wollen, ob Gentech drin ist. Das ist
doch der absolute Gipfel der Verbrauchertäuschung.
Man schreibt es nicht im Klartext drauf, und dann wird
es schon keiner merken.
({5})
Ich bin wirklich fassungslos. Die Verhandlungen sind
noch nicht einmal richtig in die heiße Phase gekommen,
da räumt die Bundesregierung schon freiwillig die
Grundpfeiler des europäischen Verbraucher- und Umweltschutzes ab.
Sie streben in Ihrem Koalitionsvertrag die Kennzeichnungspflicht für Nachkommen von geklonten Tieren und
deren Fleisch an. Das finden wir richtig. Aber Sie wissen
doch ganz genau, dass eine solche Kennzeichnung mit
dieser Art von TTIP, mit diesem Verhandlungsmandat
und unter den aktuellen Verhandlungsbedingungen nicht
zu bekommen ist. Auch die Ausweitung der bestehenden
Gentechnikkennzeichnung auf tierische Lebensmittel,
die unter Verwendung von gentechnisch veränderten
Futtermitteln produziert werden, wird mit CETA und
TTIP so nicht zu realisieren sein. Das wurde in unseren
Gesprächen mit Ausschuss und Minister in den USA
mehr als deutlich. Das hat uns auch unsere Studie noch
einmal bestätigt. Wenn Sie die Wahlfreiheit der Verbraucher bei TTIP opfern, rettet uns auch kein Opt-out mehr
vor der Gentechnik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von
SPD und Union, in Ihrem Antrag stehen viele gute
Dinge.
({6})
- Schön. - Aber eine bessere Wertschätzung - Kollegin
Pflugradt hat die Wertschätzung angesprochen - von Lebensmitteln werden wir nur erreichen, wenn wir Lebensmittel wertorientiert erzeugen mit einer Land- und
Lebensmittelwirtschaft, die unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhält,
({7})
anständig mit Mensch und Tier umgeht und auf moderne
ökologische Konzepte statt auf Risikotechnologien setzt.
Mit Ihrem heutigen Antrag haben Sie pünktlich zur IGW
den Tisch hübsch eingedeckt. Jetzt sollten Sie über den
Tellerrand schauen und mit uns die Agrarwende und die
Gentechnikfreiheit unterstützen.
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin
Mechthild Heil.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben es bereits gehört: Heute beginnt die
Grüne Woche. Dies ist ein Grund, einmal mehr über gesunde Ernährung und über die Wertschätzung von Lebensmitteln gemeinsam zu sprechen. Wir haben in
Deutschland eine luxuriöse Situation: Noch nie waren
Lebensmittel so günstig wie heute. Vor 100 Jahren haben
wir etwa 50 Prozent unserer Konsumausgaben für Nahrungsmittel aufgebracht, heute sind es nur noch 15 Prozent. Auch das ist sozial, Frau Vogt. Lebensmittel waren
noch nie so sicher wie heute: 99,7 Prozent aller angebotenen Lebensmittel sind sicher. Damit sind sie viel sicherer als noch vor einem Jahrzehnt.
({0})
Noch viel wichtiger ist: Die allermeisten Deutschen
haben genug zu essen. Das ist auch für unser Land nicht
immer selbstverständlich gewesen. Ein Blick auf die
Welt zeigt, wie außergewöhnlich gut es uns heute in
Deutschland geht. Wir müssen sehen, dass weltweit jedes Jahr mehr Menschen an Hunger sterben als an Aids,
Malaria und Tuberkulose zusammen. Über 800 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Jeder Deutsche, jeder von uns, wirft im Schnitt im Jahr ungefähr 82 Kilo
Lebensmittel weg. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Das
darf uns nicht egal sein, und das müssen wir ändern.
({1})
Deswegen sage ich an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an unsere damalige Verbraucherschutz7504
ministerin Ilse Aigner, die die Initiative „Zu gut für die
Tonne“ ins Leben gerufen hat. Mit dieser Initiative hat
sie viele erstmals auf dieses Problem aufmerksam gemacht. 2012 - wir haben es eben schon gehört - haben
wir einen fraktionsübergreifenden Antrag für die Eindämmung der vermeidbaren Lebensmittelverluste vorgelegt. Manches hat sich seitdem getan, aber das ist noch
längst nicht genug. Deshalb wollen wir heute unsere
Forderung noch einmal ganz stark bekräftigen.
Uns geht es darum, die gesunde Ernährung zu stärken. Die Kollegin Landgraf hat schon einige wichtige
Punkte aufgezählt, zum Beispiel hohe Standards bei der
Verpflegung in Schulen und Kitas zu verankern und bei
Kindern und Jugendlichen verstärkt für Ernährungsaufklärung zu sorgen. Das alles geschieht unter dem Motto:
Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sondern
durch den Lebenswandel. Dieser Kneipp’schen Weisheit
möchte ich hinzufügen: Gesundheit kann man auch nicht
von der Politik verordnet bekommen.
Zwei Aspekte in dem Antrag sind mir besonders
wichtig.
Erstens. Ernährung ist nur ein Bestandteil eines gesunden Lebensstils. Zu einem gesunden Lebensstil gehört weitaus mehr, zum Beispiel Bewegung - wir haben
es schon gehört -, Erholung, vielleicht auch Ausgeglichenheit und - das sage ich als Rheinländerin - bestimmt auch eine Portion Lachen.
({2})
Zweitens. Unsere Politik will Menschen zu einem gesunden Lebensstil ermuntern und sie dabei unterstützen.
Wir wollen die Menschen aber nicht zwingen und nicht
bevormunden, auch dann nicht, wenn es zu ihrem angeblich Besten geschieht. Ich betone das in meinen Reden
immer wieder, weil es für mich von zentraler Bedeutung
ist und weil es zugleich auch der Kern unserer christlichdemokratischen Verbraucherpolitik ist: In einer freien
Gesellschaft sind staatliche Beschränkungen ein hoher
Preis, den wir nur dort zahlen dürfen, wo es für das Wohl
der Bürgerinnen und Bürger absolut unvermeidlich ist.
({3})
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Antrag, das auch
hier schon Erwähnung gefunden hat und durch die
Presse gegangen ist: Wir wollen gemeinsam mit der
Wirtschaft darauf hinwirken, dass „quengelfreie“ - gemeint sind natürlich: süßigkeitenfreie - Kassen in Supermärkten angeboten werden. Der Schokoriegel und die
Gummibärchen an der Kasse sind für Kinder verführerisch, und das Quengeln in der Kassenschlange ist für
Kinder eben auch immer einen Versuch wert; die meisten von uns kennen das. Einige Supermärkte haben mit
sogenannten Familienkassen schon darauf reagiert. Ja,
wir begrüßen solche Initiativen aus der Wirtschaft. Aber
was wir nicht brauchen, sind staatliche Regulierungen
zur Warenpräsentation in Supermärkten. Unser Antrag
sieht sie auch nicht vor. Es wird kein staatliches Verbot
von Quengelzonen geben. Hier ist nicht irgendein Gesetz die Lösung, sondern an dieser Stelle sind Erziehung
und Ernährungsbildung gefragt.
({4})
Denn eine Frage bleibt unbeantwortet: Was dürfte
dann überhaupt noch im Kassenbereich liegen? Batterien? Kosmetik?
({5})
Zeitungen und Zeitschriften, von deren Cover die Kinder
von retuschierten Schönheiten oder SchokoladenglasurMuffins angelacht werden?
({6})
Wollen wir wirklich staatlich vorgeben, welches Warensortiment supermarktkassentauglich ist? Von mir dazu
ein klares Nein.
({7})
Natürlich will ich, genauso wie wohl jeder hier im
Saal und die Besucher auf der Tribüne, dass sich die
Menschen gesund ernähren und sich ausreichend bewegen. Ja, sie sollen ein glückliches und langes Leben führen; klar, das will jeder von uns. Unsere Aufgabe - auch
unsere Aufgabe als Politiker - ist dabei, für Bedingungen zu sorgen, unter denen es möglich ist, die Menschen
zu einem gesunden Lebensstil zu motivieren, für Aufklärung und Information zu sorgen und die Menschen zu
fördern und zu unterstützen. Das alles sehe ich als Aufgabe des Staates an. Aber zu denken, der Staat, die Politik wisse immer und in jedem Bereich besser, was für
den Einzelnen gut ist, ist für mich anmaßend.
({8})
Denn die staatliche Überregulierung geht auf Kosten der
Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen.
({9})
Das ist die Währung, in der wir für ein Mehr und Mehr
an staatlicher Fürsorge bezahlen. Deshalb muss immer
genau abgewogen werden, in welchen Fällen der Staat
eingreifen muss und wo der staatliche Eingriff die Freiheit des Einzelnen unverhältnismäßig beschränkt.
Die Union und wir von der CDU stehen für eine Politik der sicheren Lebensmittel, der Förderung eines gesunden Lebensstils, der Vermeidung von Lebensmittelabfällen und der Wertschätzung unserer Lebensmittel.
Das geschieht durch Aufklärung und Bildung. Und: Die
Union steht für eine Politik der Wahlfreiheit der Verbraucher.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Heil. - Nächste Rednerin
ist für die SPD die Kollegin Helga Kühn-Mengel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
„Essen hält Leib und Seele zusammen“, sagt ein Sprichwort und betont damit auch seine Bedeutung für Kommunikation und Miteinander. Aber gesunde Ernährung
beeinflusst, wie wir wissen, nicht nur das Wohlbefinden,
sondern ist auch Grundlage für körperliche Gesundheit.
Für immer mehr Menschen entwickelt sich die Ernährungssituation zum Risikobereich. Über die Hälfte der
Erwachsenen und etwa 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen
sind übergewichtig, ein Viertel der Erwachsenen und
6 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutlich adipös.
Die Folgeerkrankungen sind bekannt. Die Bedeutung
der nicht übertragbaren Erkrankungen, der non-communicable diseases, wird von der WHO deutlich herausgestellt.
In Europa verursachen diese chronischen Erkrankungen bereits 86 Prozent der vorzeitigen Todesfälle und
77 Prozent der Krankheitslast; das wurde jetzt noch einmal von der Deutschen Allianz gegen Nichtübertragbare
Krankheiten herausgestellt. Es geht hier nicht nur um
Leben und Lebensqualität, sondern eben auch um Folgekosten. Wir haben in Deutschland viele Projekte, die darauf abzielen, das Verhalten der Einzelnen zu beeinflussen und zu verändern; aber Appelle an Einsicht und
Vernunft sind nicht sehr erfolgreich, sind nicht langfristig, sind nicht flächendeckend erfolgreich. Vor allem erreichen sie in zu geringem Maße diejenigen Bevölkerungsgruppen, die keinen hohen Bildungsstand haben
und nur über ein geringes Haushaltseinkommen verfügen. Gerade diese Gruppen sind jedoch besonders belastet. Schon die erste bundesweite und europaweit größte
Untersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, 2002 in Auftrag gegeben und in den Folgejahren
durchgeführt, gab eindeutige Hinweise darauf, dass
Adipositas, Merkmale von Essstörungen, Bewegungsmangel, Tabakkonsum, Alkoholkonsum verstärkt bei
Kindern und Jugendlichen aus sozial belasteten Verhältnissen festzustellen sind, und eine Folgeuntersuchung,
KiGGS Welle 1 von Dezember 2013, bestätigte die Tendenzen: Menschen aus dem untersten Fünftel der Einkommens- und Vermögensverteilung haben, wie Professor Rosenbrock feststellt, in jedem Lebensalter ein
ungefähr doppelt so hohes Risiko, zu erkranken.
Wie erreichen wir die Menschen besser? Wir haben
im Präventionsparagrafen im SGB V schon vor Jahren
einen wichtigen Halbsatz eingeführt: dass Prävention
das Ziel haben muss, die Ungleichheit von Gesundheitschancen zu vermindern. Deswegen: Es geht nicht nur um
Verhaltensprävention, sondern auch um Verhältnisprävention, darum, Rahmenbedingungen so zu verändern,
dass gesundes Leben von Anfang an gefördert wird.
({0})
Nur ein solches Vorgehen erreicht alle Schichten, vor allem diejenigen, die in besonderem Maße belastet sind.
Deswegen ist es richtig, dass im jetzt vorliegenden Entwurf des Präventionsgesetzes ein ganz besonderer
Schwerpunkt - einer von acht - gesetzt wird bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ein weiterer
Schwerpunkt wird bei der Stärkung des Settingansatzes
gesetzt, also bei der Arbeit in den Lebenswelten der Kinder. Über die Lebenswelten erreicht man alle: im Betrieb, im Wohnheim, im Heim, in der Pflege, im Quartier. Nur ein Beispiel: Wenn wir den Kindergartenalltag
umstrukturieren, wenn gemeinsam ein gesundes, nahrhaftes Frühstück zusammengestellt und eingenommen
wird, wenn naturnahe Erlebnisse, gemeinsames Einkaufen und Zubereiten eines gesunden Essens, partizipatives
Gestalten gelernt und die Erkenntnisse dann auch noch
nach Hause getragen werden, haben wir ein wichtiges
Ziel erreicht. Kinder nehmen solche Angebote mit großer Offenheit und auch gern an. Kochen erfüllt eine
Vielzahl von Bedürfnissen; das wurde jetzt auch auf einem Workshop der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft Zahngesundheit in Wildbad Kreuth festgestellt manchmal kommt auch Gutes von dort.
({1})
Kinder, so die Studie, fanden es toll, zu kochen, weil sie
dann gemeinsam etwas mit den Eltern machen, weil sie
zeigen können, was sie gelernt haben, weil sie es spannend finden - wörtlich -, wie aus einfachen Dingen ein
richtiges Essen wird.
Also kann man doch sagen, dass wir auch im Zeitalter
der fortschreitenden Digitalisierung offenbar eine gute
Chance haben, auch auf eine eher klassische Art und
Weise zur Förderung der Gesundheit beizutragen.
({2})
Als Nächster spricht der Kollege Alois Gerig für die
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Eingangs möchte ich den Verantwortlichen für diese Debatte ein großes Kompliment aussprechen. 12.20 Uhr
mittags am Eröffnungstag einer der weltweit größten Ernährungsmessen hier in Berlin: Es gibt keinen besseren
Zeitpunkt für eine Debatte über gesunde Ernährung und
die Wertschätzung von Lebensmitteln.
({0})
Ich frage Sie durchaus sehr ernsthaft - und nicht nur
wegen des Regenwetters draußen -: Haben Sie in den
vergangenen Tagen Ihre Teller immer leergegessen?
({1})
Johann Philipp Förtsch hat bereits im Jahr 1690 in einem
Singspiel folgenden Vers verwendet:
Weil Speis und Trank in dieser Welt
doch Leib und Seel’ zusammenhält.
Dieser Vers hat eine ungebrochene Bedeutung bis zum
heutigen Tag.
Ja, es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Menschen gut ernähren können. International gab es viele
Kriege wegen Nahrungsmitteln. Aktuell - so haben wir
heute mehrfach gehört - können sich geschätzte
800 Millionen Menschen nicht satt essen. Dagegen leben
wir hier in Deutschland im wahren Schlaraffenland. Unsere Regale sind voll mit bezahlbaren sehr guten Produkten. Deshalb ist es vielleicht sogar ein bisschen verständlich, dass sich gewisse Wohlstandsbegleiterscheinungen
einstellen.
Die Wertschätzung für Lebensmittel, für die Produzenten - hier denke ich insbesondere an die Urproduzenten, unsere Landwirte; darauf komme ich noch zurück -,
für die Natur und für die Ressourcen ist in der Tat ein
Stück weit verloren gegangen. Es geht uns allen, wie wir
glücklicherweise unisono bekunden, um die Bewahrung
der Schöpfung. „Moral“, „Ethik“, „Nachhaltigkeit“,
„Respekt“ und „Verantwortung“ sind geflügelte Worte,
die wir bei unserer politischen Arbeit jeden Tag sehr
ernst nehmen müssen.
Das Kernthema Lebensmittelverschwendung wurde
angesprochen, und ich möchte jetzt kurz auf die Landund Ernährungswirtschaft eingehen. Sie hat eine gewaltige wirtschaftliche Bedeutung - insbesondere für die
ländlichen Räume. 4,5 Millionen Menschen in Deutschland sind dort tätig; das sind rund 11 Prozent aller Erwerbstätigen.
Gleichwohl gibt es weiterhin einen gewaltigen ungebremsten Strukturwandel in der Landwirtschaft. Nur
circa 2 Prozent der Erwerbstätigen sind Landwirte. Woran liegt das? Dafür gibt es durchaus viele Gründe. Nie
war - ich kenne keinen Betrieb - Reichtum der Grund
dafür, Höfe zu schließen.
Die Landwirte arbeiten hart. Die Tierhalter tun dies
oft an 365 Tagen im Jahr. Die Abhängigkeit vom Wetter
und andere Unbilden des Lebens sorgen ebenfalls für
Probleme, und die schlechte wirtschaftliche Lage - die
Einkommen in der Landwirtschaft liegen weit unter dem
gewerblichen Vergleichslohn - tut das Übrige.
({2})
Das Schlimmste aber - das erlebe ich live und höre
ich jeden Tag; lassen Sie mich das sagen - sind die Anfeindungen gegenüber unseren Landwirten von außen.
Es gibt Diffamierungen und Beschuldigungen. Das
nimmt unseren Bauern die Freude an ihrer Arbeit - mit
fatalen Folgen.
Auch ich sage: Natürlich gibt es schwarze Schafe. Die
sollen wir auch benennen. Aber weit mehr als 90 Prozent
unserer Landwirte leisten eine hervorragende Arbeit. Sie
produzieren die weltweit mit am besten kontrollierten
Nahrungsmittel - sowohl in der pflanzlichen als auch in
der tierischen Produktion.
({3})
Was ist zu tun? Wir müssen den Dialog in der Gesellschaft führen. Wir brauchen solche Debatten wie die
heutige. Wir brauchen auch eine Politik der Wertschätzung und müssen diese Politik aktiv begleiten. Wir müssen uns und der Bevölkerung klarmachen, dass Verbraucher, die Konsumenten, und die Erzeuger voneinander
profitieren. Auch über Moral, Ethik und den Lebensmittelhandel müssen wir reden.
Ich sage ganz klar: Unsere Landwirte sind immer bereit - das wird auch offen bekundet -, höhere Standards
umzusetzen. Ich bin dem Minister für den Hinweis sehr
dankbar, dass sich in den letzten 50 Jahren im Bereich
des Tierwohls sehr viel positiv verändert hat. Aber es
geht auch darum, dass man gute Produkte nicht zu
Ramschpreisen herstellen kann. Es ist verheerend, wenn
in den Flyern samstags ausgerechnet Nahrungsmittel als
Lockmittel angepriesen werden.
({4})
Es muss jedem hier in Deutschland bewusst sein: Tierwohl kann es nicht zum Schnäppchenpreis geben.
({5})
Also müssen wir weiterhin gemeinsam aufklären und
deklarieren. Ich befürworte ausdrücklich die TierwohlOffensive, die privatwirtschaftlich durch die ganze Branche initiiert wurde. Das sind Chancen, sich aufeinander
zuzubewegen.
Ich bin gegen eine einseitige Ordnungspolitik, insbesondere gegen eine national einseitige Ordnungspolitik,
weil wir Gefahr laufen, dadurch Produktion aus dem
Land zu verlagern. Frau Maisch, Sie haben das Thema
Eier angesprochen. Wir alle erinnern uns mit Schrecken
daran, dass der Selbstversorgungsgrad in Deutschland
unter 50 Prozent gefallen war,
({6})
weil wir die Hühnerhaltung einseitig und sehr schnell
verändert haben.
({7})
- Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie eine Zwischenfrage stellen.
({8})
Ich bin dafür, dass wir europaweit gleiche Standards
und gleiche Wettbewerbsbedingungen haben. Ich bin
auch dafür, dass wir sehr gute Bedingungen für die Haltung unserer Tiere haben. Aber der Verbraucher ist der
Gekniffene, wenn wir die Produktion aus dem Land jagen;
({9})
denn unsere Regale werden nachher mit Produkten gefüllt, die vielleicht weniger hohen Standards genügen.
Ich könnte noch viel sagen, aber meine Zeit läuft
schon langsam ab.
Ich mache einen Vorschlag. Ich finde, in großen Teilen ist diese Debatte heute hier sehr fair verlaufen. Lassen Sie uns doch alle gemeinsam mit gutem Beispiel
vorangehen. Lassen Sie uns Themen und Probleme anpacken, gemeinsam, gerne auch fraktionsübergreifend:
zum Wohle unserer Landwirtsfamilien, die das verdient
haben, und im Sinne unserer regionalen, gesunden Nahrungsmittel. Bürger und Verbraucher müssen erkennen,
was sie kaufen. Sie müssen durchaus noch ein bisschen
kritischer werden. Auf TTIP kann ich jetzt nicht mehr
eingehen, würde ich sonst noch gerne machen.
Lieber Kollege Gerig, Ihre Zeit ist nicht abgelaufen,
sie kommt erst noch. Aber die Redezeit ist leider zu
Ende.
Lieber Herr Präsident, danke für den Hinweis. - Es
geht um den Erhalt unserer schönen und von allen Bürgern geliebten Kulturlandschaft.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen eine
schöne und erfolgreiche Internationale Grüne Woche.
Nutzen wir sie für gute, konstruktive Gespräche! Ihnen
allen, insbesondere unserer Ernährungsbranche, wünsche ich ein gutes neues Jahr.
Danke schön.
({0})
Für eine Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort
dem Kollegen Ostendorff.
Herr Kollege Gerig, ich bin ein bisschen älter. Gestatten Sie mir, dass ich noch einmal erzähle, wie das damals mit den Hühnern war.
({0})
Ich glaube, dass Sie das nicht genau wissen können, weil
Sie damals noch nicht im Parlament waren.
Es gab in der Tat Klagen der Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Die damalige nordrhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn
und der damalige niedersächsische Landwirtschaftsminister Funke, der die Klage zuerst geführt hat - er wurde
später Bundeslandwirtschaftsminister - waren der Meinung, dass man Hühner nicht länger in Käfigen in
Löschblattgröße ihr Leben fristen lassen sollte. Dies hat
das höchste deutsche Gericht für richtig befunden.
Ich bin niemand, der Recht und Gesetz anzweifelt.
Von daher stimme ich dem Gericht ausdrücklich zu. Diese
Rechtsprechung galt es dann umzusetzen. Deutschland
hat in einem langen Prozess zwischen Bundeslandwirtschaftsministerium - die zu der Zeit amtierende Ministerin hieß Renate Künast - und den Bundesländern entschieden, wie man das Gerichtsurteil umsetzt. Dies ist
- insbesondere darauf wollte ich hinaus; Kollege
Priesmeier weiß das auch noch - von hohen Zuschüssen
für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ flankiert worden. Für den Umstieg hätten die
Hühnerhalter enorme staatliche Hilfen erhalten.
Allerdings beobachteten wir im Folgenden, dass es
immer wieder Hinweise an die Verbände der Geflügelwirtschaft gab: Verhaltet euch ruhig! Wartet ab, was passiert! Macht nichts! - Das hat allerdings dazu geführt,
dass Nachbarländer - insbesondere das für uns Nordrhein-Westfalen und besonders für Westfalen immer
schwierige Nachbarland Holland - gesagt haben:
„Macht so weiter! Wir sehen das anders, und wir werden
anders reagieren“, und das haben sie getan.
Der Handel, lieber Alois Gerig, hat so reagiert, dass er
entschieden hat, dass Eier mit der Kennziffer 3 nicht
mehr in den Verkauf kommen. Ich habe selber Gespräche mit Aldi und mit anderen Kolleginnen und Kollegen
geführt. Aldi hat gefragt: Wo gibt es in Deutschland Eier,
die nicht die Kennziffer 3 haben? - Diese Eier gab es
nicht, weil die Wirtschaftsverbände dazu aufgerufen hatten, die Umstellung nicht vorzunehmen und das im Bundeshaushalt bereitgestellte Geld nicht abzurufen. Diese
Mittel sind fast gar nicht in Anspruch genommen worden. Es waren enorme Summen.
Das hat in der Tat dazu geführt, dass Holland eine
starke Marktstellung erhalten hat. Ich finde nur, die
Schuldzuweisung, die du damit verbunden hast, war bei
der Faktenlage eindeutig falsch.
({1})
Herr Kollege Gerig, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern, und ich sehe, dass Sie sie wahrnehmen
wollen.
Ich nehme sie sehr gerne wahr. - Lieber Kollege
Ostendorff, es ist richtig: Ich bin noch nicht so lange in
der Politik, aber, wie man an meinen grauen Haaren erkennen kann, durchaus schon lange auf der Welt. Ich
wollte mit meiner Aussage niemanden angreifen, weder
eine Partei noch irgendwelche Personen. Ich habe lediglich auf die Aussage der Kollegin Maisch reagiert, die
gesagt hat, wie gut die Eier in unseren Regalen sind. Mir
ist dazu noch eingefallen, dass wir nicht alle Eier sehen,
die wir in den Regalen haben. Wissen wir, was in all den
Produkten enthalten ist, in denen Eier verwendet wurden?
({0})
Ich will überhaupt nicht verteidigen, was damals in
der Geflügelhaltung gelaufen ist. Ich habe das nur als
Mahnung dafür genannt, was passieren kann, wenn wir
national einseitig Gesetze verabschieden. Wir müssen
uns sehr gut überlegen, welche ordnungspolitischen
Maßnahmen und welche Gesetze wir angehen, auch im
Hinblick auf den Tierschutz. Vielleicht ist es unklug, zu
schnell allzu viele Enddaten zu setzen, die wir aus wissenschaftlicher Sicht - und ich bin dankbar, dass wir
sehr viel Geld für die Forschung aufwenden - später in
der Praxis nicht halten können. Der Verbraucher ist der
Gekniffene, wenn die Produktion ins Ausland verlagert
wird. Der Verbraucher muss die Chance haben, gezielt
nach regionalen deutschen Produkten zu greifen. Das ist
der Verbraucher, den ich mir wünsche. Dann haben wir
Win-win-Situationen in Deutschland.
Ich weiß, es ist ein steiniger Weg. Ich sage noch einmal: Lassen Sie ihn uns gemeinsam gehen!
({1})
Jetzt hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf
den Tribünen! Alle Menschen müssen essen. Das klingt
natürlich sehr banal, ist es aber nicht. Mir ist in meiner
Umgebung schon bedeutet worden, dass etlichen Kolleginnen und Kollegen nun zur Mittagszeit der Magen
knurrt. Das heißt, wir befassen uns hier mit einem Politikfeld, das existenziell ist. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Meinungsforschung durch eine Umfrage bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland
herausgefunden hat, dass die wichtigste Forderung der
Menschen an die Politik ist, dass wir, das Parlament, für
gesunde und sichere Lebensmittel zu sorgen haben. Das
Thema bewegt die Menschen. Es ist unbestritten, dass
die meisten sich und ihre Kinder gesund ernähren wollen. Wie wir von der Kollegin Kühn-Mengel, die uns
dazu eindrucksvolle Zahlen vorgetragen hat, gehört haben, gelingt das jedoch nicht allen oder oft nur mit äußersten Mühen und Anstrengungen. Wir wollen das ändern.
Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag bei den
Ursachen der Schwierigkeiten ansetzen. Es muss für alle
Menschen leichter werden, sich gesund zu ernähren, und
zwar egal, wie viel Geld jemand verdient oder welchen
Schulabschluss er besitzt. Verbraucherinnen und Verbraucher, insbesondere Eltern und Kinder, werden heutzutage mit ungesunden Lebensmitteln und dem dazugehörenden Marketing geradezu überflutet. Im Automaten
auf dem Bahnsteig gibt es praktisch nur Schokoriegel.
Der Schulkiosk verkauft vor allem Cola und Brause. Die
Kantine, wenn es denn überhaupt eine gibt, bietet wenig
an, das schmackhaft und gesund ist. Im Supermarkt an
der Kasse steht, wie wir verschiedentlich gehört haben,
auf Augenhöhe von Kindern Süßkram. In Grundschulen
werden Produktproben von Keksen und Würstchen verteilt. Chipshersteller sponsern Schulfußballturniere inklusive T-Shirts mit Logo. In Produkten, die als gesund
und geeignet für Kinder oder sogar für Babys erscheinen, steckt viel zu viel Zucker, Fett oder Salz. Gegen
diese Flut kommen viele alleine kaum noch an, erst recht
nicht Kinder. Besonders betroffen von Fehlernährung
und den daraus folgenden Erkrankungen sind Familien
mit niedrigem Einkommen; auch hierzu hat Frau KühnMengel die Zahlen genannt.
Die aktuelle Situation vergrößert also die soziale Ungleichheit. Gegensteuern können wir hier nicht, indem
wir Menschen vorschreiben, was sie essen oder wie sie
sich verhalten sollen. Nein, wir müssen gesündere Verhältnisse schaffen. Selbstverständlich wollen wir weiterhin Ernährungsaufklärung und Verbraucherbildung an
Schulen fördern, auch wenn sich nicht gleichzeitig etwas
daran ändert, welche Lebensmittel wo angeboten und
wie sie vermarktet werden. Wenn sich aber das Ernährungsumfeld nicht ändert, dann werden Aufklärungsund Bildungskampagnen nicht viel nutzen. Wir müssen
dafür sorgen, dass es leichter wird, das erworbene Wissen auch anzuwenden.
Um das Bild der Flut noch einmal aufzugreifen: Wenn
zu erwarten ist, dass eine Stadt regelmäßig überflutet
wird, würden wir auch nicht lediglich den Schwimmunterricht fördern oder Prospekte verteilen, die erklären,
wie man Boote baut, und dann hinterher vielleicht sagen:
Wer nicht genug Geld und Zeit hatte, sich ein Boot zu
bauen, ist selber schuld, dass er sich nicht gerettet hat. Nein, wir würden dann Dämme bauen. Wir würden es
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen, die Menschen gemeinsam vor der Flut zu schützen. Genau solche Dämme müssen wir auch gegen die Flut ungesunder
Lebensmittel und mangelnder Bewegung bauen.
({0})
Unser Antrag setzt hier erste wichtige Impulse. Wir
wollen verpflichtende Qualitätsstandards für Schulmensen und öffentliche Kantinen, damit alle Kinder lernen,
wie gut gesundes Essen schmecken kann. Wir wollen
künftig keine Werbung mehr für ungesunde Lebensmittel wie Süßigkeiten, Süßgetränke oder Knabberzeug in
Grundschulen und Kitas. Wenn Schulen werbefrei sind,
dann kann Ernährungsbildung auch sehr viel besser wirken.
Wir wollen die Lebensmittelwirtschaft in die Pflicht
nehmen. Supermärkte sollen süßigkeitenfreie Kassen anbieten, um Eltern das Einkaufen mit Kleinkindern erträglicher zu machen.
({1})
In Großbritannien ist das übrigens längst Alltag. Auch
bei uns gibt es mittlerweile einige Geschäfte, die das anbieten. Wir wollen aber, dass das Ernährungsministerium - der Herr Staatssekretär ist noch da - gemeinsam
mit der Wirtschaft eine Strategie zur Reduktion von Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten entwickelt. Auch
dafür - man soll es kaum glauben - gibt es in Europa
Vorbilder, nämlich Finnland, Dänemark und Großbritannien sowieso.
Sie alle kennen das afrikanische Sprichwort: Es
braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. - In
der Tat. Auf die Ernährung bezogen heißt das: Es sind
alle mitverantwortlich für die steigenden Raten ernährungsbedingter Krankheiten wie Diabetes, Herzerkrankungen oder Krebs. Deshalb sind auch alle gefordert, dabei zu
helfen, diesen Trend umzukehren und insbesondere die
Ernährung von Kindern in diesem Land zu verbessern.
Gefordert sind wir also alle, auch die Wirtschaft, die
noch sehr viel Luft nach oben hat, was ausgewogene
Produktrezepturen und ehrliche Werbung angeht. Wir
müssen dafür sorgen, dass alle, die Verantwortung haben, diese auch wahrnehmen können. Wir bauen dann
Dämme, wo es nötig ist.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. - Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Rudolf Henke von der Unionsfraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks. - Das hat Auguste Escoffier, französischer Meisterkoch, vorgetragen. Auguste Escoffier
verdanken wir die Küchenrevolution des vorigen Jahrhunderts hin zu einer leichteren, hin zu einer verdaulichen
Küche. Man höre und staune: Der erste Küchenchef der
Ritz-Restaurants hat sogar von der Notwendigkeit mehrgängiger Menüs Abschied genommen. Es sind auch
Skeptiker wie George Bernard Shaw, die sich mit der Ernährung befassen. Er hat einmal gesagt: Keine Liebe ist
aufrichtiger als die Liebe zum Essen. - Wir sehen daran,
in welche Emotionalität wir eintauchen, wenn wir uns
mit der Frage der Ernährung und der Wertschätzung von
Lebensmitteln befassen. Ich freue mich, dass ich aus der
Sicht der Gesundheitspolitik als Arzt ein paar Gedanken
dazu beitragen darf.
In unserem gemeinsamen Antrag werben wir, die Koalitionsfraktionen, für die Bedeutung einer gesunden und
ausgewogenen Ernährung für einen gesunden Lebensstil
und für die Prävention ernährungsbedingter Krankheiten. Das Thema ist nicht ganz neu. Hippokrates von Kos,
der von 460 bis 377 lebte und von dem der hippokratische Eid stammt, verdanken wir drei Lehrsätze: Was uns
am Leben erhält, kann uns auch krank machen. Krankheiten überfallen den Menschen nicht wie ein Blitz aus
heiterem Himmel, sondern sind die Folgen fortgesetzter
Fehler wider die Natur. Um die Gesundheit zu erhalten:
nicht bis zur Sättigung essen, sich vor Anstrengungen
nicht scheuen.
Ich bin dankbar für die vielen richtigen und wichtigen
Hinweise in dieser Debatte auf die Notwendigkeit, die
Verhältnisse zu beeinflussen. Aber das wäre nur die eine
Seite; denn genauso wichtig ist es natürlich, den Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit im Sinne
der Aufklärung zu ermöglichen, damit man sich nicht als
den Verhältnissen ausgeliefert empfindet. Sagen wir den
Menschen auch, dass es nötig ist, ihr eigenes Verhalten
selbst in die Hand zu nehmen und zu steuern und nicht
fehlzuinterpretieren, dass sie gegenüber der Werbung
ausgeliefert seien.
({0})
In der Tat ist beispielsweise die Fettleibigkeit ein bedeutender Risikofaktor für viele ernste gesundheitliche
Beschwerden; darauf ist schon verschiedentlich aufmerksam gemacht worden. Wir müssen davon ausgehen,
dass die Kosten durch ernährungsbedingte Krankheiten
jährlich bei bis zu 70 Milliarden Euro liegen können. Die
Folgekosten erklären circa 7 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen. Alle rechnen damit, dass diese Kosten
weiter ansteigen wegen Erkrankungen wie Adipositas,
Bluthochdruck, koronaren Herzkrankheiten oder Diabetes mellitus. Diese Krankheiten sind nicht nur das Drama
der Betroffenen, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Ernährungsbedingte Krankheiten bedeuten Herausforderungen für die Gesundheit, für die Wirtschaft,
für die Entwicklung in Deutschland und in Europa. Deswegen sind präventionspolitische Ansätze eine gesellschaftspolitische Aufgabe von hohem Stellenwert.
Das wollen wir mit dem Präventionsgesetz aufgreifen, das wir noch in diesem Frühjahr beraten werden.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Krankenkassen
ihre verfügbaren Mittel für die Gesundheitsvorsorge verdoppeln, dass gesundheitsförderliche Verhaltensweisen
stärker unterstützt und gesundheitliche Risiken reduziert
werden. Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung müssen zielgenauer auf tatsächlich wirksame
Maßnahmen und auf solche Bevölkerungsgruppen konzentriert werden, die bisher schlecht erreicht wurden.
Fakt ist leider auch, dass mit vielen Präventionsleistungen oftmals nur die erreicht werden, die ohnehin bereits gesundheitsbewusst leben und auf ihre Ernährung
besonders achten. Von allen in Anspruch genommenen
Präventionskursen in Deutschland sind derzeit nur
5 Prozent dem Thema Ernährung gewidmet. Krankenkassen machen also viel mehr erfolgreiche Bewegungskurse, viel mehr erfolgreiche Stressbewältigungskurse.
An die Ernährung gehen die Leute trotz der Bedeutung,
die sie für die Gesundheit hat, nicht so gerne heran. Das
hat vielleicht etwas mit der von Shaw genannten Liebe
zum Essen zu tun. Es stellt sich daher die Frage: Wie
kann man eine bessere Nutzung präventiver Leistungen
gerade im Bereich der Ernährung erreichen? Da ist es
schon von Bedeutung, dass wir mit den Präventionskursen der Krankenkassen mehr Angebote zur Stärkung von
Eltern und Kindern zur Verfügung stellen.
Gesundheit beginnt nicht erst im Erwachsenenleben.
Je früher Kinder lernen, auf sich zu achten, desto erfolgreicher sind Präventionsmaßnahmen.
({1})
Deshalb ist es wichtig, mit den Kleinsten zu beginnen
und dies in allen Altersgruppen fortzuführen. Der Gemeinsame Bundesausschuss soll durch das Präventionsgesetz die Möglichkeit erhalten, die Kinder- und Jugenduntersuchungen in diesem Sinne weiterzuentwickeln und
darüber zu entscheiden, welche Untersuchungen auch im
Schul- und Jugendalter sinnvoll und notwendig sind und
zu welchen Aspekten der Arzt oder die Ärztin die Eltern
beraten soll. In den bevorstehenden Beratungen des Präventionsgesetzes wollen wir darauf achten, dass diesen
Aspekten Rechnung getragen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestern haben wir im Gesundheitsausschuss des Bundestages ein
weiteres mit Ernährung zusammenhängendes Thema intensiv besprochen, nämlich das fetale Alkoholsyndrom,
also die vorgeburtliche, oft schwerwiegende Schädigung
eines Kindes durch Alkoholkonsum während der
Schwangerschaft. Der entscheidende Punkt, was das
Aufnehmen von Produkten der Landwirtschaft angeht,
ist hier, dass wir sagen: Es gibt bestimmte Lebenssituationen, zum Beispiel im Straßenverkehr, bei der Arbeit
mit Maschinen, wenn man Arzneimittel zu sich nimmt
oder wenn man schwanger ist, für die das Gebot „gar
kein Alkohol“ gelten muss.
({2})
Eine letzte Bemerkung. Es ist davon gesprochen worden - ich glaube, Mechthild Heil hat es gesagt -, dass
wir die Freiheit der Entscheidung des Verbrauchers erhalten wollen. Wie schaffen wir es aber, den Trend zu
immer mehr Übergewicht zu brechen? Es gibt weltweit
nicht einen einzigen Staat, der zeigen kann, dass der
Trend zur Zunahme des Durchschnittsgewichts der Bevölkerung umgekehrt worden ist - nicht ein einziges
Land, egal welche Wirtschaftsordnung oder welche Gesellschaftsordnung ein Land hat. Nicht einem einzigen
Land in der Welt ist das bisher gelungen. Ich finde, wir
müssen nicht in dieser, aber in der nächsten Legislaturperiode auch über die Frage nachdenken, inwieweit
durch Elemente, wie wir sie zur Reduktion des Tabakkonsums eingesetzt haben - ich denke an steuerliche
Maßnahmen, etwa an bestimmte Verbrauchsteuern im
Bereich ungesunder Lebensmittel -, Erfolge erzielt werden können. Ich kann da keine Ergebnisse vorwegnehmen. Das gelingt mit Sicherheit nicht in dieser Legislaturperiode. Aber ich finde, wir müssen diese Frage mit
einer Zukunftsperspektive diskutieren, weil es unser gemeinsames Ziel sein muss, sowohl dem Bewegungsmangel wie auch der Fehlernährung zu begegnen.
Der italienische Schauspieler Giorgio Pasetti hat einen klugen Satz gesagt:
Die gesündeste Turnübung ist das rechtzeitige Aufstehen vom Esstisch.
Ich wünsche Ihnen guten Appetit, wenn Sie jetzt zum
Mittagessen gehen.
({3})
Stehen Sie davon rechtzeitig wieder auf!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3726, 18/3730 und 18/3733 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Nach dieser intensiven Debatte über das richtige und
gute Essen wünsche ich denen, die jetzt in die Mittagspause gehen, einen guten Appetit.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesverantwortung wahrnehmen - Kommunen bei Unterbringung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten
der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsberechtigte schrittweise übernehmen
Drucksache 18/3573
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das
Wort der Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion
Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Am Tage seiner Amtseinführung hat
der erste linke Ministerpräsident, Bodo Ramelow in
Thüringen, als erste Amtshandlung den Winterabschiebestopp für Flüchtlinge nicht nur gefordert, sondern verfügt.
({0})
Das ist richtig so, das ist gut so, und das sollte auch beispielhaft sein;
({1})
denn diese Aufgabe ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, die wir zu stemmen haben. Wir können und
dürfen unsere Verantwortung nicht beiseiteschieben. Wir
alle hier sind gefordert, schnell und vor allen Dingen
auch gewissenhaft zu handeln. Die Aufgabe, Flüchtlinge
menschenwürdig unterzubringen, sie gut zu versorgen
und rasch zu integrieren, ist vor allen Dingen international und europäisch begründet.
Wir müssen all denen das Wasser abgraben, die den
schrecklichen terroristischen Überfall in Paris missbrauchen, die nun noch mehr gegen friedliche Mitbürgerinnen und Mitbürger anderer Herkunft und Religion
hetzen. Wir sollten hier im Hohen Hause beide Sätze
verinnerlichen: „Nous sommes Charlie“ und „No
Pegida“.
({2})
Mehr denn je brauchen wir dauerhaft Aufklärung und
Debatten, um der Instrumentalisierung der Morde von
Paris mit der gesamten Kraft der Demokratie entgegenzutreten; denn skrupellos wird von einigen Unverbesserlichen gegen den Islam im Allgemeinen, aber auch gegen Asylsuchende und Flüchtlinge gewettert. Unsere
Ziele müssen ein echtes Miteinander und auch die gelebte Solidarität sein.
({3})
Das bedeutet, dass wir Politikerinnen und Politiker allen
Sorgen und Ängsten der Menschen mit Offenheit begegnen müssen. Es sind oft genug Ängste vor allen Dingen
vor sozialem Abstieg, aber auch Ängste, die mit unbegründeten Vorurteilen verbunden sind. Umso wichtiger
ist es, dass wir uns heute auch mit der Finanzierung der
Unterbringung, Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden beschäftigen.
Die Unterbringung von Menschen, die aus Not zu uns
kommen, verursacht in den Ländern und Kommunen
ohne Zweifel einiges an Kosten. Es ist wichtig, die Kommunen von dem finanziellen Druck zu befreien, damit
keine Abwehrhaltung eingenommen wird. Gerade wenn
die Finanzen auf Kante genäht sind, muss der Bund
seine Verantwortung wahrnehmen, und das tut er bislang
leider immer noch zu wenig.
({4})
Vizekanzler Sigmar Gabriel forderte im November
2014, die Kommunen bei der Unterbringung von Flüchtlingen mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen. Anfang des
Jahres forderte er, dass der Bund die Kosten für die
Flüchtlingsunterkünfte übernehmen solle. Wir begrüßen
solche Forderungen. Aber lassen Sie uns doch bitte nicht
vollkommen im Dunklen und vor allen Dingen nicht die
auf Lösungen wartenden Kommunen, wie solch eine
finanzielle Entlastung für die Kommunen konkret aussehen soll. Es ist bislang herzlich wenig Konkretes passiert. Es liegt kein aktueller Gesetzentwurf vor. Ich gewinne langsam den Eindruck, dass hier wieder einmal
vollmundige Versprechen gemacht worden sind, aber
den Worten keine entsprechenden Taten folgen.
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, es
ist angesichts der aktuellen Lage und Situation höchste
Zeit, hier eine Lösung zu finden. Es darf nicht mehr auf
Zeit gespielt werden.
({5})
Es ist bedauerlich genug, dass das jüngste Gesetz zur
weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen nur
ein Tropfen auf den heißen Stein war und eben nicht die
Versprechen des Koalitionsvertrags einlöste. Sie sollten
bei Ihren Gesetzentwürfen auch ein wenig weiter denken, dauerhaft für gute Lösungen sorgen und auch in
diesem Fall für Kommunen eine Lösung entwickeln.
Wir als Linke verfolgen daher eine Doppelstrategie.
Aus aktuellem Anlass fordern wir, die Kommunen finanziell so auszustatten, dass eine schnelle und gute Hilfe
für Flüchtlinge möglich ist. In einem zweiten Schritt
- da denken wir langfristig - wollen wir die Kommunen
nachhaltig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen, und zwar nicht nur exakt bei den Ausgaben für die
Flüchtlingsunterbringung.
Frau Kollegin Karawanskij, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Die Koalitionäre haben ja noch genug Zeit, darauf einzugehen. - Das Grundproblem ist ja die chronische Unterfinanzierung der Kommunen.
Ich möchte hier noch einmal auf unsere konkreten
Forderungen eingehen. Wir Linke fordern die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Asylbewerberinnen und Asylbewerber dürfen nicht Bürgerinnen und
Bürger zweiter und dritter Klasse sein. Solange dieses
Gesetz noch nicht abgeschafft ist, muss der Bund den
Ländern die Ausgaben für die Leistungen an Asylsuchende zu 100 Prozent erstatten.
({0})
Daneben muss der Bund auch bei den Leistungen für
Kosten der Unterkunft und Heizung, kurz KdU, Verantwortung übernehmen; denn diese sind eine nicht unerhebliche Belastung für die Kommunen. Wir fordern hier
einen Stufenplan für die Kostenübernahme. So sollen die
Kommunen zunächst um 50 Prozent, ab dem Jahr 2017
um 75 Prozent und ab dem Jahr 2019 um 100 Prozent
entlastet werden.
Meine Damen und Herren, nutzen wir heute die Gelegenheit! Lassen Sie uns gemeinsam auf Bundesebene
mehr Verantwortung übernehmen! Stimmen Sie unserem
Antrag zu! Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen der
Demokratie setzen! Lassen Sie uns kurzfristig wie langfristig die kommunalen Finanzen auf ein stabiles Fundament stellen!
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort
dem Kollegen Marian Wendt.
Herr Präsident, vielen Dank. - Ich möchte nur für die
Koalition feststellen, dass wir mit dem Programm zur
Entlastung der Kommunen schon begonnen haben, auch
wenn es die Vertreter der Linksfraktion vielleicht noch
nicht ganz mitbekommen haben: 500 Millionen Euro in
diesem Jahr, 500 Millionen Euro im nächsten Jahr,
35 Millionen Euro für Impfkosten. Das Wichtigste, was
wir festgelegt haben, sind aber baurechtliche Vereinfachungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen.
({0})
Es geht ja nicht nur um die reinen Kosten, sondern auch
darum, wie die Menschen human untergebracht werden
können. Ich komme aus einem Wahlkreis - das ist der
Wahlkreis Nordsachsen, um Leipzig herum -, wo dies
geschieht, wo die Möglichkeiten durch die Änderung
des Baurechts genutzt werden, um humane Unterbringung umzusetzen.
Ich glaube - da spreche ich für die Fraktion der CDU/
CSU insgesamt -, dass es die größte Entlastung für die
Kommunen wäre, wenn wir die Voraussetzungen schafften, dass den Menschen geholfen werden kann, die wirklich Hilfe benötigen, dass vor allem die aus dem Irak und
aus Syrien unterstützt werden, zugleich aber dafür sorgten, dass die, die kein Recht zum Aufenthalt in unserem
Land haben, möglichst zügig wieder ausreisen. Deswegen halten wir einen Winterabschiebestopp nicht für
sinnvoll. Durch mehr freie Kapazitäten würde man die
Kommunen am besten unterstützen. Allein in meinem
Wahlkreis machen die, die aus Serbien kommen und entsprechend abgeschoben werden müssten, 25 Prozent
aus.
({1})
Wenn das passieren würde, würde unser Landkreis sehr
stark entlastet werden.
Vielen Dank.
({2})
Frau Kollegin Karawanskij, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern.
Kollege Wendt, wir beide kommen aus demselben
Wahlkreis, Nordsachsen. Insofern ist mir die Situation
sowohl in Sachsen als auch in Nordsachsen nicht ganz
unbekannt. Ich bin ebenfalls sowohl mit dem Landrat als
auch mit den Bürgermeistern im Gespräch. Sie haben
mich möglicherweise falsch verstanden. Ich habe nicht
gesagt, dass der Bund nichts tut. Ich habe nur gesagt,
dass das ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Ich habe in
der Debatte über den Gesetzentwurf zur Entlastung der
Länder und Kommunen gesagt, dass das ein Schritt in
die richtige Richtung ist, bei weitem aber noch nicht ausreicht. Wenn Sie hier davon sprechen, dass eine menschenwürdige Unterbringung das Ziel ist, dann trennt
uns in dieser Frage tatsächlich sehr wenig. Nur wir sind
nicht der Meinung, dass man diese Frage über Gewerbegebiete bzw. Baurechtsverordnungen lösen sollte.
Wir haben dazu den Vorschlag eingebracht, dass beispielsweise eine bessere interkommunale Zusammenarbeit möglich sein sollte; denn es gibt tatsächlich Kommunen, die in ihrem kommunalen Wohnungsbestand
freie Kapazitäten haben. Man kann beispielsweise über
die Lockerung des Königsteiner Schlüssels nachdenken
und - nach unserem aktuell vorliegenden Vorschlag darüber, dass man die Kommunen und Landkreise von
den Kosten entlastet und das über die Länder ausgleicht.
Insofern trennt uns von dem Anliegen nichts. Nur, wir
hätten es gern ein bisschen präziser. Wir haben einen
konkreten Antrag vorgelegt. Dazu bitten wir Sie einfach
um Zustimmung.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass gerade im Winter - das habe ich vorhin zu Beginn meiner Rede gesagt der Abschiebestopp, den Bodo Ramelow als erste Amtshandlung eingeführt hat, richtig ist. Dass er damit nicht
so verkehrt liegt, kann man daran ablesen, dass auch
Schleswig-Holstein dem gefolgt ist. Ich hoffe, dass auch
noch weitere Bundesländer folgen werden. Das ist einfach ein humanitärer Akt. Ich habe auch gesagt, dass es
eine gesamtgesellschaftliche und auch eine europäische
Aufgabe ist, der wir uns hier zu stellen haben.
({0})
Jetzt hat das Wort der Kollege Axel Fischer für die
Unionsfraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim Lesen des Antrags „Bundesverantwortung wahrnehmen“ der Linken habe ich mich zweimal vergewissern müssen, welches Datum dieser Antrag trägt, und
zwar mit Blick auf die Finanzsituation der Kommunen.
Ihre Darstellung allgemein verarmter und weiter darbender Kommunen wäre vielleicht 2009 in Zeiten der grassierenden Finanzkrise mit hoher Arbeitslosigkeit angemessen gewesen. Heute ist sie es sicher nicht mehr; denn
schon die christlich-liberale Bundesregierung war sich
der prekären Lage der Kommunen im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 bewusst und hat schnell
und umfassend Abhilfe geleistet. Die Große Koalition
knüpft mit ihrer konsequenten kommunalen Finanzentlastung heute nahtlos an. So können Länder und Kommunen heute auf Basis der größten Kommunalentlastung
in der Geschichte durch den Bund handeln.
({0})
Meine Damen und Herren, das ist verantwortungsvolle Politik, die SPD, CDU und CSU hier gemeinsam
Axel E. Fischer ({1})
zum Wohle der Kommunen und der Menschen leisten.
Dazu gehören - ich zähle sie jetzt auf, weil Sie gemeint
haben, das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein zum Beispiel folgende Maßnahmen:
Kinderbetreuung: Für den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige und die Beteiligung an der
Finanzierung der Betriebskosten hatte der Bund bereits
insgesamt 4 Milliarden Euro in den Jahren 2009 bis
2013 und ab 2014 jährlich 770 Millionen Euro bereitgestellt. Im Zusammenhang mit der Ratifizierung des
Fiskalvertrages hat der Bund zusätzlich für Investitionen
580,5 Millionen Euro und für Betriebskosten 2013
18,75 Millionen Euro, 2014 37,5 Millionen Euro und ab
2015 jährlich 75 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Kosten der Unterkunft und Heizung, Grundsicherung
für Arbeitsuchende: Hier fordern Sie eine schrittweise
Übernahme der Kosten durch den Bund. Fakt ist: Der
Bund trägt bereits heute etwa ein Drittel dieser Kosten.
In der vergangenen Legislaturperiode wurden die Kommunen durch eine höhere Bundesbeteiligung in den Jahren 2011 bis 2017 um etwa 9 Milliarden Euro entlastet.
Ab diesem Jahr werden die Kommunen darüber hinaus
mit 1 Milliarde Euro pro Jahr zusätzlich unterstützt. Das
erfolgt in den Jahren 2015 bis 2017 hälftig durch einen
höheren Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft und
Heizung und hälftig durch einen höheren Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer.
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung:
Die Verständigung im Jahr 2011 und die schrittweise erfolgende Erhöhung der Erstattung der Nettoausgaben der
Kommunen verursacht Entlastungen im Zeitraum von
2012 bis 2017 von weit über 20 Milliarden Euro.
({2})
Zur weiteren Entlastung der Kommunen hat der Bund
2012 zugesagt, jeweils die aktuellen Nettoausgaben des
laufenden Kalenderjahres zu erstatten. Für 2014 erstattet
der Bund nunmehr knapp 5,5 Milliarden Euro und übernimmt auch in den Folgejahren die Nettoausgaben vollständig.
Steuern: vollständige Entlastung der Länder und Gemeinden von Steuermindereinnahmen im Rahmen des
Steuervereinfachungsgesetzes 2011 in Höhe von rund
2 Milliarden Euro bis 2017.
Entflechtungsmittel: Die Entflechtungsmittel werden
in den Jahren ab 2014 bis zu ihrem Auslaufen im Jahr
2019 in unveränderter Höhe von jährlich 2,6 Milliarden
Euro weitergezahlt.
Bildung: Trotz Zuständigkeit der Länder beteiligt sich
der Bund mit circa 13,5 Milliarden Euro von 2010 bis
2017 am Hochschulpakt. Zudem regelt der Koalitionsvertrag, dass die Kommunen darüber hinaus im Rahmen
der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im
Umfang von 5 Milliarden Euro jährlich von der Eingliederungshilfe entlastet werden sollen. Im geltenden
Finanzplan ist diese Entlastung bereits vorgemerkt. Der
gesetzlichen Umsetzung steht somit nichts mehr im
Wege; sie kann rechtzeitig erfolgen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es kommt nicht
von ungefähr, dass Städte und Gemeinden bereits in den
letzten Jahren Überschüsse ausgewiesen haben. Das
heißt, sie haben insgesamt mehr Geld eingenommen, als
sie ausgegeben haben, und das trotz steigender Ausgaben für soziale Leistungen. Allein im ersten Halbjahr des
vergangenen Jahres haben die Kommunen Rekordüberschüsse in Höhe von mehr als 5,3 Milliarden Euro ausgewiesen - wohlgemerkt in einem halben Jahr. Mit diesen Überschüssen sind auch viele finanzschwächere
Kommunen wieder in der Lage, langfristig zu planen
und notwendige Investitionen zu tätigen.
Die Sachinvestitionsausgaben der Kommunen steigen
bereits seit 2012 wieder an. Das freut uns und zeigt deutlich, wie wichtig uns Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Bürger vor Ort sind, wie groß wir Subsidiarität schreiben. Ich verbinde diesen großen Erfolg für die
kommunale Selbstverwaltung immer gerne mit dem
Namen unseres langjährigen Kollegen Peter Götz, der
wie kein anderer jahrzehntelang mit Herzblut für die
Entlastung der Kommunen gekämpft hat.
({3})
Meine Damen und Herren, die Linken zeichnen in ihrem Antrag trotzdem ein Zerrbild der Finanzsituation der
Kommunen im Allgemeinen und fordern den Bund auf,
Verantwortung zu übernehmen. Sie unterschlagen dabei
die vielfältigen Anstrengungen und Maßnahmen, mit denen der Bund in den vergangenen Jahren die Kommunen
in herausragender Weise finanziell und administrativ
entlastet und unterstützt hat; ein paar Beispiele habe ich
genannt.
({4})
Mit den vielfältigen Maßnahmen des Bundes in den vergangenen Jahren und den bereits beschlossenen Unterstützungen in den kommenden Jahren können die Kommunen selbstbewusst und befreit in die Zukunft blicken.
So stelle ich mir bei der Lektüre des Antrags die
Frage: Worauf zielt er eigentlich ab? Sie schreiben darin,
dass Sie Aufgaben der Kommunen in eine Bundesauftragsverwaltung überführen wollen. Über die Länder, die
für die Kommunalfinanzen und die Wahrnehmung der
Aufgaben durch die Kommunen in unserem Staat verantwortlich sind, findet sich in Ihrem Antrag nichts - gar
nichts!
({5})
Wir wollen eigenständige Kommunen, in denen die
Menschen überall in Deutschland nach ihren Sitten und
Gebräuchen das Zusammenleben dezentral möglichst
weitgehend selbst gestalten und regeln können.
({6})
Wir wollen eben nicht, dass bundesweit alle nach der
Pfeife einer Zentralinstanz tanzen müssen. Auch deshalb
Axel E. Fischer ({7})
bejahen wir die Länder als weitere Elemente des Föderalismus. Es ist doch bezeichnend, dass die Länder in
Ihrem Antrag gar nicht vorkommen, und das, obwohl Sie
als Linke mit der Übernahme von Regierungsverantwortung in mehreren Ländern mittlerweile die Geschicke
der Menschen lenken und in Thüringen sogar einen
Ministerpräsidenten stellen. Warum verleugnen Sie diese
Verantwortung in Ihrem Antrag? Warum zeigen Sie nur
auf den Bund und klammern die Länder völlig aus?
Die Linke formuliert in diesem Hause häufig die
Forderung nach mehr Geld für viele oder gar für alle.
Warum wollen Sie sich eigentlich so klammheimlich aus
Ihrer Verantwortung stehlen, wenn es um das Bezahlen
der Rechnung geht? Warum sind Sie nicht einmal ehrlich
und sagen offen, dass die finanziellen Probleme der
Kommunen vor allem regionale Probleme der vom
Strukturwandel betroffenen Industrieregionen im Westen
Deutschlands sind? Ich werde Ihnen sagen, warum:
Denn dann müssten Sie erklären, warum Sie die knappen
Bundesmittel nach dem Gießkannenprinzip über das
Land verteilen wollen, anstatt den von Überschuldung
betroffenen Kommunen zielgenau zu helfen. Lassen Sie
mich auch klarstellen: Die Finanzierung kommunaler
Spaßbäder ist bestimmt nicht Aufgabe des Bundes.
({8})
Kommunen, die durch ein Anwachsen des Zuzugs aus
anderen EU-Mitgliedstaaten besonders betroffen sind,
sehen sich mit erheblichen Belastungen bei der kommunalen Daseinsvorsorge konfrontiert. Hier leistet der
Bund Unterstützung und wird das auch weiterhin tun.
Dies sind wir bereits im vergangenen Jahr angegangen.
Die besonders betroffenen Kommunen wurden per einmaliger Soforthilfe um 25 Millionen Euro entlastet. Dies
erfolgte über eine entsprechende Anhebung der Bundesbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung.
Im Zusammenhang mit der Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden Länder und Kommunen um
31 Millionen Euro, ab 2016 sogar um 43 Millionen Euro
jährlich entlastet.
Abschließend komme ich auf das Datum Ihres Antrags zurück, den 17. Dezember 2014. Denn während
Ihre Fraktion noch mit der Ausformulierung von finanziellen Forderungen an den Bund beschäftigt war, hatte
sich die Bundeskanzlerin bereits mit den Ländern über
die Hilfen zur Unterbringung von Asylbewerbern verständigt. Bund und Länder - alle Länder - waren sich
darüber einig, dass für die finanzielle Unterstützung von
Ländern und Kommunen durch den Bund eine ausgewogene und abschließende Regelung für die Jahre 2015 und
2016 getroffen wurde. Das passierte am 11. Dezember
des vergangenen Jahres, immerhin eine Woche vor dem
Datum, an dem Sie diesen Antrag eingebracht haben.
Das zeigt eines: Diese Bundesregierung und die Große
Koalition lösen Probleme gemeinsam mit den Ländern,
bevor Sie überhaupt in der Lage sind, die Probleme zu
erkennen und entsprechende Forderungen zu schreiben.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fischer, Sie haben eben die
Situation der Kommunen sehr einseitig zu beschreiben
versucht und gleichzeitig den Vorwurf an die Linke gerichtet, dass deren Beschreibung der kommunalen Lage
besonders einseitig gewesen wäre. Ich finde das nicht
zielführend.
({0})
Ich finde es richtig, darüber zu sprechen, dass in den
letzten Jahren Fehler korrigiert und vom Bund aus gemeinsame Maßnahmen mit den Ländern vereinbart worden sind. Dafür war auch nicht - nach Ihrer Farbenlehre die CDU oder gar die FDP verantwortlich.
Vielmehr haben Bund und Länder in der letzten Legislaturperiode gemeinsam erkannt, dass die Kosten für
die Grundsicherung im Alter, die durch die Folgen prekärer Beschäftigung und Altersarmut entstehen, nicht
mehr fast ausschließlich von den Kommunen gestemmt
werden können. Von den fast 5 Milliarden Euro, Tendenz steigend, hat der Bund bis zur letzten Legislatur nur
16 Prozent übernommen. Vor diesem Hintergrund bedurfte es einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Länder insgesamt und des Bundes, hier zu sagen: Das geht
nicht. Wir müssen in Zukunft 100 Prozent der Kosten
der Grundsicherung im Alter übernehmen; denn die
Kommunen haben null Steuerungsfähigkeit, haben null
Einfluss auf diese Bundesaufgabe und brauchen die Verantwortung des Bundes. - Insofern war es richtig und
gut, das zu tun.
({1})
Wenn Sie über die Kommunen sprechen, dann lohnt
es sich, auch über die sehr heterogene Situation der
Kommunen zu sprechen. Nur dann werden Sie den
Kommunen insgesamt gerecht. Die Kommunen sind
nicht alle in derselben Situation. Es gibt Kommunen, die
ihre Haushalte aufgrund guter Steuereinnahmen in erheblichem Maße sanieren konnten. Im letzten Jahr gab
es zusätzliche Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro
für die Kommunen. Es gibt selbstverständlich Kommunen, die davon profitiert haben. Aber es gibt gleichzeitig
ganz viele Kommunen, die davon in keiner Art und
Weise profitiert haben. Verlieren Sie diese doch nicht aus
dem Blick. Wir müssen das doch insgesamt betrachten.
({2})
Wir haben mittlerweile eine Zweiklassengesellschaft
bei den Kommunen. Es gibt Kommunen, denen es gut
geht und die aus eigener Kraft Aufgaben übernehmen,
investieren, vor Ort gestalten können, und es gibt Kommunen, die das längst nicht mehr können und nicht wissen, wie sie mit ihren Kassenkrediten und der Notverwaltung umgehen sollen. Wir müssen dieser Situation
insgesamt gerecht werden, und zwar die Länder und der
Bund; das ist ganz wichtig.
({3})
Dazu haben Sie uns sehr viele Zahlen genannt, sei es
bei der Grundsicherung im Alter oder sei es die gerade
vom Bundesrat beschlossene Flüchtlingsunterstützung in
Höhe von 500 Millionen Euro, auf die sich Bundestag
und Bundesrat verständigt haben. Ja, diese Zahlen sind
richtig. Aber folgende Zahlen haben Sie nicht erwähnt:
In den Kommunen besteht ein Investitionsstau in Höhe
von 118 Milliarden Euro. Warum ist das so? Warum
widmen wir als Bund uns diesem Thema nicht? Wir wissen, dass die Kommunen dieses Problem nicht aus eigener Kraft bewältigen können. Hier kann sich der Bund
nicht wegdrücken.
({4})
Gleichzeitig gibt es bei den Kommunen Kassenkredite in Höhe von 48 Milliarden Euro. Diese sind nicht
einfach abzuarbeiten. Für Kommunen in einer Haushaltsnotlage ist das ein Block, der da steht und nicht einfach zu bewältigen ist. Gleichzeitig haben wir es mit
Kosten für Sozialleistungen in Höhe von 48,7 Milliarden
Euro zu tun. Diese betreffen soziale Pflichtaufgaben des
Bundes. Deshalb knüpfen wir, auch wir Grüne, natürlich
immer wieder beim Bund an. Man kann es sich nicht so
einfach machen und sagen: Das ist Länderaufgabe. Soziale Pflichtaufgaben, soziale Leistungen des Bundes,
die für die Kommunen Pflichtaufgaben sind, haben wir
von Bundesseite aus mitzufinanzieren. Das ist unsere
Verpflichtung.
({5})
Im Jahr 2017 werden die Kommunen insgesamt Kostenaufwendungen für Sozialleistungen in Höhe von
54,5 Milliarden Euro haben. Da ist es gut, 100 Prozent
der Kosten für die Grundsicherung im Alter zu übernehmen. Das sind 5 bis 6 Milliarden Euro. Das ist aber ein
Tropfen auf den heißen Stein. Deshalb ist es richtig, sich
zu überlegen: Wo sind weitere Punkte, bei denen wir für
Bundesleistungen auch Verantwortung aus dem Bundeshaushalt übernehmen müssen? Da appelliere ich an Sie:
Tun Sie nicht so, und verschieben Sie die Verantwortung
nicht immer nach dem Motto „Wir tun genug, jetzt sind
mal die Länder dran“. Am Ende geht es doch um die
Menschen, die vor Ort in den Städten und Gemeinden leben und gleichwertige Lebensbedingungen und auch
eine gute Lebenssituation haben wollen.
Sie haben das Thema Kinderbetreuung angesprochen.
Das ist ein sehr gutes Beispiel. Wir haben einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung beschlossen. Dieser
Rechtsanspruch gilt für alle, das heißt 100 Prozent.
Wenn in einer Stadt wie Bielefeld zum Beispiel 43 oder
44 Prozent der Menschen mit Kindern, die dort leben,
diesen Rechtsanspruch geltend machen wollen, dann
müssen wir auch Kindertagesbetreuungsplätze für so
viele Kinder bereithalten. Gezahlt werden vom Bund
aber nur 37 bzw. 38 Prozent. Da machen wir in Berlin es
uns zu einfach. Wir können doch nicht einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung ab dem vollendeten
ersten Lebensjahr beschließen, dann die Kosten aber nur
für eine Quote bezahlen und sagen: Den Rest zahlen die
Kommunen vor Ort. Wir tragen hier eine Verantwortung,
der wir als Bund im Moment nicht nachkommen. Deshalb appelliere ich an Sie: Tun Sie nicht so selbstgefällig. Wir haben massenhaft Aufgaben, die wir zu bewältigen haben.
({6})
Ich komme zu dem letzten Punkt, den ich ansprechen
möchte. Neulich haben Sie die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, die meine Fraktion beantragt
hatte, abgelehnt. Wir halten es für falsch, dass die Kommunen so viel Verantwortung für Menschen, die fliehen,
übernehmen müssen. Das ist aber nur der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist ein humanitärer: Warum werden
Menschen, die zu uns fliehen, die Asyl suchen, die auf
der Flucht sind, bei den sozialen Leistungen aufgrund
des Asylbewerberleistungsgesetzes anders behandelt, regelrecht deklassifiziert? Unterhalb des Existenzminimums gibt es noch ein Minimum für Menschen auf der
Flucht. Das ist falsch.
({7})
Wir haben für unsere Initiative zur Abschaffung hier
keine Mehrheit gefunden. Es ist aber richtig, dieses
Thema anzugehen.
Deshalb ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wo die Verantwortung des Bundes liegt. Sie haben
von den 500 Millionen Euro gesprochen. Diese Maßnahme ist gut und richtig - darauf haben sich Bund und
Länder verständigt -, aber jetzt kann man sich nicht
selbstgefällig zurücklehnen; denn wir wissen, es werden
noch viel mehr Menschen kommen. Viele Menschen
sind vor Krieg und Terror auf der Flucht. Denen müssen
wir - das ist unsere humanitäre Verantwortung - hier
Asyl gewähren, denen müssen wir hier Raum und Platz
bieten. Wir müssen sie willkommen heißen. Das tun
ganz viele Bürgerinnen und Bürger durch unglaubliches
Engagement und Unterstützung vor Ort. Wir müssen unseren Beitrag leisten, indem wir die Kommunen in die
Lage versetzen, diese Flüchtlingsarbeit, diese Flüchtlingsunterstützung zu leisten.
({8})
Es reicht nicht aus, zu sagen: Wir haben doch jetzt einmal etwas gegeben. - Es geht um Integrationskurse, Migrationsberatung, die Betreuung von traumatisierten
Menschen, die Aus- und Weiterbildung für junge Flücht7516
linge, die nach Deutschland kommen, und um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Liebe Kollegin Haßelmann, darf ich Sie an die vereinbarte Redezeit erinnern?
Ich bin sofort fertig. - Zum Thema BImA: Warum
werden die Immobilien nicht kostengünstiger zur Verfügung gestellt?
({0})
Es geht auch um die Gesundheitskarte, die eingeführt
werden muss. All das sind Aufgaben, bei denen die
Kommunen die Unterstützung nicht nur der Länder, sondern auch des Bundes brauchen. Deshalb: Lehnen Sie
sich hier nicht zurück und sagen: Wir haben schon genug
getan. - Hier gibt es eine große Herausforderung. Wer
vor Krieg und Terror flieht, muss unabhängig von der
Kassenlage auf Hilfe in unserem Land bauen können.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Swen
Schulz, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass der Bund seine Verantwortung
wahrnehmen soll, dass er bei der Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern helfen soll und dass er
die Kommunen entlasten soll. Das ist im Grundsatz alles
richtig, und darum machen wir das auch.
({0})
Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen,
ganz ohne auf den Antrag der Linken zu warten. Ich will
gerne noch einmal einen Überblick geben: Zunächst tun
wir ganz grundsätzlich viel für die Kommunen, unabhängig von der Frage Flüchtlinge und Asylbewerber.
Wir übernehmen die vollen Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Das macht bis
2018 eine Gesamtentlastung in Höhe von etwa 25 Milliarden Euro aus. 2015 und 2016 kommen je 1 Milliarde
Euro hinzu, 2017 sogar noch mehr als 1 Milliarde Euro.
Die Koalition hat weiterhin vereinbart, die Kommunen
ab 2018 um 5 Milliarden Euro jährlich zu entlasten. Wir
leisten viel bei der Kinderbetreuung: 750 Millionen
Euro. Wir stocken die Mittel für den Städtebau auf:
700 Millionen Euro. Meine sehr verehrten Damen und
Herren, dieser Koalition muss wahrlich niemand erklären, dass die Kommunen gestärkt werden müssen, und
uns Sozialdemokraten schon gar nicht, um das noch hinzuzufügen.
({1})
Nun konkret zu den Flüchtlingen und Asylbewerbern.
Außenminister Steinmeier hat es vor einiger Zeit so formuliert: Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Das
führt dazu, dass mehr Menschen nach Deutschland kommen und Schutz suchen. Bei all den Diskussionen, die
wir hier so führen, müssen wir uns immer im Klaren darüber sein, dass die unmittelbaren Nachbarstaaten der
Krisenländer ungleich mehr zu schultern haben. Aber
- klar - es gibt eine Zunahme der Zahl von Flüchtlingen
und Asylbewerbern in Deutschland. Das stellt manche
Kommune tatsächlich vor Probleme.
Auch in dieser Hinsicht hat die Koalition bereits gehandelt. Das ist teilweise schon gesagt worden. 500 Millionen Euro stehen in diesem Jahr, 2015, für Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung. Für das Jahr 2016
stehen noch einmal 500 Millionen Euro zur Verfügung.
Wir haben das Asylbewerberleistungsgesetz reformiert. Dies bringt in diesem Jahr eine Entlastung für die
Kommunen von 31 Millionen Euro. Ab 2016 werden es
sogar 43 Millionen Euro sein.
Außerdem haben wir, Frau Haßelmann, die mietfreie
Abgabe von Bundesimmobilien zur Flüchtlingsunterbringung beschlossen. Wir haben eine Entlastung im Zusammenhang mit den Kosten der Zuwanderung aus der
EU vereinbart: 25 Millionen Euro. Außerdem haben wir
Unterstützung bei Maßnahmen im Gesundheitswesen
beschlossen: 10 Millionen Euro jährlich. In diesem Jahr
haben wir 40 Millionen Euro für zusätzliche Integrationskurse in den Haushalt eingestellt. Zudem haben wir
weitere 10 Millionen Euro im Rahmen der Programme
der sozialen Stadt bereitgestellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch hier
sagen wir selbstbewusst: Wir nehmen unsere Verantwortung ernst. Wir unterstützen die Kommunen und helfen
ihnen, die Flüchtlinge und Asylbewerber gut aufzunehmen.
({2})
Ich will aber nicht behaupten - damit es hier keine
Missverständnisse gibt; Frau Haßelmann hat auf die Unterschiede hingewiesen -, dass damit jetzt alle Probleme
gelöst sind. Die Frage, ob sich der Bund über die bisherigen Leistungen hinaus engagieren muss, ist verständlich;
denn letztlich ist die Flüchtlingspolitik eine nationale
Aufgabe. So müssen wir diese auch verstehen.
({3})
Ich sage das nicht nur, weil Sigmar Gabriel einen entsprechenden Vorstoß unternommen hat, sondern weil
ich, wie andere Abgeordnete sicherlich auch, die Situation vor Ort sehe, die eben teilweise schwierig ist. Es ist
vollkommen klar, dass wir in der Gesellschaft größere
Schwierigkeiten bekommen, wenn es etwa heißen
würde: Wir müssen das Schwimmbad schließen, weil
wir eine Flüchtlingsunterkunft einrichten müssen. - Wir
dürfen auf gar keinen Fall in eine Situation kommen, in
Swen Schulz ({4})
der die Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber in Konflikt gerät mit der Daseinsvorsorge, mit wichtigen Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger. Es muss beides
zusammen gehen. Es geht auch beides zusammen, gute
kommunale Leistungen und eine gute Aufnahme von
Flüchtlingen und Asylbewerbern, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({5})
Darum werden wir gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen weitere Maßnahmen erörtern und dann auch
zu Lösungen kommen.
Damit könnte ich es - gerade als Mitglied des Haushaltsausschusses - eigentlich auch schon bewenden lassen. Wir alle sollten und wollen ja auch Flüchtlinge und
Asylbewerber nicht nur als ein Problem für die öffentlichen Haushalte, nicht nur als Kostenfaktor sehen.
({6})
Vor allem ist es ein Gebot der Menschlichkeit, der
Nächstenliebe und unseres Grundgesetzes, Menschen in
Not zu helfen. Wenn das Geld kostet, dann kostet das
eben Geld - das wir aufbringen können. Für die Flüchtlinge muss es doch unverständlich sein, welche Diskussionen wir in Deutschland manchmal führen.
Natürlich können wir nicht alle aufnehmen. Natürlich
muss es eine neue europäische Flüchtlingspolitik geben.
Natürlich müssen wir dazu beitragen, dass die Menschen
gar nicht erst fliehen müssen. Die Verfahren müssen
sorgfältig durchgeführt, aber auch schnell entschieden
werden. Dafür setzen wir mehr Personal ein. Zudem haben wir im Bundesrat mit teilweiser Unterstützung der
Opposition die sicheren Herkunftsstaaten neu definiert.
Jede Rhetorik aber nach dem Motto „Das Boot ist voll“
ist hanebüchener Unsinn und menschenfeindlich.
({7})
Wie sicherlich viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, habe ich in meinem Wahlkreis Debatten über
dieses Thema. Besonders heftig wurde es bei mir in Berlin-Spandau, als ich den zuständigen Berliner Senator
aufgefordert habe, eine als provisorisch gedachte Einrichtung, Flüchtlingsunterkunft, längerfristig offenzuhalten, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit den Menschen. Manche Anwohner waren sehr aufgebracht. Da
habe ich wirklich sehr harte Worte gehört. Ich will hier
nicht auf Einzelheiten dieses konkreten Falles eingehen.
Ich kann Kritik dann auch verstehen; denn eine große
Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber ist für Anwohner, für Nachbarn zunächst einmal eine Belastung.
In diesem Fall wurde denen zudem etwas anderes zugesagt als das, was tatsächlich gemacht wurde.
Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?
Ich würde gerne meinen Gedanken zu Ende führen.
Bitte schön.
Wir sollten daraus lernen, und zwar erstens, dass wir
Konflikte mit der Nachbarschaft nach Möglichkeit reduzieren müssen, zuallererst durch Informationen, durch
Begegnung und Dialog. Aber manches kostet eben auch
Geld, etwa wenn es um bauliche Fragen oder um Angebote für Kinder und Familien und die Betreuung der
Menschen geht.
Zweitens müssen wir ehrlich sein. Wir müssen uns
klar darüber werden, was passiert, und wir müssen das
den Bürgern tatsächlich sagen. Auf gar keinen Fall dürfen wir den Fehler wiederholen, den wir früher einmal
bei den sogenannten Gastarbeitern gemacht haben, als
wir dachten, dass die alle bald wieder weg sein werden.
Nein, viele werden bleiben. Wir müssen klar sagen: Das
ist gut. Die Menschen sind willkommen. Deutschland
braucht Zuwanderung.
({0})
Ich habe mit großem Interesse ein Interview in der
Süddeutschen Zeitung mit dem Oberbürgermeister der
Stadt Goslar, Oliver Junk, gelesen. Er ist Christdemokrat
und will mehr Flüchtlinge in seiner Stadt. Er sagt wörtlich:
Wir verlieren Einwohner. Schrumpfende Regionen
aber werden weniger attraktiv für die Wirtschaft.
Das ist eine Abwärtsspirale, aus der wir raus wollen. … Die Stadt Goslar profitiert von Flüchtlingen,
sie sind eine Bereicherung …
Der Mann hat recht.
({1})
Wir sind aus ganz handfesten wirtschaftlichen und demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen.
Wir müssen mehr Einwanderung wagen, und wir müssen
uns eben auch darauf einstellen und die Menschen unterstützen. Das beginnt bei frühen Sprachkursen. In meinem Wahlkreis in Berlin-Spandau haben sich Frauen aus
der Nachbarschaft gemeldet und ihre Hilfe für erste
Sprachkurse angeboten, weil da staatlich nichts passiert.
Ich bin wirklich von diesem ehrenamtlichen Engagement beeindruckt, das es an verschiedenen Stellen gibt
und für das wir uns gar nicht genug bedanken können.
Aber ich bin sicher, dass wir das auch staatlich besser
unterstützen können und müssen.
Das ist nur ein Beispiel. Es gibt weitere Themen, weitere Baustellen. Eric Schweitzer vom DIHK etwa will
Flüchtlingen Ausbildung verschaffen und fordert daher
ein Verbot der Abschiebung während der Ausbildung.
Immerhin haben wir mit dem schnelleren Zugang
zum Arbeitsmarkt, mit der Abschaffung von Residenzpflicht und Sachleistungsprinzip, mit der Verbesserung
der Unterstützungsmaßnahmen und mit dem schnelleren
Swen Schulz ({2})
Zugang zum BAföG schon einiges geschafft. Jetzt müssen weitere Schritte folgen, etwa bei der Bildung, aber
auch bei der Gesundheitsversorgung. Ein Zuwanderungsgesetz gehört dazu, ist sozusagen der Rahmen. Die
SPD fordert das schon lange. Unser Koalitionspartner
fängt mit der Diskussion an. Wir werden das forcieren.
Wenn wir ein Zuwanderungsgesetz bekommen, setzen wir
ein klares, ein unmissverständliches Zeichen: Deutschland ist ein offenes Land, das Menschen aus anderen
Ländern nicht als Last wahrnimmt, sondern anerkennt
und willkommen heißt.
({3})
In diesem Sinne: Wir haben viel gemacht, aber haben
noch einiges vor.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
erhält jetzt die Kollegin Vogler, Fraktion Die Linke.
Lieber Kollege Schulz, ich wollte, weil Sie eben die
Geschichte aus Ihrem Wahlkreis erzählt haben, darauf
hinweisen, dass wir an vielen Orten Probleme damit haben, die Flüchtlinge angemessen, würdevoll und integrativ unterzubringen. Wir waren vor einigen Tagen in meinem Wahlkreis im Münsterland, der eher im ländlichen
Raum liegt, unterwegs. Petra Pau als Vizepräsidentin
war mit dabei. Wir haben mit Kommunalpolitikerinnen
und Kommunalpolitikern sowie mit Menschen aus
Flüchtlingsinitiativen gesprochen. Wir haben immer wieder gehört: Die Unterbringung ist ein ganz großes Problem. Wenn es selbst bei uns im ländlichen Raum ein
Problem ist, dann liegt es ja auf der Hand, dass es in
Städten wie Berlin, Duisburg oder Köln ein noch viel
größeres Problem ist.
Ich würde Sie fragen wollen, ob es nicht sinnvoll
wäre, Immobilien der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, der BImA - sie verfügt über viele, viele Immobilien, ist aber gehalten, diese finanziell bestmöglich zu
verwerten -, oder auch andere Liegenschaften des Bundes, die im Augenblick nicht genutzt sind, alte Eisenbahnerwohnungen usw., den Kommunen kostenfrei zur Verfügung zu stellen, damit sie mehr Möglichkeiten haben,
die Flüchtlinge dezentral, würdevoll und integrativ unterzubringen.
Herr Kollege Schulz.
Liebe Kollegin, Sie haben vollkommen recht. Auch
die Bundesimmobilien sind eine Möglichkeit, zur Problemlösung beizutragen. Deswegen haben wir das entsprechend beschlossen. Die BImA stellt mietzinsfrei Immobilien zur Flüchtlingsunterbringung zur Verfügung.
Es muss dann vor Ort geklärt werden, welche Liegenschaften dafür geeignet sind. Aber das ist möglich. Das
ist ein Beschluss der Großen Koalition und, wie ich
glaube, auch ein guter Beitrag.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Alois Karl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich Ihren
Antrag gelesen habe, habe ich mir gedacht: Das kann ich
nur sportlich nehmen. Der französische Baron Pierre de
Coubertin hat die Begründung der Olympischen Spiele
der Neuzeit unter das Motto „Höher, schneller, weiter“
gestellt. Wenn er Ihren Antrag gelesen hätte, hätte er
vielleicht noch „maßloser“ hinzugefügt.
({0})
Es ist eine Ansammlung von Halb- und Nebenwahrheiten, die wir hier lesen. Sie bringen ein tatsächlich bestehendes Problem, nämlich die explodierende Anzahl von
Asylbewerbern und Flüchtlingen, in Verbindung mit dem
Niedergang der kommunalen Finanzen und fordern, der
Bund solle die Defizite durch Zuschüsse egalisieren. So
einfach ist die Sache natürlich nicht.
Wir haben große Aufgaben zu bewältigen; Frau
Haßelmann, da haben Sie schon recht. Wir lehnen uns da
auch nicht zurück. Wir wissen, dass auch in den nächsten Jahren - in den nächsten Monaten wahrscheinlich
schon - neue große Aufgaben auf uns zukommen werden. Aber wir ziehen daraus andere Schlüsse als Sie. Wir
sagen, wenn wir unser Geld auf diejenigen, die es wirklich nötig haben, konzentrieren und es nicht für diejenigen verwenden, die eigentlich kein Bleiberecht bei uns
haben, dann haben wir die notwendigen Ressourcen, und
wenn wir sie nicht haben, werden wir sie im Bundeshaushalt zur Verfügung stellen. Das ist für uns die richtig
angewendete Humanität, die in unserem Lande praktiziert werden muss und die sich in unserem Lande durchsetzen sollte. Das, glaube ich, ist der gravierende Unterschied, den ich in Ihrer Rede gerade ausfindig gemacht
habe.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nichts
ganz Neues, dass sich die Zahl der Asylsuchenden in
Deutschland explosionsartig erhöht. Vor 36 Jahren, 1979,
hatten wir 50 000 Asylbewerber, im Jahr darauf über
100 Prozent mehr, nämlich mehr als 100 000. Vor
25 Jahren, im Jahr 1990, hatten wir in Deutschland
200 000 Asylbewerber, kurz darauf, 1992, 450 000.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solche
Entwicklung ist für diejenigen, die damit befasst sind,
immer eine große Herausforderung. Das ist der Bund,
das sind die Länder, und das sind die Kommunen. Axel
Fischer hat darauf hingewiesen, dass hier natürlich die
Länder in der Pflicht sind - selbstverständlich -, dass
aber auch der Bund seine Verantwortung wahrnimmt.
Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dehm?
Kollege Dehm? Ja, wir haben uns schon lange nicht
mehr gesehen.
({0})
Bitte schön.
Ich will versuchen, diesen kameradschaftlichen Ton
beizubehalten. - Kollege Karl, wären Sie bereit, über
den Begriff „explosionsartig“ noch einmal nachzudenken?
Ja. - „Explosionsartig“ bedeutet: sich in ganz ungewöhnlichem Maße vermehrend. Wenn eine Zahl von einem zum nächsten Jahr von 50 000 auf 100 000 steigt,
ist das eine geradezu extreme Steigerung. Das ist im
Deutschen die ungefähre Bedeutung dieses Ausdrucks.
Normalerweise sind Sie des Deutschen ja durchaus
mächtig.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstverständlich hat sich die Situation in den letzten 25 oder
15 Jahren verändert, wie ich vorhin gesagt habe. Wir haben heute eine ganz andere Willkommenskultur in
Deutschland; Herr Schulz, Sie haben darüber gesprochen, und das ist in der Tat richtig. In den letzten Monaten habe auch ich eine außerordentlich positive Veränderung festgestellt. Es wurden viele private Initiativen
gegründet, und Organisationen im karitativen Bereich
haben sich engagiert. Ich erwähne allerdings auch die
Kirchen und die Klöster, die ihre Tore geöffnet und viele
Asylanten und Flüchtlinge untergebracht haben. Ihnen
möchte ich an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion
für diesen außerordentlichen Akt der Nächstenliebe - so
haben wir das früher bezeichnet -, die in unserem Lande
in den letzten Monaten um sich gegriffen hat, ganz herzlich und ausdrücklich danken. Auch das gehört zur
Realität und zur Wahrheit in diesem Land.
({1})
Es ist völlig selbstverständlich - da lassen wir kein
Jota daran rühren -, dass wir jenen, die wegen ihrer politischen Überzeugung, wegen ihrer Glaubensüberzeugung, wegen der anderen Tatbestandsmerkmale, die wir
in Artikel 16 a des Grundgesetzes finden, Asyl beantragen können, unsere helfende Hand reichen müssen; das
ist gar keine Frage. Das kostet auch Geld; Sie haben das
gesagt. Was uns aber ein wenig unterscheidet - Frau
Haßelmann, ich gehe noch mal auf Ihre Rede ein -: All
jenen, die aus anderen Gründen - aus wirtschaftlichen
Gründen - unsere Gastfreundschaft suchen, muss ich sagen, dass wir einen Unterschied machen zwischen rechtmäßig beantragtem Asyl und unrechtmäßig beantragtem
Asyl. Da unterscheiden wir uns von Ihnen, und da,
meine ich, sollten Sie noch einmal überlegen, ob Sie
nicht auch unsere Position einnehmen können.
({2})
Es ist richtig, dass wir Serbien, Bosnien-Herzegowina
und Mazedonien jetzt endlich zu sicheren Herkunftsländern definiert haben. Sie wissen, dass ungefähr 25 Prozent der Asylbewerber aus diesen Ländern kommen und
99 Prozent dieser Anträge abgelehnt werden, es aber
Monate dauert und viel Geld kostet, Asylbewerber aus
diesen Ländern rechtmäßig abzuschieben. Wir hätten
viel mehr Kapazitäten zur Verfügung für jene, die aus
Syrien, aus dem Irak und aus vielen anderen Ländern unter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer oder sonst
woher kommen, um bei uns Asyl zu suchen; auf diese
Menschen könnten wir uns dann zu Recht konzentrieren.
({3})
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie ausdrücklich
darum, dass Sie, wenn wir wieder eine Initiative starten,
sichere Herkunftsländer zu definieren, berücksichtigen:
Falls tatsächlich in Ländern wie Albanien und Montenegro, Ländern, die ja alle in die EU wollen, die Menschenrechte mit Füßen getreten werden - Sie unterstützen diese Haltung offensichtlich auch noch -, dann
hätten diese Länder in der EU nichts zu suchen und ihre
Anträge müssten von vornherein mit einem Federstrich
abgewiesen werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bund
macht viel; das haben wir schon gehört, das muss ich
nicht alles noch einmal aufzählen. Wir haben dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, 650 Stellen zur Verfügung gestellt, damit es die große Zahl von
Asylanträgen schneller bearbeiten kann. Auch die zweimal 500 Millionen Euro, die der Bund den Städten und
Gemeinden 2015 und noch einmal 2016 für die Unterbringung von Asylbewerbern zur Verfügung stellt, sind
genannt worden. Ich rufe auch noch einmal in Erinnerung, dass der Bund auch Bundesliegenschaften kostenfrei zur Verfügung stellt.
Für die Gemeinden, meine sehr geehrten Damen und
Herren - auch an Sie als erste Rednerin der Linken noch
mal gesprochen, Frau Karawanskij -, tun wir unendlich
viel - mehr als in den Jahrzehnten zuvor.
({4})
Wenn man den Beitrag des Bundes, der zwischen 2010
und 2020 an die Gemeinden fließt, aufaddiert, wird man
auf etwa 170 Milliarden Euro Bundesleistung kommen.
Das ist schon etwas. Ich meine auch, dass wir manches
gemeinschaftlich tun müssen. Wir müssen auf der einen
Seite einen ausgeglichenen Haushalt zustande bringen,
aber auch viel Unterstützung leisten im Lande und weit
darüber hinaus.
Ich bin dem Freistaat Bayern ausdrücklich dankbar,
dass er bereits vorweggenommen hat, was die Linken
jetzt in ihrem Antrag fordern: Der Freistaat Bayern stellt
all seine Kommunen frei von den ungedeckten Kosten
der Unterbringung und der Versorgung von Flüchtlingen
und Asylbewerbern, die jetzt in die Städte und Gemeinden Bayerns gekommen sind. Das ist der Nachahmung
wert. Hier dürften Sie durchaus, legitimerweise Plagiateur sein. Eine Wallfahrt nach Bayern diesbezüglich,
liebe Frau Karawanskij - Frau Jelpke, die jetzt nach mir
reden wird, können Sie gleich mitnehmen -, würde niemandem schaden.
({5})
Ich lade ausdrücklich dazu ein.
({6})
- Ja, das kann man auch sagen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unseren
Städten und Gemeinden geht es - das ist auch schon gesagt worden - unterschiedlich gut. Ich freue mich ausdrücklich darüber, dass in Deutschland mittlerweile
mehr als 1 000 Kommunen eine Pro-Kopf-Verschuldung
von null haben; das ist gut so. Alle anderen müssten
auch danach streben, das zu erreichen. Es gibt auch manche - Sie haben das gesagt -, die hohe Kassenkredite unterhalten; sie umfassen insgesamt 47 Milliarden Euro.
Aber da, meine Damen und Herren, müssen wir auch zu
unterscheiden wissen: Die Hälfte von diesen 47 Milliarden Euro, 24 Milliarden Euro, entfallen auf lediglich
27 Kommunen, davon 16 aus Nordrhein-Westfalen. Ein
Viertel dieser Kassenkredite, 12 Milliarden Euro, werden
von lediglich 8 Kommunen beansprucht, davon 7 aus
Nordrhein-Westfalen. Das sollte dem einen oder anderen
vielleicht ein wenig zu denken geben. Mir steht es nicht
an, jetzt Ursachenforschung zu betreiben.
Ich sage, dass wir unseren Aufgaben in der Tat nachkommen und dass wir unsere Verpflichtungen auch in
Zukunft erfüllen werden. Sie reden uns hier kein
schlechtes Gewissen ein; denn das haben wir gar nicht
nötig.
Herr Kollege Karl.
In der Vergangenheit ist schon unendlich viel getan
worden, und wenn mehr Flüchtlinge kommen, dann werden wir darauf entsprechend reagieren.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Karl, ich finde, man kann nicht davon reden,
dass Flüchtlingsbewegungen explodieren. Das ist allenfalls die Ursache dafür, dass immer mehr Flüchtlinge
hierher kommen. Explodieren tun Waffen und Bomben,
und ich glaube, gerade Deutschland ist nicht ganz unschuldig daran, dass so viele davon in die Welt verbracht
werden.
({0})
Ich will hier noch einmal sehr deutlich sagen: Der
Antrag, den die Linke heute hier eingebracht hat, ist Anlass - das zeigt auch die jetzige Diskussion - für eine
ganz wichtige Debatte. Wir müssen darüber diskutieren,
wie sich die Kommunen, die Länder und vor allen Dingen der Bund an der Beseitigung der zum Teil katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern beteiligen können.
Herr Karl, ich war auch gerade in München. Viele
Flüchtlinge dort - mindestens 100 Menschen - wurden
bei der Erstaufnahme in Zelten untergebracht. Sie sagen
hier, Sie würden genug tun. Deshalb frage ich Sie ernsthaft: Was sind Ihre Kriterien für Asylstandards? Was
sind Ihre Kriterien für die Würde der Menschen, die
hierher in unser Land kommen und Schutz suchen? Es
kann nicht wahr sein, dass eine Unterbringung in Zelten
diesen Kriterien entspricht.
({1})
Massenunterkünfte für Asylbewerber sind per se unwürdig.
({2})
Ich denke, gerade auch deswegen sind sie häufig Ziel
rassistischer Hetze und Gewalt. Das muss endlich der
Vergangenheit angehören, und ich gehe ganz fest davon
aus, dass das auch geschieht.
Die Stadt Schwerte will jetzt Flüchtlinge in dem früheren KZ-Außenlager Schwerte-Ost des ehemaligen
KZs Buchenwald unterbringen. Das finde ich wirklich
absolut geschmacklos. Es kann ja wohl nicht sein, dass
Flüchtlinge in solchen Einrichtungen, die geschichtlich,
historisch auch für die Flüchtlinge katastrophal sein
müssen, untergebracht werden.
({3})
Es gibt aber auch gute Beispiele. In dieser Woche
konnten wir zum Beispiel im ARD-Morgenmagazin sehen, dass sich der Bürgermeister der sächsischen Stadt
Gröditz entschieden hat, Flüchtlinge nur noch in Wohnungen unterzubringen. Man konnte dort die Bürger hören - auch Leute, die vorher Ängste hatten -, wie sie
sich mit den Flüchtlingen bekannt gemacht haben; sie
haben sie durch die Begegnung im Alltag kennengelernt.
Es gibt also Möglichkeiten. Einer der zentralen Punkte,
die die Kommunen leisten müssen, ist die dezentrale Unterbringung in Wohnungen. Das geht aber eben nur,
wenn sich auch der Bund daran beteiligt und die Kommunen nicht alleine lässt.
({4})
Man kann auch auf die Geschichte verweisen. Die
Stadt Dortmund und auch andere Städte haben seit Jahren die dezentrale Unterbringung in Wohnungen als Ziel.
Meiner Meinung nach brauchen wir genau das, und wir
müssen hier auch über eine andere Flüchtlingspolitik reden.
Wir werden im Ausschuss hauptsächlich darüber reden müssen - das ist klar -, wie der Bund hier Verantwortung übernehmen kann, aber man muss auch über
eine andere, neue Flüchtlingspolitik reden; denn das,
was hier passiert, entspricht noch der Abschreckungspolitik in den 80er- und 90er-Jahren, als es den Flüchtlingen möglichst schlecht gehen sollte, damit sie schnell
wieder gehen.
({5})
Deswegen müssen eben auch solche Dinge wie Residenzpflicht, Arbeitsverbote und gekürzte Sozialleistungen endlich der Vergangenheit angehören, auch wenn die
Regelungen jetzt leicht verbessert worden sind.
Die Linke will einen grundsätzlichen Wandel in der
Aufnahmepolitik. Menschenwürdige Aufnahmepolitik
und schnelle Integration müssen die Ziele dieses Wandels sein. Dazu gehören eben hohe Standards bei der Unterbringung und vor allen Dingen auch bei der Betreuung; denn auch die Beratung fehlt heute fast vollständig
für Menschen, die bei uns Schutz suchen.
Wir fordern deshalb, dass das System der Verteilung
von Asylsuchenden auf die Bundesländer deutlich flexibler gehandhabt wird. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass man Flüchtlinge, die hierherkommen und Verwandte oder Bekannte in Pirna haben, nach Hagen oder
sonst wohin schickt. Durch die flexible Verteilung kann
das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die
Flüchtlinge und gegen Rassismus viel stärker unterstützt
werden als durch die Rückkehr zu Massenunterkünften.
Eine neue humanitäre und integrative Aufnahmepolitik
ist im Übrigen auch die richtige Antwort auf rassistische
Hetze und auf Bewegungen wie Pegida. Sie nutzen genau diese Massenunterkünfte, um immer wieder zu mobilisieren.
Wir freuen uns auf die Debatte mit Ihnen über eine
andere Flüchtlingspolitik und vor allen Dingen über Verantwortung, die der Bund mit wahrzunehmen hat, wenn
es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Bernhard Daldrup
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir haben uns vorgestern im
Namen von Humanität und Solidarität vor dem Brandenburger Tor versammelt. Heute Morgen haben der Bundestagspräsident und die Bundeskanzlerin zu den Terroranschlägen in Paris und den Angriffen auf Demokratie
und Toleranz Stellung bezogen.
Jetzt reden wir im Rahmen dieser Debatte aufgrund
der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern ganz konkret über die Konsequenzen für praktische
Politik. Es ist mir zunächst einmal ähnlich wie Herrn
Karl und wie wahrscheinlich uns allen gemeinsam ein
besonderes Anliegen, mich bei den vielen Menschen, bei
den Tausenden von Menschen in den Städten und Gemeinden unseres Landes für ihr Engagement, für ihre
praktische Solidarität, für ihre Mitmenschlichkeit zu bedanken. Das müsste tausendfach geschehen.
({0})
Ich sage das auch deshalb, weil ich mich - ich selber
war zu dieser Zeit Ratsmitglied - sehr gut daran erinnere, wie das Anfang der 90er-Jahre war. Ich sehe, dass
sich viel zum Guten verändert hat. Aber ich sage auch:
Nichts ist von Dauer. Pegida weist den Weg zu Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit. Der Schoß ist immer noch fruchtbar.
Darum ist es mir besonders wichtig, auf einen Aspekt
hinzuweisen, der vielleicht nur einen kleinen Betrag ausmacht, aber dennoch von eminenter Bedeutung ist, nämlich die Förderung politischer Bildung gegen Rechtsradikalismus und für Demokratie, wie zum Beispiel durch
das Programm „Demokratie leben“, dessen Mittel um
10 Millionen Euro erhöht worden sind. Ich halte das für
sehr wichtig.
({1})
Sie wissen, dass ich als kommunalpolitischer Sprecher gerne über die Lage der kommunalen Finanzen
rede. Frau Karawanskij, wir machen das ja regelmäßig.
Bei Ihrem Antrag allerdings rate ich zur Vorsicht. Warum? Frau Haßelmann hat eben darauf hingewiesen: Das
Wachstum der Kassenkredite, die Höhe der Sozialausgaben, die Investitionsschwäche der Kommunen haben
eine deutlich längere Vergangenheit und vor allen Dingen auch andere Ursachen als die Notwendigkeit zur Unterbringung einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen.
Wenn wir jetzt anfangen, die Debatte um die allgemeine Lage der Kommunen und ihre erforderliche Entlastung mit den Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen
zu vermischen, wenn wir alles in einen Topf werfen,
dann entsteht daraus leicht eine Melange mit einem
möglicherweise bitteren Nachgeschmack.
({2})
Allzu leicht liefert man vermeintliche Argumente, die
die Ressentiments in der Bevölkerung eher verstärken.
Dabei sollte es unsere Aufgabe sein, Vorurteile aufzulösen, aber nicht, sie zu befördern.
({3})
Dazu liefert Ihr Antrag leider keinen Beitrag. Es wäre
notwendig, sich mit der Situation der Flüchtlinge und
Asylbewerber in den Kommunen konkret auseinanderzusetzen; ich komme darauf gleich zurück.
Ich will auch nicht, Frau Haßelmann, bestreiten, dass
Ihre Analyse und Ihre Beschreibung zutreffend sind. Ich
will auch nichts schönrechnen. Aber trotzdem will ich,
ohne im Einzelnen und ausführlich darauf einzugehen,
darauf hinweisen - das wissen Sie auch -, dass Bundesregierung und Bundestag schon eine Menge zugunsten
der Kommunen gemacht haben: die Übernahme der
Kosten für die Grundsicherung in Höhe von 25 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode und in diesem Zusammenhang auch die Entlastung in Höhe von 1 Milliarde jährlich bis 2017 - das ist angesprochen worden -,
die Hilfen beim Städtebau und die Hilfen beim Kitaausbau, der übrigens nicht quotengebunden ist. Diese Hilfen
kommen an. Sie lassen sich nicht wegreden; sie lassen
sich auch nicht marginalisieren. Das ist ein Erfolg dieser
Koalition, und den lassen wir uns nicht kleinreden.
({4})
Trotzdem will ich an dieser Stelle auch sagen: Die
Forderung nach einer stärkeren Entlastung bei den Sozialausgaben sozusagen mit einem Antrag zur besseren
Finanzierung von Flüchtlingsunterbringungen aufzuwärmen - ich kenne schließlich auch Ihre anderen Anträge hat etwas von Copy-and-Paste; sie hat wenig Neuigkeitswert. Deswegen halte ich fest:
Erstens. Bundesregierung und Bundestag setzen
Schritt für Schritt die im Koalitionsvertrag zugesagten
Wege zur Kommunalentlastung um. Da ist noch nicht alles erreicht; es wird noch weitergehen, auch was die Differenzierung betrifft. Übrigens werden - darauf legen
wir großen Wert - auch die 10 Milliarden Euro für die
Investitionsförderung sicherlich zur Stärkung der Investitionskraft der Kommunen eingesetzt werden.
Zweitens. Es sind bereits sehr konkrete Hilfen in der
Asylpolitik und zur besseren Flüchtlingsunterbringung
von Bund und Ländern, übrigens auch im Zuge der Änderung - nicht der Abschaffung - des Asylbewerberleistungsgesetzes, beschlossen worden. Beispielsweise entlastet die zeitnahe Eingliederung in die regulären
Leistungssysteme und Hilfen nach SGB II und XII bei
Vorliegen eines humanitären Aufenthaltstitels die Kommunen um 39 Millionen Euro in 2015; 2016 werden es
52 Millionen Euro sein. Das sind alles keine gewaltigen
Beträge, aber sie sollten nicht kleingeredet werden.
Die Integrationskurse - mein Kollege hat schon darauf hingewiesen - wurden um 40 Millionen Euro auf
244 Millionen Euro erhöht. Die Personalaufstockung
beim BAMF ist schon erwähnt worden. Dass Asylverfahren zeitlich schnell und zügig durchgeführt werden
sollen, ist eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag.
Die erleichterte Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme
nach drei Monaten, die faktische Abschaffung der Residenzpflicht, die Änderungen im Bauplanungsrecht und
die mietzinsfreie Überlassung von Flächen und Gebäuden der BImA schaffen mehr Möglichkeiten für eine angemessene Unterbringung. Auch die Erhöhung der Mittel der zuvor unterfinanzierten Migrationsberatung für
Erwachsene sei erwähnt.
Der Bund hilft den Kommunen auf unterschiedliche
Art und Weise, auch wenn es nicht hinreichend ist und
wir weiter daran arbeiten müssen. Aber vieles davon entlastet die Transfersysteme und sorgt für Integration und
Akzeptanz.
Besonders wirkungsvoll ist aber, dass in den Jahren
2015 und 2016 jeweils 500 Millionen Euro bereitgestellt
werden, davon die Hälfte durch den Bund über einen
einmaligen Festbetrag an der Umsatzsteuer. Die weitere
Hälfte wird durch die Länder über einen Zeitraum von
20 Jahren getilgt.
Natürlich muss dieses Geld bei den Kommunen landen. Das ist doch gar keine Frage, Herr Karl. Darauf
komme ich gleich noch zurück. Leider sind aber die Linken mit ihrer reflexartigen Kritik wegen zu geringer Finanzmittel genauso berechenbar wie die Opposition in
meinem Bundesland NRW. Sie kommen zwar nicht aus
Nordrhein-Westfalen, Herr Karl, aber Sie sind genauso
berechenbar. Weil permanent der Eindruck erweckt
wird, als wäre die Situation in Nordrhein-Westfalen etwas anders, will ich Ihnen ein paar Informationen vortragen.
Die Verteilung der Flüchtlinge auf Einrichtungen in
den Bundesländern erfolgt nach dem Königsteiner
Schlüssel. Nordrhein-Westfalen werden 21 Prozent aller
Flüchtlinge zugewiesen. Das sind etwa 40 000 Menschen. Das ist mehr als die Einwohnerzahl der Kommune, in der Sie früher Oberbürgermeister gewesen
sind: Neumarkt hat meines Wissens 38 000 Einwohner.
Das sind also riesige Aufgaben, die bewältigt werden
müssen. Nordrhein-Westfalen erhält 108 Millionen Euro
vom Bund. 54 Millionen Euro davon werden in Nordrhein-Westfalen unmittelbar und ungeschmälert an die
Kommunen weitergeleitet. Die Landespauschale wird
nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz um 40 Millionen
Euro auf 183 Millionen Euro erhöht.
({5})
- Hören Sie gut zu! - Weitere 14 Millionen Euro stehen
für gemeinsame Herausforderungen der Kommunen zur
Verfügung: 3 Millionen Euro für Gesundheitsförderung
sowie zusätzliche Mittel für Weiterbildung und Sprachförderung, zusätzliche Plätze in Ganztagsschulen und
die soziale Arbeit mit traumatisierten Kindern, und
1 Million Euro zusätzlich wird für die Förderung ehrenamtlicher Arbeit zur Verfügung gestellt.
Das Land Nordrhein-Westfalen legt noch 37 Millionen Euro obendrauf, die ganz wesentlich für die ErrichBernhard Daldrup
tung neuer Erstaufnahmeeinrichtungen mit insgesamt
10 000 Plätzen investiert werden. Ich rede über ganz andere Größenordnungen als die, in denen in den anderen
Bundesländern investiert wird. In der Summe werden
also nicht nur die 108 Millionen Euro vom Bund, sondern 145 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Das alles erfolgt in großer Übereinstimmung mit den
kommunalen Spitzenverbänden in Nordrhein-Westfalen. Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage das
deswegen, weil ich glaube, dass die finanzielle Unterstützung der Kommunen für die Unterbringung von
Flüchtlingen kein Feld für Schwarzer-Peter-Spiele unter
demokratischen Parteien sein darf.
({6})
Die Gewinner solcher Debatten stehen jenseits der Demokratie. Die Vorschläge, die im Rahmen der BundLänder-Finanzbeziehungen sowieso verhandelt werden
und zwischen den Kommunen und den Ländern noch
ziemlich umstritten sind, sind an dieser Stelle nicht besonders ideenreich und innovativ. Deswegen glaube ich,
dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt Ihrem Antrag,
meine Damen und Herren von der Linken, nicht zustimmen kann.
Wir sollten ganz gezielt über eine Politik nachdenken,
die Flüchtlingen hilft, zum Beispiel durch einen Rechtsanspruch auf Spracherwerb und Integration in den Arbeitsmarkt, durch die Einführung eines kommunalen
Wahlrechts für Nicht-EU-Bürger oder durch ein Einwanderungsgesetz. Auf die Fakten und die wirtschaftliche
Begründung dafür hat mein Kollege schon hingewiesen.
Wir sollten damit konzeptionell statt populistisch umgehen. Wir Sozialdemokraten sind gerne dazu bereit und
laden Sie dazu ein, daran mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält jetzt der Kollege Ingbert Liebing,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag der Linken
wird der Bogen weit gespannt - das zeigt die Debatte -:
von der Unterbringung von Flüchtlingen über das Asylrecht bis hin zu der allgemeinen Finanzlage der Kommunen. Mir liegt sehr viel daran, dass wir dabei keinen falschen Eindruck erwecken. Wir dürfen die Diskussion
über die Unterbringung von Flüchtlingen nicht allein auf
den finanziellen Aspekt verengen; denn es gibt eine
großartige Bereitschaft in den Kommunen quer durch
ganz Deutschland, Flüchtlinge aufzunehmen.
Ich bin am vergangenen Sonntag in einer kleinen Gemeinde mit 3 000 Einwohnern gewesen, in der eine neue
zentrale Landeseinrichtung für die Unterbringung von
500 Asylbewerbern errichtet werden soll. 500 Asylbewerber auf 3 000 Einwohner, das stellt die Gemeinde
vor eine große Herausforderung. Aber die Gemeinde
sagt Ja zu dieser Einrichtung und will sich darum kümmern. Im Ort bilden sich Initiativen, die die Flüchtlinge
willkommen heißen und freundlich aufnehmen wollen.
Für mich gehört zu diesem Thema auch, solche Leistungen und eine solche Aufnahmebereitschaft zu würdigen
und anzuerkennen. Das möchte ich gerne an den Anfang
meiner Rede stellen. Das, was ich in Boostedt erlebt
habe, war großartig.
({0})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie greifen
mit Ihrem Antrag die Finanzierung der Flüchtlingsunterbringung auf. Das ist sicherlich ein aktuelles Thema.
Aber Ihr Antrag mündet in einem Rundumschlag und
endet mit dem alten Lamento, der Bund müsse alles auf
der kommunalen Ebene finanzieren und alle Probleme
der Kommunen lösen. Das ist natürlich Quatsch und unseriös.
({1})
Es ist unseriös, weil Sie noch nicht einmal sagen, wie
viel die Umsetzung Ihrer Vorschläge kosten soll. Über
welche Dimension reden wir denn? Beim Asylbewerberleistungsgesetz kämen auf den Bund Kosten in Höhe von
etwa 3 Milliarden Euro zu. Bei einer hundertprozentigen
Übernahme der Kosten der Unterkunft von Langzeitarbeitslosen im Bereich des SGB II geht es um einen Betrag von etwa 10 Milliarden Euro. Wir reden hier also
schlankweg über 13 Milliarden Euro. Sie sagen nicht,
wie viel das kostet und wie das finanziert werden soll.
Das alles ist nichts anderes als ein Schnellschuss. Was
Sie machen, ist populistisch und einfach unseriös.
({2})
Unseriös sind auch Ihre Aussagen zu den Kosten der
Unterbringung der Flüchtlinge in den Kommunen. Die
Tinte unter der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, in der wir uns darauf verständigt haben, welche
Leistungen der Bund übernehmen will, um Länder und
Kommunen zu unterstützen, war noch nicht trocken, als
Sie im letzten Dezember Ihren Antrag gestellt und gefordert haben, dass noch mehr kommen müsse. Die 1 Milliarde Euro - dieser Betrag ergibt sich in der Summe in
diesem und im nächsten Jahr -, auf die wir uns verständigt haben, ist eine wichtige Hilfe für die Länder und in
erster Linie für die Kommunen.
Immerhin gibt es drei Bundesländer, die bereits heute
die Kosten der Flüchtlingsunterbringung in den Kommunen komplett tragen. Das sind Bayern, das Saarland und
Mecklenburg-Vorpommern. Es kann kein Zufall sein,
dass in diesen drei Bundesländern drei Innenminister der
CDU und der CSU mit ihrer Zuständigkeit für die
Flüchtlingsunterbringung und für die Kommunen dieses
Thema vorangebracht und genau so geregelt haben.
({3})
Frau Karawanskij, Sie sagen in Ihrem Antrag, der
Bund solle die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz komplett übernehmen. In Bayern zahlt diese
Leistungen komplett das Land. Wenn der Bund diese
Leistungen übernimmt, dann kommt nicht 1 Euro zusätzlich in den bayerischen Kommunen an, sondern Sie
entlasten die bayerische Landeskasse. Ich weiß nicht, ob
das im Interesse Ihres Antrags war, aber solche Folgewirkungen sollte man eigentlich mitberücksichtigen.
({4})
Wichtig ist, was denn eigentlich bei den Kommunen
ankommt; denn im Gegensatz zu den drei Ländern, die
ich eben genannt habe, gibt es andere Länder, die ganz
anders mit dem Thema umgehen. Nordrhein-Westfalen
wurde schon genannt. Wenn wir in diesem und im
nächsten Jahr den Kommunen zweimal 500 Millionen
Euro zusätzlich zur Verfügung stellen, damit sie sich
besser um die Unterbringung von Flüchtlingen kümmern
können, dann entfällt im Falle von Nordrhein-Westfalen
nur die Hälfte auf die Kommunen, die andere Hälfte versickert im Landeshaushalt. Das ist nicht im Sinne der
Vereinbarung, das ist nicht im Sinne des Erfinders gewesen. Das ist ein Missbrauch dieser Mittel und geht zulasten der Kommunen. Das gehört zur Gesamtgeschichte
dazu.
Ich erlebe es in meinem eigenen Bundesland Schleswig-Holstein, wo die Landesregierung bei jedem Thema
schreit: Der Bund muss mehr zahlen. - Hier leistet der
Bund mehr, aber die Landesregierung hat seit November
noch nicht einmal sagen können, was sie denn jetzt mit
dem zusätzlichen Geld des Bundes überhaupt machen
will. Sie hat noch nicht einmal ein Konzept, wie sie
diese zusätzlichen Mittel einsetzen möchte. Auch das ist
alles unseriös.
({5})
Stattdessen, Frau Haßelmann, fordert Ihre Parteifreundin Heinold, Finanzministerin in Schleswig-Holstein,
({6})
in dieser Woche noch einmal mehr Geld, obwohl wir
doch gerade diese Vereinbarung abgeschlossen haben.
Die Vereinbarung besagt ausdrücklich: Für diese zwei
Jahre wird eine angemessene und abschließende
Regelung über die Finanzierung der Flüchtlingskosten
getroffen, und zwar mit dieser zusätzlichen Leistung des
Bundes.
Es ist nicht in Ordnung, dass dann, wenn der Bund
mit den Bundesländern eine Vereinbarung über eine abschließende Regelung trifft, Ländervertreter, in dem Fall
die grüne Finanzministerin, sagen: April, April, daran
halten wir uns nicht. Wir fordern noch einmal etwas
obendrauf. - Eine solche Vorgehensweise ist auch schädlich; denn dadurch wird doch die Bereitschaft auf Bundesebene, auch hier im Hause, reduziert, solche Vereinbarungen zu treffen. Wenn man sich auf Verträge nicht
verlassen kann, dann kann man sie künftig nicht mehr
abschließen. Deswegen ist diese Vorgehensweise so
schädlich.
({7})
In Ihrem Antrag sprechen Sie den Bund an und stellen
Forderungen an den Bund. Ich vermisse darin eine klare
Forderung auch an die Länder. Wenn wir über die Finanzsituation der Kommunen sprechen, dann müssen
wir immer wieder daran erinnern, dass in allererster
Linie die Bundesländer für eine aufgabengerechte und
angemessene Finanzausstattung zuständig sind. Deswegen halte ich es für falsch, dass wir mit solchen Vorschlägen, wie Sie sie hier vorgelegt haben, die Bundesländer noch weiter entlasten und sie aus ihrer
Verantwortung entlassen.
Wir sind freiwillig unserer Verantwortung gerecht geworden und haben viel geleistet. Andere Kollegen haben
darauf schon hingewiesen. Aber bei dem Thema der
Flüchtlingsunterbringung können die Bundesländer viel
und mehr tun als bisher, um den Kommunen zu helfen
und deren Situation gerecht zu werden.
Das wichtigste Thema aus meiner Sicht ist, dass das
Asylrecht auch konsequent umgesetzt wird. Dazu gehört, dass wir diejenigen, die Asylrecht genießen, bei
uns willkommen heißen und uns angemessen und vernünftig um sie kümmern. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber genauso gehört dazu, dass diejenigen, die
diese Fluchtgründe nicht haben, die sich nicht auf das
Asylrecht berufen können, wieder nach Hause zurückgebracht werden. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein,
dass Recht und Gesetz umgesetzt werden.
({8})
Deswegen passen Forderungen wie die nach einem
Wintererlass nicht, wonach bis Ende März nicht abgeschoben werden soll, weil schlechtes Wetter ist und es zu
kalt ist. Das Asylrecht kann nicht der Wetterlage angepasst werden.
({9})
Deswegen sind diese Entscheidungen in Thüringen und
Schleswig-Holstein so falsch. Das verschärft den Problemdruck der Kommunen. Dort werden die jeweiligen
Landesregierungen ihrer Verantwortung nicht gerecht.
Wir leisten das, was wir tun können, und sogar noch
mehr. Wir sind bereit, uns diesem Thema zu stellen, sowohl im Hinblick auf die Finanzlage der Kommunen als
auch im Hinblick auf die Flüchtlingsunterbringung. Wir
können miteinander erwarten, dass die Länder ihren Anteil dazu beitragen. Das gehört zum Gesamtpaket. Das
fehlt im Antrag der Linken. Bei der weiteren Diskussion
werden wir auch darüber intensiv sprechen können.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3573 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch
die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD wünschen Federführung beim Haushaltsaus-
schuss, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
beim Finanzausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke - Federführung beim Finanzaus-
schuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen CDU/CSU und SPD - Federführung beim
Haushaltsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Da-
mit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-
wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Christian Kühn ({0}),
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Feinstaubemissionen aus Baumaschinen
reduzieren
Drucksache 18/3554
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Nicole Maisch, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehrweganteil an Getränkeverpackungen
erhöhen
Drucksache 18/3731
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sevim Dağdelen, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der Ukraine beenden
Drucksache 18/3314
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Innenausschuss ({4})
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem
Özdemir, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären
Drucksache 18/3647
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({5})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen.
Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatzpunkt 4 b. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen dann zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist.
Zusatzpunkt 4 a. Interfraktionell wird Überweisung
des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in der
Ukraine beenden“ auf Drucksache 18/3314 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen
Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke - Federführung beim Innenausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Überweisungsvorschlag der Fraktion Die
Linke ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss - abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der
keine Aussprache vorgesehen ist.
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({0}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Dritte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
Drucksachen 18/3257, 18/3363 Nr. 2, 18/3588
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3588, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/3257 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Griechenlands Zukunft im Euro-Raum
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Diether Dehm.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Jean-Claude Juncker sagte im Dezember
zur Wahl in Griechenland, er sähe in der nächsten griechischen Regierung lieber „vertraute Gesichter“. Dem
PASOK-Vorsitzenden Venizelos huldigte Bundesaußenminister Steinmeier - ich zitiere -:
Aus unserer Sicht käme es darauf an, dass die
Kräfte, die den Fortschritt in Griechenland gesichert haben, in der Lage sind, diesen Weg fortzusetzen.
Wer sind denn diese vertrauten Gesichter? Der
PASOK-Vorsitzende und Minister Venizelos bekam
2010 von der jetzigen IWF-Chefin Lagarde einen USBStick, auf dem die Namen von über 2 000 griechischen
Steuerhinterziehern mit Schweizer Konto standen. Dieses vertraute Gesicht Venizelos ließ den USB-Stick mit
vertrauten Namen zwei Jahre lang in seinem Schreibtisch vergammeln - ein wahrhaft vertrautes Gesicht und
vertraut den Steuerhinterziehern von der Deutschen
Bank, die ihn vertraulich beraten hatten.
({0})
Oder der Regierungschef Samaras von der Nea Dimokratia, der Schwesterpartei der CDU, von dem griechische Abgeordnete hartnäckig behaupten, er habe ihre
Stimme zu kaufen versucht, um bei der - gescheiterten Präsidentenwahl im Dezember seinen rechten Kandidaten durchzubringen - ein vertrautes Gesicht für die Finanzoligarchen!
Inzucht, Korruption und der Staat als Selbstbedienungsladen. Das sind die vertrauten Gesichter der jahrzehntelangen Vetternwirtschaft dieser beiden durch und
durch korrupten Parteien ND und PASOK,
({1})
mit denen die Große Koalition hier übrigens in brüderlicher Hilfe verbunden ist.
Alexis Tsipras hingegen ist die seriöse Stimme
({2})
und das gute neue Gesicht des jungen Griechenland,
({3})
das sich aus dem Schlamassel erhebt, den Sie angerichtet
haben, ein junger Vertreter der ältesten Demokratie, von
der Sie sich in vielen Fragen eine Scheibe abschneiden
können.
({4})
Mittlerweile beruft sich selbst die Welt auf Brüsseler
Stimmen, die einen Schuldenschnitt für Griechenland
wollen. Was sind wir hier, was sind Gregor Gysi, Sahra
Wagenknecht, Dietmar Bartsch verteufelt worden, als
wir schon 2013 einen neuen Schuldenschnitt gefordert
haben?
({5})
Damals waren es noch 94 Prozent der griechischen
Schulden, die in privater Hand waren, in der Hand von
Banken und Großspekulanten; die wären damals betroffen gewesen. Heute sind 88 Prozent der griechischen
Staatsschulden in traurigem Besitz der europäischen
Steuerzahler. Allein für die deutschen Steuerzahler geht
es um rund 75 Milliarden Euro.
({6})
- Melden Sie sich zu Wort! Ich antworte dann gern.
({7})
- Das geht immer! Das geht in diesem Parlament immer!
({8})
Sie verwechseln das mit anderen Parlamenten. - Die
Banker und Steuerhinterzieher bekamen von Frau
Merkel aber erst die Zeit, ihre Schäfchen ins Trockene
und die Schrottpapiere in öffentliche Hand zu bringen.
({9})
Das alte Prinzip wurde wieder einmal wahr: Gewinne
werden privatisiert, Verluste der Allgemeinheit aufgebürdet.
Die vertrauten Gesichter waren von vertrauten Beratern wie Goldman Sachs bei der Euro-Einführung systematisch und mit Lügen beraten worden, bewusst mit LüDr. Diether Dehm
gen beraten worden; sonst wäre es zu der EuroEinführung gar nicht gekommen.
({10})
Die Griechen bezahlen dafür jetzt mit unendlichem
Schmerz. Das Elend habe ich in meiner Rede im Dezember ausführlich dargestellt, zum Beispiel Anstieg der
Zahl der Totgeburten um 21 Prozent und der Kindersterblichkeit um 43 Prozent.
Dagegen will SYRIZA, will Alexis Tsipras, nicht nur
für die Griechen, sondern für das ganze Europa: die Bekämpfung der humanitären Krise im Land, die Reorganisation des Staates - beispielsweise Verminderung der
Zahl der Ministerposten von 18 auf 10 -, die Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung - übrigens, bei Steuerhinterziehung war die Troika immer sehr
lax und sehr flexibel, während sie bei den sozialen Kürzungen immer eisern und unerbittlich war -, die Wiederbelebung der Wirtschaft und die Stärkung der Arbeitnehmerrechte.
({11})
Sie haben die Chance, Ihre Fehler wiedergutzumachen, wenn Alexis Tsipras am 25. Januar zum Ministerpräsidenten gewählt werden wird.
({12})
Dann sinnen Sie nicht auf Rache, sondern helfen Sie!
Dann tricksen Sie nicht, auch wenn Ihnen das Ergebnis
nicht gefallen sollte! Dann werfen Sie Alexis Tsipras
und seinem Linksbündnis nicht Knüppel zwischen die
Beine, sondern akzeptieren Sie das demokratische Votum des griechischen Volkes!
({13})
Auch wir haben die Wahl: Troika oder Menschenrechte, Troika oder wirtschaftliche Vernunft.
({14})
Es gilt, Demokratie und Sozialstaatlichkeit wieder zu ertüchtigen.
({15})
Es gilt, einer Deflation entgegenzuwirken. Es gilt, eine
langanhaltende Rezession zu verhindern, die ganz Europa in den Schlund ziehen kann.
({16})
Ein Neuanfang in Griechenland ist eine Chance für
Europa zum Umdenken.
Herr Kollege Dehm, jetzt müssen Sie bitte zum
Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Solidarität mit Griechenland und einem sozialen Aufbruch mit Alexis Tsipras ist
darum Solidarität mit den Menschen auch bei uns und in
ganz Europa.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 25. Januar finden in Griechenland Parlamentswahlen statt.
({0})
Das Ergebnis ist offen, und wir als Bundesregierung beteiligen uns nicht an Spekulationen, wie eine solche
Wahl ausgeht.
({1})
Während der Kollege Dehm eben versucht hat, hier
am Pult den griechischen Wahlkampf zu führen,
({2})
werden wir als Bundesregierung uns am Wahlkampf in
Griechenland nicht beteiligen.
({3})
Wir haben 2012, als während des ersten und vor Beginn des zweiten Hilfsprogramms für Griechenland eine
Parlamentswahl in Griechenland stattgefunden hat, den
griechischen Wahlkampf zur Kenntnis genommen, haben das Ergebnis zur Kenntnis genommen und haben mit
den Verantwortlichen die notwendigen Schritte hinsichtlich der Reformprogramme besprochen. Auch damals
haben wir keine Empfehlungen im Wahlkampf und zu
Entscheidungen der griechischen Innenpolitik gegeben.
Den Respekt, den wir vor drei Jahren gelebt haben, den
leben wir auch jetzt.
({4})
Insofern ist die Haltung der Bundesregierung, Herr
Dehm, unverändert.
({5})
Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zu
nachhaltigem Wachstum zu kommen.
({6})
Wir unterstützen Griechenland bei dem Bemühen, zu
nachhaltiger, dauerhafter Beschäftigung von Menschen
zu kommen.
({7})
Wir unterstützen Griechenland dabei, zu nachhaltig tragfähigen Staatsfinanzen zu kommen.
({8})
Diese Haltung, die wir jetzt seit mehr als vier Jahren einnehmen, werden wir unabhängig vom Wahlausgang in
Griechenland auch nach diesen Wahlen und einer entsprechenden Regierungsbildung einnehmen.
({9})
Was ist das Problem? Das Problem ist, dass in Griechenland zweifellos an den Stellen, die ich eben genannt
habe, strukturelle Veränderungen notwendig waren und
sind
({10})
und dass wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Kapitalmärkte Griechenland die Zeit, die notwendig war,
um diese Reformen durchzuführen, nicht gegeben haben. Da haben wir uns in großer europäischer Solidarität
dazu entschlossen, Griechenland im Rahmen des ersten
und des laufenden zweiten Hilfsprogramms die Zeit für
die notwendigen Reformen zu geben.
Wir leben in Europa in einer Verantwortungsgemeinschaft. Wir leben die Verantwortung, indem wir die beiden Hilfsprogramme angeboten und zur Verfügung
gestellt haben. Und die Griechen leben in der Verantwortung, die vereinbarten notwendigen Strukturreformen
entsprechend zur Umsetzung zu bringen. An dieser
Stelle will ich darauf hinweisen, dass die Gültigkeit von
Verträgen, die wir schließen, hier Verträge der griechischen Regierung mit der Troika, nicht davon abhängt,
welche Personen der Regierung angehören, sondern die
Verträge, die geschlossen wurden, gelten unabhängig
von Regierungsbeteiligungen,
({11})
von Personen und Parteien. Deshalb unterstellen wir,
dass, ganz gleich, wie die Wahl ausgeht und wie die Regierungsbildung ausgeht, die Verträge, die wir geschlossen haben, weiter gelten werden.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Griechenland hat
die Zeit seit 2010 genutzt. Wir können deutliche Erfolge
sehen. Nach sechs Jahren Rezession haben wir in Griechenland 2014 zum ersten Mal ein realwirtschaftliches
Wachstum von 0,6 Prozent gesehen. Und wenn die Vorhersagen eintreten, wird Griechenland im laufenden Jahr
eine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften innerhalb der Euro-Zone sein. Es wird ein Wachstum der
griechischen Volkswirtschaft von nahezu 3 Prozent vorausgesagt. Das ist eine positive Wende.
({13})
Wir hatten in Griechenland ein Staatsdefizit von
15 Prozent bezogen auf das Jahr 2009. Wir finden im
Jahr 2014 ein Staatsdefizit, das unter 3 Prozent liegt. Das
heißt, Griechenland gehört mittlerweile zu den Ländern,
die 2014 das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent eingehalten haben; eine sehr positive Entwicklung. Aber dieser Rückgang ist nicht hinreichend, sondern er bedeutet,
dass man weiter vorangehen muss und weiter konsolidieren muss.
Wir hatten in Griechenland in den vergangenen Jahren einen Abbau von Beschäftigung. Aber auch dies hat
sich im Jahr 2014 verändert. Wir haben 2014 in Griechenland zum ersten Mal seit Beginn der Programme
wieder einen Aufbau der Beschäftigung. Es ist prognostiziert, dass auch in diesem Jahr dieser Beschäftigungsaufbau mit mehr Schwung weitergeht. Wir gehen davon
aus, dass wir Ende 2015 etwa 2,5 Prozent mehr Menschen in Beschäftigung haben werden als zu Beginn des
Jahres.
({14})
Dementsprechend reduzieren sich die Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland ist zwar auf
einem sehr hohen Niveau. Aber wir sehen eine Trendwende. Die Arbeitslosenzahlen in Griechenland gehen
zurück. Genau das wollen wir erreichen. Wir sind sicher,
dass die Arbeitslosigkeit weiter zurückgehen wird. Auch
bei den Einkommen haben wir eine Trendwende. Nachdem mehrere Jahre lang die Einkommen zurückgegangen sind, haben sie sich mittlerweile stabilisiert. Die Einkommen der Menschen beginnen wieder zu steigen.
({15})
In genau dieser Situation findet jetzt die Wahl statt.
Bei dieser Frage geht es um etwas ganz Einfaches. Herr
Dehm, mich treibt nicht die Frage um, ob in der nächsten
Regierung Kommunisten sitzen, sondern die Frage:
Wird der Erfolgsweg, der in Griechenland in den vergangenen fünf Jahren eingeschlagen wurde - wie ich eben
dargestellt habe: mit sehr viel Erfolg -, von einer Reformregierung weitergeführt,
({16})
oder wird dieser Erfolgsweg abgebrochen, sodass all die
Mühen, die die Menschen in Griechenland auf sich genommen haben, umsonst waren? Das ist die Frage, die
jetzt beantwortet werden muss.
({17})
Über diese Frage werden wir mit der künftigen griechischen Regierung in Ruhe sprechen.
({18})
Herr Dehm, Sie haben die Themen Schuldenstand
und Schuldenschnitt angesprochen. Ich will Sie darauf
hinweisen, dass Sie sich offenkundig mit dieser Sache
relativ wenig beschäftigt haben. Die Tilgungszahlungen
für Griechenland sind - je nachdem, ob Sie auf das erste
oder zweite Hilfsprogramm schauen - bis 2020 bzw.
2023 ausgesetzt. Das heißt, die Frage der Schuldenbedienung stellt sich für Griechenland in den nächsten Jahren überhaupt nicht.
({19})
Deshalb ist der Schuldenstand für die Frage, wie es in
Griechenland weitergeht, momentan vollkommen irrelevant.
({20})
Wir sollten aber keine irrelevante Frage diskutieren, sondern wir sollten uns auf die entscheidenden relevanten
Fragen konzentrieren und darauf Antworten geben. Aber
weil Sie das nicht wollen, weichen Sie auf Felder aus,
die überhaupt keine Relevanz haben.
({21})
Meine Damen und Herren, das zweite GriechenlandProgramm wäre am 31. Dezember 2014 ausgelaufen.
Griechenland hat den Antrag gestellt, dieses Programm
um zwei Monate zu verlängern, bis Ende Februar 2015.
Der Deutsche Bundestag hat am 18. Dezember vergangenen Jahres zugestimmt. Wir halten uns genau an dieses Programm. Wenn das Programm zu Ende ist, dann
wird die neue griechische Regierung entscheiden müssen, ob sie einen neuen Antrag stellt: entweder eine zeitliche Ausdehnung des bestehenden Programms oder
möglicherweise ein neues Programm. Das ist aber keine
Entscheidung, die der Deutsche Bundestag, die Europäische Kommission oder wer auch immer zu treffen hat,
sondern es ist eine Entscheidung, die die griechische Regierung zu treffen hat. Wenn die griechische Regierung
ihre Entscheidung getroffen hat, dann wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag über den Antrag,
sofern er gestellt wurde, informieren.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, dass
jede griechische Regierung mit dieser Fragestellung seriös umgehen wird; denn in dem Moment, in dem man
Verantwortung hat, trägt man nicht nur Verantwortung
für das, was man sagt, sondern auch für das, was aus
dem Handeln bzw. Nichthandeln folgt.
Ich habe vorhin gesagt, dass wir Verantwortung für
Griechenland gelebt haben. Die Griechen müssen Verantwortung für sich leben. Das heißt im Klartext: Als wir
Hilfe und damit mehr Zeit gewährt haben - ganz gleich,
ob im Rahmen des ersten oder des zweiten Programms -,
war für uns immer klar, dass diese Zeit genutzt werden
muss, um Probleme zu lösen. Deshalb wird es keine Programme geben, die nicht dazu beitragen, dass die Probleme eines Landes, das Hilfsprogramme benötigt - in
diesem Fall Griechenland -, auch gelöst werden.
In diesem Geist sollten wir diskutieren. In diesem
Geiste sollten wir das, was wir in Europa positiv erreicht
haben, weiterführen.
Danke schön, meine Damen und Herren.
({22})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unglücklich ist das Land, über dessen Innenpolitik so intensiv in Deutschland diskutiert werden
muss, könnte man vielleicht sagen. Wir haben jetzt zwei
Reden gehört, in denen versucht wurde, die griechische
Lage zu beschreiben und vielleicht an der einen oder anderen Stelle politisches Kapital daraus zu schlagen. Keiner der beiden Redner hat das eigentliche Thema der Aktuellen Stunde genannt, nämlich: Griechenland hat eine
Zukunft im Euro-Raum. - Punkt.
({0})
Jetzt könnte man sich schon fragen, warum dies eigentlich weder Herr Dehm, der hier der größte Freund der
Griechen ist - Diether, du bist ein guter Freund von Alexis Tsipras;
({1})
das ist okay, er ist ein netter Kerl -, noch der Vertreter
der Bundesregierung gesagt haben.
Um es ein bisschen zuzuspitzen: Sie haben es versäumt, nach Veröffentlichung der Spiegel-Meldung am
Sonntag mit einem eindeutigen Dementi klarzustellen,
dass Griechenland im Euro-Raum bleibt,
({2})
und haben die Debatte tagelang weiterlaufen lassen und
damit die Gespenster der Vergangenheit beschworen.
({3})
Da können Sie über Tsipras und Diether Dehm reden, so
viel Sie wollen. Der Unterschied zwischen Ihnen und
Diether Dehm ist: Ihnen glauben die Märkte noch.
({4})
Wie können Sie es überhaupt verantworten, nach fünf
Jahren dieser unsäglichen Austrittsdebatte nichts dazu zu
sagen? Sie haben gesagt: Wenn man nichts tut, ist man
mitverantwortlich. - Ihr Schweigen war meiner Ansicht
nach unverantwortlich.
({5})
Jetzt muss man auch mal sagen: Ich weiß gar nicht,
wer dieser Meldung im Spiegel eigentlich geglaubt hat.
Ich glaube, ihr von der Linken seid nicht so doof, dass
ihr der Meldung geglaubt habt.
({6})
Alle gehen dann raus und kommentieren es irgendwie;
es laufen Hinterbänkler von der Union herum, und dann
kommen wieder alle möglichen Debatten.
Wir haben Griechenland in den letzten Jahren ungefähr 250 Milliarden Euro geliehen. Glaubt irgendjemand, dass sich Merkel und Schäuble, wenige Wochen bevor die letzte Tranche von ungefähr 1,5 Milliarden Euro
ausgezahlt werden soll, plötzlich überlegen: „Jetzt machen wir es doch ganz anders“? So hirnverbrannt kann
doch nicht mal eine Große Koalition agieren.
({7})
Man muss aber auch sagen: Die große Koalition der
Freunde Griechenlands besteht nicht aus der Linkspartei
und der CDU/CSU. Ich weiß, dass ihr von der Linken
euch in dieser Hinsicht mit manchen CSU-lern sehr einig
seid; aber das ist dann Gauweiler und nicht Fuchtel.
({8})
Um es klarzustellen: Ich werde niemals vergessen,
wie Gregor Gysi in der mündlichen Verhandlung über
die Griechenland-Hilfe vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gesagt hat: Kein weiteres deutsches
Geld nach Griechenland! - Das war eine deutsche Debatte, die ihr dort geführt habt, und keine europäische.
Da hilft es auch nicht, eine solche Aktuelle Stunde zu
verlangen.
({9})
Diether, weil ich schon geahnt habe, dass an dieser
Stelle die CDU/CSU klatschen wird: Ich werde ebenso
niemals vergessen, wie die unsägliche Geschichte zustande kam, als die Bild-Zeitung irgendwo anrief und irgendjemanden suchte, der das mit dem Kauf der griechischen Inseln forderte. Wer war sich nicht doof genug,
das zu fordern? Das waren damals Abgeordnete von der
FDP und der Mittelstandsbeauftragte der CDU/CSU. Sie
sind bei diesem Thema mit der Linkspartei in einem
Boot,
({10})
weil Sie keine Stabilität beim Thema Griechenland an
den Tag legen.
({11})
Es gibt in diesem Haus eine Fraktion, der bewusst ist,
dass das Wichtigste, was Griechenland braucht, Stabilität ist. Diese Fraktion hat seit 2009 immer gesagt: Griechenland bleibt im Euro, weil wir es wollen, und wenn
es ein bisschen kostet, dann kostet es ein bisschen; wenn
es ein bisschen mehr kostet, kostet es ein bisschen mehr.
Dieser Überzeugung waren nicht die Linkspartei und die
CDU/CSU, sondern die Grünen - sie sind die Freunde
Griechenlands. So ist das nämlich!
({12})
- Die SPD hat dann auch mitgemacht.
({13})
Jeder weiß, dass in Griechenland viele Fehler passiert
sind; ich möchte das ausdrücklich sagen. Der IWF
würde niemals behaupten, er hätte alles richtig gemacht.
Die Troika würde niemals behaupten, sie hätte alles richtig gemacht.
({14})
Ich rede in Athen auch mit Leuten vom IWF und in
Brüssel mit Leuten, die sagen, dass unterschiedliche Sachen falsch gemacht wurden. Sie würden nicht sagen:
Nur wir haben alles falsch gemacht. Sie würden sagen:
Auch Herr Samaras und Herr Papandreou haben Fehler
gemacht. - Meiner Ansicht nach waren die Grünen nie
relevant genug. Aber wenn die Grünen im politischen
System Griechenlands ebenso wichtig gewesen wären,
dann würde ich sagen, auch sie hätten Fehler gemacht.
Genauso muss man sagen, dass Herr Tsipras ein Kind
seines gesellschaftlichen Systems ist. Er ist kein
Schreckgespenst, Diether. Es könnte sich jedoch früher
oder später herausstellen, dass er im Gegensatz zu euch
ein Realpolitiker ist, und dann werdet ihr, so wie ihr es
gerade gegenüber anderen getan habt, auch Herrn Tsipras beschimpfen.
({15})
Ich bin fest davon überzeugt, dass es zwischen Ankündigungen und Wahrheit eine entscheidende Variable gibt,
und das ist die Handlungsfähigkeit, die man verändern
kann.
({16})
Deswegen ist es wichtig, dass wir Griechenland, egal
welche Regierung an die Macht kommt, auf seinem Weg
begleiten, um Fehler im Bereich Soziales, aber auch in
anderen Bereichen wie Korruption und Staatswesen zu
korrigieren. Das dürfen wir nicht durch Debatten über
einen Austritt gefährden. Das wird Griechenland niemals helfen. Wir sollten auf die Nachhaltigkeit in unseren Handlungen im sozialen und im ökologischen Sinne
achten. Dafür müssen wir gemeinsam einstehen.
Danke.
({17})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion.
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben jetzt drei Wortmeldungen gehört, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: zum
einen die haltlose, manchmal dümmliche Polemik von
der Linken, wie man sie halt kennt, dann den Sachvortrag der Bundesregierung, in dem die Fakten darstellt
wurden,
({0})
und schließlich den Beitrag von den Grünen, in dem
deutlich wurde, dass in diesem Hause Konsens darüber
besteht, dass Griechenland eine Zukunft im Euro-Raum
hat. Dafür haben der Bundestag und die Bundesregierung in all den unterschiedlichen Facetten, die ich seit
1998 kenne, immer gestanden.
Natürlich hätte man einige Meldungen im Spiegel dementieren können. Natürlich kann man dem einen oder
anderen vorwerfen, dass er einen Fehler gemacht hat. Da
in unserem Land häufig gefragt wird: „Warum geben wir
den Griechen immer wieder Geld?“, muss man in dieser
Debatte darauf verweisen, dass in diesem Hause, von der
SPD über die Grünen bis zur CDU/CSU, Konsens darüber besteht, dass wir den Griechen helfen wollen
({1})
und dass wir wollen, dass Griechenland eine Zukunft im
Euro-Raum hat. Das sind wir Europa und den Griechen
schuldig. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite der Medaille ist, dass die Griechen
natürlich ihren Teil dazu beitragen müssen, dass sie eine
Zukunft im Euro-Raum haben. Es muss deutlich werden,
dass das Vertrauen, das die Europäische Union, die Bundesrepublik Deutschland, der IWF und insbesondere die
deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Griechenland setzen, auch gerechtfertigt ist. Es gibt immer
zwei Seiten einer Medaille; das ist nun einmal so.
({2})
Wir können jetzt lange darüber philosophieren, warum die Griechen in diese Situation hineingeschlittert
sind. So etwas passiert ja nicht in drei Jahren, sondern
daran waren sehr viele griechische Regierungen unterschiedlichster Art beteiligt.
({3})
Das Ganze ist über Jahrzehnte gewachsen. Da ist auch
viel Misswirtschaft entstanden. Ich glaube, man muss
immer wieder dafür werben und dafür kämpfen, dass
sich die Situation ändert. Denn wir alle haben ein Interesse daran, dass die Griechen alleine und vernünftig
klarkommen, damit sie nicht immer auf ausländische
Hilfe angewiesen sind; schön finden die das auch nicht.
Deswegen ist es gut, wenn Griechenland die griechische
Zukunft allein bestimmen kann. Dabei sollten wir ihnen
helfen.
Nicht gut ist allerdings, Herr Dehm, dass Sie sich in
der heutigen Diskussion, in der wir alle gemeinschaftlich
für eine Zukunft Griechenlands im Euro-Raum werben,
hierhinstellen und stumpf griechischen Wahlkampf machen. Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wer in Griechenland die Wahl gewinnt. Ich werde es auch nicht entscheiden.
({4})
- Wer meine Leute sind, das können Sie sowieso nicht
beurteilen.
({5})
Ich bin mir ganz sicher, dass die Leute, die Sie gerade
bejubeln, nicht Ihre Leute sind; denn die finden Sie auch
peinlich. Im wahren Leben wissen die, dass Sie es nicht
können.
({6})
Wenn man sich das dann in der Sache anschaut, stellt
man fest, dass sich der griechische Oppositionsführer in
den letzten Wochen und Monaten sehr stark geändert
hat. Er hat Dinge erzählt, die Ihnen hier nicht über die
Lippen kommen würden.
({7})
Er weiß nämlich auch: Wenn er die Chance hat, diese
Wahl zu gewinnen, dann wird er sehr vernünftig sein
müssen. Noch einmal: Ich entscheide am Ende nicht,
wer in Griechenland die Wahl gewinnt. Ich will es auch
gar nicht entscheiden. Das sollen die Griechen entscheiden,
({8})
ohne Hilfe von Herrn Dehm und ohne billige Polemik.
Das ist eine rein griechische Entscheidung.
Dann werden die Griechen eine Regierungsbildung
vornehmen. Auch das ist hervorragend so und wird von
uns nicht beeinflusst. Dann wird die griechische Regierung, wie auch immer sie zusammengesetzt sein wird,
entscheiden, was sie tun will. Das nennt man, Herr
Dehm, Demokratie.
({9})
Damit haben Sie aber ein Problem; das weiß ich.
({10})
Aber das macht überhaupt nichts. Und wenn die griechische Regierung eine Entscheidung trifft und sagt, sie
würde gerne mit der Europäischen Union diesen Weg
gemeinsam weitergehen, dann wird man mit ihr darüber
reden müssen.
({11})
Natürlich wird man ihr auch sagen, dass die alte griechische Regierung Verträge geschlossen hat, und zwar
für Griechenland. Daran wird sich auch eine neue Regierung halten. Das ist auch gut so. Dann wird man diese
Diskussion führen. Das Schöne an Deutschland ist:
Diese Diskussion führt nicht nur die Regierung - so gut
das alles war, was Herr Meister gesagt hat -, sondern
diese Diskussion wird auch im Deutschen Bundestag geführt, und zwar genau dann, wenn es an der Zeit ist, und
nicht, wenn die Linkspartei eine Aktuelle Stunde beantragt hat.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Bartholomäus
Kalb, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Zukunft Griechenlands liegt im EuroRaum; darüber sind wir uns einig. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich das unterstreichen, was
der Kollege Sarrazin hier gesagt hat. Ich sage das wohlbegründet und mit Überzeugung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
mich zunächst gefragt, warum die Linke diese Aktuelle
Stunde beantragt hat. Sie war doch so besorgt, dass der
Spiegel-Artikel in diesem Zusammenhang und die Vorgänge danach Einfluss auf die Wahlen in Griechenland
haben könnten. Es war Ihnen zunächst ja peinlich, hier
über all diese Themen zu sprechen. Wenn man nicht darüber reden sollte, was ursprünglich Ihre Intention war,
dann hätte man sagen müssen: Antrag auf Beendigung
der Debatte. - Ich würde mich hinsetzen, und dann wäre
die Sache erledigt.
Jetzt habe ich aber bei der Rede des Herrn Dehm gelernt, dass er hier seinerseits in ungeahnter Weise Wahlkampf für seine politische Richtung machen wollte. Das
ist ein Vorgang, den ich bisher im Deutschen Bundestag
noch nicht erlebt habe.
({0})
Unabhängig davon sage ich, dass wir mit dem Thema,
das in dem Artikel, der diese Diskussion ausgelöst hat,
angesprochen worden ist, sehr vorsichtig umgehen sollten. Wir dürfen nicht leichtfertig Diskussionen führen,
ob ein Land Mitglied oder nicht Mitglied in der EuroZone sein soll. Was ich in diesem Zusammenhang
meine, habe ich zu Beginn gesagt.
Wir haben unabhängig von der Mitgliedschaft Griechenlands in der Euro-Zone für Griechenland eine Verantwortung, weil Griechenland Mitglied der Europäischen Union ist. Auch wenn ein anderer Schritt
gegangen würde, wäre das nicht ohne Konsequenzen
und ohne Folgen für uns.
({1})
Ein ganz wichtiger Punkt ist Verlässlichkeit. Ich
glaube, wir dürfen feststellen - viele haben das schon
festgestellt -, dass sich Griechenland bisher immer auf
unsere Solidarität und die der gesamten Euro-Zone verlassen konnte; die beiden Hilfsprogramme für Griechenland und die Anstrengungen der Bundesrepublik
Deutschland sind ja dargestellt worden.
({2})
Der Herr Staatssekretär hat es sehr deutlich gemacht:
Es gibt momentan keinen Grund, über einen Schuldenschnitt oder sonstige Schritte zu diskutieren, weil wir
Griechenland, was die Zinsbedienung und die Tilgung
angeht, sehr weit entgegengekommen sind, sodass sich
diese Frage im Moment gar nicht stellt.
Aber Verlässlichkeit hat natürlich nicht nur eine, sondern zwei Seiten. Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Verlässlichkeit bedeutet auch, dass internationale Verträge, die ein Land durch seine legitimen Vertreter geschlossen hat, von deren Nachfolgern eingehalten werden müssen. Ich gehe davon aus, dass Griechenland auch
in Zukunft Vertragstreue an den Tag legen wird.
Ich glaube, das ist im ureigensten Interesse Griechenlands; denn die Griechen - der Herr Staatssekretär hat
das eindrucksvoll dargestellt - haben viel unternommen.
Das griechische Volk hat Opfer bringen müssen, hat Einschnitte hinnehmen müssen. Das war ja alles nicht so
ganz einfach und nicht so ganz leicht. Insofern wäre es
sehr schade, wenn die Erfolge, die erreicht worden sind
- von der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit über die
Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und die Rückgewinnung der Wirtschaftskraft bis hin zur Haushaltskonsolidierung; dies alles wurde schon dargestellt -, zunichtegemacht würden, wenn dieser hoffnungsvolle
Prozess gestört würde. Ich meine, es liegt im beiderseitigen Interesse, in unserem Interesse bzw. dem der EuroZone und im Interesse der griechischen Bürger, dass der
eingeschlagene Weg, der richtig ist, weitergeführt wird.
Wir werden auch in Zukunft die dafür notwendige Solidarität aufbringen.
({3})
Man sieht ja auch, dass diese schwierigen Reformprozesse, die zunächst als bittere Medizin empfunden
werden, durchaus Erfolge zeitigen. Wir haben das bei Irland, Spanien und Portugal gesehen. Warum sollen diese
Reformen nicht auch in Griechenland letztlich zu für uns
alle nutzbringenden Ergebnissen führen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich
steht ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone überhaupt nicht zur Debatte. Ein solcher Austritt würde nach
meiner Überzeugung die Probleme in Griechenland nur
verschärfen. Daran kann es keinen Zweifel geben; ich
glaube, ich habe das hinreichend dargelegt. Der Erhalt
der vollständigen Euro-Zone scheint in unser aller Interesse zu liegen, im Interesse der gesamten Euro-Zone
und im Interesse der gesamten Europäischen Union.
Auch daran kann es keinen Zweifel geben.
Wir haben heute natürlich eine etwas günstigere Situation als mitten in der Finanzkrise, weil sich die europäischen Institutionen weiterentwickelt haben, weil wir
auch hier Reformen durchgeführt haben, weil wir uns
gegen Krisen stärker gewappnet haben.
Herr Kollege Kalb, es wäre jetzt in unserem Interesse,
wenn die Redezeit eingehalten würde.
Ja. - Der Euro ist das sichtbarste Symbol der europäischen Einigung und ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung des Wohlstands der Menschen in allen beteiligten
Staaten.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Als Nächster hat das Wort Andrej
Hunko, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Sarrazin, ja, Griechenland hat eine Zukunft im EuroRaum. Das sagt auch die Linke ganz klar. Aber wir sagen auch ganz klar:
({0})
Griechenland hat keine Zukunft unter dieser TroikaPolitik, die dieses Land in den Abgrund gestürzt hat.
({1})
Ich will daran erinnern, dass wir seit fünf Jahren darüber diskutieren und wir von Anfang an gesagt haben:
Diese Programme, die Griechenland aufgezwungen werden, sind unsozial, undemokratisch und ökonomisch
kontraproduktiv.
({2})
Ich glaube, dass die Entwicklung der letzten fünf Jahre
diese Einschätzung bestätigt hat. Das sind die Gründe,
warum wir diese Programme abgelehnt haben. Wir
haben sie natürlich auch abgelehnt, weil ein Großteil der
sogenannten Hilfsgelder nicht der griechischen Bevölkerung zugutekamen, sondern zu über 80 Prozent in die
Finanzmärkte geflossen sind.
({3})
Diese Reformen waren unsozial. Ich will das, auch
wenn wir schon viele Beispiele dafür vorgetragen haben,
belegen und aus der Welt - Springer-Presse - vom
28. Dezember 2014 zitieren. Dieser Artikel stützt sich
auf einen Bericht von über 160 Menschenrechtsorganisationen, der kurz vor Weihnachten veröffentlicht
wurde. Ich zitiere:
Es steht mehr als schlecht um sein Land,
- Griechenland wie ein aktueller Bericht der FIDH, eines internationalen Dachverbands von 178 Menschenrechtsorganisationen, dokumentiert.
({4})
Die Autoren ziehen eine erschreckende Bilanz der
Rettungspolitik der Troika aus Europäischer Zentralbank ({5}), EU-Kommission und IWF. Seit
dem Ausbruch der Krise wurden demnach nicht nur
Pensionen und Einkommen um teilweise 50 Prozent gekürzt, sondern Millionen Menschen ihrer
Existenz beraubt. „Die entsetzlichen Auswirkungen, die die Krise nicht nur auf die Wirtschaft,
sondern auch auf die Demokratie und die Menschenrechte hatte, können nicht mehr geleugnet
werden“, schreiben die FIDH-Autoren. „Wir werden Zeugen eines Übergangs in einen Zustand, bei
dem elementare Grundrechte und der Rechtsstaat
herausgefordert und abgebaut werden.“
Noch immer seien 28 Prozent der Griechen arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit liege bei 61 Prozent.
Seit dem Ausbruch der Krise hätten 180 000 Kleinunternehmen schließen müssen … Laut inoffiziellen Quellen sind 2,5 Millionen Bürger ohne Krankenversicherung.
- Bei 10 Millionen Einwohnern. Auch das hat gravierende Folgen: Binnen eines halben Jahres stieg die HIV-Infektionsrate um 52 Prozent, 62 Menschen starben an dem wieder aufgetauchten West-Nil-Virus. Seit dem Ausbruch der
Krise hat sich die Selbstmordrate verdoppelt.
So weit Die Welt vom 28. Dezember 2014.
Das ist der Scherbenhaufen der bisherigen Griechenland-Politik, und das muss neu justiert werden.
({6})
Viele internationale Organisationen und Parlamente
haben in der Zwischenzeit diese Troika-Politik kritisiert,
die maßgeblich von der deutschen Politik mitgeprägt
wurde. Ich erinnere an die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Juni 2012. Auch das Europäische Parlament hat im vergangenen Jahr eine Resolution
verabschiedet, in der es zum Beispiel heißt, dass das
Mandat der Troika als „unklar, intransparent und einer
demokratischen Kontrolle entbehrend wahrgenommen“
werde.
({7})
Weiter heißt es, es stehe außerhalb des europäischen
Rechts. Die Kürzungen hätten negative Auswirkungen
auf die Wirtschaftspolitik.
Herr Dr. Meister, Sie sprechen von einer positiven
Entwicklung, von einem Erfolgsweg. Die Wirtschaft in
Griechenland ist jedoch um über 25 Prozent eingebrochen. Die sozialen Folgen habe ich eben benannt. Es ist
doch blanker Zynismus, wenn man dann von einer positiven Entwicklung und von einem Erfolgsweg spricht.
({8})
Die Wahlen in Griechenland bieten die Chance auf einen Umschwung dieser Politik nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa. Es gibt in Griechenland
den Spruch: Anatropi stin Ellada, minima stin Europi.
Zu Deutsch: Der Umschwung in Griechenland ist ein
Zeichen für Europa.
Wenn man sich einmal die Debatte anschaut, die in
anderen europäischen Ländern und auf internationaler
Ebene geführt wird, zum Beispiel in der New York
Times, dann stellt man fest, dass gesagt wird, dass in Europa ein anderer Weg mit Blick auf die Wirtschafts- und
Finanzpolitik notwendig ist.
({9})
Europa steht am Rande einer Rezession und ist schon in
eine Deflation hineingeschlittert. Das kann langwierige
Folgen und weitere Rezessionen nach sich ziehen. Deshalb muss dringend umgesteuert werden. Der mögliche
Wahlsieg von SYRIZA kann ein Auftakt sein und eine
politische Diskussion auch in anderen europäischen Ländern befördern. Es ist dringend notwendig, dass wir europaweit umsteuern, weil die bisherige Wirtschafts- und
Finanzpolitik die gesamte Euro-Zone in die Krise geführt hat.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort Michael
Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf der Zuschauertribüne begrüße ich den neuen griechischen Botschafter, Panos Kalogeropoulos. Herzlich
willkommen! Wir freuen uns, dass Sie dieser Debatte
beiwohnen.
({0})
Wir alle in Europa haben Griechenland viel zu verdanken. Deutschland und Griechenland sind seit vielen
Jahrzehnten enge Freunde und Partner. Griechinnen und
Griechen haben in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Sie kamen als sogenannte Gastarbeiter zu uns oder
flüchteten vor einer furchtbaren Militärdiktatur. Diese
Griechinnen und Griechen machen unser Land reicher.
Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern mit griechischen Wurzeln verbinden uns mit dem Heimatland
der Demokratie.
Im Bundestag und in der Regierung gibt es viele, denen die deutsch-griechischen Beziehungen ein ganz besonderes Herzensanliegen sind. Ich selbst habe in dem
knappen Jahr meiner Amtszeit als Staatsminister für Europa viele Male Griechenland besucht. Ich weiß, dass es
viele Abgeordnete und viele Regierungsvertreter gibt,
die intensiven Kontakt zu den Griechen pflegen. Mir wie
auch vielen anderen war es immer wichtig, damit ein
Zeichen zu setzen: Deutschland steht fest und solidarisch
an der Seite Griechenlands, gerade auch in diesen
schweren Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Krise,
die das Land durchlebt.
({1})
Dass Wahlen in unseren EU-Partnerländern Interesse
und Aufsehen hervorrufen, belegt doch eines: Ja, es gibt
eben doch eine europäische Öffentlichkeit. Der Ausgang
von Wahlen in Frankreich, in Slowenien oder auch in
Griechenland ist für uns in Deutschland mindestens
ebenso bedeutsam wie Wahlen in unseren Bundesländern. Es ist also gut, dass wir unseren Blick auch nach
Athen, nach Thessaloniki oder nach Syros richten. Aber
es gilt eben auch: Parlamentswahlen und auch vorgezogene Wahlen sind in der EU ein völlig normaler demokratischer Vorgang.
({2})
Daher rate ich uns allen zu ein bisschen mehr Gelassenheit und auch Vertrauen im Vorfeld der Wahlen. Denn
am 25. Januar haben die Griechinnen und Griechen das
Wort. Wir sollten uns von Deutschland aus nicht in den
griechischen Wahlkampf einmischen, auch nicht mit
aufgeregten Debatten über Schreckensszenarien. Wir
sollten uns auch hier im Deutschen Bundestag davor hüten, bereits im Vorfeld von Wahlen, bevor auch nur ein
einziger Stimmzettel in einer Wahlurne liegt, Analysen
vorzunehmen.
Ganz im Gegenteil: Jetzt sollte für uns im Vordergrund stehen: Wie können wir Griechenland ermutigen,
den eingeschlagenen Weg der Reformen entschlossen
weiterzugehen? Wie können wir den Menschen etwaige
Ängste vor Reformen nehmen? Wir alle wissen, egal wo
wir politisch stehen: Es gibt noch sehr viel zu tun. Die
griechische Wirtschaft muss wieder flottgemacht werden. Der Staat muss modernisiert werden. Strukturreformen müssen konsequent durchgeführt werden. Dabei
Michael Roth ({3})
muss vor allem auch die soziale Balance gewahrt werden.
Die Menschen in Griechenland brauchen jetzt Jobs
und Perspektiven. Das gilt vor allem für die 1,2 Millionen Menschen ohne Arbeit. Jeder zweite Jugendliche in
Griechenland hat keinen Job, hat keine Perspektive. Das
ist eine Tragödie, und zwar nicht nur für Griechenland,
sondern für uns alle, die wir ein Herz haben.
({4})
Deshalb werden die Europäische Union und Deutschland weiterhin als Partner bereitstehen, um Griechenland
tatkräftig zu unterstützen.
Der Vorwurf, den ich auch von Ihrer Seite immer wieder höre, stimmt nicht: Es gibt keine reine Austeritätspolitik. Die europäische Agenda legt mittlerweile den
Schwerpunkt auf einen Dreiklang aus Haushaltskonsolidierung, Strukturreformen sowie Wachstum und Investitionen für mehr Beschäftigung, übrigens auch auf
Drängen des Bundestages und der deutschen Bundesregierung.
Schauen wir uns doch die Politik der vergangenen
Monate in Europa an: Wir treiben konkrete Initiativen
für Wachstum und Beschäftigung und für die Stärkung
des sozialen Zusammenhalts in Griechenland und anderswo in Europa voran. Nun müssen diese Initiativen
couragiert und entschlossen umgesetzt werden.
Die Bundesregierung ist sich sicher: Die gute Zusammenarbeit wird auch mit der kommenden griechischen
Regierung fortgesetzt. Denn wir alle wollen, dass Griechenland Mitglied der Euro-Zone bleibt. Es gibt in dieser Frage keinerlei Kurswechsel.
({5})
Ich finde, der griechischen Regierung und den Bürgerinnen und Bürgern Griechenlands gebühren Respekt,
Anerkennung und Dank für all das, was sie bislang geleistet haben. Wir alle wissen: Dies ist teilweise mit
schweren Zumutungen verbunden gewesen. Alle, die
jetzt von einem Rückzug aus dem Euro oder gar aus der
EU fabulieren, die ihr Heil im Nationalstaat alter Prägung, den es so nicht mehr gibt, suchen, sollten wissen:
Unsere Antwort heißt immer noch und jetzt erst recht:
Ein gemeinsames Europa ist gut für Griechenland, aber
eben auch gut für Deutschland.
({6})
Vielen Dank. - Jetzt hat das Wort Dr. Gerhard Schick
von Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum kommt es zu dieser Debatte? Es kommt dazu,
weil die Zusammengehörigkeit im Euro-Raum wieder
einmal zur Disposition gestellt worden ist. Angefangen
hat es mit irgendwelchen Quellen des Spiegel in der
Bundesregierung. Dazu hat mein Freund und Kollege
Manuel Sarrazin das Nötige gesagt: So etwas darf man
nicht so lange laufen lassen, es sei denn, man hat ein Interesse daran. - Ich muss sagen: Ich finde, es war unverantwortlich, das laufen zu lassen.
({0})
Ähnliches gilt aber auch für die Linkspartei und andere, die meinten, man könne die Zusammengehörigkeit
in Europa wieder einmal ein bisschen zur Disposition
stellen. Ich glaube, wer aus den letzten Jahren der Krise
in Europa, vielleicht aber auch aus den letzten Tagen etwas gelernt hat, dem muss doch klar sein: Europa gehört
zusammen. Wir werden keine Rückschritte bei der europäischen Integration machen, bloß weil es ökonomisch
und sozial derzeit etwas schwierig ist.
({1})
Irgendwann kam die Aussage: Es gibt keinerlei Kurswechsel. - Dabei haben Sie sich zu Recht auf die Frage
bezogen, ob Griechenland im Euro-Raum bleiben soll.
Hierbei haben Sie unsere volle Unterstützung. Aber es
gibt natürlich einen Punkt, an dem ein Kurswechsel
schon nötig wäre.
({2})
- Natürlich. - Stellen Sie sich doch einmal vor, die Wirtschaft in Deutschland würde über fünf oder sechs Jahre
so zusammenschrumpfen und die Arbeitslosigkeit so
dramatisch steigen, wie es in Griechenland der Fall war.
Wer in diesem Haus würde es dann wagen, zu sagen:
„Wir machen weiter so“? Niemand würde das wagen.
({3})
Deswegen ist es, glaube ich, richtig, zu sagen: Es gibt
Veränderungsbedarf. Auch wir sehen ihn, nicht in der
Form, dass wir die Hausaufgaben der griechischen Politikerinnen und Politiker machen müssen, sondern weil
wir Sorge um unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in
Europa haben.
({4})
Das gilt erstens im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung und die sozialen Härten. Wenn so viele junge
Menschen perspektivlos sind, dann ist das keine gute Sache für Europa. Wir wollen, dass die Menschen, die in
den nächsten Jahren in Europa leben, Europa mit Zukunftsperspektive und neuem Aufbruch verbinden und
nicht mit der Perspektivlosigkeit, die viele Menschen in
Griechenland heute empfinden müssen. Ich finde, das
sollte auch unsere heutige Debatte prägen.
({5})
Neben der Gesundheits- und Sozialpolitik gilt das
zweitens in Bezug auf die Frage: War es denn richtig, so
einseitig auf eine schnelle Schuldensenkung zu setzen?
Man muss sagen: Das hat ja wohl nicht geklappt.
({6})
Der Schuldenstand Griechenlands ist heute deutlich höher, als er damals war. Der Versuch, dieses Problem mit
einer Radikalkur zu lösen, hat nicht geklappt. Deswegen
muss man da ein Stück weit anders agieren. Sie, Herr
Staatssekretär, haben gerade gesagt, die griechische
Wirtschaft wachse in der Euro-Zone insgesamt am
stärksten. Aber das können Sie doch wohl nicht sagen,
ohne hinzuzufügen, dass die Euro-Zone insgesamt in einer desaströsen wirtschaftlichen Lage ist, dass wir dringend mehr Investitionen brauchen und dass die Situation
überhaupt nicht zufriedenstellend ist. Ich bitte Sie, da
endlich nachzulegen.
({7})
Drittens gilt es, sich genau mit der Frage eines Schuldenschnitts zu beschäftigen. Klar ist doch: Aktuell ist
der Schuldenstand Griechenlands nicht das zentrale Problem, weil das Land mit einem Zinsdienst von 1,8 Prozent der Wirtschaftsleistung im Moment nur geringe
Zinsen auf seine Staatsschulden zahlt; nach anfänglichen
Fehlern wurden die Schulden ja inzwischen für längere
Zeit gestundet. Ein Schuldenschnitt bringt also keine unmittelbare Entlastung; das ist richtig. Aber wer kann sich
denn vorstellen, dass ein solcher Schuldenstand wirklich
abgetragen werden kann?
({8})
Das ist eine große Hypothek für die Zukunft. Deswegen
ist die Forderung, die wir seit längerem erheben und die
viele Ökonomen unterstützen, richtig: Wir brauchen einen Weg der Entschuldung, der natürlich wieder an bestimmte Konditionen und Vereinbarungen geknüpft ist.
Genau das ist unser Vorschlag.
({9})
Dieser Vorschlag ist in der längeren Perspektive zwar
richtig, schafft aber kurzfristig keine Entlastung. Wir
können aber nicht einfach zusehen; denn die soziale und
wirtschaftliche Lage bleibt weiter schwierig. Da braucht
es Antworten, und zwar nicht nur die, dass die griechische Regierung da irgendwas einfordert. Wir müssen
- auch aus unserem Interesse an einer funktionierenden
Entwicklung in Griechenland - schauen, dass wir Investitionen stärken und dass die Schwächsten in der griechischen Gesellschaft Unterstützung bekommen; das ist uns
allen wichtig wegen der Zukunft Europas.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Antje
Tillmann, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im letzten Jahr
haben wir den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten
Weltkriegs begangen, der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jährte sich zum 75. Mal. Gott sei Dank haben wir
seitdem keine solchen Jahrestage mehr!
Europa ist für mich nicht nur eine Union in Finanzangelegenheiten, sondern vor allem eine Friedens- und
Werteunion. Europa ist mir persönlich sehr viel mehr
wert als ein Hilfspaket. Diese Werteunion bedeutet aber,
dass man vertrauensvoll zusammenarbeitet und Regeln,
die man sich gegeben hat, einhält
({0})
und dass man versucht, eine Politik zu machen, die nicht
zulasten der europäischen Partner geht. Wer Fehler in
seiner Landespolitik macht, sollte diese Fehler auch
selbst ausbügeln müssen. Trotzdem gibt es Situationen,
wo wir füreinander einstehen müssen und Hilfen erforderlich sind.
({1})
Genau so ist es gewesen. Es ist auch keineswegs so, dass
Griechenland das einzige Land gewesen wäre, das Fehler gemacht hat. Ich erinnere nur an 2005, wo wir die
rote Laterne in Europa getragen haben, wo wir dazu beigetragen haben, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen. Das war nicht zuletzt der Beginn einer
Staatsschuldenkrise in Europa; es gab also auch Fehler,
die wir gemacht haben.
({2})
Seitdem haben wir alle gemeinsam versucht, Europa
finanzpolitisch sicherer zu machen. Griechenland hat
uns aufgerüttelt. Wir haben teilweise - nicht nur wegen
der Banken- und Staatsschuldenkrise, auch wegen Griechenland - finanzpolitisch den Atem angehalten. Das
war aber auch positiv: Es hat dazu geführt, dass wir
Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, bei denen wir
nicht geglaubt hätten, dass das in dieser Geschwindigkeit geht. Ich nenne den Fiskalvertrag, bei dem innerhalb
von anderthalb Jahren fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Schuldenbremse in ihren Verfassungen ratifiziert haben.
({3})
Deutschland hat sich verpflichtet, seinen Schuldenstand
bis 2022 auf unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
zu reduzieren.
Und schon geht es wieder los: Sollen die Verträge eingehalten werden? Die erste Null im Haushalt führt dazu,
dass viele Seiten sagen: Na, so ernst war das nicht gemeint. - Da sind wir gefragt, die Verträge, die wir unterschrieben haben, einzuhalten.
({4})
Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder
fitgemacht, wir haben das 3-Prozent-Defizitkriterium
konkretisiert. Doch auch da geht es schon wieder los: Es
wird jetzt interpretiert und ausgelegt, es sollen zusätzliche Maßnahmen in die 3 Prozent eingerechnet werden
dürfen. Auch da besteht die Gefahr, dass Verträge, die
gerade erst vereinbart wurden in der Europäischen
Union, schon wieder nicht eingehalten werden.
Gut, dass wir den ESM eingeführt haben aufgrund der
Situation in Griechenland. Wie hätte es ausgesehen,
wenn ein größeres Land uns dazu gezwungen hätte, einen solchen Mechanismus einzurichten! Wie gut, dass
wir an dieser Stelle anhand eines kleineren Landes Ergebnisse und Gefahren diskutieren konnten!
Innerhalb kürzester Zeit haben wir eine Bankenunion
samt Aufsicht und Bankenabwicklung vereinbart. Hätten
wir diese Bankenunion schon vor der GriechenlandKrise gehabt, dann hätte ein großer Teil der griechischen
Probleme da abgeladen werden können, wo er hingehört:
bei den Anteilseignern, bei denjenigen, die aus Krisen
mit Gewinn hervorgehen. Wir haben erstmalig ein
Bail-in eingeführt: Anteilseigner müssen sich nun in Krisensituationen an der Rettung von Instituten beteiligen.
Das hätte auch Griechenland schon geholfen. Auch hier
tun wir gut daran, darauf Wert zu legen, dass diese Vereinbarungen eingehalten werden.
Griechenland hat sich auf den Weg gemacht, die Vereinbarungen, die es eingegangen ist, einzuhalten. Ja, das
ist ein langer und schmerzhafter Weg - ich weiß, dass
wir den Menschen in Griechenland viel abverlangen mit
diesen Maßnahmen -; aber Griechenland hat sich auf
den Weg gemacht, und die ersten zarten Pflänzchen des
Erfolgs kann man sehen: Das Wachstum liegt bei 3 Prozent, und bei der Unterschreitung des Maastricht-Kriteriums von 3 Prozent Defizit steht Griechenland besser da
als manch anderes Land, das heute auch in der Diskussion ist. Diesen Weg sollten wir weitergehen.
Wenn wir bei all diesen Verträgen jedes Mal, wenn irgendwo Wahlkampf ist, eine Diskussion im Deutschen
Bundestag führen würden, dann könnten wir uns Verhandlungen ganz sparen. Deshalb gibt es aus meiner
Sicht auch überhaupt keinen Grund, das heute zu thematisieren. Auch vonseiten Griechenlands gibt es aktuell
nicht den Wunsch, die Verträge zu ändern. Sie sind abgeschlossen und werden hoffentlich bis Ende Februar auch
eingehalten. Nach der Wahl wird man gucken, wie es
dann weitergeht.
Selbstverständlich kann man zu jeder Zeit über neue
Situationen sprechen. Ich tue das am liebsten dann, wenn
ich glaube, dass bei allen Anstrengungen in manchen
Bereichen noch Luft nach oben ist. Das ist beim Kampf
gegen die Steuerhinterziehung,
({5})
bei der Privatisierung und bei der Verschlankung der
Verwaltungen der Fall. Je besser sich Griechenland hier
aufstellt, umso besser können wir reagieren und an der
einen oder anderen Stelle nachjustieren.
Ich glaube aber, im Moment tun wir alle gut daran,
unsere Zusagen einzuhalten - wir in Deutschland und
auch Italien und Frankreich mit ihren Haushalten, aber
auch Griechenland. Wir sollten das tun, damit diese Wertegemeinschaft bestehen bleibt. Europa ist wertvoll - für
Deutschland und für Griechenland.
({6})
Ich hoffe, dass wir dieses wertvolle Europa nicht
durch Finanzprobleme gefährden. Das sollten wir nicht
tun. Wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Auf
diesen Weg haben wir uns alle gemeinsam gemacht.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Ewald
Schurer, SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! In meinem Bewusstsein und, ich denke,
auch im Bewusstsein des Parlaments hier ist und bleibt
Griechenland selbstverständlich inmitten des politischen
Europas und der Währungsunion. Das ist vom Vertrag
her so angelegt. Nach gewissen Irritationen ist und bleibt
Griechenland integrativer Bestandteil dieser Europäischen Währungsunion.
Griechenland gehört in meinem Bewusstsein genauso
zu Europa wie jedes der 16 Bundesländer zu Deutschland. Das ist Ausdruck des föderativen europäischen Bewusstseins und für mich eine zentrale Aussage, die von
den Kolleginnen und Kollegen in der Debatte hier bisher
weitgehend bestätigt wird.
Bei den Wahlen am 25. Januar 2015 werden die griechischen Bürgerinnen und Bürger von Thessaloniki im
Norden über Athen bis zur griechischen Inselwelt und
nicht der Deutsche Bundestag entscheiden. Die Wahl
wird ein politisches Datum markieren, und mit deren Ergebnis werden wir vernünftig umgehen müssen. Das
werden wir - so zeigt es diese Debatte - auch tun. Der
Bundestag entscheidet diese Wahlen keinesfalls. Die
offene und qualitativ gute Diskussion ist aber eine Botschaft, die auch in der Öffentlichkeit in Griechenland
ankommt, ohne hier im engeren Sinne irgendwie wahlbeeinflussend wirken zu wollen.
Es ist eine Tatsache, dass Griechenland in diesem
schwierigen Prozess der letzten fünf bis sechs Jahre fast
ein Drittel an Wertschöpfung, an wirtschaftlicher Tätigkeit und an Arbeitsplätzen verloren hat. Um die Kritik
der Opposition aufzunehmen: Das ist sicherlich suboptimal gelaufen.
Wir müssen uns der jetzigen gesellschaftlichen Realität in Griechenland zuwenden. Es kann jetzt mit Blick
auf den europäischen Geist nur darum gehen, dass sich
jedwede Regierung - es wird eine Koalition geben -, die
nach dem 25. Januar 2015 antritt, sehr schnell der gesell7538
schaftspolitischen und ökonomischen Realität zuwenden
wird. Ich bin davon überzeugt, dass das gelingen wird.
Ich habe im Internet gelesen, dass der Spitzenkandidat von SYRIZA gesagt hat, dass er die Haushaltskonsolidierung im Falle eines Wahlsieges weiterhin uneingeschränkt fortsetzen wird. Er unterstützt das, was wir
Sozialdemokraten und die Union, aber auch die Grünen
gesagt haben. Wir wollen alles tun, damit es in Griechenland wieder Investitionen in Wertschöpfung gibt.
Konsolidierung und Wertschöpfung: Das muss für die
griechische Regierung und für die EU als Partner Griechenlands die große Formel sein.
Ich bin davon überzeugt, dass Griechenland nach den
erschütternden Absenkungsprozessen künftig zum Beispiel auch wieder eine soziale Infrastruktur braucht.
Natürlich brauchen die Menschen in Griechenland
möglichst bald auch wieder einen Zugang zum Gesundheitssystem. Die Menschen dort brauchen eine Gesundheitskarte - wie in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern -; das ist unbestritten. Dahin muss
es beim ökonomischen und sozialen Wiederaufbau des
Landes gehen. Das ist die Ziellinie, zumindest von uns
Sozialdemokraten. Ich habe hier in der bisherigen Diskussion dazu sehr viel Zustimmung wahrgenommen.
Griechenland braucht den Ausbau der gesamten technischen und logistischen Infrastruktur für eine bessere
Wertschöpfung,
({0})
weil es am Ende darum geht, künftig die Schulden des
Landes, unabhängig von der technischen Linie, zu bedienen. Es braucht wieder einen gestärkten Wertschöpfungsprozess - der Herr Staatssekretär Meister hat ihn
ganz am Anfang angesprochen -, weil er die Voraussetzung für neue Arbeit, höhere Leistungen und damit das
Zurückzahlen der Schulden am Ende des Tages als mittelfristige und langfristige Perspektive ist. Nur so geht
es. Dieses Ziel muss Griechenland in der Zukunft verfolgen. Darüber gibt es trotz verschiedener Interpretationen
vielleicht einen Minimalkonsens heute in dieser doch
guten Debatte des Deutschen Bundestages.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Ende der Debatte, aber auch meines Beitrages sei noch einmal gesagt:
Das europäische Bewusstsein hat neben den ökonomischen und sozialen Tatbeständen auch eine psychologische Komponente. Die Solidarität mit Griechenland in
der jetzigen Phase ist von allen Rednerinnen und Rednern in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht worden.
Die Botschaft, die von dieser heutigen Aktuellen
Stunde Richtung Griechenland ausgeht, ist ganz klar:
Die Bundesregierung, die Koalition, teilweise auch die
Oppositionsparteien, wollen die positive Entwicklung
Griechenlands, egal wie die Wahlen ausgehen. In diesem
Sinne glaube ich, dass wir diese Entwicklung mit Optimismus und mit Tatkraft unterstützen werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Jürgen Hardt
von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den vergangenen fünf Jahren, seit wir uns hier mit
dem Thema Euro-Rettung beschäftigen, sind drei von
vier Parteien hier im Hause mit diesem Thema, wie ich
finde, sehr verantwortungsvoll umgegangen.
({0})
- Ich meine die in diesem Hause vertretenen Parteien. Wir haben damals vor einer schwierigen Entscheidung
gestanden. Im Grunde standen wir vor einer Weggabelung mit drei ganz unterschiedlichen Wegen.
Der erste Weg wäre gewesen: Deutschland und die
anderen Staaten zahlen alles. Das wäre nicht nur den
Steuerzahlern in diesen Ländern schwer vermittelbar gewesen, sondern das hätte auch mit Blick auf die Ursachen der Krise keine Probleme gelöst. Das hätte uns
vielleicht einen kleinen zeitlichen Aufschub verschafft,
aber das Problem wäre umso schwerer auf uns zurückgefallen.
Der zweite Weg wäre gewesen: Wir kapitulieren vor
der Situation und nehmen in Kauf, dass der Euro-Raum
diffundiert und zusammenbricht. Was das für die europäische Wirtschaft, insbesondere für die deutsche Wirtschaft - Exportnation Nummer eins -, für Folgen gehabt
hätte, sehen wir heute bei einem Blick auf die Schweizer
Börse. Dort kann man sehen, wohin es führt, wenn der
Kurs einer Währung kurzfristig nach oben schnellt und
mit welchen Schwierigkeiten die Wirtschaft dann zu
kämpfen hat. Das wäre auch aus deutscher Sicht keine
Lösung gewesen.
Der dritte Weg war der komplizierte, anstrengende
und langwierige, aber, wie wir heute sehen, letztlich erfolgreiche Weg. Wir haben gesagt: Wir wollen diesen
Ländern, die Hilfe brauchen, solidarisch zur Seite stehen. Wir wollen ihnen helfen. Wir wollen ihnen aber
auch abverlangen, dass sie die notwendigen Reformen
durchführen.
Insofern war die Meldung, die herumgeisterte, es
gäbe in der Politik der Bundesregierung gegenüber Griechenland einen Kurswechsel, eine selbstgebratene Zeitungsente. Wir haben stets all unsere Hilfsprogramme,
unabhängig davon, an welches Land sie gerichtet waren,
mit den Ländern gemeinsam ausgestaltet und gesagt:
Hier sind die Hilfen, auf die ihr euch verlassen könnt.
Dort sind die notwendigen Anpassungsmaßnahmen, die
ihr vornehmen müsst.
In dieser ganzen Diskussion, gerade in diesen Tagen,
hat der Musikant der Linken - so möchte ich ihn heute
einmal bezeichnen - mit seiner Büttenrede - das sage ich
im Hinblick auf seine kämpferische Rede ({1})
eine reine Wahlkampfveranstaltung abgehalten. An Ihre
Adresse sage ich ganz konkret: Wir dürfen Ursache und
Wirkung nicht miteinander verwechseln. Die Situation
in Griechenland ist für ganz viele Menschen bitter: für
junge Menschen, Rentner, Menschen, die auf soziale
Unterstützung angewiesen sind, die einen Arbeitsplatz
suchen und ihren vorherigen vielleicht verloren haben,
weil das bisherige Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig ist. All das ist bitter, aber die Ursache dafür
liegt natürlich in einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik griechischer Vorgängerregierungen.
({2})
Es gibt dann die Behauptung, dass die sogenannte
Austeritätspolitik der falsche Weg sei, um wirtschaftlich
auf die Beine zu kommen.
({3})
Ich sage Ihnen ganz konkret: Die Staaten in der Europäischen Union, angefangen bei Deutschland, die die
solidesten Staatsfinanzen haben, haben auch beim Arbeitsmarkt, bei der Wirtschaftsentwicklung und bei Investitionen und Wachstum die besten Zahlen.
({4})
Von daher ist diese These allein durch die reale Betrachtung der Europäischen Union, wie sie sich heute darstellt, zu widerlegen.
({5})
Dass in einem europäischen Land gemäß der Verfassung demokratische Wahlen durchgeführt werden, ist
nichts, was uns oder die Finanzmärkte in irgendeiner
Weise erschrecken müsste. Es müsste uns vielmehr erschrecken, wenn keine Wahlen stattfinden würden. Denn
es ist in europäischen Staaten üblich, dass sie als Demokratien regelmäßig Wahlen durchführen.
Ich glaube, dass die Regierung der Griechen, die nach
der Wahl zustande kommt, auch nichts an den fundamentalen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit ändern kann.
Diese bestehen darin, dass wir auf einem Weg der langsamen und schweren Konsolidierung der Staatsfinanzen
sind. Ich glaube deshalb, dass es unabhängig von der
Frage, wer dieses Land zukünftig regieren wird, mit
Griechenland in der Euro-Zone weitergehen wird. Ich
glaube, dass das im Interesse der gesamten Euro-Zone,
aber auch im Interesse Griechenlands ist.
Die Belastungen Griechenlands durch die Staatsschulden, die überwiegend aus den Programmen finanziert werden, sind verglichen mit dem, was man auf dem
Kapitalmarkt an Zinsen zahlen müsste, relativ niedrig.
Insofern ist das Verbleiben in dem System auch im griechischen Interesse. Es ist allein haushalterisch von großem Vorteil. Die Hilfsprogramme, die die Europäische
Union anbietet, sind ebenfalls einzigartig. Auf sich allein
gestellt könnte ein Staat so etwas nie erreichen.
Insofern habe ich keine Sorge, dass die Bürgerinnen
und Bürger Griechenlands bei ihrer Wahlentscheidung
im Hinterkopf haben, was sie geleistet und an Opfern gebracht haben, und dass sie sich darüber im Klaren sind,
dass sie die Chance haben, die Früchte dieser Opfer und
dieser Leistungen einzufahren, wenn sie auf dem Kurs
bleiben, den wir gemeinsam mit ihnen eingeschlagen haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Norbert Barthle für die CDU/CSU das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende einer solchen Aktuellen Stunde muss man sich die Frage stellen: Cui bono?
Wem nutzt es eigentlich?
Ich glaube, genutzt hat es Griechenland. Wir konnten
heute die Gelegenheit ergreifen, vor dem Deutschen
Bundestag nochmals klarzustellen, dass wir die Zukunft
Griechenlands im Euro-Raum sehen. Es ist Aufgabe dieses Parlaments, das entsprechend zum Ausdruck zu bringen. Lieber Kollege Manuel Sarrazin, du bist doch derjenige, der immer sagt: Das ist nicht Angelegenheit der
Regierung, sondern des Parlaments. - Die Regierung
muss also nicht auf jeden durch eine Zeitungsmeldung
entstehenden Medienhype reagieren, sondern wir tun das
und stellen klar, wie die Sachlage ist: Unsere Einstellung
zu Griechenland hat sich in keiner Weise verändert.
({0})
Die Situation hat sich verändert. Das ist richtig. Wir
haben Brandmauern errichtet. Wir haben den ESM und
die Bankenunion. Wir haben Portugal, Irland und Spanien gesichert. Insofern gibt es nicht mehr die Ansteckungsgefahren, die es seinerzeit gab. Aber unsere Position ist dieselbe geblieben.
Wem hat das nichts genutzt? Ich bin überzeugt, den
Linken.
({1})
Und warum? Herr Kollege Dehm, die Art und Weise,
wie Sie den griechischen Wahlkampf ins deutsche Parlament gezogen haben, finde ich etwas beschämend. Sie
haben ein Bild von Griechenland gezeichnet, das ich mir
nicht zu eigen mache. Sie haben die Namen Samaras,
Venizelos und Papandreou genannt. Sie haben von politischer Inzucht und Korruption geredet,
({2})
und dann haben Sie eine Person und eine Partei angesprochen, nämlich Tsipras und die SYRIZA, und das
seien die Guten.
({3})
Dieses Bild von Griechenland habe ich nicht, Herr
Dehm. Deshalb mache ich mir das, was Sie darstellen,
nicht zu eigen. Ich finde das beschämend.
({4})
Eines muss man auch Herrn Tsipras vorwerfen, Herr
Dehm. Er erklärt nicht nur seinem Volk, sondern der gesamten Öffentlichkeit, dass Griechenland vor allem von
der Schuldenlast, die ihm die europäischen Geldgeber
auferlegt haben, erdrückt werde. Er spricht sogar von
„Fiscal Waterboarding“. Das ist meines Wissens eine
ziemlich üble Methode, jemanden zu quälen.
({5})
- Ich mache keinen Wahlkampf, sondern ich stelle Dinge
richtig.
({6})
Sie sollten sich einmal mit der Sachlage auseinandersetzen.
Es gab ein erstes Griechenland-Programm. Das waren
bilaterale Kredite. Kredite aus dem ersten GriechenlandProgramm muss Griechenland in den Jahren 2020 bis
2040 tilgen, und Griechenland bezahlt keine Zinsen für
diese Kredite. Es zahlt über Jahre keine Tilgung und
keine Zinsen.
Es gab ein zweites Griechenland-Programm im Rahmen der EFSF. Die Kredite aus diesem Programm muss
Griechenland von 2023 bis 2057 tilgen. Es muss keine
Zinsen zahlen. Griechenland muss also derzeit weder tilgen noch Zinsen zahlen. Wo herrscht dort bitte „Fiscal
Waterboarding“?
({7})
Die einzigen Kredite, die Griechenland derzeit bedient, sind die des IWF. Ich habe kein Problem damit,
dass Griechenland mit dem IWF über eine Streckung
dieser Kredite verhandelt. Wer aber die europäischen
Geldgeber ins Benehmen setzt und behauptet, sie seien
schuld an den in Griechenland bestehenden Schuldenproblemen, zeichnet ein falsches Bild.
Damit komme ich zu den Grünen. Sie haben sich die
Forderung nach einem Schuldenschnitt zu eigen gemacht. Das werde ich im Leben nicht verstehen.
({8})
Denn jede Diskussion über einen Schuldenschnitt untergräbt das letzte Vertrauen privater Geldgeber; öffentliche
Geldgeber lassen wir einmal außen vor.
({9})
Sie haben offenbar nicht verstanden, worum es geht. Ziel
unserer europäischen Rettungsschirme ist nicht, einem
Land seine Schulden abzunehmen,
({10})
sondern Ziel ist es, das betreffende Land in die Lage zu
versetzen, sich zu erträglichen Zinsen auf dem Kapitalmarkt wieder selbst zu versorgen, also auf eigenen Füßen zu stehen. Das ist unser Ziel.
({11})
Der ESM ist kein Schuldentilgungsfonds, sondern ein
Rettungsfonds. Das haben Sie offensichtlich noch nicht
begriffen. Ziel muss es sein, dass sich Griechenland
möglichst schnell wieder selbst Kredite zu erträglichen
Zinsen - wie schon einmal geschehen - auf dem Kapitalmarkt beschaffen kann;
({12})
darauf sind unsere Bemühungen gerichtet. Darin unterstützen wir das Land mit all unseren Kräften.
({13})
Zum Ende der Debatte weise ich noch auf Folgendes
hin: Herr Gabriel hat die europäischen Geldgeber davor
gewarnt, sich erpressen zu lassen. Auch das ist richtig.
Solidarität? - Ja, aber wir verstehen unter Solidarität etwas anderes als die Linken. Wir sind nicht nur mit Linken solidarisch, sondern mit allen. Aber Solidarität setzt
auch Solidität voraus, also Hilfe gegen Selbsthilfe. Dabei bleibt es. Ich bin zuversichtlich, dass Griechenland
eine gute Zukunft hat. Ich wünsche diesem Land alles
Gute.
Danke.
({14})
Vielen Dank. - Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte
der Regierung der Region Kurdistan-Irak
und der irakischen Streitkräfte
Drucksache 18/3561
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte die Kolleginnen
und Kollegen, die an dieser Aussprache teilnehmen wollen, sich zu setzen, damit wir die Debatte beginnen können.
Als erster Redner in der Debatte hat der Herr Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle erinnern uns noch sehr gut: Kaum vier Monate
ist es her, als wir hier im Hohen Haus mit großem Ernst
über unsere Verantwortung im Kampf gegen ISIS debattiert haben. Mit Entsetzen in der Stimme sind Sie in
Ihren Redebeiträgen der Blutspur gefolgt, die ISIS bei
seinem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch im Irak
hinterlassen hat.
Vor vier Monaten hatten die terroristischen Horden
schon ein Drittel des Landes unter ihre blutige Herrschaft gebracht. Es schien nur noch eine Frage der Zeit
zu sein, bis der gesamte Irak in ihre Hände fallen würde.
Auf dem Weg dorthin wurde alles niedergebrannt und
niedergemetzelt, was sich ihnen in den Weg stellte. Systematisch wurden Dörfer dem Erdboden gleichgemacht,
die männlichen Bewohner ermordet, Frauen vergewaltigt und auf neu errichteten Sklavenmärkten verkauft
oder zur Befriedigung der ISIS-Kämpfer während der
Kampfpausen - ein unvorstellbares Martyrium - nach
Syrien geschickt.
Gerade vier Monate ist es her, als uns der Hilfeschrei
der Menschen aus Sindschar erreichte. Tag für Tag tiefer
drang der barbarische Feldzug des ISIS in die Berglandschaft des Nordirak vor. Tal für Tal, Dorf für Dorf fiel in
die Hände von ISIS. Tausende waren tot. Der Rest war
schutzlos. Die irakische Armee war nicht präsent oder
kämpfte nicht. Die kurdischen Peschmerga waren kaum
imstande, sich gegen gut ausgerüstete ISIS-Truppen zur
Wehr zu setzen.
Den Menschen im Sindschar, vornehmlich Jesiden,
denen, die noch lebten, blieb nichts als die Flucht, eine
gefahrvolle Flucht, auf der viele noch Opfer des ISIS
wurden oder auf bergigen Pfaden bei sengender Hitze
und ohne Wasser verdurstet sind. Diejenigen, die sich
mit letzter Kraft retten konnten, haben überlebt, weil es
einen Zufluchtsort im kurdischen Arbil gab, in Flüchtlingslagern, in Kirchen oder bei Verwandten. Dass dieser
Zufluchtsort erhalten geblieben ist, dass die Region Nordirak-Kurdistan nicht in die Hände des ISIS gefallen ist,
dass der Vormarsch des ISIS gerade hier zum Halten gebracht worden ist, das ist zuallererst das Verdienst der
Peschmerga. Es ist deren Mut und Bereitschaft zu verdanken, sich den ISIS-Horden auch mit unzureichender
Ausrüstung entgegenzustellen.
({0})
Aber dass wir aus Deutschland heraus einen Beitrag
dazu leisten konnten, darüber bin ich froh.
({1})
Ich bin froh, dass wir Verantwortung in Kenntnis aller
Risiken und inmitten von Unwägbarkeiten übernommen
haben. Den Dank dafür höre ich nicht nur in Arbil, sondern auch in Bagdad. Aber ich sage das nicht, weil wir
einen Anlass zum Schulterklopfen oder zur Selbstzufriedenheit hätten; denn nichts ist erledigt.
Humanitär ist nichts erledigt, weil Zehntausende
Flüchtlinge in überforderten Lagern sind und mit dem
Nötigsten versorgt werden müssen. Sie müssen gerade
jetzt im Winter vor dem Erfrieren geschützt werden. Wir
sind Gott sei Dank ganz vorne dabei mit humanitärer
Hilfe. 100 Millionen Euro haben wir bereitgestellt. Aber
wir sind weiter gefordert. Ich darf sagen: Auch dank der
Haushaltsentscheidung dieses Parlaments werden wir
weiterhelfen können. Dafür meinen herzlichen Dank.
({2})
Auch politisch ist nichts erledigt. Der politische Neuanfang unter Ministerpräsident al-Abadi war gut. Sein
Schritt auf diejenigen zu, die in der irakischen Politik
ausgegrenzt waren, war richtig. Die Einigung mit dem
Nordirak über die Verteilung der Öleinnahmen war notwendig. Aber all das reicht nicht. Die Unterstützung vieler sunnitischer Stämme für ISIS wird nur enden, wenn
Sunniten sichtbare Präsenz in Staat und Armee eingeräumt wird. Nur so wird ISIS der Boden für seine verbrecherische Politik entzogen. Genau darum muss es im
Kern im Irak jetzt gehen.
Aber auch militärisch ist nichts erledigt. Die Peschmerga - das wissen Sie - sind keine Offensivarmee. Sie
werden kaum in der Lage sein, großflächige Geländegewinne zu erreichen. Worauf es jetzt ankommt, ist - das
scheint manchem wenig zu sein -, zu sichern, was im
Augenblick gehalten wird. Dazu haben wir beigetragen.
Ich will sagen: Das ist zentral für Arbil, für die Menschen in der Region und auch für die Sicherheit der
Flüchtlinge; denn auch humanitäre Hilfe wird nur ankommen, wenn wir die nicht von ISIS besetzten Teile
des Nordiraks als Zone von Ruhe und Sicherheit bewahren.
Um dies zu gewährleisten, haben uns sowohl Bagdad
als auch Arbil um weitere Unterstützung gebeten, weil
gerade auch in den Kämpfen der letzten Monate nicht
nur Ausrüstungs-, sondern auch Ausbildungsmängel
deutlich geworden sind. Ich verspreche: Wir werden
nichts an unserer humanitären Verpflichtung oder an der
politischen Verantwortung bei der Suche nach Lösungen
vernachlässigen, aber ich plädiere sehr dafür, dass wir
uns der erbetenen Ausbildungsunterstützung der Iraker
nicht verweigern.
Die Bundesregierung hat entschieden, der Bitte zu
folgen und mit maximal 100 Soldatinnen und Soldaten
und im Verbund mit anderen Europäern Ausbildungshilfe in der Region Kurdistan-Irak zu leisten, nicht mehr
und nicht weniger. Es geht nicht um einen Kampfeinsatz,
es geht nicht um Partneringmodelle à la Afghanistan, es
geht strikt um bedarfsorientierte Ausbildung und Beratung von der Schwerstverwundetenversorgung über Minenräumung bis zum Umgang mit Sprengfallen.
Wir kooperieren mit internationalen, vornehmlich europäischen Partnern, aber alles bleibt in der Gesamtverantwortung der kurdischen Behörden. Ich finde, das ist
verantwortbar, dazu sollten wir bereit sein, und deshalb
bitte ich um Ihre Unterstützung.
({3})
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: In der
öffentlichen Diskussion ist gelegentlich die Frage aufgeworfen worden, ob es für diesen Einsatz überhaupt eines
Mandates des Deutschen Bundestages bedarf. Es mag
Gründe für die damit verbundene Rechtsauffassung geben. Wir haben uns dennoch für diesen Weg und für einen Antrag auf ein Bundestagsmandat entschieden.
Sie wissen, einer Ermächtigung nach Kapitel VII der
UN-Charta bedarf es für das entschiedene Ausbildungsund Beratungsengagement im Nordirak nicht. Bagdad
und Arbil haben erstens eindeutig und schriftlich genau
um dieses Engagement gebeten. Zweitens hat der Sicherheitsrat festgestellt, dass ISIS eine Bedrohung für
den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellt.
Beschlossen wurde nicht nur eine Resolution, zum
Schutze der Staaten Maßnahmen zu treffen, durch die
der Zufluss von Foreign Fighters in die Konfliktregion
gestoppt und ebenso die Financiers der radikalislamistischen Gruppierungen verfolgt werden; aufgefordert hat
der Sicherheitsrat vielmehr auch die internationale Gemeinschaft, darüber hinaus den Irak in seinem Kampf
gegen ISIS zu unterstützen. Dieser Aufforderung kommen wir im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten
nach. Damit ist den völkerrechtlichen wie den grundgesetzlichen Voraussetzungen Genüge getan. Ich bitte um
die Unterstützung dieses Hauses.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin spricht Christine
Buchholz, Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spiegel
Online meldet gerade, dass der Wissenschaftliche Dienst
des Bundestages die Verfassungsmäßigkeit dieses Einsatzes in Zweifel zieht. Die Linke teilt diese Einschätzung und fordert die Regierung auf, sich dazu zu positionieren.
({0})
Wir sind nicht der Meinung, dass die Schwelle für Auslandseinsätze der Bundeswehr weiter herabgesetzt werden soll.
({1})
Aber lassen Sie mich inhaltlich gegen dieses Mandat
argumentieren. Im Jahr 2001 haben die USA und ihre
Verbündeten ihren sogenannten Krieg gegen den Terror
begonnen. Afghanistan und Irak wurden angegriffen und
besetzt. Das hat den Terror offenkundig nicht gestoppt.
Schaut man sich die Gräueltaten des IS und die Ausbreitung von terroristischen Organisationen in Ländern wie
Jemen, Syrien, Irak an
({2})
und schaut man sich die terroristischen Aktivitäten in
Europa an, wie die schrecklichen Anschläge in Paris,
dann muss man feststellen: Es gehört zur Ehrlichkeit, zu
sagen: Es ist auch der von den USA und ihren Verbündeten geführte Krieg gegen den Terror, es sind die Drohnenangriffe auf Hochzeitsgesellschaften, es sind die
nächtlichen Razzien in Dörfern, es ist Abu Ghureib, was
Hass geschürt und einen fruchtbaren Boden für die Ausweitung des Dschihadismus geschaffen hat.
({3})
Ohne den Angriff auf den Irak im Jahre 2003, ohne
die folgende Invasion des Landes durch die US-geführte
Koalition der Willigen, die Hunderttausende Menschen
das Leben kostete und die religiöse Spaltung vertiefte,
würde es den sogenannten Islamischen Staat, diese unheilige Allianz aus Dschihadisten und Anhängern des
früheren Diktators Saddam Hussein, gar nicht geben.
({4})
Die vergangenen Bundesregierungen haben den sogenannten Krieg gegen den Terror mal direkt, mal indirekt
unterstützt. Auch im Irak ist Deutschland schon längst
Teil der Koalition der Willigen.
({5})
Die Linke hält diese Ausrichtung im Grundsatz für
falsch.
({6})
Bei dem Bundeswehreinsatz, der heute erstmals im
Plenum diskutiert wird, geht es nicht nur um die Ausbildung von Kämpfern in Irakisch-Kurdistan; vielmehr soll
der geplante Einsatz auch das Regime in Bagdad unterstützen. Dieses Regime kann sich nur mithilfe von radikalschiitischen Milizen halten, die, so Amnesty International, völlig straflos Verbrechen an sunnitischen
Gefangenen und Zivilisten begehen.
({7})
Der Innenminister in Bagdad selbst ist Führer einer dieser Milizen.
({8})
Dort, wo die schiitischen Milizen Orte erobern, gibt
es sogenannte ethnische Säuberungen, zum Beispiel in
Dschurf al-Sachar, wo im Oktober 80 000 Sunniten vor
den Milizen flohen. Im Dezember haben Offiziere der
irakischen Armee das sunnitisch besiedelte Ackerbaugebiet um Bagdad zur „Killing Zone“ erklärt, in der jeder
Mensch getötet werde. Ich sage: Die Bundeswehr darf
nicht zum Bündnispartner eines solchen Regimes werden.
({9})
Denn es bringt genau die Bedingungen hervor, die zur
sektiererischen Spaltung des Landes und zum Aufstieg
des sogenannten Islamischen Staates geführt haben.
({10})
- Nun regen Sie sich nicht auf. Sie haben ja genug Redezeit in diesem Saal.
Der Luftkrieg der Koalition der Willigen geht unterdessen weiter. Diese Bomben treffen immer wieder auch
Zivilisten. Obgleich es darüber Belege gibt, wird hier im
Bundestag nicht einmal die Frage nach zivilen Opfern
gestellt. Ich sage Ihnen: Der Tod von Frauen, Kindern
und Männern schafft neuen Hass und stärkt genau jene,
die Sie zu bekämpfen vorgeben.
({11})
Schauen wir uns das Mandat genau an: Die Bundeswehr soll also nicht nur die kurdischen Peschmerga, sondern auch irakische Streitkräfte ausbilden. Die Bundeswehr entsendet Offiziere auch in die Stäbe der irakischen
Streitkräfte und in die Stäbe der Kriegskoalition in
Kuwait. Die einzusetzenden Fähigkeiten reichen von Beratung, Ausbildung und Führung bis hin zur Lagebilderstellung durch das militärische Nachrichtenwesen.
Schrittweise treibt die Bundesregierung Deutschland immer tiefer in einen Krieg hinein, dessen Ende unabsehbar ist, und das macht die Linke nicht mit.
({12})
Das Elend der zum Teil schwer traumatisierten
Flüchtlinge im Nordirak ist kaum zu ertragen. Wir sagen: Ja, es muss mehr humanitäre Hilfe im Norden geleistet werden, um die katastrophale Situation der
Flüchtlinge zu verbessern. Auch muss das absurde PKKVerbot endlich aufgehoben werden, um den kurdischen
Widerstand zu stärken.
({13})
Doch all das wird zunichtegemacht, wenn die Bundesregierung gleichzeitig weiter Öl ins Feuer gießt und
im Bündnis mit US-Luftwaffe und radikal-schiitischen
Milizen sunnitische Bevölkerungsteile in die Hände des
IS treibt. Verlassen Sie den Weg von Krieg und Waffenlieferungen! Stellen Sie den Frieden und den Kampf gegen Armut und Ausgrenzung im Irak ins Zentrum Ihrer
Bemühungen! Ändern Sie Ihre Politik! Denn dann können Sie tatsächlich von sich behaupten, die Ursachen des
internationalen Terrorismus zu bekämpfen; mit diesem
Mandat allerdings nicht.
({14})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir waren mit einer Delegation vor fünf
Tagen in Bagdad und Arbil. An diesem Tag haben 4 Millionen Menschen in Frankreich und viele Hunderttausende in Deutschland eindrucksvoll und unmissverständlich gezeigt, dass die schrecklichen Ereignisse der
letzten Wochen und Monate uns alle angehen. Es geht
dabei nicht allein um den Kampf gegen den Terror - darum geht es auch -, sondern auch um die Werte, die angegriffen worden sind:
({0})
die Achtung vor dem Leben anderer, das Recht, die eigene Religion frei und friedlich zu leben, die Freiheit der
Meinung und des Wortes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist diese Überzeugung, die uns eint - von den
Straßen von Paris bis tief in die Flüchtlingslager in Arbil
hinein.
({1})
Die Franzosen haben es auf den Punkt gebracht. Sie haben gesagt: Je suis Charlie. Je suis flic. Je suis juif. „Ich
bin Charlie“, das lässt sich fortsetzen: Ich bin Jeside. Ich
bin Kurde. Ich bin Christ. Ich bin Moslem.
In Frankreich hat der Terror 17 Menschen das Leben
gekostet, und wir trauern um jeden einzelnen. In Syrien
und im Irak hat ISIS Millionen Menschen brutalster Verfolgung ausgesetzt, sie zu Flüchtlingen gemacht, Zigtausende niedergemetzelt; die meisten davon übrigens muslimischen Glaubens. Daher ist es gut, dass unter den über
60 Staaten, die sich zusammengetan haben, um ISIS zu
stoppen, neben vielen westlichen Ländern vor allem
auch arabische Staaten die Initiative ergriffen haben.
Ich habe am Montag die Gelegenheit gehabt, mit dem
jordanischen König zu sprechen. Er hat mir versichert,
dass die arabischen Staaten es als ihre eigene Pflicht ansehen, den Terror zu stoppen, der den Irak an den Rand
des Abgrunds gebracht hat, aber inzwischen auch die
Menschen überall auf der Welt bedroht. Er sagte es ungefähr so: Das ist unser Kampf, den wir führen wollen.
Wir wollen ihn gewinnen, aber wir brauchen eure Hilfe. Meine Damen und Herren, diese Hilfe wollen wir ihnen
geben.
({2})
Ebenso haben es die irakische Zentralregierung und
die kurdische Regionalregierung zum Ausdruck gebracht. Sie wollen sich ISIS entgegenstellen, sie wollen
an der Einheit des Iraks und an der Teilhabe aller arbeiten, aber sie brauchen dafür Unterstützung.
Daher ist es auch gut, dass Deutschland sich ebenfalls
nach seinen Möglichkeiten einbringt: politisch - darauf
ist Frank-Walter Steinmeier eingegangen -, mit Hilfe für
die Flüchtlinge - ich verweise auf Gerd Müller als Bundesminister für Zusammenarbeit -, aber nicht zuletzt
auch mit Hilfe für diejenigen, die sich ISIS militärisch
entgegenstellen. Im Norden des Iraks sind das die Kurden, die seit Monaten ISIS abwehren und den Flüchtlingen Schutz geben. Wir konzentrieren uns mit unserer
Hilfe auf die Region Kurdistan-Irak. Mir war aber auch
wichtig, in Bagdad deutlich zu machen, dass diese Unterstützung dem Gesamtirak gilt. Das wird verstanden.
Und Staatspräsident Masum hat sich dafür auch ausdrücklich bedankt.
Meine Damen und Herren, unsere bisherige Unterstützung war wirksam. Kommandeure der Peschmerga
haben uns eindrucksvoll geschildert, wie wichtig zum
Beispiel der Einsatz der MILAN-Rakete ist. Zuvor standen sie ISIS machtlos gegenüber. Sie mussten ohnmächtig mitansehen, wie von ISIS mit Sprengmaterial gefüllte
Autos oder Lastwagen in die Peschmerga-Stellungen
hineingelenkt wurden, quasi fahrende Bomben mit verheerender Wirkung. Mithilfe der MILAN waren die
Peschmerga in der Lage, etliche solcher Selbstmordkommandos zu stoppen, das heißt, den Feind auch auf Distanz zu halten. Das hat nicht nur viele Menschenleben
gerettet, sondern das hat auch den Mut und die Zuversicht der Peschmerga gehoben, ISIS tatsächlich standhalten zu können. Das, meine Damen und Herren, ist in unserem Sinne; denn diese Peschmerga stehen nicht nur für
ihr Land ein. Sie stehen auch für uns alle gegen ISIS ein.
({3})
Wir wollen daher auf diesen Erfahrungen aufbauen.
Wir wollen unsere Hilfe verstetigen. Präsident Barsani
hat uns gegenüber noch einmal sehr deutlich gemacht,
dass die Kurden beides brauchen: Ausrüstung und Ausbildung. Die Peschmerga sind gut organisiert; sie sind
entschlossen, standzuhalten - aber es fehlt an vielem.
Das beginnt bei wintertauglichen Stiefeln, geht über die
eben erwähnte MILAN weiter, endet aber nicht zuletzt
auch bei Sanitätsmaterial. Sie haben uns geschildert, wie
viele Peschmerga, wenn sie an der Front verletzt werden,
sterben, die nicht sterben müssten, weil basales Verbandsmaterial fehlt und banale Techniken wie beispielsweise das Abbinden bei einem Durchschuss nicht beherrscht werden. Es fehlt Material, es fehlt Wissen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten genau
hinhören, was gebraucht wird, und prüfen, ob und wie
wir helfen können. Wir wollen mit diesem Mandat ein
Ausbildungszentrum in Arbil aufbauen, das unter der
Leitung der Kurden steht, aber dessen Ausbildungsbereich wir koordinieren. Das geschieht gemeinsam mit
anderen europäischen Partnern und in Abstimmung mit
der Allianz. Dabei richten wir uns ausdrücklich nach
dem Ausbildungsbedarf, den die Peschmerga anzeigen.
Das beginnt bei der Grundausbildung, geht über Minenabwehr bis hin zur eben erwähnten medizinischen Versorgung. Bis zu 100 Soldaten wollen wir einbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die dort
an vorderster Front kämpfen, brauchen unsere Hilfe.
Diese Hilfe muss und wird nicht nur aus Deutschland
kommen. Wir können aber einen spürbaren, einen substanziellen und einen nachhaltigen Beitrag leisten. Dafür
bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. Frithjof
Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle in diesem Haus teilen die Überzeugung, dass die
Terrororganisation ISIS bekämpft werden muss. Um es
klar zu sagen: Meine Fraktion hält auch die militärische
Ausbildung von kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern für einen sinnvollen Beitrag dazu. Das hat ja auch
bisher schon stattgefunden, allerdings nicht vor Ort im
Irak, sondern hier in Deutschland. Das war gut so.
Jetzt hat die Bundesregierung entschieden, doch einen
Ausbildungseinsatz vor Ort im Irak durchzuführen. Wir
gehen ganz offen in die Prüfung dieses Mandates. Wir
halten seine Absicht durchaus für sinnvoll, und wir stehen zu dem Grundsatz: Im Zweifel muss es ein Mandat
geben. Es muss dann aber auch inhaltlich die rechtlichen
Voraussetzungen für einen Einsatz der Bundeswehr im
Ausland erfüllen.
({0})
Ich sehe nicht - und ich sage ganz bewusst: leider nicht -,
dass Ihnen das mit diesem Mandat gelungen ist.
Ich teile Ihre Position, dass die völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein solches Mandat gegeben sind. Es
gibt die Aufforderung der irakischen Regierung an die
UN-Mitgliedstaaten, ihr Unterstützung im Kampf gegen
ISIS zu leisten. Es gibt eine Einladung durch die irakische Zentralregierung und durch die kurdische RegionalDr. Frithjof Schmidt
regierung an die deutsche Regierung. Das ist völkerrechtlich ausreichend. Aber ein Mandat, das Sie nach
Artikel 24 des Grundgesetzes beantragen, muss zusätzlich die Bedingung erfüllen, dass der Auslandseinsatz im
Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfindet.
Das ist bisher - und ich sage wieder: leider - offenkundig nicht der Fall. Es gibt kein UN-Mandat, und es bleibt
ein politischer Fehler, dass Sie sich nicht energisch dafür
einsetzen.
({1})
Jetzt versuchen Sie, das Fehlen eines Mandates durch
zwei Elemente rechtlich einfach zu ersetzen. Sie beziehen sich auf die vage formulierte Resolution 2170 des
Sicherheitsrates vom August 2014, in der ganz allgemein zur Unterstützung des Iraks beim Kampf gegen die
Terroristen aufgerufen wird, und Sie beziehen sich auf
eine Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrates vom
September 2014, die noch allgemeiner formuliert ist und
außerdem von ihrem Status her völkerrechtlich nicht
bindend ist. Damit können Sie das Fehlen eines UNMandates wirklich nicht ersetzen. Das reicht nicht. Das
ist nicht verfassungskonform.
({2})
Herr Außenminister, ich verstehe in diesem Zusammenhang nicht, warum die Bundesregierung nicht
wenigstens einen Beschluss der Europäischen Union
herbeigeführt hat, der die Mitgliedstaaten zu Ausbildungsmissionen im Irak auffordert. Das könnte das Fehlen eines UN-Mandates heilen. Deshalb frage ich die
Bundesregierung ausdrücklich: Weshalb haben Sie das
bisher nicht getan? Warum setzen Sie stattdessen auf
diese abenteuerliche Interpretationsakrobatik von UNTexten? Ich verstehe das nicht. Auch der gute Zweck
heiligt nicht das Aushöhlen der politischen Vorgaben
durch unsere Verfassung. Das darf nicht sein.
({3})
Ich habe noch eine andere politische Kritik an Ihrem
Mandatstext. Sie vermengen bei der Formulierung der
Aufgaben die Ausbildungsmission mit einem Blankoscheck für Waffenlieferungen in den Nordirak, und zwar
für den Zeitraum eines ganzen Jahres. Gerade gestern erreichten uns die Nachrichten, dass die Bundeswehr nicht
weiß, an welche Einheiten und wohin genau die bisher
gelieferten Waffen in Kurdistan gehen. Die Bundesregierung erklärt dazu dann einfach, dass ihr keine Erkenntnisse vorliegen, dass gegen die Endverbleibserklärung
verstoßen wird. Wer auf dieses Problem nur mit Sokrates
- „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ - antwortet, der hat
das Problem der Proliferation nicht einmal ansatzweise
verstanden.
({4})
Sie müssen diesen Blankoscheck für Waffenlieferungen
aus diesem Mandat wieder streichen.
Ich kann meiner Fraktion - und ich sage: leider - bisher nicht empfehlen, einem so formulierten Mandat zuzustimmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Bevor ich das Wort an den nächsten
Redner übergebe, hat Dr. Neu das Wort zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann in dieser
Frage dem Kollegen Schmidt durchaus zustimmen.
Wenn man sich die rechtliche Begründung anschaut,
dann erkennt man, dass hier ein Kuddelmuddel rechtlicher Hilfskonstrukte herangezogen wurde, das darüber
hinwegtäuschen soll, dass es keine explizite Resolution
des Sicherheitsrates gibt, die die militärischen Möglichkeiten eröffnet. Das heißt, Sie bauen hier etwas Halbseidenes auf und sagen dann: Wir können das schon machen.
Der Punkt ist: Sie bemühen Artikel 24 des Grundgesetzes. Womit eigentlich? Es gibt kein Sicherheitskollektiv in Form eines Ad-hoc-Systems. Es ist die UNO, gegebenenfalls die NATO, wenn es nach dem Urteil von
1994 geht. Aber darauf können Sie sich nicht beziehen.
Sie können sich auch nicht auf die derzeitige Gemeinschaft als loser Verbund beziehen, weil auch das nicht
zulässig ist. Ich bin froh, dass - ich habe gehört, dass
auch noch andere den Wissenschaftlichen Dienst bemüht haben - der Wissenschaftliche Dienst meine Position in dieser Frage so bestätigt hat. Es gibt allerdings einen Wermutstropfen. Der Bezug auf Artikel 87 a als
erweiterter Verteidigungsbegriff zieht auch nicht; denn
das würde Artikel 24 GG überflüssig machen. Artikel 24
hindert Artikel 87 a daran, ausgedehnt zu werden. Wenn
die SPD der Auffassung ist - intern natürlich -, dass das
eine Grauzone ist, und die Linke ein bisschen anstachelt,
sie möge doch klagen, so kann ich nur sagen: Wir werden Ihnen die Kastanien nicht aus dem Feuer holen. Sie haben die Mehrheit. Machen Sie doch eine Reform
des Grundgesetzes. Ändern Sie den Artikel. Dann können Sie handeln wie Sie wollen. Das, was Sie gerade abliefern, ist desaströs.
({0})
Als nächster Redner hat Rainer Arnold von der SPD
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In vielen Teilen der Erde leiden die Menschen unter
dem Terror der selbsternannten Gotteskrieger. Dass
dieses Problem längst auch in Europa angekommen ist,
haben wir alle in der letzten Woche auf erschreckende
Art und Weise erfahren müssen.
Der Irak ist Teil des Problems, und trotzdem ist im
Irak einiges anders. Es geht dort nicht um punktuelle
terroristische Attacken; dort sind Mörderbanden unterwegs, die ihre Kämpfer aus der halben Welt zusammenholen, um dort ein Kalifat, also ein religiös verbrämtes,
brutales, menschenverachtendes und totalitäres Staatssystem zu errichten. Diese Schwierigkeiten werden von
der engen Wechselbeziehung zwischen den Problemen
in Syrien und im Irak und vom Problem des inneren
Zerfalls des Iraks überlagert.
Es ist wohl wahr: Der Irak wurde in den letzten Jahren nicht gut regiert. Nur: Können wir den Menschen,
die jetzt unter dem Terror leiden, sagen: Wir lassen euch
deshalb im Stich, weil ihr eine fürchterlich schlechte
Regierung hattet? - Was ist das für eine zynische Herangehensweise, die die Linke hier mal wieder vorgeführt
hat?
({0})
Wir waren vor einigen Tagen im Irak. Der Besuch in
Arbil und Bagdad hat deutlich gemacht: Alle, die dort
Verantwortung tragen, haben endlich verstanden, dass
sie unglaublich voneinander abhängen, dass sie dieses
Land nur zusammenhalten und stabilisieren können,
wenn sie gut zusammenarbeiten. Dies ist ein Fortschritt.
Die Probleme in Syrien und im Irak kann man in der
Tat nicht militärisch, sondern nur politisch regeln. Aber
mit dem IS gibt es keine politische Lösung. Dieser Konflikt wird am Ende militärisch entschieden. Da frage ich
schon: Können wir zuschauen, wenn der IS Millionen
Menschen in die Flucht treibt, wenn der IS Hunderttausende ermordet und vertreibt? - Ich glaube, nicht.
Wir haben traditionell eine besondere Verbindung zu
den Kurden im Norden Iraks; auch in der deutschen Zivilgesellschaft gibt es viele gute, gewachsene Verbindungen. Deshalb glaube ich schon, dass wir Deutsche
gerade für die Kurden in dem Gebiet eine besondere Verantwortung tragen; das gilt natürlich auch für Christen,
Jesiden und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften.
Es ist gut, dass die Bundesregierung schnell und in einem guten Umfang humanitäre Hilfe auf den Weg gebracht hat; das ist und bleibt ein Schwerpunkt des deutschen Engagements insbesondere im Norden Iraks. Die
Entwicklung in den letzten Monaten zeigt den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland auch, dass Peter Struck
bereits vor Jahren recht hatte, als er sagte: „Unsere Sicherheit wird … auch am Hindukusch verteidigt …“ Ich sage: Die deutsche Sicherheit wird auch im Irak verteidigt.
({1})
Es ist nun einmal so, dass zerfallende Staaten oder Staaten, die Rückzugsraum für Terroristen sind, Ausbildungs- und Trainingszentren für Menschen akzeptieren,
die auch unser Leben und unsere Sicherheit bedrohen.
({2})
Eines ist auch klar: Wenn der IS im Irak obsiegen
würde, dann würde diese fürchterliche, fundamentalistische, terroristische Idee gerade in den verwirrten Köpfen
derer, die bei uns auf der Verliererstraße sind, gewaltbereit sind und eine Affinität zur Gewalt haben, eine neue
und stärkere Strahlkraft gewinnen. Deshalb ist es perspektivisch so wichtig, dass der IS dort nicht auf die Siegerstraße gelangt.
Wenn das alles so ist und wir uns auch einig darüber
sind, dass wir selbst dort nicht eingreifen wollen - ich
meine, wir sollten dort auch nicht eingreifen -, dann
müssen wir diejenigen, die das an unserer Stelle tun und
auch für unsere Interessen sterben, am Ende so starkmachen, dass sie diesen Gegner zunächst einmal stoppen
- dies ist gelungen - und ihn perspektivisch und mittelfristig tatsächlich zurückdrängen können. Wir tun das
gemeinsam mit 60 anderen Partnern. Es ist richtig und
wichtig, dass die arabische Welt zunehmend erkennt: Es
ist zuallererst ihr Problem, und sie muss zuallererst mehr
leisten. In diesem Bereich ist aber alles auf einem guten
Weg. Deutschland stellt verantwortungsvoll Ausbildung
und Ausstattung bereit.
Es gibt eine innere Logik: Wer ausbildet, der muss
auch dafür sorgen, dass die Soldaten der Peschmerga neben ihren erlernten Fähigkeiten auch das notwendige
Gerät haben, um sich dem Terror entgegenzustellen.
Wenn es um große Waffensysteme geht, wird es schwierige Debatten geben; die sollten wir sorgsam führen. Wir
sollten keine schnellen Entscheidungen treffen. Es gibt
aber auch Dinge, die schnell gehen können. Die Frau
Ministerin hat die dramatischen Berichte angeführt - wir
haben es gehört -, dass Menschen sterben, nur weil Verbandsmaterial fehlt. Daher mein Appell an die Regierung: Helfen Sie schnell und unbürokratisch! Liefern Sie
Kleidung und Verbandsmaterial! Unsere Unterstützung
dafür haben Sie.
Wenn wir gemeinsam mit dem einen Drittel der
Länder der Vereinten Nationen, die sich an der Anti-ISAllianz beteiligen - Deutschland leistet keinen besonders großen, aber einen angemessenen Beitrag -, unsere
Verantwortung im Interesse der Menschen im Irak und
im Interesse unserer Stabilität in den nächsten Monaten
wahrnehmen, dann wird es uns kurzfristig gelingen - da
bin ich zuversichtlich -, den Terror zu stoppen; das haben wir bei unserem Besuch gesehen und gehört. Mittelfristig wird es auch gelingen, den Terror des IS aus dem
Irak zu verdrängen. Damit mich am Ende niemand
falsch versteht: Ich meine damit nicht, dass er von der
Bildfläche verschwindet. Er wird uns möglicherweise
noch viele Jahre an anderer Stelle, in anderen Zusammenhängen beschäftigen.
Deutschland sollte seinen Interessen und seiner Verantwortung gerecht werden. Deshalb stimmen wir diesem Mandat zu.
Vielen Dank.
({3})
Als nächster Redner spricht Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst möchte ich der Bundesregierung meinen Dank aussprechen für den ganzheitlichen
Ansatz, den sie bezüglich der Ausrichtung dieses Mandats gewählt hat. Es fügt sich in eine lange Reihe von
wichtigen Entscheidungen ein, die wir bezüglich Kurdistan/Nordirak getroffen haben.
Die mit Abstand schwierigste Entscheidung - neben
der Entscheidung, die wir heute treffen - war sicherlich
die im September, was ja mit Sondersitzungen sowohl
der Ausschüsse als auch des gesamten Plenums verbunden war. Die Verteidigungsministerin hat damals zu
Recht von einem Tabubruch gesprochen; denn wir haben
Waffen in ein Spannungsgebiet geliefert, was wir sonst
- mit Ausnahme unseres Verbündeten Israel - nicht machen. Ich finde, diese Ausnahme von der Regel ist genau
zum richtigen Zeitpunkt erfolgt. Die Entwicklung gibt
uns im Nachhinein recht. Es ist schon angesprochen
worden: Die Kurden haben viele Garantien und Versprechen gegeben, und sie haben diese Versprechen auch gehalten.
Ich möchte daher zunächst einmal die kurdischen
Streitkräfte dazu beglückwünschen, dass sie so erfolgreich gegen den IS vorgegangen sind. Aus einer nahezu
hoffnungslosen Situation heraus haben sie das Blatt gewendet. Es gilt, sie dabei zu unterstützen, dass sie nicht
erneut in eine hoffnungslose Situation geraten. Deshalb:
Mein herzlicher Glückwunsch und alles Gute für die
Streitkräfte im Norden des Irak!
Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ wird allerdings nicht nur durch militärische Mittel zu gewinnen
sein, sondern vor allem dadurch, dass man nicht nur den
Norden des Irak, sondern den Irak insgesamt stabilisiert.
Insofern ist der ganzheitliche Ansatz - vernetzte Sicherheit, entwicklungspolitische Maßnahmen, aber auch diplomatische Gespräche - genau der richtige Weg.
Unser Engagement wird weiterhin von der Hoffnung
getragen, dass der Irak nicht auseinanderfällt. Allerdings
ist die Situation nach wie vor sehr fragil. Man darf nicht
unterschätzen, dass es Kräfte im Irak gibt, die dieses
Land jederzeit auseinanderbrechen lassen könnten. Deshalb muss man gewappnet sein.
Die Ertüchtigung unserer Partner ist deshalb ein zentrales Vorhaben. Es ist richtig, Barzani und Talabani im
Norden bei den anstehenden Reformen zu unterstützen.
Ich bin dafür, dass wir neben der Ausbildungsmission
auch einen politischen Beitrag dazu leisten, eine wirkliche Militärreform oder Wehrreform im Norden durchzusetzen.
Natürlich ist das Engagement der Peschmerga zu begrüßen. Aber die enge Bindung an einzelne Stämme ist
im Norden des Irak langfristig sicherlich eine Herausforderung. Ich nenne als Beispiel die Jesiden. Vielen hier
im Bundestag ist die Situation der Kurden keineswegs
gleichgültig. Frau Buchholz, ich teile das, was Sie gesagt
haben, in 99 Prozent der Fälle nicht, aber ich unterstelle
Ihnen, dass Sie ein ehrliches Interesse an der Region
haben.
Es kommt darauf an, zu entscheiden, welchen politischen Beitrag wir leisten können, um die verschiedenen
kurdischen Kräfte miteinander zu versöhnen. Deshalb
halte ich eine Wehrreform bzw. eine Militärreform für
zentral; denn dadurch verfügen nicht nur einzelne
Stämme über Einheiten, sondern es findet eine Demokratisierung statt, was zu einem besseren politischen
System im Norden führt. Dafür können wir einen zentralen Beitrag leisten. Dabei setze ich meine Hoffnungen
auch in die aktuelle Regierung im Norden Kurdistans im
Irak, die wir brauchen, um dort erfolgreich zu sein.
Wir müssen die humanitäre Hilfe verstärken. Dort,
wo es möglich ist, müssen wir die Zusammenarbeit in
der Entwicklungspartnerschaft so weit vorantreiben,
dass die Region nicht in der Flüchtlingsschwemme untergeht. Das ist eine riesengroße Herausforderung, nicht
nur für die Türkei, sondern insbesondere auch für Kurdistan. Was dort passiert, stellt uns vor eine Aufgabe, die
uns sicherlich noch eine lange Zeit beschäftigen wird.
Die Flüchtlinge sind nicht gekommen, um im Nordirak
zu bleiben, aber die Prognose, dass sie dort längere Zeit
bleiben müssen, ist eindeutig. Deshalb glaube ich, dass
man auch darüber reden muss, wie man mit dieser Masse
von Menschen umgeht. Die Stadt Arbil - das haben ja
viele von uns, die diese Region besucht haben, selber gesehen - ist überhaupt nicht darauf vorbereitet. Es darf
nicht passieren, dass, nachdem wir die militärische
Katastrophe abgewendet haben, durch eine humanitäre
Katastrophe das Geschäft von ISIS übernommen wird.
Insofern ist unser Engagement gleichrangig wichtig, und
wir müssen es an dieser Stelle auch forcieren.
Ich danke in diesem Zusammenhang dem BMZ, dass
es so engagiert Projekte vorantreibt. Wir sollten das
BMZ dabei unterstützen, dies noch zu verstärken, wo es
möglich ist. Ich glaube auch, dass es der richtige Weg
ist, sowohl die kurdischen Streitkräfte als auch die Ausbildungsmission der internationalen Allianz, die einen
größeren Ansatz und den Gesamtirak im Blick hat und
nicht auf Kurdistan begrenzt ist, zu unterstützen. Das
gibt uns vielleicht die Gelegenheit, die irakischen Streitkräfte insgesamt zu stärken. Das wäre notwendig, um
überhaupt wieder politischen Spielraum zu schaffen.
Deshalb blicke ich optimistisch auf dieses Mandat.
Trotzdem bleibt uns die Herausforderung erhalten. Deshalb ist dieses Engagement auch sinnvoll. Ich bitte um
Ihr Vertrauen für dieses Mandat.
Herzlichen Dank.
({0})
Als nächster Redner spricht Florian Hahn, ebenfalls
von der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann mich noch gut erinnern, als in der letzten Sommerpause die Diskussion um mögliche Hilfeleistungen
für die Kurden im Nordirak vor dem heranrückenden
bzw. heranstürmenden ISIS begann. Wir standen damals
vor drei Alternativen: erstens nichts zu tun und zuzusehen, wie ganze Volksgruppen bestialisch ausgerottet zu
werden drohten, zweitens selbst in den Konflikt militärisch und mit „boots on the ground“ einzugreifen oder
drittens diejenigen zu unterstützen, die sich in der Region dem IS entgegenstellen. Wir haben uns nach reiflicher Überlegung und Diskussion neben der humanitären
Hilfe für die dritte Variante entschieden.
Es war richtig, den Kurden im Nordirak Waffen, Munition und Ausrüstung zu liefern. Die Peschmerga konnten in den letzten Monaten den weiteren Vormarsch des
ISIS aufhalten. Der Einsatz der von uns gelieferten Mittel war dabei entscheidend. Das haben die Kurden kürzlich bei den Gesprächen in Arbil mit unserer Ministerin,
an denen ich mit Kollegen teilnehmen konnte, sehr eindrucksvoll deutlich gemacht. Endlich haben die Kurden
etwas in der Hand, um dem heranstürmenden Daesh etwas entgegenzusetzen. So konnte beispielsweise am Tag
unseres Besuchs in Arbil ein Selbstmordanschlag verhindert werden. Ein Lkw, beladen mit Sprengstoff, von
einem Selbstmordattentäter gesteuert, konnte durch den
Einsatz der MILAN-Rakete noch vor den Reihen der
Peschmerga bekämpft und ausgeschaltet werden. Auch
konnte ein gelieferter Dingo bereits Leben retten. Bei
dem Beschuss desselben, der zur völligen Zerstörung
des Fahrzeugs führte, konnten die kurdischen Insassen
so gut wie unverletzt aussteigen.
Aber nicht nur die bessere Bewaffnung hat zu einer
gestiegenen Verteidigungsfähigkeit der Peschmerga geführt, sondern auch die damit verbundene Steigerung der
Moral, des Selbstbewusstseins; denn endlich konnte der
Mythos der Unbesiegbarkeit des IS gebrochen werden.
Trotzdem ist die Gefahr durch den IS noch lange nicht
gebannt. Nach den Anschlägen in Paris ist uns noch
klarer, dass die Kurden im Irak den IS für ihre eigene
Sicherheit und Freiheit, aber auch für uns alle bekämpfen. Zu Recht hat der UN-Sicherheitsrat festgestellt, dass
vom IS eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ausgeht und dass alle Staaten
aufgefordert sind, den Irak im Kampf gegen den IS zu
unterstützen. Schon 60 Nationen, nicht nur aus dem
Westen, haben sich dieser Allianz gegen den IS angeschlossen. Gemeinsam muss verhindert werden, dass es
zu einer Ausweitung des Schreckenskalifats kommt, zur
Unterjochung einer ganzen Region, zum Abschlachten
aller Menschen mit abweichenden religiösen Auffassungen. Die Unterstützung der Menschen vor Ort hilft letztlich auch uns. Deshalb halte ich einen Ausbildungseinsatz insbesondere zusammen mit niederländischen und
italienischen Partnern grundsätzlich für politisch richtig
und wichtig.
Die Kurden haben uns erzählt, dass die etwa 800 gefallenen Kämpfer der Peschmerga hauptsächlich deshalb
ums Leben kamen, weil sie insgesamt nur ungenügende
Kenntnisse über das richtige Verhalten im modernen Gefecht, über den Umgang mit Minen und die notwendige
Erstversorgung nach Verwundung haben. Die Ausbildung in diesen Bereichen ist daher richtig, dringend geboten und wird Leben retten. Es handelt sich also um
keinen Kampfeinsatz, sondern um eine Ausbildungsmission mit einer Mandatsobergrenze von 100 deutschen
Soldatinnen und Soldaten.
Unsere Soldaten sollen bei ihrer Ausbildung durch
kurdische Kräfte geschützt werden. Offen gesagt, habe
ich ein wenig Sorge, ob das ausreichend ist. Schließlich
sind wir dort, weil die Peschmerga eben nicht gut ausgebildet sind. Ich hätte mir deshalb eine höhere Mandatsobergrenze gewünscht. Schließlich haben wir bei anderen Ausbildungsmissionen, wie in Mali, deutlich mehr
Soldaten im Einsatz. Wir sollten daher auf die Sicherheit
unserer Soldaten ganz besonders achten, sie zusammen
mit den internationalen Partnern sicherstellen und möglicherweise bedarfsgerecht nachsteuern.
Zur Endverbleibsklausel möchte ich Folgendes sagen:
Wir sollten uns ganz genau überlegen, ob wir den Kurden unterstellen, dass sie denen Waffen verkaufen, die
sie gerade um ihrer eigenen und unserer Sicherheit willen bekämpfen.
Angesichts der militärischen Situation im Nordirak
sollten wir nicht vergessen, dass im kurdischen Gebiet,
das eine eigene Bevölkerung von etwa 5 Millionen Menschen hat, inzwischen 1,6 Millionen Flüchtlinge angekommen sind, die von den Kurden verantwortungsvoll
versorgt werden. Das ist eine unglaubliche Herausforderung für diese Region, bei der wir bereits Unterstützung
leisten und auch weiterhin Unterstützung leisten müssen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3561 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der
Integrierten Luftverteidigung der NATO auf
Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des
Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ({0})
sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates
vom 4. Dezember 2012
Drucksache 18/3698
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Achim Post von der SPD das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden über die Verlängerung des Mandats
Active Fence in der Türkei. Beginnen müssen wir mit
der dramatischen Lage in Syrien. Seit fast vier Jahren
leidet die syrische Bevölkerung nun schon unter dem
Bürgerkrieg. Das ist eine humanitäre Katastrophe, die einem das Herz zerreißt: 200 000 Menschen wurden bislang getötet. 1,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer
mussten fliehen. Zehnmal so viele Flüchtlinge wie zu
Beginn des Mandats vor zwei Jahren sind mittlerweile in
der Türkei. Das ist eine große Aufgabe für die Türkei,
die bewundernswert gemeistert wird. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen auch sagen: So klar
die Türkei Assad bekämpft, so zweifelhaft ist ihre Haltung zum ISIS.
({0})
All dies verlangt geradezu nach einer Debatte und
letztlich nach einer Entscheidung im Deutschen Bundestag. Deshalb diskutieren wir heute über die Fortschreibung des laufenden Bundestagsmandats. Sie wissen,
dass das Bundeskabinett eine Verlängerung des Mandats
bis zum 31. Januar 2016 beschlossen hat. Damit sollen
auch weiterhin zwei deutsche Patriot-Abwehrsysteme an
der Grenze zu Syrien stationiert werden.
Warum ist aus unserer Sicht, aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion, eine Verlängerung notwendig? Mit diesem Mandat verfolgen wir unser aller Ziel: eine Befriedung und politische Lösung des Konflikts.
Lassen Sie mich drei Punkte nennen.
Erstens. Die Türkei braucht Solidarität. Die Lage für
die Türkei hat sich deutlich erschwert. Jeden Tag kommen mehr Flüchtlinge. Gerade durch den Konflikt in Syrien ist unser NATO-Partner eines der am stärksten belasteten Länder der Region.
Zweitens. Die Türkei braucht Sicherheit. Die Türkei
verfügt über kein eigenes Raketenabwehrsystem. Die
ballistischen Raketen des syrischen Regimes könnten
große Teile des türkischen Territoriums erreichen. Auch
das Restrisiko syrischer Chemiewaffen kann nicht völlig
ausgeschlossen werden.
Diese schwierige Lage kann die Türkei nicht alleine
bewältigen. Sie ist deshalb auf Unterstützung angewiesen, auch auf unsere Unterstützung, meine Damen und
Herren.
({1})
Als Mittel militärischer Abschreckung soll das Mandat auch weiterhin verhindern, dass sich der syrische
Konflikt auf die Türkei ausweitet. Dies leisten mit großem Einsatz bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr, denen der Dank des Deutschen Bundestags
gebührt.
({2})
Dabei bleibt klar: Die Obergrenze von 400 Soldatinnen und Soldaten wird nicht überschritten. Der Einsatz
trägt nicht zur Unterstützung einer Flugverbotszone bei.
Unsere Beteiligung ist und bleibt ausschließlich eine
Maßnahme der Verteidigung.
Deshalb gilt nach wie vor Punkt drei: Die Türkei
braucht Verlässlichkeit. Insbesondere Deutschland als
strategischer Partner der Türkei sollte diese Verlässlichkeit zeigen.
Zusammengefasst. Die SPD-Fraktion unterstützt eine
Verlängerung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an
der Mission Active Fence.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt, dass Deutschland damit zum Schutz der Bevölkerung in der Türkei, der einheimischen Bevölkerung und
der Flüchtlinge, beiträgt. All diese Menschen haben Solidarität, haben Sicherheit und haben Verlässlichkeit verdient.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Als nächste Rednerin spricht Sevim Dağdelen von
den Linken.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leider ist Bundesaußenminister Steinmeier bei dieser wichtigen Debatte nicht zugegen.
({0})
- Ich habe „leider“ gesagt. Ich habe gar nicht hinterfragt,
ob das berechtigt oder nicht berechtigt ist.
Man muss zunächst einmal konstatieren, dass die
Bundesregierung mit dieser Einsatzverlängerung für die
Bundeswehr die deutsche Öffentlichkeit schlicht hinters
Licht führt.
Zunächst einmal stimmen die Begründungen in keinster Weise. Sie sagen, Sie kämen Erdogan gegen die syrische Bedrohung zur Hilfe. Dazu wurden im Wesentlichen drei Vorfälle als Grundlage für diesen Einsatz
angeführt, bei denen Syrien türkische Souveränität verletzt haben soll.
Da ist zunächst einmal der Abschuss eines türkischen
Militärflugzeugs durch die Syrer. Das Erdogan-Regime
sagte, der Abschuss ist über internationalem Luftraum
erfolgt. Aber der NATO-Bericht äußert große Zweifel an
der Version der Türkei. Darüber hat Monitor noch im
vergangenen Jahr berichtet. All diese Berichte scheinen
Sie schlicht nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.
Zweitens führten Sie das Attentat in der Stadt Reyhanli an. Bis heute gibt es keine Feststellung, dass Täter
die Syrer sind. Es gibt im Gegenteil jedoch zahlreiche
Berichte, die in die Richtung des türkischen Geheimdienstes weisen.
Auch die dritte Begründung für diesen Einsatz, der
Granatenbeschuss von türkischem Territorium durch die
syrische Armee, ist sehr zweifelhaft angesichts dessen,
dass dieser Beschuss offensichtlich aus den von den Rebellen kontrollierten Gebieten kam.
Trotz dieser fragwürdigen Begründungen durch die
Türkei für diesen Einsatz bezeichnen Sie die Türkei als
einen vertrauensvollen Partner, der Solidarität und Zuverlässigkeit verdient und dem es mit der fortgesetzten
Stationierung der Patriots unter die Arme zu greifen gilt.
Sie gehen sogar so weit, Erdogan Besonnenheit gegenüber Syrien zu attestieren.
Doch ich frage Sie von der Regierung: Verhält sich
der NATO-Partner Türkei gegenüber den Menschen in
Syrien tatsächlich besonnen? Im letzten Jahr griffen islamistische Terroristen das armenische Dorf Kassab im
Norden Syriens von der Türkei aus an und zerstörten
dort die christlichen Kirchen und verwüsteten das ganze
Dorf. Kassab ist vom türkischen Territorium fast komplett umschlossen, kann man sagen. Meinen Sie deshalb
wirklich, es sei der türkischen Regierung verborgen geblieben, dass islamistische Gotteskrieger mit schweren
Waffen von ihrem Territorium aus auf Kassab schießen?
Wie wollen Sie eigentlich Ihr Attest der Besonnenheit
für Erdogan den Nachfahren der Überlebenden des Völkermords an den Armeniern, der sich in diesem Jahr zum
hundertsten Mal jährt, erklären, die jetzt vor diesen islamistischen Gotteskriegern flüchten müssen, die sie von
türkischem Territorium aus angreifen?
({1})
Sie sagen jetzt: Die Türkei muss mehr gegen den Terror tun. - Aber angesichts des Verhaltens der türkischen
Regierung klingt dies zumindest in meinen Ohren wie
blanker Hohn. Denn wie können Sie mit Ihrem Attest
der Besonnenheit für das Erdogan-Regime den Menschen in Kobane unter die Augen treten, die sich seit
Monaten gegen die Angriffe des „Islamischen Staates“
verteidigen? Wie erklären Sie den mutigen Frauen und
Männern in Kobane, dass der NATO-Partner Türkei die
Grenze gegenüber den kurdischen Enklaven im Norden
Syriens geschlossen hat, während die türkische Grenze
gegenüber den vom „Islamischen Staat“ kontrollierten
Gebieten offen ist? Das möchte ich von Ihnen wissen.
({2})
Sie als Bundesregierung haben sich solidarisch mit
Charlie Hebdo erklärt. Gestern wurde die Veröffentlichung der türkischen Version der Satirezeitung in der
Türkei verboten, und sie wurde überall konfisziert. Wieder einmal wurden Journalistinnen und Journalisten in
der Türkei angegriffen. Dazu dürfen wir und vor allen
Dingen Sie als Bundesregierung nicht schweigen.
({3})
Zeigen Sie endlich, dass Sie nicht einverstanden sind
mit der Repression und der Terrorförderung Erdogans
und seiner Marionette - so wird Ministerpräsident Davutoglu in der Türkei trefflich beschrieben - in Syrien.
Dieser Terror schlägt jetzt eben auch nach Europa zurück. Dies erklärte uns der libanesische Außenminister
bereits im Frühjahr letzten Jahres bei einer Reise des Außenministers Steinmeier. Die Terrorförderung gegen
Assad und gegen Syrien, meinte er damals, ist brandgefährlich, weil sich der Terror irgendwann gegen Europa
richten wird.
({4})
Deutsche Außenpolitik darf nicht weiter auf einer
Täuschung der Bevölkerung und der Partnerschaft mit
autoritären Regimen beruhen. Deshalb bitte ich Sie:
Kehren Sie um! Beenden Sie endlich Ihre Nibelungentreue zum Erdogan-Regime in der Türkei, und ziehen
Sie die Bundeswehr dort ab!
({5})
Als nächster Redner hat der Staatssekretär Dr. Ralf
Brauksiepe das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Dağdelen, erlauben Sie mir nur den einen Hinweis: „Erdogan-Regime“ ist nicht die bei uns übliche Bezeichnung für demokratisch gewählte Staatsoberhäupter oder demokratisch gewählte Regierungen.
({0})
Wir verstehen unter „Regime“ etwas anderes.
({1})
Zum Mandat, über das wir hier heute debattieren. Im
November des Jahres 2012 hatte unser NATO-Partner
Türkei die NATO zum Schutz seiner Bevölkerung und
seines Territoriums um Unterstützung gebeten.
({2})
Dieser Bitte gingen zahlreiche Grenzverletzungen von
syrischer Seite mit Toten unter der türkischen Zivilbevölkerung voraus. Deswegen sollte für uns alle nachvollParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
ziehbar sein, dass sich unser Bündnispartner zunehmend
bedroht fühlte. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Türkei unverändert der vom syrischen Bürgerkrieg am
stärksten betroffene NATO-Verbündete ist. Deutschland
verfügt neben wenigen anderen Partnern über die erforderlichen Waffensysteme, die im Verbund den Schutz
gegen ballistische Raketen gewährleisten können. Deshalb hatten wir uns im Jahr 2012 entschieden, ab Januar
2013 zusammen mit den USA und den Niederlanden Patriot-Flugabwehrraketensysteme in der Türkei zu stationieren. Das sind die bekannten Fakten.
Der Einsatz hat sich in diesen Jahren militärisch bewährt. Über die rein militärische Komponente hinaus hat
dieser Einsatz auch weiter gewirkt, hat auch politisch gewirkt. Mit dieser solidarischen Maßnahme sind eine
Ausweitung der bewaffneten Auseinandersetzung über
Syrien hinaus und eine Beeinträchtigung der Sicherheit
der Türkei wirksam verhindert worden.
Unsere Bereitschaft im Bündnis hatte auch einen weiteren, einen abschreckenden Effekt. Er hat dem AssadRegime nämlich deutlich die Grenzen aufgezeigt und somit letztlich dazu beigetragen, dass Syrien sein Chemiewaffenprogramm offengelegt hat und die Waffen dann
mit vereinten Kräften der internationalen Gemeinschaft
vernichtet werden konnten. Durch die von der deutschen
Marine abgesicherte Vernichtung syrischer Giftgasbestände auf hoher See konnte das Bedrohungspotenzial in
dieser Region zerstört werden. Auch das ist ein wichtiger politischer Erfolg, der erreicht worden ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Folgen des syrischen Bürgerkriegs und der Vorstoß der Terrormiliz IS haben starke Auswirkungen auf
die gesamte Region. Über 1,5 Millionen Flüchtlinge
wurden allein von der Türkei aufgenommen und verlangen unserem Partner große Anstrengungen ab. In dieser
schwierigen Lage hat uns unser NATO-Partner erneut
gebeten, im Rahmen der Integrierten Luftverteidigung
der NATO türkisches Territorium und türkische Staatsbürger zu schützen. Das und nichts anderes ist der Kern
dieses Mandates, über das wir hier heute erneut debattieren: Ein NATO-Partner hat um Hilfe gebeten.
Für die Bundesregierung ist völlig klar: Bündnissolidarität ist ein hohes Gut, ein Gut, dem gerade wir Deutschen uns verpflichtet fühlen sollten, weil wir davon
über Jahrzehnte in besonderer Weise profitiert haben.
Wir stehen zu unseren Partnern in der Allianz, und wir
stehen zu unseren Zusagen. Das ist ein starkes Zeichen
für die NATO und auch für die gesamte internationale
Gemeinschaft.
Deswegen wiederhole ich mich noch einmal: Wenn
man sieht, dass es seit der Stationierung der NATO-Raketenabwehr in der Türkei keine wesentlichen Grenzverletzungen von syrischer Seite mehr gegeben hat, dann
sollte die abschreckende und damit erfolgreiche Wirkung unserer Mission für jeden Menschen guten Willens
auch offensichtlich und erkennbar sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dennoch lässt sich aufgrund der fragilen Sicherheitslage in Syrien eine Bedrohung durch
ballistische Raketen - und seien es nur fehlgeleitete und durch solche ohne chemische Kampfstoffe derzeit
nicht wegdiskutieren. Deswegen ist es auch nachvollziehbar, dass sich unser Bündnispartner Türkei von den
damit verbundenen Auswirkungen auch weiterhin bedroht fühlt.
Für uns alle, denke ich, steht außer Frage, dass wir,
wie schon bisher, mit Nachdruck an politischen Lösungen der Konflikte arbeiten. Das heißt aber ebenso, dass
wir, wenn wir von Partnern um Hilfe gebeten werden
und wir über Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügen,
einen konkreten Beitrag zu leisten, auch mit einem solchen konkreten Engagement Bündnissolidarität leben
und uns als verlässlicher Partner erweisen werden.
Nach wie vor sieht auch der NATO-Oberbefehlshaber, sieht die NATO insgesamt eine begründete Bedrohung für die Türkei. Es besteht weiterhin ein Risiko,
dem immer noch begegnet werden muss. Deshalb erklärt
sich Deutschland seit zwei Jahren bereit, bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten in die Türkei zu entsenden. Zusammen mit den USA und den Niederlanden halten wir
Flugabwehrraketensysteme vom Typ Patriot in der Türkei im Einsatz. Auch wenn die Niederlande diesen Auftrag im NATO-Rahmen an eine spanische Patriot-Einheit
weitergegeben haben, ändert sich hierbei operativ nichts.
Für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sind drei Punkte entscheidend:
Erstens. Der Einsatz erfolgt ausschließlich zu defensiven Zwecken, also zum Schutz der türkischen Bevölkerung und des türkischen Staatsgebietes.
Zweitens. Der Einsatz dient nicht der Einrichtung
oder Überwachung einer Flugverbotszone in Syrien. Das
Bundestagsmandat zieht hier eine ganz klare Grenze.
Drittens. Unsere Soldatinnen und Soldaten werden
dem NATO-Oberbefehlshaber unterstellt. Er ist durch
den NATO-Rat beauftragt. Der Einsatz erfolgt im Rahmen der sogenannten Integrierten Luftverteidigung der
NATO im Einklang mit dem dazugehörigen Verteidigungsplan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann feststellen:
Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hat sich in
diesem Jahr bewährt. Bis heute schützen wir die türkische Bevölkerung und das türkische Territorium erfolgreich vor Angriffen mit syrischen Raketen, und das bei
hoher Akzeptanz durch die Menschen, wie ich erst vor
wenigen Tagen bei einem Besuch feststellen konnte,
({3})
und unter Bedingungen, die sich durch das gute Miteinander mit den türkischen Soldaten, die dort eng mit uns
zusammenarbeiten, deutlich verbessert haben. Ich
möchte allen, den deutschen Soldatinnen und Soldaten
und auch denen unserer Partner, meinen Dank und meinen Respekt für diesen erfolgreichen Einsatz aussprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Die bereits angesprochenen Rahmenbedingungen unseres rein defensiven Einsatzes bleiben unverändert. Als
Stichwort nenne ich die Obergrenze von 400 Soldatinnen und Soldaten, die wir bei weitem nicht erreichen.
Knapp 250 Soldatinnen und Soldaten sind dort vor Ort.
Unser Partner USA wird sein Engagement ebenfalls
fortsetzen, und Spanien hat seine Bereitschaft zur Teilnahme vom Ende dieses Monats an bereits beschlossen.
Wir sind weiter eingebunden in ein Bündnis von Partnern und leisten weiterhin unsere Solidarität. Deswegen
bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des
Mandates Active Fence Turkey für die kommenden
zwölf Monate.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Dr. Tobias
Lindner von den Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute zum dritten Mal über das Mandat Active Fence.
Bei jeder Beratung über dieses Mandat hat sich die Lage
in der Türkei und im türkisch-irakisch-syrischen Grenzgebiet elementar verändert. Deswegen ist es bei jeder
Beratung notwendig, sorgfältig zu prüfen, ob die Gründe
für dieses Mandat noch gegeben sind.
({0})
Meine Fraktion hat es sich nie einfach gemacht. Ich
erinnere mich an die erste Beratung. Genau die Gründe,
Herr Staatssekretär, die Sie eben genannt haben, die Bedingungen, unter denen die Patriot-Systeme stationiert
werden können - die Unterstellung unter den NATOOberbefehlshaber und die Unmöglichkeit, in den syrischen Luftraum einzugreifen -, waren und sind für uns
elementar. Dieses Mandat muss auf das beschränkt bleiben, wofür es da ist, nämlich die Türkei, unseren Bündnispartner, schützen zu können.
Es muss aber auch darum gehen, bei jeder Beratung
neu zu erörtern: Ist die Situation der Bedrohung noch gegeben? Wir haben hier eine ambivalente Situation, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Zum einen können wir zum
Glück feststellen, dass hoffentlich alle Chemiewaffen in
Syrien vernichtet worden sind; das ist ein großer Fortschritt.
({1})
Wir müssen allerdings mit Bedauern feststellen, dass es
in Syrien nach wie vor ballistische Waffen gibt, die natürlich eine Bedrohung für die Türkei darstellen können,
und wir müssen mit noch größerem Bedauern feststellen,
dass durch das Erstarken des „Islamischen Staates“ eine
Situation eingetreten ist, die sich für mich persönlich
noch verworrener als vor einem Jahr darstellt. Deswegen
kann ich persönlich nachempfinden, dass sich der NATOBündnispartner Türkei bedroht fühlt und um Hilfe gebeten hat.
Herr Staatssekretär, ich würde Ihnen zustimmen: Das
Hilfeersuchen eines Bündnispartners ist eine ernste Angelegenheit, und es darf nur in gewichtigen Fällen dazu
kommen, dass man einem solchen Ersuchen nicht nachkommt. Aber genauso möchte ich feststellen: Ein solches Hilfeersuchen entbindet uns als Parlament nicht davon, genau hinzusehen und zu prüfen: Sind Gründe
dafür gegeben? Vor allem entbindet es die Bundesregierung nicht, darauf hinzuwirken, dass man etwas gegen
das Entstehen von Bedrohungen in der Region tut und
mehr humanitäre Hilfe in dieser Region geleistet wird.
({2})
Wenn wir einen Bündnispartner unterstützen, dann
sollten wir das nicht blind tun. Kritik an der türkischen
Regierung ist an dieser Stelle nicht nur gerechtfertigt,
sondern sogar geboten. Die türkische Regierung hat in
den letzten zwölf Monaten nicht immer eine rühmliche
Rolle in diesem Konflikt gespielt. Im Gegenteil, sie ist
aus meiner Sicht nicht konsequent genug gegen islamistischen Terror in dieser Region vorgegangen. Sie muss
klarstellen, dass es weder direkte noch indirekte Unterstützung - auch nicht durch Unterlassen - von Islamisten
gibt, und sie muss noch mehr Anstrengungen an den Tag
legen, um den Friedensprozess mit den Kurden voranzutreiben.
({3})
Wenn wir über dieses Mandat reden, müssen wir als
Deutscher Bundestag, gleich wie wir abstimmen, auch
unsere Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und
Soldaten, die wir in diesen Einsatz entsenden, im Blick
haben. Ich sage das in Gegenwart auch des Vorsitzenden
des Deutschen BundeswehrVerbandes, den ich auf der
Tribüne begrüßen darf. Durch meine schriftliche Frage
an die Bundesregierung ist offenbar geworden, dass wir
die Zusage gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die
sich in einen Auslandseinsatz begeben, dass sie nach
vier Monaten Dienstzeit im Ausland zwanzig Monate in
Deutschland ihren Dienst tun können, bei diesem Einsatz inzwischen in über einem Drittel der Fälle nicht einhalten können. Ich fordere deshalb an dieser Stelle die
Bundesregierung auf: Wenn dieses Mandat im Bundestag beschlossen wird, dann müssen Sie alles, aber auch
wirklich alles tun, damit wir diese Zusage gegenüber den
Soldatinnen und Soldaten einhalten können.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Türkei hat uns
um Unterstützung gebeten. Diese Bitte müssen wir ernst
nehmen und genauso ernsthaft prüfen. Wir sollten ein
solches Ansinnen nur aus gewichtigen Gründen verwehren. Wir dürfen unsere Augen aber nicht vor einer fragwürdigen Politik und vor der Belastung unserer Soldatinnen und Soldaten verschließen. Mit diesen Prämissen
wird meine Fraktion in die anstehenden AusschussberaDr. Tobias Lindner
tungen zu diesem Mandat gehen und dann in der zweiten
und dritten Lesung ihre Entscheidung treffen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als nächster Redner hat der Kollege Thomas
Hitschler das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute über die Fortsetzung des
Bundeswehreinsatzes in der Türkei. Derzeit befinden
sich auf Bitten der türkischen Regierung etwa 260 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Osten unseres
NATO-Partnerlandes als Teil einer NATO-Mission. Auftrag der Bundeswehr ist in erster Linie, die Grenzregion
um die Stadt Kahramanmaras mit den bodengestützten
Mittelstrecken-Flugabwehrraketen Patriot zu schützen.
Im Gegensatz zu den selbsternannten patriotischen
Abendlandverteidigern hierzulande sind die Patriot-Systeme der Bundeswehr aufgrund einer realen Bedrohung
dort.
Infolge des grauenvollen Bürgerkriegs schossen syrische Regierungstruppen 2012 mehrfach über die gemeinsame Landgrenze in türkisches Gebiet. In der Nähe
der Grenze liegt die Region Kahramanmaras. Allein in
der Großstadt gleichen Namens leben mehr als eine
halbe Million Menschen. Hinzu kommt, dass es unmittelbar vor der Stadt ein großes Flüchtlingslager mit
17 000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen gibt. Diese
Menschen haben in dem Konflikt bereits so gut wie alles
verloren.
Wir müssen uns etwas vor Augen führen: Im Jahr
2012 verfügte das syrische Regime über ein beträchtliches Arsenal an Chemiewaffen und über Mittel, diese
auf die Türkei abzufeuern. Von Kahramanmaras bis zur
syrischen Grenze sind es etwa 100 Kilometer. Eine ballistische Rakete fliegt in der Regel mit mehrfacher
Schallgeschwindigkeit und überbrückt diese Distanz in
einem Augenblick. Die Menschen in und um Kahramanmaras lebten im Sommer 2012 mit der Situation, dass
alles, was sie kannten, ohne Vorwarnung ausgelöscht
werden konnte. Daher bat die Regierung des NATO-Mitglieds Türkei im Herbst 2012 um Beistand. Dieser Bitte
leisteten wir Folge.
Mit den Patriot-Systemen füllt die Bundeswehr gemeinsam mit anderen Partnern eine Fähigkeitslücke der
türkischen Streitkräfte, indem sie einen aktiven Schutzschild an der türkisch-syrischen Grenze errichtet. Diese
Fähigkeit, die wir als besondere Spezialität in unser gemeinsames Bündnissystem einbringen, kann die Türkei
selbst nicht vorweisen. Man muss Hilfe leisten, wenn
man darum gebeten wird - das ist etwas, auf das in einer
Freundschaft und in einem Bündnis Verlass sein muss.
Die Patriot-Systeme der Bundeswehr sind wie die
Soldatinnen und Soldaten, die sie bedienen, in diesem
Bereich top. Im Militärjargon wird von einer Kill Probability von mehr als 90 Prozent gesprochen. Das bedeutet,
dass mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 Prozent
ein auf die Region Kahramanmaras abgefeuerter Flugkörper abgefangen werden kann. Den Menschen in
Kahramanmaras und im gesamten Grenzgebiet wird somit ein Stück weit Sicherheit zurückgegeben. Sie vertrauen auf ihren Bündnispartner Deutschland und damit
auch auf uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vor ein paar Wochen hatte ich die Chance, mir in Ankara und in Kahramanmaras selbst ein Bild von der Lage
zu machen. Die türkische Regierung ist dankbar für den
deutschen Beitrag und vertraut auf unsere Freundschaft
und auf unsere Bündnissolidarität, so wie wir dankbar
sein sollten, dass die Türkei insgesamt 1,6 Millionen
Bürgerkriegsflüchtlinge aus humanitären Gründen aufgenommen hat und diese schier unglaubliche Anzahl an
Menschen als Gäste willkommen heißt. Auch wenn ich
nicht jede innenpolitische Entwicklung in der Türkei begrüße, ja vieles stark kritisiere: In Bezug auf die Flüchtlingsproblematik können wir der Türkei nur herzlich
danken.
({0})
Die Regierung in Ankara weiß aber auch, dass der
Konflikt in Syrien noch lange nicht beigelegt ist. Die
Gefahr eines erneuten Raketenschlags auf türkischem
Boden bleibt also bestehen. Zugegeben: Die Bedrohungslage hat sich für die Türkei etwas verschoben. Die
Bitte unseres Partners bleibt aber bestehen, und sie ist
auch gerechtfertigt. Daher bitte ich Sie, den Wunsch der
türkischen Regierung nach einer Fortsetzung der Bundeswehrmission sehr ernst zu nehmen.
Dass es die Türkei mit der Partnerschaft innerhalb der
NATO ernst meint, zeigt auch die mittlerweile gute Situation unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort. Ob
Unterbringung, sanitäre Einrichtungen, Verpflegung,
Zusammenarbeit mit den türkischen Streitkräften - alles
scheint nach meinem Eindruck mittlerweile sehr gut zu
laufen. Wir alle wissen, dass das nicht immer so war.
Die Soldatinnen und Soldaten vor Ort, von denen
manche dreimal oder öfter im Rahmen von Active Fence
im Einsatz waren, verdienen ebenfalls den Respekt und
die Anerkennung dieses Hauses.
({1})
Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch an
die Gelben Bänder der Verbundenheit, die wir alle vor
den Feiertagen unterschrieben haben. Diese Geste der
Verbundenheit ist vor Ort unglaublich gut angekommen.
Ich hatte die Ehre, der Truppe in Kahramanmaras eines
dieser Bänder zu übergeben als Zeichen dafür, dass wir
die Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen, dass wir
nicht einsame Entscheidungen treffen und dann einmal
sehen, wie sich die Lage entwickelt. Nein, ich habe vor
Ort mitgeteilt, dass die Mehrheit des Deutschen Bundestages dankbar ist, wenn Menschen ihrem Land auch über
die Feiertage dienen, und sie dann nicht vergessen sind;
ganz im Gegenteil.
({2})
Nutzen wir diese Debatte, um den Soldatinnen und
Soldaten vor Ort ein klares Zeichen der Unterstützung
für den Einsatz und die gute Arbeit, die sie leisten, zu
senden! Nutzen wir die Chance, unseren Freunden in der
Türkei zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen, wenn sie
uns brauchen! Bitte stimmen Sie daher der Verlängerung
des Mandats zu.
({3})
Als nächster Redner hat der Kollege Philipp
Mißfelder, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich schließe mich dem Dank an die Soldatinnen und Soldaten, die dort wirklich hervorragende
Arbeit leisten, an. Herr Kollege Hitschler hat es schon
angesprochen: Dass die Host Nation Türkei jetzt bessere
gastgeberische Qualitäten zeigt als am Anfang, ist auf jeden Fall beruhigend. Das Land ist ja generell dafür bekannt, ein sehr guter Gastgeber zu sein. Das war zu Beginn der Operation allerdings nicht so. Insofern schließe
ich mich Ihrem Optimismus an, dass das so bleiben
wird.
Ich möchte zur Situation in der Türkei noch ein paar
Anmerkungen machen, weil das für den Rahmen des
Mandats nicht ganz unwichtig ist. Staatssekretär
Brauksiepe hat vorhin dankenswerterweise richtiggestellt, dass wir mit der Türkei sehr eng verbunden sind
und das Land als wichtigen NATO-Partner ansehen.
Frau Dağdelen, ich glaube, auch ein großer Teil der
türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland teilt Ihre
Einschätzung nicht. Man kann sicherlich vieles kritisieren; aber Ihre einseitigen Überlegungen zur türkischen
Regierung gehören hier nicht hin. Sie können kritische
Punkte ansprechen; aber wir sollten nicht versuchen, anhand dieses Mandats, das durch außenpolitische Rahmenbedingungen geprägt ist, hier im Deutschen Bundestag innertürkische Debatten zu führen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Türkei für
uns der Dreh- und Angelpunkt ist, wenn es um die strategische Ausrichtung der Nahostpolitik oder auch der
Nordafrikapolitik Deutschlands geht. Gar keine Frage:
Wir brauchen die Türkei als verlässlichen Partner. Gerade haben wir über Kurdistan im Nordirak gesprochen.
Ohne das Engagement der Erdogan-Administration hätte
Kurdistan im vergangenen Jahr sicherlich nicht eine so
gute Entwicklung genommen. Trotzdem gibt es dort natürlich große Probleme, auch wegen des Machtkampfs
im Nahen Osten. Ich denke dabei an die Auseinandersetzungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und als
aufstrebende Macht auch der Türkei.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen zu?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Es mag sein, dass es sowohl in der Türkei als auch in Deutschland unterschiedliche Ansichten über Erdogan, seine Macht und die
Strukturen gibt. Aber zu zwei Dingen möchte ich Sie
hier kurz befragen.
Erstens. Was sagen Sie zu den konkreten Punkten, die
ich in meiner Rede erwähnt habe, beispielsweise dazu,
dass der Abdruck einiger Seiten aus der Satirezeitung
Charlie Hebdo gestern verboten worden ist, die Ausgaben der entsprechenden Zeitungen konfisziert worden
sind und Journalisten angegriffen worden sind? Möchten
Sie dazu weiter schweigen?
Zweitens. Was denken Sie, wie man den Menschen,
die in Kobane seit Monaten gegen den IS kämpfen, erklären kann, dass die IS-Kämpfer in den Krankenhäusern auf türkischem Territorium behandelt werden können, aber die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer
vor der Grenze verbluten müssen, weil sie wegen des
Embargos nicht ins Land dürfen? - Auf diese Fragen
hätte ich gerne eine Antwort.
Als Drittes möchte ich Sie fragen, weil Ihr Kollege,
Herr Brauksiepe, ohne irgendeinen Beleg behauptet
hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei
für den Patriot-Einsatz sei, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass das bislang erst ein repräsentatives
Meinungsforschungsinstitut, der German Marshall Fund,
untersucht hat. Dieses amerikanische Institut hat im November 2012 eine Umfrage gemacht, nach der über 57
Prozent der Menschen in der Türkei gegen den PatriotEinsatz waren.
({0})
Wie kommen Sie oder Ihr Kollege dann dazu, ohne irgendeinen Beleg zu behaupten, dass die Mehrheit der
Bevölkerung für den Einsatz sei? Bislang gibt es keine
Umfrageergebnisse in dieser Richtung.
Ich fange mit der letzten Frage an, Frau Dağdelen. Ich
weiß nicht, auf welcher empirischen Grundlage die Aussage von Herrn Brauksiepe erfolgt ist. Ich kann nur sagen, dass ich in Gesprächen mit Vertretern der Türkei
den Eindruck hatte, dass der Einsatz durchaus willkommen ist. Ich kenne die Umfrage nicht - das sage ich ganz
offen -, verweise aber darauf, dass wir bei Mandaten für
Einsätze, die wir für sinnvoll erachten, auch häufig mit
Umfragewerten konfrontiert werden, die wir nicht befriedigend finden. Militärische Aktivitäten scheinen ofPhilipp Mißfelder
fenbar immer eine politische Führungsaufgabe zu sein,
um es einmal so zu formulieren.
Zu Ihren beiden anderen Fragen. Was die Zeitschrift
angeht, habe auch ich mit großem Interesse die türkischen Reaktionen verfolgt. Das finden wir natürlich
nicht gut; das ist gar keine Frage. Die Meinung in
Deutschland ist ganz klar, dass Satire definitiv zur freien
Meinungsäußerung gehört. Ich möchte allerdings an dieser Stelle bemerken, dass ich auch großen Respekt vor
den Gefühlen aller Menschen habe, die gläubig sind. Das
gilt sowohl, wenn im Kölner Dom jemand Unruhe stiftet, als auch dann, wenn in der Erlöser-Kirche in Moskau
Unruhe gestiftet wird oder Mohammed aus der Sicht des
Gläubigen beleidigt wird. Diese religiöse Verletztheit
rechtfertigt allerdings nicht, Menschen in Straflager zu
sperren. Sie rechtfertigt auch nicht, Menschen in die Luft
zu sprengen oder zu erschießen. Das hat die türkische
Regierung aber auch nicht getan.
({0})
- Dass eine Partei in einem Land, das mehrheitlich sehr
gläubig ist, versucht, gesellschaftliche Entwicklungen
wie die Ausprägung des Islams, an der Sie sich bekanntermaßen stören - man kann in der Tat sehr intensiv diskutieren, ob die AKP auf dem richtigen Weg ist -, abzubilden, trägt sicherlich erst einmal zur Befriedung bei.
Das ist gar keine Frage. Aber wir sind mit der Wahl der
Mittel der Türkei nicht einverstanden. Das machen wir
auch bei jeder Begegnung mit dem Botschafter deutlich.
Sie haben Kobane angesprochen. Die Situation dort
zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Darauf werde ich
noch im Fortgang meiner Rede eingehen.
Der Einsatz ist deshalb notwendig, weil die Türkei
sich innenpolitisch in einer ganz anderen Bedrohungssituation befindet als wir. In jüngster Zeit hat es wieder
Selbstmordattentate gegeben. Das trägt in der Türkei innenpolitisch zu einer aufgeheizten Stimmung bei, die bei
uns, wie ich glaube, mindestens genauso groß wäre,
wenn wir in Berlin, Köln oder anderswo in Ballungszentren mit solchen konkreten Bedrohungssituationen konfrontiert wären. Das darf man nicht unterschätzen.
Der zweite wichtige Punkt ist die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Syrien. Auch
an dieser Stelle widerspreche ich der Türkei in vielen
Punkten massiv. Denn wir dürfen die Debatte darüber,
wer das kleinere Übel ist - die islamistischen Fundamentalisten, die gegen Assad kämpfen, oder Assad selbst -,
nicht führen. Auch von russischer Seite ist zu hören, dass
sie Assad im Vergleich zu ISIS als das kleinere Übel betrachten. Das darf nicht der Maßstab sein. Ähnlich ist
das Argumentationsmuster der türkischen Seite, die
nicht offiziell, aber durch die Blume sagt: Wir müssen
mit der Opposition in Damaskus, auch wenn sie nicht
gemäßigt sein sollte, zusammenarbeiten, um Assad, den
schlimmeren Schlächter, auszuschalten. - Das darf nicht
Maßstab unserer Politik sein, und das ist es auch nicht.
Aber es zeigt die Komplexität dieses Konflikts. Die
Feststellung, dass es keinen Frieden mit Assad geben
wird - das habe ich selbst mehrmals gesagt, und das haben auch Vertreter der Regierung zur Genüge getan und dass nur eine Friedenslösung ohne Assad vorstellbar
ist, ist so nicht mehr zu halten. Die Situation hat sich
verändert. Des Weiteren hat sich die Opposition, die die
Türkei anfangs tatkräftig unterstützt hat, in eine so negative Richtung entwickelt, dass man sich eigentlich
wünscht, dass keine der beiden Seiten die Macht erhält
bzw. behält. Vor diesem Hintergrund ist die Komplexität
des Syrien-Konflikts auf jeden Fall gegeben.
Nichtsdestotrotz sage ich, dass ein politischer Prozess
mit unzähligen Gesprächen, den wir nach wie vor anstreben, auch wenn sich der Fokus der Öffentlichkeit verschoben hat, richtig ist. Wir müssen mit der Türkei eng
und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Insofern bewerte
ich den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in
Berlin zu Beginn dieser Woche als Erfolg. Wir sollten
unseren Weg fortsetzen. Die Verlängerung des Mandats
ist richtig.
Herzlichen Dank.
({1})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Florian Hahn, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sollten uns die Situation der Türkei und ihrer Bevölkerung noch einmal deutlich vor Augen führen. Der
überwiegende Teil der Außengrenzen der Türkei ist
nicht gerade von Sicherheit und Stabilität gekennzeichnet. 900 Kilometer Grenze zu Syrien und 350 Kilometer
Grenze zum Irak zeigen das. Hunderttausende Flüchtlinge sind inzwischen über diese Grenzen in die Türkei
geflohen, geflüchtet vor dem Bürgerkrieg und der barbarischen Daesh, die auf bestialische Weise mordet und
vergewaltigt; wir alle kennen die Bilder. Vor diesem
Hintergrund kann ich verstehen, dass die Türkei und vor
allem ihre Bevölkerung ein riesiges Sicherheitsbedürfnis
haben, das sich die meisten von uns nicht vorstellen können. Vielleicht hilft uns die Erinnerung an die Zeit vor
1990, als gerade wir Deutsche ein solch großes Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität hatten.
Wir müssen und wollen als verlässlicher Partner in
der NATO der Türkei in dieser Situation weiterhin zur
Seite stehen und sie unterstützen. Wir haben deswegen
vor zwei Jahren das Mandat Active Fence zum ersten
Mal auf den Weg gebracht. Hintergrund war die mögliche Bedrohung der Türkei durch Kurzstrecken- und Mittelstreckenwaffen sowie durch chemische Waffen aus
dem Bürgerkriegsgebiet Syrien. Deshalb haben wir gemeinsam mit unseren Freunden aus den Niederlanden
und den Vereinigten Staaten mit dem Patriot-System einen Schutzschild aufgebaut. Wir waren uns schon damals einig, dass das Risiko eines syrischen Angriffs
nicht sehr hoch ist. Inzwischen hat sich dieses Bedrohungsszenario verändert. Nach meiner Einschätzung hat
sich das Risiko verringert. In den letzten zwei Jahren
wurden keinerlei ballistische Angriffe auf die Türkei unternommen. Die chemischen Waffen konnten wir inzwischen gemeinsam weitestgehend vernichten.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Gerade mit Blick auf
das vorhin skizzierte Sicherheitsbedürfnis der türkischen
Bevölkerung halte ich einen plötzlichen und überstürzten Abzug der Patriot-Systeme für nicht richtig; das wäre
ein falsches Zeichen. Allerdings sollten wir das kommende Jahr nutzen, um in enger Abstimmung mit unserem Bündnispartner Türkei zu klären, ob man wirklich
noch von einer Bedrohung durch Raketen ausgehen kann
oder ob wir nicht auf andere Weise eine viel nützlichere
Unterstützung anbieten können. Schließlich bedeutet ein
solcher Einsatz, der uns pro Jahr 20 Millionen Euro kostet, gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten eine
nicht zu unterschätzende Belastung. Die meisten der auf
dem Patriot-System ausgebildeten Soldaten müssen jedes Jahr - der Kollege Lindner hat das schon dargelegt für mehrere Monate in die Türkei in den Einsatz, weg
von zu Hause, weg von der Familie. Wenn dieser Einsatz
dann sicherheitspolitisch kaum noch einen Nutzen hat,
ist er langfristig nicht mehr darstellbar. Zudem werden
erhebliche Fähigkeiten im Bereich der Luftverteidigung
durch diesen Einsatz gebunden. Die Möglichkeit der
NATO, auf andere Szenarien zu reagieren, ist damit stark
eingeschränkt. Für die Türkei als wirtschaftlich aufstrebende und erfolgreiche Nation in einer unruhigen Region wäre vielleicht mittelfristig der Aufbau eigener Kapazitäten im Bereich der bodengebundenen Luftabwehr
ratsam.
Inzwischen haben 1,7 Millionen Menschen Zuflucht
in der Türkei gesucht. Ihre Unterbringung und Versorgung ist für den türkischen Staat eine unglaubliche Herausforderung. Ich kann mir vorstellen, dass wir als Partner bei der Bewältigung dieser Herausforderung vor Ort
in der Türkei noch viel hilfreicher sind als mit unseren
Patriot-Systemen in Kahramanmaras.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3698 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Christian
Kühn ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zukunft der Tierhaltung - Artgerecht
und der Fläche angepasst
Drucksache 18/3732
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu setzen
bzw. ihre Gespräche außerhalb des Saals fortzusetzen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Agrarier wollen
zur Eröffnung der Grünen Woche; deshalb herrscht ein
gewisser Zeitdruck, dass ihr, Kolleginnen und Kollegen,
die Plätze einnehmt.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin besorgt, besorgt und erbost. In den vielen Jahren und Jahrzehnten, in denen ich mich agrarpolitisch engagiere,
habe ich schon sehr viel erlebt. Diskurse können hart,
müssen aber immer sachlich geführt werden. Das Maß
der unsachlichen Feindseligkeit hat dieser Tage Ausmaße angenommen, die auch mich überrascht haben.
Die Grünen redeten, so der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, Herr Krüsken, über Landwirte
„wie Pegida über Ausländer“.
({0})
Solche Äußerungen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU, gehen eindeutig zu weit. Derartig furchtbare
Vergleiche verbitte ich mir aufs Schärfste.
({1})
Wer sich sprachlich auf dieses unterirdische Niveau begibt,
der diskreditiert sich als Gesprächspartner für konstruktive
Diskussionen, den lassen wir Grüne in Zukunft allein die
Gräben ausheben und vertiefen.
Wir Grüne sind für die Landwirtschaft, für lebendige
ländliche Räume, für artgerechte Tierhaltung und vor allen Dingen für eine Situation für die Bäuerinnen und
Bauern, in der sie sorgsam und nachhaltig mit Boden
und Tieren umgehen können und angemessen dafür entlohnt werden.
({2})
Die Agrarpolitik der CDU/CSU hat die Landwirtschaft jedoch in eine Sackgasse geführt. Von den zahlreichen Missständen will ich exemplarisch drei aufführen.
Ich könnte noch 20 andere hinzufügen; aber dazu fehlt
die Zeit.
Erstens. 5 Prozent der Betriebe bekommen rund
42 Prozent der EU-Direktzahlungsansprüche - das sind
2,4 Milliarden Euro Steuergeld - pro Jahr. Dabei wäre
genug Spielraum auf nationaler Ebene gewesen, diese
Gelder in den Erhalt und die Förderung der ländlichen
Räume zu investieren. Doch Sie als Bundesregierung haben sich anders entschieden.
Zweitens. Allein die Region Weser-Ems, beispielhaft
für viele andere Veredelungsregionen in Nordwestdeutschland, produziert einen Gülleüberschuss für
250 000 Hektar Ackerland. Die Flächen sind mit Nährstoffen überlastet, das Grundwasser erst recht.
Drittens. Durch die Exportorientierung der Bundesregierung sind die Erzeugerpreise deutlich volatiler geworden. Die Bauern werden zu Produktionssteigerungen
verleitet, die der Weltmarkt in Kürze nicht mehr aufnehmen kann und auch heute schon nur noch bedingt aufnimmt. Das ist keine nachhaltige Politik.
Das sind Missstände, die alle Bäuerinnen und Bauern
bewegen.
({3})
Zeitgleich mit der nicht mehr verkraftbaren Intensivierung der Landwirtschaft wird der Preisdruck auf die
Tierhalter dermaßen verschärft, dass sie gezwungen
sind, ihre Tierbestände über ein selbst gewolltes Maß hinaus zu vergrößern. Tierhalter wollen ihre Tiere anständig behandeln; aber bei einem Schweinefleischpreis von
1,25 Euro pro Kilo wird das sehr schwierig. Bäuerinnen
und Bauern sind keine verrohten Tierquäler, nur weil
kein Bio-Logo am Hoftor klebt. Doch die ökonomischen
Zwänge sind zum Teil so stark, dass die Gefahr besteht,
Abstriche beim Tierschutz zu machen, um die Rentabilität und das Familieneinkommen zu sichern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist das politische Problem.
({4})
Wenn eine Stalleinheit aus knapp 40 000 Hähnchen
bestehen muss und die Tiere in 33 Tagen schlachtreif
sein müssen, da die Tierhaltung sonst nicht mehr rentabel ist, dann gibt es viele Fragen, Fragen, die auch wir zu
lösen haben. Minister Schmidt hat vor wenigen Tagen
gesagt - er sagt ja manchmal auch bemerkenswerte
Dinge -: „Ab einer bestimmten Größe stoßen die Betreuungsmöglichkeiten an ihre Grenzen.“
({5})
Wie wahr! Deshalb ist der Strukturwandel keine zu begrüßende Entwicklung, sondern ein Verlust, ein Verlust
für den ländlichen Raum, ein Verlust für den landwirtschaftlichen Mittelstand und den Tierschutz. Dem müssen wir entgegenwirken.
({6})
Die Entwicklung zu immer größeren Anlagen in
Kombination mit einem schon unanständigen Preisdumping bei tierischen Produkten, Nitrat und Phosphat im
Grundwasser und antibiotikaresistenten Keimen im
Fleisch und im Stall führen zu einem wachsenden Unbehagen der Bevölkerung gegenüber dem, was in den abgeschotteten Tierhaltungsanlagen zwischen Nordsee und
Ruhrgebiet passiert.
Dieses Unbehagen werden übermorgen wieder viele
Tausend Demonstrierende unter dem Motto „Wir haben
es satt!“ auf die Straßen von Berlin tragen. Diese Menschen sind keine Bauernhasser. Diese Menschen mögen
das Land; sie mögen die Natur. Sie wollen hochwertige
Lebensmittel von artgerecht gehaltenen Tieren, die für
ihre Ställe nicht zurechtgestutzt und nicht mit Antibiotika gepusht werden. Ihre und unsere Aufgabe, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist es, diese beiden Gruppen
zusammenzubringen, endlich eine Diskussion aufzunehmen, wie wir in Zukunft in Deutschland Landwirtschaft
betreiben wollen, ob wir die Lieferanten für China sein
wollen und die chinesischen Milchbauern in den Abgrund schicken wollen oder ob wir hier, angepasst an die
Bedürfnisse unserer europäischen Bevölkerung, produzieren wollen.
Die Feindseligkeit aber, die von Ihnen, von CDU und
CSU, teilweise beschworen wird,
({7})
gibt es in dieser Form gar nicht. Sie verhindert konstruktive Entwicklungsprozesse hin zu einer tier- und umweltverträglichen nachhaltigen Landwirtschaft, vor allen
Dingen mit fairen Preisen für alle Beteiligten.
Wenn Sie weiterhin nur die Klientelpolitik des Bauernverbandes umsetzen, die für die größten 5 Prozent der
Betriebe auf dem Rücken des bäuerlichen Mittelstands
ausgetragen wird, dann machen Sie eine Politik gegen
die Landwirtschaft, eine Politik gegen lebendige ländliche Räume, eine Politik gegen artgerechte Tierhaltung
und vor allen Dingen eine Politik gegen die Masse der
Bäuerinnen und Bauern.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Termingerecht
zum heutigen Beginn der 80. Internationalen Grünen
Woche in Berlin starten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antrag
abermals den Versuch, einen Generalangriff auf die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft zu reiten.
({0})
Nun könnte man als Agrarpolitiker ja froh sein, dass
wir diese Landwirtschaftsdebatte am Nachmittag und
nicht fünf Minuten vor Mitternacht in diesem Hohen
Hause führen. Man könnte das, wenn Sie diese Debatte
nicht abermals zeitgleich mit dem Besuchs- und Gesprächswunsch von zwei EU-Kommissaren und dem Eröffnungsabend der Internationalen Grünen Woche, dem
größten Ereignis der Branche in unserem Land, terminieren würden.
({1})
Ich bin der Meinung, dass wir zu diesem Zeitpunkt als
Agrarpolitiker des Gastgeberlandes für diese Gespräche
zur Verfügung stehen sollten. Ich hielte das für unser
Land, für Europa und für die Lösung der auch von Ihnen
angesprochenen Themen für sehr wichtig.
({2})
Mit dem von den Oppositionsfraktionen heute gewählten
Debattenzeitpunkt machen Sie das jedoch zum wiederholten Male teilweise unmöglich. Ich finde das nicht
redlich.
Ich will zunächst aber den heutigen Abend, den unmittelbar bevorstehenden Eröffnungsabend der Grünen
Woche in unserer Hauptstadt, zum Anlass nehmen, mich
im Rahmen dieser Debatte bei allen in der Branche Tätigen dafür zu bedanken, dass sie 365 Tage im Jahr, egal
ob Wochentag, Sonntag oder Feiertag, für ihre Tiere sorgen, sowie dafür, dass sie den ländlichen Raum pflegen
und die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Menschen in unserem Land und in Europa satt sind.
({3})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich fraktionsübergreifend diesem Dank anschließen können und nicht gerade
heute mit neuen Forderungen an die Branche auftreten.
Ich verhehle nicht, meine Damen und Herren, dass
ich mir auch wünschen würde, dass die Medien in unserem Land gerade anlässlich der Grünen Woche diese
Wertschätzung vermehrt erkennen ließen und über die
fleißige Arbeit vieler in der Branche Tätiger berichten
würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ARD-Morgenmagazin - die ARD ist immerhin ein gebührenfinanzierter öffentlich-rechtlicher Sender ({4})
berichtet heute, dass ausgerechnet Berlin sich zum Zentrum der veganen Szene entwickelt.
({5})
Statt anlassbezogen über einen bäuerlichen Betrieb oder
über einen Betrieb der Ernährungsbranche zu senden
- dabei ist mir, lieber Kollege Ostendorff, der konventionell produzierende genauso wichtig wie der Biobetrieb -,
wurde heute Morgen im Ersten Deutschen Fernsehen berichtet, dass man mittlerweile auch eine vegane Lederpeitsche im Sexshop erwerben könne, welche aus alten
Fahrradschläuchen hergestellt werde.
({6})
Mir zumindest fehlt dafür jedes Verständnis.
Beim Lesen Ihres Antrags habe ich festgestellt: Ich
stimme immerhin damit überein, dass der Viehbesatz in
manchen Regionen vielleicht zu hoch ist und dass wir
darüber diskutieren sollten. Sie suggerieren aber, dass
das flächendeckend so sei, und das ist einfach falsch.
Deshalb lehne ich auch die Einführung von Obergrenzen
ab.
Mein Heimatbundesland Sachsen-Anhalt weist als
Flächenland heute einen deutlich geringeren Viehbesatz
auf als vor 25 Jahren. Es gäbe hier genügend weitere
Möglichkeiten, durch Tierhaltung und Veredelung Wertschöpfung und damit Arbeitsplätze im ländlichen Raum
zu schaffen. Sicherlich gibt es in einigen Fällen auch
Missstände - das bestreiten wir überhaupt nicht -, aber
unsere Tierschutzgesetzgebung ist heute schon - nicht
erst seit der Novelle des Tierschutzgesetzes, die wir in
der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben - auf einem hohen Niveau, und sie ermöglicht den
Landesbehörden auch einen entsprechenden Vollzug im
Sinne der Tiere. Dieser Rechtsvollzug muss stattfinden.
Auch hier beweist das Land Sachsen-Anhalt am Beispiel
des Falls Straathof, dass es dazu in der Lage ist.
({7})
Wenn ich nun einige Forderungen aus Ihrem Antrag
herausgreife, dann stelle ich fest, dass diese teilweise
auch nicht schlüssig sind, wenn es um einen verbesserten Tierschutz geht. Mir erschließt sich nach wie vor
nicht, warum Sie einem Tier innerhalb von Deutschland
in einem meist hochmodernen Transportfahrzeug nur einen vierstündigen Transport zumuten wollen, im europäischen Maßstab aber für acht Stunden plädieren.
Ich komme zu einer weiteren Feststellung aus Ihrem
Antrag. Auch ich bin der Meinung: Es muss nicht täglich
Fleisch in der Ernährung sein.
({8})
Ich schätze jeden, der das anders sieht, kann und will
aber niemandem seine Art und Weise der Ernährung vorschreiben.
Nun zu weiteren Inhalten Ihres Antrags. Sie schildern
die Welt der Landwirtschaft in den düstersten Farben,
die man sich nur vorstellen kann: Konsumenten würden
konventionell erzeugtes Fleisch rundweg ablehnen;
Tierhaltung fände nur in drangvoller Enge statt; der
landwirtschaftliche Alltag bestünde ausschließlich aus
Tierleid, verseuchten Böden, vergifteten Gewässern und
verpesteter Luft. Das ist Ihr verhängnisvolles Zerrbild
der Realität.
Meine Damen und Herren, Sie stellen den gesamten
Antrag unter den Leitgedanken der artgerechten Tierhaltung.
({9})
Der Notwendigkeit einer solchen stimme ich zu. Wir alle
sind uns darüber einig, dass unsere Nutztiere vernünftig
gehalten werden sollen. „Vernünftig“ bedeutet in erster
Linie „artgerecht“. Selbstverständlich muss es für die
Umsetzung artgerechter Haltungsbedingungen auch vernünftige Kriterien geben. Diese erachte ich durch unsere
bestehenden Gesetze und Verordnungen, aber auch
durch politische Initiativen als schon ausreichend vorhanden.
Natürlich kann man darüber hinausgehende Forderungen entwickeln. Die müssen sich aber immer am
Maßstab der Praxistauglichkeit messen lassen. Hierzu
bleibt Ihr Antrag gute Ideen schuldig. Was Sie zu bieten
haben, ist, wie immer, nichts Neues,
({10})
eine üppige Sammlung alter Forderungen im aggressiven Gewand restriktiver Instrumente.
({11})
Durch Ihre Diktate, Zwangsverpflichtungen und Beschränkungen wäre die Landwirtschaft in Deutschland in
vielen Fällen nicht mehr handlungsfähig.
Dass wir nicht den Regulierungsmethoden von gestern anhängen und trotzdem den Tierschutz in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung konsequent stärken, das
haben wir mit unserer Tierwohl-Initiative, für die ich
Minister Christian Schmidt außerordentlich dankbar bin,
unter Beweis gestellt. Wir werden mit dieser das
Tierwohl weiter stärken. Es wird Mitte des Jahres erste
Ergebnisse beim Prüf- und Zulassungsverfahren für serienmäßig hergestellte Stalleinrichtungen geben.
Lassen Sie mich gegen Ende meiner Rede auch noch
einmal Ihr negativ aufgeladenes Bild der Landwirtschaft
aufhellen und richtigstellen. Landwirtschaftliche Unternehmer sind nicht der Gegner ihrer eigenen Nutztiere,
sondern haben stets ein persönliches Interesse an einer
artgerechten Tierhaltung. Deswegen setzen sie auch
Maßnahmen zu dieser um. Zur Nutztierhaltung gehört
aber dennoch eine unabdingbare Tatsache, der man sich
stellen muss: Nutztierhaltung bedingt immer einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der
Tiere einerseits und den wirtschaftlichen Anforderungen
der Menschen andererseits. Nur vor diesem Hintergrund
kann auch eine artgerechte Tierhaltung von Nutztieren
verstanden werden. Diese Einsicht kann ich bei Ihnen jedoch leider nicht erkennen. Ihr vorliegender Antrag
bleibt daher auch bei mehrmaliger Betrachtung nichts
weiter als die Aneinanderreihung der gescheiterten Antragsversuche der letzten Jahre.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Wenn jährlich deutlich mehr als
410 000 Besucher der Internationalen Grünen Woche
mit unserer Landwirtschaft und unserem ländlichen
Raum zufrieden sind, dann können wir keine so
schlechte Agrarpolitik gemacht haben. Nachdem Sie
heute ja noch aufs Demonstrieren zu sprechen gekommen sind, was zurzeit groß in Mode ist, und darauf verwiesen haben, dass es am Samstag eine Demo unter dem
Motto „Wir haben es satt!“ gibt, Herr Ostendorff, sage
ich Ihnen: Es gibt auch eine Demo unter dem Motto
„Wir machen Euch satt“. Ich werde zu der zweiten
Demo gehen.
Vielen Dank.
({12})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Ich glaube, bei uns allen dreht sich das Kopfkino jetzt
noch um die vegane Lederpeitsche.
({0})
Aber kommen wir zurück zum eigentlichen Thema:
Früher haben wir Agrarpolitiker uns ja oft beschwert,
dass die Debatten erst so spät in der Nacht stattfanden
und vielfach überhaupt nicht beachtet wurden. Heute
gibt es gleich drei Agrardebatten an einem Tag: eine am
helllichten Vormittag und zwei noch vor dem Sandmännchen. Also ich finde, das ist ein großer Fortschritt.
({1})
Die Diskussionen zur Zukunft der Landwirtschaft
sind ja richtig und wichtig. Es ist gut, dass es vielen
nicht gleichgültig ist, wer die Lebensmittel wo und wie
produziert. Es ist auch gut, dass am kommenden Sonnabend friedlich demonstriert wird, weil moralische und
ethische Werte und auch die natürlichen Lebensgrundlagen bedroht sind. Demokratie lebt doch von Meinungsvielfalt und Einmischung. Ich als Linke habe es
auch satt, dass Geld die Welt immer mehr regiert.
({2})
Nur der Ton der Debatte ist mir manchmal etwas
schrill. In einer Welt der Reizüberflutung muss man
manchmal zuspitzen; das ist richtig. Aber auch dann
kann und muss die Kritik sachlich bleiben. Das gilt für
alle Seiten, auch für den Bauernverband. Wenn sein
Generalsekretär wirklich gesagt hat: „Teile der Grünen
reden über Landwirtschaft wie Pegida über Ausländer“,
dann hat er sich, wie ich finde, im Ton vergriffen und
sollte das zurücknehmen.
({3})
Die Kritik ist aber leider oft auch etwas einseitig. Ja,
auch die Landwirtschaft muss sich bewegen und muss
umdenken. Ich erlebe aber in den Betrieben sehr viel
mehr davon als in Lobbyistenkreisen oder bei den Funktionären. Gerade als Tierärztin finde ich das Prinzip ganz
wichtig, dass die Haltungsbedingungen an die Bedürfnisse der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt.
Das gilt übrigens auch für Heim- und Haustiere. Ich
finde es auch gut, dass mein eigener Berufsstand, der der
Tierärzte, sich unterdessen sehr intensiv in die Debatte
einbringt.
Gerade als Linke will ich aber, dass sich die Kritik
vor allem an die richtet, die von dem jetzigen System
profitieren, also zuallererst an Supermärkte, die Lebensmittel billig verschleudern und selbst dabei satte Gewinne einstreichen, denen egal ist, ob die Erzeugerpreise
auch die Erzeugerkosten decken. Ich finde, das können
wir als Gesetzgeber nicht dulden.
({4})
Deshalb gehört eine gerechtere Gewinnverteilung vom
Stall bis zum Supermarkt in diese Debatte. Dann müssen
Lebensmittel auch nicht zwangsläufig teurer werden,
wenn Tiere unter besseren Bedingungen gehalten werden. Als Linke sage ich auch ganz klar: Ich möchte nicht
nur über das Wohl der Tiere in den Ställen diskutieren,
sondern auch über das Wohl der Menschen, die sie betreuen.
({5})
Sie sollen gut ausgebildet sein. Sie sollen fair bezahlt
werden. Auch ihre Arbeitsbedingungen müssen sich verbessern.
({6})
Der öffentliche Druck ist unterdessen sehr erfolgreich. Wir haben Bewegung in die Diskussion gebracht,
auch im Bundestag. Vielleicht nicht bei Herrn Stier, aber
sonst durchaus. Selbst Kollege Holzenkamp von der
Union sagte gestern öffentlich, dass sich die Landwirtschaft neu denken muss. Auch er äußert kartellrechtliche
Bedenken gegen die Marktdominanz von vier großen
Supermarktketten. Auch die Initiative Tierwohl der Lebensmittelbranche ist doch eine Reaktion auf den öffentlichen Druck.
Der Bundesagrarminister beharrte zwar gerade in einem Interview mit der Märkischen Oderzeitung darauf,
Deutschland brauche keine Agrarwende, aber zwei Sätze
später sagt er: „Allerdings betrachte ich Megaställe, in
denen niemand mehr den Überblick hat, mit Sorge.“ Ich
finde: Auch seine Seele kann noch gerettet werden.
({7})
Apropos Megaställe: Die Linke hat bereits im Juni
2014 einen Antrag in den Bundestag zu diesem brennenden Problem eingebracht. Wir fordern unter anderem,
die Größe von Tierbeständen am Standort und in Regionen zu deckeln. Um nicht wieder falsch verstanden zu
werden: Es geht nicht darum, dass kleinere oder größere
Bestände mehr oder weniger Tiergesundheitsprobleme
haben. Aber wir wollen keine 40 000 Schweine oder
400 000 Hähnchen an einem Standort,
({8})
erst recht nicht, da wir wissen, dass im Fall einer Tierseuche, zum Beispiel der Schweinepest oder der Vogelgrippe, alle Tiere vorsorglich getötet werden müssen.
Das ist nicht zu verantworten.
({9})
In der Debatte im Juli 2014 gab es noch viel Kritik an
diesem Vorschlag. Unterdessen wird sehr ernsthaft und
breit darüber diskutiert, ob solche Bestandsobergrenzen
nicht doch gebraucht würden. Auch dort haben wir in
der Debatte etwas bewegt. Heute legen die Grünen einen
umfangreichen Katalog von Vorschlägen vor. Ich finde,
dass dieser Katalog eine intensive Behandlung verdient.
Dort stehen viele Dinge, die wir teilen; vielleicht nicht
alle. Aber ich finde, diese Diskussion muss jetzt weitergehen. Vielleicht kann sie etwas sachlicher und fachlicher stattfinden. Ich hoffe da auf die SPD.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Christina Jantz, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtzeitig zur
Grünen Woche beglücken uns die Bündnisgrünen mit einem Antrag zur Zukunft der Tierhaltung, die artgerecht
und der Fläche angepasst sein soll.
({0})
Die Überschrift ist gut. Inhaltlich kommt der Antrag an
vielen Stellen über bloße Symbolforderungen leider
nicht hinaus; sei es drum.
Sie kennen mich, meine Damen und Herren, und wissen, dass ich gerne die Gelegenheit nutze, um über den
Tierschutz zu sprechen. Mit schlichten Forderungen
kommen wir nämlich nicht weiter, sondern nur mit einer
vernünftigen Agrar- und Tierschutzpolitik, die nicht stigmatisiert, sondern alle Beteiligten mitnimmt. Als Tierschutzbeauftragte meiner Fraktion freue ich mich, dass
es uns gelungen ist, dem Tierschutz in der Koalition und
in der Regierung Gehör zu verschaffen.
({1})
Gute Tierschutzpolitik geht einher mit guter Agrarpolitik, Verbraucherpolitik, Arbeits- und Sozialpolitik und
natürlich mit dem Umweltschutz.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Punkte herausgreifen, die wir im Bereich des Tierschutzes im Rahmen eines breiten Dialoges mit allen Beteiligten bereits
angeschoben haben und umsetzen werden. Bereits seit
Jahren ist es unser erklärtes Ziel, die Haltungsbedingungen von Tieren zu verbessern. Ich zum Beispiel kann die
Bilder von grausamen Bedingungen in Mastställen, die
immer wieder im Fernsehen flimmern, nur sehr schwer
ertragen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wir
müssen endlich etwas tun. Die Haltungsbedingungen
sind den Tieren anzupassen und nicht die Tiere passend
zurechtzustutzen wie beispielsweise durch das Kupieren
oder dem Abkneifen von Schnäbeln.
({2})
Hier gibt es sicher nicht nur eine Lösung. So einfach ist
es leider nicht. Die Haltungsbedingungen müssen insgesamt angepasst und optimiert werden.
Wozu eine völlig artfremde Tierhaltung führt, sehen
wir beispielsweise in der Putenmast. Die Tiere werden
auf engstem Raum zusammengepfercht und gemästet.
Damit die Tiere dies überhaupt überleben und so schnell
wachsen, werden oftmals Antibiotika eingesetzt. Das
heißt, wollen wir den kritisierten Antibiotikaeinsatz tatsächlich reduzieren, müssen sich insbesondere die Haltungsbedingungen ändern und müssen wir den Tieren
mehr Platz für ein gesundes und artgerechtes Leben bieten. Damit sage ich nicht, dass ich für ein generelles Antibiotikaverbot bin. Wenn Tiere krank sind, müssen sie
selbstverständlich behandelt werden. Antibiotika dürfen
aber kein Mittel sein, um artfremde Haltungsbedingungen zu ermöglichen.
Dennoch teilen mir viele Putenhalter mit, dass sie gezwungen sind, die Tiere wie beschrieben auf engem
Raum zusammenzupferchen. Der Preis, den sie pro Tier
erzielen, ist zu gering, um andere Haltungsbedingungen
umsetzen zu können. Das Fleisch wird vom Einzelhandel nämlich größtenteils als Sonderangebot verkauft, sei
es an der Fleischtheke oder als Bestandteil von Wurst,
Fertiggerichten und, und, und. Ich fordere daher das
Ministerium, aber auch uns alle auf, nach Möglichkeiten
zu suchen, diesen viel zu sehr ausgeweiteten „Sonderangeboten“ zu begegnen.
({3})
Wie wir feststellen, reichen freiwillige Bekenntnisse
und öffentliche Diskussionen nicht immer aus; es bedarf
doch des motivierenden Drucks des Gesetzgebers, wie
beispielsweise bei dem von uns auf den Weg gebrachten
Prüf- und Zulassungsverfahren für Tierhaltungssysteme.
In einem ersten Schritt wollen wir die Haltung von Legehennen verbessern. Die Erfahrungen damit sollen direkt
genutzt werden, um die Bedingungen für weitere Tierarten zu verbessern. Natürlich dürfen die Vorgaben keine
Investitionen hemmen, und dennoch müssen sie zu echten Verbesserungen führen und Rechtssicherheit für Hersteller und Landwirte schaffen.
Wir sind uns mit dem Landwirtschaftsminister einig,
dass wir die erforderlichen gesetzlichen Anpassungen
auf nationaler Ebene vornehmen müssen. Aber auch auf
europäischer Ebene müssen wir um Mitstreiter werben
und die Vorhaben vorantreiben. Auch deshalb haben wir
uns seitens der SPD-Fraktion im letzten Jahr mit Experten aus dem europäischen Ausland sowie Vertretern der
Verbände und NGOs zu genau diesem Thema ausgetauscht: Verbesserung der Tierhaltung.
Aus meiner Sicht lässt sich eine gute Tierhaltung
nicht auf die Anzahl der in einem Stall gehaltenen Tiere
reduzieren. Für mich ist vielmehr das Wie entscheidend.
Die Gespräche und Erfahrungen zeigen ganz deutlich:
Nur im Dialog gelangen wir zu besseren Haltungsbedingungen. Wir wollen keine Schnellschüsse. Wir wollen
tragfähige Entscheidungen. Wir wollen spürbare Verbesserungen für die Tiere, keine bloße Deckelung des Bestandes. Denn was bringt es einer Kuh, wenn sie zwar
nur mit 15 weiteren Kühen im Stall steht, dafür aber angebunden ist?
({4})
Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir auch aufgrund
der Emissionsproblematik nachsteuern müssen; das wird
meine Kollegin Rita Hagl-Kehl gleich weiter ausführen.
Auch hier brauchen wir gut durchdachte Lösungen, denn
sonst spielen wir mit dem Vertrauen in die Versorgungssicherheit und mit der Existenz vieler Bauern in diesem
Land. Wir brauchen die Landwirte, denn auch sie sind
wichtige Experten, wenn es um Verbesserungen in der
Tierhaltung geht. Ich stehe für einen offenen Dialog mit
allen Beteiligten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den
Tierschutz messbar verbessern. Das heißt auch, dass wir
Indikatoren entwickeln müssen, die hierüber Auskunft
geben. Auch dafür muss die Forschung für eine moderne
Landwirtschaft und im Sinne des Tierschutzes gestärkt
werden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich fordere nicht ein bloßes Mehr an Geldern für die Forschung. Vielmehr müssen die Forschungsprojekte und
ihre Zielsetzungen aufeinander abgestimmt werden und
zwischen dem Bund und den Ländern besser koordiniert
werden, die Ergebnisse zusammengeführt und transparent dargestellt werden.
Meine Damen und Herren, packen wir es weiter an,
im Sinne des Tierschutzes!
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thomas Mahlberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Duisburg gibt es seit 50 Jahren ein Delfinarium. Die Duisburger waren große Pioniere in Mitteleuropa, wenn es um
die Delfinhaltung geht. Die Zuchterfolge und der Besucherzuspruch im Delfinarium im Zoo Duisburg sprechen
für sich. Trotzdem versuchen Tierschützer und auch
viele Grünen-Politiker, den Delfinarien den Garaus zu
machen.
({0})
Die Delfinhaltung war schon in der vergangenen
Wahlperiode ein großes Politikum. In einer Anhörung
des Ausschusses - das habe ich noch einmal nachgelesen haben sich die meisten Sachverständigen für die Delfinhaltung ausgesprochen. Auch im Landtag NordrheinWestfalen, dem ich zehn Jahre lang angehört habe, fand
letztes Jahr im Naturschutzausschuss eine Expertenanhörung statt, bei der mehrere Experten der Behauptung, die Delfinhaltung sei Tierquälerei, widersprochen
haben.
({1})
Eine wissenschaftlich fundierte Basis zur Bewertung
der Delfinhaltung ist also gegeben und eindeutig: Die
Delfinhaltung ist keine Tierquälerei. Aber nein, den
Gegnern der Delfinhaltung ist das nicht genug; denn das
Fachliche ist ihnen egal. Sie machen mit ihren Diffamierungskampagnen weiter. Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, sehe ich auch bei Ihnen, wenn
ich mir Ihren Antrag zur Nutztierhaltung anschaue.
({2})
- Ich komme jetzt zu Ihrem Antrag. - Es gibt eine gewisse Parallele bei der Vorgehensweise. Auch Sie sind
besondere Gutmenschen, die nach Verboten rufen, aber
natürlich keine Lösungen anbieten. Auch Ihnen ist es
egal, was die Fachleute und die Praktiker von Ihren
Wunschvorstellungen halten.
Warum sind Sie eigentlich nicht bereit, die vielen
positiven Entwicklungen in der Landwirtschaft zu sehen? Sind Sie im Ernst der Überzeugung, dass unsere
moderne Tierhaltung die Gesundheit der Menschen etwa
gefährdet? Was ist daran verwerflich, dass unsere gesunden und sicheren Lebensmittel so viel Nachfrage im
Ausland finden? Warum gibt es diese Exportfeindlichkeit bei Ihnen? Wir haben eben im Gesundheitsausschuss im Gespräch mit Phil Hogan einiges darüber gehört, was uns gerade der Export bringt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Antrag greift unbestritten
wichtige Themen auf - da waren sich, glaube ich, alle
Redner unisono einig -, ist aber gespickt mit Ihrer Verbotsmentalität, die uns an dieser Stelle nicht weiterbringt. Lassen Sie uns über die Zukunft unserer Nutztierhaltung reden, aber lassen Sie uns das wissensbasiert
und praxisorientiert tun.
Ein guter Ansatz ist die Tierwohl-Initiative „Eine
Frage der Haltung - neue Wege für mehr Tierwohl“ des
Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.
Mit der im September 2014 gestarteten Initiative will das
Ministerium die verschiedenen Maßnahmen, zum Beispiel die Brancheninitiative Tierwohl und das Tierschutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes, koordinieren und damit konkrete Verbesserungen im Tierwohl
erreichen, „die sich am wirtschaftlich und auch wissenschaftlich Machbaren orientieren“.
Unser Bundesminister Christian Schmidt hat uns in
einer Ausschusssitzung seinen Maßnahmenkatalog vorgestellt. Zusammen mit dem von ihm eingesetzten
„Kompetenzkreis Tierwohl“ greift er wichtige Punkte
auf: Sachkunde der Tierhalter, Stalleinrichtung, Tierschutz bei Schlachtung, Forschung, nichtkurative Eingriffe bei Nutztieren.
Das Thema der nichtkurativen Eingriffe findet sich
auch in Ihrem Antrag. Und was ist Ihr Vorschlag? Große
Überraschung: ein striktes Verbot. Warum verschweigen
Sie aber, dass mit einem sofortigen strikten Verbot mehr
Tierleid und weniger Tierwohl entstünde? Sie wissen
doch genau, dass das Schwanzkupieren bei Schweinen
und das Schnabelkürzen bei Geflügel keine Spaßbeschäftigung der Tierhalter ist. Die Tierhalter nehmen es
vor, weil sie Schlimmeres verhindern wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wissen
doch, dass es sonst zu Kannibalismus kommen könnte
und damit Verletzungen und Entzündungen die Tiere
plagten.
Es ist Ihnen doch bewusst, dass die Problematik
durchaus komplex ist und dass es mit einem Verbot nicht
getan ist. Warum haben Sie nicht den Mumm, das öffentlich zu sagen? Warum setzen Sie auf so billige Quasilösungen, die letztendlich niemandem - und schon gar
nicht den Tieren - helfen würden? Klar ist: Auch wir
wollen, dass die Haltungseinrichtungen den Bedürfnissen der Tiere angepasst werden und nicht umgekehrt;
das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Wir wollen einen Ausstieg aus den nichtkurativen Eingriffen; das ist auch klar. Dieses Ziel steht für jeden
nachzulesen gleich an Platz zwei des Maßnahmenkatalogs des Bundesministeriums. Dort finden Sie, im
Gegensatz zu Ihrer populistischen Forderung, einen forschungsbasierten und praxisnahen Ansatz.
({4})
Lernen Sie doch von uns und unserem Bundesminister:
Zuerst wird geforscht und in der Praxis erprobt, was
- wissenschaftlich abgesichert und praxisreif - zum Regelfall gemacht werden soll.
({5})
Zu Ihrer Ignoranz gegenüber fachlicher Kompetenz
und zu Ihrem Dauermantra gehört die nun wieder erhobene Forderung nach Tierbestandsobergrenzen. Es haben sich bereits sehr viele Agrarexperten dazu geäußert
und bestätigt - wir haben es, glaube ich, gerade von der
Kollegin Jantz gehört -, dass das Tierwohl nicht allein
von der Größe des Bestandes abhängig ist. Beispielhaft
möchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Lars Schrader, den
Leiter des Instituts für Tierschutz und Tierhaltung des
Friedrich-Loeffler-Instituts - er ist sicherlich auch Ihnen
als Fachmann bekannt - mit den Worten zitieren, dass
„die viel diskutierte Größe der Bestände für die Tiergerechtheit keine Rolle spielt“. Viel wichtiger als die Bestandsgröße ist die Betreuung durch den Tierhalter, die
richtige Fütterung, ein gut strukturierter und an die Bedürfnisse der Tiere angepasster Stall. Es ist ein Irrweg,
davon auszugehen, dass es einem Tier in einem kleineren Bestand automatisch besser geht. Wir müssen weg
von der Bestandsgrößendebatte und hin zu einer Einzeltierbetrachtung, wie ich meine.
Uns in der Unionsfraktion geht es nicht um ideologische Grabenkämpfe, sondern um messbare Fortschritte
in Sachen Tierschutz. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, geht es in erster Linie um Stimmungs- und Angstmache.
({6})
Mit Ihrem Antrag, meine ich, beweisen Sie erneut, dass
Sie nicht wirklich interessiert sind, ernsthaft und konstruktiv über die Zukunft der Nutztierhaltung und unserer Landwirtschaft insgesamt zu diskutieren. Es scheint
Ihr politisches Kalkül, eine ganze Branche zu diffamieren, die Bürgerinnen und Bürger in Angst zu versetzen
und mit unausgegorenen Vorschlägen zu überschütten.
Mit Ihrem ideologischen Dünkel verlangen Sie eine
Landwirtschaft, die rückwärtsgewandt ist und die nicht
imstande wäre, die wachsende Weltbevölkerung sicher
und gesund zu ernähren.
Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf die immer zur
Zeit der Internationalen Grünen Woche stattfindende
Demo „Wir haben es satt!“; das ist ja gerade zur Sprache
gekommen. Ich habe gehört, es gibt Teilnehmer hüben
wie drüben, an der einen und der anderen Demo. Umso
mehr freue ich mich, dass am Samstag eine Gegendemo
unter dem Motto „Wir machen Euch satt“ stattfinden
wird. Dort wollen Landwirte von großen und kleinen,
von ökologischen und konventionellen Betrieben zeigen,
dass sie gesprächsoffen sind. Sie wollen sowohl mit den
Verbraucherinnen und Verbrauchern als auch mit der
Politik reden. Sie wollen, dass man mit ihnen redet, statt
über sie.
({7})
Ich frage Sie: Ist das zu viel verlangt?
Wir als Unionsfraktion wollen die Zukunft der Tierhaltung und der Landwirtschaft zusammen mit unseren
Landwirten und nicht gegen sie gestalten.
({8})
Wir wollen diesen Prozess im Dialog mit Verbraucherinnen und Verbrauchern und auf einer fundierten wissenschaftlichen Grundlage führen. Wir greifen nicht zurück
auf einfache Lösungen, die in Wirklichkeit keine Lösungen sind. Wir wollen weiterhin unserem Auftrag aus
dem Grundgesetz nachgehen und die Tiere als unsere
Mitgeschöpfe schützen. Dafür werden wir die TierwohlOffensive des Bundesministeriums, die auch in unserem
Koalitionsvertrag verankert ist, kritisch begleiten und
konstruktiv mitgestalten. Wir haben es satt - um Ihren
Lieblingskampfspruch zu verwenden, liebe Grünen -,
dass Sie unsere bäuerlichen Familien diskreditieren. Wir
lehnen Ihren Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, entschieden ab.
Herzlichen Dank.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Rita Hagl-Kehl von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Tierhaltung ist ein wichtiges Thema, das für
verschiedene, eng miteinander verbundene Bereiche der
Landwirtschaft von großer Bedeutung ist. Im Hinblick
auf den Tierschutz besteht die Notwendigkeit, bessere
Tierhaltungsbedingungen in den landwirtschaftlichen
Betrieben zu ermöglichen, um den Bedürfnissen der
Tiere gerecht zu werden. Durch eine artgerechte Tierhaltung wird sowohl die hochqualitative Produktion von
Lebensmitteln als auch die Tiergesundheit langfristig
aufrechterhalten, wie meine Kollegin Christina Jantz bereits ausgeführt hat. Genauso bedeutsam ist die artgerechte Tierhaltung aber auch für den Umweltschutz. Die
Art und Weise, wie Nutztiere gezüchtet werden, beeinflusst direkt das Niveau der Verschmutzung von Luft,
Boden und Grundwasser. Die zu hohe Anzahl der Tiere
in Tierhaltungsanlagen oder der Zuwachs an Anlagen
selbst führt zur Erhöhung der Güllemenge, die zur Belastung von Luft und Grundwasser durch hohe Ammoniak- und Nitratemissionen deutlich beiträgt.
({0})
Der Nitratgehalt des Grundwassers ist regional verschieden, wobei in Regionen mit Massentierhaltung oder
Sonderkulturen besonders hohe Werte erreicht werden.
Die Belastung der Gewässer wird durch Überdüngung
immer größer. Deswegen muss die Nitratbelastung gesenkt werden.
({1})
Es sollten nicht mehr Tiere gehalten werden, als mit
eigenem Futter versorgt werden können. Der Import von
Futtermitteln führt zu einem Überschuss an Gülle, der
die Umwelt belastet. Der Nitratgehalt im Grundwasser
hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Die
zu hohen Nitratmengen können große Schäden sowie
hohe Kosten für die Entfernung der Nitrate aus dem
Trinkwasser verursachen. Dafür gibt es ausreichend Beispiele. Zum Beispiel in der Stadt Plattling in Niederbayern, in meinem Wahlkreis, wird das zu hoch belastete
Grundwasser mit Wasser aus Tiefenbohrungen ver7564
mischt, um den Nitratgehalt zu reduzieren. Meine Frage
lautet: Wer trägt die Kosten? Der Verbraucher, wir alle.
({2})
Ein anderes Beispiel dafür ist München, wo das Wasser
aus den Gebirgsregionen hergeleitet wird und den Landwirten, die ökologisch wirtschaften, Flächen billig verpachtet werden.
Wie Ihnen sicher bekannt ist, belegen wir in der EU
den zweitschlechtesten Platz, was die Wasserqualität anbelangt, und das liegt nicht nur an dem Messverfahren.
Im Oktober 2013 hat die EU-Kommission gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen unzureichender Umsetzung der Nitratrichtlinie der EU eingeleitet. Dieses Verfahren ist auch der Grund für die
Novellierung der Düngeverordnung, die das Hauptinstrument zur Umsetzung der Richtlinie darstellt. Natürlich muss uns allen daran gelegen sein, die Wasserqualität zu verbessern, damit wir unseren Kindern und
Enkelkindern ein Land hinterlassen können, in dem man
das Leitungswasser weiterhin trinken kann.
({3})
Ein Ziel der vorgesehenen Änderung der Düngeverordnung ist die Einbeziehung aller organischen und
organisch-mineralischen Düngemittel in die nach EGNitratrichtlinie einzuhaltende Obergrenze von 170 Kilogramm Stickstoff je Hektar im Durchschnitt des Betriebes. Um die ökologische Verträglichkeit der Tierhaltung
zu gewährleisten, müssen diese Werte unbedingt berücksichtigt werden. Die ökologisch verträgliche Tierhaltung
sollte als Teil der Landwirtschaftspolitik, die auf Nachhaltigkeit und ressourcenschonende Produktion ausgerichtet ist, betrachtet werden. Eine nachhaltige Landwirtschaft sollte sowohl im Interesse der Landwirte und der
Verbraucher sein als auch der Umwelt und dem Tierwohl
dienen und dabei eine Qualitätsstrategie verfolgen.
({4})
Das ist der Kern einer zukunftsfähigen Agrarpolitik, für
die wir uns als SPD-Bundestagsfraktion einsetzen.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Demonstration eingehen, die vorhin erwähnt wurde: Es nützt
uns nichts, wenn wir heute einen Antrag verabschieden
und die Verbraucher nur demonstrieren. Der Verbraucher
muss sein Kaufverhalten ändern. Das ist genau das, was
wir brauchen.
({5})
Dann können wir auch anderes Fleisch produzieren.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3732 an den Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marco
Wanderwitz, Ute Bertram, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Welt neu denken - Der 100. Jahrestag der
Gründung des Bauhauses im Jahre 2019
Drucksache 18/3727
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste
Rednerin in dieser Aussprache die Abgeordnete Ute
Bertram, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir starten heute kulturpolitisch mit einem
wirklich schönen Thema in das neue Jahr, mit unserem
Antrag „Die Welt neu denken - Der 100. Jahrestag der
Gründung des Bauhauses im Jahre 2019“.
Natürlich sind es bis 2019 noch vier Jahre, aber dieses
Jubiläum soll ein kulturelles Großereignis werden, und
das braucht entsprechend Vorlauf. Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir das Ereignis von Bundesseite unterstützen wollen. Diese Absicht wollen wir
als Große Koalition mit unserem Antrag präzisieren.
Stellen wir uns zunächst einmal die Frage: Was ist das
Bauhaus? Das Bauhaus war eine Schule für Gestaltung,
die zwischen 1919 und 1933 nacheinander an drei Orten
in Deutschland existierte. Der Name sollte die Verbindung aus Kunst und Handwerk ausdrücken, in Anlehnung an die Bauhütten der mittelalterlichen Kathedralen.
Ich höre oft, das Bauhaus sei nicht nur eine Architektur- oder Designschule, sondern vor allem eine Idee.
Diese Idee kann man gut in meinem Heimatort studieren. Bei uns in Alfeld, südlich von Hildesheim, in Niedersachsen, steht das Fagus-Werk. Es wird oft als das
Gründungswerk des Bauhauses bezeichnet und ist deshalb auch UNESCO-Welterbestätte geworden.
Der junge und damals noch völlig unbekannte Walter
Gropius entwarf 1911 eine neue Fabrikhalle für die
Schuhleistenfabrik Fagus. Der mutige Eigentümer unterstützte die außergewöhnlichen Ideen des jungen Architekten Gropius. Dieser entwarf eine geradezu revolutionär helle und luftige Arbeitshalle aus Glas und Stahl.
Das stand in völligem Gegensatz zur bisherigen Vorgehensweise, an den Räumen für die einfachen Arbeiter zu
sparen. Gropius dagegen wollte ein gesundes Arbeitsklima schaffen.
All diese Elemente haben das Bauhaus zum Wegweiser in die Moderne gemacht. Durch die Industrialisierung und die technischen Neuerungen entstanden ganz
neue Möglichkeiten für Architektur und Design. Das
Bauhaus nutzte sie zu sozialen Zwecken.
So entstand der neue Lebensentwurf für den modernen Menschen im Industriezeitalter, unabhängig von seiner sozialen Zugehörigkeit. Diese Idee ist es, die Geschichte geschrieben hat, in Deutschland und in der
Welt.
Wer genau hinsieht, erkennt überall die prägenden
Spuren dieser Schule. Bis heute kennen wir Fassaden
aus Glas und Stahl. Bis heute drücken wir vom Bauhaus
inspirierte Türklinken und sitzen auf vom Bauhaus inspirierten Stühlen. Wir wissen es nur oft nicht. Auch dieses
gute Stück wäre ohne das Bauhaus wohl nicht denkbar
gewesen.
({0})
Der langjährige Chefdesigner von Apple spricht gern
davon, wie er sich vom deutschen Industriedesign und
den Bauhaus-Prinzipien hat inspirieren lassen. Nicht
umsonst gilt das Bauhaus international als unser erfolgreichster kultureller Exportartikel.
Von Alfeld ging Walter Gropius dann nach Weimar,
wo er 1919 das Bauhaus gründete. Die Hochschule arbeitete aber von Anfang an unter widrigen Umständen.
Sechs Jahre später zog sie nach Dessau. 1933 wurde sie
in Berlin unter den Nazis schließlich verboten. Keine
1 300 Studenten hatte sie bis dahin gehabt.
Paradoxerweise lässt sich die weltweite Wirkung des
Bauhauses von der Katastrophe des Dritten Reiches
nicht trennen. Denn durch das Verbot in Deutschland
verstreuten sich ihre Anhänger über die Welt und legten
im notgedrungenen Exil den Grundstein für den weltweiten Erfolg. Die Ideen des Bauhauses verbreiteten
sich überall auf der Welt, in Amerika, in der Sowjetunion, in Polen, in Israel, in der Schweiz, in Japan und in
Mexiko.
Genau deshalb wird das Jubiläum international auch
stark wahrgenommen werden. Im Bauhaus-Archiv in
Berlin zählt man weitaus mehr ausländische als deutsche
Besucher. Das wird sich 2019 natürlich noch einmal steigern, zumal wir ordentlich die Werbetrommel rühren
wollen.
Nun zu ein paar Punkten aus unserem Antrag. Ganz
wichtig ist uns Kulturpolitikern von CDU/CSU und
SPD, dass wir die notwendigen baulichen Voraussetzungen für das Jubiläumsjahr schaffen. Da ist auch schon
viel passiert.
In Berlin wird endlich der längst fällige Erweiterungsbau zum Bauhaus-Archiv entstehen. Der Bund hat
dafür 28,1 Millionen Euro bereitgestellt. Das BauhausMuseum in Dessau wird der Bund mit 12,5 Millionen
Euro kofinanzieren. Für den Neubau des Bauhaus-Museums in Weimar sind gut 11 Millionen Euro Bundesmittel geflossen. Aber auch die vielen kleinen Orte wie
die May-Siedlung in Frankfurt, die Weißenhofsiedlung
in Stuttgart, die Hochschule für Gestaltung in Ulm oder
das Fagus-Werk in Alfeld, sie alle sollen den erwarteten
Besucheranstürmen gerecht werden.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in Förderprogrammen zum Beispiel für den Städtebau oder
den Denkmalschutz die UNESCO-Welterbestätten des
Bauhauses in den nächsten Jahren angemessen zu behandeln.
Aber wir wollen natürlich nicht nur bauen. Wir müssen das Jubiläum auch nutzen, um die überragende Wirkung des Bauhauses auf die Weltgeschichte innerhalb
Deutschlands bekannter zu machen. Außerdem wollen
wir ganz gezielt auch international für uns als Kulturnation, als Geburtsstätte des modernen Designs werben.
Deshalb wollen wir eine breite Palette von Veranstaltungen und Bildungsangeboten im Vorhinein, aber auch und
vor allem im Jahr 2019.
Die Kulturstiftung des Bundes bekommt vom Bund
immerhin 5 Millionen Euro zusätzlich, um das BauhausJubiläum mit Projekten zu begleiten. Koordiniert werden
die Jubiläumsplanungen momentan aus den drei großen
Bauhaus-Stätten Dessau, Weimar und Berlin. Alle Bundesländer, in denen eine Bauhaus-Stätte liegt, haben sich
zu einem Bauhaus-Verbund zusammengeschlossen. Wir
als Bundestag wünschen uns, dass es eine gesamtgesellschaftliche Initiative gibt, die dieses Jubiläum trägt.
Inhaltlich werden auch Vermittler deutscher Kulturpolitik wie das Goethe-Institut oder auch die Deutsche
Welle aufgefordert werden, an diesem Bauhaus-Jubiläum mitzuwirken. Natürlich soll ein Schwerpunkt auch
in Bildung und Forschung gesetzt werden. Denn nicht
jeder Schüler oder Student in Deutschland weiß, dass
sein iPhone durch das Bauhaus beeinflusst wurde. Wenn
es nach uns geht, weiß er es spätestens 2019.
Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dass
dieses Jubiläumsjahr zu einem Ereignis mit Strahlkraft
wird, das sowohl national als auch international Ausstrahlung hat.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner in dieser Debatte erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Harald Petzold, Fraktion Die
Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich gebe der
Kollegin Bertram völlig recht: Die Welt neu denken der 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses im Jahr
2019 ist ein guter Einstieg in unsere kulturpolitischen
Diskussionen in diesem Jahr. Aber, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Koalitionsfraktionen - die Welt
neu denken -, können Sie mir einen vernünftigen Grund
dafür nennen, warum Sie in dieses Denken nicht vorab
auch die Oppositionsfraktionen einbezogen haben?
({0})
So wie Sie hier vorgehen, reklamieren Sie das Bauhaus quasi für sich selbst als eine kulturelle Angelegenheit mit Ursprung in den wenigen Jahren der Weimarer
Demokratie. Für uns war das Bauhaus in seiner politischen Wirkung vor allem ein Ausdruck und eine Reaktion auf die schroffen sozialen Gegensätze. Deswegen
ist sein kulturelles Erbe eines, das niemand für sich allein beanspruchen darf.
({1})
Deswegen sagen wir: Dieses 100-jährige Jubiläum, das
Sie im Koalitionsvertrag zu Recht als ein Jubiläum von
weltweiter Strahlkraft bezeichnen, ist eine Angelegenheit des ganzen Landes, des ganzen Volkes und demzufolge selbstverständlich auch aller im Bundestag vertretenen politischen Kräfte.
Über welche Punkte sollten wir vielleicht noch einmal gemeinsam diskutieren? Grundsätzlich haben Sie
beim Bauhaus-Jubiläum auf jeden Fall unsere Unterstützung. Ich habe den Antrag einem meiner Nachbarn zum
Lesen gegeben. Er hat ihn sich angesehen und mich
danach gefragt: Warum redet ihr im Bundestag über
Baumärkte? Ich fragte Ihn: „Wie kommen Sie denn
darauf?“, und er antwortete: Na, hier steht doch „Exportartikel“.
({2})
Genau, wir sollten das Bauhaus nicht auf einen kulturellen Exportartikel reduzieren.
({3})
Die Kollegin Bertram hat hier völlig richtig Walter
Gropius als Beispiel genannt. Für Gropius war Bauen
und vor allen Dingen der Wohnungsbau eine zutiefst soziale Aufgabe. Es ging ihm um bessere Lebensverhältnisse für alle. Deswegen, denke ich, müssen diese Ideen
- wir haben mit der Siemensstadt ein Beispiel vor der
Haustür - eigentlich einen viel größeren Stellenwert in
unserer Würdigung des Bauhaus-Jubiläums einnehmen.
({4})
Wenn wir die Bedeutung der Ideen und Inhalte des
Bauhauses für unsere heutige Gesellschaft stärker in den
Vordergrund rücken wollen, dann müssen wir auch die
unterschiedlichen Ideen und Strömungen, für die seine
Leiter und die Akteure stehen, stärker herausarbeiten
und öffentlich würdigen. Dann werden Sie auch nicht
umhin kommen, neben Walter Gropius und neben
Ludwig Mies van der Rohe auch den zweiten Bauhausdirektor stärker zu berücksichtigen und zu würdigen:
Hannes Meyer. Seine Ideen und Bauwerke wurden viel
zu lange totgeschwiegen und sind nahezu vergessen.
Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass der überzeugte Sozialist Meyer für das Bauhaus die Losung
„Volksbedarf statt Luxusbedarf“ ausgegeben hatte, oder
damit, dass er - im Gegensatz zu den teuren iPhones von
heute - erschwingliche Bauhaus-Produkte für alle
wollte, oder damit, dass er darüber hinaus einen wissenschaftlich fundierten Unterricht und das Kooperationsprinzip propagierte, die Idee einer kollektiven und
kooperativen Gestaltung. Das ist in einer Zeit, in der
Individualismus zum Heiligen Gral gesellschaftlichen
Zusammenlebens erklärt wird, natürlich nicht beliebt.
Folglich muss unserer Meinung nach sowohl in dem
vorliegenden Antrag als auch in dem Drehbuch für das
100-jährige Bauhaus-Jubiläum der Person Hannes
Meyers und insbesondere dem von ihm entworfenen Bau
der ehemaligen Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau, meinem Betreuungswahlkreis, eine viel größere Bedeutung beigemessen werden. Bisher kommt das nur am Rande vor.
({5})
Ich denke, wir brauchen für die Bauvorhaben in Berlin und Dessau konkrete und abrechenbare Zeit- und
Maßnahmeschienen. Die späte Bewilligung der Bundesgelder birgt nach unserer Auffassung die Gefahr in sich,
dass die Häuser nicht rechtzeitig bis 2019 fertiggestellt
werden.
Meine Damen und Herren, „die Welt neu denken“ ist
ein wunderbarer Anspruch, sowohl zum 100-jährigen
Bauhaus-Jubiläum als auch in unserer heutigen Zeit.
Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Lassen Sie
uns das gemeinsam umsetzen und tatsächlich einen Antrag aller Fraktionen auf den Weg bringen! Der Kollege
Kühn hat diesen Vorschlag in der Ausschussberatung mit
den Vertretern des Bauhaus-Verbundes deutlich formuliert. Ich finde, diese Idee ist unbedingt zu unterstützen.
Vielen Dank.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bauhaus-Idee gehört zu
den großen und nachhaltigen kulturellen Impulsen, die
von unserem Land ausgingen. Wie bereits erwähnt, in
kurzen Zügen: 1919 von Walter Gropius als Kunstschule
in Weimar gegründet, 1925 nach Dessau gezogen und
1933 unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlossen, prägen seine innovativen Gestaltungsansätze noch
heute. Im Nationalsozialismus galten viele Entwürfe der
Bauhaus-Gestalter als „entartet“. Bauhäusler mussten
emigrieren. Besonders der linksgerichtete, avantgardistische Lebensstil der Bauhaus-Anhänger war es, der den
Nazis übel aufstieß: Am Bauhaus Frauen in Hosen? Ein
Unding im reaktionären Bild der NSDAP.
Das brutale Aus der deutschen Bauhaus-Bewegung
multiplizierte die Bauhaus-Idee und trug sie in viele
Länder. Bauhaus-Protagonisten emigrierten in die USA,
zum Beispiel Josef Albers, aber auch in die Sowjetunion
wie Hannes Meyer oder ins heutige Israel wie Arieh
Sharon. Aus der Bauhaus-Philosophie abgeleitet entwickelten sich dort neue Architektur-, aber auch Produktund Kommunikationsdesignstile.
Doch - auch das muss ein wichtiger Blickpunkt sein das Bauhaus-Konzept hat auch in unserem Land Maßstäbe für Stadtentwicklung und Architektur gesetzt und
vor allem die soziale Dimension des Bauens akzentuiert.
Ein Element hier in Berlin wurde schon genannt: Es gibt
insgesamt sechs Siedlungen der Moderne, die seit 2008
als Weltkulturerbe in dieser Stadt zu besichtigen sind.
Im Design war es der Wille, Möbel und Gebrauchsgegenstände als Werkzeuge für alle zu bauen. Dahinter
lag eine zutiefst soziale Idee: den Menschen und seine
Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu rücken. Viele Bauhaus-Erfindungen wie zum Beispiel die Einbauküche erweisen sich bis heute als funktional. Die WagenfeldLeuchte steht international als Symbol für gutes Design.
Auch im parlamentarischen Komplex finden wir gelegentlich Möbel im Stil der Bauhaus-Ästhetik.
Die Bauhaus-Schule verfolgt einen ganzheitlichen
Ansatz. Es ging nicht nur um Design, Kunst und Architektur. Ebenso wichtig war der pädagogische Zugang zu
diesen Künsten und Objekten. Als Walter Gropius 1919
in Weimar das Staatliche Bauhaus eröffnete, verkündete
er:
Als Lehrling aufgenommen wird jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren Begabung und Vorbildung vom
Meisterrat als ausreichend erachtet wird.
Damals revolutionär - ist das heute selbstverständlich?
Es bleibt eine Herausforderung, auf Begabung zu achten.
Die Reformpädagogik des Bauhauses entwickelte somit
neue Methoden, begabte Menschen zu künstlerischkulturell-ästhetischem Handeln zu befähigen. Diese
Konzepte sind bis heute ungebrochen aktuell und sollen
deshalb beim Jubiläum einen besonderen Raum entfalten. Es gibt Elemente, die jetzt schon reifen, zum Beispiel mobile Module des Fliegenden Klassenzimmers,
um in die Pädagogik der unterschiedlichen Schulstufen
einzufließen, Forschungsvorhaben, die sich dem großen
Thema „Kreativität und Pädagogik“ widmen.
Die drei Länder mit Bauhaus-Einrichtungen - Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin - haben sich bereits
2012 mit einigen anderen Bundesländern zum „Bauhausverbund 2019“ zusammengeschlossen. Dieser Verbund wird die Aufgabe haben, das Jubiläum vorzubereiten, weiter reifen zu lassen.
Klar ist, dass mit den bereitgestellten Mitteln - Gott
sei Dank im Haushalt 2015 deutlich markiert - die Kernstandorte der Bauhaus-Tradition gestärkt werden; aber
auch außerhalb der Zentren von Weimar, Dessau und
Berlin finden wir Bauhaus-Zeugnisse. Kollegin Bertram
hat vorhin auf das Fagus-Werk in Alfeld aufmerksam
gemacht. Ich erinnere zum Beispiel an die Dammerstock-Siedlung in Karlsruhe, an die Häuser „Lange“ und
„Esters“ und, ähnlich wie in Alfeld, den VerSeidAGKomplex in meiner Heimat in Krefeld oder an die Bauten „Experimentierfeld modernen Bauens“ in Hagen überall markante Zeugnisse der Bauhaus-Tradition.
Unser Antrag nimmt deshalb die bedeutenden Bauten
des Bauhauses außerhalb der Museumsstandorte mit in
den Blick. Bereits im Vorfeld des Jubiläums sollen auch
dort Ausstellungen, Bildungs- und Forschungsprojekte
das kulturelle Erbe des Bauhauses herausstellen und in
Erinnerung rufen. Denkmalschutzprogramme können
Möglichkeiten bieten, marode, leidende Substanz auf
Vordermann zu bringen, sodass im Jahre 2019 alles im
besten Licht erscheint. Eben deshalb ist es wichtig, dass
die Bund-Länder-Kooperation, aber auch die Kooperation mit den Bauherren und Eigentümern reift, intensiviert wird: damit wir zu einer gemeinsamen Anstrengung kommen. „Die Welt neu denken“, unter diesem
Motto wird es ab diesem Jahr ein umfangreiches
gemeinsames Programm geben, das auf das Jubiläum
hinläuft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Antrag
will die Regierungskoalition all dies rechtzeitig akzentuieren und den Blick auf das außergewöhnliche Jahr 2019
lenken. Es ist, Herr Petzold, in der Tat auch eine Einladung an die Opposition, gemeinsam darüber nachzudenken, wie dieser Antrag, den ich schon für hervorragend
halte, möglicherweise noch reifen kann. Sie sind herzlich eingeladen, sich an diesem Wettbewerb zu beteiligen, sodass wir dann hinterher gemeinsam als Parlament
diesen Weg gehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Freundinnen und Freunde des Bauhauses! 1919 hielt in
Deutschland die Moderne Einzug: Bei der Wahl zur Nationalversammlung durften erstmals Frauen wählen und
gewählt werden. Die Weimarer Nationalversammlung
Christian Kühn ({0})
gab Deutschland eine parlamentarische, demokratische
Verfassung. In Weimar gründete Walter Gropius das
Staatliche Bauhaus; das war sozusagen der künstlerische
Aufbruch Deutschlands in die Moderne.
Der Bauhaus-Stil ist bis heute, ins 21. Jahrhundert hinein, ungemein modern, schön, zeitlos und attraktiv. Das
Bauhaus ist bis heute mehr als eine hippe Stilrichtung es ist ein Wegweiser in die Zukunft, ein humanistischer
Ansatz für den Alltag. Die Verbindung von Ästhetik und
Praxis, die das Bauhaus verkörpert, ist Kunst, die wir
alle im Alltag erleben können. Das Bauhaus steht für
Einfachheit, Schönheit, Funktionalität, die allen Menschen zugänglich sein soll. Der Zugang zur BauhausSchule war eben nicht abhängig von der sozialen Schicht
oder dem Geldbeutel der Eltern, sondern allein von der
Begabung; auch das ist ein Fingerzeig dafür, wie wir Bildungspolitik und Kulturpolitik betreiben sollten.
({1})
Das Bauhaus war Vorreiter für Feminismus und soziale Gerechtigkeit, und mit dem Neuen Bauen sollten
Räume für souveräne Bürgerinnen und Bürger der neuen
demokratischen Gesellschaft geschaffen werden. Das
Bauhaus sorgte auch für sozialen Wohnungsbau. Auch
das ist ein Fingerzeig in unsere heutigen Tage hinein.
({2})
Beispiele für entsprechende Siedlungen in meinem
Bundesland sind der Weißenhof und der Dammerstock
in Karlsruhe.
Das Bauhaus hat bis heute unzweifelhaft Einfluss darauf, wie wir wohnen und wie unsere Wohnungen gestaltet sind. Im 21. Jahrhundert ist das Bauhaus-Design allgegenwärtig - und das eben nicht nur in Deutschland,
sondern weltweit.
Das Bauhaus wurde durch die NS-Diktatur gezwungen, seine Aktivitäten ins Ausland zu verlagern. Die Nazis konnten die Bauhaus-Schule zwar schließen, aber sie
konnten den Geist des Bauhauses nicht auslöschen und
nicht brechen. Die Ideen des Bauhauses wurden von den
Lehrenden in die ganze Welt getragen: zum Beispiel
nach Tel Aviv - ich denke hier an die Weiße Stadt - oder
auch in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Architektur des modernen Amerika maßgeblich vom Bauhaus geprägt wurde.
2019 feiern also nicht nur die Menschen in Dessau,
Weimar und Berlin das Bauhaus, sondern die Menschen
auf der ganzen Welt - in Israel, in den USA, in China, in
Australien und auch in Brasilien. Deshalb ist es wichtig,
dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur als ein deutsches Jubiläum begreifen, sondern den internationalen
Charakter mit all unseren Aktivitäten betonen.
({3})
Gleichwohl müssen wir dieses Bauhaus-Jubiläum als
ein Jubiläum nationalen Ranges begreifen. Deshalb
wünsche ich mir, dass der Bauhausverbund 2019 weiter
wächst und dass alle 16 Bundesländer daran teilhaben;
denn in allen Bundesländern gibt es Architekturschulen,
Designschulen und Orte, an denen das Bauhaus gewirkt
hat. Ich finde, deswegen sollten sich alle 16 Bundesländer zusammenschließen, damit es wirklich ein Jubiläum
der ganzen deutschen Nation wird und das Bauhaus in
ganz Deutschland seinen Platz hat.
({4})
Es wurde hier schon betont, dass es die Bedeutung
des Bauhaus-Jubiläums unterstrichen hätte, wenn wir
heute einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten.
({5})
Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen haben die
Bedeutung dieses Jubiläums herausgestellt. Ich hätte es
aber schön gefunden, wenn wir hier gemeinsam - alle
vier Fraktionen dieses Hauses - einen überfraktionellen
Antrag eingebracht hätten. Ich finde, die Kulturpolitik
und das Bauhaus-Jubiläum eignen sich nicht für parteipolitische Spiele. Deswegen ist es schade, dass wir es im
Kulturausschuss nicht geschafft haben, diesen Weg gemeinsam zu gehen.
Dennoch geht Ihr Antrag in die richtige Richtung. Ich
bin mir aber sicher: Wenn wir daran mitgewirkt hätten,
dann wäre er an der einen oder anderen Stelle noch ein
bisschen besser geworden.
({6})
Nichtsdestotrotz freuen wir uns darüber, dass der
Haushaltsausschuss die finanzielle Grundlage für die
baulichen Voraussetzungen bei den drei Bauhaus-Einrichtungen geschaffen hat. Damit enden aber eben nicht
die Aufgaben, die wir hier haben. Gebäude allein gestalten noch kein Jubiläum. Wir brauchen eine Koordination. Deswegen muss hier im Hause jetzt schnell - auch
gemeinsam - darauf hingewirkt werden, dass es eine
zentrale Geschäftsstelle für den Bauhausverbund 2019
gibt. Es ist dafür zu sorgen, dass die drei Geschäftsstellen in Dessau, Weimar und Berlin mit dieser internationalen Mammutaufgabe nicht alleingelassen werden.
({7})
Wir müssen unsere Bauhaus-Aktivitäten international
ausrichten. Gerade dieser Punkt ist mir in dem Antrag zu
kurz gekommen. Wir brauchen auch mehr Werbemaßnahmen jenseits der Deutschen Welle. Wir müssen unsere internationale Kulturpolitik für 2019 auch auf dieses
Bauhaus-Jubiläum in Gänze ausrichten.
Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist ganz elementar,
dass wir dieses Bauhaus-Jubiläum nicht nur dafür nutzen, ein schönes Jubiläum zu feiern und des Bauhauses
zu gedenken, sondern auch, um die Institutionen, die das
Christian Kühn ({8})
Bauhaus bis heute tragen, über das Jahr 2019 hinaus
nachhaltig zu stärken; denn nach 100 Jahren Bauhaus
müssen weitere 100 Jahre Bauhaus folgen. Dafür will
ich werben, damit die Idee des Bauhauses auch in den
nächsten 100 Jahren weiter um diesen Globus kreist.
Danke schön.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Ulrich Petzold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich in meinen Kindertagen das erste Mal vor dem
Bauhaus in Dessau stand, war ich doch etwas irritiert.
Das sollte etwas Besonderes sein? So sahen doch alle
wirklich modernen und neuen Gebäude aus. Ja, selbstverständlich hatte sich innerhalb von nicht einmal
50 Jahren der Stil der Bauhaus-Künstler gegen den Gigantomanismus des Nationalsozialismus und gegen den
Zuckerbäckerstil des Stalinismus durchgesetzt.
Doch eigentlich war das Bauhaus in seiner Struktur
kaum noch zu erkennen, insbesondere die Meisterhäuser
in Dessau nicht. Wir hatten nach 1990 richtig viel zu tun,
um die Schönheit dieser Struktur wiederherzustellen.
Wir haben es trotz der Überbauung geschafft. Ich glaube,
dass uns das Bauhaus zeigt, was mit geringem Aufwand
alles errichtet und wie mit wenig Material ausgekommen
werden kann. Das ist etwas Beispielgebendes, etwas sehr
Schönes.
Das Bauhaus ist und war aber mehr als einfaches und
sparsames Bauen. Es war mehr als effizientes und zeitloses Bauen. Das Bauhaus - das wurde vorhin schon erwähnt - war und ist mehr als Architektur und Design.
Das Bauhaus ist eine Idee. Für diese Idee fand sich 1925
in der aufstrebenden Industrie- und Kulturstadt Dessau
der ideale Nährboden, sodass sich das Bauhaus, das sich
ganz bewusst Werkstatt und nicht Schule oder Universität nannte, in diesem liberalen Klima ansiedeln konnte.
Internationalität und Gleichberechtigung der Geschlechter waren in Dessau nie eine Frage und könnten vielleicht auch gerade in dem aufgeregten Klima unserer
heutigen Diskussion über den Islam beispielgebend sein.
In Diktaturen und Unrechtssystemen ist für die Ideen
des Bauhauses kein Raum. Vorhin wurde an Hannes
Meyer erinnert. Nach einigen Jahren in Moskau ist er
1936 wieder geflüchtet. Man muss also immer das
Ganze betrachten. Das Bauhaus und seine Idee sind Teil
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sein
Jahrestag ist und kann für uns ein Grund sein, uns selbst
zu hinterfragen.
Bereits das Jubiläum „90 Jahre Bauhaus“ wurde 2009
in einem würdigen Rahmen begangen, das uns jedoch
auch deutlich machte, dass die Zusammenarbeit der
wichtigsten Bauhaus-Stätten Berlin, Dessau und Weimar
zu wünschen übrig ließ. Dass jetzt das Jubiläum 2019 in
Zusammenarbeit der Länder und Bauhaus-Einrichtungen
in einem Bauhausverbund vorbereitet wird, verbessert
die Möglichkeit des Bundes, sich effektiv einzubringen.
So ist es, nachdem sich Berlin und Sachsen-Anhalt mit
der Stadt Dessau auch finanziell zu ihrer Verantwortung
bekannt haben, dem Bund möglich, das Bauhaus-Archiv
in Berlin und ein Bauhaus-Museum in Dessau mit Millionenbeträgen zu fördern.
Wenn ich mich ganz besonders für die Unterstützung
für Dessau bedanke, möge man mir das als Landeskind
und Wahlkreisabgeordnetem bitte nachsehen. Unserer
Staatsministerin Frau Professor Grütters bin ich sehr
dankbar, dass sie, solange bei den Städten und Ländern
Unklarheiten bestanden, durch einen Leertitel im Haushalt alle Möglichkeiten offengehalten hat.
Besondere Verdienste, gerade für das Museum in
Dessau, haben sich aber unsere Haushälter Rüdiger
Kruse und Johannes Kahrs erworben, die im Haushaltsausschuss den Leertitel mit der erforderlichen Summe
von 12,5 Millionen Euro gefüllt haben. Auch die Landesregierung Sachsen-Anhalt und der Stadtrat Dessau
haben mit wegweisenden Haushaltsbeschlüssen und
auch Standortbeschlüssen letztendlich den Knoten
durchgeschlagen.
Doch ich hoffe auch auf einen Beitrag des Ministeriums für Umwelt und Bau, das Jubiläum „100 Jahre
Bauhaus“ zu nutzen, um für das Bauhaus neue wegweisende Maßstäbe zu setzen. Der Erweiterungsbau des
Umweltbundesamtes in Dessau ist als Plus-EnergieBürogebäude vorgesehen, das erste Plus-Energie-Bürogebäude der Welt. Die Idee des Bauhauses, Komfort und
Ressourceneffizienz zusammenzubringen, kann hier vervollkommnet werden. Ich würde mir sehr wünschen,
dass wir mit einem solchen Bau nicht nur auf die Vergangenheit blicken, wenn wir den 100. Jahrestag der
Bauhaus-Gründung begehen, sondern etwas Neues und
Zukunftsgerichtetes schaffen. Ich glaube, dann würden
wir diesen Jahrestag auf eine wirklich gute Weise feiern.
Danke schön.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Michelle Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag würdigen wir die Leistung und die
Strahlkraft eines einzigartigen künstlerischen Werkes.
Wir tun dies im Plenum des Deutschen Bundestages,
weil die Bauhaus-Schule Kultur und Gesellschaft bis
heute weltweit beeinflusst. Das haben die Kolleginnen
und Kollegen gerade schon jeder für sich und für uns allgemein formuliert.
Wir tun das, weil das Bauhaus mehr ist als zeitloses,
nüchternes Design und auch mehr als ein feststehendes
Regelwerk von Form und Farbe. Wenn ich jetzt wie
meine Vorrednerin und Vorredner versuche, die Idee des
Bauhauses zusammenzufassen, dann will ich es so formulieren: Das Bauhaus ist die Idee, menschliche Grundbedürfnisse über die der Wirtschaft und der Industrie zu
stellen.
({0})
Das Bauhaus ist eine Kunst, die humanistischen Prinzipien folgt, und es ist sicherlich auch eine Haltung. Deswegen wurden seine Künstler, Architekten, Maler und
Bildhauer von den Nazis verfolgt; denn jede Diktatur, jedes totalitäre System, fürchtet die mächtige Kraft von
Kunst und Kultur. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,
fördern sie. Wir investieren: in Frieden und Kooperation,
in die Freiheit der Kunst, in die Gleichwertigkeit der
Menschen und in eine offene, moderne Gesellschaft.
Auch die Nazis haben es nicht vermocht, das dauerhaft
auszulöschen.
({1})
Eines der wohl stärksten Symbole hierfür ist die Weiße
Stadt, die White City - Kollege Kühn hat es gerade angesprochen -, in Tel Aviv in Israel. Es ist die weltweit größte
Ansammlung von Häusern im Bauhaus-Stil. Mitten im modernen Tel Aviv stehen rund 4 000 solcher Gebäude. Seit
2003 sind sie als einzigartiges Phänomen moderner Architekturgeschichte Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Als
Vertreterin im Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik“ will ich das besonders hervorheben.
Denn die Bundesregierung hat erst vor einigen Wochen
beschlossen, dabei zu helfen, dieses Kulturgut zu erhalten.
({2})
- Das ist in der Tat einen Applaus wert.
Wer von Ihnen schon einmal dort war, weiß, welche
Geschichte sich hinter den zerfallenen Fassaden und
grau verfärbten Wänden verbirgt und welche Bedeutung
diese Gebäude für die deutsch-israelischen Beziehungen
haben. Viele der Baumaterialien, mit denen die Häuser
gebaut wurden, sind nämlich von den verfolgten Juden
selbst mitgebracht worden. Die Ausfuhr von Bargeld
hatten die Nazis mit hohen Zöllen belegt, damit aus der
Verfolgung und der Flucht von jüdischen Menschen auf
perfide Weise noch ein zusätzlicher Profit geschlagen
werden konnte.
In Tel Aviv wollte man hingegen eine Stadt aus neuer
Sachlichkeit und einer offenen Gesellschaft bauen, wie
es das Bauhaus lehrte: flache Dächer, Balkone, Gärten,
die eine Begegnung zwischen Menschen möglich machten. Daran soll sich auch die Sanierung orientieren. Zum
deutsch-israelischen Projekt wird die White City aber
auch, weil wir dabei mit deutschen Produkten, Fachwissen und Handwerkskunst gefragt sind. Partner wie die
Industrie- und Handelskammer, Bauhaus-Institutionen
und Universitäten sollen ihre Kompetenzen dazu beisteuern. Mit dem Max-Liebling-Haus stellt die Stadt Tel
Aviv zudem ein Gebäude zur Verfügung, in dem ein lebendiger Austausch zwischen Handwerkern, Restauratoren und Künstlern entstehen soll.
Übrigens hat das Bauhaus nie einen Unterschied zwischen Handwerkern und Künstlern gemacht. Das Bauhaus hat sich am griechischen Begriff „Kali Technis“,
dem „guten Handwerker“, orientiert. Ich wünsche mir,
dass in diesem Sinne Räume für junge Menschen aus
Handwerk und Kunst entstehen, die sich dort begegnen
können.
({3})
Im Sinne dieser Entstehungsgeschichte, aber gerade
auch deshalb, weil wir in diesem Jahr 50 Jahre diplomatische Beziehungen mit Israel feiern, freut es mich, dass
das BMU kurz vor Weihnachten beschlossen hat, das
Ganze zu fördern. Ich danke der Deutsch-Israelischen
Gesellschaft dafür, dass sie uns vorangetrieben hat, Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf dieses gute
Stück Kulturpolitik aufmerksam zu machen, und nicht
zuletzt den Haushältern, die sich dafür eingesetzt haben.
Ich komme zum Schluss. Wenngleich die lebendige
Tradition der vielleicht wichtigsten Designschule mit der
Vertreibung seiner kühnsten Protagonisten in Deutschland unwiderruflich abgeschnitten wurde, rufen wir uns
doch in Erinnerung, was das Bauhaus-Archiv selbst formuliert: „Das Bauhaus gehört der Welt, aber es kommt
aus Deutschland.“ So beginnen wir das Jubiläum im Jahr
2019.
Herzlichen Dank.
({4})
Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich
das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In vier Jahren feiert das Bauhaus einen runden Geburtstag, seinen 100. Der vorliegende Antrag stellt sozusagen die Planung für die Geburtstagsfeier dar. Die Planung ist ausgesprochen gut.
Wir alle gemeinsam können uns auf das Bauhaus-Jahr
2019 freuen.
Die Idee des Bauhauses markierte damals zu Beginn
des 20. Jahrhunderts einen Umbruch in Architektur,
Kunst und Design. Das Bauhaus markierte damals auch
einen Aufbruch, gesellschaftlich, kulturell und politisch.
Woran erkannte man diesen künstlerischen und architektonischen Aufbruch? Im Manifest für das staatliche Bauhaus schreibt Walter Gropius 1919 wörtlich von den alten Kunstschulen, die es nicht vermochten, Handwerk
und Kunst zu vereinen. Er erteilte der alten Salonkunst
eine klare Absage und appellierte an Bauherren, Künstler, Bildhauer und Maler, zum Handwerk zurückzukehren und das Trennende zwischen Kunst und Handwerk einzureißen. Die Produkte dieser Ideen kennen wir. Auf den
schwarzen Freischwingerstühlen verbringen wir heute
noch viele Konferenzstunden. Der Tisch aus Eschenholz
aus der Feder von Mies van der Rohe ist noch heute in
Design und Funktion nahezu unschlagbar. Wenn ich
heute durch die Gebäude des Bundestages unterirdisch
gehe, dann erinnert mich die Sichtbarkeit des Konstruktiven an die Ideen der großen Meister der 20er-Jahre.
Dieser Umbruch des Gestalterischen ging natürlich
einher mit einem gesellschaftlichen Aufbruch, weg von
den Schlössern, den Palästen und den Burgen. Die Architektur des Bauhauses öffnete die Räume, ließ Licht
herein und schuf Transparenz. Es war kein Zufall, dass
das in der Weimarer Republik geschah. Das Bauhaus ebnete auch den Weg hin zu einer Demokratisierung des
Bauens. Wer in einem Gebäude arbeitete, wurde nicht
mehr in dunkle Kammern abgeschoben. Er bekam den
Raum, den er für seine Tätigkeit brauchte. Diese Zweckmäßigkeit der Form ist noch heute für uns Standard beim
Bauen.
Dass die architektonische und die gestalterische
Avantgarde jener Zeit nach Deutschland kam, kann uns
meiner Meinung nach noch heute ein bisschen stolz machen. Deutschland, das Land der Dichter, der Denker
und auch der Designer, daran sollten wir anknüpfen.
({0})
Auch wenn die Versuchung groß ist, sollten wir uns
davor hüten, das Bauhaus auf eine deutsche Errungenschaft zu reduzieren. Studenten aus aller Welt kamen
zum Bauhaus. Die Schule stand für Weltoffenheit. Man
verständigte sich zunächst nur über die gemeinsame
Sprache des guten Designs. Das Bauhaus verstand sich
als modern, offen und tolerant, Werte, von denen wir gerade in diesen Tagen erfahren müssen, dass sie nicht
selbstverständlich sind und immer wieder verteidigt werden müssen.
({1})
Es ist daher kein Wunder, dass es die Nationalsozialisten
waren, die dieser Bewegung ein jähes Ende setzten.
Dass Weimar, Dessau und Berlin die Zentren des
Bauhaus-Jahres sein werden, haben meine Vorredner
schon erwähnt. Dennoch gibt es auf der ganzen Welt
Zeugnisse von dem, was Kreative in den 20er-Jahren
hier in Deutschland begründeten, Zeugnisse, die nicht
unbedingt in Stahl und Beton gegossen sein müssen,
sondern vor allem im kulturellen und gestalterischen Gedächtnis bis heute wirken.
So wie meine Vorrednerinnen und Vorredner Beispiele genannt haben, möchte ich natürlich darauf hinweisen, dass es auch in Bayern echte Bauhäuser gibt.
Walter Gropius schuf beispielsweise im Auftrag der Porzellanfirma Thomas in Amberg in der Oberpfalz mit der
sogenannten Glasmacherkathedrale sein letztes Meisterwerk des modernen Funktionalismus. Er selbst konnte
die Fertigstellung 1970 nicht mehr erleben, aber das Gebäude ist bis heute als Kristallglasmanufaktur in Betrieb.
Selbstverständlich leistet auch die CSU ihren Beitrag
zur allgemeinen Bauhaus-Freude. Meine Partei verkauft
- Sie haben es in diesen Tagen in den Zeitungen lesen
können - ihre Parteizentrale in der Nymphenburger
Straße und kauft ein neues Gebäude. Wir nennen das unser Vereinsheim. Wenn Sie uns da einmal besuchen wollen, können Sie sich schon einmal die Adresse notieren.
Die CSU residiert künftig in der Mies-van-der-RoheStraße Nummer 1.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3727 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe ab 2016
Drucksache 18/3415
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Rängen! Über die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe diskutieren wir
schon länger. In den Bundestagswahlkämpfen der vergangenen Jahre hat die Forderung immer wieder eine
Rolle gespielt. Es gibt keine Veranstaltung, in der dieses
Thema nicht genannt wird, entweder von der Landwirt7572
schaft oder von Gartenbaubetrieben oder auch von
Baumschulen.
Das allein wäre aber natürlich noch kein Grund für
die Linke, diesen Antrag heute hier einzubringen. Wir
sind relativ unverdächtig, die Positionen des DBV einfach so zu übernehmen, schon gar nicht unkritisch. Aber
so, wie ich sonst unterschiedliche Positionen zu denen
des Deutschen Bauernverbandes sehr deutlich benenne,
so muss ich ihn unterstützen, wenn er einmal recht hat.
({0})
Dazu gehört eben die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe. Dabei geht es nicht um ein
Rundum-sorglos-Paket, wie immer unterstellt wird, sondern einfach nur um Hilfe zur Selbsthilfe.
Ja, es geht auch um den Verzicht auf Steuereinnahmen. Deshalb ist es für die Linke besonders wichtig, zu
begründen, warum das trotzdem im Sinne des Gemeinwohls notwendig ist, und, ja, wir schaffen damit für die
Landwirtschaft eine Sonderrolle; aber auch das möchte
ich gerne begründen.
Uns sind die Ernährungssicherung und die Ernährungssouveränität eben nicht nur im globalen Süden sehr
wichtig, sondern auch im eigenen Land. Deshalb hat die
Existenzsicherung der einheimischen Landwirtschaft für
uns einen hohen gesellschaftlichen Wert. Es geht uns dabei um die Sicherung der Versorgung in den Regionen
durch die Landwirtschaft und damit um Gemeinwohlinteressen.
({1})
Das ist übrigens der linke Plan B als Gegenentwurf
zur aktuellen Agrarpolitik, der die Landwirtschaft vor allem als Zulieferer für den Agrarmarkt wettbewerbsfähig
machen will. Genau das ist nicht unser Leitbild.
Zur Sonderrolle der Landwirtschaft: Die landwirtschaftliche Erzeugung ist neuen Risiken ausgesetzt, die
die Betriebe selbst kaum beeinflussen oder selbst mit
hellseherischen Fähigkeiten kaum vorsorglich berücksichtigen können. So gibt es zum Beispiel völlig neue,
neu eingeschleppte oder zurückkehrende Tierseuchen.
Erinnern wir uns an das Schmallenberg-Virus, das
ohne Vorwarnung zu hohen Verlusten in der Schaf- und
Ziegenhaltung führte und bis dahin völlig unbekannt
war. Man wusste überhaupt nicht, wie man damit umgehen sollte. Oder ich erinnere an die mysteriöse Bestandserkrankung, die chronischer Botulismus genannt
wird. Wie sollen sich Betriebe davor schützen, wie sollen sie damit umgehen, wenn nicht einmal die Wissenschaft weiß, welche Ursachen die Krankheit hat! Hier
wird Unterstützung gebraucht, auch deshalb, weil Tierseuchenkassen dieses Risiko nicht abdecken.
Auch bei den Pflanzen lauern bisher völlig unbekannte Gefahren. Ich erinnere an die aus Asien eingeschleppte Kirschessigfliege - sie bereitet aktuell Obstund Weinbauern schlaflose Nächte - oder daran, dass der
Eichenprozessionsspinner unterdessen die Eichen nicht
nur kahlfrisst, sondern sie auch zum Absterben bringt.
Da die Raupenhärchen ein gesundheitliches Risiko darstellen, kann man dieses Holz nicht einmal mehr verwerten. Ich denke, auch diese Last können wir den Betrieben
nicht allein überlassen.
({2})
Auch der Klimawandel ist zu einem hohen betriebswirtschaftlichen Risiko geworden. Aktuell ist der Winter
so milde, dass er Winterkulturen sogar schadet. Frost
ohne Schnee ist ein Problem. Trockenheiten wechseln
sich mit zu viel Wasser ab, entweder von oben oder von
unten. Neue Sorten müssen getestet werden, weil bislang
bewährte mit den neuen Bedingungen nicht klarkommen. Ich finde, auch das können wir den Betrieben nicht
allein überlassen.
({3})
Einen dritten Risikobereich möchte ich benennen. Die
Natur gibt der Landwirtschaft lange Produktionszyklen
vor. Ein kurzfristiges Reagieren auf Preisachterbahnen
auf dem Weltagrarmarkt ist kaum möglich. Wenn zum
Beispiel eine Kuh trächtig ist, wird sie nach circa neun
Monaten und neun Tagen ein Kalb zur Welt bringen und
danach auch Milch geben, egal ob der Milchpreis gerade
wieder einmal abstürzt oder nicht.
({4})
Oder wenn erst einmal eingesät ist, kann man das Saatgut nicht wieder ausbuddeln, wenn der Preis für das
Erntegut gerade verfällt. Verschärft werden diese Preisschwankungen durch die spekulativen Wetten an der
Börse auf Ernten, die noch nicht einmal eingesät sind.
({5})
Also, es gibt erhebliche Risiken für die landwirtschaftlichen Betriebe, die selbst vorsorglich handelnde Betriebe
existenziell gefährden können. Ich finde, deswegen
brauchen sie Unterstützung.
({6})
Es gibt aber immer wieder auch Phasen, in denen es
besser läuft. Beispielsweise war 2014 für viele Milchbetriebe ein sehr gutes Jahr mit 25 Prozent Plus im Durchschnitt auf das Betriebsergebnis. Ackerbaubetriebe wiederum hatten ein Minus von 23 Prozent in ihren Büchern
stehen. Unterdessen ist aber der Milchpreis wieder im
absoluten Sinkflug. Genau das stellt uns doch vor die
Frage: Helfen wir mit Steuergeldern aus, wenn wieder
einmal eine Krisensituation ist? Oder verzichten wir auf
einen kleinen Teil der Steuern in guten Jahren, damit die
Betriebe für schlechte Jahre Vorsorge leisten können?
({7})
Wir finden, die zweite Variante ist wesentlich sinnvoller. Das finden nicht nur wir, sondern das findet sogar
der grüne Landwirtschaftsminister in Baden-Württemberg, Herr Bonde. Die Union hat 2012 einen entsprechenden Parteitagsbeschluss gefasst. Ich meine, dann
kann man das hier auch so beschließen.
Vielen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Guten Abend, liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Alles Gute noch für 2015, auch dem Präsidium. - Ein schönes Thema. Alle Jahre wieder kommt
das Christuskind; alle Jahre wieder kommt rechtzeitig
zur Grünen Woche ein von den Linken gestellter Antrag
auf Ermöglichung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe. Letztes Mal haben wir die
Redebeiträge dazu zu Protokoll gegeben; heute debattieren wir darüber. Das mache ich auch gern. Vielen Dank,
Frau Tackmann, für das Verständnis, das Sie für die Situation der deutschen Landwirtschaft insgesamt gezeigt
haben.
Aber zur Sache. Welche Ausnahmen für die Landwirtschaft - das frage ich als aktiver Bauer - gibt es in
der gesamten Gesetzgebung? Ich sage einmal mit allem
Ernst: Ich bin schon über 20 Jahre Abgeordneter. Es ist
selbstverständlich, dass wir in § 13 a Einkommensteuergesetz die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft pauschaliert haben. Erst vor einigen Monaten
haben wir erneut beschlossen, dass die Kleinstbetriebe
einen besonderen Schutz behalten. Wir haben diesen
Schutz sogar noch verbessert.
Wir haben auf der anderen Seite vor mehr als zwei
Jahren in einer Nachtaktion, so könnte man sagen, gerade wegen Problemen wie Überflutung oder zu große
Trockenheit Mehrgefahrenversicherungen zu Sonderkonditionen begünstigt. Ich könnte jetzt behaupten, dass
ich dafür schubkarrenweise Dankesschreiben bekommen
habe. Bei vielen wird das als etwas Selbstverständliches
abgehakt. Ich verweise leidenschaftslos auf das, was unsere Politik draußen im Lande bewirkt hat.
Zum eigentlichen Thema. Steuerberaterinnen oder
Steuerberater wären die großen Gewinner bei einer Änderung in Ihrem Sinne, Frau Kollegin. Man müsste eine
Bilanz fünf, sechs oder sieben Jahre offenhalten, bis man
einen endgültigen Bescheid bekommt, weil man dann
die 50 000, 70 000 oder 100 000 Euro, die man in die
Rücklage eingezahlt hat, mit 6 Prozent Zinszuschlag pro
Jahr versteuern muss. Das ist heute geltendes Recht.
Dann möchte ich einmal die Gesichter derjenigen sehen,
die dafür die Verantwortung tragen.
Dabei muss man all die Ausnahmen sehen. Vor allem:
Es geht um zwei Kalenderjahre. Die Erträge, die zu versteuern sind, werden auf zwei Wirtschaftsjahre gesplittet. Da könnte man überlegen: Bezieht man noch ein
weiteres Jahr mit ein? Wenn man dann im Betrieb in die
Schlussbesprechung mit dem Steuerberater geht, muss
man überlegen: Wie war das denn vor 36 Monaten?
Zum Thema Ansparabschreibung. Wir haben schon
jetzt die Möglichkeit, bis zu 40 Prozent der Kosten eines
Investitionsgutes, das erst in der Zukunft angeschafft
wird, steuerwirksam zurückzustellen; die Beträge
werden dann aufgebraucht. Zu diesem Thema, liebe
Freunde, noch Folgendes: Der Antrag, dass man die
strenge Zuordnung etwas lockert, wird in diesen Monaten mit Sicherheit noch einmal gestellt werden. Heute ist
es so, dass ich sagen muss: Ich kaufe einen Schlepper.
Der kostet 100 000 Euro. Ich soll für die Ansparrücklage
womöglich auch noch die Marke nennen. Ich meine, es
geht darum, zu erreichen, dass man den Betrieben da
Freiheit lässt, sodass sie den Vorteil erhalten, egal was
sie investieren, dass sie also nicht unbedingt den Mähdrescher kaufen müssen, der genannt worden ist, sondern auch einen Traktor kaufen können. Das ist derzeit
zu eng gestrickt. Solche Öffnungsmöglichkeiten, die den
Staat aktuell kein Geld kosten, sollte man schon wohlwollend prüfen.
Dann haben wir in § 7 g Einkommensteuergesetz,
wenn ich mich recht erinnere, eine Regelung zur Reinvestition, wenn man Land teuer verkauft. Derzeit ist das
sehr eng gefasst; das kann man schon kritisch anmerken.
Zu überlegen wäre, dass man die Mittel nicht zwingend
in Grund und Boden anlegen muss, sondern vielleicht
auch in Bauten oder Maschinen reinvestieren kann - allein schon aus dem folgenden Grund: Mainz ist meine
Landeshauptstadt. Wenn dort in steigendem Maß Erlöse
aus Landverkäufen reinvestiert werden müssen, ergehen
Kaufgebote für Flächen in 10, 20 oder 40 Kilometer Entfernung und verteuern dort unnötig das Land, nur weil
man gezwungen ist, um Steuern zu sparen, die Mittel
wieder in Grund und Boden anzulegen. Das sind die
Baustellen, die man in Angriff nehmen müsste.
Zum Schluss der ganzen Debatte noch Folgendes:
Das, was mir auch vom Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes schon jahrelang gesagt wurde, war Ausfluss der Debatten der Agrarpolitiker, um das ins Wahlprogramm der Union zu bekommen. Ich sage frank und
frei: Ich habe schon immer gegen den Afghanistan-Einsatz gestimmt; das hat seine Gründe. Wenn ich von einer
Sache nicht überzeugt bin, dann vertrete ich sie auch als
Vizepräsident des Bauernverbandes nicht, selbst wenn
man glaubt, man müsse mich dazu zwingen. Ich bin frei
gewählter Abgeordneter. Das sagte ich auch meinem
Präsidentenkollegen. Ich bin von dieser Sache nicht
überzeugt, weil das Offenhalten einer Bilanz so viele
Schwierigkeiten mit sich bringt und weil dieser ganze
Wust damit verbunden ist. Es ist nicht praxisgerecht.
Denken wir über die anderen Baustellen nach, die wir im
Sinne der deutschen Landwirtschaft notwendigerweise
angehen sollten!
Was haben wir in den letzten Jahren alles steuerlich
geschafft, und welches Ringen hatten wir auch beim
Erbschaftsteuerrecht, um zu erreichen, dass beim
Ertragswertverfahren die Landwirtschaft privilegiert, geschützt außen vor bleibt! Das war doch keine selbstverständliche Sache bei der Neiddebatte damals. Vielleicht
hat auch mein Argumentieren im letzten Sommer beim
Verfassungsgericht mit dazu beigetragen, dass das Urteil
in Karlsruhe zum Ertragswertverfahren für alle Betriebe
und die Industrie den Schutz der aktiven landwirtschaftlichen Betriebe berücksichtigt hat; das hatte einen besonderen Stellenwert in dem Urteil des Verfassungsgerichts.
Das zeigt meine Grundeinstellung, unsere Grundeinstellung.
Liebe Kameraden von den Linken,
({0})
dass Sie immer zur Grünen Woche diesen Antrag stellen,
beeindruckt mich weiß Gott nicht.
({1})
Zufälligerweise zitieren Sie den Deutschen Bauernverband rauf und runter.
({2})
Davon war ich als Vizepräsident sehr angetan. Aber lassen wir es dabei!
Hier stellt sich sofort auf der Basis des Gleichheitsgrundsatzes die Frage nach der Ungerechtigkeit: Was
machen wir mit Skiliften in Tourismusgebieten? Was
machen wir mit der Bauwirtschaft? Da ist man manchmal 8, 10 oder 14 Wochen genauso blockiert. Dann kommen immer mehr Ausnahmen. Dann kostet uns das nicht
1,5 oder 2 Milliarden Euro, wie berechnet,
Herr Kollege.
- sondern dann kostet uns das in der Einführungszeit
6 bis 7 Milliarden Euro, und das bei dem großen haushaltspolitischen Ziel, das wir uns gegeben haben, nämlich Nullverschuldung. Von dieser Linie rücken wir nicht
ab, auch nicht bei diesem Punkt.
Danke schön.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucher, die Sie gerade gehen! Es ist ja vielleicht
auch eine nicht ganz so spannende Debatte. - Herr
Schindler, bei der Einleitung zu Ihrer Rede musste ich
ein bisschen schmunzeln. Da haben Sie Ihre Ablehnung
mit den heute schon vorhandenen Ausnahmen und Besonderheiten zum Beispiel hinsichtlich Einkommensteuer oder Umsatzsteuer begründet. Ich erinnere mich
gerade bezüglich der Umsatzsteuer, dass Brüssel uns
darauf aufmerksam machen musste, dass Pferde im
Wesentlichen nicht zum Verzehr genutzt werden, sondern als Reitpferde und zu anderen Zwecken, und deshalb für diese nicht mehr der verminderte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent infrage komme. Ich erinnere mich,
dass Sie in einem sich daran anschließenden Berichterstattergespräch auf Holzrückepferde aufmerksam gemacht haben und dann auch noch durchgesetzt haben,
dass der Verkauf dieser Pferde nach wie vor mit 7 Prozent besteuert wird.
({0})
Das ist ein Ausnahmetatbestand, zu dem ich sage: Ich
hoffe, dass dann, wenn wir uns noch einmal mit dem
Thema Umsatzsteuer befassen,
({1})
obwohl Ihre Fraktion da ja wirklich eine Verweigerungshaltung an den Tag legt, wenigstens Sie uns unterstützen,
damit wir da endlich zu einer vernünftigen Regelung
kommen.
({2})
Nur so viel dazu.
Richtig ist, es bestehen Risiken. Diese haben Sie von
der Linken benannt. Allerdings haben Sie Risiken benannt, die gar nichts mit dem Wetter zu tun haben. Sie
haben TTIP angeführt, Sie haben die schwankenden
Handelspreise aufgeführt. Richtig ist, man sollte Risikovorsorge betreiben. Eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage, wie die Fraktion Die Linke sie vorschlägt, ist
allerdings, wie ich denke, weder sachgerecht noch ordnungspolitisch vertretbar. Warum?
Wir haben einmal - Herr Schindler hat es erwähnt das Problem der Abgrenzung. Wie soll ich denn gegenüber dem Gastwirt im Bayerischen Wald, der im
Moment sehr über einen verregneten Sommer und einen
bisherigen Winter ohne Schnee stöhnt, begründen, dass
er seine Einkommensverluste steuerlich nicht geltend
machen kann, aber der Landwirt nebenan schon?
({3})
Wie soll ich die Abgrenzung zu den vielen Nebenerwerbslandwirten vornehmen oder denjenigen, die neben
der Landwirtschaft auch noch andere Geschäfte betreiben? Ich sehe da vor meinem geistigen Auge den
Finanzbeamten, der darüber entscheiden soll, welcher
Betrag auf die Landwirtschaft entfällt und welcher Betrag aus anderen Geschäften kommt.
Wie verhält es sich mit der Tatsache, dass immer
dann, wenn steuerliche Entlastungen beschlossen werden, gerade die großen Betriebe die Nutznießer sind?
Schon allein deshalb hat es mich gewundert, dass dieser
Vorschlag aus den Reihen der Linken kommt. Wenn Sie
nämlich eine solche steuerliche Maßnahme machen,
können Sie sie nicht nur auf kleine und mittlere bäuerliche Betriebe begrenzen.
({4})
Es verhält sich so: Es gibt schon eine Reihe von Sonderkonditionen für die Landwirtschaft. Ich denke, wie
schon erwähnt, an die Abrechnung der Umsatzsteuer auf
Basis von Durchschnittssteuersätzen oder der pauschalisierten Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer. Da
soll jetzt noch etwas draufgesetzt werden. Wenn dahinterstünde, dass Sie die Landwirtschaft zusätzlich fördern
wollen - ich will nicht von Subvention sprechen -, dann
wäre gerade das ein Grund, genau das nicht zu machen.
Wir wollen nämlich, dass Förderungen transparent sind,
dass wir ihre Wirkungen erkennen können und sie somit
auch steuern können. Auch hier also ein falscher Ansatz.
Lassen Sie mich an dieser Stelle klar sagen: Wenn wir
die Landwirtschaft fördern, dann an der richtigen Stelle
und nicht mit solchen Einzelfallregelungen, wie Sie sie
hier vorschlagen.
Es ist also ordnungspolitisch falsch, es ist sachlich
falsch. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass wir
bei der Debatte, die wir noch vor uns haben, jetzt hergehen und sagen: Wir wollen eine steuerrechtliche Sonderregelung schaffen.
Lassen Sie mich noch etwas sagen, gerade vor dem
Hintergrund, dass Sie die Risiken angeführt haben. Sie
haben die Klimaveränderung angeführt, Sie haben, wie
gesagt, TTIP angeführt. Sie haben die schwankenden
Preise im Handel und auch im Bezug von Düngemitteln
und anderen Materialien angeführt. Lassen Sie uns doch
wirklich an den Ursachen ansetzen, und nicht an der
Wirkung. Ich wünsche mir von der linken Seite und auch
von der anderen Seite mehr Unterstützung für eine klare
Zielsetzung in Richtung einer ökologischen Landwirtschaft. Dann haben Sie manche Probleme, von denen Sie
hier sprechen, nicht mehr.
({5})
Wenn Sie das hinkriegen, dann sind Sie wirklich dabei,
an der Basis Sicherheit herzustellen und Risiken zu verringern.
({6})
- Sie müssen an mehreren Schrauben drehen; das ist
richtig. Aber die wichtigste Schraube ist - hier erwarte
ich Ihre Unterstützung, die der CDU/CSU und auch die
der Sozialdemokraten - eine vernünftige ökologische
Landwirtschaft.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Zuhörer! Wir haben hier so etwas wie eine
zweijährige Wiederholung eines Themas. So wie regelmäßig die Grüne Woche kommt, so kommt regelmäßig
der Antrag der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für
die Landwirtschaft - überraschenderweise nicht immer
von den gleichen Leuten.
Ich erinnere an einen Vorstoß der Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner im Jahr 2009. Sie hat das Thema besetzt, sich an Peer Steinbrück gewandt und ihn gebeten,
doch darüber nachzudenken. Er hat darüber nachgedacht
und hat es rundweg abgelehnt. Er hat es mit dem Argument abgelehnt: Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes - Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes bestehen keine hinreichend sachlichen Rechtfertigungsgründe für eine Risikoausgleichsrücklage. Da andere
Branchen vergleichbar hohe Risiken eingehen oder gar
stärkeren Marktschwankungen unterliegen - damals war
es die Automobilwirtschaft; das war 2009 -, würde einzig die Land- und Forstwirtschaft steuerlich gefördert.
Er wies darauf hin, dass wir - das wurde auch vom Kollegen Schindler angesprochen - eine ganze Menge besonderer Regelungen für die Land- und Forstwirtschaft
haben. Sie bilanzieren nicht nach dem Kalenderjahr,
sondern nach dem Wirtschaftsjahr; das heißt, sie können
ihre Gewinne in zwei Rechnungsjahre aufspalten und
haben dadurch gute Möglichkeiten, den Gewinn auf
zwei Veranlagungszeiträume aufzuteilen. Das war 2009.
Dann gab es 2012 einen neuen Vorstoß - diesmal von
den Linken. Sie bezogen sich auf ein Gutachten. Das
Gutachten ist vom Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Auftrag gegeben worden, fiel allerdings nicht so aus, wie sie es sich
vorgestellt hatten. Auch in diesem Gutachten wird die
Rücklage komplett abgelehnt, weil sie keine wirkliche
Entlastung erreicht, da die Steuerzahlung lediglich in die
Zukunft verschoben wird. Das ist genau der Punkt. Sie
haben die ganze Zeit gesagt, Sie wollen die Landwirtschaft unterstützen, Sie wollen sie fördern, Sie wollen
Ernährungssicherheit herstellen. In Wirklichkeit wird
allerdings nur eine Steuerzahlung in die Zukunft verschoben und keine Subvention geleistet. Das muss man
immer im Kopf haben.
Damals haben Sie davon gesprochen, dass es darum
geht, 35 Millionen Euro an die Landwirte zu verteilen.
Diesmal steht in Ihrem Antrag kein Finanzvolumen. Ich
weiß nicht, ob das Ganze inzwischen nichts mehr kostet.
Oder wie haben Sie sich das vorgestellt?
Sie haben jetzt einen neuen Antrag eingebracht. Er ist
inhaltlich fast gleich, allerdings sind beachtliche neue
Risiken der Landwirte dazugekommen. Neben dem Klimawandel - vor zwei Jahren gab es ihn so noch nicht, er
hat sich verstärkt - und der afrikanischen Schweinepest
- sie gab es vor zwei Jahren auch noch nicht - sind die
Risiken von TTIP und die Folgen des russischen Importstopps
({0})
in der Begründung für die Ausgleichsrücklage hinzugekommen. Normalerweise ist es für die Landwirte immer
etwas risikoreich, ihrem Betrieb nachzugehen. Klima
gab es schon immer.
({1})
Auch Tierseuchen gab es schon immer, und es gab schon
immer irgendwelche Handelsabkommen. Es mag sein,
dass wir jetzt vielleicht neue Erreger haben, aber wir haben auch neue Impfstoffe. Ich glaube, das gleicht sich
aus. Fälle von Infektionen mit dem Blauzungen- und
dem Schmallenberg-Virus ziehen sich durch die letzten
Jahre - das stimmt -; aber da hilft keine Steuererleichterung. Die Viren werden weiterhin auftauchen, unabhängig davon, ob die Landwirte Geld haben oder nicht.
Wie stark die Landwirte davon betroffen sind, hängt
natürlich von der Art des Betriebes ab. Auch dafür haben
Sie keine Lösung. Sie wollen nämlich nicht gezielt Betriebe mit besonderen Risiken fördern, sondern die Förderung streuweise über alle Betriebe verteilen, wodurch
die großen Betriebe - die Kollegen sagten es schon - erheblich mehr erhalten als die kleinen; das ist ein sehr
wichtiger Kritikpunkt.
Wie gesagt: Sie benennen kein Volumen der Entlastung; Sie haben es nicht berechnet oder berechnen wollen. Sie differenzieren bei der Förderung überhaupt
nicht; Sie schieben die Förderung einfach dem ganzen
Sektor zu. Dass Ihre Fraktion dabei auf die Historie verweist - nach dem Motto: das hat der Landwirtschaftsverband schon immer gefordert, deswegen muss es richtig
sein -, finde ich ein bisschen überraschend.
({2})
- Die Begründung fand ich nicht so überzeugend.
({3})
Schwierig ist auch die Umsetzung des Antrags. Sie
müssen sich das einmal überlegen. In Ihrem Antrag haben Sie geschrieben:
Die Höhe der Rücklage sollte sich aus den betrieblichen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirtschaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent des
durchschnittlichen Jahresumsatzes betragen.
Das bedeutet aber, dass man eine gewisse Vision
braucht, wie die nächsten Jahre sein werden. Ein Landwirt muss schon abschätzen können: Bin ich in einem
Risikojahr oder nicht? Ich halte das für sehr schwierig.
Nach zwei durchschnittlichen Jahren, vielleicht mit einem Jahr, in dem es einen harten Sommer gab, kann ein
Landwirt schlecht abschätzen, ob der nächste Sommer
wieder hart wird, ob ein Risikojahr folgen wird und eine
Rücklage gebildet werden muss. Er kann schlecht abschätzen, ob nach einem guten Jahr, in dem der Milchpreis ein bisschen höher war, eine Rücklage gebildet
werden muss, weil der Milchpreis im nächsten Jahr bestimmt wieder niedriger ist. Das abzuschätzen, ist nicht
nur für den Steuerberater schwierig, sondern auch für
den landwirtschaftlichen Betrieb eigentlich unmöglich.
Jede Versicherungsmöglichkeit ist besser als Ihre
Rücklage.
({4})
Wir haben in der Versicherungsbranche eine Menge gemacht; wir haben zusätzliche Risiken aufgenommen, die
versichert werden können. Wir können auch gerne darüber reden, ob man noch mehr versichern kann, ob man
sich gegen die Folgen von TTIP absichern kann. Von mir
aus! Wenn Sie eine Versicherung dafür finden, ist mir
das recht. Ob man sich gegen die ganzen Viren absichern
kann? Von mir aus! Jedenfalls ist alles besser als die von
Ihnen vorgeschlagene Rücklage. Wir von der SPD waren
übrigens schon immer dagegen. Die CDU/CSU hat ein
bisschen geschwankt, aber Kollege Schindler war auch
immer dagegen; das will ich hier wohlwollend sagen.
Ich halte den Antrag nicht nur für überflüssig, sondern auch von der Ausrichtung her für schädlich. Er
bringt den Landwirten nichts außer ein bisschen mehr
Publicity zur Grünen Woche; er bringt keine Erleichterung im Betriebsablauf. Wenn Sie den Landwirten wirklich helfen wollen, dann sorgen Sie für einen fairen
Wettbewerb,
({5})
für eine gute Landwirtschaft, die unter fairen Bedingungen produziert, und für faire Preise. Helfen Sie mit, die
Massentierhaltung einzudämmen, den Flächenverbrauch einzudämmen, die Intensivtierhaltung einzuschränken
({6})
und vielleicht den Antibiotikaverbrauch zu beschränken.
Helfen Sie dabei, eine gute Ernährung für die Verbraucher zu sichern. Das nutzt allen: den Verbrauchern, der
Landwirtschaft in ihrem Bestand und dem Image sowieso.
Nun möchte ich die restlichen Minuten meiner Redezeit denen zur Verfügung stellen, die noch auf die Grüne
Woche gehen wollen. Deswegen beende ich meine Rede
etwas eher. Ich denke, da ist mir keiner böse. Ich wünsche allen eine schöne Zeit auf der Grünen Woche. Setzen Sie sich intensiv mit den Landwirten und ihren Problemen auseinander,
({7})
und sparen Sie sich den nächsten Antrag in zwei Jahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe verbliebenen Gäste hier im Plenarsaal!
Die Vorredner haben darauf hingewiesen: Dieses Thema
hat das Hohe Haus schon des Öfteren beschäftigt; mich
beschäftigt es zum ersten Mal.
({0})
Ich widme mich diesem Thema sehr gerne. Schon damals, im Jahre 2012, ist ein ähnlicher Antrag der Linken
von allen übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Es
scheint heute, dass es wieder so kommt.
Wir haben uns den Antrag angesehen und haben festgestellt - die Vorrednerin hat darauf hingewiesen -: Es
gibt wenig Neues. Neue Krisen sind hinzugekommen.
Der Antrag ist nach wie vor wenig konkret. Es ist nur
das Stichwort „Rücklagenbildung“ enthalten. Wie man
das löst, wie das umgesetzt, administriert werden soll,
steht nicht darin.
({1})
Die Gegenargumente, die damals vorgetragen wurden,
gelten noch immer. Sie werden heute aber gerne noch
einmal von allen vorgetragen; denn wie heißt es so
schön: Die Wiederholung ist die Mutter der Pädagogik.
Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben einen längeren
Prozess durchlaufen, was dieses Thema angeht. Es ist
darauf hingewiesen worden: Wir haben das Für und Wider immer wieder abgewogen, sind aber zu dem Ergebnis gekommen, dass das beabsichtigte Ziel durch eine
Risikoausgleichsrücklage nicht erreicht werden würde.
Das deckt sich übrigens mit dem Ergebnis einer Untersuchung von Professor Bahrs, die ebenfalls angesprochen
wurde. Dort heißt es, eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage würde keinen wesentlichen Beitrag zur Abfederung von markt- und wetterbedingten Risiken in der
Landwirtschaft leisten.
Wir sollten uns überlegen, was mit einer solchen
Rücklage - wenn man dieses Thema angehen und den
Gleichheitsgrundsatz, der auch schon angesprochen
wurde, beiseiteschieben würde - eigentlich erreicht werden soll. Es geht um eine Verbesserung der Liquidität
der Agrarbetriebe durch einen Glättungseffekt bei den
Einkünften und durch einen Zinseffekt aufgrund der
Stundung der Steuerzahlungen, die auf einen späteren
Zeitpunkt verlegt werden. Wir müssen uns aber fragen,
ob dieser Effekt tatsächlich erreicht wird, und wenn er
erreicht wird, welchen Umfang er in den einzelnen Betrieben einnehmen würde, sodass er tatsächlich eine Entlastung für den einzelnen Betrieb darstellt.
Beim Glättungseffekt kommt es zu einer Verstetigung
der Höhe des zu versteuernden Einkommens, indem in
guten Jahren eine Rücklage gebildet wird, die in
schlechten Jahren aufgelöst wird. Hier kommt es aufgrund der Jahresabschnittsbesteuerung, wie wir sie in
Deutschland haben, und des linear-progressiven Steuertarifs unter Umständen zu Steuerentlastungen. Das setzt
allerdings voraus, dass der jeweilige Betrieb der Steuerprogression unterliegt; das ist bei vielen aber gar nicht
der Fall.
Ganz ohne Auswirkung bleibt der Glättungseffekt bei
Agrarbetrieben, die ihre Einkünfte nach § 13 a Einkommensteuergesetz, also nach den Durchschnittssätzen,
versteuern, bei denjenigen, die in der Proportionalzone
des Einkommensteuertarifs liegen - also bis 15 Prozent
und über 42 Prozent sowie bei der Reichensteuer über
45 Prozent -, sowie bei Kapitalgesellschaften, die mit
15 Prozent einheitlich besteuert werden.
Wenn überhaupt ein Glättungseffekt erreicht wird,
dann wäre er bei den meisten Unternehmen recht überschaubar. Im Zuge des schon angesprochenen Gutachtens hat Professor Bahrs ermittelt, dass die Betriebe lediglich um durchschnittlich 174 Euro pro Jahr entlastet
werden würden. Ich bezweifle, dass die Risiken, die Sie
angesprochen haben, damit abgegolten werden könnten.
Das Gutachten stellt zusammenfassend fest, dass etwa
30 Prozent der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rücklage ziehen würden. Bei weiteren 30 Prozent läge der
Vorteil lediglich bei 100 bis 500 Euro, und die Hälfte der
prognostizierten Entlastungen entfiele auf nur 10 Prozent der Agrarbetriebe. Die Einführung einer Risikoausgleichsrücklage verfehlt somit das Ziel, eine Liquiditätsentlastung in der Breite, also für viele Betriebe, zu
erzielen. Sie nützt nur einigen wenigen. Dies sind im
Wesentlichen die großen und ertragreichen Betriebe und
nicht diejenigen Betriebe, die die Liquiditätshilfe brauchen, wenn sie denn kommen würde.
Das liegt auch daran, dass durch die Betriebe ein sogenannter Risikoausgleichsfonds aus liquiden Mitteln in
Höhe der Rücklage auf der Aktivseite gebildet würde,
damit die Liquidität im Unternehmen bleibt und nicht
abfließt. Dies setzt aber bei den Unternehmen einen positiven Cashflow voraus, der es ihnen ermöglicht, Finanzmittel zu separieren und temporär auf Liquidität zu
verzichten. Das können eher die Unternehmen, die die
Krisen wahrscheinlich auch ohne Rücklagenbildung
überstehen würden, für die also eine gewisse Kapitalbildung möglich ist, die eine gewisse Größe und Ertragskraft haben.
Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Auflösung der
Rücklage und des Ausgleichsfonds an bestimmte Bedingungen geknüpft sein müsste. Es wird erhebliche
Schwierigkeiten bei der Definition, der Messung und der
Bewertung der Ertragsminderung geben, die Grund für
die Auflösung der jeweiligen Rücklagen sein wird. Das
Ganze schafft mehr Verwaltungsaufwand sowohl bei den
Agrarbetrieben als auch bei den Finanzbehörden.
Eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage macht das
Steuerrecht nicht einfacher und auch nicht gerechter. Im
Steuerrecht gibt es schon jetzt Möglichkeiten für die
Agrarbetriebe zur Glättung der Einkünfte - das ist angesprochen worden -: die Verlustverrechnung gemäß
§ 10 d Einkommensteuergesetz, den Investitionsabzugsbetrag gemäß § 7 g Einkommensteuergesetz und die
Durchschnittsbesteuerung nach § 4 a Einkommensteuergesetz.
Den neben dem Glättungseffekt vorhin angesprochenen Zinseffekt können wir aufgrund der momentanen
Niedrigzinsphase meines Erachtens beiseiteschieben.
Ihm sollten wir keine weitere Bedeutung beimessen,
weil die liquiden Mittel, die in dem Fonds angelegt werden, keine größeren Erträge ausweisen werden, sodass
der Erfolg für die Unternehmen gering sein wird.
Es bleibt also festzuhalten, dass die mit der Einführung einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage zu er7578
wartenden Liquiditätseffekte entweder gering sind oder
nur eine kleine Zahl von Betrieben erreichen, und zwar
gerade solche, die aufgrund ihrer Kapitalstärke krisenfester sind. Wir halten die Einführung einer steuerfreien
Risikoausgleichsrücklage weder für angemessen noch
für notwendig, weil die mit ihr beabsichtigten, wenn
auch gut gemeinten Ziele nicht erreicht werden können.
Herzlichen Dank.
({2})
Als letzter Rednerin in der Aussprache erteile ich das
Wort der Abgeordneten Rita Stockhofe, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der vorliegende Antrag - das haben wir heute
schon gehört - ist nicht wirklich neu. Aber er enthält einen guten Grundgedanken; das wurde schon festgestellt.
Der Finanzausschuss ist zwar federführend, aber ich
möchte jetzt einmal ein bisschen aus der Sicht der Landwirtschaft berichten, weil die Landwirtschaft betroffen
ist und ich Mitglied im Landwirtschaftsausschuss bin.
Schauen wir uns an, wofür die Landwirtschaft zuständig
ist: Sie versorgt die Menschen mit hochwertigen Produkten, mit Essen und Trinken. Sie erhält unsere Kulturlandschaft, hegt und pflegt sie. Sie ist aber auch dazu da,
Heimat zu gestalten. Das sind große Aufgaben, die sie
wahrnimmt. Ich denke, wir alle wissen das zu würdigen.
Es gibt Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um
eine gute Landwirtschaft gewährleisten zu können. Dazu
gehören beispielsweise eine gute Ausbildung des Betriebsleiters, hochwertiges Saatgut, effiziente Landmaschinen und Ähnliches. Diese Voraussetzungen sind
durch den Bewirtschafter beeinflussbar. Es gibt aber
auch Voraussetzungen, die nicht beeinflussbar sind - wir
haben es heute mehrmals gehört -, wie Klima, Embargos, Krankheiten und Ähnliches. Natürlich wäre es
schön, wenn die Landwirte dieses Risiko nicht tragen
müssten. Aber die Landwirte wissen, dass sie Unternehmer sind, und Unternehmer tragen ein unternehmerisches Risiko.
({0})
Sie wissen auch mit diesem Risiko umzugehen. Es gibt
eine Bauernweisheit, die besagt: Der Bauer sollte eine
Ernte auf dem Feld haben, eine in der Scheune und eine
auf der Bank. Natürlich wissen wir, dass das nicht immer
zu realisieren ist, auch wenn es angestrebt wird. Aber ich
glaube, vernünftig mit Geld umgehen können gerade die
Bauern besonders gut, und sie geben auch nicht schnell
auf.
Ich unterstelle einmal, dass der Antrag der Fraktion
Die Linke gut gemeint ist. Aber wenn wir jetzt sehen,
dass wir es gerade geschafft haben, eine schwarze Null
zu erreichen, dann muss man sagen: Das ist wirklich ein
ganz zartes Pflänzchen, das wir da haben, um mal bei der
Landwirtschaft zu bleiben. Dieses Pflänzchen muss gehegt und gepflegt werden. Da können wir doch nicht
aufgrund von Ad-hoc-Anträgen, deren Umsetzung unheimlich viel Geld kosten würde und bei denen wir gar
nicht wissen, ob dieses Geld nachher bei der Landwirtschaft ankommt, ob sie wirklich einen Nutzen davon hat,
das Risiko eingehen, dieses zarte Pflänzchen wieder eingehen zu lassen. Lassen Sie uns also bitte alle daran mitwirken, diese Pflanze wachsen zu lassen, damit es uns in
Zukunft besser geht. Das tut auch unseren Kindern,
Enkelkindern und unserer zukünftigen Landwirtschaft
sehr gut. Darauf sollten wir achten.
({1})
Es wurde schon ein paarmal das Gutachten von Professor Bahrs zitiert, der gesagt hat, dass gerade die finanzstarken Betriebe von der Umsetzung dieses Vorschlags, der vorgetragen worden ist, profitieren würden.
Ich glaube, es sind nicht die finanzstarken Betriebe, die
wir in Krisenzeiten unterstützen müssen, sondern die,
die nichts für schlechte Zeiten zurücklegen können.
Es wurde ein Vergleich mit Skiliften, mit Außengastronomie und Ähnlichem gemacht. Dieser Vergleich
stimmt natürlich. Auch da gibt es ein unternehmerisches
Risiko; das müssen die Betreiber selber tragen. Wie gesagt, die Landwirte können es auch. Wir müssen vielleicht noch folgenden Unterschied machen: Wenn ein
Skilift nicht fährt, dann tut das nur dem Betreiber weh.
Wenn die Landwirtschaft keine Erträge einfährt, dann tut
es jedem weh, weil die Landwirtschaft alle versorgt. Von
daher finde ich die Ausnahmesituation, die wir in anderen Bereichen wie bei Ansparabschreibungen und Ähnlichem haben, sehr gut und sehr wichtig. Ich halte es für
einen guten Vorschlag - Norbert Schindler hat es vorhin
schon einmal kurz erwähnt -, wenn man da ausbaut. Das
hätte keinen Einfluss auf die schwarze Null, würde aber
den Bauern helfen und wäre vielleicht ein guter Ansatz.
({2})
Herr Gambke von den Grünen hat vorhin gesagt, dass
die Umsatzsteuer bei Pferden deswegen erhöht worden
ist, weil man Pferde ja nicht essen kann. Ich kenne Betriebe, denen es richtig wehgetan hat, dass gerade
Pferde, die man nicht essen kann, mit dem allgemeinen
Umsatzsteuersatz von 16 Prozent belegt werden. Das betrifft landwirtschaftliche Betriebe, deren Flächen in Natur-, Landschafts- oder Wasserschutzgebieten liegen. Sie
sind extrem eingeschränkt. - Herr Gambke, das ist ein
konkretes Beispiel. Sie brauchen nicht den Kopf zu
schütteln.
({3})
- Das können Sie gar nicht wissen. Das ist nämlich bei
mir in der Nähe.
({4})
- Kann ich jetzt fortfahren?
({5})
Auf alle Fälle hat dieser Betrieb extreme Bewirtschaftungseinschränkungen hinzunehmen. Aber wie die Bauern so sind, schmeißen sie nicht das Handtuch, sondern
suchen nach Alternativen. Der Betrieb befindet sich in
der Nähe des Ruhrgebiets. Es gibt also viele Verbraucher
vor Ort. Daher stellt er auf Pensionspferde um. Das Futter erzeugt er selber, und Weideflächen sind vorhanden.
Das ist ein gutes Projekt für diesen Betrieb. Dann kam
die Gesetzesänderung, und er zahlt seitdem 16 Prozent
Steuern, die er vorher nicht gezahlt hatte.
({6})
Wissen Sie, wie weh dem Betrieb das tut?
({7})
Das ist bei Betrieben mit Pensionspferden nicht richtig.
Das tut diesen Betrieben richtig weh. Man sollte überlegen, ob man diesen Betrieben wehtun möchte oder nicht
und in der Praxis nachfragen, wie das ankommt.
({8})
Dieser Vorschlag ist nicht geeignet. Dieser Vorschlag ist
geeignet, ein Bürokratiemonster aufzubauen, das von
den Steuerberatern eingefangen werden muss. Da die
Steuerberater ihre Leistung in Rechnung stellen, ist das
Ganze aus Sicht des einzelnen Bauern nicht effektiv.
Abschließend möchte ich Folgendes sagen: Der Beruf
des Landwirts oder der Landwirtin ist ein ganz toller Beruf, den viele junge Menschen ausüben. Sie gehen mit
viel Ehrgeiz und viel Ideologie in den Beruf hinein und
wissen, dass sie eine große Verantwortung tragen für
Tiere, für die Landschaft und Ähnliches. Lassen Sie uns
gemeinsam Voraussetzungen schaffen, dass auch in Zukunft Menschen diesen Beruf gerne erlernen möchten
und von den Erlösen auch leben können.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist jedoch die
Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({0})
Drucksache 18/3699
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Gabriele
Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Von der Wiege bis zur
Bahre, Formulare, Formulare. - Dieses Sprichwort beschreibt sehr treffend den Druck der Bürokratie auf uns
Menschen. Wir alle wünschen uns weniger Bürokratie,
weniger Formulare. Ich zum Beispiel muss jedes Jahr für
die Krankenkasse eine Bescheinigung ausfüllen und
Auskünfte über meine mitversicherte Tochter geben, ob
sie noch studiert, seit wann sie studiert und wie lange
noch, wie viel Geld sie mit ihren Jobs verdient hat, muss
Studien- und Verdienstbescheinigungen beifügen usw.
Ich habe großes Glück, dass ich sehr gewissenhafte Kinder habe, die mir selbstverständlich sämtliche Bescheinigungen unverzüglich zukommen lassen.
({0})
Ich weiß aber auch von Fällen, bei denen das nicht so
konfliktfrei abläuft. So eine sicherlich wichtige Datenmeldung kann sich dann sehr schnell zu einer zeit- und
nervenaufreibenden Angelegenheit werden.
Ich freue mich deshalb sehr, dass sich das Ministerium für Arbeit und Soziales vorgenommen hat, überbordende Bürokratie abzubauen und Verwaltungsvorgänge zu vereinfachen.
({1})
Das ist eine wirklich gute und wichtige Sache. Viele reden nur davon. Wir setzen es um.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
über einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der elektronischen Meldeverfahren für die Sozialversicherungen.
Hierbei geht es zum Beispiel darum, An-, Ab- und monatliche Beitragsmeldungen von Beschäftigten bei den
Kranken- und Unfallkassen sowie bei der Renten-, der
Arbeitslosen- und der Pflegeversicherung zu erleichtern.
Ein weiteres Ziel ist es, die elektronischen Verfahren insgesamt gesetzesfest zu machen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich konnte es fast
nicht glauben: Jährlich finden sage und schreibe
400 Millionen Meldevorgänge statt. Das ist eine enorme,
eine beeindruckende Anzahl. Wir beschäftigen uns heute
mit dem größten Massenverfahren zur Übermittlung von
Informationen in der Bundesrepublik. So viel zur Dimension.
Wir haben über 42 Millionen Beschäftigte in
Deutschland. Deren Sozialversicherungsdaten müssen
von den rund 4 Millionen Unternehmen regelmäßig an
die öffentlichen Stellen gemeldet werden. All diese Meldungen sorgen dafür, dass Renten-, Kranken-, Pflege-,
Arbeitslosen- und Unfallversicherungen umgehend über
Leistungsansprüche entscheiden und diese auszahlen
können. Damit das klappt, brauchen wir leistungsfähige
Systeme.
Diese werden jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Nutzen aller weiter optimiert.
({4})
Das Ministerium hat sich dabei sehr viel Mühe gegeben.
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde nicht mal so eben
aus dem Ärmel geschüttelt. Nein, über zwei Jahre harter
Arbeit sind dem Gesetzestext mit dem Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“
- kurz OMS - vorausgegangen.
Dabei wurde nicht hinter verschlossenen Türen gearbeitet. Im Gegenteil, man hat alles sehr genau mit den
betroffenen Akteuren diskutiert. Arbeitgeber und Fachleute aus den Verwaltungen waren genauso beteiligt wie
natürlich auch Softwareentwickler, die anwenderfreundliche technische Lösungen finden müssen, die dann hoffentlich auch funktionieren. Auch die Datenschutz- und
Datensicherheitsexperten wurden nicht vergessen. Das
ist insbesondere deshalb sehr wichtig, weil es um den
Austausch von personengebundenen Daten geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt ein umfassender Abschlussbericht vor, den wir alle - davon gehe
ich aus - mit großem Interesse gelesen und studiert haben. Dieser umfasst sagenhafte 1 989 Seiten. Ich hätte
ihn mitgebracht, konnte ihn aber leider nicht tragen.
({5})
Er ist übrigens zusammen mit weiteren Informationen zu
dem OMS-Projekt für jede und jeden im Internet frei zugänglich. Wir erkennen hieran eindrucksvoll, wie viel
Arbeit mit dem Abbau von Bürokratie verbunden ist.
Ich bedanke mich bei allen, die daran beteiligt waren.
Das waren nicht wenige. 260 Menschen haben an diesem Projekt mitgearbeitet. Danke schön dafür.
({6})
Ihr Einsatz lohnt sich allemal; denn unnötige Bürokratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor allem Zeit
und Nerven. Zudem werden unsere Unternehmen durch
zu viel Bürokratie in ihrem Schaffensdrang regelrecht
ausgebremst.
Schauen wir auf den Mittelstand, der uns allen sehr
am Herzen liegt. Fast 4 Millionen kleine und mittlere
Unternehmen sind betroffen. Sie sind unsere Garanten
für Wachstum und Beschäftigung.
Ich habe bei mir in Schleswig-Holstein mit einem
Handwerksmeister gesprochen und ihn gefragt: Wie
sieht es bei Ihnen ganz konkret mit den Sozialversicherungsmeldungen aus? - Seine Antwort war ernüchternd.
Für seinen Betrieb mit sechs Beschäftigten, die in fünf
unterschiedlichen Krankenkassen versichert sind, benötigt er monatlich zwei Tage für die zum Teil recht umständlichen Meldeverfahren. Er wäre sehr froh, wenn es
an dieser Stelle Vereinfachungen und damit Zeitersparnis geben würde. Das ist Zeit, die er dringend für seinen
Betrieb benötigt.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommen wir diesem Wunsch nach.
Wir packen das Bürokratiemonster bei den Hörnern und
weisen es ein Stück weit in seine Schranken.
({8})
Schauen wir auf die Arbeitgeber. Sie tragen die
Hauptlast der Meldungen. Für sie vermindert sich der
Aufwand am meisten, und zwar um jährlich rund
130 Millionen Euro. Die öffentliche Verwaltung spart
durch dieses Gesetzesvorhaben wertvolle Arbeitszeit der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umfang von jährlich etwa 17 Millionen Euro. Die Bürgerinnen und Bürger sparen vor allem Nerven, aber auch Zeit und Portokosten dadurch, dass bestimmte Bescheinigungen
zukünftig nicht mehr in Papierform, sondern elektronisch übermittelt werden können.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der von allen
Akteuren weitestgehend Unterstützung findet, machen
wir einen Schritt in die richtige Richtung. Wir werden
aber weiter am Ball und im engen Austausch mit den
Betroffenen bleiben, damit wir gemeinsam weitere gute
Lösungen finden nach dem Motto: So wenig Verwaltung
wie möglich und nur so viel wie nötig. - Vielleicht wird
dann auch einmal für mich und für alle genervten Eltern
der Meldebogen mit den Daten der Kinder für die Krankenkassen wegfallen.
({9})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt für die Fraktion Die
Linke Matthias W. Birkwald.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt
mit dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in
der sozialen Sicherung“, kurz OMS, soll den Datenaustausch zwischen Arbeitgebern und Sozialversicherungsträgern verbessern. Ja, Frau Staatssekretärin, das klingt
erst einmal gut. Ich bin sicher, die Rednerinnen und Redner der Union werden gleich wie Frau Hiller-Ohm soeben den Bürokratieabbau und die sinnvollen Erleichterungen für die Unternehmen loben. Es könnte alles so
einfach sein, ist es aber nicht. Darum muss ich Ihnen etwas Wasser in den Wein gießen.
Erstens. Mehr Computer und bessere Software einzusetzen, ist für größere Unternehmen und ihre Steuerberatungsfirmen oft eine feine Sache. Aber viele kleine und
mittlere Unternehmen können sich das schlicht nicht
leisten. Es ist zu teuer für sie. Ein Beispiel: In Ihrem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass kleine und mittlere Unternehmen täglich, also jeden Tag, elektronische Daten
bei den Sozialversicherungen abrufen müssen. Der Normenkontrollrat und der Bundesrat sind sich da einig und
sagen: Das ist nicht sinnvoll. - Sie ignorieren das. Deswegen sage ich: Äußern Sie sich doch einmal zu den Bedenken der kleinen Unternehmen.
({0})
Zweitens. Wir wissen, dass der Bürokratieabbau den
Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
oft einschränkt. Denken Sie bitte einmal an die unrühmliche Vorgeschichte des OMS-Projektes. Das 2002 gestartete Projekt ELENA, also das elektronische Entgeltnachweisverfahren, hatte gigantische Ausmaße. ELENA
sollte 60 Millionen Papierbescheinigungen von Arbeitgebern und 190 Formulartypen überflüssig machen. Machen wir es kurz: Am Ende hatten 35 000 datenschutzbewegte Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht
dagegen geklagt, und ELENA wurde 2011 aus Datenschutz- und aus Kostengründen eingestampft. Gut so!
({1})
Aber schon ein Jahr später wurde das OMS-Projekt
ins Leben gerufen, um alternative Modelle eines elektronischen Arbeitgebermeldeverfahrens zu prüfen.
({2})
Heute setzen Sie erste Ergebnisse dieses ELENA-Nachfolgeprojektes um. Warum sind wir Linken da wohl
skeptisch? Sie haben nicht aus Ihren Fehlern gelernt. Sie
haben wieder den gleichen Dienstleister beauftragt,
nämlich die Informationstechnische Servicestelle der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Firma, die ITSG,
wie sie abgekürzt heißt, hat aber in der Vergangenheit
eine entscheidende Rolle bei dem Versuch gespielt, das
unsinnige und teure IT-Großprojekt ELENA durchzusetzen. Ich sage: Das Scheitern von ELENA ist auch das
Scheitern der Firma ITSG. Das macht uns skeptisch.
({3})
In der Machbarkeitsstudie zum OMS-Projekt finden
sich an vielen Stellen starke Bedenken und deutliche
Kritik vonseiten der Datenschützerinnen und Datenschützer. Was ist daraus eigentlich geworden? Haben Sie
diese berücksichtigt?
({4})
Werden Sie diese berücksichtigen? Ich bin gespannt und
hoffe, dass Sie bald etwas dazu vorlegen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem erfreulichen Thema kommen. Volljährige Waisen haben bisher
Anspruch auf eine Waisenrente, wenn sie sich noch in
der Ausbildung befinden. Wenn sie aber mehr als um die
500 Euro eigenes Einkommen im Monat haben, kann ihnen ihre Waisenrente gekürzt werden. Die Rentenversicherung muss das Einkommen daher jährlich ermitteln
und gegebenenfalls anrechnen - bisher.
Aber was bringt das? Einem Verwaltungsaufwand
von 12,5 Millionen Euro im Jahr stehen laut Bundesrechnungshof nur 2,6 Millionen Euro an Einnahmen gegenüber. Deshalb hat er vorgeschlagen, das Einkommen
der Waisen bei der Berechnung der Waisenrente künftig
gar nicht mehr zu prüfen. Die Hinzuverdienstgrenze soll
also wegfallen, da Waisen unter 25 Jahren meist kein
nennenswertes Einkommen haben. Das heißt auf
Deutsch: Die betroffenen Waisen werden im Monat
durchschnittlich 15 bis 20 Euro mehr in der Tasche haben. Da sage ich: Das ist wirklich Bürokratieabbau im
Interesse der Betroffenen und nicht im Interesse der Arbeitgeber. Frau Staatssekretärin, das hat die Bundesregierung gut gemacht.
({5})
Herr Birkwald, Sie würden das jetzt gut machen,
wenn Sie zum Ende kämen.
Frau Präsidentin, das mache ich sofort. Ich sage nur
noch: Räumen Sie unsere Datenschutzbedenken und
Zweifel am OMS-Projekt aus! Bis dahin bleiben wir
skeptisch.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Gabriele
Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bundestag! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Damit wollen
wir unter anderem die technischen und organisatorischen
Abläufe bei den elektronischen Meldeverfahren zwischen den Sozialversicherungsträgern und den Arbeitgebern verbessern und die Bürokratiekosten, die durch die
Informationspflichten entstehen, senken.
Zum Hintergrund. Es gibt in der Tat, Frau Kollegin
Hiller-Ohm, 400 Millionen Meldevorgänge im Bereich
der sozialen Sicherung. Allein die Anzahl der Sozialversicherungsmeldungen beläuft sich auf rund 230 Millionen. Es handelt sich dabei um Daten von 40 Millionen
Beschäftigten bei 3,5 Millionen Arbeitgebern; streiten
wir uns nicht um ein paar Zehntausend. Diese vielen Daten müssen an die Sozialversicherungsträger übermittelt
werden.
Die Bundesregierung hat unter Federführung des
Ministeriums für Arbeit und Soziales das Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ initiiert. Ziel des Projektes war, wie der Name schon sagt,
in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Softwareherstellern
und Sozialversicherungsträgern Vorschläge zur Optimierung der Meldeverfahren im Bereich der sozialen Sicherung zu erarbeiten. Unter Beteiligung der Praktiker, die
sich täglich mit den Datenermittlungs-, Prüfungs- und
Übertragungsverfahren befassen, sollten weitere Potenziale zur Verbesserung der Beitrags-, Melde- und Antragsverfahren erschlossen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf basiert auf den Ergebnissen der gemeinsamen Projektarbeit, an der sich die
betroffenen Akteure beteiligt haben, darunter auch die
Sozialversicherungsträger, ihre Spitzenverbände, die
Bundesagentur für Arbeit, die Sozialpartner und das Statistische Bundesamt. Das Ergebnis war: Es besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es hat sich im Rahmen dieses Projektes herausgestellt, dass die Praxis die
Theorie sozusagen überholt hat. Die Verfahren haben
sich in der Praxis teilweise erheblich weiter entwickelt
als im Gesetz geregelt. Deswegen geht es jetzt auch darum, wichtige Bestandteile der Meldeverfahren in diesem Gesetzentwurf klar zu definieren und damit die Verfahrenssicherheit zu erhöhen.
Worum geht es im Detail? Wir wollen die Verbesserung der Datenqualität, zum Beispiel durch die Festlegung technischer Übertragungsverfahren und einheitlicher Fristen. Wir wollen, dass Verfahrenskomponenten
wie Kommunikationsserver und weitere technische Beschreibungen gesetzlich eindeutig definiert werden. Weitere Anregungen aus der betrieblichen Praxis, zum Beispiel die erweiterte Anwendung der Vorschriften für die
Nutzung der Entgeltbescheinigung, sollen aufgegriffen
werden. Diese Änderung ist im Sinne der Arbeitgeber,
weil damit Vereinfachungen im Bescheinigungswesen
einhergehen. Wir wollen die Bürokratie insgesamt abbauen und die Arbeitgeber von Verwaltungsaufwand
entlasten.
({0})
Ich mache mir keine Illusionen: Dieses Gesetz wird
nicht dazu führen, dass die Bürokratie in Deutschland
plötzlich eingeht wie eine Pflanze ohne Wasser. Aber wir
müssen einen Schritt tun, und dies ist für die Bundesregierung der nächste logische Schritt bei dem von ihr
verfolgten Konzept, die Bürokratiekosten dauerhaft zu
senken.
Vor meiner Zeit im Bundestag habe ich in Wutöschingen im Kreis Waldshut die Firma ACO mit aufgebaut
und war lange mit dem Meldewesen betraut. Ich habe
mich oft genug geärgert, wenn Meldedaten irgendwo im
Datennirwana verschwunden sind und ich zeitaufwendig
und damit teuer nachmelden musste. Die neue Regelung
kommt zwar für mich zu spät; ich denke aber, dass sich
wenigstens meine Kollegen darüber freuen.
Zusätzlich sind Änderungen im Rentenrecht vorgesehen, so die Angleichung des Waisenrentenrechts an das
Steuer- und Kindergeldrecht. Der Wegfall der Einkommensanrechnung auf Waisenrenten bei volljährigen Waisen führt zur Verwaltungsvereinfachung. Ich bin froh,
dass dies sogar dem Kollegen Birkwald gefällt, der ja
sonst nicht viel Gutes an diesem Gesetzentwurf gefunden hat.
({1})
Zum Schluss möchte ich auch auf die Kosten zu sprechen kommen. Der einmalige Umstellungsaufwand für
Arbeitgeber und Sozialversicherungsträger wird sich
zwar auf einen Betrag von rund 93 Millionen Euro belaufen; es wird aber erwartet, dass sich die Kosten für
die Arbeitgeber bereits im ersten Jahr bezahlt machen,
für die Sozialversicherungsträger innerhalb weniger
Jahre. Insgesamt soll sich aus der Reduzierung der Bürokratiekosten und Informationspflichten für die Arbeitgeber eine Entlastung von rund 126 Millionen Euro, für die
Sozialversicherungsträger von rund 7 Millionen Euro
jährlich ergeben.
Mein Fazit: Der vorliegende Gesetzentwurf wird den
durch die Weiterentwicklung der Meldeverfahren in der
Praxis gewachsenen Ansprüchen gerecht. Wir möchten
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in den Meldeverfahren stärken und durch optimierte und vereinfachte Verfahren die Arbeitgeber entlasten.
Ich finde, dieser Gesetzentwurf böte doch mal eine
schöne Gelegenheit, dass alle Fraktionen gemeinsam zustimmen; die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls wird ihm
zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir Grünen sind für Bürokratieabbau und für vereinfachte Regelungen. Der Gesetzentwurf bringt in der Tat
eine ganze Reihe von kleineren Schritten, die Bürokratieabbau ermöglichen: Vereinfachungen, Software an
vernünftigen Stellen einsetzen; insofern sind das viele
Schritte in die richtige Richtung.
Aber es gibt natürlich - da schließe ich mich dem
Kollegen Birkwald an - auch ein paar Fragen: Was ist
mit den kleinen und mittleren Unternehmen? Was ist mit
dem täglichen Datenabgleich? Das könnte die schon
überfordern; das müsste man noch einmal prüfen. Auch
die Frage des Datenschutzes muss natürlich noch einmal
intensiver betrachtet werden. Wir finden es grundsätzlich richtig, in diese Richtung zu gehen; aber das sind
natürlich kleine Schritte.
Wenn man eine wirkliche Vereinfachung im sozialen
Sicherungssystem haben wollte, müsste man noch an
ganz andere Bereiche gehen: Im Transfersystem, Grundsicherungssystem wäre da noch viel mehr zu machen.
Wir warten da sehnsüchtig auf den Gesetzentwurf zur
sogenannten Rechtsvereinfachung, auch wenn wir wissen, dass auch da nicht der große Wurf kommen wird.
Aber das wäre eigentlich die spannendere Debatte: Was
kann man im Grundsicherungssystem verändern? Noch
spannender und umfangreicher wäre die Debatte über
die Frage: Was ist eigentlich mit den Familienleistungen? Aber das wäre dann eine ganz andere Baustelle.
Bei den Sozialversicherungen - das muss man vielleicht noch einmal betonen, auch gegenüber der Öffentlichkeit - ist, was die Effizienz angeht, gar nicht so
wahnsinnig viel zu vereinfachen oder zu verbessern,
weil die Sozialversicherungen im Gegensatz zu privaten
Versicherungen ohnehin schon sehr geringe Verwaltungskosten haben - für uns Grüne ein Grund, bei der
kapitalgedeckten Alterssicherung auch über ein öffentlich organisiertes Basisprodukt für die Riester-Rente
nachzudenken. Die Verwaltungskosten wären geringer;
aber auch sonst fänden wir das eine sinnvolle Idee.
({0})
Aber nun zu dem Gesetzentwurf. Auch da, finden wir,
hätte man an manchen Stellen durchaus noch ein bisschen weitergehen können. Die Waisenrente ist schon angesprochen worden. Wir finden es richtig, dass die Einkommensanrechnung wegfallen soll. Der Aufwand ist
tatsächlich viel größer als der Ertrag, und für die Betroffenen ist das eine deutliche Verbesserung. Man könnte
aber noch einen Schritt weitergehen und fragen: Warum
ist die Höhe der Waisenrente eigentlich vom Einkommen der Eltern abhängig? Wenn man sagen würde: „Die
Waisenrente ist für alle gleich“, wäre das auch noch mal
eine Vereinfachung, und gerechter wäre es eigentlich
auch, wenn die Leistung einkommensunabhängig wäre.
({1})
Der Nationale Normenkontrollrat geht in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf auch auf
die Unfallversicherung ein. Dort steht:
Der Normenkontrollrat bedauert, dass an den papiergebundenen Lohnnachweisen … über das Jahr
2015 hinaus festgehalten werden soll.
Es ist natürlich schade, dass das an dieser Stelle nicht
elektronisch geht. Der Grund dafür steht allerdings auch
in der Stellungnahme. Es gibt nämlich Differenzen zwischen den Lohnnachweisen und den aggregierten Lohnsummen.
An dieser Stelle könnte man vielleicht auch einmal
über den Vorschlag nachdenken, ob es nicht sinnvoll
wäre, die Arbeitgeberbeiträge grundsätzlich einfach auf
der Basis der Lohnsumme zu berechnen, anstatt jeden
einzelnen Fall einzeln abzurechnen. Das würde kleine
und mittlere Unternehmen sehr von der Bürokratie entlasten.
Ein großer Wurf wäre es, wenn man bei der Pflege-,
der Kranken- und der Rentenversicherung endlich einmal die Bürgerversicherung angehen würde und diesbezüglich nicht nur zu einer Harmonisierung innerhalb der
Sozialversicherungen, sondern auch mit dem Steuersystem kommen würde; denn wenn das komplette Einkommen die Basis ist, dann muss man das logischerweise mit
dem Steuersystem vereinheitlichen. Die Beitragserhebung könnte dann über das Finanzamt geregelt werden.
Solche großen Schritte gehen Sie nicht. Wie gesagt:
Es sind viele kleine Schritte, die wir durchaus positiv sehen, aber der große Wurf ist das leider noch nicht.
Vielen Dank.
({2})
Danke schön. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Meldeverfahren in
der sozialen Sicherung sind in der Summe das größte
und komplexeste Massenverfahren zur Weitergabe von
Informationen der Arbeitgeber an öffentliche Stellen in
Deutschland. Allein die Anzahl der Meldevorgänge beträgt jährlich etwa 400 Millionen. Übermittelt werden
die Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten bei
circa 3,7 Millionen Arbeitgebern.
Diese Zahlen beeindrucken uns und können uns auch
ein bisschen Sorge vor einer überbordenden Bürokratie
bereiten. Als CSU-Abgeordnete fällt es mir natürlich
schwer, jetzt einen waschechten Preußen zu zitieren,
aber der Vater der deutschen Sozialpolitik selbst, Otto
von Bismarck, warnte bereits vor 124 Jahren: „Die Bürokratie ist es, an der wir alle kranken.“
({0})
Genau diese Bürokratie möchten wir abbauen - zumal dann, wenn sie nicht wirklich nötig ist. Das haben
wir uns als Koalition ganz dick in unser Hausaufgabenheft geschrieben; das ist im Koalitionsvertrag eindeutig
fixiert. Und das gilt natürlich auch hinsichtlich der Meldeverfahren in der sozialen Sicherung.
Vor allem seit 2006 haben sich durch die gemeinsame, verschlüsselte Datenübertragungsbasis große
Potenziale für Entbürokratisierung ergeben. Alle Verfahrensbeteiligten - die Arbeitgeber, die Softwareunternehmen und die Sozialversicherungsträger - sehen das System als durchdacht, sicher und sparsam an. Trotzdem
gibt es natürlich auch hier noch Verbesserungspotenziale. Das hatte die christlich-liberale Koalition auch erkannt, weshalb sie das Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ ins Leben gerufen hat.
In den Jahren 2012 und 2013 wurden in dem Projekt
Vorschläge aller beteiligten Akteure - vor allem der Arbeitgeber - auf ihre Machbarkeit hin überprüft. Es ging
darum, inwieweit das Verfahren besser, einfacher und
günstiger gemacht werden könnte. Dabei gab es natürlich keine Denkverbote.
Arbeitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichen
der Sozialversicherungen bewerteten schließlich die eingereichten Vorschläge. Dabei wurde die fachliche Seite
genauso wie die organisatorische und die technische
Seite berücksichtigt. Aber eben auch Kostengesichtspunkte und der Datenschutz spielten eine ganz wesentliche Rolle. Herausgekommen sind ganz konkrete,
umsetzbare Handlungsvorschläge zur Optimierung der
Meldeverfahren in unserer sozialen Sicherung.
Im vergangenen Jahr hat das Kabinett beschlossen,
diese Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Das tun wir
nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Er beinhaltet
im Wesentlichen die Umsetzung der Vorschläge zur Verbesserung der Datenqualität und zur Stärkung der Verfahrenssicherheit, eine eindeutige gesetzliche Definition
von Verfahrenskomponenten wie Kommunikationsservern und Annahmestellen, die Rechtssicherheit schaffen sollen, und eine gesetzliche Grundlage für das von
Rentenversicherungsträgern entwickelte Projekt zur
elektronischen Annahme von Bescheinigungen.
Damit wird ein Projekt erfolgreich abgeschlossen, das
in eindrücklicher Weise zeigt, wie gut die Zusammenarbeit von Politik und Praxis funktionieren kann und wie
fruchtbar eine solche Zusammenarbeit ist. Mit diesen
Maßnahmen entlasten wir die Arbeitgeber in Deutschland spürbar. Ihr jährlicher Erfüllungsaufwand reduziert
sich nach einem einmaligen Umstellungsaufwand um
rund 126 Millionen Euro. Das bewirken vor allem die
geringeren Kosten aus den Informationspflichten.
Es ist aber auch unsere Aufgabe, keine neue Bürokratie aufzubauen. Deshalb ist der Beschluss des Bundeskabinetts vom Dezember letzten Jahres sehr zu begrüßen,
der eine von der CSU geforderte Bürokratiebremse vorsieht: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand muss demnach
durch 1 Euro der Entlastung ausgeglichen werden. So
können wir weiter Bürokratie abbauen, die Rechtssetzung verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen stärken.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3699 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({0}), Annalena Baerbock, Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gipfeljahr 2015 - Durchbruch schaffen für
Klimaschutz und globale Gerechtigkeit
Drucksache 18/3156
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Heute traf auch ich wie andere von Ihnen 15
15-Jährige, die den Bundestag besucht haben; junge
Menschen, die in dem Jahr auf die Welt gekommen sind,
als die internationale Gemeinschaft die Millenniumsziele beschlossen hat.
Tatsächlich wurde mit diesen Zielen in den vergangenen 15 Jahren weltweit viel erreicht: Die Zahl der Armen
wurde halbiert, die Kindersterblichkeit wurde um fast
die Hälfte gesenkt, und 90 Prozent aller Kinder haben inzwischen einen Zugang zu Bildung, sie werden eingeschult. Das sind Zahlen, die für die Zukunft große Hoffnung machen.
Um genau diese Zukunft geht es. Im Gespräch mit
den jungen Menschen wird allerdings auch ganz offensichtlich, welche Risiken wir mit unserem Lebensstil,
mit unserer Art des Wirtschaftens, des Produzierens und
des Konsumierens den nächsten Generationen aufbürden. Die globale Kooperation, die wir brauchen, der Anspruch an eine Global Governance, steckt in der Krise.
Claudia Roth ({0})
In der Welt von heute verschärft sich die soziale Ungleichheit. Sie geht quer durch alle Staaten. Es brechen
neue Krisen aus, Gewalt entgrenzt sich. Wir stehen kurz
vor dem Klimakollaps, und am Ende wird all dies Demokratien sehr schwer belasten.
Deswegen haben diese jungen Menschen zu Recht
hohe Anforderungen und Erwartungen an das Jahr 2015;
denn es ist ein Jahr, in dem über die Wege in die Zukunft
entschieden wird und in dem wichtige Entscheidungen
getroffen werden, also ein globales Jahr. Im Jahr 2015
muss der Durchbruch für Klimaschutz und für internationale und globale Gerechtigkeit endlich gelingen.
({1})
Den Schlüssel zum Erfolg, nicht den Schlüssel zu
weiteren Rückschritten haben wir selber in der Hand.
Wir können nicht zuletzt mit der deutschen G-7-Präsidentschaft dazu beitragen, überhaupt wieder Vertrauen
in die notwendige globale Verantwortung zu schaffen.
Vertrauen herstellen setzt aber voraus, dass wir selber in
Vorleistung treten; denn in vielen Punkten - das zeigen
die Anforderungen der Sustainable Development Goals haben auch wir einen Riesennachholbedarf. In vielen
Punkten ist auch Deutschland ein Entwicklungsland. Genau das anzuerkennen und dagegen eine andere Politik
voranzutreiben, das erwarte ich von der Bundesregierung und von uns in diesem Jahr.
({2})
Das fängt mit dem G-7-Gipfel im schönen bayerischen Elmau an. Auch da sind politische Signale die Voraussetzung für den Erfolg dieses schicksalhaften Gipfeljahrs. Denn wenn Deutschland sich nicht für ein
schnelles Auslaufen der Subventionen für fossile Energieträger einsetzt, wenn es keine Initiativen zur Stärkung
der VN etwa durch eine Aufwertung des Umweltprogramms UNEP gibt, wenn die reichen Staaten sich nicht
ohne Wenn und Aber zum Prinzip der gemeinsamen,
aber unterschiedlichen Verantwortung bekennen, dann
wird der Startpunkt für dieses Jahr verfehlt, und die Gipfel drohen, einer nach dem anderen zur großen Enttäuschung zu werden.
Denn schöne Worte allein reichen nicht aus. Es gibt
die schönen Worte aus dem Entwicklungsressort und
dem Umweltressort. Aber das reicht nicht. Wir brauchen
endlich konkrete Umsetzungspläne für die neue Nachhaltigkeitsagenda
({3})
aus dem Landwirtschaftsministerium, dem Finanzministerium, dem Wirtschaftsministerium und dem Infrastrukturministerium. Von dort ist bislang leider wenig gekommen.
Die großen Versprechen - auch auf sie wird es ankommen - zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung
sind längst nicht umgesetzt. Auch deswegen kommt es
in Elmau darauf an, glaubhaft zu machen, dass Deutschland bereit ist, jährlich 1,2 Milliarden Euro mehr in die
globale Entwicklung und 500 Millionen Euro mehr in
den Klimaschutz zu investieren. Wenn das nämlich nicht
passiert, dann droht der Gipfel über die Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba zu scheitern, und wenn
Addis Abeba keine Fortschritte bringt, dann wird der
Nachhaltigkeitsgipfel in New York zur Farce. Und wenn
New York zur Farce wird, dann kommt in Paris beim
großen Klimaabkommen ganz wenig heraus. Das können wir uns alle nicht leisten.
({4})
Mit unserem grünen Antrag versuchen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg für ein erfolgreiches
Gipfeljahr 2015 zu beschreiben. Ich lade Sie herzlich
ein, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Die Zukunft wartet nicht. Die 15 15-Jährigen - und nicht nur sie - werden es uns allen danken.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Das Wort hat Peter Stein, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen der Grünen, zu Beginn frage ich
Sie: Was wollen Sie mit diesem Antrag erreichen? Wir
reden schon zum wiederholten Male über dieses Thema,
das Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Weite Teile
sind nur eine Aufzählung dessen, was uns in diesem Jahr
2015 erwartet. Das ist nichts Neues: Das sind die Verhandlungen zu den SDGs, die G-7-Präsidentschaft
Deutschlands und nicht zuletzt - das ist sicherlich sehr
wichtig - die Klimakonferenz in Paris.
Alles in Ihrem Antrag ist mit der Aufforderung an die
Regierung verbunden, dies zu einem möglichst guten
Abschluss zu bringen. Das ist selbstverständlich. Dazu
braucht es keine Aufforderung.
({0})
Sie haben es wiederum geschafft, in den Überschriften so ziemlich jedes Thema im Zusammenhang mit der
Nachhaltigkeit anzuführen und dann völlig unkonkret zu
bleiben. Sie erwarten die Konkretisierung von der Regierung,
({1})
und zwar zu Recht. Das erwarten wir auch, und das wird
geliefert.
Zudem ist Ihr Antrag, auch was die Vereinten Nationen betrifft, teilweise widersprüchlich. In der Einleitung
stellen Sie fest, dass die Vereinten Nationen durch den
Sicherheitsrat blockiert sind und dass das, was in der
Vergangenheit abgeliefert worden ist, enttäuschend war.
Das beschreiben Sie so, um danach aber festzustellen,
dass die UNO unsere ganze Hoffnung ist.
Richtig ist: Wir müssen die Vereinten Nationen in diesem Punkt stärken.
({2})
Auch darin sind wir völlig d’accord. Auch das müssen
wir heute nicht ausdiskutieren. Das ist nichts Neues.
({3})
Auf die Klimafrage möchte ich jetzt nicht weiter eingehen. Das wird mein Kollege Matern von Marschall
machen, der an der Klimakonferenz in Lima teilgenommen hat. Er kann deshalb viel besser darüber berichten.
Ich möchte nur so viel sagen: Ich hatte bereits in meiner Rede vor Weihnachten exakt zu demselben Themenkomplex im Plenum gesagt: Wir werden als Bundesrepublik Deutschland alles dafür tun, dass Paris ein Erfolg
wird. - Paris muss auch ein Erfolg werden. Das ist heute
auch nicht zum ersten Mal gesagt worden. Ich wiederhole es aber gerne. Das ist auch unsere Auffassung als
CDU/CSU-Fraktion. Darin sind wir, glaube ich, im ganzen Haus völlig d’accord.
({4})
Sich bei den globalen Fragen auf einen reinen Topdown-Ansatz zu verlassen, halte ich aber für kurzsichtig.
Das bedeutet nämlich nicht, dass wir deswegen unsere
Anstrengungen auf dem Weg nach Paris reduzieren würden, sondern lediglich, dass wir einen gangbaren Weg
suchen und auch hilfreiche Alternativen betrachten müssen, zum Beispiel die Verstetigung der Klima- und Entwicklungspolitik, und zwar nicht nur auf der internationalen, sondern auch auf der nationalen und der
subnationalen Ebene, und die Verstärkung der Anstrengungen auf diesen Ebenen. Als Vorbild dient hier das,
was die großen C-40-Städte bereits auf der kommunalen
Ebene eingeleitet haben. Länder wie Deutschland können und müssen dabei vorangehen und anderen den Weg
zeigen. Sie müssen bereit sein, dabei Risiken einzugehen. Wir sind bereit dazu und tun das gerade. Gerade
deshalb schaut die Welt auf uns.
Erlauben Sie mir noch einen Kommentar zu einem
Satz in Ihrem Antrag. Ich halte es für absolut unangemessen, dass Sie die Abwesenheit der Kanzlerin bei einer einzelnen Konferenz kritisieren. Wie Sie wissen, ist
die Kanzlerin nicht faul und nimmt an zahlreichen Konferenzen teil.
({5})
Sie ist sehr gut organisiert, hat aber einen Terminkalender, dem wahrscheinlich drei Abgeordnete Ihrer Fraktion
nicht gerecht werden können. Sie hat außerdem in der
Regierung beispielsweise mit der Umweltministerin,
dem Landwirtschaftsminister, dem Minister für Entwicklungszusammenarbeit und dem Vizekanzler starke
Partner, die über höchste Sachkompetenz verfügen. Allein deswegen, wegen des Seitenhiebs auf die Kanzlerin,
können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Wir als CDU/CSU-Fraktion haben an den SDG-Prozess große Erwartungen. Die überwiegend positiven
Entwicklungen werden fortgesetzt und durch neue Aspekte ergänzt. Ganz wichtig ist: Wir werden endlich unserer globalen Verantwortung dadurch gerecht, dass die
SDGs und die Regeln der Klimaverhandlungen für alle
Staaten gleichermaßen gelten. Wir werden schlussendlich die Trennung in Verursacher und Betroffene aufheben. Das gilt für Industrie- und Schwellenländer genauso
wie für Entwicklungsländer. Das halte ich für einen guten Ansatz; dieser stammt übrigens vom Klimaschutzgipfel in Lima.
Herr Kollege Stein, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Roth?
Mir bleibt ja nichts anderes übrig, Frau Roth.
({0})
- Wie im Ausschuss: Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Stein, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie
unserem Antrag zustimmen würden, wenn wir bereit wären, die Anmerkung, dass Frau Merkel lieber beim BDI
war als bei Ban Ki-moon, zu streichen?
({0})
Sie haben nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt, allein deswegen schon können wir nicht zustimmen. Aber
vielleicht gibt Ihnen mein Kollege Matern von Marschall
darauf die richtige Antwort.
Es ist natürlich zu begrüßen, dass die SDGs nach derzeitigem Stand möglichst umfangreich gestaltet werden,
um sich den komplexen Herausforderungen unserer Zeit
vollständig zu stellen. Was auch sonst? Das ist unser
Ziel. Ich sehe allerdings an dieser Stelle die Gefahr, dass
eine Aufblähung in 17 Goals, 169 Targets und Tausende
Details genau das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigen, zur Folge haben könnte. Zu viel Klein-Klein im
Inhalt kann dazu führen, dass die Ziele beliebig werden,
dass sich jeder das heraussucht, was er am leichtesten erfüllen kann, und dass das große Ganze nicht mehr zu bewerten ist. Eine schlankere und verbindlichere Version
der 17 Ziele, hinter denen wir ausdrücklich stehen, halte
ich für zielführender.
Ein weiterer Punkt, den ich für wichtig halte, betrifft
den Begriff der Nachhaltigkeit. Er ist nicht abschließend
mit Klima- und Umweltthemen beschrieben, sondern
umfasst gerade in der Entwicklungszusammenarbeit
auch Demokratisierungsprozesse, Bildung, insbesondere
die berufliche Ausbildung, das Gesundheitswesen und
den nachhaltigen Aufbau einer starken Wirtschaftsstruktur in den Zielländern. Wir haben hier seitens der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion einen Paradigmenwechsel vorgenommen, den wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in den Vordergrund stellen.
Sie sagen hierzu nichts. Ihr Antrag bleibt weit hinter
dem Regierungshandeln zurück. So werden wir keine
Entwicklungspolitik machen.
Die SDG-Agenda als Ganzes ist nur dann nachhaltig,
wenn sie von allen Staaten in allen relevanten Bereichen
abgebildet, mitgetragen und umgesetzt wird.
Herr Kollege Stein, denken Sie an die Redezeit.
Noch zwei Sätze. - Das heißt für uns, die Entscheidungen anderer souveräner Staaten und Regierungen zu
akzeptieren, selbst wenn sie im Ergebnis nicht unseren
Erwartungen entsprechen. Begegnungen auf Augenhöhe und echte Partnerschaft beginnen schon bei der
Verhandlungsführung und enden noch lange nicht bei
der Umsetzung. Das ist nachhaltig.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieses Jahr ist ein Gipfeljahr, in Bayern der G-7Gipfel. Wir haben die Entwicklungsfinanzierungskonferenz in Äthiopien, die große Nachhaltigkeitskonferenz in
der UNO in New York und den Klimagipfel Ende des
Jahres in Paris. Die großen Themen stehen also auf der
Agenda: globale Gerechtigkeit und Klimaschutz.
Herr Stein, ich denke, es lohnt sich schon, über diese
Themen so oft wie möglich zu diskutieren; denn nach
wie vor sind Armut und Perspektivlosigkeit auch Ursachen für Krisen und Kriege, und sie sind unter anderem
auch ein Nährboden für Terror. Das haben wir in den
letzten Tagen leidvoll erleben müssen. Deswegen, finde
ich, ist es überfällig, auch über die Ursachen von Terrorismus viel grundsätzlicher und weniger oberflächlich zu
diskutieren. Diese Diskussion hat mir leider heute doch
sehr gefehlt.
({0})
Weltweite soziale Ungleichheit und die Zerstörung des
Planeten sind die zentralen Herausforderungen, die im
Rahmen einer neuen, nachhaltigen Politik für mehr globale Gerechtigkeit thematisiert werden sollen. Es zeigt
sich aber schon, dass sehr unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Während zum Beispiel die UNO
und viele Länder des Südens sehr stark auf die weltweite
soziale Ungleichheit zwischen Staaten und innerhalb
von Staaten fokussieren, ist das beispielsweise für die
Bundesregierung überhaupt kein Thema. Das kommt in
dem Papier als Schwerpunkt überhaupt nicht vor. Das
halte ich schlichtweg für einen entwicklungspolitischen
und politischen Skandal.
({1})
Wenn 86 Personen weltweit so viel besitzen wie die
ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dann zeigt sich
doch, dass diese Reichtumskonzentration massiv zerstörerisch wirkt und dass wenige nach wie vor auf Kosten
der Mehrheit leben - und das trotz jahrzehntelanger Entwicklungszusammenarbeit -, weshalb wir eine weltweite Politik der Umverteilung dringend benötigen, die
wir auch schon seit Jahren fordern.
({2})
Es fehlt wieder ein weiteres ganz großes Thema in
diesen Textentwürfen - das haben wir schon bei den
MDGs massiv kritisiert -, nämlich die Überwindung von
Krieg als Mittel der Politik. Das wäre der größte Beitrag,
den wir für Entwicklung leisten können.
({3})
Die Ausgaben für die weltweite Rüstung könnten wir
umwidmen - wir sind bei Rüstungsausgaben von über
1 Billion Euro weltweit pro Jahr -, um endlich Entwicklung und Klimaschutz zu finanzieren. Das ist ein Bereich, der mir im Antrag der Grünen fehlt. Das wäre
nämlich eine sehr innovative Entwicklungsfinanzierung, die wir seit Jahren fordern: Umwidmung der Rüstungsgelder zur Erreichung von Entwicklungszielen.
({4})
Wir haben viel über die SDGs diskutiert, auch schon
im Zusammenhang mit anderen Anträgen. Deshalb
möchte ich mich jetzt auf einen Punkt in Ihrem Antrag
konzentrieren. Es gibt viele Dinge in dem Antrag, die
auch wir unterstützen. Wir finden zum Beispiel den Ansatz, dass wir bei uns beginnen müssen, sehr gut. Es ist
ganz klar: Wir müssen bei uns anfangen. Auch was verbindliche Zusagen zur Klimaschutzfinanzierung und
Entwicklungsfinanzierung angeht, sind wir einverstanden.
Was ich nicht nachvollziehen kann, ist die große Fokussierung auf den G-7-Gipfel; denn viele von uns sind
schon gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm auf die
Straße gegangen. Das sind völlig überholte Gipfel, die
eine Politik des 19. Jahrhunderts darstellen. Die reichsten und mächtigsten Staaten der Erde, die gerade einmal
10 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, treffen
sich, um ihre Interessen zu formulieren. Meistens werden Entwicklungsthemen instrumentalisiert, um dem
Ganzen einen wohltätigen Anstrich zu geben. Gleichzeitig geht es doch um die Frage des Zugangs zu Ressourcen, um den Kampf um diese Ressourcen, der oft militärisch ausgetragen wird.
Ich kann mir jetzt schon vorstellen, dass es ein großes
Bild geben wird, wie der G-7-Gipfel sich gemeinsam gegen den Terror ausspricht, währenddessen auch diese
Staaten für Terror verantwortlich sind. Schauen wir uns
die Drohnen-Kriege an oder die CIA-Foltergefängnisse
in Europa. Hier sind viele G-7-Regierungen für den existierenden Terror verantwortlich. Wenn wir diese Doppelmoral nicht überwinden, dann kommen wir auch zu keiner neuen Politik. Genau deshalb werden wir gemeinsam
mit vielen anderen auch wieder im schönen Bayern gegen den G-7-Gipfel auf die Straße gehen.
Danke.
({5})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Bärbel
Kofler, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist eine Chance, dass wir in der ersten
Sitzungswoche des Jahres 2015 über das Europäische
Jahr für Entwicklung reden können. Auf einer Vielzahl
von Konferenzen haben wir die Möglichkeit, Entwicklungspolitik und Klimapolitik wirklich zusammenzubringen und voranzubringen. Darüber wird noch öfter zu
reden sein.
({0})
Ich finde den von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon
vorgelegten Vorschlag, 17 Ziele zu benennen, gut. Für
mich ist ganz wichtig, zu betonen: Wir müssen versuchen, dafür zu sorgen, dass darüber auf dem UN-Gipfel
in New York im September eine Einigung herbeigeführt
wird. Denn es kommt darauf an, dass möglichst alle
Staaten mitmachen und diese Ziele zu erreichen versuchen.
Der SDGs-Prozess, also der Prozess zur Festlegung
der Nachhaltigkeitsziele, hat eine andere Qualität, eine
Qualität, die weit über das hinausgeht, was im Rahmen
der Millenniumsentwicklungsziele vereinbart wurde. Das
ist das Spannende an diesem Prozess. Darauf müssen wir
uns, glaube ich, einlassen. Daran müssen wir mehr arbeiten.
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen.
Wir haben das Millenniumsentwicklungsziel 1, ein sehr
wichtiges Ziel - die Bekämpfung und Beseitigung der
extremen Armut bis zum Jahr 2015 -, leider nicht erreicht. Wir haben aber auch Erfolge erzielt - auch das
möchte ich an dieser Stelle einmal sagen -: Es ist gelungen, 700 Millionen Menschen aus extremer Armut herauszuführen. Das bedeutet, dass man nicht mehr unter
Hunger in seiner extremsten Ausprägung leidet und dass
man Chancen für das eigene Leben hat.
Aber das reicht nicht. Es ist uns nicht gelungen, zu
verhindern, dass immer noch Millionen Menschen auf
dieser Erde von extremer Armut betroffen sind. Wir laufen Gefahr, in vielen Bereichen - ob es der Klimawandel
oder die soziale Gerechtigkeit sind - Menschen, die aus
extremer Armut herausgeholt worden sind, wieder in
den vorherigen Zustand zurückfallen zu lassen. Darum
geht es bei den Nachhaltigkeitszielen: dass wir Erfolge
nicht nur einmal erreichen und Statistiken damit schmücken, sondern dass wir diese Erfolge nachhaltig sichern.
({1})
Für uns Sozialdemokraten gehört zum Thema „Rettung aus extremer Armut und Hunger“, dass wir es mit
den Themen „Beseitigung von Ungleichheiten auf diesem Planeten“ und „Schaffung von Zugang zu menschenwürdiger Arbeit“ zusammenbringen. Ich begrüße
es ausdrücklich, dass das Ziel „Schaffung von Zugang
zu menschenwürdiger Arbeit“ eines der 17 Ziele ist, die
im Vorschlag von Ban Ki-moon genannt werden. Das
halte ich - ich glaube, das tun wir gemeinsam, Herr
Stein - für einen entscheidenden, einen wichtigen Punkt.
({2})
Wenn es nicht gelingt, Menschen Zugang zu sozialer
Sicherheit, zu menschenwürdiger Arbeit zu geben, wenn
es nicht gelingt, ihnen damit Wege aus der Perspektivlosigkeit aufzuzeigen, dann ist die logische Konsequenz
das Steigen von gesellschaftlichen Spannungen bis hin
zu Gewalt und Gefährdung des inneren Friedens in vielen Ländern. Wir wissen ja, dass genau in den Ländern,
in denen aus sozialen Gründen Stabilität und Sicherheit
gefährdet sind, extreme Armut am meisten zunimmt und
die Rettung aus extremer Armut am schwierigsten möglich ist. Das ist einer der entscheidenden und wichtigen
Punkte.
Ähnliches gilt für die Frage des Klimawandels. Er ist
eine der großen Ursachen dafür, dass Menschen wieder
in extreme Armutssituationen geraten können. Wir haben das auf verschiedenen Reisen in verschiedenen Situationen erlebt. Wir haben den Verlust von Anbauflächen, die Verdorrung ganzer Landstriche, den Verlust
des Zugangs zu sauberem Trinkwasser gesehen. Für die
betroffenen Menschen bedeutet das, dass sie ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, also den Rückfall in eine
Situation, aus der sie vielleicht schon einmal mit vielen
Anstrengungen und Maßnahmen herausgeführt werden
konnten.
Gleichzeitig stehen wir vor dem Problem des großen
Energiebedarfs der Entwicklungsländer - auf der Klimakonferenz in Paris werden wir uns mit dem Thema Klimawandel noch ganz anders auseinandersetzen müssen und der damit verbundenen Chance, den Entwicklungsländern einen Zugang zu unterschiedlichen Energieformen zu ermöglichen. Wir alle wissen, dass das Fehlen
des Zugangs zu Energie eines der großen Entwicklungshemmnisse in vielen Ländern ist. Es muss uns gelingen,
dieses Recht auf Entwicklung für die Menschen und die
Länder darzustellen und gleichzeitig zu sehen, wo die
ökologischen Grenzen unseres Planeten sind. Deshalb
wird hier die spannende Frage sein: Wie kriegen wir gemeinsam weltweit eine Energieversorgung hin, die Effizienz und regenerative Energien in den Mittelpunkt
stellt?
({3})
Aber jetzt ist die Redezeit wirklich abgelaufen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Allein
diese beiden Punkte zeigen, wie groß die Herausforderungen sind und wie viele Gedanken wir uns auch in diesem Jahr noch machen müssen, um diesen Punkten zum
Durchbruch zu verhelfen. Die Chancen liegen bei der
Konferenz in Addis Abeba, bei der Konferenz in New
York und auch beim Klimagipfel in Paris. Wir sollten
dieses Jahr gut nutzen.
Danke.
({0})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Matern von
Marschall, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Antragsteller von den Grünen, es
ist schon darauf hingewiesen worden: Diese Thematik
ist ein bisschen repetitiv. Sie ist deswegen nicht weniger
wichtig. Ich bin dankbar dafür, dass sie aufgerufen wird.
Im Nachhaltigkeitsbeirat, im Umweltausschuss und auch
im Europaausschuss spielt sie eine große Rolle. Ob das
bei manchen den Eindruck erweckt, dass ihre Themenvielfalt etwas schrumpft, das müssen Sie selber prüfen.
Ich sehe jedenfalls gewisse Ermüdungserscheinungen
auch bei Ihnen. In unserer Reisegruppe, die in Lima gewesen ist, waren auch Frau Höhn und Frau Baerbock.
Die kann ich in Ihren gelichteten Reihen jetzt so schnell
nicht finden. Herr Schwabe ist da. Frau Bulling-Schröter
ist auch nicht da. - So weit zur Bedeutung, die Sie dem
Thema einräumen.
({0})
- Gut; sie ist krank, entschuldigt. Ich habe sie heute noch
gesehen.
Was mich, wenn man über Wiederholung spricht, ein
bisschen überrascht, ist Folgendes: In Ihrem Papier - ich
weiß nicht, ob sozusagen die Autoren sich jetzt unter uns
befinden - kommt nicht weniger als zehnmal der Begriff
der sozial-ökologischen Transformation vor.
({1})
Das ist doch eine gewisse Häufung des Begriffs der sozial-ökologischen Transformation.
({2})
Ich habe recherchiert - vielleicht ein bisschen rasch und festgestellt, dass das ein Begriff ist, der im Wesentlichen in sehr linken Foren zu finden ist.
({3})
- Ich zitiere nachher noch ein bisschen. Dann müssen
Sie sich einmal überlegen, ob Sie diesen Antrag nicht
lieber mit den Kolleginnen und Kollegen der Linken zusammen formuliert hätten. Ich merke daran, dass da bei
Ihnen schon ein bisschen Diskussionsbedarf ist. Sei es,
wie es sei; das scheint eine Entwicklung zu sein, die prägnant ist.
Ich will jetzt zu den Sachverhalten kommen. Deutschland - natürlich auch die Europäische Union - bekennt
sich zu dem Klimaschutzvertrag, den wir dann in Paris
verabschieden wollen. Wir gehören auch zur Gruppe
derjenigen Länder, die bis März die sogenannten INDCs
vorlegen werden. Das ist wichtig. Ich hoffe, dass viele
andere Länder noch folgen werden und dass viele Länder das zumindest bis zur Jahresmitte tun werden.
Es geht einfach darum, darzulegen, welche Sektoren
in den Klimaschutz einbezogen werden. Es geht dann
im Folgeprozess um Präzisierung. Da ist noch viel Arbeit zu leisten. Gute Vorarbeit ist in Lima von Ministerin
Hendricks geleistet worden, begleitet auch von Minister
Müller. Aber es ist noch viel zu tun, um das auszuarbeiten, was in den nächsten Monaten präzisiert werden
muss. Schlussendlich muss nicht nur gesagt werden:
„Was machen wir? Welche Sektoren beziehen wir ein?“,
sondern auch: Wie machen wir es, und - das ist besonders wichtig - wie kann das überprüfbar gemacht werden?
({4})
Dieser Prozess, der in den nächsten Monaten vor uns
steht, ist besonders schwierig. Daran müssen wir arbeiten.
Ich glaube, wir haben eine ganz gute Chance - Frau
Roth, Sie haben es angesprochen - mit Blick auf den
G-7-Gipfel. Es sind drei große Nachhaltigkeitsthemen
im Arbeitsprogramm unserer Präsidentschaft. Wir können darauf hinweisen, dass wir selbst mit unserem nationalen Aktionsprogramm Klimaschutz, Defizite durchaus
anerkennend, in den Jahren bis 2020 und damit vor Gültigkeit des Pariser Vertrages noch eine Menge Arbeit vor
uns haben. Durch die Präzisierung im nationalen Aktionsprogramm und auch im NAPE, im Effizienzplan,
können wir die Freunde in der G-7-Gruppe vielleicht
auch ermutigen und ermuntern, so etwas in der Präzision, die wir hier in Deutschland, ich glaube, in vorbildlicher und nachahmenswerter Weise leisten - das haben
wir in Lima gemerkt -, zu implementieren. Das halte ich
für einen ganz wichtigen Punkt. Ich glaube, das ist eine
Riesenchance. Es ist gerade keine schlechte Konstellation - Frau Hänsel, Sie haben es, glaube ich, kritisiert -,
dass wir unterhalb der UN-Ebene nicht nur die EU, sondern auch die G 7 und viele weitere Formate haben, in
denen Ländergruppen ihre Ziele vorantreiben.
Ich will auf einen Punkt hinweisen, der in Ihrem
Antrag vollkommen fehlt: Wesentlich ist, dass wir in
Forschung investieren und dass wir vor allen Dingen
auch die Chance eröffnen, dass sich über den freien
Markt die erfolgreichsten, preiswertesten und saubersten
Technologien in der Welt verbreiten. Auch das ist ein
nennenswerter Punkt, der zu mehr Gerechtigkeit beiträgt, weil so auch Länder, die sich das ansonsten nicht
leisten könnten, preiswert gute Technologien einkaufen
können.
({5})
Ich glaube - damit möchte ich zum Schluss kommen -, dass wir eine große Chance haben, mit unseren
französischen Freunden, denen wir in diesen Tagen aus
traurigem Anlass in besonderer Weise sehr verbunden
sind, in Paris zu einem Erfolg zu kommen. Sie haben
sich ja auch hohe Ziele gesetzt. Ich denke, dass Deutschland, das ja die G-7-Präsidentschaft innehat, vor diesem
Pariser Gipfel alle anderen Länder in besonderer Weise
ermutigen kann, hier voranzuschreiten.
({6})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Frank Schwabe, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, das kann man schon einmal sagen: Es ist das
Verdienst der Grünen, dass wir jetzt, auch wenn es schon
etwas später ist, darüber diskutieren, dass 2015 ein entscheidendes Jahr für Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung und die Frage der Menschenrechte ist.
({0})
Auch wenn wir darüber schon ein paarmal diskutiert haben, kann es ja nicht schaden, das immer wieder zu betonen. Es liegt in der Tat ein Jahr vor uns, in dem auch die
Abfolge der verschiedenen Veranstaltungen und Gipfel
uns die Chance gibt, die Dinge gemeinsam zu betrachten, also Ökonomie, Ökologie und Soziales gemeinsam
zu betrachten, aber auch die Welt vernetzt zu betrachten,
Stereotype zu überwinden, über die eine Welt zu reden,
nicht mehr so sehr in Erste, Zweite und Dritte Welt zu
unterteilen. Dazu müssen sich natürlich alle Teile der
Welt verändern. Auch wir selbst werden uns verändern
müssen.
({1})
Deutschland nimmt in diesem wichtigen Jahr eine bedeutende Rolle ein: Das ist die G-7-Präsidentschaft, wie
schon erwähnt wurde. Diese müssen wir für nachhaltige
Entwicklung und Klimaschutz nutzen. Chancen ergeben
sich aber auch daraus - auch daran will ich hier erinnern -, dass wir erstmalig den Vorsitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen innehaben. Auch die
Themen, die dort behandelt werden, gehören in den Bereich von nachhaltiger, zukunftsfähiger Entwicklung.
({2})
Weil die Dinge zusammengehören, weil Menschenrechte integraler Bestandteil sowohl des SDG-Prozesses
als auch des Klimaschutzprozesses sind, will ich - ich
kann auch gar nicht anders, weil ich mir gerade noch
einmal ein Video angeschaut habe - einige Stunden,
bevor wieder eine Auspeitschung des Bloggers Raif
Badawi stattfindet, sagen, dass ich es gut finde, dass der
Bundestagspräsident heute Morgen so klare Worte dazu
gefunden hat.
({3})
Ich habe mir gerade noch einmal ein Video bei YouTube
angeschaut, in dem seine Kinder, die ja zum Glück mittlerweile in Kanada leben, zu sehen waren. Es ist wirklich
herzzerreißend, was man da sieht. Die Auspeitschung ist
ein barbarischer Akt, und es muss klar sein: Wenn die
Führung Saudi-Arabiens - man muss immer sagen: es ist
die Führung in Saudi-Arabien; es sind nicht die Menschen - einen anständigen Platz in der Weltgemeinschaft
haben will, dann muss sie ganz schnell von dieser barbarischen Tat absehen. Dann muss das aufhören.
({4})
Die Welt ist eben nicht auf einem nachhaltigen Pfad.
Es ist schwer, die Dinge zu ändern, aber es ist dringend
notwendig. Meine Mutter hat immer zu mir gesagt - das
ist ja ein Zitat aus der Bibel -: Man hat das Gefühl, der
Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Das gilt für
viele Länder der Welt, eben auch deswegen, weil es
kompliziert ist, sich zu verändern. Umso wichtiger ist es,
dass Deutschland insbesondere die Chance des G-7-Gipfels nutzt.
Ich will daran erinnern, dass im Programm nicht nur
etwas zum Klimaschutz und zu nachhaltiger Entwicklung steht, sondern zum Beispiel auch zur Situation der
Weltmeere. Das ist ein ganz zentrales Thema, das wir in
den Mittelpunkt rücken müssen. Da geht es in der Tat
um die Vermüllung der Weltmeere. Es wird aber auch
ein anderes spannendes Thema angesprochen: Das ist
der Unterwasserbergbau, für den es bisher kaum vernünftige internationale Regelungen gibt. Ich glaube, wir
ahnen noch gar nicht, welcher Schaden da zurzeit angerichtet wird. Ich finde gut, dass das Thema Bestandteil
des G-7-Gipfels sein soll.
Dann geht es natürlich in der Tat auch um den Klimaschutz, um ein Momentum für den Klimaschutz. Das ist
die Chance, die von deutscher Seite entsprechend genutzt werden kann. Es geht um die Finanzierung bis zum
Jahr 2020, darum, glaubwürdig zu zeigen: Wie können
wir einen Aufwuchspfad schaffen, um die 100 Milliarden US-Dollar zu erreichen? Es geht darum, zu überlegen: Wie können wir das Erfolgsmodell aus Deutschland, die erneuerbaren Energien, noch stärker in der Welt
fördern? Es geht auch ein bisschen darum, wie wir die
internationalen Organisationen stärken können, wie endlich aus dem UN-Umweltprogramm eine UN-Organisation gemacht werden kann.
Zusammen mit anderen Aktivitäten wie dem Petersberger Klimadialog und einer überzeugenden eigenen
Klimaschutzpolitik in Deutschland können wir dafür
sorgen, dass das Jahr 2015 ein erfolgreiches internationales Jahr wird.
({5})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3156 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung des Rechts des Angeklagten auf
Vertretung in der Berufungsverhandlung und
über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe
Drucksache 18/3562
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch dieses so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange, SPD.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur
Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in
der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung
von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe
dient der Umsetzung europarechtlicher Verpflichtungen
der Bundesrepublik Deutschland in das nationale Recht.
Die Vorgaben aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012
sollen umgesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte hat entschieden, dass das in Artikel 6 Absatz 3 der EU-Menschenrechtskonvention garantierte Recht des Angeklagten, sich in einer Strafsache
durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu
lassen, verletzt sei, wenn das Gericht die Berufung des
abwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines von
ihm bevollmächtigten Verteidigers als Vertreter verwirft.
Genau dies ist aber die zwingende Folge des geltenden
§ 329 Absatz 1 Satz 1 unserer Strafprozessordnung. Die
Vertragsstaaten der Konvention haben sicherzustellen,
dass ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen mit der Konvention übereinstimmen. § 329 StPO ist daher entsprechend zu ändern.
Es stellt sich dann natürlich die weitere Frage, liebe
Kolleginnen und Kollegen, was bei Nichterscheinen des
Angeklagten mit dessen Berufung geschehen soll, wenn
sein Rechtsmittel nicht mehr verworfen werden kann. Im
deutschen Strafprozessrecht gilt im Grundsatz, dass gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfindet. Das geltende Strafprozessrecht
räumt dem Verteidiger daher bisher auch nur in wenigen
Fällen eine über die Verteidigung hinausgehende Befugnis zu einer tatsächlichen Vertretung des Angeklagten in
der Hauptverhandlung ein. Der rechtskräftige Abschluss
eines Strafverfahrens kann aber im Interesse der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege natürlich nicht allein
von der Bereitschaft des Angeklagten zum Erscheinen in
der Berufungshauptverhandlung abhängig sein. Der Gesetzentwurf bestimmt daher als weitere Konsequenz aus
dem Urteil, dass dann ohne den Angeklagten mit dem
schriftlich bevollmächtigten Verteidiger als dessen Vertreter verhandelt werden kann, soweit nicht besondere
Gründe eine Anwesenheit des Angeklagten erfordern,
etwa weil sich das Gericht einen persönlichen Eindruck
vom Angeklagten machen muss. Entfällt die Vertretungsbefugnis oder die Vertretungsbereitschaft des Verteidigers während der in der Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Berufungshauptverhandlung oder
entfernt sich der Vertreter einfach unentschuldigt, sieht
der Gesetzentwurf als Rechtsfolge dann wieder eine Verwerfung der Berufung des Angeklagten vor. Denn die
eingeräumte Vertretungsmöglichkeit soll nicht zugleich
eine Möglichkeit zur Verschleppung des Verfahrens
durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger eröffnen.
Damit, meine Damen und Herren, wird einerseits das
Recht des Angeklagten auf eine Vertretung in der Berufungsverhandlung entsprechend gestärkt, andererseits
aber auch kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheit
in der Berufungshauptverhandlung begründet. Die in der
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgenommene Abwägung zwischen dem
Interesse an der Anwesenheit des Angeklagten in der
Hauptverhandlung und seinem Recht auf Vertretung
durch einen Verteidiger wird im Entwurf insbesondere
nicht zum Anlass genommen, die begrenzten Möglichkeiten, eine Vertretung des abwesenden Angeklagten
auch in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vorzunehmen, auszuweiten und damit maßgebliche Strukturprinzipien der deutschen Strafprozessordnung zu ändern,
die dem Anspruch auf rechtliches Gehör des Angeklagten, aber auch der Schaffung einer möglichst sicheren
Entscheidungsgrundlage der Gerichte dienen.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf dient
zum anderen der Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses zu Abwesenheitsentscheidungen aus dem Jahr 2009.
Mit dem vorliegenden Entwurf wird der EU-Rahmenbeschluss durch eine entsprechende Änderung der §§ 83,
87 b und 88 a des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen umgesetzt. Dort werden abschließend die Fälle geregelt, in denen ausnahmsweise
eine Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung
einer Abwesenheitsentscheidung besteht.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um konstruktive Beratungen in den Ausschüssen und schließlich um
Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Halina
Wawzyniak, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf soll das Recht
des oder der Angeklagten auf Vertretung in Berufungsverhandlungen gestärkt werden und - es ist schon gesagt
worden - der Rahmenbeschluss über die Anerkennung
von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe umgesetzt werden. Für die Nichtjuristinnen und Nichtjuristen unter uns: Die Berufung ist eine zweite Tatsacheninstanz. Das heißt, es werden nicht nur Rechtsfragen
geklärt, sondern auch Tatsachenfragen. Berufung können Angeklagte und Staatsanwaltschaft einlegen; das zu
wissen, ist bei diesem Thema vielleicht nicht ganz unwichtig.
({0})
Zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses will ich an
dieser Stelle gar nicht viel sagen; das ist okay, das können Sie so machen.
Ich will vielmehr auf die Änderung der Strafprozessordnung eingehen. Nun ist es ja so, dass Sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben, dass Sie sich der
Strafprozessordnung und dem Jugendgerichtsgesetz insgesamt zuwenden wollen. Es gibt auch eine Expertenkommission beim Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz, die umfassende Vorschläge zur Reform der Strafprozessordnung erarbeitet. Das ist insgesamt begrüßenswert.
Da wir hier keine Umsetzungsfrist haben, hätte ich
persönlich es besser gefunden, wenn wir die Änderung
des § 329 StPO, über den wir jetzt reden, in die umfassende Reform mit eingebunden hätten. Um es gleich zu
sagen: Ich finde das, was Sie vorschlagen, nicht komplett falsch, aber ich glaube, dass das Teufelchen - es ist
nur ein Teufelchen, kein Teufel - im Detail steckt.
Sie haben gesagt - das ist völlig richtig -, dass mit der
Änderung des § 329 StPO ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt wird. Nach
diesem Urteil kann sich der Angeklagte in der Berufungsverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten
lassen. § 329 Absatz 1 Satz 1 - auch darauf haben Sie
hingewiesen - hat das bisher nicht in allen Fällen vorgesehen. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt: Das ist
ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Insofern ist die von Ihnen in dem Satz 1 vorgenommene
Klarstellung, nach der die Verwerfung der Berufung
ohne Verhandlung bei Nichterscheinen des Angeklagten
oder eines Vertreters grundsätzlich nicht möglich ist,
ausdrücklich zu begrüßen.
Ich sehe ein kleineres Problem - deswegen sprach ich
vom Teufelchen und nicht vom Teufel - in der Neuregelung des § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO. Sie sieht vor, dass
unter bestimmten Bedingungen die Berufung ohne Verhandlung zur Sache dennoch verworfen werden kann.
Ihre Begründung, es solle verhindert werden, dass ein
Verfahren verzögert und eine weitere Verhandlung vereitelt wird, kann ich nachvollziehen. Deswegen schlagen
Sie jetzt vor, dass die Berufung ohne Verhandlung zur
Sache verworfen werden kann, wenn aufgrund bestimmter Handlungen die Fortführung der Hauptverhandlung
dadurch verhindert wird, dass weder der Rechtsanwalt
noch der Angeklagte anwesend ist.
Ich finde es auch richtig, dass Sie in der Begründung
darauf hinweisen, dass eine zwangsweise Vorführung
des Angeklagten nicht möglich ist. Deswegen ändern Sie
konsequenterweise auch § 330 StPO; das ist so weit alles
in Ordnung. Ich würde trotzdem einen kleinen, konstruktiven Änderungsvorschlag machen. Ich würde Sie darum
bitten, darüber nachzudenken, ob wir bei den in § 329
Absatz 1 Satz 2 StPO genannten Gründen eine Zweitansetzung vorsehen können, bevor die Berufung ohne Verhandlung verworfen wird. Ich weiß: Auch das würde
möglicherweise zu Verzögerungen oder zu einer Verlängerung führen. Aber wenn wir gesetzlich festschreiben,
dass in diesem Fall eine Zweitansetzung stattfinden soll,
und wenn zu dieser Zweitansetzung niemand erscheint,
dann ist es aus meiner Sicht nachvollziehbar, dass man
davon ausgehen kann, dass der Angeklagte oder der
Rechtsanwalt, der ihn vertritt, kein Interesse mehr hat.
So würden wir den Prinzipien eines fairen Verfahrens,
des rechtlichen Gehörs und der richterlichen Aufklärung
näherkommen. Ich bitte Sie, über diesen Vorschlag konstruktiv nachzudenken.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Patrick
Sensburg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Prozessuale Verfahrensrechte sind wesentlicher Bestandteil eines Rechtsstaates. Deswegen beschäftigen wir uns
heute in erster Lesung - das ist der erste Teil des Gesetzentwurfs - mit der Stärkung der Rechte des Angeklagten.
Staatssekretär Lange und die anderen Vorredner haben es bereits gesagt: Das geht zurück auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es geht um einen Fall, in dem der Kläger vor
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei
einer Verhandlung des Berufungsgerichts persönlich
nicht anwesend war. Er zog es aus bestimmten Gründen
vor, nicht zu dieser Verhandlung zu gehen. Ohne seine
Anwesenheit ist die Berufung direkt verworfen worden.
Dagegen hat er sich gewendet; denn er wurde vor dem
Berufungsgericht anwaltlich vertreten. Er ist der Meinung: Das verstößt gegen sein Recht auf Zugang zu einem Gericht, gegen sein Recht auf rechtliches Gehör
und gegen sein Recht auf einen Verteidiger seiner Wahl.
All das sind wesentliche Rechte, die ein Rechtsstaat
vorsieht, genauso wie das Recht der Unschuldsvermutung, das Recht, dass keine Strafe ohne gesetzliche
Grundlage verhängt werden darf, und das Recht auf ein
faires Verfahren. Es war richtig, dass das Ministerium einen Entwurf zur Überarbeitung des § 329 Absatz 1
Satz 1 der StPO vorgelegt hat; denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass eine
Berufung nicht schon deshalb verworfen werden darf,
weil der Angeklagte in der Verhandlung fehlt, aber sein
Verteidiger anwesend ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf wirft - das ist gerade
von Kollegin Wawzyniak formuliert worden - an der einen oder anderen Stelle noch Fragen zu Feinheiten auf.
Über die können wir diskutieren. Schauen wir uns die
Formulierung an. Sie lautet:
Soweit nicht besondere Gründe die Anwesenheit
des Angeklagten erfordern, findet die Hauptverhandlung auch ohne ihn statt, wenn er durch einen
Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht
vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der
Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist.
Fragen wirft dieser Entwurf nach meiner Meinung dahin gehend auf, weil der Verteidiger in dieser Situation
als Vertreter des Angeklagten auftritt. Möglicherweise
würde das seiner Stellung als unabhängiges Organ der
Rechtspflege nicht gerecht werden, wenn er lediglich
Tatsachen vorträgt. Wenn es um Rechtsfragen oder um
technische Fragen geht, sehe ich kein Problem. Wenn
der Verteidiger aber einen neuen Sachvortrag in der Berufungsverhandlung bringt, dann sehe ich das Problem,
dass seine Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege in ein etwas schiefes Licht gerät.
Der Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten in
der Hauptverhandlung ist richtig. Es ist auch richtig,
dass der abwesende Angeklagte in der Hauptverhandlung durch den Verteidiger vortragen lassen kann. Aber
man muss bedenken, dass immer die höchstpersönliche
Einlassung bevorzugt wird und dass sich durch Lücken
in der Einlassung Nachfragen ergeben können. Eine Klärung wäre in einer solchen Situation nicht möglich. - All
diese Punkte müssen wir noch klären. Der Entwurf in
Gänze ist sicherlich sehr zu begrüßen.
Nehmen wir uns ein Beispiel an § 73 OWiG: Es kann
dann auf die Anwesenheit des Betroffenen verzichtet
und auf den Rechtsanwalt abgestellt werden, wenn keine
neue Einlassung zum Sachverhalt erfolgt. Ich könnte mir
vorstellen, dass in einem solchen Fall diese Regelung erfolgversprechend ist, sodass der Verteidiger nur noch zu
rechtlichen oder technischen Fragen Stellung nimmt. Bei
einem neuen Sachvortrag stelle ich mir das etwas
schwierig vor.
Ich hoffe, dass wir im anstehenden Berichterstattergespräch in der kommenden Woche diese Fragestellung
noch einmal gemeinsam diskutieren und dann diesen
grundsätzlich sehr zu begrüßenden Entwurf auch gemeinsam zu einem erfolgreichen Gesetzgebungsverfahren führen können. Mein Eindruck ist: Ich glaube, es
wird uns gelingen, das auch über alle Fraktionen hinweg
hinzubekommen, weil die Intention, die Absicht, Rechte
zu stärken, richtig ist. Das wollen wir gemeinsam. Es
muss dann eben nur ein rundes Paket werden. Ich
glaube, das können wir im anstehenden Berichterstattergespräch erreichen. Ich würde mich freuen, wenn uns
das gemeinsam gelingt, und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen wir uns Folgendes vor: Ein erdachter Grüner
wird fotografiert. Dieses Foto von ihm taucht im Internet
auf. Auf diesem Foto sieht man ihn in seinem Garten sitzen, und im Hintergrund steht eine Pflanze, die wie eine
Hanfpflanze aussieht.
({0})
Er wird angezeigt. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren ein. Er kommt vor Gericht - die
meisten Strafprozesse beginnen übrigens beim Amtsgericht; ungefähr 70 Prozent, nehme ich einmal an, habe
aber keine genauen Zahlen - und wird dort von einem
unverständigen alten Richter verurteilt, der sich mit
Hanf und Pflanzen usw. nicht so gut auskennt.
({1})
Er sagt: Das ist aber total ungerecht. Ich bin nicht zur
Verhandlung hingegangen,
({2})
weil ich davon ausgegangen bin, dass vor deutschen Gerichten immer Gerechtigkeit geübt und die Wahrheit gefunden wird.
({3})
Deshalb geht er in Berufung. Das kann man nur beim
Amtsgericht tun. Wenn man beim Landgericht, wie Uli
Hoeneß, anfängt, kann man keine Berufung einlegen. Da
gibt es nur die Möglichkeit der Revision. - Er geht also
in Berufung - das ist die zweite Tatsacheninstanz - und
nimmt sich einen ganz tollen Verteidiger - einen Idealverteidiger; ich will keinen Namen nennen ({4})
und sagt sich: Da habe ich jetzt einen, der mich raushaut.
Der hat ganz eindeutige Argumente. Daran kann das Berufungsgericht gar nicht vorbei. - Er geht nicht zur Verhandlung, hat Wichtigeres zu tun, weil er sagt: Ich werde
ja in der zweiten Instanz sowieso freigesprochen.
Nach der geltenden Rechtslage ist es in der Tat so,
dass die Berufung, wenn der Angeklagte nicht krank ist,
verworfen wird. Dann wird nicht nur nicht ausreichend
argumentiert, sondern dann wird auch gar nicht verhandelt und die Berufung verworfen. Ich finde es natürlich
außerordentlich gut, dass der Europäische Gerichtshof
nun gesagt hat: Das ist nicht in Ordnung. Ein Angeklagter muss auch das Recht haben, sich vertreten zu lassen,
wenn er meint, dass eine andere Person ihn besser verteidigen kann. Wenn der Angeklagte einen Anwalt beauftragt und deshalb die Berufung verworfen wird - das
geht nicht. Ein Angeklagter muss auch, ohne dass er anwesend ist, Gerechtigkeit finden.
Jetzt denkt man, dass dies umgesetzt wird, weil das
Justizministerium gesagt hat: Da der Europäische Gerichtshof das für richtig hält, setzen wir das um und sagen in Zukunft: Wenn der Anwalt nicht nur über eine
Verteidigervollmacht verfügt, sondern auch über eine
Vollmacht, die ihn zur Vertretung des Angeklagten berechtigt - das ist nämlich eine eigene Vollmacht; das ist
in der Regel nicht der Fall, das wird häufig verwechselt -, dann kann auch verhandelt werden. Ich fasse einmal Absatz 1 und Absatz 2 des § 329 StPO aus dem
Gesetzentwurf zusammen. Aber das Bundesjustizministerium hat es nicht dabei bewenden lassen, sondern hat
gesagt: Wir müssen doch wieder Einschränkungen vornehmen. Es geht nicht, wenn erstens der Verteidiger aus
irgendeinem Grund den Saal verlässt, zum Beispiel weil
er es eilig hat oder zu einem anderen Prozess geht, bei
dem er besser verdient - dann ist er vielleicht kein so guter Verteidiger -, weil dann nicht mehr verhandelt werden kann, wenn zweitens der Angeklagte selber im Prozess anwesend war und während der Verhandlung geht
und wenn er sich drittens extra verhandlungsunfähig
macht und deshalb nicht erscheinen kann. In diesen Fällen kann er sich nicht vertreten lassen. Das sind die Einschränkungen.
Nehmen Sie doch einfach den Europäischen Gerichtshof ernst, und lassen Sie die Regelung, wie ich sie am
Anfang dargestellt habe, wie Sie sie auch gesehen haben
- Frau Wawzyniak auch -, bestehen, und zwar ohne die
genannten Einschränkungen, weil das zu solch blöden
Überlegungen führt wie: Wenn der Angeklagte nicht
kommt, weil er sich selber verhandlungsunfähig gemacht hat, muss ein Arzt befragt werden. Der muss dann
erst einmal geholt werden. Er muss den Angeklagten untersuchen, weil er ein Gutachten abgeben soll, ob der
Angeklagte tatsächlich verhandlungsunfähig ist.
Wir sind mit der Regelung bzw. mit der Richtung
grundsätzlich einverstanden - das ist klar; der Europäische Gerichtshof will die Rechte der Angeklagten stärken -; ohne diese Einschränkungen würden wir die Regelung für richtig halten, sie befürworten und dafür
stimmen. Nun gibt es aber einen anderen Vorschlag. Wir
müssen uns im Ausschuss und in den Berichterstattergesprächen zusammensetzen und den einen oder anderen
Sachverständigen hinzuziehen. Wir werden uns das alles
genau anhören und schauen, ob dabei am Ende ein Kompromiss herauskommen kann, damit der Verteidiger in
dem Fall, den ich gebildet habe, sagen kann: Die Pflanze
sieht nur so aus wie eine Hanfpflanze.
({5})
Oder: Das ist gar keine richtige Hanfpflanze, in der Cannabis ist, das man auch rauchen kann, sondern das ist
eine Nutzhanfpflanze, deren Besitz gar nicht strafbar ist.
({6})
Damit könnte der gute Verteidiger den Angeklagten freibekommen. Dazu brauchte er den Mandanten gar nicht.
({7})
Danke schön. - Nächster Redner ist Dirk Wiese,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Ströbele, ich glaube, in Ihrem
Vortrag fehlte nur diese Frage: Hat H. S. sich strafbar gemacht? Beurteilen Sie den Fall prozessual! - Dann könnten wir den Fall heute in dieser Runde gemeinsam lösen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kernstück des vorliegenden Gesetzentwurfs sind in Umsetzung des sogenannten Neziraj-Urteils des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte die Neuregelung des § 329 StPO sowie die Umsetzung des Rahmenbeschlusses „Abwesenheitsentscheidungen“ des Rates aus dem Jahre 2009.
Entsprechend der Urteilsvorgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte soll künftig ein Nichterscheinen des Angeklagten nicht mehr zwingend zur Verwerfung der Berufung führen, sofern ein nachweislich
zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger an seiner
statt erscheint und eine Anwesenheit des Angeklagten
nicht aus besonderen Gründen erforderlich ist.
Der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange
hat die Hintergründe des Urteils sowie die Umsetzung
des Rahmenbeschlusses bereits fundiert dargestellt. Um
Wiederholungen hier und jetzt zu vermeiden, möchte ich
mich daher auf die drei zentralen Punkte des Gesetzentwurfs beschränken.
Erstens: Vertretung durch Verteidiger. Der Angeklagte kann sich künftig durch einen nachweislich zur
Vertretung bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen. „Nachweislich bevollmächtigt“ heißt hier, dass der
Angeklagte sich von einem mit schriftlicher Vertretungsvollmacht bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen
muss.
Zweitens: kein Recht auf Abwesenheit in der Hauptverhandlung. Lassen Sie mich hier ausdrücklich klarstellen,
dass mit den Neuregelungen in dem heute zu debattierenden Gesetzentwurf kein Recht auf Abwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung begründet werden soll. Der Angeklagte ist selbstverständlich nach wie
vor verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen.
Zusätzlich wird in allen Fällen, in denen die Aufklärungspflicht des Gerichts die persönliche Anwesenheit des Angeklagten gebietet, seine Anwesenheit auch weiterhin
durch die auch zukünftig vorgesehenen Zwangsmittel der
Vorführung sichergestellt werden können.
Drittens: besondere Gründe für Anwesenheit des Angeklagten. Das Gericht kann überdies auch weiterhin die
Anwesenheit des Angeklagten im Berufungsverfahren
anordnen, sofern besondere Gründe dies erforderlich
machen. Solche sind etwa bei konkreten Anhaltspunkten
dafür gegeben, dass die Aufklärung bestimmter Umstände oder die Erhebung bestimmter Beweise ohne den
Angeklagten nicht möglich sein werden. Als Beispiel sei
hier eine Gegenüberstellung mit Zeugen oder Mitangeklagten genannt.
Das Erfordernis der besonderen Gründe ist den deutschen Gesetzen übrigens nicht fremd. So findet sich in
§ 50 Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz, der auch für die Berufungsverhandlung gilt, diese Voraussetzung wieder.
Sie sehen, auch wenn in diesem Beispiel „besondere
Gründe“ dafür vorliegen müssen, dass in der Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden kann: Der
Rechtsbegriff der „besonderen Gründe“ ist - siehe § 50
Absatz 1 Jugendgerichtsgesetz - alles andere als neu.
Ich komme zum Schluss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schützen wir die Rechte des Angeklagten
entsprechend dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, geben aber gleichzeitig den Gerichten genug Instrumente mit, um die Anwesenheit des Angeklagten in notwendigen Fällen sicherzustellen.
Ich freue mich auf die parteiübergreifenden Beratungen, die demnächst anstehen, und danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das war hinsichtlich der Redezeit vorbildlich. - Der
nächste Redner ist Herr Dr. Volker Ullrich, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte dreht sich um die gesetzgeberische Umsetzung eines Urteils des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Kern geht es um
die Frage: Kann sich der Angeklagte in der Berufungsverhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen?
Das deutsche Recht kennt dem Grundsatz nach keine
Verhandlung ohne den Angeklagten. Ich möchte in wenigen Sätzen ausführen, weshalb dieses Prinzip richtig
ist: Es geht nicht nur um die Sicherstellung des rechtlichen Gehörs des Angeklagten, sondern auch um eine objektive Chance des Gerichts, die Wahrheit zu finden.
({0})
Diese Wahrheitsfindung soll durch den persönlichen
Eindruck des Angeklagten sichergestellt werden. Dennoch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gesagt, es verletze den Grundsatz des Rechts auf
ein faires Verfahren, wenn ein verteidigungsbereiter Verteidiger, der bevollmächtigt worden ist, in der Berufungsverhandlung nicht verhandeln kann, sondern das
Verfahren durch Urteil abgewiesen wird. Es ist auch
richtig, dass sich die Bundesregierung nach diesem
Urteil nicht darauf verlässt, dass es die Rechtsprechung
alleine regeln wird, sondern eine gesetzliche Regelung
getroffen wird.
({1})
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber jene:
Inwiefern wollen wir das Recht auf eine Verhandlung
ohne den Angeklagten in unserer Rechtsordnung berücksichtigen? Anders ausgedrückt: Nehmen wir einen Paradigmenwechsel hin zu einem Strafverfahren ohne Angeklagten vor oder nicht? Diese Frage ist durchaus von
Relevanz, weil sich die europäischen Rechtsordnungen
in diesem Bereich deutlich unterscheiden. Das deutsche
Recht kennt im Prinzip keine Verhandlung ohne den Angeklagten, während in Frankreich, in Italien oder auch in
den Beneluxstaaten eine solche Verhandlung durchaus
an der Tagesordnung ist. Ohne dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu nahe treten zu wollen:
Diese unterschiedlichen Konzepte der Verhandlung ohne
Angeklagten waren sicherlich auch ausschlaggebend für
dieses Urteil.
Festzuhalten ist aber: Es gibt kein Recht, wonach der
Anwalt den Angeklagten ersetzt, sondern es gibt nur das
Recht, dass der Verteidiger in der Berufungsverhandlung
für den Angeklagten spricht. Da wir unsere Prinzipien
der Strafprozessordnung bewahren wollen, sollten wir
dieses Urteil meiner Meinung nach nur sehr restriktiv
umsetzen.
Vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden Umsetzung dieses Urteils begrüße ich die Einwände des Bundesrates. Der Bundesrat hat nämlich gesagt, der Verteidiger solle in der Berufungsverhandlung nur dann zum
Zuge kommen, wenn er explizit für diesen Termin
bevollmächtigt wird. Nach dem Wortlaut des Regierungsentwurfs könnte es schon ausreichen, dass der Verteidiger irgendwann im Verlauf des Strafverfahrens bevollmächtigt worden ist, möglicherweise schon in der
ersten Instanz, damit er in der Berufungsverhandlung ein
Stück weit an die Stelle des Angeklagten tritt. Das soll
vor dem Hintergrund der Stellung des Rechtsanwalts eigentlich verhindert werden. Der Rechtsanwalt ist nicht
allein Partei, sondern auch Organ der Rechtspflege.
Angesichts dieser besonderen Ausgestaltung sollte der
Anwalt auch nicht durch eine strafprozessuale Reform
stärker in die Rolle der Partei gedrängt werden. Deswegen bitte ich, dass wir die Frage, inwiefern der Anwalt
bevollmächtigt werden muss, im Laufe der Beratungen
noch einmal diskutieren.
Meine Damen und Herren, im Übrigen empfehle ich
uns, dass wir uns auf die guten Traditionen unserer Strafprozessordnung besinnen. Die Verhandlung bei Anwesenheit des Angeklagten gehört zu unseren rechtsstaatlichen Traditionen. Diese sollten wir bewahren.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3562 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Wie ich sehe, ist das
nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann ({0}), Jan
Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Elektronische Gesundheitskarte stoppen Patientenorientierte Alternative entwickeln
Drucksache 18/3574
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kathrin
Vogler, Fraktion Die Linke.
({2})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
1 213 960 000 Euro - so viel hat die elektronische Gesundheitskarte die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen bis gerade eben gekostet, über 1,2 Milliarden
Euro für eine Karte, die bisher nicht mehr kann als die
alte Krankenversicherungskarte. Das soll wohl noch länger so bleiben, zumindest schreibt dies das Bundesministerium für Gesundheit in seiner Antwort auf eine
Kleine Anfrage meiner Fraktion vom November des
letzten Jahres. Nun steht im SGB V: Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen sollen ausreichend,
zweckmäßig und wirtschaftlich sein. - Die Linke sagt:
Die E-Card, diese elektronische Gesundheitskarte, ist
weder zweckmäßig noch wirtschaftlich. Auch deshalb
lehnen wir sie ab.
({0})
Wir teilen auch die Sorge vieler Versicherter, Ärztinnen und Ärzte, Datenschützerinnen und Datenschützer,
dass eine zentrale Struktur den Schutz der sensiblen Sozialdaten im Gesundheitswesen vor Missbrauch auf
Dauer nicht gewährleisten kann. Deshalb fordern wir mit
unserem Antrag, der Ihnen heute vorliegt: Stoppen Sie
die E-Card jetzt, bevor weitere Milliarden an Krankenkassenbeiträgen in diesem schwarzen Loch der Gesundheitspolitik versickern!
({1})
Wir fordern Sie auch auf, endlich ernst zu machen
und ernsthaft über moderne IT-Lösungen für das Gesundheitswesen nachzudenken. Wir müssen jetzt Alternativen zur E-Card prüfen. Es ist doch so, dass schon die
einfachsten Anwendungen die Gematik, also die Betreibergesellschaft, vor schier unüberwindliche Schwierigkeiten zu stellen scheinen. Bis heute gibt es keine
Konzepte und keinen verbindlichen Zeitplan für patientenrelevante Anwendungen. Das kann man zum Beispiel
daran erkennen - der vdek, der Verband der Ersatzkassen, weist in einer Pressemitteilung darauf hin -, dass die
derzeitige Karte nicht einmal über genügend Speicherplatz verfügt, um einen Medikationsplan darauf zu speichern. Ein Medikationsplan ist keine große Datei, sondern maximal ein DIN-A4-Blatt mit ein bisschen Text,
vielleicht 1 Kilobyte. Zu einem Zeitpunkt also, an dem
Millionen Menschen über Smartphones mit etlichen Gigabyte Speicherplatz verfügen und USB-Sticks oder
Speicherkarten nicht mehr die Welt kosten, ist das ein
echter Anachronismus.
({2})
Wir brauchen für das Gesundheitswesen IT-Lösungen, die sowohl in Sachen Datenschutz als auch in Sachen Funktionalität zweckmäßig und ausreichend, aber
eben auch datensparsam und zukunftssicher sind.
({3})
Das Bundesgesundheitsministerium allerdings möchte
bei der E-Card weiter aufs Gaspedal treten. Aus dem
Ministerium verlautbart jetzt, die E-Card sei ein Sportwagen, der leider nur in der Garage stehe. Jetzt aber solle
eine sechsspurige Autobahn gebaut werden, auf der der
Flitzer dann mit Tempo 250 losrasen könnte. Das Bild
finde ich ein bisschen schräg. Es zeigt auch, dass Sie
umwelt- und verkehrspolitisch vielleicht nicht ganz auf
dem neuesten Stand sind. Ich muss Ihnen vorwerfen ich bleibe dabei im Bild -, dass Sie offensichtlich einen
Sportwagen gebaut haben, der nicht einmal genug Platz
im Kofferraum hat, um eine kleine Kiste Bier oder
Mineralwasser darin zu transportieren. Wenn Sie jetzt
nicht auf die Bremse treten, Kolleginnen und Kollegen
von den Regierungsfraktionen, dann droht die E-Card
zum BER der Gesundheitspolitik zu werden,
({4})
der immer mehr Geld verschlingt, ohne dass wir jemals
erfahren, wann er denn endlich funktionieren wird.
({5})
Wir fordern: Stoppen Sie die E-Card jetzt! Gehen wir
zurück auf Los! Entwickeln wir neue Alternativen, patientenfreundlich und datensparsam! Beenden Sie den
Druck auf die Skeptikerinnen und Skeptiker unter den
Versicherten! Die alten Krankenkassenkarten können
gültig bleiben. Für diejenigen, die sich keine E-Card
zulegen wollen, muss das Ersatzverfahren auf Papier
weiter möglich sein. Ich freue mich auf jeden Fall auf
die weiteren Beratungen, auch zum E-Health-Gesetz.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. - Nächste Rednerin ist Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der
Linken! Sie bringen hier einen Antrag mit dem Titel
„Elektronische Gesundheitskarte stoppen - Patientenorientierte Alternative entwickeln“ ein. Eigentlich
braucht man bei dieser Überschrift schon gar nicht mehr
weiterzulesen. Erstens ist klar, dass es sich hierbei um
reine Obstruktionspolitik im Hinblick auf ein national
bedeutendes Großprojekt handelt.
({0})
Wenn Sie die eGK stoppen wollen, kommen Sie damit
außerdem schlichtweg zu spät; denn die eGK ist seit
Januar dieses Jahres für alle gesetzlich Versicherten
bindend.
({1})
Zweitens wird schon beim Lesen des Titels klar, dass Sie
mit keiner Alternative aufwarten. Das hat auch Ihr Vortrag, Frau Vogler, deutlich gemacht.
Es wird Zeit, dass Sie aufhören, völlig überzogene
Schreckensszenarien zu zeichnen, und mit Sachlichkeit
zum Gelingen dieses Vorhabens beitragen. Es geht um
viel mehr als um eine Plastikkarte. Interessanterweise
gestehen Sie bereits im ersten Satz Ihres Antrags zu
- ich zitiere daraus -:
Die digitale Datenspeicherung und -übertragung
kann helfen, die Gesundheitsversorgung qualitativ
zu verbessern sowie effizienter und sicherer zu gestalten.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben uns jedenfalls
eine optimale und vor allem moderne Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben.
Genau deshalb arbeiten wir gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner an der Digitalisierung des Gesundheitswesens.
({2})
Weil Sie hier vieles verzerrt dargestellt haben, liebe
Frau Vogler, möchte ich in dieser Debatte gern zunächst
einmal grundsätzlich einordnen, wo wir stehen. Es geht
um eine Entwicklung, die uns in nahezu sämtlichen Lebensbereichen seit Jahrzehnten beschäftigt, nämlich um
die fortschreitende Digitalisierung. Sie ist auch im Gesundheitswesen vielerorts angekommen. Doch gerade
wenn es um den Transfer und die Speicherung von gesundheitsrelevanten Daten geht, bewegen wir uns oft
noch im analogen Zeitalter. Da war zugegebenermaßen
nicht alles schlecht. Aber es geht viel besser, als Anamnesen auf Karteikärtchen festzuhalten, Befunde zu
faxen, Arztbriefe mit der Post zu verschicken oder für jedes Rezept persönlich beim Arzt erscheinen zu müssen.
Das können wir natürlich noch die nächsten 20 Jahre so
machen, wie Sie es vorschlagen. Aber aus meiner Sicht
kostet das viel Geld und Zeit, die die Ärzte und Praxisteams viel besser nutzen könnten, nämlich für die Versorgung des Patienten.
({3})
Es ist klar, dass wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht deswegen fordern, weil wir gerne elektronische Spielereien vorantreiben wollen, sondern uns geht
es in erster Linie um die Versorgung der Patienten und
die Verbesserung der Informationsverarbeitung, vor allem im Gesundheitswesen.
Wir Gesundheitspolitiker stehen im Hinblick auf die
Versorgung vielen Herausforderungen gegenüber; über
nichts anderes haben wir im ersten Jahr dieser Legislaturperiode hier gesprochen. Die Menschen leben länger. Sie werden aber auch länger krank sein. Es wird viel
mehr chronisch Kranke geben. Diese wechseln oft
zwischen den verschiedenen Sektoren in unserem Gesundheitssystem: zwischen einem niedergelassenen
Arzt, einer Klinik, einem Rehabetrieb. Hier müssen
Daten leicht ausgetauscht werden können. Elektronische
Arzt- und Entlassbriefe können die Arbeit erheblich erleichtern.
Außerdem wollen wir für alle Menschen eine Versorgung auf Spitzenniveau vorhalten, egal ob sie in einer
Stadt oder auf dem Land leben. Gerade bezüglich der
Versorgung im ländlichen Raum - es ist absehbar, dass
sich dort zukünftig weniger Ärzte niederlassen wollen;
das ist ein Fakt, den wir berücksichtigen müssen brauchen wir neue Ansätze und ein besseres Versorgungsmanagement. Dies kann zum Beispiel durch die
Telemedizin, die wir auch vorantreiben wollen, geleistet
werden.
({4})
Dies, verehrte Damen und Herren, sind nur einige
Beispiele, weshalb ich in der Digitalisierung des Gesundheitswesens grundsätzlich eine große Chance sehe,
die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland zu verbessern.
({5})
Warum Sie all diese Neuerungen den Versicherten vorenthalten wollen, das müssen Sie uns hier einmal erklären, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken!
({6})
Wir sind einfach nur froh darüber, dass Sie hier keine
Regierungsverantwortung tragen.
Jetzt erkläre ich Ihnen noch einmal, wie das mit der
Telematikinfrastruktur und mit der eGK geplant ist: Es
hilft nichts, wenn wir in Deutschland viele Inseln haben,
wo der elektronische Fortschritt Einzug hält, dieser aber
beispielsweise beim Transfer von Daten endet. Was
nützt ein papierloses Krankenhaus, wenn zum Schluss
Arzt- und Entlassbriefe doch per Post verschickt werden
müssen? Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel daran,
dass sich daran etwas ändern muss. Wir brauchen ein sicheres Netz für Gesundheitsdaten. Diese Idee ist nicht
neu; sie gibt es seit zehn Jahren. Ich gebe zu: Das hat
sehr viel Geld gekostet, vielleicht auch ein bisschen zu
viel. Deswegen müssen wir jetzt Gas geben, um hier
weiter voranzukommen.
({7})
Bereits 2004 hat der Gesetzgeber den Auftrag für dieses Projekt an die Selbstverwaltung gegeben. Wir müssen
uns das einmal vorstellen: Es handelt sich dabei um ein
Projekt, bei dem 70 Millionen Versicherte, 2 100 Krankenhäuser, 21 000 Apotheken und 208 000 Haus-, Fachund Zahnärzte miteinander vernetzt werden. Frau Kollegin, Sie bemühten eben das Bild mit dem Sportwagen;
dieses Bild wird oft bemüht. Es handelt sich bei diesem
Netz in der Tat um eine Datenautobahn zwischen den
verschiedenen Leistungserbringern, dem Patienten und
insgesamt den Akteuren im Gesundheitswesen. Auf dieser Datenautobahn sollen bald viele Sportwagen flitzen;
dahinter stehen wir.
Die elektronische Gesundheitskarte ist sozusagen der
elektronische Schlüssel, mit dem die Patienten auf ihre
Daten zugreifen können. Der Patient bestimmt - das ist
auch etwas, was Sie in der Debatte immer wieder falsch
darstellen -, welche Daten gespeichert werden und wer
Zugriff auf die Daten hat.
Viele von Ihnen, die das Vorhaben des Aufbaus einer
Telematikinfrastruktur schon länger begleiten als ich,
wissen um die Blockaden in den Selbstverwaltungsstrukturen. Das sind an sich schöne Strukturen, die auch
oft effektiv arbeiten; aber in diesem Fall gab es hier
große Blockaden, und die gilt es aufzulösen. Es ist wichtig, dass die Versicherten endlich eine handfeste Leistung erhalten. Die Versicherten interessiert nämlich
nicht, wer wann wem in welcher Sitzung mit welchen
Forderungen die Laune verdorben hat. Entscheidend ist
die Frage: Wie können wir den Nutzen der Digitalisierung für die Menschen spürbar machen? Ziel muss es
sein, dass die elektronische Gesundheitskarte samt Telematikinfrastruktur einen erkennbaren Mehrwert für die
Versorgung der Menschen hat. Wir von der CDU/CSUFraktion setzen uns dafür ein und stecken nicht den Kopf
in den Sand, wie es die Kolleginnen und Kollegen von
der Linken tun.
({8})
Wir möchten, dass die Telematikinfrastruktur so
schnell wie möglich kommt und möchten dann auch so
schnell wie möglich Anwendungen sehen. Deshalb machen wir jetzt ein Gesetz. Wir nennen es kurz neumodisch E-Health-Gesetz; länger heißt es: Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im
Gesundheitswesen. Ich bin sehr froh, dass sich Minister
Gröhe persönlich an die Spitze dieser Bewegung gestellt
hat. Für den Aufbau der Telematikinfrastruktur gibt es
- auch das erkläre ich Ihnen gerne - einen klaren Plan:
Die Testphasen sollen bis Anfang 2016 abgeschlossen
sein. Danach soll das bundesweite Roll-out erfolgen.
Bei der Frage, welche Anwendungen künftig digital
laufen sollen, ist langfristig natürlich vieles vorstellbar.
Zunächst wollen wir die Notfalldaten auf die elektronische Gesundheitskarte packen und auch den elektronischen Medikationsplan. Sie können sich natürlich darüber lustig machen; aber es ist für viele Menschen,
gerade chronisch Kranke, die viele Medikamente nehmen, sehr wichtig, dass diese Daten schnell verfügbar
sind.
({9})
Vor dem Hintergrund der vielen sinnvollen Neuerungen, die mit der eGK und der Telematikinfrastruktur verbunden sind, lehnen wir den Antrag der Linken ab. Ihnen
fällt zu diesem Thema nicht mehr ein, als das hochbetagte Datenschutzgespenst aus der Mottenkiste zu holen
({10})
und Behauptungen aufzustellen, die klar von der Hand
zu weisen sind.
({11})
Erstens. Anders als Sie es darstellen - das ist ganz
wichtig -, ist kein Zentralserver geplant, auf dem alle
Daten lagern. Die Gesundheitsdaten werden dezentral
gespeichert, und zwar größtenteils dort, wo sie entstehen, nämlich beim Arzt, im Krankenhaus und bei den
Krankenkassen oder auf externen Speichern. Hier gibt es
klare Regeln, wer wie wann auf die Daten zugreifen
darf.
Zweitens. Alle Versicherten dürfen selber auswählen,
welche Gesundheitsdaten über ihre Karte abrufbar und
wem sie zugänglich sein sollen. Auch hier streuen Sie
den Menschen immer wieder Sand in die Augen.
Drittens. Wenn die Telematikinfrastruktur erst einmal
steht, dann werden die Sicherheitsstandards bezüglich
der Gesundheitsdaten weitaus höher sein als heute. Sie
können ja schlecht behaupten, dass beispielsweise ein
Fax sicherer ist als das, was wir hier planen.
({12})
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Anmerkung.
Ihr Antrag ist für mich - ich verfolge das alles seit einem
Jahr etwas genauer - einmal mehr nur ein Symbol für
die Tragik der Diskussionen rund um die eGK. Die
Schwarzmaler und Verschwörungstheoretiker haben leider im Diskurs der letzten zehn Jahre die Oberhand gehabt. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir von der CDU/
CSU-Fraktion freuen uns jedenfalls auf die Verbesserungen im Gesundheitswesen durch mehr Digitalisierung
und bleiben am Ball.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Maria KleinSchmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anders als die Rednerin von der CDU/CSU
würde ich nicht sagen, dass es sich nicht lohnt, den Antrag der Linken zu lesen. Es werden die richtigen Fragen
gestellt; es wird aber die falsche Antwort gegeben.
({0})
Es ist nämlich nicht die richtige Antwort, die elektronische Gesundheitskarte zu stoppen. Wenn wir den Datenschutz ernst nehmen und das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung sowie die Möglichkeiten IT-gestützter Gesundheitsversorgung miteinander in Verbindung
bringen und zu einem guten Ausgleich führen wollen,
dann müssen wir den Fragen nachhaltbar nachgehen und
gleichzeitig nach adäquaten Lösungen suchen.
({1})
Das ist Ihnen, meine lieben Freundinnen und Freunde
von der Linken, mit Ihrem Antrag nicht gut gelungen.
Es geht hier um folgende Fragen: Erstens. Wie können wir elektronisch gestützte Patienteninformationen
für eine Verbesserung der Patientenversorgung einsetzen? Wir wissen, dass es schon heute sehr viele IT-gestützte Verfahren gibt. Es gibt viele Informationen - das
wurde schon gesagt - in allen Versorgungssystemen, die
wir sinnvollerweise miteinander verknüpfen müssen, um
eine gute Versorgung zu erreichen.
Zweitens. Wie können wir einen an die neuen Erfordernisse angepassten Datenschutz gewährleisten? Wir
müssen dafür sorgen, dass die Standards, die wir einzuhalten haben, wirklich die höchstmöglichen Standards
sind; denn die Gesundheitsdaten sind äußerst sensibel.
Diese Daten haben einen staatlichen Schutz verdient.
Wir müssen sicherstellen, dass jeder Patient und jeder
Versicherte darauf vertrauen kann, dass diese Daten tatsächlich sicher sind.
({2})
Drittens. Es geht nicht nur um den Datenschutz, sondern auch darum, wie das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung gewahrt werden kann. Es muss gewährleistet sein, dass jeder Patient und jeder Versicherte
selber entscheiden kann, welche Daten zugänglich gemacht werden und welche nicht.
({3})
Viertens. Wir müssen überlegen, ob wir nach den Enthüllungen von Snowden nicht noch einmal auf das Sicherheitskonzept schauen müssen, das zehn Jahre alt ist.
Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ist
eben ein sehr langwieriges Verfahren.
({4})
Wir müssen uns fragen, ob alle Komponenten und Verfahren datenschutzrechtlich auf dem richtigen Stand
sind. Auch diese Frage ist zu stellen.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es stellt sich natürlich die Frage, ob Sie diesen
Dingen auch wirklich nachgehen. Wir als Grüne haben
eine Kleine Anfrage gestellt; ich habe auch schriftliche
Fragen eingereicht. Ich muss sagen: Das Ministerium ist
gerade auf den Teil, in dem es um Datenschutzstandards
und die Selbstbestimmung der Patienten und der Versicherten geht, nicht adäquat eingegangen. Das werden wir
im weiteren Verfahren, auch beim geplanten E-HealthGesetz, noch einmal deutlich anmahnen.
({6})
Kommen wir zu der Frage: Was ist überhaupt mit dem
geplanten E-Health-Gesetz? Wie müssen wir das bewerten? Zunächst einmal müssen wir feststellen - Frau
Leikert, Sie wollten mit dem Auto ganz schneidig losfahren -, dass nach Ausgaben von 1 Milliarde Euro innerhalb von zehn Jahren das Ergebnis einer Gesundheitskarte mit einem nichtvaliden Lichtbild, die nicht
mehr kann als die Versichertenkarte, eine erbärmliche
Ausbeute ist. Da müssen wir in der Tat besser werden.
({7})
Wir werden aber nicht dadurch besser, dass Sie jetzt sagen: Wir müssen Gas geben. - Wir müssen etwas anderes machen: Wir müssen die Verfahren beschleunigen
und klare Zeitpläne einfordern. Wir müssen die Selbstverwaltung ermahnen und dürfen nicht zulassen, dass sie
die Verfahren ausbremst. Das aber ist zehn Jahre lang erfolgreich geschehen. Deshalb stehen wir heute mit einem so erbärmlichen Ergebnis da.
({8})
Bitte denken Sie an die Redezeit. Sie ist abgelaufen.
Eine Frage, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren
um das E-Health-Gesetz eine große Rolle spielen wird,
will ich noch kurz ansprechen: Erlauben wir bezogen auf
die Telematikinfrastruktur und die eGK sogenannte
Mehrwertdienste? Das wird eine große Frage sein. Sie
können sicher sein: Wir werden dieses Thema kritisch
begleiten. Ich bin sehr gespannt, was ich dann von Ihnen
höre.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte
und der Aufbau der Telematikinfrastruktur sind ein Prozess, mit dem wir uns viele Jahre lang beschäftigt haben
und der uns über viele Jahre begleitet. Vor diesem Hintergrund ist bei uns allen eine gewisse Unruhe zu spüren
- die Kollegin Leikert hat das angesprochen -; denn wir
wollen endlich dafür sorgen, dass das Ganze jetzt langsam, aber sicher in die Pötte kommt und nicht weiter
verzögert wird.
({0})
Wir von der Großen Koalition wollen endlich Schub
in die Sache bringen. Wir wollen dafür sorgen, dass die
nötige Konsequenz an den Tag gelegt wird und wir zügig
vorankommen. Wir müssen Fahrt aufnehmen, damit wir
mit der nötigen Geschwindigkeit vorankommen. Die Patientinnen und Patienten - das will ich zum Thema Patientenfreundlichkeit deutlich sagen - sollen endlich die
Vorteile genießen können, die in der elektronischen Gesundheitskarte und in der Telematikinfrastruktur stecken.
({1})
Ich muss deutlich sagen: Ihr Antrag ist an dieser Stelle
völlig kontraproduktiv. Mit dem von Ihnen geforderten
Stopp ist, anders als es in der Überschrift steht, nicht nur
der Stopp der elektronischen Gesundheitskarte gemeint.
Sie wollen auch die Telematikinfrastruktur, also all das,
was für die anderen Dinge erforderlich ist - die eGK ist
ja nur ein kleiner Teil des Ganzen - in den Stopp einbeziehen. Das ist der absolut falsche und für die Versicherten auch nicht tragbare Weg, im Übrigen auch der Weg,
der am Ende die größten Kosten verursachen wird.
({2})
Sie hätten Ihren Antrag anders überschreiben müssen;
die Kollegin Leikert hat das schon gesagt. Sie verlangen
ja keinen Stopp. Sie hätten schreiben müssen: Einsammeln und Einstampfen der elektronischen Gesundheitskarte und vertragswidriges Brechen der Verträge, die wir
haben, um die Testphase durchzuführen. Außerdem hätten Sie noch eine finanzielle Bewertung vornehmen
müssen. - Das kann nun wirklich nicht der richtige Weg
sein. Diesen Weg werden wir sicherlich nicht mitgehen.
Die Koalition hat sich den Ausbau der Telemedizin
zum Ziel gesetzt. Es bedarf aller Anstrengungen - ich
bin dem Ministerium sehr dankbar, dass es mit dem angekündigten, zielgerichteten E-Health-Gesetz den nötigen Weg beschreiten wird -, damit wir dieses für die Patientinnen und Patienten gut nutzbare und vernünftige
System endlich auf die Spur setzen. Eine gut nutzbare
elektronische Gesundheitskarte gibt dem Patienten und
der Patientin die Hoheit über ihre Daten, eine Hoheit, die
im Moment übrigens gar nicht besteht. Ich weiß nicht,
wer von Ihnen schon einmal versucht hat, an seine Daten
zu kommen. Erstens rennen Sie von Pontius zu Pilatus.
Zweitens wird Ihnen von dem einen oder anderen immer
noch gesagt: Ich muss noch einmal gucken, ob ich Ihnen
Ihre Röntgenaufnahmen geben kann.
Wir wollen den Patientinnen und Patienten die Hoheit
über ihre Daten geben; das ist unser Ziel. Wir wollen
auch - das war aus meiner Sicht nicht strittig, insofern
weiß ich nicht, was bei der Selbstverwaltung strittig sein
soll -, dass sie die Hoheit über ihre Daten selbstbestimmt wahrnehmen können. Gerade dafür sollen sie die
elektronische Gesundheitskarte nutzen können, damit sie
- im Zweifel gemeinsam mit dem Arzt - entscheiden,
welche Daten von wem genutzt werden können.
({3})
Das, liebe Antragsteller, ist doch Patientenorientierung in Reinform. Insofern können Sie nicht einfach sagen: Wir brauchen eine patientenorientierte Alternative,
die Sie im Übrigen gar nicht benennen. Das ist ja schön;
dann forschen wir erst einmal wieder zehn Jahre.
Wir brauchen die Gesundheitskarte. Wir brauchen sie
natürlich in vernünftiger Form, und wir brauchen auch
einen vernünftigen Mehrwert, einen vernünftigen Nutzen der Gesundheitskarte. Damit meine ich keinen
Mehrwert bei den Dienstleistungen, sondern nutzbare
Leistungen auf der Gesundheitskarte, um das kurz klarzustellen, damit wir nicht schon an dieser Stelle in die
Diskussion einsteigen.
Wir müssen mehr Schwung beim Aufbau hinlegen.
Ich bin dankbar für das Autobeispiel. Ich habe nämlich
auch eines. Wir müssen einen Gang zulegen und dürfen
keinesfalls bei voller Fahrt den Rückwärtsgang einlegen.
Das wäre nicht zielführend; das bringt nicht das, was wir
wollen.
({4})
Eines muss man kritisch in Richtung Selbstverwaltung sagen, die schon mehrfach angesprochen worden
ist. In erster Linie ist dabei die Selbstverwaltung gefragt;
denn sie hat seit Jahren den Auftrag, als Gesellschafter
der Gematik das Ganze auf die Spur zu setzen und vernünftig voranzubringen. Sie ist auch dafür verantwortlich, das Ganze zu lösen. Allerdings scheint das nicht
richtig zu funktionieren.
Wenn die Kassenärztliche Vereinigung jetzt schon
wieder den Stopp der Gesundheitskarte fordert - sie
würde deshalb Ihren Antrag höchstwahrscheinlich sehr
wohlwollend betrachten -, dann macht sie dies als ein
Teil der Selbstverwaltung, die die gesetzliche Aufgabe
hat, die elektronische Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur voranzubringen. Das verstehe ich nicht
unter einem patientenfreundlichen Umgang mit dem,
was wir erwarten.
({5})
Vor all dem gibt es ein gewisses Verständnis für den
Ärger der Kassen und dafür, dass sie die Versichertengelder nicht mehr gerne herausrücken. Aber, liebe Kassen, das kann nicht Sinn und Ziel sein. Mit einem
schlichten Mittelstopp erreichen wir nicht das, was wir
wollen. Das erreichen wir vielmehr mit dem E-HealthGesetz. Wir erreichen das damit, dass wir klare Vorgaben machen, klare Werte aufsetzen, klar regeln, wann es
wie weitergeht, und das Ganze entsprechend mit Sanktionen begleiten. Damit erreichen wir, dass wir an dieser
Stelle weiterkommen.
Wir wollen und wir brauchen für die Patientinnen und
Patienten eine Versorgungsstruktur, eine gute und sichere Telematikinfrastruktur, und wir brauchen auch die
Sicherheit für Wirtschaft und Industrie, damit sie für den
Patienten nützliche Leistungen aufsetzen kann, damit
auf dieser Datenautobahn etwas „fahren“ kann.
Vor all dem müssen wir endlich die Tests beginnen.
Vor all dem muss die Telematikinfrastruktur endlich vernünftig ans Laufen kommen. Das wollen wir als Große
Koalition. Wir wollen, dass die Patienten über die elektronische Gesundheitskarte als Schlüssel die Hoheit über
ihre Daten haben. Ich denke, das System ist durchaus als
sicher zu bezeichnen. Viele Datenschützer teilen diese
Ansicht durchaus.
Eine funktionierende Telematikinfrastruktur ist in Zukunft der Schlüssel für die Kommunikation im Gesundheitswesen. Sie wird unsere Versorgung stärken - auch
das ist schon angesprochen worden - und damit von großem Nutzen sein.
Wenn auch Sie, liebe Antragsteller, all dies für die Patienten wollen, dann ist es das Einfachste, Sie ziehen Ihren Antrag zurück und unterstützen uns und vor allen
Dingen das Ministerium dabei, das E-Health-Gesetz vernünftig und schnell auf den Weg zu bringen. Wir möchten ernsthaft eine vernünftige, gute IT-Struktur im Gesundheitswesen. Machen Sie mit! Das wird uns freuen.
Ihrem Antrag zustimmen werden wir nicht.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. - Einen schönen guten Abend von mir. Jetzt kommen wir langsam
auf die Zielgerade.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3574 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes
und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften
Drucksache 18/3248
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/3748
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Innen-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3748, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/3248 in der Ausschussfas-
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Claudia Roth
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD.
Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen gestimmt hat die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU
und SPD, Ablehnung durch Die Linke und Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Richard Pitterle, Susanna Karawanskij, Dr. Axel
Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Sonderermittler zur Aufarbeitung der CumEx-Geschäfte einsetzen
Drucksache 18/3735
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Sachverhalt klingt technisch kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Das Finanzamt ist zehn Jahre lang
umfunktioniert worden. Anstatt Gelder dafür zu sammeln, dass wir alle öffentliche Leistungen bekommen,
ist das Finanzamt zu einer Geldsammelmaschine für
Multimillionäre und Banken geworden, und zwar dadurch, dass die Betreffenden Steuererstattungen bekommen haben, die sie nicht verdient haben. Damit verhält
es sich in etwa so, als ob man für ein Kind zweimal Kindergeld bekäme.
({0})
Da sich deutlich nachweisen lässt, dass die Fonds, die
eingerichtet wurden, nur an Multimillionäre vertrieben
wurden, handelt es sich in der Wirkung um eine Umverteilung von unten nach oben in einem eklatanten Ausmaß. Dieser Fehler hätte nie passieren dürfen. Er ist aber
leider zehn Jahre lang vorgekommen. Wir wissen nicht
genau, wie groß das Volumen des Schadens ist. Laut unserem Antrag gehen Schätzungen aus Branchenkreisen
von 12 Milliarden Euro aus. Da sich nach unserem
Kenntnisstand das Volumen bestimmter Teilgeschäfte
einzelner Banken im dreistelligen Millionenbereich bewegt, halten wir diese Schätzung für durchaus realistisch.
Nun stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren?
Diese Frage geht uns alle an; denn das hat in der Zeit begonnen, als das Finanzministerium von Minister Eichel
geleitet wurde, hat sich in der Regierungszeit der Großen
Koalition fortgesetzt - damals wurde ein falscher, fast
schädlicher Korrekturversuch unternommen - und wurde
erst unter Finanzminister Schäuble beendet, allerdings
relativ spät. Zudem haben wir das damals im Finanzausschuss nicht wirklich erfasst. Daher tragen alle Verantwortung. Dieser müssen wir gerecht werden.
({1})
Es stellen sich viele Fragen: Warum hat die Finanzaufsicht nicht mitbekommen, was die Banken dort machen? Warum hat der Fiskus nicht früher etwas unternommen, obwohl es bereits 2002 entsprechende Hinweise
vom Bankenverband gab? Warum wurde nicht rechtzeitig gegengesteuert? Ist der Staat dazu nicht in der Lage
gewesen, weil er es nicht verstanden hat, und müssen wir
deswegen seine Kompetenzen stärken, oder ist hier bewusst falsch gehandelt worden? Dann ist die Verantwortung zu klären. Wir meinen, dass man hier nicht zur Tagesordnung übergehen kann, wenn der Staat in solch
eklatantem Maße das Gegenteil von dem tut, was die
Bürger von ihm erwarten, nämlich das Steuergeld für die
Befriedigung ihrer Interessen einzusetzen und nicht für
die Erreichung der Renditeziele weniger Investoren.
({2})
Nun machen wir einen Vorschlag, wie man darangehen könnte. Mit diesem Vorschlag spielen wir als Opposition Ihnen den Ball zu. Wir schlagen vor, einen Sonderermittler einzusetzen, der dieser Sache auf den Grund
geht, sodass wir im Parlament die notwendigen Konsequenzen ziehen können. Er oder sie soll die Frage beantworten, wie es dazu kommen konnte, wo die Verantwortlichkeiten sind, ob die jetzt getroffenen Maßnahmen, um
den Schaden zu reduzieren - es laufen jetzt Gerichtsverfahren, der Fiskus versucht, das zu korrigieren; inwieweit
das erfolgreich sein wird, wird man sehen -, adäquat sind
und ob für die Zukunft Vorkehrungen getroffen sind,
dass sich so ein Skandal, wahrscheinlich der größte
Steuerskandal unseres Landes, nicht noch einmal wiederholen kann.
({3})
Jetzt gibt es Argumente, die ich gehört habe, warum
dieser Vorschlag vonseiten der Koalition nicht mitgetragen werden könne. Ich höre, ein Sonderermittler sei
nicht vorgesehen. Es gibt aber viele Beispiele von Fällen, in denen Sonderermittler eingesetzt worden sind.
Das kann ein Untersuchungsausschuss machen, das Parlamentarische Kontrollgremium hat es gemacht, Joschka
Fischer hat eine Historikerkommission eingesetzt, der
Innenminister Friedrich hat damals einen Sonderermittler im Zusammenhang mit den NSU-Akten eingesetzt.
Es gibt also eine Reihe von Vorbildern, wo das gemacht
worden ist. In diesem Fall würde es sich auf jeden Fall
lohnen.
({4})
Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns unserer
gemeinsamen Verantwortung hier gerecht werden! Wenn
ich Bürgerinnen und Bürgern erzähle, was hier passiert
ist, ist das Entsetzen sehr groß. Ich glaube, die einzige
Antwort, die man auf Fehler in dieser Größenordnung in
einer Demokratie geben kann, ist, nun wirklich alles daranzusetzen, dass sich so etwas nicht noch einmal wiederholt, es wirklich aufzuarbeiten und nicht parteipolitische Interessen an einer Vertuschung in den Vordergrund
zu stellen. Es geht vielmehr darum, unsere Verantwortung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern wahrzunehmen, die erwarten, dass der Staat mit ihrem Geld das tut,
was wir ihnen sagen, nämlich Leistungen für Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zur Verfügung zu stellen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Gerhard Schick. - Nächster Redner in
der Debatte ist Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Es geht bei
Cum-Ex-Geschäften nicht um ein Steuergestaltungsmodell, sondern es geht dabei aus meiner Sicht schlicht um
Betrug. Das hat nichts mehr mit einem Wettlauf zwischen Fiskus und findigen Beratern zu tun, um einen
Wettstreit darum, wer vielleicht besser die Feinheiten
des Steuerrechts ausnutzen kann. Das könnte man vielleicht noch sportlich sehen. Bei den Cum-Ex-Geschäften
geht es vielmehr letztendlich um eines: Das ist eine
Schweinerei.
({0})
Eine einmal abgeführte Kapitalertragsteuer kann nur
einmal bescheinigt werden. Das war auch schon immer
die Meinung des Bundesfinanzministeriums. Das ist
auch logisch, und diese Logik, dass man eine einmal abgeführte Kapitalertragsteuer nur einmal bescheinigen
kann, müsste auch denjenigen eingeleuchtet haben, die
hier doppelt kassiert haben. Ich halte dieses Vorgehen
wie gesagt für betrügerisch. Die rechtliche Einordnung
sollten wir aber den zuständigen staatlichen Strafverfolgungsbehörden überlassen, den Gerichten und den
Staatsanwaltschaften. Es ist nicht die Aufgabe des Bundestages und nicht Aufgabe der Bundesregierung, hier
die Strafbarkeit festzustellen. Dafür gibt es gesonderte
Institutionen.
({1})
Deshalb halte ich auch den Antrag, einen Sonderermittler einzusetzen, lieber Kollege Schick, mit Verlaub
für Unfug. Was soll das für ein Sonderermittler sein?
008? Mit welcher Lizenz? Was soll das?
Wir haben nach der Strafprozessordnung die Staatsanwaltschaften. Die ermitteln in eigener Zuständigkeit als
zur Objektivität verpflichtetes Organ der Rechtspflege.
Sie können auf die Polizei zurückgreifen, und sie können
auf die Beamten der Steuerfahndung zurückgreifen. All
das ist möglich, das ist Sache der Staatsanwaltschaft.
Deswegen geht es hier nicht um die Einsetzung eines
Sonderermittlers.
Wenn Sie von der Linken das wollen, dann können
Sie dieses Instrument vielleicht nutzen, um den Verbleib
der SED-Millionen oder -Milliarden zu untersuchen.
Das wäre etwas für einen Sonderermittler. Aber lassen
wir das.
({2})
Wenn Sie, Herr Kollege, wirklich eine Aufklärung
wollen - das wollen auch wir -, wenn Sie die politisch
Verantwortlichen für dieses mögliche Versagen feststellen wollen, dann beantragen Sie einen Untersuchungsausschuss. Das steht Ihnen frei, und das steht Ihnen als
Opposition zu. Das ist auch Ihre Aufgabe, und das ist
völlig in Ordnung. Deswegen brauchen wir keinen Sonderermittler, für den es letztendlich keine verfassungsrechtliche Grundlage gibt. Soweit es darum geht, die
strafrechtliche Verantwortung zu klären, ist dies Aufgabe der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Daran
führt kein Weg vorbei.
Es ist auch nicht so, wie es hier gerade dargestellt
wurde: dass der Gesetzgeber nicht reagiert hätte. Es gab
Erlasse, und es gab Versuche, diese unsäglichen Modelle
zu stoppen. Was man aber auch sagen muss, ist, dass
diese Modelle immer wieder variiert wurden. Findige
Menschen - Berater, Fondsverkäufer, Banker - haben
Gestaltungsräume genutzt und diese Modelle immer
wieder geändert.
Wir haben 2007 eine Regelung eingeführt, dass die
Nutzung bei inländischen Abwicklungsbanken keine unberechtigten Steuerbescheinigungen mit sich bringt. Was
war die Folge? Man ist auf ausländische Banken ausgewichen. Das BMF hat darauf im Jahr 2009 mit einem
BMF-Schreiben reagiert, und man hat die Erfordernisse
an Steuerbescheinigungen im Zusammenhang mit Leerverkäufen über ausländische Kreditinstitute geändert.
Der Missbrauch, der daraufhin wieder erfolgte, wurde
- Sie haben es richtig gesagt - unter Wolfgang Schäuble
2011 mit dem OGAW-IV-Umsetzungsgesetz durch eine
grundsätzliche Umstellung der Systematik zur Erhebung
von Kapitalertragsteuern tatsächlich beendet. Damit
wurde diesen Modellen endgültig die Grundlage entzogen.
Ich jedenfalls hoffe inständig und ich bin auch zuversichtlich, dass unsere Ermittlungsbehörden, dass unsere
Gerichte hier mit aller notwendigen Härte gegen diese
- ich muss es noch einmal sagen - Schweinerei vorgehen, dass klar festgestellt wird, dass die Cum-Ex-Geschäfte unzulässig waren, dass sie rechtswidrig waren,
dass diese Praxis endlich entlarvt wird. Ich glaube aber,
einen Sonderermittler, dessen Einsetzung Sie hier vorschlagen, brauchen wir dazu nicht. Deswegen werden
wir diesen Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, lieber Kollege Gutting. - Nächster Redner in der Debatte ist Richard Pitterle für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die, die noch nie von CumEx-Geschäften gehört haben: Das war ein wahrer Goldesel für Banken und Superreiche. Zwischen 2002 und
2012 wurde der Staat damit um schätzungsweise 12 Milliarden Euro gebracht. 12 Milliarden Euro, das ist fast
das Doppelte des Entwicklungshilfeetats für dieses Jahr.
Und wer durfte letzten Endes die Zeche zahlen? Richtig,
wieder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Folgendes ist passiert: Durch komplizierte Konstruktionen bei Aktienverkäufen konnten sich Banken und
Großinvestoren zweimal vom Staat Steuern erstatten lassen, obwohl diese Steuer nur einmal gezahlt worden ist.
Erst 2012 wurde dieser Praxis per Gesetz ein Riegel vorgeschoben. Waren diese Geschäfte illegal? Oder wurde
nur eine Regelungslücke ausgenutzt? Das zu klären, ist
tatsächlich Sache der Gerichte.
Womit wir uns jedoch endlich intensiv beschäftigen
müssen, ist die Rolle, die das zu jener Zeit von SPD und
Union geführte Bundesfinanzministerium in dieser Sache gespielt hat. Offensichtlich hatte die politische Leitung des Ministeriums die Kontrolle über die Geschehnisse verloren. Viel schlimmer noch: Sie ist trotz
Hinweisen, wie zum Beispiel durch den Bundesverband
deutscher Banken im Jahr 2002, untätig geblieben. Fünf
Jahre später wurde zwar der Versuch unternommen, den
Raubzug der Vermögenden zu stoppen, über ausländische Banken konnte er jedoch noch bis zur Gesetzesänderung 2012 fortgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, zehn Jahre lang wurde dieser Umverteilung von unten nach oben zugesehen. Das
ist schlichtweg ein Skandal!
({0})
Deswegen fordern wir, Bündnis 90/Die Grünen und die
Linke, die Einsetzung eines Sonderermittlers, damit endlich lückenlos aufgeklärt wird, warum so lange nichts
unternommen wurde. „Im Dunkeln ist gut munkeln“,
sagt ein Sprichwort. Von diesem scheint sich die Bundesregierung leiten zu lassen, weil sie nämlich offensichtlich kein Interesse an der Aufklärung hat. Das lassen wir Ihnen so nicht weiter durchgehen.
({1})
Bereits vor zwei Jahren hatte die Linke eine klitzekleine Anfrage zu diesem Thema gestellt. In seiner Antwort behauptete Schäubles Ministerium, erst seit 2009
von Cum-Ex-Geschäften über ausländische Banken gewusst zu haben. Ich frage Sie: Wer hat dem Minister den
Hinweis des Bankenverbands von 2002 vorenthalten?
Das ist doch nicht mehr zu fassen!
({2})
Aber es kommt noch schlimmer: In der Antwort auf
eine Anfrage der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
behauptet die Bundesregierung, in dem Schreiben des
Bundesverbands von 2002 sei ja nur auf die abstrakte
Möglichkeit dieser Geschäfte hingewiesen worden, nicht
aber darauf, dass auch die Gefahr bestehen könnte, dass
jemand diese Möglichkeit nutzt.
({3})
Meine Damen und Herren, bei allem Respekt, das ist
doch lächerlich und an Naivität nicht zu überbieten.
({4})
Es ist allseits bekannt, dass auf den Finanzmärkten
selbstverständlich jede Möglichkeit ausgelotet wird, um
Profite zu machen. Das sollte sich auch bis zum jeweiligen Finanzminister herumgesprochen haben.
Bei Menschen, die Hartz IV beziehen, wird streng
kontrolliert, ob ja kein Cent zu viel hinzuverdient wird.
Aber wenn bei den Cum-Ex-Geschäften der Superreichen ein paar Milliarden Euro unter die Räder kommen,
lehnen Sie es ab, genau hinzuschauen.
Es besteht dringender Anlass, die Versäumnisse im
Finanzministerium hier endlich aufzuarbeiten.
({5})
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke sind jedenfalls
gewillt, das zu tun. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben ein Recht darauf, zu erfahren, wer zu verantworten hat, dass Geld an Banken und Superreiche
verschenkt worden ist.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Pitterle. - Nächster Redner in der Debatte: Lothar Binding für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich irritiert ein wenig die Aufregung über eine Regelungslücke, die man
schließen musste, im Verhältnis zu der Aufregung über
die Tatsache, dass es Steuerbetrug gibt. Ich meine, dass
der Steuerbetrug eine größere Aufregung verdient als
das Bestehen einer Regelungslücke.
Wenn ich mich richtig erinnere, wurde eben vorgetragen, dass diese Cum-Ex-Geschäfte eigentlich schon weit
zurückreichen, möglicherweise - ich glaube, Gerhard
Schick hat es gesagt - bis ins Jahr 2002.
({0})
Denken wir einmal zurück: Damals war Christine Scheel
Vorsitzende des Finanzausschusses und verantwortlich.
Wenn ich mich richtig erinnere, hat damals auch die
Linke diese komplexen Gestaltungen entlang der Börsenstichtage bzw. Hauptversammlungen nicht so durchdrungen, dass sie einen Antrag gestellt hätte, diese
Lücke zu schließen. Es gab mehrere Anläufe, das zu tun;
es war hochkomplex.
Ich rege mich über das auf, was da tatsächlich passiert
ist. Das war nur mit den Banken möglich. Da glaubte
man, es sei ein legales Geschäft, einmal eine Steuer zu
bezahlen und dann, weil wir eigentlich faire Regelungen
der Rückerstattung haben, eine Gestaltung zu wählen,
bei der man den Betrag zweimal zurückbekommt. Man
vergriff sich gewissermaßen am Staatsschatz, betrog die
Gemeinschaft. Das ist, finde ich, ein Verhalten, bei dem
sich von selbst verstehen muss, dass es nicht in Ordnung
ist. Dahin gehört die Aufregung eigentlich. Da müssen
wir sehr viel schärfer zugreifen. Ich würde sagen: Das ist
strafwürdiges Unrecht.
({1})
In Juristenkreisen wird das gelegentlich ein bisschen
bestritten. Man sagt: Das war ja rechtsförmlich zulässig.
- Ich muss sagen: Es gibt Dinge, die sich von selbst verbieten. - Professor Seher hat den Begriff des Erfolgsunrechts benutzt. Das verstehe ich so: Wenn man im Unrecht angekommen ist, hatte man Erfolg. - Das ist eine
wunderbare Definition dafür, wie man sich im Unrecht
bereichern kann und das dann rechtsförmlich rechtfertigt. Da mache ich nicht mit. Das ist für mich nicht einzusehen.
({2})
Selbst wenn der Gesetzgeber zu spät etwas verboten
hat - das stimmt -, was sich eigentlich von selbst verbietet, selbst wenn die Finanzverwaltung zu spät erkannt
hat, wie diese komplexen Vorgänge funktionieren, selbst
wenn das alles wahr ist: Ein privater Investor muss sich
von einem leistungslosen Parasiten unterscheiden, und
das ist hier nicht mehr der Fall. Deshalb wollen wir dagegen vorgehen.
Ich bin Minister Schäuble dankbar, dass er es geschafft hat, jetzt in einem dritten Schritt diese Lücke
wirklich zu schließen. Wie hat er das gemacht? Durch
ein vollständiges Umstellen des Erstattungssystems in
der Körperschaftsteuer! Das war ein sehr großes Rad.
Bisher war es so, dass die die Kapitalertragsteuer an den
Fiskus abführende Stelle eine andere war als die Stelle,
die die Kapitalertragsteuerzahlung bescheinigte. Wenn
zwei Funktionen so auseinanderfallen, kann es sein, dass
die Beteiligten nicht genug voneinander wissen und dass
Menschen das ausnutzen. Für mich ist die eigentliche
Kritik auf die zu richten, die es ausgenutzt haben in dem
Wissen, dass es rechtswidrig ist.
({3})
- Das brauchen wir nicht aufzuarbeiten, weil alles aufgearbeitet ist. Es gibt hinreichend Transparenz. Es gibt sogar eine Personalaufstockung beim Bundesamt für Steuern. Es gibt hinsichtlich Cum-Ex-Geschäften eine
Unterstützung der Länder seitens des Bundes. Es ist eigentlich alles transparent. Wir waren in den drei gesetzgeberischen Verfahren hinreichend beteiligt wie auch bei
der Erarbeitung der jüngsten Lösungsvorschläge.
Der Blick zurück hilft hier überhaupt nicht weiter.
({4})
Lasst uns doch nach vorne schauen. Was passiert denn
gegenwärtig? Ich frage einmal die Grünen, insbesondere
Gerhard Schick: Passiert denn gegenwärtig in ähnlicher
Weise irgendetwas wie vor zwölf Jahren, das wir jetzt
nicht erkennen? Lasst uns doch danach suchen, was jetzt
passiert und was es an zukünftigen Aufgaben gibt.
Herr Kollege Binding, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schick zu oder nicht?
Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen,
({0})
weil ich denke, dass es schon sehr spät ist. Wir werden
das hier ja noch mehrfach behandeln, weil es ein sehr
großes und wichtiges Thema ist.
Ich glaube auch, dass es hilft, wenn wir schauen, wer
sich rechtfertigen müsste. Keiner kann sich davon freisprechen, es nicht rechtzeitig reguliert zu haben.
({1})
Weder ihr von den Linken noch wir noch ihr von den
Grünen oder ihr von der CDU/CSU. Niemand. Insofern
tragen wir alle die gleiche Verantwortung.
Aufzuklären gibt es nichts. Was ist denn offen? Die
technischen Fragen zu klären, ist eine relativ einfache
Angelegenheit. Wenn wir aber heute die technischen
Fragestellungen klären - manche Leute fragen sich ja,
warum das Cum-Ex-Geschäfte heißt; das kann ich gerne
noch erklären -, dann entdecken solch skrupellose
Leute, die es bisher schon ausgenutzt haben, morgen
eine neue Technik, weil es uns in einer unmoralischen
Gesellschaft nie gelingen wird, alles so zu regulieren,
Lothar Binding ({2})
dass kein Gauner mehr eine Chance hat, das auszunutzen.
({3})
Auch wenn es rechtsförmlich oder legal ist, ist das nicht
in Ordnung.
({4})
Es heißt eben deshalb Cum-Ex-Trade bzw. Cum-ExGeschäft, weil es darum geht, dass Leute unmittelbar vor
einer Hauptversammlung Aktien verkaufen, mitunter
kombiniert mit Auslandsgeschäften und Leerverkäufen,
und zwar mit Dividende, also cum Dividende, die dann
einen Tag nach der Hauptversammlung - das ist der sogenannte Ex-Tag - beim Käufer Dividendenansprüche
generieren, um auf diese Weise durch unterschiedliche
Besitzer der gleichen Aktie doppelte Ansprüche zu erzeugen. Damit wird ein ungerechtfertigter Vorteil erschlichen.
Wenn wir die jetzt vorhandenen Instrumente und die
jetzt gültige Regelung betrachten, dann stellen wir fest ich bin mir gar nicht sicher, dass die Grünen dem nicht
folgen können -, dass es jetzt sehr gut geregelt ist. Es ist
ja auch nicht so, dass im vorliegenden Antrag gesagt
würde, es sei jetzt nicht gut geregelt. Jetzt ist es sehr gut
geregelt, und ich glaube, dass wir damit sehr gut leben
können.
Die Frage ist nun: Was soll eigentlich so ein Sonderermittler machen? Er könnte uns erklären, was in der
Vergangenheit war. Er schreibt einen Aufsatz bzw. ein
Gutachten über die Vergangenheit. Das hilft uns aber für
die Zukunft gar nichts. Das kann uns für zukünftige Fragestellungen nicht helfen, weil das, was da untersucht
würde, ja untersucht ist.
({5})
Ich habe mich nun gefragt, warum das Instrument des
Sonderermittlers beantragt wurde und nicht ein Untersuchungsausschuss. Wir haben doch ein Instrument, das
sehr scharf ist. Man könnte doch einen Untersuchungsausschuss beantragen. Wenn einem diese Sachverhalte
so wichtig sind und so wesentlich erscheinen, könnte
man doch einen Untersuchungsausschuss anstrengen.
Ich fände es spannend, zu sehen, welche Aufgaben dieser sich geben würde. Ich glaube aber, dass auch dieses
Instrument nicht zielführend ist.
Deshalb sollten wir jetzt keinen vordergründigen
Aktionismus an den Tag legen, sondern sensibel
schauen, was gegenwärtig passiert. Wir haben ja den festen Vorsatz, dass uns das nicht wieder passiert.
Schönen Dank.
({6})
Danke, Herr Kollege Binding. - Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Dr. Schick.
Da ich persönlich angesprochen worden bin, möchte
ich es doch noch einmal kurz klarstellen. Ich teile völlig
die Empörung gegenüber den Investoren.
({0})
Diese Form, Geschäfte zu machen, bei denen die Rendite ausschließlich darin besteht, die Öffentlichkeit zu
schädigen, darf nicht vorkommen. Genau deswegen besteht Aufklärungsbedarf; denn diese Geschäftsmodelle
sind auch von öffentlich-rechtlichen Landesbanken betrieben worden. Genau deswegen müssen wir auch auf
der staatlichen Seite dringend schauen, wie so etwas passieren konnte.
({1})
Der zweite Punkt. Es ist argumentiert worden, dass
doch jetzt alles gut sei und wir uns den künftigen Sachen
widmen können. Wenn wir aber nicht wissen, warum es
sein konnte, dass der Finanzaufsicht, dem Fiskus, dem
Finanzministerium und allen Fraktionen so lange Zeit
das Problem, das so große Ausmaße hat, nicht bekannt
geworden ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass die
Schweinereien, die heute passieren, auch unter unserem
Radar bleiben.
({2})
Deswegen ist es unsere Verantwortung, die Defizite aufzuarbeiten, um dies künftig zu verhindern; denn die Ressourcen dazu brauchen wir.
({3})
Ein kurzer letzter Punkt. Der Hinweis, dass alle Parteien dies nicht verhindern konnten, zwingt uns, gemeinsam aufzuarbeiten. Und da sollte der Fingerzeig gegen
die anderen unterbleiben. Die Bürger erwarten anderes
von uns.
({4})
Herr Binding, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten. Wenn Sie nicht wollen, dann brauchen Sie auch
nicht.
Doch, ganz kurz. - Ich will nur ganz kurz erwidern,
weil ich in keinem einzigen Punkt mit Ausnahme des
Verfahrens widerspreche. Lassen Sie uns die Gegenwart
untersuchen und nicht mit Blick auf eine aufgeklärte
Vergangenheit Bekanntes reflektieren.
({0})
Vielen Dank, Herr Binding. - Der letzte Redner in
dieser Debatte ist Philipp Graf Lerchenfeld für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Präsidentin!
Hohes Haus! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Gäste sind nicht mehr zu begrüßen, verständlicherweise.
({0})
Ich denke, heute haben wir eine hohe moralische Entrüstung gesehen. Ich verstehe das, lieber Kollege Schick,
was Sie hier gesagt haben. Ich glaube, wir müssen uns
ganz klar darüber sein, dass Betrug immer möglich ist,
dass kriminelle Handlungen natürlich auch möglich sind
und dass solche Dinge erst nach einem gewissen Zeitablauf entdeckt werden. Wir sind uns vollkommen klar darüber. Nehmen wir zum Beispiel eine Betriebsprüfung.
Hier haben wir meistens Betriebsprüfungszeiträume von
fünf Jahren. Wir haben darüber hinaus noch entsprechende Finanzklagen. Wir haben entsprechende Dinge,
die das Ganze zeitlich verzögern. Deswegen sind durchaus Reaktionen auf entsprechende betrügerische Fälle
erst mit Verzögerung zu erwarten.
Ich glaube, es sind mittlerweile sämtliche Maßnahmen ergriffen worden, um diese Probleme zu erhellen,
um diese Probleme tatsächlich auszugrenzen. Im Jahr
2007 ist im Jahressteuergesetz der erste Bruch gemacht
worden, indem man gesagt hat, dass inländische Geschäfte so nicht mehr abgewickelt werden können. Im
Jahr 2012 hat man durch ein weiteres Gesetz verhindert,
dass solche Geschäfte mit ausländischen Banken und
Geschäfte, die ohne Intermediär stattfinden, unterbunden
wurden. Somit ist die Frage, die Sie in Ihrem Antrag gestellt haben, ob die getroffenen Maßnahmen zur Schadensbegrenzung adäquat sind, eigentlich gelöst.
Die zweite Frage, die sich stellt, ist: Sie wollen einen
Sonderermittler einführen. Unsere Verfassung kennt das
Instrument des Sonderermittlers eigentlich nicht. Wir haben, wie der Kollege vorhin richtig ausgeführt hat, das
Instrument des Untersuchungsausschusses. Hier können
wir als Parlament entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Das wäre durchaus überlegenswert.
({1})
Nur glaube ich, dass mittlerweile mit großer Sorgsamkeit vonseiten des Finanzministeriums reagiert wurde.
Man muss sich auch darüber klar sein, dass Cum-ExTransaktionen hochgradig komplizierte Dinge sind, die
nur mit hohem Sachverstand und mit exzellentem Wissen tatsächlich geprüft werden können. Das geht nicht
einfach so durch - ich sage einmal - irgendeinen Finanzbeamten. Das Bundeszentralamt für Steuern hat zusätzlich personelle Ressourcen bereitgestellt, damit zum
Beispiel auffällige Erstattungserträge auch aus der Vergangenheit geprüft werden können. Den Bundesländern
wurde in diesem Zusammenhang vom Bundeszentralamt
noch eine Unterstützung bei Außenprüfungen angeboten. Letztlich findet jetzt ein vernünftiger Wissenstransfer zwischen Bund und Ländern statt, der genau diesen
Sachverhalten entsprechend Rechnung trägt.
Ich denke, man sieht aber auch, dass immer wieder
Vergangenheitsfälle neu aufgedeckt werden, weil sie zu
den vorherigen Fällen unterschiedlich waren. Das führt
zu entsprechenden Strafmaßnahmen und Steuerzahlungen. Der deutsche Fiskus wird sich hier sicherlich schadlos halten.
Ein besonders augenfälliger Streitfall in diesem Zusammenhang ist im Moment die Klage von verschiedenen Steuerpflichtigen gegen die Bank Sarasin in der
Schweiz: Mehrere Kläger verlangen von der Bank Schadensersatz in Millionenhöhe, weil sie bei diesen Geschäften angeblich falsch beraten worden sind. Die Bank
Sarasin in Basel hatte das Cum-Ex-Vehikel im Frühling
2010 aufgebaut, genau mit dem Ziel, dafür in Deutschland groß zu werben und es hier zu vermarkten. Jetzt sehen sich die Bank und ihr privater Eigentümer entsprechend umfänglichen Ermittlungen schweizerischer und
deutscher Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt.
Liebe Kollegen, die Finanzverwaltung war grundsätzlich immer der Auffassung, dass es sich bei diesen Geschäften nicht um ein Modell zur steuerlichen Gestaltung, sondern um unzulässige Gestaltungen oder - wie
der Kollege Gutting vorhin ganz richtig gesagt hat - um
Betrug handelt. Diese Haltung ist Gott sei Dank mittlerweile vom BFH bestätigt worden.
({2})
Die frühen Hinweise, die ursprünglich gegeben worden sind, waren so unkonkret, dass man wirklich nicht
erkennen konnte, was da tatsächlich vorgegangen ist.
Die Ausgestaltung der Modelle wurde insgesamt möglichst groß verschleiert, damit eine Aufdeckung schwierig wurde.
Es ist meiner Ansicht nach nicht notwendig, die vergangenen Sachverhalte zu prüfen. Vielmehr müssen wir
uns im Klaren darüber sein, dass hier alle Maßnahmen
richtig ergriffen worden sind. Ihr Antrag ist deswegen
nicht notwendig und damit abzulehnen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Graf Lerchenfeld.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3735 an den Finanzausschuss vorge-
schlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Vizepräsidentin Claudia Roth
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Einrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungs-
professur für Friedenspolitik und Völker-
recht
Drucksachen 18/1329, 18/1643
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der
Universität Bonn verhindern
Drucksachen 18/1330, 18/1642
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einrich-
tung einer Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Frie-
denspolitik und Völkerrecht“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1643,
1) Anlage 3
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/
1329 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von der
Linken und Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der Universität Bonn verhindern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1642, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/1330 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Gegenstimmen von den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 16. Januar 2015, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, was
immer Sie machen, noch einen schönen, friedlichen, hedonistischen Donnerstagabend.