Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
zu unserer Plenarsitzung.
Unser erster Tagesordnungspunkt ist der TOP 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Artur
Auernhammer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Sabine Poschmann, Niels
Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Der deutsche Meisterbrief - Erfolgreiche Unternehmerqualifizierung, Basis für handwerkliche Qualität und besondere Bedeutung für
die duale Ausbildung
Drucksache 18/3317
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ganz offenkundig gibt es dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Poschmann für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Gütesiegel „Made in Germany“ ist ein Exportschlager der deutschen Wirtschaft. Es steht für hohe Qualität
deutscher Produkte und Dienstleistungen, die weltweit
Anerkennung finden. Aber nicht nur das „Made in Germany“ ist zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor
geworden. Auch unser Meisterbrief ist ein Wettbewerbsfaktor und gleichzeitig das Fundament des Erfolges.
({0})
Er bietet jungen Menschen eine Perspektive und vermittelt hohe Qualifikation. Er trägt zur Fachkräftesicherung
bei und macht das Handwerk zum Innovationsmotor der
deutschen Wirtschaft. Für viele unserer europäischen
Nachbarn gilt deshalb unser duales Ausbildungssystem
als Vorzeigemodell.
({1})
Die EU fordert Deutschland nun auf, die Bedingungen
für den Zugang zu bestimmten Berufen zu prüfen, um
Beschränkungen auf dem europäischen Binnenmarkt abzubauen. Das heißt, dass auch der Meisterbrief zur Disposition steht.
({2})
Schauen wir uns vor diesem Hintergrund die Effekte
der Handwerksnovelle von 2004 an, bei der ein Teil der
Gewerke von der Zulassungspflicht befreit wurde. Die
Novelle hat zwar zu einem Gründerboom im Handwerk
geführt; dies waren aber meist Kleinstbetriebe - oft Soloselbstständige - mit geringer Wettbewerbsfähigkeit
und wenig Personal. Mehr als die Hälfte dieser Betriebe
war innerhalb von fünf Jahren wieder vom Markt verschwunden. Die Ausbildung im Handwerk findet heute
zu 95 Prozent in den Gewerken statt, die meisterpflichtig
sind, und nur zu 5 Prozent in den zulassungsfreien Gewerken. Bevor diese Gewerke von der Meisterpflicht befreit wurden, wurden in ihnen erheblich mehr junge
Menschen ausgebildet. Das ist die Gefahr: Ohne Meister,
ohne fachliche Eignung sind viele Betriebe gar nicht
ausbildungsfähig.
({3})
Das stellt letztlich einen großen Teil unseres Ausbildungssystems infrage.
Wir fordern deshalb in unserem Antrag, an unseren
Standards festzuhalten. Wir wollen dafür sorgen, dass
notwendige Harmonisierungen in einem Europa ohne
Grenzen keine Abwärtsspirale bei der beruflichen Qualifizierung in Gang setzen. Wenn es um den Abbau von
Zutrittsbarrieren auf dem europäischen Binnenmarkt
geht, ist der Meisterbrief für uns kein Verhandlungsgegenstand.
({4})
Es geht nicht darum, andere Modelle totzureden oder per
se zu verwerfen. Doch auch die EU muss anerkennen,
dass Deutschland neben der Novelle von 2004 bereits einiges getan hat, um Wettbewerbshindernisse abzubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun muss es uns gemeinsam darum gehen, diejenigen zu stärken, die sich
hohen Standards im Sinne des Verbrauchers verpflichtet
fühlen, die Ausbildungsplätze schaffen, ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl nachkommen und dazu beitragen, unseren Wohlstand zu erwirtschaften und zu sichern.
Dazu gehört weit mehr als der Erhalt des Meisterbriefes
als Zulassungsvoraussetzung. Aus diesem Grund haben
wir weitere 15 Ziele definiert, die das Handwerk und die
duale Ausbildung stärken sollen.
Ein Punkt ist der Technologietransfer. Wir müssen die
Nutzbarkeit von Produkt- und Prozessinnovationen aus
Forschung und Industrie für das Handwerk stärker unterstützen; denn gerade für das Handwerk sind neue Werkstoffe, neue Medien, neue Dienstleistungen und ein
neues Design harte Wettbewerbsfaktoren. In die Kooperation und den Austausch, den wir bisher zwischen
Hochschulen und Industrie gestärkt haben, muss das
Handwerk mehr einbezogen werden. Dadurch können
Kundenerfahrungen und praktische Kenntnisse in Innovationen einfließen und kann das hohe Qualifikationsniveau im Handwerk erhalten werden. Eine wichtige Rolle
kommt hierbei den überbetrieblichen Lehrlingsunterweisungen zu. Sie sind ein wichtiges Instrument im Handwerk, damit Technologietransfer funktioniert. Deshalb
setzen wir uns für eine dauerhafte hohe Bundesförderung ein.
({5})
Zum heutigen Tag des Ehrenamtes möchte ich auf
eine weitere Forderung in unserem Antrag aufmerksam
machen, nämlich das Ehrenamt im Interesse der beruflichen Bildung noch stärker zu unterstützen.
({6})
Die vielen ehrenamtlichen Prüfer gemäß Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung sichern die Qualität der
Ausbildung und gewährleisten so einen stetigen Nachschub an Fachkräften. Der DGB geht von 15 Millionen Euro aus, die Arbeitnehmervertreter im Handwerk
durch ihre Tätigkeit an Nettonutzen für Kammern und
Innungen erarbeiten. Bei diesem Nutzen sollten wir auch
an die Qualifizierung der Ehrenamtlichen denken und
ein entsprechendes Förderangebot bereitstellen.
({7})
Allein im Handwerk wurden im letzten Jahr über
100 000 Gesellen- und Abschlussprüfungen abgenommen.
Es ist meist nicht die geringe Aufwandsentschädigung
oder die Freistellung, die ihr Engagement bestimmen, sondern es ist die Anerkennung - unsere Anerkennung und der eigene Qualifikationserhalt, der sie antreibt, sich
ehrenamtlich auf diesem Gebiet zu betätigen. Den ehrenamtlichen Prüfern, aber auch den vielen Ehrenamtlichen
in den Vollversammlungen und Ausschüssen der Kammern sage ich am heutigen Tag des Ehrenamtes von dieser Stelle ein herzliches Dankeschön.
({8})
Die Stärkung der Sozialpartnerschaft und der Tarifbindung ist eine weitere wichtige Forderung in unserem
Antrag. Sie sind in Deutschland von großer Bedeutung,
haben sie doch in der Vergangenheit für Konsens gesorgt
und sind wesentliche Faktoren für den Erfolg der deutschen Wirtschaft. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels ist es besonders wichtig, gemeinsame Anreize
für potenzielle Auszubildende und Fachkräfte zu schaffen. Gute Arbeitsbedingungen, gerechte Bezahlung sowie
gute Übernahme- und Aufstiegschancen sind notwendig,
um im Wettbewerb mit anderen Branchen Fachkräfte
langfristig an sich zu binden. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie haben wir einen großen Schritt
in diese Richtung geschafft.
({9})
Doch wir sehen weiteren Handlungsbedarf für Innungen
und Verbände, um Instrumenten der Tarifflucht zu begegnen. Zum Beispiel sollten Mitgliedschaften ohne Tarifbindung grundsätzlich ausgeschlossen sein.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Koalitionsantrag ist Teil einer mittelstandsfreundlichen Politik, die
wir in dieser Legislaturperiode ganz oben auf die
Agenda setzen. Er ist ein weiterer Eckpfeiler auf unserem Weg, Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und
Beschäftigung in der mittelständischen Wirtschaft auf
Dauer zu sichern und zu stärken. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Handwerksbetriebe auch in Zukunft anspruchsvollen Qualitätsstandards gerecht werden und dass das bestehende duale Ausbildungssystem
auf hohem Niveau fortgeführt wird.
({11})
Der „Meister“, meine Damen und Herren, muss eines
der Qualitätsmerkmale Deutschlands bleiben.
Herzlichen Dank.
({12})
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist gut, dass wir diesen Antrag hier behandeln. Es ist auch gut, dass wir das Handwerk würdigen.
Vieles in Ihrem Antrag können wir mittragen, insbesondere die Kritik an der Handwerksnovelle 2004, die eben
auch zum Ausdruck kam. Es freut mich sehr, dass es da
wohl einen Meinungsumschwung bei den Sozialdemokraten gab. Daher ein kurzer Rückblick.
Worum ging es damals? Ich habe es in den alten Protokollen mit Freude nachgelesen und festgestellt: Das
war ja die Zeit, in der Rot-Grün alles deregulieren wollte
und auch vieles davon umgesetzt hat - von der Arbeit
bis zu den Finanzmärkten. Auch die Handwerksordnung
blieb damals nicht ausgenommen. Es war der heute von
Ihnen nicht mehr so geliebte Herr Clement, der ja aus
der Partei ausgeschieden ist - nach mehreren Ausschlussanträgen ist er ausgetreten -, der 2004 diese Novelle begründet hat.
Wie war der Zustand bis 2004? Bis 2004 war es üblich, dass man für das Betreiben eines Handwerksbetriebs einen Meisterbrief brauchte. Übrigens war die
CDU/CSU damals mit der Reform nicht einverstanden;
sie hatte eine andere Haltung. Ich fand das gut, als ich
das in den Protokollen gelesen habe.
({0})
Mit der gesetzlichen Änderung wurde für mehr als die
Hälfte der Gewerke die Meisterpflicht als Voraussetzung
für das Betreiben eines Handwerksbetriebs abgeschafft.
Heute ist für viele Bereiche nicht einmal mehr ein Gesellenbrief notwendig. Einige Beispiele und Blüten: Ein
Maler und Lackierer braucht bis heute einen Meisterbrief, ein Fliesenleger nicht. Ebenfalls muss ein Feinwerkmechaniker Meister sein, ein Uhrmacher nicht. Ein
Schuhmacher muss kein Meister sein, ein Orthopädieschuhmacher schon. Ein Friseur muss Meister sein - das
gilt natürlich auch für Friseurinnen -, ein Feinoptiker
nicht. - Welchen Unfug haben Sie damals eigentlich beschlossen?
({1})
Bis heute sind die betroffenen Menschen, die Handwerker, über diese Entwicklung stinksauer, und zwar zu
Recht, weil es absolut unlogisch ist.
Meine Damen und Herren, es war nicht alles schlecht:
Langjährige Berufserfahrung wurde aufgewertet, und das
Inhaberprinzip, nach dem der Inhaber des Betriebes unbedingt auch Meister sein musste, wurde mit der Novelle
abgeschafft. Aber im Kern haben Sie - das betrifft die
SPD, aber auch die Grünen, die damals mit im Boot waren - mit diesem Gesetz das Handwerk und damit auch
die qualifizierte Ausbildung massiv geschwächt. Diesen
Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen.
({2})
Heute haben die Kunden, die einen Handwerker beauftragen, nicht mehr die Gewähr, dass sie einen ausgebildeten Fachmann bekommen. Wir stimmen ausdrücklich mit Ihrem Antrag überein: Der Erfolg der dualen
Ausbildung im Handwerk hängt mit der Meisterqualifikation zusammen. In Ihrem Antrag schreiben Sie - lassen Sie mich daraus zitieren -:
… die Zahl der Gesellenprüfungen im nicht mehr
meisterpflichtigen Fliesen-, Platten- und Mosaiklegerhandwerk ging von 1.665 im Jahr 2003 auf 658
im Jahr 2010 zurück. … die Zahl der Meisterprüfungen von 557 auf 84.
Selbstverständlich hat das Auswirkungen auf die erbrachte Arbeit.
Sie halten in Bezug auf die Handwerksnovelle auch
fest - ich zitiere -, „dass Deregulierung nicht zwangsläufig zu einem Wachstumsschub und … mehr Beschäftigung führt“. Ich wiederhole es, weil es so schön ist:
Deregulierung führt nicht zwangsläufig zu einem
Wachstumsschub und mehr Beschäftigung. - Das gilt allerdings nicht nur für das Handwerk; das gilt auch für
andere Bereiche.
({3})
Sie sollten sich den Satz aus Ihrem Antrag wirklich zu
Gemüte führen.
2003 forderten Sie noch für die meisterfreigestellten
Gewerke - ich zitiere -:
Zumindest … müssen die Gesellenprüfung und die
Ausbildereignungsqualifikation nachgewiesen werden.
Sie forderten eine Revisionsklausel. Alle sieben Jahre
sollte die geltende Liste der Meisterberufe überprüft
werden. Seit 2005 ist die CDU/CSU mit an der Macht.
Was ist mit Ihren Forderungen von damals? Ich hätte
mich gefreut, wenn Sie in Ihren Antrag die Forderung
aufgenommen hätten, die Liste zu überprüfen oder das
zu revidieren. Aber nein, das bleiben Sie in Ihrem Antrag schuldig. Einen entsprechenden Antrag von uns haben Sie abgelehnt.
Dabei gibt es seit 2004 viele offene Fragen, die damals auch hier im Bundestag diskutiert worden sind. Einige davon möchte ich Ihnen noch einmal stellen: Wie
viele der nicht mehr meisterpflichtigen Gewerke werden
noch von einem Meister geführt? Hat die Freiwilligkeit,
einen Meister zu machen, irgendeine Auswirkung gehabt? Wie wirkt sich die Novelle auf die Ausbildungsleistung aus? Wie wirkt sich die Novelle auf die Qualität
der Arbeit aus? Wie wirkt sich die Novelle auf die Beschäftigung und insbesondere auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus? - Alle diese Fragen
stehen im Raum. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie in Ihrem Antrag ein Stück weit in diese Richtung diskutiert
hätten.
Ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren: Wer
den Meisterbrief verteidigen will, tut das am besten, indem er innerhalb der Organisation des Handwerks, den
Handwerkskammern, für demokratische Zustände sorgt.
Auch das erhöht die Glaubwürdigkeit gegenüber der Europäischen Union. Da haben wir einen Nachholbedarf;
das wissen Sie. Man braucht nur die Presse zu lesen, um
zu wissen, was da zum Teil intern los ist.
In Ihrem Antrag fordern Sie von der Bundesregierung, also eigentlich von sich selber, das Handwerk vor
dem Zugriff der Europäischen Union zu schützen. Richtig; das teilen wir völlig. Aber was ist denn, wenn die
internationalen Handelsabkommen CETA und TTIP tatsächlich kommen? Können Sie ausschließen, dass die
Handwerksordnung im Rahmen dieser Handelsabkommen nicht als klassische Marktzugangsschranke für
Amerikaner und Kanadier gewertet wird? Können Sie
ausschließen, dass die verbleibenden 41 Gewerke, für
die ein Meisterbrief und damit eine vernünftige Qualifikation im Interesse der Kunden erforderlich ist, nicht
auch als Handelsschranke angesehen werden? - Meine
Damen und Herren, das können Sie nicht. Trotzdem befürworten Sie diese Handelsabkommen. Das ist ein Problem. Darüber müssen Sie einmal nachdenken.
Meine Damen und Herren, Sie promoten eine möglichst weitgehende Liberalisierung und Deregulierung
und wundern sich am Ende, dass genau diese Liberalisierung und Deregulierung den Meisterbrief und andere
Standards gefährden. So gut Ihr Antrag auch gemeint
sein mag: Ihre Politik geht nach dem Motto „Mitmachen, um Schlimmeres zu verhindern“, „Das haben wir
nicht gewollt“ und zum Schluss „Wie konnte es dazu
kommen?“.
({4})
Ich hoffe, dass Sie bezüglich der Handelsabkommen
noch einmal darüber nachdenken.
Meine Damen und Herren, Ihr Antrag geht in die richtige Richtung. Er wäre glaubwürdiger und meines Erachtens für das Handwerk erfolgreicher, wenn Sie versuchen würden, den Unsinn von 2004 zu korrigieren. Sie
von der CDU/CSU wollten das damals. Inzwischen sind
Sie mit der SPD in einer Koalition. Die machen sicher
mit.
Danke fürs Zuhören.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin
Lena Strothmann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Verachtet
mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“, so heißt
es in den Meistersingern von Nürnberg. Dieser Aufruf
begleitet das Handwerk nun schon fast 150 Jahre, und er
hat an Bedeutung nicht verloren. Im Gegenteil: Er ist aktueller denn je, würde ich sagen; denn gerade jetzt fährt
die EU-Kommission in Brüssel einen Frontalangriff auf
das deutsche Meisterhandwerk.
Meine Damen und Herren, der Meisterbrief ist die Erfolgsgeschichte des Handwerks. Trotzdem, muss ich sagen, fehlt mir manchmal seine gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung.
({0})
Der Meisterbrief ist wesentlich mehr als nur ein Zertifikat. Er ist das Markenzeichen des deutschen Handwerks.
Er steht für hochwertige Qualifizierung, für fachliches
Können, für ausgezeichnete Produkte und Dienstleistungen und vor allen Dingen für Ausbildung und hochqualifizierten Nachwuchs.
Was macht den Meisterbrief eigentlich so erfolgreich?
Es ist die Qualifizierung an unseren Meisterschulen.
Hier erhält der Handwerker das erforderliche Rüstzeug
zum erfolgreichen Unternehmertum: betriebswirtschaftliche, kaufmännische und rechtliche Kenntnisse. Eine
Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung hat ergeben: 40 Prozent der Betriebe ohne
Meister sind nach fünf Jahren insolvent, weil die Inhaber
in dem jeweiligen Bereich nicht die nötigen Kenntnisse
haben. Die Meisterbetriebe dagegen sind insolvenzfest.
Zum Erfolg gehört natürlich auch die fachliche Kompetenz, das Können und Wissen des Meisters. Das ist die
Basis für hohe Qualität der Dienstleistungen und Produkte. Das garantiert vor allen Dingen hohen Verbraucherschutz, und zwar mit großem Erfolg; denn das weltweit anerkannte „Made in Germany“ wird entscheidend
auch vom deutschen Handwerk geprägt.
({1})
Hierzulande vertrauen die Verbraucher auf das Können
der Meister.
Die Meisterschule sorgt aber nicht nur für die Kompetenz des Meisters. Sie macht ihn vor allen Dingen zum
Ausbilder und zur Führungsperson. Ohne Ausbilder gibt
es keinen Nachwuchs, und ohne Nachwuchs gibt es
keine Fachkräfte. Nur gut ausgebildete Leute können ihr
Wissen weitergeben. Deshalb sind es mit 95 Prozent vor
allen Dingen die Meisterbetriebe, die ausbilden. In über
130 Gewerken bilden Handwerksbetriebe in Deutschland rund 400 000 junge Menschen aus.
({2})
Die Ausbildungsquote liegt bei 8 Prozent. Das ist ein
Spitzenwert. Damit ist sie im Vergleich zu Handel und
Industrie immerhin doppelt so hoch. Darauf kann das
deutsche Handwerk stolz sein.
({3})
Auch andere profitieren von unseren gut ausgebildeten Fachkräften. Viele Auszubildende arbeiten nach der
Lehre in anderen Wirtschaftsbereichen. Damit leistet das
Handwerk einen großen Beitrag zur Fachkräftesicherung
der gesamten deutschen Wirtschaft und zur Verringerung
der Jugendarbeitslosigkeit. Diese Quote bei uns liegt bei
7,8 Prozent. Sie ist immer noch zu hoch; aber es ist die
niedrigste in ganz Europa.
Viele andere Mitgliedstaaten beneiden uns um unser
Ausbildungssystem. Die EU-Kommission empfiehlt die
duale Ausbildung den Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit sogar als „best practice“. Auf der anderen Seite
will sie den Meisterbrief als Voraussetzung für Selbstständigkeit abschaffen. Im Rahmen der Transparenzinitiative werden im Augenblick alle reglementierten Berufszugänge in den Mitgliedstaaten überprüft; im Übrigen
hat Deutschland nicht die meisten reglementierten Berufszugänge. Ziel der Kommission ist der vollendete
Binnenmarkt. Durch den Abbau der Reglementierung
sollen in Europa mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze entstehen. Das ist ein gutes Ziel, aber zu kurz gedacht, eine falsche Harmonisierung um jeden Preis. Ich
sage: keine Meister, kein Nachwuchs.
({4})
Wir haben in Deutschland nach der Handwerksnovelle 2004 schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Auch
damals ging es um mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze. Und was ist passiert? Eine fatale Abwärtsspirale
wurde in Gang gesetzt. Nachdem 53 Handwerksberufe
zulassungsfrei wurden, gab es zwar viele Existenzgründer - leider zum großen Teil nur Einmannbetriebe -,
aber die konnten sich, jedenfalls die meisten, nicht lange
am Markt halten.
Eine Studie des Volkswirtschaftlichen Instituts für
Handwerk und Mittelstand belegt: Fünf Jahre nach
Gründung waren 60 Prozent dieser Betriebe vom Markt
verschwunden. Aber das Schlimmste ist: In diesen Gewerken wird nicht ausgebildet. Im Zeitraum von 2003
bis 2010 ging die Zahl der Gesellenprüfungen im Fliesenlegerhandwerk von 1 665 auf 658 zurück. Die Zahl
der Meisterprüfungen sank im gleichen Zeitraum von
557 auf 84. - Nun fehlt uns der Nachwuchs an allen
Ecken und Enden. Das darf sich in Deutschland nicht
wiederholen.
({5})
Deshalb gilt nach wie vor: Wer den Meisterbrief angreift, legt gleichzeitig die Axt an unser erfolgreiches
Ausbildungssystem an. Das muss auch Brüssel begreifen. Der Meisterbrief und die duale Ausbildung gehören
zusammen.
Es ist ein harter Kampf mit der Kommission. Die
Kommission sagt zwar, die Überprüfung sei ergebnisoffen; aber bei einem Prozess, der über zwei Jahre angelegt ist, kann ich das, ehrlich gesagt, nicht ganz glauben.
Ich bin trotzdem optimistisch; denn wir haben gute Argumente und vor allen Dingen gute Leute in den ClusterGesprächen vor Ort.
({6})
Vor allen Dingen bin ich dankbar, dass wir hier, in diesem Hohen Hause, bei diesem Thema eine Allianz haben.
({7})
Wir haben im Koalitionsvertrag klare Aussagen getroffen. Auch der Bundesrat hat sich entsprechend positioniert. Das sind starke Signale an Brüssel.
Für mich ist im Übrigen noch die Frage der Subsidiarität zu klären. Hierzu sage ich ganz deutlich: Der Meisterbrief und die berufliche Bildung sind nationale Angelegenheiten. Ich bin überzeugte Europäerin, sage aber:
Europa wird nicht wettbewerbsfähiger, wenn wir in
Deutschland unsere erfolgreichen Standards aufgeben.
({8})
Zur Wahrheit gehört auch: Nicht die Kommission allein macht der dualen Ausbildung zu schaffen; wir sägen
selber an unseren Grundpfeilern. Aus demografischen
Gründen sinken die Schülerzahlen ständig, und darum
sinken automatisch auch die Auszubildendenzahlen.
Aber nicht nur die Demografie ist schuld daran, dass uns
immer mehr Auszubildende fehlen. Gleichzeitig steigt
die Zahl der Abiturienten und Studierenden rasant an. Im
Jahr 2000 sind noch ein Drittel der Schulabgänger an die
Unis gegangen und zwei Drittel in die berufliche Bildung. 2020 wird es genau umgekehrt sein. So sagen es
jedenfalls Prognosen. Wenn wir einmal genau überlegen,
stellen wir fest: Bis 2020 ist es nicht mehr lange hin.
Ich frage mich: Wo sollen eigentlich unsere Fachkräfte herkommen? Natürlich muss sich die Wirtschaft
intensiver um ihren Nachwuchs kümmern; das ist keine
Frage, schließlich steht die Existenz unserer Betriebe auf
dem Spiel. Aber nicht nur die Wirtschaft ist gefordert,
sondern wir alle. Wir brauchen ein neues Bildungsverständnis. Auf dem Papier sind Meister und Bachelor
gleich. Aber die Wirklichkeit sieht, wenn wir ehrlich
sind, anders aus. Für viele Schulabgänger, Eltern und
Lehrer ist die duale Ausbildung nur zweite Wahl. Diesen
Trend hat Professor Nida-Rümelin treffend als Akademisierungswahn bezeichnet. Ich sehe das auch so. Dieser
Trend ist gefährlich für unser Land. Die duale Ausbildung ist der Lebensnerv und der Erfolgsgarant für die
gesamte mittelständische Wirtschaft. Wenn uns heute die
Auszubildenden fehlen, dann fehlen uns morgen die
Fachkräfte. Hier steht also nicht nur die Zukunft des
Handwerks auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unseres Landes, um Wachstum und Wohlstand.
({9})
Diese Situation muss sich ändern - ich glaube, es ist
schon fünf nach zwölf -, sonst werden wir die großen
Zukunftsaufgaben wie die Energiewende oder die Digitalisierung nicht meistern können. NAPE können wir
dann auch gleich einstampfen; denn die Gebäudesanierung ist ohne das Handwerk nicht zu machen. Deshalb
fordere ich ganz klar: Wir brauchen mehr Meister statt
Master.
({10})
Die berufliche Bildung muss stärker gefördert werden. Wir haben viel Geld in den Hochschulpakt und die
Exzellenzinitiative gesteckt. Ich sage: Wir brauchen Exzellenz in der beruflichen Bildung. Es muss in die Köpfe
der Lehrer, Eltern und Schüler: Ein Studium ist nicht immer der Königsweg. 30 Prozent brechen ihr Studium an
einer Universität ab, Tendenz steigend. Da läuft doch etwas schief. Vor allen Dingen schützt ein Universitätsabschluss nicht unbedingt vor schlechter Bezahlung; auch
das muss einmal gesagt werden. Wir haben viele junge
Akademiker, die die Hälfte von dem verdienen, was
heute ein Elektromeister oder ein Installateurmeister verdient.
({11})
Leider setzen sich noch zu wenige Menschen mit den
einzelnen Berufsbildern im Handwerk auseinander, gerade am Gymnasium. Da muss in Sachen Berufsorientierung mehr getan werden. Hier sind die Länder gefragt.
Laut einer Studie der Vodafone-Stiftung fühlt sich nur
gut die Hälfte der Schüler über ihre Möglichkeiten ausreichend informiert. Das ist deutlich zu wenig. Viele
wissen gar nicht, was das Handwerk bietet: mehr als
130 Ausbildungsberufe. Das Handwerk ist innovativ,
das Handwerk ist kreativ, und das Handwerk ist vor allen
Dingen Hightech. Vergessen Sie einfach einmal die Bilder von schmutzigen Kfz-Werkstätten und verschmierten Schraubern in Blaumännern. Vergessen Sie die Elektriker, die die Kabel im Haus verlegen. Heute müssen
Installateure und Elektriker auf Knopfdruck Gebäude
automatisieren. Das nennt man Smart Home.
Zu unseren Hochqualifizierten - davon bin ich fest
überzeugt - gehören nicht nur unsere Akademiker, sondern auch die Techniker und Meister.
({12})
Das müssen auch Eltern, Lehrer und Schüler begreifen. Das Handwerk bietet viele individuelle Karrieremöglichkeiten, von der Ausbildung über das Studium bis
hin zur Chance, ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Wir haben die Durchlässigkeit im Handwerk. Nur, viele
wissen das noch nicht. Auch wir hier im Hohen Hause
müssen umdenken.
Ich bin fest davon überzeugt: Bildungspolitik ist
knallharte Wirtschaftspolitik. Ohne Fachkräfte läuft in
Deutschland bald nichts mehr. Deshalb müssen wir alle
Potenziale für die berufliche Bildung nutzen: Wir müssen die Studienabbrecher gewinnen. Ich finde, das ist
eine gute Initiative von Ministerin Wanka. Außerdem
haben wir jedes Jahr 50 000 Jugendliche, die die Schule
ohne Abschluss verlassen. Auch die müssen wir auffangen. Hier schlummern unentdeckte Talente. Wir sind sicherlich mit der assistierten Ausbildung auf dem richtigen Weg.
Lassen Sie mich zum Schluss aber noch sagen: Die
Wirtschaft ist kein Reparaturbetrieb für schulische Defizite. In den Schulen muss mehr getan werden. Rechnen,
Schreiben und Lesen kann man wohl von den Schülern
verlangen, wenn sie einen Abschluss haben.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen unserer
Zeit. Aber es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Deswegen heißt es jetzt gemeinsam anpacken.
Gott schütze das ehrbare Handwerk.
({13})
Thomas Gambke ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Feststellung muss ich am Anfang treffen, nachdem wir Ihren
Antrag gelesen haben.
({0})
Die gelb markierten Stellen stammen original vom Zentralverband des Deutschen Handwerks.
({1})
Dieses Papier ist auf den Februar dieses Jahres datiert.
Ich habe diese Stellen markiert. Sie haben wörtlich an
15 Stellen Textpassagen übernommen.
({2})
Wie das bei Plagiaten so ist, Herr Oppermann: Das Abschreiben ehrt den Autor, aber nicht den Plagiator.
({3})
180 Abgeordnete von Ihnen haben unterschrieben;
ich halte es für ein Trauerspiel,
({4})
dass Ihnen wirtschaftspolitisch nichts anderes einfällt,
als Verbandspositionen eins zu eins in einen Antrag des
Deutschen Bundestages zu übernehmen.
({5})
Ich finde: Das ist unserem Parlament unwürdig, und ich
hoffe, dass dieser Antrag in dieser Art und Weise keine
weitere Lesung erfährt.
({6})
Ich denke, wir alle hier im Haus unterstützen das
Handwerk. Aber wenn wir das Handwerk, den Meisterbrief und die duale Ausbildung stärken wollen, dann
müssen wir uns doch kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Klar, es heißt: Stärken stärken, aber wir müssen gleichermaßen die Schwächen identifizieren und
nach Möglichkeit ausbügeln.
Stillstand ist Rückschritt, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsbank, und genau
dieser Rückschritt wird durch dieses Plagiat dokumentiert.
({7})
Gerade im Forderungskatalog, in dem die Themen angesprochen werden, in einem Bereich, in dem wir Weiterentwicklung brauchen, bleiben Sie vollkommen nebulös
und machen keinerlei konkrete Vorschläge.
Erstes Beispiel. Sie fordern unter Punkt 4 - ich zitiere -,
„den Technologietransfer … aus Forschung … ins Handwerk … zu unterstützen …“ Ja, wie denn? Wollen Sie
die steuerliche Forschungsförderung für das Handwerk
einführen? Wollen Sie am Gewährleistungsrecht - da
sollte man einmal hinschauen - etwas verändern? Wollen Sie sich endlich einmal dem wirklich drängenden
Problem der steigenden Komplexität der Technologien
und Materialien im Handwerk zuwenden?
Gehen Sie einmal vor Ort, und sprechen Sie mit den
Handwerkern, gerade mit denen, die in dem wichtigen
Bereich der energetischen Sanierung arbeiten! Von denen hören Sie durchaus Kritik an der geringen Reaktionsgeschwindigkeit der Kammern, nämlich wenn es
darum geht, was der Schreiner machen darf, was der
Trockenbauer machen darf und was der Installateur machen darf.
Ich kann nur sagen: Wer sich so ignorant gegenüber
dem, was sich draußen abspielt, verhält, wie Sie es mit
diesem Antrag tun, der verdient nicht nur wegen Abschreibens eine Sechs, sondern auch wegen Arbeitsverweigerung.
({8})
Zweites Beispiel. Sie wollen das Streben nach Selbstständigkeit unterstützen. Wie denn? Einen konkreten
Vorschlag sucht man vergebens.
Es ist schon unglaublich, was Sie hier vorlegen, und
ich glaube nicht, dass die Handwerker mit diesem - gestatten Sie mir diesen Ausdruck - Politikergeschwätz etwas anfangen können.
({9})
Sie stellen sich auch nicht den im europäischen Kontext durchaus gegebenen kritischen Punkten. Frau
Strothmann, Sie nehmen mehrfach kritisch Bezug auf
die Initiative der Kommission, aber eigentlich schüren
Sie damit indirekt Unsicherheit und Vorurteile im Handwerk gegenüber der Europäischen Union.
({10})
Nach Ludwig Erhard ist Wirtschaft zu 50 Prozent
Psychologie, und genau hier gehen Sie in die falsche
Richtung. Ich will das einmal klar sagen: Ich begrüße es,
dass die Kommission über Berufszugangsvoraussetzungen an dieser Stelle Transparenz schafft
({11})
und uns vor Augen führt, dass unsere Regulierung mitunter ein Problem sein kann - auch für Handwerkerinnen und Handwerker.
Ich will Ihnen ein aktuelles Beispiel nennen: Ein Metallbauer mit zehn Jahren Berufserfahrung will Surfbretter bauen. Er geht zur Handwerkskammer und bekommt
dort zu hören, ohne eine Meisterausbildung im Bootsbau
könne er keine Surfbretter entwickeln und bauen. Insbesondere die Gefahr für Dritte sei zu hoch. Zehn Jahre
Berufserfahrung reichten nicht aus. Er müsse 25 Jahre
Berufserfahrung nachweisen.
({12})
Diese Geschichte klingt amüsant, sie ist aber leider
wahr, und deshalb in hohem Maße gefährlich und traurig. Jungen Menschen wird der Weg in die Selbstständigkeit verwehrt,
({13})
obwohl objektiv keinerlei Gründe vorliegen, dies zu
rechtfertigen. Hier bleibt die Innovation auf der Strecke.
({14})
Herr Gabriel ist mit 120 Personen und großem Getöse
nach Kalifornien gereist, um Innovationen auf die Spur
zu kommen, und nicht, um Surfbretter einzukaufen. Ich
befürchte auch, er würde untergehen, auch wenn sie von
einem Handwerksmeister mit 25 Jahren Berufserfahrung
hergestellt worden wären.
Der Hinweis der Handwerkskammer ist hier aber
schon interessant: Der Mann könne ja Surfbretter verkaufen, die er aus dem Ausland - vielleicht aus Kalifornien - importiert.
({15})
Die Lösung soll also sein: Er soll ins Ausland gehen und
dort etwas kaufen, anstatt hier in Deutschland zu produzieren. Das kann und darf nicht die Folge unserer Meisterpflicht sein.
({16})
Ich bekenne mich klar zur Meisterpflicht, und ich
teile auch die Kritik an einigen - nicht an allen - Deregulierungen des Jahres 2003.
({17})
Auf der anderen Seite darf es aber keine dogmatischen
Regeln geben, die Innovationen verhindern. Das ist
durchaus ein Spannungsfeld - gar keine Frage -, aber
ich hätte hier erwartet, dass Sie liefern und nicht abschreiben, meine Damen und Herren.
({18})
Es gibt weitere Entwicklungen im Handwerk, auf die
wir dringend Antworten brauchen. Ich habe es schon genannt: Immer wieder kommt es bei der Anwendung
komplexer Technologien zu Abgrenzungsproblemen bei
den Gewerken und zu jahrelangen Blockaden, wenn die
Arbeitsumfänge nicht geklärt werden, und wir haben das
Problem der Gewährleistung bei Materialien, die eingesetzt werden.
Zu diesen Punkten finde ich nichts in Ihrem Antrag.
Auch hier wäre es dringend an der Zeit, bestehende
Strukturen zu überdenken und weiterzuentwickeln.
Letztlich schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts anderes, als dass Sie bestehende Strukturen schützen wollen.
Das ist einfach zu wenig. Es wäre Ihr Job gewesen, hier
konkrete Vorschläge vorzulegen. Ich hoffe, dass das im
Gespräch mit dem Handwerk gelingt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Für die Bundesregierung erhält nun die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim Meisterbrief, bei der dualen Ausbildung und bei
der Selbstverwaltung der Wirtschaft handelt es sich um
gewachsene Strukturen, die ihre Tragfähigkeit unter Beweis gestellt haben. Sie machen den Mittelstand in
Deutschland so stark, wie er ist.
Wenn wir sagen, dass der Meisterbrief ein Eckpfeiler
unserer Wirtschaft ist und dass wir an der Meisterpflicht
festhalten, dann ist das alles andere als ein Lippenbekenntnis. Wir sagen das aus der inneren Überzeugung
heraus, dass die Meisterpflicht nicht nur für das Handwerk, sondern auch für unsere Wirtschaft und für unsere
Zukunft unverzichtbar ist.
Auch in Zukunft werden die Meister nicht vom Himmel fallen. Unser duales System, unsere berufliche Ausund Weiterbildung sind die Basis für unsere Zukunftsund Wettbewerbsfähigkeit. Das gilt, Kollege Gambke,
eben auch für die Kammern und die Zwangsmitgliedschaft. Es ist nämlich so, dass die Grünen bei weitem
nicht der Meinung sind, dass das das richtige System ist.
({0})
Es gibt einen inneren Zusammenhang, die Kammern
einzubeziehen.
({1})
Wir haben europaweit die geringste Jugendarbeitslosigkeit. Es ist auch kein Zufall, dass man in vielen Ländern durchaus mit einem gewissen Neid auf unsere duale
Ausbildung blickt.
({2})
Das Handwerk bietet jungen Menschen Chancen und berufliche Perspektiven. Der Grund ist einfach: In der beruflichen Bildung sind Theorie und Praxis optimal miteinander verzahnt. So können die Jugendlichen frühzeitig
in die Arbeitswelt integriert werden.
Herzstück der dualen Ausbildung sind die kleinen und
mittleren Unternehmen. Sie stellen nicht nur zwei von
drei Arbeitsplätzen in der deutschen Wirtschaft, sondern
auch vier von fünf Ausbildungsplätzen. In über 130 Gewerken bilden Handwerksbetriebe rund 400 000 junge
Menschen aus. Jährlich werden rund 120 000 neue Ausbildungsverträge geschlossen.
Im Jahr 2012 waren 11 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im meisterpflichtigen Handwerk Auszubildende. Die Ausbildungsquote war damit
mehr als doppelt so groß wie in der übrigen Wirtschaft.
Diejenigen, die das immer noch nicht davon überzeugt, dass es uns hier nicht um bloße Besitzstandswahrung für das Handwerk geht, sollten sich einmal genauer
ansehen, welchen Beitrag das Handwerk zur Fachkräftesicherung leistet. Über 60 Prozent, also mehr als die
Hälfte der Ausgebildeten, wandern später als qualifizierte Fachkräfte in andere Wirtschaftsbereiche ab. Frau
Strothmann hat schon darauf hingewiesen.
Das lässt doch wohl nur einen Schluss zu: Die duale
berufliche Bildung im Handwerk ist für unsere gesamte
Wirtschaft von existenzieller Bedeutung.
Meine Damen und Herren, aber es geht hier nun wirklich nicht nur um wirtschaftliche Interessen.
Frau Gleicke, darf die Kollegin Andreae eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Aber gerne.
({0})
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Ich bin tatsächlich nachher noch einmal dran. Das wird mir dann nachher nicht von der Redezeit abgezogen.
Ich wollte Sie nur bitten, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die grüne Partei und die grüne Fraktion sich sehr
eindeutig zum Kammerwesen bekennen und auch gesagt
haben, dass das ein notwendiges Instrument in unserer
wirtschaftspolitischen Gesamtheit ist. Es gibt von uns
ein klares Bekenntnis zur Kammermitgliedschaft. Ich
möchte Sie bitten, dies zur Kenntnis zu nehmen und zukünftig auch so zu referieren.
Ich nehme das gerne zur Kenntnis, auch als Bekenntnis. Sie haben dieses Thema in dieser Woche durchaus
mit einer eigenen Veranstaltung auf die Tagesordnung
gesetzt. Insofern wollen wir einmal schauen, was mit
dieser Veranstaltung dann wird und ob es bei diesem Bekenntnis bleibt.
({0})
Ich nehme das aber gerne für heute zur Kenntnis. Danke.
Meine Damen und Herren, ich will das noch einmal
sagen: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interessen,
sondern es geht um die Zukunft der jungen Leute. Eine
gute Ausbildung bietet nach wie vor den besten Schutz
vor Arbeitslosigkeit. Eine gute Ausbildung schafft gute
Perspektiven für diejenigen, die nicht mit einem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen sind.
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern,
dass wir in letzter Zeit immer wieder über Integration
gesprochen haben, nicht zuletzt mit Blick auf die Menschen mit Migrationshintergrund. Da kann man ruhig
einmal darauf hinweisen, dass die Ausbildung im Handwerk ein wichtiger Beitrag zu dieser Integration ist.
({1})
Man muss auch darauf hinweisen, dass das Handwerk
in strukturschwächeren Regionen häufig der größte und
wichtigste Arbeitgeber ist. Unsere Aus- und Weiterbildung ist zudem ein Motor der Innovation; Frau
Poschmann hat darauf hingewiesen. Sie ist die Basis für
unsere Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit.
Meine Damen und Herren, für die duale Ausbildung
im Handwerk ist die Meisterpflicht von herausragender
Bedeutung. 95 Prozent der ausbildenden Betriebe zählen
zum meisterpflichtigen Handwerk. Nur 5 Prozent gehören zum zulassungsfreien Handwerk.
Besonders die meistergeführten Betriebe tragen damit
maßgeblich zu einer hochwertigen Berufsausbildung
bei. Ein „Meister made in Germany“ ist Garant für eine
hohe Ausbildungsqualität. In der Meisterschule werden
neben fachlichen auch betriebswirtschaftliche, kaufmännische und rechtliche Kenntnisse vermittelt. Der Meisterbrief, der „große Befähigungsnachweis“, vermittelt
Fachkompetenz für erfolgreiche Unternehmer, Ausbilder
und Führungskräfte. Das schafft eine solide Basis für
eine erfolgreiche Unternehmensführung, und das senkt
nachweislich das Insolvenzrisiko von neugegründeten
Betrieben.
({2})
Meine Damen und Herren, der Meisterbrief steht auch
für eine hohe Dienstleistungs- und Servicequalität und
einen effektiven Verbraucherschutz. Auch das müssen
wir in den Debatten immer wieder klarmachen. Das
müssen wir auch unseren Freunden und Partnern in
Europa klarmachen. Wir sollten die Diskussion mit der
Kommission und den Mitgliedstaaten als Chance begreifen, unseren Partnern die deutschen Strukturen zu erklären. Wir sollten und wir werden die sogenannte Transparenzinitiative der Europäischen Kommission nutzen, um
für unser System zu werben.
Mit der Transparenzinitiative hat die Kommission
eine Überprüfung der mitgliedstaatlichen Regulierung
des Berufszugangs eingeleitet. Sie zielt damit auf eine
stärkere Öffnung des EU-Binnenmarkts. Bis zum nächsten Jahr stehen damit alle 41 meisterpflichtigen Handwerke auf einer Agenda der Rechtfertigung. Wir stehen
da sehr wohl auf dem Prüfstand, aber wir müssen uns
nicht verstecken; ganz im Gegenteil. Es macht aus meiner Sicht schlicht und ergreifend keinen Sinn, bewährte
und ökonomisch sinnvolle Strukturen infrage zu stellen.
Deshalb werden wir gegenüber der Kommission und den
Mitgliedstaaten unser System mit all seinen Vorteilen
darstellen.
({3})
Sie wissen, ich habe schon häufiger mit den zuständigen Menschen in der Kommission geredet; Herr Calleja
war ein paar Mal hier in Deutschland. Wir haben die
Lage immer wieder deutlich gemacht. Ein bisschen
scheint der stete Tropfen den Stein zu höhlen. Die Meisterpflicht steht für die Bundesregierung nicht zur Disposition. Das haben Sigmar Gabriel als Wirtschaftsminister
und auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel klipp und
klar gesagt.
({4})
Meine Damen und Herren, wir setzen heute ein starkes und ein unmissverständliches Signal für das Handwerk. Ich bin den Koalitionsfraktionen für diesen Antrag
sehr dankbar, der auch einen Schulterschluss mit dem
Handwerk darstellt. Dabei geht es eben nicht um Besitzstandswahrung oder dergleichen. Es geht nicht darum,
angeblich überkommene Traditionen um jeden Preis und
mit aller Gewalt bewahren zu wollen. Nein, es geht um
ein Erfolgsmodell. Es geht um Strukturen, die sich bewährt haben und die es zu bewahren gilt.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Debatte am
heutigen Morgen und dafür, dass Sie mir zugehört haben.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hoffe, Sie haben noch nie die Erfahrung
machen müssen, die ein Bekannter von mir machen
musste. Er hatte mit der Renovierung seines Badezimmers einen Fliesenleger beauftragt und dabei wahrscheinlich zu sehr auf den Preis als auf die Qualität und
Ausbildung geschaut. Jedenfalls hatte er keinen Meisterbetrieb beauftragt. Das Ergebnis dieser Renovierung war
deprimierend: Die Zuschnitte waren miserabel, die Fliesen nicht im Winkel, und die Fläche war uneben. Zu allem Überfluss war nachher auch noch der Kostenvoran7066
Sabine Zimmermann ({0})
schlag null und nichtig. Das Ganze kostete mehr, als im
Voraus vereinbart worden war.
Sie meinen vielleicht: ein bedauerlicher Einzelfall.
Wohl eher nicht. Der Zentralverband des Deutschen
Baugewerbes hat 2011 in einer Expertenumfrage unter
Sachverständigen des Fliesen-, Platten- und Mosaiklegerhandwerks sowie des Estrichhandwerks erschreckende Zahlen ermittelt: Den betroffenen Bauherren und
Endkunden entstand nach Angaben der Sachverständigen ein durchschnittlicher Schaden von 9 000 Euro. Die
Mehrheit der Sachverständigen kommt zu dem Ergebnis,
dass bei Meistern und Gesellen die Qualität in der Ausführung unverändert hoch, manchmal sogar noch gestiegen ist. Dagegen ist aber in der Gruppe der Verleger
ohne ausgewiesene Qualifikation die Zahl der Mängel
stark gestiegen.
Wem haben die Bauherren das zu verdanken? Es war
eine SPD-geführte Regierung, die vor zehn Jahren die
größte Deregulierung im Handwerk vorgenommen hat,
und heute stellen Sie sich hier als die Retter des Handwerks hin. 2004 haben Sie die Axt angelegt und das
Handwerk drastisch verstümmelt.
({1})
Das ist scheinheilig.
({2})
Heute kann jeder ohne irgendeine Qualifikation zum
Beispiel Fliesen legen. Er muss nur eine Gewerbeanmeldung mitbringen. Die SPD wollte damals unbedingt ihre
unsäglichen Ich-AGs, über die heute kaum noch jemand
redet, an den Start bringen. Das war ein Angriff auf die
gute Qualifikation im Handwerk. Haben Sie jemals daran gedacht, dass Sie damit vielen Handwerkern gesagt
haben: „Was du machst, kann eigentlich jeder machen“?
Haben Sie damals daran gedacht, dass Sie einem
Meister, der sein Leben lang stolz auf seinen Meisterbrief war, erklärt haben, dieser sei nichts mehr wert?
Die Abschaffung der Meisterpflicht in vielen Handwerkszweigen im Jahr 2004 unter Rot-Grün hat zu mehr
Scheinselbstständigkeit geführt. Die Zahl der Ausbildungsplätze wurde drastisch gesenkt. Für weniger Ausbildungsqualität wurde gesorgt. Der Druck auf Löhne
und Arbeitsbedingung ist erhöht worden. Im Datenreport
zum Berufsbildungsbericht 2014 haben wir 24 Prozent
weniger Lehrlinge im Handwerk als vor zehn Jahren.
Genau das sind die Folgen Ihrer Handwerksreform aus
dem Jahr 2004. Jetzt sollten Sie sich nicht hier hinstellen
und ein Loblied auf den Meisterbrief singen. Das nimmt
Ihnen, meine Damen und Herren gerade von der SPD,
leider niemand ab.
({3})
Bevor Sie behaupten, das sei wieder einmal die überzogene Kritik der Linken, hören Sie vielleicht auf den
Präsidenten der Handwerkskammer Erfurt:
Die Vielzahl der Ein-Mann-Betriebe bildet das Einfallstor für Illegalität und Schwarzarbeit am Bau
und führt somit zu Schäden weit über das Fliesenlegerhandwerk hinaus. Zudem leidet das Image dieses Berufes seit der Novellierung. Dumpingpreise
und geringe Löhne … sind verheerend …
Die Linke hat schon in der vergangenen Wahlperiode
in ihrem Antrag gefordert, das Gefälle zwischen den
meisterpflichtigen und nichtmeisterpflichtigen Gewerken abzubauen. Auf jeden Fall muss es einen Gesellenbrief als Grundlage und als Mindestqualifizierung geben.
({4})
Damals wollten Sie davon nichts wissen. Stattdessen legen Sie heute einen Schönwetterantrag für das Handwerk vor. Außen vor bleibt allerdings, dass das Handwerk völlig zu Recht zum Schutz der Verbraucher
wieder mehr nachweisbare Qualifikation fordert, und
das unterstützen wir.
({5})
Aber auch das Handwerk selbst steht in der Pflicht.
Das betrifft vor allem die Tarifbindung, aber auch die
Mitbestimmung der Beschäftigten. Betriebsräte und gute
Tarifverträge sind im Handwerk leider nicht selbstverständlich. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat eine
Reihe von Vorschlägen vorgelegt. Die Linke unterstützt
diese.
({6})
Ich bin seit 22 Jahren ehrenamtlich in einer großen
Kammer tätig. In den letzten Jahren haben wir immer
wieder festgestellt, dass die Industrie bessere Löhne und
bessere Arbeitsbedingungen bietet und die gut ausgebildeten Fachkräfte aus dem Handwerk abzieht. Ich sage
Ihnen: Wir brauchen in Deutschland ein Handwerk, das
gut qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
hat, wo gute Löhne gezahlt werden und gute Arbeitsbedingungen herrschen. Dafür sollten Sie konkrete Vorschläge machen. Diese habe ich in Ihrem Antrag leider
nicht gefunden.
Danke.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Axel Knoerig für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der deutsche Meisterbrief ist das Gütesiegel unseres
Handwerks. Er steht für erfolgreiche Tradition und
höchste fachliche Qualität. Diese besondere berufliche
Qualifikation ist einzigartig in der Welt. Auf dem Meistertitel beruht der wirtschaftliche Erfolg vieler mittelständischer Betriebe, die ja bekanntlich das Rückgrat unserer Wirtschaft bildet. Insgesamt gibt es in Deutschland
rund 1 Million Handwerksfirmen. Die meisten von ihnen
sind kleine Unternehmen und haben maximal vier bis
acht Mitarbeiter. Als Beispiel nenne ich meinen WahlAxel Knoerig
kreis Diepholz/Nienburg. Dort gibt es etwa 2 000 Handwerksbetriebe, die rund 10 000 Menschen beschäftigen.
Gerade in unserer ländlichen Region kommt dem Handwerk damit eine erhebliche Bedeutung zu, zum einen in
der Sicherung von Arbeitsplätzen, zum anderen in der
beruflichen Bildung; denn ein Drittel unserer heimischen
Auszubildenden erlernen ihren Beruf in Handwerksbetrieben.
({0})
Insgesamt hat das deutsche Handwerk im vergangenen Jahr über 500 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die
Betriebe haben rund 5 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz gegeben. Dazu gehören 380 000 Lehrstellen.
Die Ausbildungsquote ist mit 8 Prozent doppelt so hoch
wie in der gesamten Wirtschaft. Damit trägt das Handwerk maßgeblich dazu bei, dass wir die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa verzeichnen.
({1})
Die niedrige Quote von 7,5 Prozent kommt auch dadurch zustande, dass die duale Ausbildung häufig eine
anschließende Übernahme in den Betrieb ermöglicht.
Auf diese Weise leistet unser Handwerk einen ganz wesentlichen Beitrag zur Fachkräftesicherung in unserem
Land.
({2})
Dafür, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, liefert
der Meisterbrief die Grundlage.
Wir müssen uns fragen: Warum ist der Meisterbrief so
erfolgreich? Lassen Sie uns bitte einen kurzen Rückblick
in die Geschichte werfen: Im 19. Jahrhundert wurde die
Gewerbefreiheit eingeführt und damit auch eine staatliche Regelung der Handwerkerausbildung. Gleichzeitig
gründeten sich die Innungen als Interessenvertretungen
der verschiedenen Handwerksberufe. Mit dieser frühen
Organisation wurde ein einmaliges Aus- und Weiterbildungsmodell geschaffen, das noch heute als zukunftsund krisensicher gilt.
({3})
Auch hier muss die Frage gestellt werden: Warum ist
das so? Weil sich dieses Modell ständig den aktuellen
Entwicklungen des Arbeitsmarktes anpasst und weil es
in der Abstimmung von Berufskammern, Tarifpartnern
und Politik laufend modernisiert wird. Dabei gilt es, das
richtige Verhältnis zwischen Tradition und Moderne,
aber auch zwischen Theorie und Praxis zu erwähnen.
Heute wie damals basiert die Meisterqualifikation auf
zwei Pfeilern:
Erstens. Grundvoraussetzung ist eine duale Berufsausbildung mit abschließender Gesellenprüfung. Inzwischen wird auch eine erfolgreiche Abschlussprüfung in
einem ähnlichen Ausbildungsberuf anerkannt.
Zweitens. Wer die Meisterprüfung bestanden hat,
wird in die Handwerksrolle eingetragen. Nur dann ist
man berechtigt, als selbstständiger Unternehmer einen
Handwerksbetrieb zu führen. Einzig die Meister dürfen
in ihrem Beruf den Nachwuchs ausbilden. Ganz wichtig
dabei ist auch, dass die Meister aufgrund dieser pädagogischen Erfahrungen und der gesammelten Kenntnisse
auch als Berufsschullehrer bestens geeignet sind.
Diese strenge Reglementierung beim Berufszugang
dient von jeher einem Ziel, und zwar der Sicherung der
Qualität und damit der Wettbewerbsfähigkeit. Mit der
Handwerksnovelle von 2003 wurde der Berufszugang
jedoch gelockert. Die rot-grüne Bundesregierung erhoffte sich davon mehr Unternehmensgründungen. Über
die Hälfte der zulassungspflichtigen Gewerke wurde daher als zulassungsfrei eingestuft. Seither kann man diese
Handwerksbetriebe auch ohne Meisterbrief führen.
Meine Damen und Herren, wir müssen heute leider
festhalten, dass diese Liberalisierung unserem Handwerk eher geschadet hat.
({4})
Denn Fakt ist: In den vergangenen elf Jahren wurden
Handwerksberufe erster und zweiter Klasse geschaffen.
Wie die Zahlen belegen, sind Neugründungen ohne
Meisterbrief relativ schnell insolvent: Schon zwei Jahre
nach dem Start in die Selbstständigkeit gibt es deutlich
mehr Registerlöschungen als bei den Meisterbetrieben.
Insofern hat Rot-Grün genau das Gegenteil vom damaligen Ziel erreicht: Gefördert wurden Einmannbetriebe,
die als Unternehmen nicht ausreichend qualifiziert sind.
Genauso wenig tragen diese zur Nachwuchssicherung
im Handwerk bei; denn 95 Prozent der Lehrlinge werden
in den zulassungspflichtigen Berufen ausgebildet.
Die Union hat dagegen in ihrer Bildungspolitik
Schwerpunkte gesetzt, die gerade unserem Handwerk
zugutekommen: So haben wir uns bereits in der letzten
Wahlperiode dafür eingesetzt, die berufliche und akademische Bildung besser vergleichbar zu machen. Dazu
wurde der Deutsche Qualifikationsrahmen eingeführt.
Dieses Einstufungssystem ermöglicht einen objektiven
Vergleich der verschiedenen Berufs- und Studienabschlüsse. Der Meisterbrief ist hier auf Niveau 6 eingestuft, genau wie der akademische Grad des Bachelors.
Damit wurde die Meisterprüfung als Berufsqualifikation
sichtbar aufgewertet.
({5})
Seit Anfang dieses Jahres ist die Meisterqualifikation
auch im europäischen Qualifikationsrahmen der Stufe 6
zugeordnet. Hiermit haben wir ebenfalls eine erhebliche
Aufwertung des deutschen Meisterbriefes in Europa erzielt.
Immer wieder gibt es Bestrebungen, die duale Ausbildung zu reformieren und damit die solide Basis für die
Meisterqualifikation infrage zu stellen, und dem ist entgegenzuwirken. Von meiner Kollegin Lena Strothmann
ist heute schon einmal der Münchener Philosoph und
ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin zitiert worden. Er hat ein Buch veröffentlicht mit dem
Titel Der Akademisierungswahn - Zur Krise beruflicher
und akademischer Bildung. Darin warnt er davor, die berufliche Bildung allzu wissenschaftlich zu gestalten. Die
duale Ausbildung sollte praxisorientiert zwischen Betrieb und Berufsschule eingebunden bleiben.
({6})
Schließlich beruht der Schwerpunkt auf dem Berufsalltag - und nur so kann die Qualität dieses erfolgreichen
Bildungsmodells langfristig gehalten werden.
Die Grünen haben in der letzten Wahlperiode gefordert, das duale Ausbildungssystem um eine weitere
Komponente zu ergänzen.
({7})
DualPlus - so haben Sie das genannt; ich will das gar
nicht als Konzept bezeichnen - bedeutete eigentlich nur
mehr bürokratischen Aufwand. Die Grünen wollten neben Betrieb und Berufsschule noch eine weitere überbetriebliche Einrichtung an der Ausbildung beteiligen.
({8})
Die Betriebe sollten sogar Träger dieser Einrichtung
werden.
Da, meine Damen und Herren von den Grünen, ist,
denke ich, auch die Sicht von Verbänden wie IHK und
ZDH maßgeblich; denn die haben damals überhaupt keinen Reformbedarf gesehen. Wieso auch? Warum sollte
man dieses gut funktionierende Modell aus betrieblicher
Praxis und begleitender Theorie aus dem Gleichgewicht
bringen?
({9})
Es ist doch so: Wenn man die Zuständigkeit, zum Beispiel für Praktika, an überbetriebliche Ausbildungsstätten überträgt, dann werden doch die Betriebe aus der
Verantwortung gedrängt.
({10})
Doch gerade ihre intensive Beteiligung sichert die praxisnahe und am Arbeitsmarkt orientierte Ausbildung.
({11})
Meine Damen und Herren, wir müssen nicht an etwas
herumdoktern, was bereits bestens funktioniert. Genau
deshalb ist unser Bildungssystem ja in aller Welt hochangesehen. Insbesondere seit der Wirtschafts- und
Finanzkrise dient es in Europa sogar als Vorbild: Zahlreiche Länder der Europäischen Union sind bemüht, die
besonderen Vorzüge der dualen Ausbildung in Deutschland nachzuahmen. So soll die hohe Jugendarbeitslosigkeit, zum Beispiel in Spanien, bekämpft werden.
38 000 junge Spanier und Griechen haben über die Bildungskooperation in Deutschland schon einen Ausbildungsplatz bekommen. Auch mit Italien wurde solch
eine Vereinbarung getroffen. Seit 2012 unterstützt
Deutschland bereits mehrere Länder mit Kooperationen
zur Berufsbildung. Ich denke, das ist eine gute Grundlage, um die Zukunftschancen junger Menschen in ganz
Europa zu verbessern.
({12})
Die Aufstiegsmöglichkeit zum Meister wird seit Jahren konstant genutzt: 2013 wurden über 23 000 Meisterprüfungen erfolgreich abgelegt. Es ist erfreulich, dass
der Frauenanteil mittlerweile auf 20 Prozent gestiegen
ist. Der Bund unterstützt diese Fortbildung mit dem sogenannten Meister-BAföG. Seit dem Start im Jahr 2008
ist die Zahl der Antragsteller kontinuierlich gestiegen auf nunmehr rund 170 000. Die Förderzusagen beliefen
sich im vergangenen Jahr auf 576 Millionen Euro.
Genauso wie in der akademischen Bildung wollen wir
auch in der beruflichen Bildung Karrieren fördern. Daher werden wir die Leistungen beim Meister-BAföG, wie
wir das im Koalitionsvertrag vereinbart haben, weiter
verbessern. Ähnlich wie beim BAföG für Studierende
sollen auch Meister mit guten Noten bei den Rückzahlungen entlastet werden.
In vielerlei Hinsicht haben wir berufliche und akademische Bildung damit schon gleichgestellt. Doch, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen, wäre es nicht eine logische Konsequenz, die Meisterqualifikation genau wie
das Studium nun kostenfrei anzubieten? Das wäre,
denke ich, ein weiterer bedeutender Beitrag zur Qualitätssicherung im Handwerk und in der dualen Ausbildung.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nun erhält die Kollegin Kerstin Andreae das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ja richtig, was Sie da schreiben: Dass wir den Meisterbrief als Gütesiegel wertschätzen sollten. Aber was
ich so verblüffend finde und was mich auch ein bisschen
irritiert, ist, dass wir in dieser wertvollen Kernzeit einen
Antrag diskutieren, der wirklich dünn ist, weil er die entscheidenden Fragen offenlässt, weil er Lücken lässt.
({0})
Es ist per Copy-and-paste erstellt worden. Es handelt
sich um die ZDH-Position. Wenn Sie schon beantragen,
dass hier zur Kernzeit so eine wichtige Debatte geführt
wird, dann hätte ich mir echt gewünscht, dass Sie uns einen Antrag mit ein bisschen mehr Substanz vorgelegt
hätten.
({1})
Ja, es ist richtig: 2004 haben wir die Handwerksordnung novelliert. Liebe SPD, macht euch mal nicht so arg
vom Acker! 2004 gab es hochverkrustete Strukturen,
hohe Arbeitslosigkeit; an vielen Stellen ist überlegt worKerstin Andreae
den: Wie können wir dazu beitragen, dass wieder mehr
Leute einen Job haben? Wie Marktzugangsbeschränkungen beseitigen, wie den Wettbewerb beleben? Dann hat
es die Novelle gegeben, und man hat sich dafür entschieden, dass Berufe, die dem Gefahrenrisiko nicht unterliegen - wie der Uhrmacher, der Goldschmied, der Schuhmacher, der Buchbinder oder auch der Fliesenleger -,
herausgenommen werden. Es kann ja sein, dass an der
einen oder anderen Stelle tatsächlich über das Ziel hinausgeschossen wurde. Was haben wir deswegen gesagt,
und was fordern wir hier Jahr für Jahr? Evaluiert mal,
damit wir wissen, wie die Novelle gewirkt hat und worüber wir eigentlich reden müssen! Das ist doch das, was
hier zunächst einmal kommen müsste.
({2})
Man muss doch schauen: Was ist aus den Betrieben
geworden? Ja, es gibt die Zahl von 60 Prozent Insolvenzen bei Existenzgründern. Vergleichbare Zahlen bekommen Sie aber überall; denn der Gang in die Selbstständigkeit ist tatsächlich ein risikobehafteter.
Wie ist die Situation am Ausbildungsmarkt? Ja, die
Zahl der ausbildenden Betriebe sinkt. 2012 bildeten nur
noch 21,3 Prozent der Betriebe überhaupt aus. Aber den
direkten Zusammenhang zu der Novelle ziehen Sie mir
hier ein bisschen zu en passant. Da müssen Sie doch einmal genau hinschauen: Was ist passiert? Und auf der anderen Seite müssen Sie sich auch anschauen: Welche
Herausforderungen sind 2014 zu bewältigen, damit mehr
ausgebildet wird? Denn dass wir mehr ausbilden müssen, ist doch gar keine Frage.
({3})
Über 250 000 Jugendliche sind heute in der Warteschleife, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben ({4})
es kostet uns übrigens jedes Jahr 4 Milliarden Euro, dass
wir keine Lösung für diese Jugendlichen finden -, und
1,5 Millionen unter 35-Jährige sind ohne Ausbildung.
Deswegen müssen wir einen Paradigmenwechsel hinbekommen.. Wir müssen eine Ausbildungsoffensive starten - diese haben Sie im Koalitionsvertrag groß angekündigt -, für gute Ausbildung sorgen und letztlich eine
Ausbildungsplatzgarantie auf den Weg bringen, so wie
es Österreich macht.
({5})
Das betrifft vor allem Jugendliche mit Einwanderungshintergrund. Der Name ist eine Hürde. Das ist zwar
dramatisch und beklagenswert; da kann man nur an die
Unternehmen appellieren, dies nicht zuzulassen. Aber:
Wir wissen es. Als die Kanzlerin letzte Woche sehr medienwirksam Betriebe besucht hat, wurde auch ihr sehr
deutlich gesagt: Der Name ist eine Hürde. - Bildungschancen in Deutschland sind ungerecht verteilt. Bildungsgerechtigkeit und Inklusion sind für viele Kinder
und Jugendliche nicht gegeben. Es gibt also ganz viele
Baustellen, und wir müssen viele Antworten geben. Eine
davon ist DualPlus.
({6})
- Doch, das hat etwas mit dem Antrag zu tun. Denn es
geht darum, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen
einer geringeren Zahl von Ausbildungsplätzen, dem
Meisterbrief und der Frage: Welche Lösungen gibt es,
um mehr Ausbildungsplätze zu schaffen? Wir müssen
uns fragen: Wie können wir kleinen Handwerksbetrieben helfen, damit sie sagen: „Ja, wir bilden wieder aus“?
Wenn man überbetriebliche Ausbildungsstätten schafft
und einzelne Module herausnimmt, dann sagt vielleicht
der eine oder andere Handwerksbetrieb: Okay, unter diesen Voraussetzungen bilde ich wieder aus. - Deswegen
hat das definitiv etwas mit dem Antrag zu tun. Das steht
sogar in seiner Überschrift.
({7})
- Das ist ja ganz besonders niedlich. Also ehrlich, Leute!
Unter II.5 wird gefordert,
die Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung zur Sicherung des Fachkräfte- und Unternehmernachwuchses weiter zu steigern - so weit, so gut, dass Sie dies wollen; aber dann geht es
nach dem Bindestrich so weiter dies insbesondere auch im Hinblick auf Menschen
mit Migrationshintergrund oder Behinderung und
Frauen …
Das treibt einem doch Tränen in die Augen!
({8})
Ihr braucht doch einen Paradigmenwechsel! Frauen sind
nicht behindert, sie werden behindert!
({9})
Meine Güte, geht das endlich mal in eure Köpfe?
({10})
Frauen sind keine Belastung, sondern eine Bereicherung.
Es ist etwas völlig anderes, ob man Inklusion betreibt
und sich darum kümmert, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund einen Ausbildungsplatz bekommen,
oder ob man sich darum kümmert, dass Frauen echte
Chancen am Arbeitsmarkt haben, Führungskräfte werden können.
Wenn Sie schon beim ZDH abschreiben, dann hätten
Sie auch diese Zahlen übernehmen können: Fast ein
Drittel aller neuen Auszubildenden im Handwerk sind
weiblich. Mehr als 20 Prozent aller Meisterprüfungen
werden von Frauen abgelegt. Der Anteil von Frauen mit
Meistertitel hat sich in den vergangenen Jahren fast verdoppelt. - Trotzdem haben es Frauen unheimlich
schwer: Das Kapital fehlt, die Unterstützung fehlt, und
sie müssen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in
den Griff bekommen.
({11})
Im Ergebnis sind die Frauen am Ende nicht diejenigen,
die ein Unternehmen bzw. einen Handwerksbetrieb führen. Das ist ein Problem, dem Sie sich endlich einmal
stellen müssen, auch vom Kopf und von der Haltung her.
({12})
Der ZDH hat die richtigen Analysen betrieben. Auch wir
bekennen uns zum Meisterbrief als Garant für gute und
sichere Arbeit. Dazu bekennen wir uns.
({13})
Von den Regierungsfraktionen hätte ich aber wirklich
mehr als Copy-and-paste erwartet. Wo sind die Konzepte
für stabiles Handwerk, für die Integration von ausländischen Auszubildenden, für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, gegen den Fachkräftemangel? Über die
Rente mit 63 kann ich jetzt leider nicht mehr sprechen.
Wie wollen Sie die jungen Frauen ermutigen, in die
handwerklichen Berufe einzusteigen und Führungsverantwortung zu übernehmen? Da sind Sie blank. Dazu sagen Sie in diesem Antrag überhaupt nichts. Das ist ein
Wohlfühlantrag mit ganz vielen Unterschriften, und Sie
werden jetzt alle durch Ihre Wahlkreise gehen und sagen: Wunderbar! Schaut mal, was wir gemacht haben! Aber ein bisschen mehr im Bereich der Handwerkspolitik können wir von Ihnen schon erwarten.
Vielen Dank.
({14})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Ernst
das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Andreae, ich
habe Ihnen genau zugehört: Verkrustete Strukturen und
Ähnliches habe es vor 2004 gegeben. Ich hätte mir eigentlich gewünscht - auch wenn wir jetzt gerade zusammen in der Opposition sind, komme ich nicht darüber
weg und muss das sagen -, dass Sie ein wenig selbstkritischer mit dem umgegangen wären, was Sie in der Zeit
der Koalition mit der SPD gemacht haben;
({0})
denn Sie sind mitverantwortlich. Ich habe mir gerade die
Liste noch einmal angeschaut: Sie waren doch dabei, als
zum Beispiel Maßschneider - die Frau Strothmann hat
gesprochen; sie ist, wenn ich es richtig gelesen habe,
Maßschneidermeisterin - in die Liste B aufgenommen
wurden, sodass also eine Meisterprüfung nicht mehr Voraussetzung für diesen Beruf ist. Finden Sie das eigentlich richtig? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass
das, was Sie damals mit der SPD zusammengeschustert
haben, tatsächlich dem dient?
({1})
- „Zusammengeschneidert“, genau, nicht „zusammengeschustert“. - Finden Sie das wirklich gut?
Ich teile ja teilweise die Kritik an diesem Antrag;
auch wir finden, dass darin etwas zu den Handwerkskammern fehlt, dass wir dort genauer sein müssen - alles
d’accord, einverstanden. Aber ein klein wenig Selbstkritik zu dem Unfug, den Sie damals gemacht haben, wäre
angebracht gewesen, wenn Sie sich hier in dieser Weise
verhalten. Ich muss Ihnen sagen: Das hat mir überhaupt
nicht gefallen. Denn ein wenig Selbstkritik für das, was
man selbst anstellt, ist wichtig, damit man hinterher
glaubwürdiger wird bei dem, was man selbst will.
({2})
Zur Erwiderung Frau Andreae.
Herzlichen Dank. - Ich glaube, ich habe sehr deutlich
gemacht, dass damals verkrustete Strukturen und eine
hohe Arbeitslosigkeit dazu geführt haben, dass man sich
verschiedenste Dinge überlegt hat, dass Reformen auch
immer lernende Reformen sind und dass Korrekturen
dort vorgenommen werden müssen, wo sie notwendig
sind.
Damals wurde eine Novelle gemacht, bei der nicht
gefahrengeneigte Berufe aus der Handwerksrolle herausgenommen wurden; und bei aller Wertschätzung der
Schneidermeisterei - auch wenn ich bei dem einen oder
anderen manchmal das Gefühl habe, dass dort tatsächlich Gefahrenpotenzial vorhanden ist - sind Schneidermeister, Uhrmacher, Buchbinder eben keine Berufe, bei
denen diese Gefahrgeneigtheit bestanden hat.
({0})
- Ja, der Friseur hat auch manchmal etwas mit Gefahren
zu tun, aber davon sprechen wir jetzt nicht.
({1})
Aber tatsächlich ist richtig: Man muss überprüfen.
Und dort kommen wir doch zusammen. Die Evaluierung
ist notwendig, denn sie bringt uns die Daten und die SiKerstin Andreae
cherheit, um festzustellen: Gibt es einen Korrekturbedarf, oder nicht? Richtig ist aber auch, dass wir nicht
unterstützen, weitere Berufe, die jetzt noch in der Handwerksrolle sind, herauszunehmen.
({2})
Nun hat der Kollege Schabedoth für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist, wenn die Praxis nicht zur Theorie passt? Glaubensstarke Theoretiker und bornierte Ideologen antworten: Das ist aber sehr schlimm für die Praxis. Den Praktikern bleibt dann oft nur noch die Überzeugung, trotzdem
recht zu haben, oder, zu resignieren. So ähnlich war die
Situation, als es vor zehn Jahren um die Handwerksnovelle ging.
Die Deregulierungsideologen und ihre Weihrauchkesselschwenker, befeuert von einer EU-Vorgabe - vergessen Sie das bitte nicht -,
({0})
begeisterten sich für eine möglichst umfassende Entsorgung dessen, was sie als mittelalterliche Zunftordnung
missverstanden. Es konnte gar nicht genug dereguliert
werden, nicht nur auf diesem Feld; Sie erinnern sich.
Die Praktiker des Handwerks können bis heute nicht
nachvollziehen, wieso Handwerksgesellen, die zu bequem oder vielleicht auch ein bisschen damit überfordert
sind, eine Meisterprüfung zu bestehen, ihren Meistern
im Wettbewerb um Aufträge Konkurrenz machen dürfen. Keiner käme schließlich auf die Schnapsidee, zum
Beispiel jedem Fußballverein, der sich in der 1. Bundesliga redlich müht, deshalb die Qualifikation für das Mitspielen in der Champions League zu erlassen.
Ich finde, es ist auch eine gute gesellschaftliche Konvention, dass sich selbst eine lebenskluge und sehr erfahrene Sprechstundenhilfe besser nicht ohne erfolgreich
absolviertes Medizinstudium als Ärztin niederlassen
darf. Warum - das hat mich schon immer bewegt - sollte
zum Beispiel den Fliesenlegern der Befähigungsnachweis für eine gute Unternehmensführung erspart bleiben?
Zu Recht beharrt unsere Gesellschaft bei verantwortlichen Tätigkeiten auf einer besonderen Qualifikation.
Im Handwerk ist das für eine Betriebsführung der Meisterbrief.
({1})
Machte es schon keinen Sinn, hier zwischen den einzelnen Gewerken zu differenzieren, wäre es wirklich noch
törichter, sich infolge der gerade von der EU-Kommission gewollten Evaluierungsprozesse der nationalen Berufsreglementierungen vom deutschen Meisterbrief zu
verabschieden.
Wir können inzwischen auf zehn Jahre Praxis mit der
Deregulierung der Handwerksordnung zurückblicken.
Der verheißene Arbeitsplatzboom durch die neuen zulassungsfreien Gewerke fand nicht statt.
({2})
Da haben wir dazugelernt. Daraus muss man Konsequenzen ziehen.
({3})
Bei aller Selbstgerechtigkeit: Im Himmel soll mehr
Freude über diejenigen sein, die von einem falschen Weg
abkehren, als über die, die schon immer wussten, was
richtig oder falsch ist.
({4})
Wir haben gehört, dass die zulassungsfreien Gewerke
sich auf dem Arbeitsmarkt und auf den entsprechenden
Geschäftsfeldern nicht sehr gut positionieren konnten.
Fünf Jahre nach der Neugründung meisterfreier Betriebe
waren 60 Prozent dieser Betriebe schon wieder insolvent. Bei den meisterpflichtigen Betrieben sah das ganz
anders aus - aus gutem Grund, wie wir wissen.
Was besonders wichtig an Meisterbetrieben ist: Sie
bilden überproportional häufig aus. Das meisterpflichtige Handwerkssystem ist das Rückgrat des international
bewunderten deutschen Systems der dualen Berufsausbildung.
({5})
Ich will noch einmal besonders hervorheben, dass über
die Ausbildung im Handwerk gerade auch solche Jugendliche einen Zugang in ein gelingendes Berufsleben
finden, die in den akademischen Ausbildungsgängen
vielleicht Mühe hätten. Nicht zuletzt ist das ein Vorteil
gerade für Jugendliche mit dem sogenannten Migrationshintergrund.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und einmal anregen, das Wort „Migrationshintergrund“, so oft es geht,
zu vermeiden - auch in den politischen Debatten unseres
Hauses - und stattdessen von „Kindern aus Einwandererfamilien“ zu sprechen.
Wenn Fakten gelten, ist die Überlegenheit des deutschen Systems der meisterpflichtigen Handwerksberufe
hinlänglich bewiesen. Es lohnt sich also, den noch verbliebenen Kernbestand zu verteidigen und vielleicht
auch gemeinsam der Frage nachzugehen, wie weit bislang zulassungsfreie Gewerke nicht doch wieder in die
Meisterpflicht zurückgeholt werden können. Es gibt ja
schließlich die Volksweisheit, die uns ermutigt, aus
Schaden klüger zu werden. Allerdings gibt es auch eine
Volksskepsis, wonach eher ein Politiker durch ein Nadelöhr geht, als dass er Fehlentscheidungen korrigiert. Auf der Tribüne habe ich jetzt einige nicken gesehen.
Wir wollen das beim deutschen Meisterbrief anders
machen. Es war eben ein Fehler, sich aufschwätzen zu
lassen, dass von der Deregulierung der Handwerksordnung ein Segen für die deutsche Wirtschaft ausgehe.
({6})
Die vorliegende Entschließung zieht daraus die Konsequenz. In einer Eindringlichkeit, die viele Praktiker des
Handwerks schon 2004 gewünscht hätten, wird festgehalten: Meisterbrief - das ist ein Gütesiegel für gute Arbeit.
Herr Kollege Schabedoth, darf kurz vor Ende Ihrer
Redezeit der Kollege Krichbaum Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen?
Dafür bin ich sehr dankbar.
Das habe ich fast befürchtet: Der Kollege Krichbaum
darf also.
({0})
Herr Kollege Dr. Schabedoth, Sie haben wiederholt
von der Vorgabe der Deregulierung seitens der EU gesprochen. Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass es eine solche Vorgabe des Inhalts, den Sie hier in
den Raum gestellt haben, nicht gegeben hat?
Es war nämlich tatsächlich so, dass die Länder der
Europäischen Union inklusive der Bundesrepublik
Deutschland, wo es diese spezielle Thematik des Meisters gibt, aufgefordert wurden, andere aus der Europäischen Union kommende Handwerker zuzulassen. Wir
hätten aber ohne diesen Kahlschlag in der Handwerksordnung durchaus weiterhin an der Meisterpflicht jener
Berufe festhalten können, die auch bis dato in der Anlage A aufgeführt waren. Das hätte dann zum Tatbestand
der sogenannten Inländerdiskriminierung geführt, was
aber seitens der EU keinesfalls verboten ist und wogegen
die EU auch nicht vorgegangen wäre. Wir hätten an den
höheren Standards festhalten können. Es waren aber leider damals ideologisierende Debatten, gerade bei RotGrün, die dazu geführt haben, dass dann viele Gewerke
aus der Meisterpflicht herausgenommen wurden - was
schade war. Wir konnten es damals nicht verhindern. Ich
selbst war aber damals in diese Dinge involviert und
konnte es auch nicht verhindern.
Vielen Dank, dass Sie Ihre Erinnerung in die Debatte
mit einbringen. Ein berühmtes Mitglied meiner Fraktion
hat mal gesagt: „Hätte, hätte, Fahrradkette“.
({0})
Wir haben damals unter dem Druck einer anderen Debatte anders entschieden. Es gab durchaus den Hintergrund, den Sie nannten: dass auch von der EU der Impuls
kam, den Meisterbrief nicht als letztgültige Zulassung zu
verstehen. Wir haben ja daraus gelernt; darauf habe ich
vorhin noch hingewiesen.
Wenn Sie jetzt mit uns den Restbestand verteidigen
und auch ein wenig mit darauf schauen: „Können wir
vielleicht etwas zurückholen?“, können wir doch einen
Fehler korrigieren. Ich habe jedenfalls meine Gesprächspartner vom Handwerk so verstanden, dass sie das alle
von uns erwarten, übrigens nicht nur von den Regierungsparteien.
({1})
Der Meisterbrief ist ein Segen und kein Relikt; das
wollten meine vielen Kollegen, die vor mir gesprochen
haben, und ich zum Ausdruck bringen. Es ist ja verständlich, wenn die Opposition einer Regierungsvorlage mit
Misstrauen begegnet.
({2})
Doch seien Sie versichert, meine Damen und Herren:
Bei unserem Eintreten für den deutschen Meisterbrief
würde oppositionelles Misstrauen am falschen Gegenstand geübt.
({3})
Ich bitte deshalb auch besonders um die Unterstützung
der Opposition.
({4})
Das wäre ein sehr gutes Signal für rund 1 Million Betriebe des deutschen Handwerks.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Barbara Lanzinger
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Handwerk hat
goldenen Boden“ ist auch ein Sprichwort.
({0})
- Na ja, im Sprichwort heißt es halt „goldenen Boden“
und nicht „grünen Boden“; ich glaube, so weit sind wir
uns schon einig, oder?
({1})
- Gut, in Ordnung. - Das Gold glänzt nicht mehr ganz
so, wie es früher einmal geglänzt hat: Es gibt viele Auflagen und viele Anforderungen an unser Handwerk und
gerade an unsere kleinen und mittleren mittelständischen
Betriebe. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb,
weil diese Kraft dahintersteckt, ist das Handwerk das
Rückgrat unserer Wirtschaft. Ich glaube, gerade diese
kleinen und mittleren mittelständischen Betriebe haben
uns in Deutschland die letzten Jahre, wo es wirtschaftlich gesehen ja nicht so einfach war, sehr wohl geholfen;
ich denke, das muss man festhalten. Wir müssen alles
tun, um diese Kraft zu stärken, und dürfen sie nicht
schwächen.
({2})
Die Handwerksbetriebe mit ihren ausgezeichnet ausgebildeten Beschäftigten und vorneweg den Meisterinnen und Meistern sind - das wurde heute schon ein paarmal erwähnt - das Herzstück und - auch das sage ich
ganz bewusst - der Puls unseres Mittelstandes.
Meine Vorredner haben vieles erwähnt; man könnte
auch sagen, ich hätte von denjenigen, die schon gesprochen haben, abgeschrieben, oder ich wiederholte, was
schon gesprochen wurde. Ich sage aber: Es gibt auch ein
altes Sprichwort in der Werbeindustrie. Demnach muss
man vieles mehrfach sagen und hören, damit es tatsächlich ankommt und angenommen wird.
({3})
Deshalb sage ich noch einmal ganz deutlich in meiner
Rede: Unsere hohe Qualität - made in Germany - ist
Präzisionsarbeit, und unsere Leistungsfähigkeit kommt
nicht irgendwoher oder von ungefähr. Unsere Basis dafür ist eine gute, fundierte Ausbildung, ist das Können,
sind bewährte Strukturen, auf die wir zurückgreifen können, mündend auch im Meisterbrief, und zwar - auch
das sage ich ganz deutlich - nicht nur im Meisterbrief,
sondern vor allem auch im Meistervorbehalt. Ich denke,
es ist wichtig, dies deutlich zu machen; denn es geht auf
europäischer Ebene nicht darum, den Meisterbrief zu untersuchen, sondern vor allem den Meistervorbehalt,
sprich: Wie kann ich mich selbstständig machen, nur mit
einem Meister? - Der Meisterbrief steht nicht zur Disposition.
Es ist auch richtig - ich wiederhole es ganz bewusst -: Bereits Ludwig Erhard hat ganz deutlich gesagt,
dass es sich bei dem Meisterbrief nicht um eine Einschränkung, sondern um einen Nachweis zur Befähigung handelt. Der Meisterbrief - ich glaube, wir sind uns
hier alle einig - ist beileibe kein Hemmnis und schon gar
keine Marktzugangsbeschränkung, sondern ist vielmehr
ein wirksames Instrument zur Leistungssteigerung insgesamt, durch das im Handwerk erst die Voraussetzungen für Wettbewerb geschaffen werden, den wir in unserer Wirtschaft dringend brauchen.
Es ist falsch, von einer Reglementierung zu sprechen
und damit negative Verbindungen herzustellen. Immer
wenn das Wort „Reglementierung“ fällt, denkt man an
Bürokratie und Bürokratieabbau. Das ist in diesem Fall
falsch. Man muss hier sehr wohl differenzieren. Hier ist
die Reglementierung positiv, absolut positiv für mehr
Qualität. Wir müssen uns gemeinsam bei der Umsetzung
der EU-Richtlinien zur Reglementierung der Berufe für
den Erhalt des Instruments Meisterbrief und damit des
Meistervorbehalts starkmachen und dafür kämpfen, dass
dieses bewährte Instrument der Leistungssteigerung erhalten bleibt.
({4})
Die EU-Kommission verfolgt mit ihrem Aufruf zur
Überprüfung das Ziel - ich wiederhole das noch einmal -, durch den Abbau von Regulierung mehr Beschäftigung und Wachstum zu schaffen. Daher sollen wir im
Zuge eines gegenseitigen Evaluierungsprozesses die Zugangsschranken für regulierte Berufe genau überprüfen
und begründen. Aus meiner Sicht - ich denke, wir sind
uns hier einig - muss die Überprüfung und Begründung
heißen, den Meisterbrief nicht nur zu erhalten, sondern
zu stärken. Warum? Weil die Ausbildung vom Gesellen
über die Berufserfahrung hin zum Meister die Basis für
einen qualifizierten und leistungsstarken Wirtschaftsbereich und auch - das sage ich ganz deutlich - für eine solide und wirtschaftliche Unternehmenspolitik ist. Das ist
ein Qualitätssiegel und ein Gütesiegel erster Klasse.
Die Idee von mehr Wachstum und mehr Beschäftigung im Zuge von Dienstleistungsfreiheit auf dem europäischen Binnenmarkt ist wirtschaftlich interessant. Es
ist jedoch sehr wohl fraglich, ob dies durch die Abschaffung des wertvollen Instruments der Meisterprüfung und
damit unserer dualen Ausbildung erreicht werden kann
und erreicht werden sollte.
Ich wiederhole auch - das wurde schon einige Male
erwähnt -: Wir dürfen nicht - ich nenne es ganz bewusst
so - über Qualitätsleichen gehen, um eine europäische
Liberalisierung zu erreichen. Die Erfahrungen der Handwerksnovelle 2004 zeigen uns schon deutlich, dass sie
nicht geholfen hat, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln oder gar
den grenzüberschreitenden Austausch von Handel und
Dienstleistungen zu beflügeln. Ganz im Gegenteil: Die
Abschaffung der 53 zulassungspflichtigen Gewerke hat
bei uns zu einem Qualitätsverlust - ich sage es ganz
deutlich: zu einem enormen Qualitätsverlust - geführt.
({5})
Das darf nicht noch einmal passieren.
Weil man auch in der Politik schlauer werden kann,
haben wir heute diesen Antrag gestellt. Denn wir wollen
im Zusammenhang mit der neuen Evaluierung nicht wieder den gleichen Fehler machen. Wir sagen ganz klar:
Wir müssen den Meister und den Meistervorbehalt erhalten.
({6})
Es stimmt - ich erwähne das ganz bewusst -, dass
sich wegen der damaligen Novellierung heute jeder als
Fliesenleger, als Trockenbauer selbstständig machen
kann. Wenn man heute auf dem Bau arbeitet - da weiß
ich, wovon ich spreche -, dann erlebt man schon, dass
Meisterbetriebe, deren Mitarbeiter eine gute Ausbildung
haben, tatsächlich das ausbaden müssen, was vorher kaputtgemacht worden ist. Deren Auftragsbücher sind aber
übervoll; ich bekomme sie gar nicht auf den Bau, wenn
es tatsächlich zu Pfusch am Bau gekommen ist. Das ist
so, und insofern müssen wir dafür sorgen, dass solche
Dinge nicht mehr passieren.
({7})
Einer meiner Handwerksmeister erzählt mir immer:
Ein gut ausgebildeter Koch, der keine Arbeit kriegt,
kann sich als Estrichleger selbstständig machen. Er weiß
aber nicht, welche Dämmung darunter ist. Der Metzger,
der in seinem Gewerk eigentlich auch sehr gut ist, legt
dann die Fliesen drauf. Dabei kommt nichts Gutes heraus; eine solche „Wurst“ kann man nicht essen.
Es ist auch so, dass sich viele Dienstleister, zum Beispiel Hausmeister, als Handwerker niederlassen. Da
müssen wir schon vorsichtig sein und ganz genau aufpassen, dass die Reglementierung im positiven Sinn in
diesem Fall erhalten bleibt.
({8})
Ich möchte einen Punkt erwähnen, der heute noch
nicht erwähnt worden ist: die Altgesellenregelung, die es
nach wie vor gibt. Gesellen, die über Jahre hinweg in ihrem Betrieb gearbeitet haben, können sich demnach
auch ohne Meisterbrief selbstständig machen und sehr
wohl einen Betrieb eröffnen.
({9})
Ich denke, es ist sehr wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen.
Ein weiterer wichtiger Punkt: die Meisterfrauen im
Handwerk. Ich erwähne sie ganz bewusst.
({10})
- Danke schön. - Wir haben über viele Jahre hinweg darum gerungen, dass die Meisterfrauen im Handwerk sozialversicherungspflichtig angemeldet sind, was früher
nicht so selbstverständlich war; da wurde halt einfach
mitgearbeitet. Wir haben heute eine hohe Qualifikation
der - ich sage es jetzt mal so - angeheirateten Meisterfrauen; ich bin auch so eine angeheiratete Mittelständlerin. Man muss hier schon etwas leisten, man muss sich
fortbilden, weil man oftmals aus branchenfremden Berufen kommt. Die Meisterfrauen im Handwerk - sie nennen sich so - sind ganz wichtig, weil sie unendlich vieles
leisten, wie soziales, gesellschaftliches Engagement
etwa im Hinblick auf die Auszubildenden in den Betrieben, die sie oftmals begleiten. Gerade die Ausbildung im
Handwerk ist sehr nah an den Hauptschulen dran, die
uns sehr wichtig sind. Es ist manchmal nicht ganz einfach, diese jungen Leute wirklich zu fördern und nach
vorne zu bringen.
Ich fasse zusammen. Dies alles zeigt: Das Handwerk
ist für die regionale Wertschöpfung, für unsere gesellschaftspolitische Entwicklung enorm wichtig. Es sichert
in der Region die Bevölkerungsstruktur, die wir brauchen; es hält Jugendliche in den Heimatregionen und
verhindert die Abwanderung in die Städte.
Ich möchte ganz kurz Folgendes erwähnen. Sie alle
wissen, ich komme aus Bayern. Ich denke schon, dass
man sagen sollte, dass mit der Abschaffung der Studiengebühren in Bayern - es ist unerheblich, ob ich damals
damit einverstanden war - die Schaffung des sogenannten Meisterbonus in Höhe von 1 000 Euro einherging,
den wir denjenigen, die die Meisterprüfung machen, zusätzlich bezahlen, um sie zu unterstützen. Das ist sicherlich nicht genug, aber es ist ein deutlicher Anreiz. An
den Fachhochschulen haben wir Studiengänge, in denen
Meister studieren können und dort einen Abschluss, den
Bachelor, machen können. Ich denke, das ist richtig, um
den jungen Menschen, den Gesellen, den Gesellinnen
und den Meistern, einen Weg zu ebnen und sie ein Stück
weit mit Studenten gleichzustellen. Es gibt die immer
fortwährende Diskussion, ob nur ein Studium richtig ist.
Ich halte das für falsch. Ich denke, es ist ganz wichtig,
hier deutliche Zeichen zu setzen.
Ich möchte schließen. Wir müssen aufpassen, dass
wir unsere wertvollen nationalen Regeln zum Berufszugang insgesamt nicht zunehmend verwässern. Uns erwartet da im Rahmen der Transparenzrichtlinie noch einiges, gerade was die freien Berufe betrifft. Da bitte ich
einfach alle, auch mitzuhelfen.
Schließen möchte ich mit dem wunderschönen Satz,
der mich eigentlich mein ganzes Leben lang begleitet
hat: Gott schütze das ehrbare Handwerk!
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({11})
Martin Rabanus ist der nächste Redner für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich freue
mich, als Bildungspolitiker auch einen Beitrag in dieser
Debatte leisten zu können. Ich will mich in dieser Rolle
auch nicht über Handwerksordnungsänderungen aus
dem Jahr 2004 auslassen; ich will mich auch nicht darüber auslassen, ob es sinnvoll oder legitim ist, sich Forderungen vom Handwerk oder von Gewerkschaften anzueignen, sondern ich möchte mir diesen Bereich aus
bildungspolitischer Sicht anschauen, und das fast am
Ende des parlamentarischen Jahres. Eine Sitzungswoche
haben wir noch, und dann neigt sich das Jahr 2014 dem
Ende entgegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus bildungspolitischer Sicht war
das Jahr 2014 ein gutes Jahr für Deutschland.
({0})
Wir haben in der letzten Woche einen Rekordhaushalt
für den Bildungsbereich beschlossen, wir haben die
Fortsetzung des Hochschulpakts und des Pakts für Forschung und Innovation beschlossen, wir haben die Abschaffung des Kooperationsverbots im Hochschulbereich beschlossen, wir haben eine BAföG-Novelle
beschlossen, und wir haben erst gestern die HightechStrategie diskutiert.
Weiterhin haben wir in diesem Jahr 2014 der beruflichen Bildung in der parlamentarischen Arbeit und in den
parlamentarischen Debatten einen Raum eingeräumt wie
seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr. Deswegen sage ich auch: Es war ein gutes Jahr für die berufliche Bildung in Deutschland. Denn, Frau Strothmann,
wir haben in diesen Debatten ja auch den Stellenwert der
beruflichen Bildung als der zentralen Säule in der beruflichen Erstausbildung in Deutschland verdeutlichen
können und, wie ich schon glaube, auch den jungen
Menschen verdeutlichen können, welche Perspektiven,
welche Chancen darin liegen. Diese Chancen ergeben
sich nicht nur für die jungen Menschen, sondern auch für
die Wirtschaft, die die Fachkräfte braucht. Das ist schon
erwähnt worden. Für die Gesellschaft insgesamt ist es
wichtig, dass diese Chancen ergriffen werden. Deswegen, glaube ich, war es auch richtig, genau diesen
Schwerpunkt in den parlamentarischen Debatten zu setzen, und zwar ohne einen Konflikt mit der allgemeinen
oder akademischen Bildung zu produzieren. Das festzustellen, ist mir an der Stelle noch einmal ganz wichtig.
({1})
Wir brauchen beide Säulen der Qualifikation in unserem
Land, weil sie sich ergänzen. Wir müssen immer wieder
betonen - davon bin ich in der Tat felsenfest überzeugt -, dass diese Säulen der Bildung und der Ausbildung gleichwertig sind.
Ich will noch hinzufügen: Gerade das berufliche Bildungssystem halte ich in besonderer Weise für anschlussfähig, in besonderer Weise für durchlässig und in
besonderer Weise für geeignet, einmal einen Umweg zu
ermöglichen. Denn in der Kombination von theoretischem
und beruflichem Wissen, die wir in der beruflichen Bildung ja haben, leiten sich ganz andere Berufsperspektiven
ab, leiten sich quasi auch andere Einkommensmöglichkeiten ab, die sich so manch ein Politikstudent durchaus
wünschen würde. Ich darf das sagen, weil ich selber
solch ein Politikstudent gewesen bin.
({2})
Ich habe mich nicht nur einmal mit der Frage eines Taxischeins auseinandergesetzt. Aber Spaß beiseite! Das
ist etwas, was, glaube ich, in den Debatten der letzten
Monate deutlich geworden ist.
Heute ist der Meisterbrief, der große Befähigungsnachweis, die Krone der beruflichen Ausbildung in
Deutschland, im Fokus. Er ist - das ist gesagt worden Garant für hohe praktische, theoretische und auch soziale Kompetenzen. Er befähigt zum Führen eines Unternehmens, er befähigt dazu, das eigene Wissen auch an
die nächste Generation weiterzugeben. Das Stichwort
„Ausbildung“ ist dazu genannt worden. Er befähigt
dazu, in dem jeweiligen Fach Standards zu setzen und zu
sichern. Dieser Meisterbrief, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht in der Tat in der Wertigkeit einem
Abschluss an einer Hochschule in nichts nach;
({3})
erst recht nicht - das habe ich eben schon gesagt - bei
der Eröffnung von Lebensperspektiven. Deswegen ist es
aller Ehren wert, dass wir gemeinsam in diesem Hohen
Haus dafür sorgen, dass der Meisterbrief erhalten bleibt,
gerade weil unser duales Berufsausbildungssystem ein
Exportschlager ist.
({4})
Wir müssen jetzt - das ist ein kleiner Ausblick ins
nächste Jahr - auch dafür sorgen, dass möglichst viele
Menschen die Chance erhalten, die Meisterschule zu besuchen; ich spreche da natürlich vom Meister-BAföG.
Wir werden das Aufstiegsausbildungsförderungsgesetz
- das haben wir uns in der Koalition vorgenommen - im
nächsten Jahr reformieren und novellieren.
Wir wollen die Förderbedingungen verbessern. Wir
wollen den Kreis der geförderten Personen ausweiten.
Wir wollen die Förderung selbst erhöhen.
({5})
Wir wollen dabei die Möglichkeit von Frauen ebenso
- ich sage das, mit Verlaub, in dieser Reihenfolge - wie
die Möglichkeit von Menschen mit Behinderungen - wir
haben erst am Mittwoch über die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen diskutiert -, Meisterschulen zu
besuchen, verbessern. Wir wollen jungen Menschen, die
einen akademischen Bildungsweg eingeschlagen haben,
die aber erkennen, dass das nicht wirklich der richtige
Weg für sie ist, die Möglichkeit eröffnen, die Meisterschule zu besuchen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das Jahr
2014 war ein gutes Jahr für die Bildung, weitere werden
folgen.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Martin Feist für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Ach so, was habe ich gesagt?
({1})
- Na ja, gut. Wir haben das jetzt einvernehmlich im Protokoll klargestellt. Damit steht einem fulminanten Auftritt überhaupt nichts mehr im Wege.
({2})
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich war nur ganz kurz
etwas unsicher; denn Ihr Wort ist mir natürlich Befehl.
Aufgrund der Qualität der heutigen Schriftführerliste
kann das schon einmal passieren, dass man „Martin“
statt „Thomas“ liest.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Antrag zum Meisterbrief. Man
muss sich den Hintergrund dieses Antrags vor Augen
führen. Die Europäische Kommission hatte festgestellt:
In vielen Handwerksbranchen, einschließlich des Baugewerbes, ist nach wie vor ein Meisterbrief oder eine
gleichwertige Qualifikation erforderlich, um einen Betrieb zu führen. - Liebe EU-Kommission, das ist richtig,
und daran werden wir festhalten.
({1})
Warum macht die Europäische Kommission Vorgaben? Ich glaube nicht, dass sie dies tut, um uns zu ärgern. Was steckt dann also dahinter? Es ist die Frage:
Wie mobil können Menschen in Europa sein? Wie einfach ist die Freizügigkeit in Europa gerade auch im beruflichen Sektor?
Ja, es ist richtig, Mobilität zu fördern. Aber genauso
wichtig ist es, zu erkennen, dass Mobilität Qualität voraussetzt, und Qualität im Bereich der Berufe und auch
im Bereich der beruflichen Bildung erreichen wir nur
durch eine starke Verzahnung von einem theoretischen
Teil und einem praktischen Teil, die dadurch sichergestellt wird, dass Berufsschullehrer und Meister in hervorragender Art und Weise zusammenarbeiten. Liebe
Europäische Kommission, dies könnte doch ein Beispiel
für ganz Europa sein.
({2})
Über den Stellenwert von beruflicher Bildung und
akademischer Bildung ist bereits gesprochen worden. Da
schlagen - wie einige Kollegen wissen - zwei Herzen in
meiner Brust. Ich habe einen Gesellenbrief als Heizungsmonteur und einen Doktortitel in Musikwissenschaft; eine typische ostdeutsche Bildungsbiografie, die
aber überall möglich ist.
({3})
- Es muss nicht jeder Musikwissenschaftler werden; das
ist in Ordnung. Aber dann wird man auch nicht gewählt;
das ist die Gefahr gerade in Thüringen. ({4})
Diese beiden Herzen schlagen also in meiner Brust. Deswegen ist es mir wichtig, dass wir in dieser Debatte die
akademische nicht gegen die berufliche Bildung ausspielen, sondern die Gleichwertigkeit von beiden betonen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir für
den Verlauf der weiteren Beratung, dass wir die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung
anerkennen. Im Deutschen Qualifikationsrahmen haben
wir dazu einiges gesagt. Auch im Europäischen Qualifikationsrahmen ist uns diesbezüglich Entscheidendes gelungen. Lassen Sie uns daran festhalten.
({5})
Vor dem Hintergrund der Bildungsbiografien kann
man natürlich darüber diskutieren, ob es nicht besser
wäre, wenn eine berufliche Ausbildung der Regelfall
wäre und wenn der gesellschaftliche Druck, ein Studium
aufzunehmen, nicht noch mehr zunähme. Man kann
diese Frage stellen. Vor dem Hintergrund, dass ungefähr
30 Prozent der Studienanfänger ihr Studium vorzeitig
abbrechen, sollte man diese Frage sogar stellen. Dann zu
sagen - dieses Argument ist in dieser Debatte vorgetragen worden -, dass bei einem Studienabbruch die berufliche Bildung immer noch gut genug ist, halte ich für den
genau falschen Hinweis.
({6})
Wir müssen vielmehr sagen: Berufliche Bildung hat ihren Wert, und aufgrund der Durchlässigkeit unseres Bildungssystems kann jeder mit jeder Qualifikation alles erreichen. Das müssen wir den jungen Leuten noch
deutlicher sagen.
({7})
Was tun wir als Bund und wir Bildungspolitiker für
die berufliche Bildung? Wir setzen - Kollege Rabanus
hat es angesprochen - Geld ein. Das ist gut und richtig.
Das ist prima investiertes Geld. Aber auch in Sachen
Meisterbrief sind wir nicht untätig. Wir geben beispielsweise 24 Millionen Euro im Jahr für die Begabtenstiftung aus. Dadurch haben die Leute, die sich auf eine
Meisterprüfung vorbereiten, die Möglichkeit, bis zu zwei
Jahre lang einen bestimmten Betrag als Stipendium zu
erhalten.
({8})
Ich sage Ihnen: Drei Viertel der jungen Menschen, die
diese Förderung bekommen, nutzen sie, um eine Meisterprüfung abzulegen. Lassen Sie uns schauen, wie wir
sie noch weiter ausbauen können.
Führen wir uns noch einmal die duale Ausbildung vor
Augen. Als Bildungspolitiker ist mir dieses Thema ein
wichtiges Anliegen. Es geht nicht nur um die Frage, wie
erfolgreich das Handwerk ist, sondern es geht auch um
das Image des Handwerks. Für junge Leute, die noch
nicht wissen, welchen Lebensweg sie einschlagen wollen - Berufsausbildung oder Studium -, spielt das Image
eine wichtige Rolle. Das Handwerk hat mit seiner
Imagekampagne viel dazu beigetragen, dass die Attraktivität einer Ausbildung in einem Handwerksberuf gestiegen ist. Das spiegelt sich noch nicht überall in den Zahlen wider; aber beispielsweise in Sachsen haben wir bei
den Ausbildungsverhältnissen im Handwerk im letzten
Jahr einen Zuwachs von 4 Prozent verzeichnen können.
Wir sollten den jungen Leuten sagen: Fangt eine Ausbildung im Handwerk an, bringt euch ein, und später könnt
ihr euch vielleicht weiterqualifizieren. Das ist der richtige Ansatz. Dazu sollten wir die jungen Leute ermutigen.
({9})
Für die Ausbildung im Handwerk ist eine Person von
zentraler Bedeutung: der Meister. Der Meister steht wie
kein anderer für das Handwerk. Das sind Menschen, die
mitten im Leben stehen. Das sind Menschen, die Berufsund Bildungserfahrung haben. Das sind Menschen, die
sich für andere einsetzen. Da wir heute den Tag des Ehrenamtes haben, kann man schon einmal sagen, dass
nicht nur das ehrenamtliche Engagement der Meister in
den Handwerkskammern ein hohes Gut ist, sondern auch
das darüber hinausgehende Engagement vieler Handwerksmeister. Beispielsweise engagieren sich viele für
die Weiterbildung derjenigen, die in ihrem ersten Bildungsweg nicht so erfolgreich waren.
Wir sollten die Meister auch deswegen stärken, weil
wir dem Handwerk ein Gesicht geben müssen. Deswegen ist dieser Antrag trotz aller Kritik am Antragstext,
die verschiedentlich geäußert worden ist, wichtig. Es ist
doch richtig, dass sich das deutsche Parlament in diese
Debatte einbringt und sagt: Wir entscheiden uns für eine
Unterstützung des Handwerks; wir entscheiden uns für
eine Unterstützung des Meisterbriefs. - Das ist doch ein
wichtiges Signal nach draußen.
({10})
- Den Elan habe ich mir von Ihnen, Frau Andreae, abgeschaut.
({11})
Allerdings: Ich fokussiere mich auf die Inhalte. Das ist
der Unterschied.
Wenn wir nach Europa und darüber hinaus schauen,
dann stellen wir fest, dass oft gefragt wird: Wie können
wir etwas für unsere jungen Menschen im Bereich der
dualen beruflichen Bildung tun? - Oftmals wird vergessen, welchen Anteil die Unternehmen mit ihren Meistern
an der Ausbildung haben und welche finanziellen Mittel
eingesetzt werden. 24 Milliarden Euro im Jahr, die die
Unternehmen einsetzen, sind doch kein Pappenstiel. Übrigens sind viele davon kleine und mittlere Unternehmen, die einen Meister oder eine Meisterin an der Spitze
haben.
Schauen wir einmal über Europa hinaus. Wo sind
denn die Länder, in denen Hochtechnologie und Produktion, also Wertschöpfung im eigenen Land, am besten
miteinander verbunden werden? Da fällt mir ein schönes
Beispiel aus Israel ein. Dort gibt es einen Kibbuz, der
Beth El heißt. Der stellt unter anderem Hochtechnologiegüter her. Der Kibbuz hat eine eigene Berufsschule
mit Meistern. Dort werden nicht nur die eigenen Leute
ausgebildet, sondern auch viele Zuwanderer, für die
diese Ausbildungsstätte der erste Anlaufpunkt und eine
Chance für eine gelungene Integration in die Gesellschaft ist. Dieses Modell sollte uns doch Mut machen.
Wenn wir außerhalb unseres Landes unser System entdecken, sollten wir stolz darauf sein und dazu stehen.
({12})
Dass der Meisterbrief in Deutschland auch in letzter
Zeit eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren hat, sieht
man nicht zuletzt daran, dass sich auch unser Bundespräsident zu diesem Thema mehrfach geäußert hat. Ende
November war Bundespräsident Gauck in Dresden und
hat dort an einer Meisterfeier teilgenommen. Er hat davon gesprochen, wie wichtig diese Säule in Deutschland
ist.
Dazu muss ich sagen: Ich verstehe oftmals Vorbehalte
unserer europäischen Partner, die sagen: Jetzt kommen
die Deutschen und wissen schon wieder irgendetwas
besser. - In diesem Punkt kann ich sie beruhigen. Wir
wissen nicht nur etwas besser, sondern wir machen das
auch besser. Deswegen sollte dieses Modell des Meisterbriefs auch in Europa das Modell sein, an dem wir uns
orientieren.
({13})
Da es manchmal schwierig ist, von Brüssel nach Berlin zu schauen und zu wissen, was die Abgeordneten hier
machen, würde ich der Kommission empfehlen, in den
Dokumenten nachzuschauen, die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg veröffentlicht worden sind. Dort habe ich in diesem Jahr eine
Rede zu diesem Thema gehalten, das nach Europa gehört. Mit einem kurzen Zitat möchte ich schließen:
Exzellenz in der beruflichen Bildung heißt für mich
und meine Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, dass wir uns über gemeinsame Ausbildungsstandards an dem orientieren, was in Deutschland
und anderen Ländern der Gesellenbrief und der
Meisterbrief ist. Auf diese Weise schaffen wir Mobilität im beruflichen Sektor auf hohem und höchstem Niveau. Mobilität der exzellent Qualifizierten
statt Mobilität der Unterbezahlten. Mobilität mit
Mehrwert für alle. Und ein Stück mehr Gerechtigkeit für junge Menschen in Europa.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 18/3317 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte
am NATO-geführten Einsatz Resolute Support Mission für die Ausbildung, Beratung
und Unterstützung der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte in Afghanistan
Drucksache 18/3246
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss ({1}), Frank Heinrich
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gabi Weber, Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Transformationsdekade mit zivilen Mitteln
erfolgreich gestalten
Drucksache 18/3405
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 96 Minuten dauern. - Das ist offensichtlich unstreitig. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesaußenminister das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang 2002 besuchten zwei deutsche Reporter Afghanistan, um den Zustand des Landes nach der Befreiung von
den Taliban zu erkunden. Sie sind eingereist über den
Norden, über die Grenze zu Tadschikistan, und an der
Grenze verabschiedete der Zöllner die beiden Journalisten damals mit den Worten: „Viel Spaß im Mittelalter“.
Das, was die Journalisten damals, im Jahre 2002, gesehen haben, entsprach dem in der Tat. Sie waren geschockt von dem, was sie sahen: Menschen, die in
Lehmhütten ohne Türen hausten, Menschen in Lumpen
rund ums Feuer versammelt, wo das kärgliche Mahl angerichtet wurde. Sie sahen grausame Dinge, wie den
Jungen mit dem verstümmelten Kniegelenk in einem
Dorf in der Provinz Takhar, dessen offene Wunde wohl
mit heißem Teer desinfiziert worden war.
„Stunde null im Mittelalter“, hieß die Überschrift dieser Reportage aus dem Jahre 2002, und das Fazit der Reportage lautete damals: „Es ist schwer, ein Land wie Afghanistan in die Neuzeit zu holen.“
Meine Damen und Herren, kein Thema hat die außenpolitische Debatte in Deutschland in den vergangenen
Jahren wahrscheinlich so intensiv geprägt wie unser Engagement dort am Hindukusch. Es begann mit den Anschlägen vom 11. September, dem ISAF-Einsatz und der
Konferenz auf dem Bonner Petersberg. Deutschland hat
damals mit Verbündeten Verantwortung für Afghanistan
übernommen und tut das in großem Umfang auch bis
heute.
In weniger als einem Monat ist der NATO-Einsatz
ISAF, der damals begonnen hat, Geschichte. Das muss
für uns natürlich Anlass sein, eine Bilanz zu ziehen, die
auch selbstkritisch sein darf und sein muss. Es geht nicht
darum, ob wir, wie es in diesem Artikel heißt, „Afghanistan in die Neuzeit“ holen oder geholt haben, sondern
es geht vielmehr um die politische Frage, inwieweit sich
unser risikoreicher Einsatz gelohnt hat. Es geht auch darum, was wir richtig gemacht haben und wo Fehler unterlaufen sind, und darum, mit welchem Aufwand und
welchen Zielen wir diesen Einsatz für die Zukunft weiter
betreiben sollen.
Die, die immer dagegen waren, diejenigen, die an der
Oberfläche bleiben wollen, sind natürlich immer schnell
dabei, diesen Einsatz als gescheitert anzusehen. Viele
haben dies gesagt oder geschrieben. In der Tat: In Teilen
des Landes floriert immer noch die Drogenökonomie.
Korruption behindert oftmals die Modernisierung von
Staat und Gesellschaft. In vielen Provinzen herrschen
mächtige Warlords. In Teilen des Landes regiert auch
noch Gewalt. Wer sich eine Gleichberechtigung der
Frauen erhofft hat, kann trotz mancher Fortschritte natürlich nicht zufrieden sein. Und, ja, es gibt auch immer
noch die radikal-islamischen Taliban.
Alles das ist richtig. Die Frage, die wir uns aber auch
zu stellen haben, lautet: Ist das die ganze Wahrheit?
Denn auf der anderen Seite haben wir vieles für die Entwicklung dieses Landes erreicht. Natürlich leben immer
noch viele Menschen in Armut, aber die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist eben - und das
ist ein Fortschritt - von 45 auf 60 Jahre gestiegen.
({0})
Die Sterblichkeitsrate von Müttern und Kindern ist extrem gesunken. Erfreulich viele Mädchen gehen zur
Schule. Über 200 000 Studenten sind an den Hochschulen eingeschrieben. Es gibt auch asphaltierte Straßen,
Strom, Handys und Autos. Es gibt eine Zivilgesellschaft,
und es gibt eine beachtliche Zahl relativ unabhängiger
Medien. Auf dem Pressefreiheitsindex der Organisation
Reporter ohne Grenzen - das weiß man auch nicht unbedingt - liegt Afghanistan mittlerweile vor seinen Nachbarstaaten Indien, Pakistan und Usbekistan.
Deshalb sage ich: Alles das ist zwar wahrlich kein
Anlass zur Selbstzufriedenheit, und wir müssen uns für
diesen Einsatz auch nicht gegenseitig auf die Schultern
klopfen, aber es gibt eben ganz konkrete Erfolge, die wir
auch nicht geringschätzen sollten und die ohne den Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft nicht erreicht worden wären.
({1})
Vielleicht noch wichtiger als die Details, über die viel
gesagt und geschrieben worden ist: Wir haben dieses
Land nicht im Chaos versinken lassen. Wir haben es von
einer terroristischen Herrschaft befreit, und heute geht
keine terroristische Gefahr mehr von Afghanistan aus.
Das ist wichtig für uns, aber das ist genauso wichtig für
Afghanistan selbst.
Ja, Sicherheit und Entwicklung sind immer noch fragil in Afghanistan. Ja, vielleicht haben wir selbst zu
große Erwartungen gehabt und zu große Erwartungen
geweckt mit dem, was wir erreichen wollten. Trotzdem
ist das Land ein anderes geworden. Jüngster Beleg dafür
ist aus meiner Sicht der Wechsel im Präsidentenamt im
Sommer von Hamid Karzai zu Ashraf Ghani, der in dieser Woche hier ist. Das war keine leichte Übung, weder
für Afghanistan noch für die internationale Staatengemeinschaft. Aber er ist am Ende gelungen, und ich bin
sicher, das wird sich auszahlen.
Die Wahlen im vergangenen Sommer sind schon damals weitgehend abgesichert worden durch afghanische
Sicherheitskräfte. Auch darin zeigt sich, dass sich viele
unserer Bemühungen gelohnt haben.
Die neue Regierung der Nationalen Einheit unter
Staatspräsident Ghani und dem Regierungsvorsitzenden
Abdullah Abdullah hat unsere Unterstützung, damit es
in Afghanistan weiter vorangeht. Diese Unterstützung
- hoffentlich auch in Ihrem Namen - werden wir den
beiden bei ihrem heutigen Besuch in Berlin erneut zusichern.
({2})
Wenn wir heute auf 13 Jahre Engagement in Afghanistan zurückblicken, dann blicken wir auch auf Opfer
zurück, die wir, die internationale Staatengemeinschaft,
und die wir, auch Deutschland, in den vergangenen Jahren gebracht und noch mehr zu beklagen haben. Über die
Jahre haben Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
über 130 000 Einsätze in Afghanistan geleistet. Bis zu
5 500 waren teilweise gleichzeitig dort im Einsatz.
Seit Beginn dieses Einsatzes haben 55 von ihnen in
Afghanistan ihr Leben gelassen. Hinzu kommen zahlreiche körperliche und seelische Verletzungen. Wir gedenken der Opfer, und unser aufrichtiges Mitgefühl gilt den
Hinterbliebenen und Angehörigen. Unser Mitgefühl ist
mit all denjenigen, die weiter an ihren Verletzungen zu
tragen haben.
Ich möchte an dieser Stelle unseren Soldatinnen und
Soldaten danken und sagen: Unter oft schwersten Bedingungen haben Sie über die Zeit des gesamten Einsatzes
dazu beigetragen, dass jenes Maß an Sicherheit geschaffen werden konnte, ohne das Wiederaufbau und Entwicklung nicht möglich gewesen wären. Sie haben Ihren
Dienst mit wirklich bemerkenswerter Professionalität
versehen, vom Beginn des Einsatzes bis zum nun erfolgten Abzug aus dem Lager Kunduz und zur Reduzierung
unserer Präsenz in Masar-i-Scharif. Für all das gebühren
Ihnen Dank und größter Respekt unseres Landes.
({3})
Aber unser Engagement war nicht nur auf das Militärische beschränkt und ist es niemals gewesen. Deshalb
gilt derselbe Dank auch den Polizistinnen und Polizisten,
die ihren Beitrag zum Aufbau eigener afghanischer Sicherheitskräfte, einer eigenen afghanischen Polizei geleistet haben. Danken möchte ich den vielen deutschen
Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern und
auch den Diplomatinnen und Diplomaten, die - das dürfen wir nicht vergessen - unter Eingehung persönlicher
Risiken und mit unglaublich großem Engagement unseren afghanischen Freunden Hoffnung gegeben haben,
dass es eine Alternative zu Krieg und Bürgerkrieg gibt,
dass es eine Zukunft für Afghanistan gibt. Ihnen allen
herzlichen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 1. Januar 2015
schlagen wir ein neues Kapitel in der jüngeren afghanischen Geschichte auf. Die Regierung in Kabul wird die
volle Verantwortung übernehmen für die innere und äußere Sicherheit des Landes. Die internationale Unterstützung endet nicht abrupt, aber sie bekommt ein neues Gesicht. An die Stelle von ISAF tritt der Einsatz von
Resolute Support, und über den militärischen Beitrag
stimmen wir heute ab.
Aber unser Engagement wird auch weiterhin nicht
nur militärisch sein. Wir werden bis 2016 jedes Jahr
430 Millionen Euro in zivile Aufbauhilfe investieren, sei
es für den Aufbau von Schulen, für den weiteren Ausbau
von Infrastruktur, für die Elektrifizierung des Landes
oder für die Stärkung einer Basisgesundheitsversorgung.
Sicherheit ist die Voraussetzung für vieles, auch für
zivile Unterstützung. Aber wenn Afghanistan jemals
vollständig auf eigenen Füßen stehen will, dann braucht
es gerade jetzt nachhaltige Entwicklung. Wir alle haben
lernen müssen, dass wir dafür einen verdammt langen
Atem brauchen. Das gilt auch weiterhin.
Der Ihnen vorliegende Mandatsantrag regelt die Beteiligung deutscher bewaffneter Streitkräfte an Resolute
Support. Anders als ISAF ist Resolute Support kein
Kampfeinsatz; denn die beteiligten Streitkräfte haben
nicht die Aufgabe, sich an der Terror- und Drogenbekämpfung zu beteiligen, sondern dieser Einsatz folgt einer anderen Philosophie, der Philosophie, dass afghanische Sicherheitskräfte zukünftig auf eigenen Füßen
stehen müssen. Sie tragen die volle Verantwortung für
die Sicherheit im Land. Nur in zentralen Bereichen, bei
denen wir heute davon ausgehen müssen, dass da noch
Defizite bestehen, werden Ausbilder und Berater von der
internationalen Staatengemeinschaft zur Verfügung gestellt werden. Daneben wird der Auftrag auch die Not7080
fallhilfe für zivile Helfer der internationalen Staatengemeinschaft beinhalten.
Der Einsatz beruht auf der ausdrücklichen Zustimmung der afghanischen Regierung und dem vom Parlament mit eindrucksvoller Mehrheit ratifizierten NATOAfghanistan-Truppenstatut. Wir hoffen zudem, dass der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch im Dezember eine Resolution verabschieden wird, die Resolute
Support politisch flankiert. Die Verhandlungen über diese
Resolution laufen derzeit in New York. Wir tun alles,
was wir können, um hier zu einem positiven Ergebnis zu
kommen.
Deutschland wird auch über das Jahr 2015 hinaus in
Afghanistan engagiert bleiben. Das gilt für viele Bereiche. Was das für den Bereich der Sicherheit und für den
Bereich Ausbildung und Beratung heißt, das werden die
NATO-Verbündeten im Verlaufe des kommenden Jahres
untereinander diskutieren und analysieren, wie Resolute
Support in 2015 verläuft.
Was man aber jetzt schon sagen kann: Die Frage der
Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte wird
auch langfristig von strategischer Bedeutung bleiben.
Deshalb beabsichtigen wir als Bundesregierung, ab 2015
etwa 150 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen: 80 Millionen Euro für die Finanzierung der afghanischen Armee, 70 Millionen Euro für die Polizei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung
muss weitergehen. Wir stehen zur Unterstützung bereit.
Aber uns muss bewusst sein: Die Einflussmöglichkeiten
von außen haben ihre natürlichen Grenzen, und sie sollen sie auch haben. Deshalb: Alle unsere Bemühungen
werden nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die
Afghanen selbst einen erfolgreichen politischen Prozess
gestalten. Ich habe gesagt: Der erste friedliche und demokratische Präsidentenwechsel ist ermutigend; das ist
ein Fortschritt. Aber ich bin auch weiter der Überzeugung, dass nur ein innerafghanischer Versöhnungsprozess, nur eine politische Lösung am Ende wirklich dauerhaften Frieden für Afghanistan bringen kann.
Wir stehen bereit, Afghanistan weiter zu unterstützen.
Die Mission Resolute Support ist ein Teil dieser Unterstützung. Wir erinnern uns: Die ISAF-Mandate haben
hier im Hohen Hause stets eine breite Unterstützung gefunden. Ich hoffe, dass das für Resolute Support in ähnlicher Weise gilt. Ich jedenfalls glaube, es entspräche der
gemeinsamen Verantwortung, die wir hier für ein schwieriges und lang andauerndes Engagement tragen. Deshalb
darf ich Sie, auch im Namen von Frau von der Leyen
- sie kann heute wegen eines Trauerfalls nicht hier sein und im Namen der ganzen Bundesregierung, um Zustimmung für dieses Mandat bitten.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. - Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen,
liebe Gäste auf den Tribünen!
Nächster Redner in der Debatte ist Wolfgang Gehrcke
für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie werden mir nachsehen,
({0})
dass ich als Erstes meinem Kollegen Bodo Ramelow zu
seiner Wahl zum Ministerpräsidenten in Thüringen gratulieren möchte.
({1})
Gratulation auch an SPD und Grüne! Für mich ist es ein
sehr hoffnungsvolles Zeichen, dass man mit einer klaren
Antikriegsposition - ich habe zusammen mit Bodo
Ramelow an unendlich vielen Demonstrationen gegen
den Krieg in Afghanistan teilgenommen - Wahlen gewinnen kann. Das ist ein Signal in eine andere Richtung;
so nehme ich es auf. Deswegen freue ich mich darüber.
({2})
Ich habe viel darüber nachgedacht und bin zu dem
Schluss gekommen, dass wir uns als Abgeordnete des
Bundestags in der heutigen Parlamentssitzung aus Trauer
um die Opfer des Krieges in Afghanistan - ich sage ausdrücklich dazu, Herr Außenminister, dass ich die Opfer
sowohl aus Afghanistan als auch aus anderen Ländern
meine - hätten erheben und Abbitte für unseren Anteil
an diesem Krieg mit zahlreichen Opfern leisten müssen.
Eine solche Geste des Parlaments wäre angebracht gewesen.
({3})
Ich verstehe nicht, warum man die afghanischen Opfer
aus der Trauer immer herausnimmt. Ich weiß, dass es
eine solche Geste nicht geben wird, auch deshalb nicht,
weil es bei den anderen Fraktionen keine Bereitschaft
gibt, sich schonungslos Rechenschaft darüber abzulegen,
was passiert ist.
({4})
Der Antrag der Bundesregierung lautet im Klartext:
850 Bundeswehrsoldaten werden im Rahmen eines
12 000 Personen umfassenden Kontingents der NATO
und anderer Staaten in Afghanistan stationiert. Es gibt
bis zum heutigen Tag kein UNO-Mandat dafür. Sie sagen, dass Sie sich darum bemühen werden. Es gibt aber
kein Mandat. Sie entscheiden, obwohl die UNO ihre
Position bisher nicht dargelegt hat. Das bricht mit allem,
was Sie versprochen haben. Das ist kein Abzugsmandat,
sondern ein Mandat, das möglicherweise dafür sorgt,
dass der Krieg weitergeht.
Ich erinnere daran, dass wir die Namen der Opfer von
Kunduz, zu deren Tötung ein deutscher Offizier den Befehl gegeben hatte, hier im Parlament hochgehalten haben. Wir sind damals herausgeflogen. Aber es blieben
die Fragen: Warum ist das Ganze eigentlich passiert?
Hat es keine anderen Wege gegeben? Wurden andere
Wege nicht eingeschlagen, und warum nicht? Wann begreift der Bundestag endlich die Schwere der Fehleinschätzung, sich am Afghanistan-Krieg beteiligt zu haben?
({5})
Deutschlands Sicherheit ist nicht am Hindukusch verteidigt worden. Deutschland hat Krieg am Hindukusch
geführt. Das hätte angesichts der deutschen Geschichte
und unserer Verantwortung eigentlich unmöglich sein
müssen. Das Parlament hätte eine entsprechende Entscheidung treffen müssen.
({6})
Seit 13 Jahren dauert nun der Krieg in Afghanistan.
Ich frage mich, wann die Bundeswehr endlich vollständig abgezogen wird. Für einen vollständigen Abzug sorgen Sie nicht. Ich frage Sie, ob Sie nicht endlich begreifen wollen, dass dieser Krieg verloren ist, militärisch,
moralisch, sozial und politisch. Meine Fraktion hat als
Einzige von Anfang an kategorisch gesagt: Man kann
den Kampf gegen den Terror gewinnen, wenn man seine
Ursachen austrocknet. Aber ein Krieg gegen den Terror
ist nicht zu gewinnen. - Das ist das Ergebnis und die
Botschaft von Afghanistan.
({7})
Sie haben im Wesentlichen immer vier Argumente für
den Einsatz in Afghanistan angeführt. Ich habe sie nie
geglaubt. Ich glaube, dass es andere Gründe für diese
Auseinandersetzung gegeben hat.
({8})
Aber ich will mich noch einmal ein Stück weit mit Ihren
Argumenten auseinandersetzen. Sie haben gesagt, der
Krieg in Afghanistan sei ein Krieg gegen den Terror. Ich
frage Sie sehr ernsthaft: Ist die Terrorgefahr heute kleiner oder größer geworden? Jeder, der halbwegs hinschaut, wird zugeben: Die Terrorgefahr ist heute größer
geworden. Durch die Kriegsbeteiligung der NATO,
Deutschlands und der USA sind Tausende Leute in die
Hände der Terroristen getrieben worden. Das halte ich
für das größte Versagen in diesem Krieg. Was wir nun
im Nahen Osten erleben - ich nenne als Beispiel IS -,
hat seine Wurzeln auch im Afghanistan-Krieg. Sehen Sie
endlich ein, dass dieser Weg falsch ist, dass man einen
anderen Weg einschlagen muss.
({9})
Sie haben uns erzählt, dieser Krieg müsse geführt
werden, um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu stoppen. Wie ist es nun? Ist die Gefahr
kleiner oder größer geworden? Ein Blick darauf zeigt
doch, dass die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen größer und nicht kleiner geworden ist. Auch hier war Krieg nicht die richtige Antwort.
Ich frage Sie, ob Sie noch heute Ihr Versprechen einlösen wollen, dass es ein Krieg für Demokratie gewesen
ist.
({10})
Sowohl das, was in Afghanistan herrscht, als auch das,
was wir weltweit erleben - die Entstaatlichung und den
Niedergang von Staaten -, sind ein Schlag gegen die Demokratie. Dieser Krieg hat die Demokratie nicht befördert, sondern ein Stück weit vernichtet.
Ihr Argument war: Das ist ein Krieg um Menschenrechte. Glauben Sie heute noch ernsthaft, man könne
Menschenrechte mit Krieg verteidigen? Krieg und Tötung, Blut, Dreck und Vernichtung sind immer das Gegenteil von Menschenrechten. Dieser Krieg hat Menschenrechte nicht verteidigt, sondern infrage gestellt und
vernichtet.
({11})
Das wollen wir hier im Parlament aussprechen; denn
ohne eine Auseinandersetzung damit werden wir kein
Stück vorankommen.
({12})
Es werden ja Kollegen der SPD und der CDU/CSU
sprechen: Erklären Sie dem Parlament doch einmal, warum Sie ohne Beschluss der Vereinten Nationen diesen
Einsatz jetzt vom Zaune brechen. Das werden Sie nicht
erklären können. Das widerspricht Ihren eigenen Positionen. Deswegen wäre die einzig richtige Botschaft:
Schluss mit der deutschen Beteiligung am AfghanistanKrieg - vollständig und sofort!
({13})
Vielen Dank, Wolfgang Gehrcke. - Nächster Redner
in der Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Silberhorn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
2014 ist eine entscheidende Wegmarke in der Entwicklung Afghanistans. Zum ersten Mal in der Geschichte
des Landes hat eine demokratisch gewählte Regierung
die Verantwortung an eine andere demokratisch gewählte Regierung übergeben. Auch wenn im Umfeld der
Wahlen und bei der Regierungsbildung danach nicht alles reibungslos verlaufen ist: Der friedliche Übergang
der Regierungsverantwortung in Afghanistan ist ein großer Erfolg. Es ist vor allem für die afghanische Bevölkerung ein Erfolg. Die Afghanen haben sich nicht ein7082
schüchtern lassen von Drohungen der Taliban. Sie haben
ihr Wahlrecht wahrgenommen. Diese Selbstsicherheit
und dieses Selbstbewusstsein sind eine wichtige Botschaft für Afghanistan und für die internationale Gemeinschaft.
({0})
Dass nun eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden konnte, ist ein Ausdruck der Bereitschaft zur
Versöhnung zwischen den verschiedenen Interessengruppen des Landes. Das ist eine wichtige Botschaft;
denn Demokratie ist nicht nur Entscheidung der Mehrheit, sondern auch Schutz der Minderheit und Beteiligung der Minderheit. Deswegen kommt es darauf an,
dass man einen Interessenausgleich organisiert, dass
man eine Balance zwischen den Kräfteverhältnissen
schafft. Das erst ermöglicht eine stabile Entwicklung.
Afghanistan bleibt auch in den nächsten Jahren auf zivile internationale Unterstützung angewiesen. Wir haben
für militärische Mittel immer nur ein mehr oder weniger
großes Zeitfenster, um Recht und Ordnung in einem
Land wiederherzustellen. Aber danach müssen eben zivile Instrumente greifen, damit eine nachhaltige Entwicklung stattfinden kann. In Afghanistan darf sich nicht
wiederholen, was wir derzeit im Nordirak erleben müssen.
({1})
Deshalb müssen wir die Entwicklungserfolge, die in
den letzten Jahren erreicht worden sind, fortsetzen und
weiter ausbauen. Das Bruttonationaleinkommen in Afghanistan hat sich seit 2001 verdoppelt. In 2001 haben
nur 8 Prozent der Menschen medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen können; heute sind es 85 Prozent. Immer mehr Menschen in Afghanistan haben nicht
nur zu medizinischer Versorgung, sondern auch zu Wasser, Strom und Bildung Zugang. Im Jahr 2001 sind in
Afghanistan etwa 1 Million Buben zur Schule gegangen.
Heute gibt es dort 9 Millionen Schüler; 40 Prozent davon sind Mädchen.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist so, wie es Friedensnobelpreisträgerin Malala in bewegenden Worten ausgedrückt hat: Nichts ist für Terroristen, für Extremisten
schlimmer als ein Mädchen mit einem Buch. - Deshalb
bleibt Bildung der Schlüssel für nachhaltige Entwicklung.
({3})
Es geht den meisten Afghaninnen und Afghanen
heute deutlich besser als vor 13 Jahren, und unsere Entwicklungszusammenarbeit hat daran einen erheblichen
Anteil. Unsere Experten genießen einen hervorragenden
Ruf in Afghanistan. Deshalb bleibt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auch in Zukunft an der Seite
der afghanischen Bevölkerung.
({4})
Wir haben in unserer Länderstrategie für Afghanistan
fünf Schwerpunkte gesetzt, die wir bis 2017 verwirklichen wollen:
Erstens. Wir brauchen Arbeitsplätze. Wir brauchen
Beschäftigungsperspektiven. Das ist das beste Mittel gegen Extremismus. Jedes Jahr drängen in Afghanistan
400 000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Sie brauchen
die Chance auf eine eigene Zukunft in wirtschaftlicher
Sicherheit.
({5})
Zweitens. Wir brauchen gute Regierungsführung. Das
ist eine konkrete Erwartung an den Präsidenten und an
die Regierung. Wir wollen signifikante Verbesserungen
beim Kampf gegen Korruption und Willkür.
({6})
Drittens. Wir wollen Frauen und Mädchen unterstützen. Meine Damen und Herren, die Rolle der Frauen in
einer Gesellschaft ist ein Gradmesser für den Entwicklungsstand eines Landes.
({7})
Es kommt auf Frauen und Mädchen an. Wir können darauf nirgendwo verzichten, auch nicht in Afghanistan.
Viertens. Wir wollen afghanischen Flüchtlingen eine
Perspektive geben. Deswegen werden wir in Afghanistan, im Übrigen auch im Nachbarland Pakistan, Fluchtursachen bekämpfen und die Reintegration von Rückkehrern fördern.
Fünftens. Wir wollen in Nordafghanistan tätig bleiben, solange ein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet
ist, auch ohne internationale Soldaten. Besonders im
ländlichen Raum bleibt viel zu tun.
Im Gegenzug für unsere Unterstützung erwarten wir
von der afghanischen Regierung Zug um Zug konkrete
Reformen. Deswegen war Bundesminister Dr. Gerd
Müller im November in Kabul und hat dort den Staatspräsidenten Ghani und den Regierungsvorsitzenden
Abdullah getroffen. Beide haben einen konkreten Willen
zu umfassenden Reformen gezeigt. Deswegen wollen
wir sie daran messen, dass sie ihre Reformversprechen
auch einlösen.
Wir fordern konkrete Fortschritte in folgenden Bereichen:
Zum Ersten fordern wir ein klares Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten. Der Schutz von Frauen
und Mädchen muss insbesondere hier verbessert werden.
Zum Zweiten fordern wir umfassende Wirtschaftsreformen. Das Land hat erhebliche Rohstoffressourcen,
die aber so genutzt werden müssen, dass sie der breiten
Bevölkerung zugutekommen. Die Rahmenbedingungen
für Investitionen aus dem In- und Ausland müssen besser werden. Damit wird auch die Voraussetzung dafür
geschaffen, dass eigene staatliche Einnahmen generiert
werden.
Zum Dritten fordern wir von der afghanischen Regierung, dass sie konsequent wirksame Maßnahmen zur
Korruptionsbekämpfung umsetzt. Dort, wo Korruption
herrscht, ist die Allgemeinheit das erste Opfer, meine
Damen und Herren.
({8})
Wir fordern weiter konkrete und überprüfbare
Schritte zur Bekämpfung des Drogenanbaus. Die Drogenökonomie finanziert den Terrorismus und fördert organisierte Kriminalität. Deswegen sind Opiumanbau und
Drogenhandel eine große Gefahr für die Sicherheit, für
die Regierbarkeit und für die Entwicklung des Landes.
Es liegt ganz entscheidend an diesem Land selbst, an
seinen Eliten, an den Führungskräften in der Politik und
der Wirtschaft, aber natürlich auch an einer starken Zivilgesellschaft, ob politische Institutionen geschaffen
werden, die stabil und leistungsfähig sind, sodass Afghanistan einen erfolgreichen Weg beschreiten kann, der am
Gemeinwohl, am Wohl der Bevölkerung orientiert ist.
Wir wollen, meine Damen und Herren, Afghanistan
auf diesem Weg begleiten. Deutschland ist immer ein
verlässlicher Partner Afghanistans gewesen. Deswegen
werden wir die Menschen in Afghanistan auch zukünftig
unterstützen, und zwar resolut, wie die neue Mission
- Resolute Support Mission - heißt. Gerade jetzt, wo das
Land nach dem ISAF-Einsatz vor einem weiteren Umbruch steht, gilt es, sicherzustellen, dass die Entwicklungserfolge erhalten bleiben und weiter ausgebaut werden können. Das Ziel muss sein, dass Afghanistan
immer stärker auf eigenen Füßen steht, nicht nur bei Militär und Polizei, sondern auch wirtschaftlich. Ohne Entwicklung, meine Damen und Herren, gibt es dauerhaft
keine Sicherheit und keinen Frieden. Und umgekehrt:
Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit kann Entwicklung
nicht stattfinden.
Die NATO-Folgemission Resolute Support Mission
muss deshalb die afghanischen Sicherheitskräfte so
lange unterstützen, bis sie dauerhaft eigenständig in der
Lage sind, Sicherheit zu gewährleisten. Das heißt, wir
müssen die Sicherheit durch fremde Kräfte überführen
in eine Sicherheit aus eigener Kraft, nämlich durch
Afghanen. Bis dahin bleibt auch für die Entwicklungszusammenarbeit von großer Bedeutung, dass wir uns in
Extremsituationen auf die Unterstützung durch internationale Kräfte verlassen können.
Wir brauchen in Afghanistan sicherlich einen langen
Atem, nicht nur im Sicherheitsbereich, sondern auch und
gerade beim zivilen Wiederaufbau. Ich will daran erinnern, dass die Entwicklungsexperten schon in Afghanistan vor Ort waren, bevor die ersten deutschen Soldaten
2002 nach Kabul kamen. Die Schwerpunkte unserer Entwicklungszusammenarbeit waren damals Berufsbildung,
Energie und ländliche Entwicklung. Wenn wir uns nun
daranmachen, nach dem Einsatz mit militärischen Mitteln Konfliktnachsorge zu betreiben, dann ist das zugleich Vorsorge, um zukünftige Konflikte zu vermeiden.
Ich bin froh darüber, dass es hier im Hause einen fraktionsübergreifenden Konsens gibt, unsere Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan fortzusetzen. Ich danke
für die Unterstützung des Parlaments und darf Sie bitten,
unsere Entwicklungsbemühungen in Afghanistan auch
weiterhin tatkräftig mit zu begleiten und zu unterstützen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Thomas Silberhorn. - Nächster Redner
für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Frithjof Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit fast 13 Jahren ist die Bundeswehr in Afghanistan.
Vieles hat sich dort in dieser Zeit verändert - das ist angesprochen worden -, auch sehr vieles zum Guten. Damit möchte ich beginnen. In dieser Hinsicht kann ich an
Ihre Ausführungen anknüpfen, Herr Außenminister.
Junge Menschen, darunter viele Frauen und Mädchen,
haben Zugang zu Bildung erhalten. Die medizinische
Versorgung im Land hat sich wesentlich verbessert. Es
ist eine plurale Medienlandschaft entstanden. Das alles
ist wichtig. Denn es ist ein Beitrag zur Stabilisierung des
Grundgerüsts, der weiteren Demokratisierung des Landes. Dieser zivile Aufbau muss weitergehen.
({0})
Deutschland muss seine Hilfszusagen aus Tokio uneingeschränkt einhalten.
Wir begrüßen sehr, dass sich der vorliegende Antrag
der Koalitionsfraktionen zur Transformationsdekade zur
Einhaltung der entwicklungspolitischen Ziele bekennt.
Das ist gut. Hier ziehen wir an einem Strang, auch wenn
Sie sich leider nicht zu konkreten Zahlen bekennen; wir
reden ja über das bestehende Volumen von 430 Millionen Euro jährlich. Wir werden Sie hier beim Wort nehmen. Besonders in den nächsten Haushaltsberatungen
werden wir Sie auch an dieser Zahl messen. Trotz verschiedener Kritikpunkte an Ihrem Text wird meine Fraktion diesem Antrag heute zustimmen. Denn es soll auch
zum Ausdruck kommen, dass wir hier politisch an einem
Strang ziehen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der AfghanistanEinsatz ist auch eine Geschichte westlicher Fehleinschätzungen und gescheiterter Hoffnungen. Am Anfang
stand die Erwartung, dass al-Qaida und die Taliban in einem, maximal in zwei Jahren besiegt werden könnten;
manche dachten, es geht noch schneller. Das war ein Irrtum. Jahrelang wurde vor allem versucht, die Taliban
militärisch zu besiegen. Eine Folge war eine erhebliche
Zahl von Opfern, auch zivilen Opfern, durch nächtliche
Kommandoaktionen, Luftschläge und Drohnenangriffe.
Diese militärische Strategie - das kann man nach fast
13 Jahren Afghanistan-Einsatz wohl kaum mehr bestreiten - ist gescheitert.
({2})
Sie hat dem Vertrauen in die internationalen Truppen erheblich geschadet, und sie hat eine politische Lösung des
Konfliktes jahrelang mehr blockiert als gefördert. Deshalb war es richtig, 2010 die strategische Wende der internationalen Gemeinschaft in London zu beschließen,
ein Abzugsdatum für die ISAF-Truppen festzulegen und
sich für eine politische Lösung zu engagieren. Darum
hat meine Fraktion hier vor einem Jahr dem Abzugsmandat zur Beendigung von ISAF mit großer Mehrheit zugestimmt.
Jetzt geht es um eine Nachfolgemission. In der Öffentlichkeit ist dazu folgende Botschaft angekommen:
Nach dem Abzug der Kampftruppen gibt es noch für
zwei Jahre Ausbildung und Training, aber ohne Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung, und 2017 ist dann
auch damit Schluss. - Das müsste im Mandat und im
Operationsplan eindeutig festgelegt werden - wird es
aber nicht. Das leistet das Mandat, das Sie uns hier vorlegen, nicht. Wann Resolute Support endet, wird nicht
festgelegt. Das politische Versprechen, dass 2017
Schluss ist, wird im Mandatstext nicht eingelöst. Stattdessen gab es verschiedene öffentliche Äußerungen, in
denen es hieß, dass es auch zwei, drei oder mehr Jahre
länger dauern kann. Hier droht das Abrutschen auf einer
schiefen Ebene in einen erneuten längerfristigen Einsatz
in Afghanistan ohne Exitstrategie. Das ist nicht akzeptabel.
({3})
Die USA stellen über 9 000 der 12 000 Soldaten, die
an Resolute Support beteiligt sind. Wenn sie ihr militärisches Konzept ändern, verändert das diese Mission entscheidend, auch wenn die Bundeswehr bestimmte Dinge
dann nicht mitmacht. Vor wenigen Wochen hat Präsident
Obama entschieden, dass sich die US-Truppen nun doch
direkt an der Aufstandsbekämpfung beteiligen können
und sollen. Jetzt droht Resolute Support eine Fortsetzung von ISAF zu werden, nur mit stärkerem Schwerpunkt auf der Aufstandsbekämpfung durch Spezialkräfte.
Zu den Aufgaben der Bundeswehr gehört ausdrücklich - das ist in dieser Form neu - die Ausbildung und
Beratung der niederen Ebenen der afghanischen Spezialkräfte.
Nun haben wir hier schon andere Ausbildungsmandate für die Bundeswehr verabschiedet, zum Beispiel zu
Mali. Dem hat meine Fraktion zugestimmt. Aber da steht
ausdrücklich drin, dass eine Unterstützung von militärischen Operationen der malischen Streitkräfte nicht stattfindet. Dieser Passus - schauen Sie es sich an -, diese
eindeutige Festlegung im Mandatstext fehlt hier für
Afghanistan. Warum?
Stattdessen gibt es in der Begründung eine vage Formulierung, dass man sich nicht direkt an der Terrorbekämpfung beteiligt. Nicht direkt - was kann das alles bedeuten, meine Damen und Herren? Dieses Mandat ist an
entscheidenden Punkten gefährlich unklar. Vor dem Hintergrund, dass sich unser größter Partner offensichtlich
auf eine mittelfristige Strategie der Aufstandsbekämpfung einstellt, sehe ich die große Gefahr, dass RSM erneut in komplizierte Kampfeinsätze verwickelt wird,
und dann wird es sehr schwer, 2017 dort herauszukommen.
In diesem Zusammenhang hat es auch große politische Bedeutung, dass es, anders als für ISAF, bisher kein
UN-Mandat gibt. Das schwächt nicht nur die völkerrechtliche Legitimation dieses Mandates, sondern es
heißt auch, dass es keine übergeordnete Rahmensetzung
für Entscheidungen der NATO und der USA gibt, was
Art und Dauer des Einsatzes betrifft. Auch das verstärkt
die Gefahr, auf die schiefe Ebene eines langfristigen Militäreinsatzes zu kommen, den so eigentlich niemand in
diesem Haus gewollt hat. Deshalb kann ich meiner Fraktion nicht empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Frithjof Schmidt. - Nächster Redner in
der Debatte: Dr. Hans-Peter Bartels für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Mandatsdebatte markiert eine Zäsur. Der
lange ISAF-Einsatz geht jetzt wirklich zu Ende. Für
Afghanistan bedeutet das Jahr 2014 den Beginn einer
neuen Ära. Es gab Wahlen und erstmals einen friedlichen Regierungswechsel - keinen einfachen Wechsel,
aber einen Wechsel, der die alte Regierung nicht liquidiert oder ins Exil treibt. Der alte Präsident bleibt im
Land.
Aus Anlass der heutigen Debatte habe ich mich an einen Artikel erinnert, den Hamid Karzai vor einigen Jahren in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit unter der
Überschrift „Ich habe einen Traum“ veröffentlicht hatte.
Karzai sagt darin:
Mein Traum ist das Afghanistan meiner Kindheit.
Als ich ein Junge war, gab es dieses friedliche Afghanistan. Wir Kinder konnten ohne Gefahr allein
zur Schule gehen … Ich habe diese besseren Tage
gesehen, und ich will sie wieder sehen.
So weit Karzai 2007.
Ich zitiere das, weil mir wichtig ist, dass wir ein wenig vorsichtig sind mit den beliebten Pauschalurteilen,
so mit der falschen Behauptung, Afghanistan sei immer
ein schreckliches Land gewesen, mit dem hochmütigen
Glauben, unsere Mitmenschen seien, wenn sie denn
Afghanen sind und in Afghanistan leben, gar nicht zur
Demokratie fähig, oder mit dem entmutigenden Verdikt,
es sei nichts gut in Afghanistan.
30 Millionen Menschen leben dort jeden Tag ihren
Alltag. Dieser Alltag mag leichter geworden sein durch
die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Vieles ist
besser als zur Zeit der Herrschaft der Taliban. Aber die
Sicherheitslage ist längst nicht gut. Es gibt immer noch
viel zu viel Gewalt in Afghanistan. Natürlich müssen wir
Bilanz ziehen, müssen wir uns heute, am Ende des alten
Mandats und vor dem Beginn des neuen, kritisch fragen:
Ist die Afghanistan-Mission eine gescheiterte Mission
des Westens? Ich glaube, wir dürfen nicht sagen, dass
die Mission gescheitert ist. Wir alle kennen die vielen
unbezweifelbaren Erfolge, und die Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr haben einen wesentlichen
Anteil daran, wenn auch unter Opfern. Das verdient den
Dank des gesamten Hauses, gerade heute, wenn wir Bilanz über fast 13 Jahre ISAF ziehen.
({0})
Aber wir sollten uns klar darüber sein, dass unsere
Afghanistan-Mission kein Modell für irgendeine andere
Konfliktregion auf der Welt sein kann. Der Einsatz war
sehr, sehr lang. Seit über zwölf Jahren haben wir Militär
am Hindukusch stationiert; und bis heute wird geschossen, gebombt und gekämpft. Der Einsatz war sehr, sehr
international: 48 Nationen haben Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt, über 80 Nationen helfen
mit zivilen Mitteln. Es ist gut, dass es viele sind; aber
manchmal macht es das noch ein bisschen schwerer.
Unser Einsatz hat unvorstellbar viel Geld gekostet.
Die USA haben auf dem Höhepunkt ihres Engagements
mehr als 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr allein für ihren militärischen Einsatz ausgegeben. Das war ein Vielfaches der zivilen Hilfe. Ich weiß, dass man so nicht
rechnen kann, aber wir müssen uns heute wenigstens fragen, ob die Proportionen immer gestimmt haben. Ich
selbst habe keine fertige Antwort auf diese Frage.
Afghanistan war in den 80er-Jahren eine Art Symbol
im Kampf gegen die Ausbreitung des sowjetischen Imperialismus. Afghanistan ist heute ein Symbol im Kampf
gegen eine ganz andere totalitäre Ideologie: den mörderischen Dschihadismus. Dieser Dschihadismus bedroht
nicht nur Afghanistan oder Irak. Er bedroht Nigeria, Libyen, Somalia, Jemen, Syrien und Pakistan. Wir haben
gelesen, dass pakistanische Talibanführer ausdrücklich
zur Unterstützung der Kämpfer des „Islamischen Staates“, des IS, aufgerufen haben. Deshalb gibt es auch für
Afghanistan eine reale Besorgnis: Gehen die Taliban
heute neue Bündnisse mit dem IS ein wie vor 15 Jahren
mit al-Qaida? Entsteht hier eine weltweit immer einheitlichere totalitäre Bewegung? Oder werden sich die
dschihadistischen Gruppen untereinander bekämpfen
wie in Syrien?
Ich glaube, für die Zukunft Afghanistans sind viele
innere Faktoren wichtig, aber auch drei äußere:
Erstens. Der totalitäre Dschihadismus in Syrien und
im Irak muss sichtbar eingedämmt und zerschlagen werden.
Zweitens. Pakistan muss eindeutig die Taliban und
den Dschihadismus in Pakistan und in Afghanistan bekämpfen. Die Bedrohung durch den Dschihadismus ist
tödlich. Auch Ambivalenz gegenüber dieser Bedrohung
könnte tödlich sein.
Drittens. Der Westen darf sich nicht von Afghanistan
abwenden. Die Fortsetzung der Entwicklungszusammenarbeit ist wichtig. Ebenso wichtig ist die Fortsetzung
einer begrenzten militärischen Präsenz für Beratung und
Unterstützung, und zwar so lange dies nötig ist. Der Missionsabbruch des Westens im Irak darf kein Modell für
Afghanistan sein. Das darf in Afghanistan nicht passieren.
Zum Schluss ein Wort zu Deutschland. Ich zitiere
noch einmal aus dem Artikel „Ich habe einen Traum“
von Hamid Karzai. Er schreibt:
Um ehrlich zu sein, mir gefällt das Leben in
Deutschland sehr gut. Es ist ein vorhersagbares Leben, und das mag ich. Wenn man an einem Flughafen ankommt und ein Taxi braucht, bekommt man
definitiv ein Taxi. Wenn Sie einen Bus brauchen,
bekommen Sie einen Bus. Es ist ein Land mit einer
strengen Arbeitsethik, das ist extrem wichtig. …
Wenn ich etwa 50 Jahre in die Zukunft sehe, dann
wäre ich froh, wenn wir nur die Hälfte von dem hätten, was Deutschland hat. Ich wäre sogar schon froh
über 30 Prozent.
So weit Karzai.
Ich möchte abschließend sagen: Ich bin froh, dass wir
Deutsche nicht auf der Seite stehen, die dringend Hilfe
braucht - das gab es auch schon mal -, sondern dass wir
diejenigen sind, die Hilfe zur Selbsthilfe geben können.
Dieses Parlament ist bereit, das zu tun.
Schönen Dank.
({1})
Vielen Dank, Hans-Peter Bartels. - Nächste Rednerin
in der Debatte: Christine Buchholz für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung bemüht sich, den Eindruck zu erwecken, der Kampfeinsatz in Afghanistan sei nun abgeschlossen, nun gehe es nur noch um die Ausbildung der
afghanischen Streitkräfte. Aber das ist nicht wahr: In Afghanistan herrscht weiter Krieg. Allein in Kabul gab es
in den vergangenen zwei Wochen ein Dutzend Anschläge, und laut UN ist die Zahl der zivilen Opfer in der
ersten Jahreshälfte 2014 um 17 Prozent gestiegen.
Die Bundeswehr wird im Bündnis mit den US-amerikanischen Truppen und der NATO weiter Teil dieses
Krieges sein. Wie wird der Afghanistan-Einsatz ab 2015
aussehen? Von den 12 000 Soldaten, die die NATO in
Afghanistan ab 2015 stationiert, werden nur etwa ein
Zehntel Ausbilder sein - neun Zehntel des Kontingents
werden von militärischer Logistik, Schutz- und Kampftruppen gestellt. Wenn neun Zehntel der stationierten
Soldaten keine Ausbilder sind, dann ist es irreführend,
von einer Ausbildungsmission zu sprechen.
({0})
Ja, der Einsatz wird sich verändern. Dass die neue Mission mit einer deutlich reduzierten Truppenstärke auskommt, zeigt vor allem eines: Kämpfen sollen in Zukunft vor allem die afghanischen Streitkräfte; die
NATO-Staaten unterstützen sie dabei.
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung lässt die
Möglichkeit offen, dass Bundeswehrsoldaten den afghanischen Streitkräften auch im Gefecht zur Hilfe kommen. Angesichts der weiterhin extrem schlechten Sicherheitslage ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieser
Fall eintritt. Erinnern wir uns: 2014 wurden rund
3 500 afghanische Sicherheitskräfte getötet. Wenn im
neuen Mandat nun davon die Rede ist, dass diese Kräfte
im Gefechtsfall zu sichern, zu schützen und zu bergen
sind, dann droht die Bundeswehr Teil ihres Krieges zu
werden. Das, meine Damen und Herren, sollten Sie sowohl der Bevölkerung als auch den Soldatinnen und Soldaten nicht verschweigen!
2015 wird es weiterhin offensive Aufstandsbekämpfung geben; das hat Barack Obama kürzlich noch einmal
klargestellt. Dazu gehört auch ein Schattenkrieg der
Spezialkräfte. Der neue afghanische Präsident, Ashraf
Ghani, hat gerade erst das Verbot der Durchführung von
Nachtrazzien aufgehoben. In diesen Nachtrazzien haben
in der Vergangenheit insbesondere amerikanische Einheiten nachts Dörfer überfallen, Türen eingetreten, Bewohner aus dem Schlaf gerissen und Verdächtige verschleppt. Der vorherige Präsident, Hamid Karzai, hatte
dieses Vorgehen 2013 verboten. Ab nächstem Jahr sollen
afghanische Sondereinheiten diese Arbeit wiederaufnehmen; amerikanische Spezialkräfte werden sie dabei unterstützen.
Unterstützung gibt es auch durch die Ausbildung. Bereits jetzt werden 200 afghanische Spezialkräfte durch
die US-Armee in Kandahar trainiert, solche Nachtrazzien durchzuführen, und auch in dem deutschen Mandat
ist diese Möglichkeit enthalten.
In der Vergangenheit gab es auch Spezialoperationen,
an denen deutsche Soldaten beteiligt waren. Das vorliegende Mandat lässt noch offen, ob Einheiten wie das
Kommando Spezialkräfte weiter den Krieg im Geheimen fortführen werden. Wir lehnen diese Kriegsführung
ab und fordern Klarheit von der Regierung,
({1})
ob das auch in Zukunft der Fall sein wird.
Für eine Ausbildungsmission braucht man keine
Drohnen; aber die Bundeswehr wird sich mit der Drohne
Heron weiter an der Lagebilderstellung in Afghanistan
beteiligen. Diese Lagebilderstellung ist eine Voraussetzung, um Aufstandsbekämpfung und andere kriegerische Handlungen weiterhin durchzuführen.
Darüber hinaus wird die US-Armee mit Kampfdrohnen in Afghanistan bleiben und ihren verbrecherischen
Drohnenkrieg weiterführen. Die Linke lehnt den Einsatz
von Spionage- und Kampfdrohnen auch in Afghanistan
ab. Die Drohne Heron muss unverzüglich aus Afghanistan abgezogen werden.
({2})
Nach über zwölf Jahren NATO-Einsatz ist Afghanistan durch und durch militarisiert. Es gibt 350 000 afghanische Soldaten und Sicherheitskräfte. Es ist bezeichnend, dass die Ausgaben für Sicherheitskräfte deutlich
höher als der Staatshaushalt sind.
Daneben können wir ein grassierendes Milizenwesen
und Privatarmeen beobachten. Herr Steinmeier ist leider
nicht mehr anwesend.
({3})
- Er hat sich in die letzte Reihe verdrückt. Herr
Steinmeier, schön, dass Sie noch da sind.
Sie haben neulich in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung gesagt, dass das nicht die Schuld der
intervenierenden NATO-Staaten sei. Die afghanische
Frauenrechtlerin Wazhma Frogh ist deutlich anderer
Meinung. Sie sagte gestern im Deutschlandfunk - ich zitiere -:
Der Westen hat sehr bewusst mit Kriegsfürsten zusammengearbeitet. Mit korrupten Männern, die für
einen grausamen Bürgerkrieg verantwortlich sind
… Diese alten, konservativen Eliten sind heute Millionäre, Minister und Vizepräsidenten. Der Westen
hat den Kriegsfürsten zu neuer Stärke verholfen.
({4})
Ich finde, dass wir mit diesen Verbrechern keine gemeinsame Sache machen sollten.
({5})
13 Jahre Krieg gegen den Terror offenbaren das
Scheitern dieses Ansatzes. Gerade die Ausbreitung des
IS ist ein weiteres Argument dafür. Weltweit und in Afghanistan wurde der Terror nicht gestoppt, sondern angefacht. Bitte nehmen Sie diese Realität endlich zur
Kenntnis. Das neue Mandat macht eine weitere Beteiligung am Krieg in Afghanistan zum Normalzustand. Das
Ende ist nicht absehbar. Die Linke wird einem solchen
Mandat niemals zustimmen.
({6})
Vielen Dank, Christine Buchholz. - Nächster Redner
in der Debatte ist Philipp Mißfelder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal, Herr Generalinspekteur, möchte ich an
dieser Stelle noch einmal derjenigen gedenken, die in
diesem Einsatz ums Leben gekommen sind. 55 deutsche
Soldaten sind gestorben. Ich finde, dass man in einer solchen Debatte - zum Ende des ISAF-Mandats - als Parlament sagen muss, dass diese Soldaten erstens nicht umsonst gestorben sind und dass sie zweitens den Respekt
von uns allen bekommen und ihre Angehörigen immer
in unseren Herzen sind, wenn wir auch zukünftig über
Afghanistan reden werden.
({0})
Ich bitte Sie, Herr Generalinspekteur, das würdevolle
Andenken, das die Bundeswehr praktiziert, an die Soldatinnen und Soldaten weiterzutragen. Ich glaube schon,
dass mit dem Afghanistan-Einsatz unser Land gewachsen ist und es ein Stück weit erwachsener geworden ist.
In dem Sinne haben wir - das haben wir auf der Münchener Sicherheitskonferenz zum Stichwort „mehr Verantwortung und neue Verantwortung“ gehört - eigentlich
schon in den vergangenen zehn Jahren ein Kapitel vorgestellt, aus dem wir Lehren gezogen haben. Wir haben
aus dem Vergleich des Afghanistan-Einsatzes mit dem
Irak-Einsatz der Amerikaner gelernt: Es macht Sinn, das
Anschlussmandat Resolute Support zu beraten und zu
beschließen. Wir wissen heute, dass es ein Fehler der
westlichen Gemeinschaft war, die im Irak eingegriffen
hat - Deutschland war nicht direkt beteiligt -, Hals über
Kopf aus dem Land abzuziehen. Die Ergebnisse im Hinblick auf IS sehen wir heute.
Man kann heute über die Entstehungsgeschichte des
Irakkrieges sicherlich unterschiedlicher Meinung sein.
Das ist gar keine Frage. Aber der kopflose Abzug war
ein Fehler. Diesen Fehler dürfen wir in Afghanistan
nicht begehen.
({1})
Natürlich muss man auch kritisch darüber diskutieren
- das haben wir auch getan; unsere Fraktion hat gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD den
Fortschrittsbericht auf den Weg gebracht -, was die Lehren aus Afghanistan sind, was wir in Zukunft besser machen müssen und was wir gänzlich falsch gemacht haben. Wenn man sich anschaut, wie dieses Mandat
entstanden ist, dann stellt man fest, dass es verschiedene
Gründe gab, weshalb man nach Afghanistan gegangen
ist. Der erste Grund war - der Minister hat es schon angesprochen -, die Fähigkeiten von Terroristen, aus dem
Land als Operationsbasis zu arbeiten, einzudämmen und
Afghanistan aus unserem ureigenen Sicherheitsinteresse
sicherer zu machen. Das ist gelungen. Dieses Ziel haben
wir erreicht. Das war aber auch der kleinste Anspruch an
das Thema Afghanistan.
Der zweite Grund war sicherlich die Festnahme oder
Beseitigung - wie man es auch immer definieren will von Osama Bin Laden. An dieser Stelle kann man natürlich schon kritisch fragen: Wo ist man Osama Bin Laden
letztendlich begegnet? - Nicht in Afghanistan, sondern
in Pakistan. Dieses Land wird uns in der Zukunft sicherlich mehr Probleme bringen, als wir hier am heutigen
Tag diskutieren können. Der eigentliche Schlüssel zur
regionalen Sicherheit liegt in Pakistan. Exemplarisch
kann man es damit belegen, dass sich Osama Bin Laden
dort vor seiner Tötung jahrelang an einem Ort versteckt
halten konnte.
Eine Sache, die ich ansprechen muss - da will ich hier
wirklich niemanden kritisieren, auch keinen, der damals
Verantwortung getragen hatte, insbesondere nicht die damals die Regierung tragenden Fraktionen der Grünen
und der SPD -: Bei der Petersberger Konferenz in Bonn
hat man sich sehr hohe Ziele gesteckt. Ich sage nicht,
dass die Ziele falsch waren; denn es waren gute Ziele.
Aber ich glaube, die Ziele waren - auch das gehört zu
den Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz - an der einen
oder anderen Stelle zu hoch gesteckt; wir haben sie an
vielen Stellen verfehlt.
Das, was Frau Buchholz hier gerade sehr plakativ und
propagandistisch vorgetragen hat, ist an manchen Stellen
nicht falsch. Natürlich arbeitet man dort mit Leuten zusammen, die zwar ganz anders legitimiert sind als früher
die Taliban und die Warlords, deren Herkunft aber dennoch oft problematisch ist. Man kann aber nur mit denjenigen kooperieren, die es dort gibt. Damit rede ich das
nicht schön. Vielmehr sage ich ganz kritisch: Natürlich
wissen wir, dass sowohl die Verwandtschaft des früheren
Präsidenten Karzai als auch ganz viele Minister und
hohe Würdenträger dort extrem problematisch sind. Nur
fehlte mir, ehrlich gesagt, bei Ihrer Präsentation, Frau
Buchholz, schon die Alternative zu dem, was wir machen. Man kann natürlich hier sagen: Wir verschließen
die Augen und machen in Afghanistan gar nichts mehr. Ich glaube aber, dass die Erfolge des Einsatzes es rechtfertigen, dass wir so gehandelt haben, wie wir gehandelt
haben.
Ich habe gerade zu Ihnen gesagt: 55 deutsche Soldaten sind im Einsatz gefallen. Hätte man sich zum Ziel
gesetzt, die Beschlüsse von Petersberg wirklich bis zur
letzten Konsequenz mit militärischer Gewalt durchzusetzen, dann wäre es nicht bei diesen 55 Toten geblieben; es
wäre eine weitaus höhere Zahl. Ich glaube nicht, dass
dieses Parlament dazu bereit gewesen wäre, das zu akzeptieren. Ich glaube auch nicht, dass die deutsche Gesellschaft dazu bereit gewesen wäre.
Ein weiterer Grund ist die Bekämpfung des Drogenschmuggels und des Drogenanbaus. Man hätte das zum
Kern des Mandats machen können und sagen können:
Wir wollen die Aufgabe in den Mittelpunkt rücken, dieses militärisch zu unterbinden. - Auch da haben wir eine
Konzession gemacht; wir haben diese Aufgabe nicht in
den Fokus gerückt, sondern uns auf andere Schwerpunkte konzentriert. Die Alternative wären viel mehr
Tote gewesen. Auch da wären uns das Parlament und die
Bevölkerung, wie ich glaube, nicht mehr gefolgt.
In der schwierigen Situation, in der man abwägen
muss, mit wem man zusammenarbeiten soll, welche
Ziele realistisch sind und welche man anpassen muss,
haben wir den richtigen Weg gefunden. Wir haben uns
mit dem Fortlauf des Mandats von der Konzeption verabschiedet, die auf dem Petersberg gefunden worden ist,
und haben unter Franz Josef Jung massiv darauf hingewirkt, den Comprehensive Approach im Bündnis voranzubringen. Nächste Woche diskutieren wir, Kollege Frei,
Kollege Schockenhoff, Frau Bulmahn, über das Thema
zivile Krisenprävention. Ich würde sogar sagen, wir
müssen die Debatte über den Comprehensive Approach
und über mehr Verantwortung um das Thema „zivile
Krisenprävention“ erweitern, gerade jetzt an dieser
Stelle ansetzen und fragen: Was ist jetzt bei Resolute
Support für uns wichtig? Was können wir im Bereich der
zivilen Krisenprävention tun? Es ist hier keine philosophische Debatte, bei der es um die Frage geht: Wie lange
soll so ein Einsatz dauern? Meine Antwort darauf ist
ganz klar: so kurz wie möglich. Dabei muss man so verantwortungsbewusst wie möglich handeln.
Der Einsatz wird natürlich nicht ewig dauern. Deshalb ist es aller Mühen wert, unsere entwicklungspolitischen Maßnahmen so auf den Weg zu bringen und zu
verstärken, dass sie nachhaltig überprüfbar und gut sind.
Wir haben in dieser Woche eine sehr kritische Diskussion mit unserem Minister Gerd Müller geführt, der die
Defizite ganz offen anspricht. Es gibt hier keine Schönfärberei: Wenn man im Ministerium Gespräche führt, bekommt man an allen Ecken zu hören, was in Afghanistan
gut läuft, was schlecht läuft und wo wir besser werden
müssen. Darüber zu diskutieren, gehört zur Entscheidung über die Fortsetzung dieser Mission dazu.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Es geht an dieser
Stelle leider nicht ohne militärische Maßnahmen. Ich
würde mir wünschen, dass wir diesen Militäreinsatz hier
heute beenden könnten, aber es geht leider nicht. Ich
sage Ihnen gleichzeitig, dass dies eine der wichtigsten
Lehren aus dem Irakkrieg ist - damit hatte ich angefangen -: Jedes kopflose Abziehen aus Militärmissionen
oder jede Fehlplanung, wie in Libyen, führt dazu, dass
die Situation chaotischer wird und nicht übersichtlicher.
In Afghanistan haben wir es bislang geschafft, geordnetere Verhältnisse zu schaffen. Wir haben bei weitem
nicht die Ziele erreicht, die wir uns gesetzt haben; aber
jetzt ist die Situation - für die Frauen, für die jungen
Menschen in dem Land, beim Zugang zu medizinischer
Versorgung, bei der Infrastruktur - viel besser, als sie
2001 war. Damit das so bleibt, sind diese militärischen
Absicherungsmaßnahmen notwendig. Wir wollen unsere
Freunde in Afghanistan unterstützen, damit sie ihre Sicherheit selber gewährleisten können. Deshalb werbe ich
für diesen Einsatz.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Philipp Mißfelder. - Nächster Redner in
der Debatte: Omid Nouripour vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mardom
mohtaram Afghanestan, payane ISAF payane hambastegiye ma nist. Ma shoma ra faromoush nakhahim kard. Ich übersetze: Verehrtes Volk von Afghanistan, das Ende
von ISAF bedeutet nicht das Ende unserer Solidarität.
Wir werden Sie nicht vergessen.
({0})
Mit diesen Worten durfte ich meine letzte Rede zur
Verlängerung des ISAF-Mandats beenden. Ich finde,
diese Worte sollten weiterhin gelten, genauso wie sie im
Februar gegolten haben.
Es ist kein Geheimnis: Wenn ein Großteil der Truppen abzieht, sinkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
relativ schnell. Es ist kein Geheimnis, dass mit dem Fehlen der Aufmerksamkeit auch der Wille immer kleiner
wird, genau hinzuschauen, wie die Entwicklungen laufen und welche Mittel man dafür braucht. Jetzt sehen wir
ja bereits, dass sich NGOs beklagen, dass ihre Mittel für
die Afghanistan-Arbeit kleiner werden. Aber gerade bei
Afghanistan dürfen wir nicht nachlassen und nicht in die
Aufmerksamkeitsfalle tappen, unabhängig davon, was in
anderen Teilen der Welt passiert.
Der Afghanistan-Einsatz ist der teuerste, aufwendigste und opferreichste Einsatz - nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch, wie wir wissen, bei den Afghaninnen und Afghanen - in der bundesrepublikanischen
Geschichte. Abertausende Entwicklungshelferinnen und
Entwicklungshelfer, Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten, Diplomatinnen und Diplomaten
haben in Afghanistan am Wiederaufbau mitgearbeitet.
Ihnen gilt nicht nur unser Dank, sondern auch unsere
Verpflichtung, dass wir alles, was wir können, beitragen
mögen, dass die vielen Errungenschaften, die weit mehr
hätten sein können und müssen - das lag nicht an den
Menschen, die vor Ort gearbeitet haben -, nicht rückgängig gemacht werden können.
Diese Verpflichtung gilt erst recht für die Menschen
in Afghanistan. Wir reden über Menschen, die sehr viel
Hoffnung haben, wir reden über ein sehr junges Volk.
70 Prozent der Bevölkerung sind zwischen 17 und
29 Jahre alt. Das ist eine Generation, die erstmals seit
Dekaden - der Krieg hat nicht mit ISAF angefangen; der
Krieg hat in den 70er-Jahren angefangen - erlebt, wie es
sein kann, wenn das Land ein Stückchen freier ist, wenn
man sich ein wenig mehr entfalten kann. Und es ist vor
allem eine Generation, die sich auch von Gewalt und
Drohungen nicht entmutigen lässt. Wenn man sich anschaut, dass 7 Millionen Menschen dieses Jahr zu den
Wahlen gegangen sind, dann sieht man, dass die Hoffnung dieser Menschen alles andere als verloren ist.
Aber diese Menschen haben nicht nur Hoffnung, sondern sie haben auch eine sehr große Unsicherheit. Die
Frage ist, welche Signale wir setzen und senden können,
damit diese Unsicherheit nicht Oberhand gewinnt und
damit die Hoffnung nicht verloren geht.
Wie geht es weiter mit der Regierung - es ist eine fragile Situation -, wie geht es weiter mit der Unterstützung? Ich finde, wir sollten ein klares Signal setzen, dass
wir uns weiterhin langfristig und engagiert um Afghanistan mit kümmern werden und dass wir helfen können
und helfen wollen, wo es geht, allen voran im zivilen
Bereich und in der Entwicklungspolitik. Ein gutes Beispiel dafür ist die Polizeiarbeit, die zunächst sehr holprig
begonnen hat. Die deutsche Polizeiausbildung hat sehr
viel Gutes geleistet. Es gab sehr viele engagierte Polizistinnen und Polizisten, die eine tolle Arbeit gemacht haben. Heute wissen wir, dass nicht nur die Alphabetisierung in der afghanischen Polizei ein großer Erfolg war.
Deutsche Polizistinnen und Polizisten haben im Sinne
von „train the trainer“ 2 000 afghanische Polizistinnen
und Polizisten ausgebildet, die wiederum weitere Afghanen ausbilden, damit sie dort arbeiten können.
Wir müssen einen klaren Schwerpunkt setzen auf Bildung, auf berufliche Chancen und auf Arbeitsplätze in
Afghanistan. Wenn Sie mit jungen Menschen in Afghanistan reden und sie fragen, welche Wünsche und Hoffnungen sie haben, dann hören Sie, dass sie die gleichen
haben wie alle anderen jungen Menschen auf der ganzen
Welt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass klar ist, dass
wir den Schwerpunkt dort setzen, wo es notwendig ist,
nämlich im Bereich Bildung und Arbeit.
({1})
Da müssen wir weiterhin dranbleiben und dürfen
nicht nachlassen beim Aufbau von Institutionen. Ich
sage ganz bewusst „Institutionen“ und nicht „Personen“.
Gerade in solch einem Land ist es umso wichtiger, dass
Institutionen funktionieren.
Wenn ich jetzt sehe, dass die afghanische Menschenrechtskommission, mit der wir seit Jahren hervorragend
zusammenarbeiten, die eine grandiose Arbeit leistet, davon bedroht ist, dass die Ernennung der Mitglieder nun
politisch motiviert ist, dann kann ich nur sagen, dass die
internationale Gemeinschaft das keineswegs tolerieren
darf. Wir müssen hier deutlich machen, dass die Menschenrechte - in einem Land wie Afghanistan in erster
Linie die Rechte von Mädchen und Frauen - für uns
nicht verhandelbar sind.
({2})
Mein Kollege Schmidt hat bereits darauf hingewiesen, dass wir mit einigen Punkten des heute vorliegenden Antrags der Bundesregierung nicht einverstanden
sind. Ich finde, dass zur Ehrlichkeit gehört, Herr Außenminister, dass man einen solchen Einsatz endlich einmal
evaluiert. Sie haben gesagt, man müsse da kritisch draufschauen. Wir wünschen uns immer noch eine unabhängige und wissenschaftliche Evaluation. Es ist natürlich
mehr als ein Skandal, dass die Bundesregierung nicht
bereit ist, ihre Verantwortung - und zwar ohne bürokratische Hemmnisse - für die vielen lokalen Kräfte, die ihre
Sicherheit für die Deutschen in Afghanistan geopfert haben, voll zu übernehmen.
({3})
Wir müssen und werden dranbleiben, damit diesen Menschen geholfen werden kann.
Wir werden nichtsdestotrotz dem vorliegenden Antrag zustimmen, weil wir durch eine möglichst geschlossene Haltung dieses Hohen Hauses das Signal senden
wollen, dass wir die Afghanen nicht vergessen.
Ich kann Ihnen versprechen: Wir werden weiterhin
mit kritischem Blick sehr genau darauf achten, dass die
gemachten Versprechen auch gehalten werden. Unabhängig davon, wie die Grünen sich in Bezug auf Resolute
Support verhalten werden, gilt für meine Fraktion - und
ich glaube, wir sind nicht die Einzigen - absolut und
ohne jegliche Vorbedingung: Wir werden die Afghaninnen und Afghanen nicht vergessen. Wir stehen zur Verfügung, zu helfen, wo es geht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Omid Nouripour. - Nächster Redner:
Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Ende des Jahres 2014 endet nach 13 Jahren der
Kampfauftrag im Rahmen der ISAF-Mission. Damit
geht für die Bundeswehr eine erfolgreiche Arbeit zu
Ende, und für Afghanistan beginnt ein weiterer Abschnitt eines langen Weges hin zu einem Land mit einer
guten Perspektive. Auf diesem Weg werden wir Afghanistan auch in Zukunft begleiten.
Deutschland übernimmt weiter Verantwortung und
stärkt die afghanische Regierung wie auch die afghanischen Sicherheitskräfte durch Ausbildung sowie militärische und strategische Beratung. Mit der Nachfolgemission Resolute Support bringen wir heute einen weiteren
Baustein dafür auf den Weg. Die Bundeswehr hat einen
maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, dass wir den Übergang von der ISAF-Mission, von einer robusten Mission,
zu einer eher im Hintergrund sich abspielenden Mission,
nämlich Resolute Support, erfolgreich gestalten.
Lassen Sie mich zunächst eine Rückschau halten, bevor ich dann den Blick in die Zukunft richte.
Zuallererst möchte ich mit großem Respekt und aus
tiefstem Herzen Danke sagen: allen Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr, den Mitgliedern der Bundespolizei, den zivilen Mitarbeitern und allen Angehörigen,
die in den vergangenen 13 Jahren dazu beigetragen haben, diesen bisher schwersten Einsatz in der Geschichte
der Bundeswehr so erfolgreich zu gestalten. Sie haben
der Verantwortung, die Deutschland mit seinem Engagement übernommen hat, ein Gesicht gegeben.
Im Dienst für uns alle, für die Sicherheit hier in
Deutschland und für die Sicherheit in Afghanistan haben
unsere Männer und Frauen in Uniform schwere Entbehrungen auf sich genommen. Es gibt wohl keinen unter
ihnen, der in dieser Zeit nicht die Geburt oder die Einschulung eines Kindes oder die Hochzeit des besten
Freundes verpasst hat; Augenblicke, die sich nicht nachholen lassen. Stattdessen hat man Dienst getan als Spähtruppführer in einem Fennek, als Mechanikerin an einem
Hubschrauber oder als Sanitäter in einem Lazarett. Für
die meisten von ihnen ist diese Arbeit mehr als ein Beruf: Es ist ein Dienst für unser Land, ein Dienst an unserer Gesellschaft. Dafür gebührt ihnen unser Dank.
({0})
55 dieser Soldaten haben diesen Dienst für uns mit
dem Leben bezahlt. Viele weitere sind an Körper und
Seele verwundet worden. Den Hinterbliebenen spreche
ich mein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Der Toten der
Bundeswehr gedenken wir am Ehrenmal der Bundeswehr im Verteidigungsministerium und im „Wald der Erinnerung“ am Standort des Einsatzführungskommandos
in Potsdam. Es ist gut, dass wir ebenfalls darüber diskutieren, wo wir eine Würdigung im parlamentarischen
Raum ermöglichen können, um der Tatsache Ausdruck
zu verleihen, dass es sich um eine Parlamentsarmee handelt. Diese Gedenkstätten ergänzen sich gegenseitig und
dokumentieren die gemeinsame Verantwortung von Legislative und Exekutive.
Erinnern wir uns: Afghanistan war als Staat zerfallen
- Außenminister Steinmeier hat das dargestellt -; die Taliban herrschten mit einem Schreckensregime, unter dessen Mantel die Terroristen der al-Qaida eine Heimat gefunden hatten; von hier aus wurden die Anschläge des
11. September 2001 geplant; das Wertesystem der westlichen Welt wurde von afghanischem Boden aus angegriffen. Dagegen mussten wir uns gemeinsam wehren.
Damit sich solche Angriffe nicht wiederholen, mussten
wir den Terroristen deren Unterschlupf und Nährboden
nehmen und gleichzeitig das afghanische Volk wieder in
die Lage versetzen, ein staatliches Gewaltmonopol aufzubauen und eine friedliche, zivile Perspektive zu entwickeln.
Vieles davon ist in den letzten Jahren gelungen. Es ist
gelungen, die Terroristen der al-Qaida zurückzudrängen.
Das militärische Eingreifen der Staatengemeinschaft war
die Voraussetzung dafür. Es ist aber auch eine notwendige Voraussetzung für Bildung, für Staatlichkeit, für zivile Strukturen; Staatssekretär Silberhorn hat das noch
einmal verdeutlicht. Dies hat der damalige Verteidigungsminister, Dr. Jung, frühzeitig erkannt und mit dem
Begriff der vernetzten Sicherheit im letzten Weißbuch
der Bundeswehr festgeschrieben. Das Militär bildet eben
oftmals die Voraussetzung und den notwendigen Sicherheitsschirm, unter dem sich diese Maßnahmen dann entwickeln können.
Das Gesamtergebnis kann sich sehen lassen. Natürlich gibt es in Afghanistan noch viel zu tun. Natürlich ist
Afghanistan noch nicht am Ziel. Aber vieles ist jetzt gut,
und vieles ist besser geworden in Afghanistan.
({1})
Wir sehen eine neue Generation von jungen Afghanen
heranwachsen, die erstmals eine Perspektive für ein gutes Leben haben und mehr aus sich und dem eigenen
Land machen können. Der Torhüter des Fußballvereins
VfB Oldenburg heißt Mansur Faqiryar. Er ist in seiner
Heimat ein Held. Er ist Torhüter der afghanischen Fußballnationalmannschaft, und die Afghanen sind ein fußballbegeistertes Volk. Mansur erzählte mir hier in Berlin,
dass es noch nicht lange her sei, dass im Stadion von Kabul junge Frauen gesteinigt worden seien. Heute wird
dort wieder Fußball gespielt. Erstmals seit Jahrzehnten
können Mädchen und Frauen zur Schule oder zur Universität gehen. Insbesondere sie waren vollkommen entrechtet und abgeschnitten von jeglicher Hoffnung und
Würde. Dazu, dass das besser geworden ist, hat auch der
Einsatz der Bundeswehr einen wesentlichen Beitrag geleistet. - Das sollten auch Sie als Linke zur Kenntnis
nehmen.
({2})
Der Weg zu einer freien Gesellschaft ist lang; aber jeder Schritt lohnt sich, denn es ist ein Schritt hin zu einer
besseren Welt. Deutschland hat bewiesen, dass Verantwortung nicht nur ein Wort ist. Deutschland hat sich
dazu bekannt, Verantwortung in diesem Sinne in der
Welt zu übernehmen. RSM ist ein Beleg dafür, dass
diese Verantwortung nicht nur ein Lippenbekenntnis ist,
sondern Ausdruck eines Weges hin zu einem stabilen
Afghanistan. Das machen wir nicht allein, sondern immer in Zusammenarbeit mit Freunden und Partnern.
Das Mandat umfasst 850 Soldaten. Damit folgen wir
der militärischen Empfehlung und schaffen einen angemessenen Personalrahmen für unsere Aufgaben in Afghanistan. Eingesetzt sind die deutschen Soldaten im
Norden von Afghanistan und in der Hauptstadt. Der
Schwerpunkt des Auftrags liegt in der Ausbildung und
Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte sowie der
Regierung. Außerdem haben wir die Fähigkeit, uns anvertraute Menschen vor Bedrohung zu schützen und zu
befreien. - Herr Dr. Schmidt, da das in dem Mandat sehr
konkret abgebildet ist, habe ich Ihre Eingabe nicht verstanden. - Wir unterhalten einen militärischen Flugbetrieb, auch zur Rettung Verwundeter, mit den CH-53Hubschraubern.
Herr Otte, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung
von Christian Ströbele?
Ich würde gerne diesen Ansatz weiter ausführen, auch
angesichts der Redezeit, die mir noch zur Verfügung
steht.
Zusammengefasst kann man sagen: Wir unterstützen
einen dreigliedrigen Ansatz, den wir in der NATO für
Afghanistan entwickelt haben: Erstens. Kurzfristig tragen wir dazu bei, dass die Fähigkeiten der afghanischen
nationalen Sicherheitskräfte durch Ausbildung und durch
Beratung ausgebaut werden. Zweitens. Mittelfristig leisten wir einen Beitrag mit der NATO zum Erhalt der afghanischen Sicherheitskräfte. Drittens will die NATO
langfristig mit Afghanistan ein dauerhaftes Partnerschaftsabkommen eingehen.
Fazit: In den vergangenen 13 Jahren konnten in Afghanistan viele Verbesserungen erreicht werden. Afghanistan ist noch lange nicht am Ziel. Insbesondere die Regierung um Präsident Ghani ist aufgefordert, einen Weg
der Stabilität und Sicherheit und auch der Versöhnung
konsequent zu gehen. Mit RSM gehen wir als Teil der
Staatengemeinschaft diesen Weg konsequent mit. Das ist
Teil unserer Verantwortung, die die deutsche Außenpolitik in der Welt wahrnimmt.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr tragen
eine Hauptlast dieses Auftrags mit dem neuen Mandat.
Deswegen werbe ich dafür, dass wir eine breite Unterstützung im Deutschen Bundestag für dieses Mandat erteilen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Henning Otte. - Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Abgeordnete Christian
Ströbele.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Otte, ich bedauere, dass Sie die Frage nicht zugelassen haben. Ich
höre die ganze Zeit dieser Diskussion mit Interesse zu,
stelle aber fest, dass es eigentlich gar keine Diskussion
ist, weil auf die gegenseitigen Argumente, vor allen Dingen die Argumente der Opposition, gar nicht eingegangen wird. Es wird im Wesentlichen das vorgetragen, was
man sich vorher vorgenommen hat, ohne dass der eine
auf den anderen eingeht.
Deshalb stelle ich nun ganz konkret hier in den Raum
- vielleicht kann auch der Bundesaußenminister dazu
noch etwas sagen -: Wir kritisieren, dass - das ist ganz
augenscheinlich - die deutsche Bundeswehr im Rahmen
einer großen NATO-Aktion mit 12 000 Soldaten tätig
werden soll. Es wird immer wieder betont, dass es sich
nicht um ein Kampfmandat handelt und dass die Bundeswehrsoldaten nicht eingreifen sollen. Gleichzeitig
hören wir aber - der Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen -, dass der größte Truppensteller, nämlich die
USA, eine klare Fortsetzung der Kampfeinsätze plant.
Die USA planen, die Kommandounternehmen, die illegalen gezielten Hinrichtungen durch Drohnen und die
bisherigen Einsätze fortzusetzen. An der Politik ändert
sich nur insofern etwas, als nicht mehr so viele Soldaten
da sind und diese sich auf - ich sage mal - diese Terroraktionen konzentrieren. Das ist unsere Besorgnis.
Ich frage jetzt die Bundesregierung, und ich hätte Sie
gerne gefragt: Was sagen Sie eigentlich dazu? Sehen Sie
nicht diese Gefahr? War die Bundesregierung in die
Überlegungen der US-Amerikaner, mit denen zusammen
wir jetzt in Afghanistan tätig werden sollen, eingebunden? Haben Sie zugestimmt? Haben Sie Bedenken dagegen geäußert? Fürchten Sie nicht auch, dass die Bundeswehr wie schon einmal vor Jahren wieder in einen
veritablen zusätzlichen Krieg hineingezogen wird? Denn
wir dürfen ja nicht vergessen: Auch ISAF war ursprünglich ausdrücklich kein Kampfmandat, sondern lediglich
ein Schutzmandat für die Verwaltung in Kabul. Daraus
ist ein Kampf- und Kriegsmandat geworden. Viele, auch
ich, fürchten zu Recht, dass das wieder so kommt. Es
braucht nur irgendein Vorfall zu passieren, und dann sind
wir wieder mittendrin. Dann wollen Sie wieder die Zustimmung des Deutschen Bundestages zu einem ergänzenden Mandat einholen, damit sich die Bundeswehr
wieder an solchen Kampf- und Kriegsaktionen beteiligen kann.
Darauf hätte ich gerne eine Antwort. Diese Frage
stellt sich auch die Bevölkerung. Die Bevölkerung erwartet, dass der eine auf die Argumente des anderen eingeht und dass die Koalition, die diesen Antrag befürwortet, auf diese Frage eine Antwort gibt. Wie wollen Sie
verhindern, dass eine Entwicklung eintritt, wie sie nach
2001 schon einmal eingetreten ist?
({0})
Vielen Dank, Christian Ströbele. - Herr Otte, Sie haben jetzt die Möglichkeit zu einer Antwort.
Herr Ströbele, zuerst einmal müssen Sie diese Diskussion in Ihrer Fraktion führen.
({0})
Ich bin Herrn Nouripour sehr dankbar dafür, dass er gesagt hat, dass wir das afghanische Volk nicht im Stich
lassen. Ich glaube, das war eine gute Aussage.
Zweitens muss ich mit Bedauern feststellen, dass Sie
in Ihrer Intervention gar nicht auf meine Rede eingegangen sind, sondern nur, wie jedes Mal in diesen Debatten,
Ihre vorgefertigten Behauptungen noch einmal wiederholt haben.
({1})
Drittens möchte ich Ihnen sagen, dass oftmals erst mit
militärischen Mitteln die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, dass zivile Maßnahmen möglich werden,
({2})
dass Bildung und Infrastruktur erreicht werden können,
({3})
und auch das sollten Sie bitte einmal zur Kenntnis nehmen, auch wenn Ihnen das offensichtlich schwerfällt.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Otte. - Wir fahren nun in
der Debatte mit dem nächsten Redner fort: Stefan
Rebmann für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum ersten Mal seit 13 Jahren, Herr Ströbele,
debattieren wir heute hier kurz vor Jahresende nicht
mehr über die Verlängerung eines ISAF-Mandats,
({0})
sondern heute stehen die entwicklungspolitische Komponente und das zivile Engagement in Afghanistan viel
stärker als bisher im Vordergrund. Das ist, wie ich
meine, eine positive Nachricht. Es geht in dieser Debatte
zwar um einen Bundeswehreinsatz in Afghanistan, aber
wir debattieren heute auch über einen entwicklungspolitischen Antrag. Ich bitte doch, das in der ganzen Diskussion nicht zu vergessen.
({1})
Im Zentrum unseres entwicklungspolitischen Antrags
hierzu stehen die Unterstützung und Förderung demokratischer Prozesse, die Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung, die Schul- und Berufsbildung, der Aufbau von
leistungsfähigen staatlichen Institutionen und gute Regierungsführung. Ich finde, das ist auch gut so; denn
ohne weitere entwicklungspolitische Fortschritte wird es
keine dauerhafte selbsttragende Sicherheit in Afghanistan geben.
Entwicklungspolitik und vor allem die Entwicklungsarbeit vor Ort finden in der Regel abseits von Kameras
statt. Die Entwicklungsfachkräfte - die Kolleginnen und
Kollegen der GIZ, der KfW und der zahlreichen NGOs sind auch dann noch vor Ort, wenn der Medientross
schon längst weitergezogen ist.
Wir hier im Parlament setzen den Rahmen, stellen die
finanziellen Mittel zur Verfügung und geben die Richtung vor. Erfolgreich umsetzen müssen das dann aber die
engagierten Entwicklungsfachkräfte, die vor Ort sind.
Ich finde, dafür gebührt ihnen unser aller Dank.
({2})
Ich will hier nur auf einige wenige Erfolge hinweisen
- das ist auch schon angesprochen worden -:
Vor 13 Jahren ging etwa 1 Million Kinder zur Schule,
heute sind es über 9 Millionen - darunter über 40 Prozent Mädchen. 2001 gab es 8 000 Studenten, heute sind es
über 200 000 - darunter viele Frauen. Heute verfügt Afghanistan über 2 500 Kilometer asphaltierte und befestigte Straßen, 2002 waren es 50 Kilometer.
Als ich im letzten Jahr mit einer AwZ-Delegation in
Afghanistan war, haben wir eine 30 Kilometer lange
Straße gesehen, die gebaut worden ist und die von
Masar-i-Scharif zum Ali-Baba-Gate führt. Auf dieser
Straße kam uns ein älterer Mann mit einem Esel entgegen. Wir haben mit ihm sprechen können, und er hat uns
gesagt: Diese Straße rettet Leben.
Diese Straße rettet Leben, weil die Menschen dort
jetzt nicht mehr fünf Stunden von ihrem Dorf nach
Masar-i-Scharif brauchen - am Fluss entlang, wo vorher
die Straße verlaufen ist -, sondern weniger als eine
Stunde. Er hat gesagt, sie haben dadurch Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Medizin, ihre Kinder können zur Schule gehen, und sie können Handel treiben.
Wir haben gesehen, dass rechts und links an dieser einfachen Straße Gebäude und Kleingewerbe entstanden sind
und Handel betrieben wurde. Durch eine einfache Straße
entsteht Entwicklung, und die Menschen lernen sich
kennen. Ich finde, in diese Richtung sollten wir weiterarbeiten.
({3})
Es gibt in Afghanistan ein Berufsbildungssystem, das
mit deutscher Unterstützung aufgebaut worden ist.
Afghanistan ist ein junges Land. Wir haben es schon gehört: 70 Prozent der Afghanen sind unter 25 Jahre alt.
Diese jungen Menschen brauchen eine Zukunftsperspektive in ihrem Land. Sie brauchen Arbeit. Sie brauchen
Sicherheit. Sie brauchen Einkommen. Sie brauchen Perspektiven. Wenn wir diese Grundbedürfnisse nicht erfüllen können, dann drohen Frust, Abwanderungsbewegungen und politische Radikalisierung.
Wir sollten die Erfolge und die positiven Entwicklungen - die Liste könnte ich noch fortsetzen - nicht kleinreden. Diese Erfolge müssen aber abgesichert werden;
denn - auch das gehört zur Wahrheit - es ist längst noch
nicht alles auf einem guten Weg in Afghanistan und hat
in vielen Bereichen noch einen sehr langen Weg vor
sich.
Eine große Herausforderung zum Beispiel besteht
nach wie vor bei den Frauen- und Mädchenrechten, bei
der allgegenwärtigen Korruption bis hin zum Opiumanbau. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir für eine
gute Regierungsführung sorgen und diese fördern, dass
wir Frauenrechte stärken und dass wir zum Beispiel
kleinbäuerliche Strukturen, Genossenschaften und die
Landwirtschaft fördern. Denn ein Bauer, der sein Gemüse, seinen Weizen und seine Früchte ernten und vermarkten kann, der hat es nicht nötig, in den Opiumanbau
zu investieren.
({4})
Wir brauchen in Afghanistan tragfähige Impulse für
eine nachhaltige Beschäftigung und Wirtschaftspolitik.
Davon sind wir aber nach wie vor noch weit entfernt,
wie im Fortschrittsbericht zu lesen ist.
Frau Präsidentin, ich komme dann demnächst zum
Ende,
„Demnächst“ ist ziemlich schnell, bitte.
- denn hier blinkt es ganz aufgeregt; damit das entsprechend repariert werden kann.
Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr
Rechtssicherheit. Die leisen Hoffnungen, die die aktuellen Vorhaben der Regierung der Nationalen Einheit wecken, sollten wir meines Erachtens unterstützen. Wir
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
sehen in Afghanistan eine ganze Reihe von positiven
Entwicklungen. Wir müssen aber auch sehen, wie mühsam, schmerzhaft und oft auch traurig der Weg in den
vergangenen 13 Jahren war, und wir müssen sehen, wie
fragil diese Erfolge sind. Wir brauchen Beharrlichkeit
und strategische Geduld.
Mögen auch die Scheinwerfer nach und nach ausgegangen sein und die Kameras sich woandershin wenden:
Wir müssen in Afghanistan bleiben. Wir müssen den
Menschen eine Zukunft geben, und wir müssen zu unseren Zusagen stehen.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Danke, lieber Kollege Rebmann. Es ist repariert. Dann hat jetzt der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor dem Hintergrund der Regierungsbildung, vor dem
Hintergrund des Endes von ISAF und des Starts von Resolute Support sowie im Rahmen der Transformationsdekade hatte ich in diesem Herbst zweimal die Gelegenheit, Afghanistan zu besuchen. Dabei habe ich unter
anderem die Gelegenheit gehabt, ein Gespräch mit einer
afghanischen Abgeordneten, Frau Barakzai, zu führen,
die eine mutige Frau ist; sie hat zur Zeit der TalibanHerrschaft heimlich eine Mädchenschule geführt und
kämpft als Abgeordnete und Frauenrechtlerin in Afghanistan für die Rechte der Frauen und den Aufbau einer
Zivilgesellschaft.
Wir haben unter anderem darüber gesprochen, wie
man in der afghanischen Verfassung, in dieser sehr stark
auf den Präsidenten zugeschnittenen Verfassung, mehr
parlamentarische Elemente implementieren kann. Wir
haben darüber gesprochen, wie sehr insbesondere die
junge afghanische Bevölkerung das Wort „Demokratie“
nicht als eine hohle Phrase empfindet, sondern ganz im
Gegenteil als eine Riesenchance für ihr Leben. Das hat
man nicht zuletzt daran gesehen, dass über 7 Millionen
Afghaninnen und Afghanen an der Präsidentschaftswahl
teilgenommen haben, obwohl dies mit unmittelbaren
Gefahren für Leib und Leben für sie verbunden war.
Dieses Gespräch mit Frau Barakzai - die mir auch gesagt hat, dass sie selbst dann ihre Stimme abgegeben
hätte, wenn die Taliban ihr den Kopf abgeschnitten hätten - ist mir vor allen Dingen auch deshalb so in Erinnerung geblieben, weil wenig später, am 16. November, ein
Anschlag auf sie verübt wurde, dem sie zwar verletzt
entkommen ist, aber drei Begleiter kamen ums Leben,
und 20 Passanten wurden schwer verletzt.
Diese Geschichte zeigt aus meiner Sicht exemplarisch
zwei Grundwahrheiten in Afghanistan: Zum einen - darauf sind die Vorredner umfassend eingegangen - ist in
den 13 Jahren des ISAF-Einsatzes unheimlich viel erreicht worden. An vielen Beispielen kann man sehen,
dass die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und
das, was im Bereich der Infrastrukturentwicklung und in
anderen Bereichen passiert ist, letztlich die Grundlage
für eine weitere gute Entwicklung des Landes für die Zukunft bedeuten.
Zum anderen aber ist neben den nackten Zahlen, die
auch eine Vervielfachung des Bruttoinlandsprodukts zeigen, deren Auswirkungen bei den Menschen unmittelbar
ankommen, eine Änderung im Denken und im Bewusstsein der Menschen zu erkennen; die Tatsache, dass man
förmlich spürt, dass die Menschen sich nicht einschüchtern lassen wollen, dass sie die Taliban nicht mehr
wollen, dass sie die Errungenschaften der Vergangenheit
nicht aufgeben wollen, sondern im Gegenteil dieses
Land tatkräftig mitgestalten und mitentwickeln möchten.
Ich bin davon überzeugt, dass wir in Afghanistan
tragfähige staatliche Strukturen brauchen, um die Korruption einzudämmen, damit letztlich der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen kann, und zwar nicht nur in
Kabul, nicht nur in den Provinzhauptstädten, sondern
eben auch in der Peripherie des Landes, um die Grundbedürfnisse der Menschen erfüllen zu können.
Damit kommen wir zu dem größten Defizit, das derzeit besteht, nämlich die mangelnde Sicherheit. Dieser
Anschlag auf Frau Barakzai, von dem ich gesprochen
habe, ist mitten in Kabul passiert, also der Hauptstadt,
die wir eigentlich für sicher gehalten haben. Deshalb ist
in diesem Bereich noch vieles zu tun. Wir schaffen es
nur mit stärkeren staatlichen Strukturen in Afghanistan.
Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.
Wenn man das zugrunde legt, wenn man auf stärkere
staatliche Strukturen setzt, mit denen dafür gesorgt wird,
die Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen, dann
wird das dabei helfen, dass sich die Taliban in der Bevölkerung nicht erneut verwurzeln und konsolidieren können. Das wird auch dazu führen, dass die Zivilgesellschaft gestärkt und eine wirtschaftliche Entwicklung im
Land entfesselt werden kann. Vor diesem Hintergrund
und angesichts dieser Zielsetzung ist das, was jetzt mit
Resolute Support erreicht werden soll, folgerichtig.
Lieber Herr Ströbele, ich möchte an dieser Stelle sagen: Ich hatte nicht den Eindruck, dass dies ein Schlagabtausch mit vorgefertigten Argumenten ist. Ganz im
Gegenteil: Von Ihnen habe ich kein vernünftiges Argument gehört. Ich will es anders formulieren: Sie haben
zwar berechtigte Bedenken angeführt; das ist richtig.
Manchem Argument, das Sie genannt haben, kann man
sogar folgen und sagen: Ja, das stimmt. Damit sind Gefahren verbunden. - Aber worauf Sie mit keiner Silbe
eingegangen sind, ist die Frage der Alternativen. Was
haben Sie denn für Alternativen, um zu einer positiven
Entwicklung dieses Landes beizutragen? Das können Sie
mir gerne im Anschluss an diese Rede sagen. Ich werde
Ihnen gespannt zuhören.
Es geht letztlich darum, dass wir den Übergang schaffen, und nicht darum - das hat das Beispiel Irak gezeigt -, kopflos das Land zu verlassen, es im Stich zu
lassen, wie Ihr Fraktionskollege Nouripour gesagt hat,
sondern zu helfen. Wir müssen das, wofür wir 2001 im
Land Verantwortung übernommen haben, weiterführen
und zu einem guten und verantwortungsvollen Ende
bringen. Dafür übernehmen wir in der Speiche Nord
Masar-i-Scharif unmittelbare Führungsverantwortung
- auch das ist eine Antwort auf Ihre Frage - und statten
dieses Mandat mit 850 Mann Personalobergrenze aus.
Ich hoffe wirklich, dass das reicht. Ich persönlich hätte
mir durchaus vorstellen können, dass wir etwas mehr
Spielräume für die militärische Führung vor Ort schaffen, weil es natürlich auch darum geht, Sicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten zu erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass dieser Einsatz noch länger dauern wird. Der zivile
Einsatz wird in jedem Fall noch sehr lange dauern. Aber
ich glaube, dass es völlig falsch und blauäugig wäre,
heute hinsichtlich der militärischen Unterstützung von
festen Abzugsterminen zu sprechen, sondern dass es
letztlich so sein muss, wie es der Kollege Mißfelder gesagt hat: Wir brauchen die Präsenz so kurz wie möglich,
aber eben auch so lange wie notwendig, damit wir die
Erfolge der Vergangenheit tatsächlich für die Zukunft sichern können.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung von Christian Ströbele?
Ja, bitte.
Danke, Herr Kollege Frei. - Ich hätte das auch am
Ende Ihrer Rede sagen können. Aber jetzt passt es besser. Dann können Sie noch etwas dazu sagen.
Natürlich suche auch ich einen Ausweg. Aber dieser
Ausweg kann nach 13 Jahren Krieg nicht mehr Krieg
sein
({0})
und den Krieg genauso fortzusetzen, nur mit weniger
Truppen. Das muss man doch irgendwann lernen. Einen
Siegfrieden gibt es dort nicht,
({1})
selbst wenn Sie noch 20 Jahre Militär dorthin schicken.
Es gibt eine einzige Lösung, für die ich mich seit Jahren
einsetze - sie wäre real und auch chancenreich -: Man
muss mit den gezielten Hinrichtungen und den Kommandounternehmen aufhören. Man muss mit denjenigen, die man bislang tötet, verhandeln. Es gibt einen
Frieden nur durch Verhandlungen. Das sagen Ihnen alle
Experten vor Ort. Auch mit den Taliban muss gesprochen werden.
Als ich vor zwei, drei Jahren in Afghanistan war, haben mir Leute aus dem Parlament, die von den Taliban
verfolgt wurden, oder Angehörige von Gruppen, die mit
den Taliban überhaupt nichts zu tun hatten, gesagt: Wir
müssen gemäßigte Taliban in die Regierung aufnehmen. - Aber darüber hat man nicht verhandelt. Die
Bundesregierung hat im Norden Afghanistans nach anfänglichen Verhandlungsmöglichkeiten und Verhandlungsansätzen das völlig den Amerikanern überlassen. Die
wollten das nicht, und auch die Regierung Karzai hat das
dann hintertrieben. Aber die einzige Chance, jemals zu
einer vernünftigen, friedvollen Lösung zu kommen, sind
Verhandlungen. Deshalb sollte die gesamte Politik darauf ausgerichtet sein.
({2})
Herr Kollege Frei. - Und wir bleiben wieder stehen,
Christian Ströbele.
Herr Kollege Ströbele, ich gebe Ihnen gerne recht.
Natürlich brauchen wir erstens Verhandlungen und Gespräche. Zweitens muss eine Friedensentwicklung aus
dem Land heraus erfolgen. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass angesichts der unter dem Strich gelungen verlaufenen Wahlen, der Regierung der Nationalen Einheit
sowie der Zusammenarbeit von Ghani und Abdullah
letztlich die Chance besteht, verfeindete Stämme und
Gruppierungen zusammenzubringen und damit die
Grundlage für eine wirtschaftliche, rechtsstaatliche und
gesellschaftliche Reformagenda zu schaffen.
Lassen Sie mich als weiteren Aspekt darauf eingehen:
Sie müssen genauso zuhören wie wir Ihnen. Wir haben
ab dem 1. Januar 2015 kein robustes Einsatzmandat
mehr. Die Resolute Support Mission zielt vielmehr auf
Unterstützung und Training ab und ist darauf ausgerichtet, die afghanischen Sicherheitskräfte zu befähigen,
selbst die komplette Sicherheitsverantwortung in ihrem
Land zu übernehmen. Mit der Absicherung der Wahlen
haben sie bereits bewiesen, dass sie dazu in der Lage
sind. In diesem Sinne handeln wir. Damit geben wir,
glaube ich, eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen im Land.
Danke.
Lassen Sie mich zu einem letzten Aspekt kommen,
der mir ebenfalls wichtig erscheint. Wir haben es in der
Nachfolge der Konferenz von Tokio mit einem auf Gegenseitigkeit angelegten Prozess zu tun. Das heißt, es
muss klare Erwartungen an die afghanische Regierung
geben, klare Erwartungen im Hinblick auf bessere Regierungsführung, transparentere Kontrollmechanismen,
mehr Sicherheit für Investoren und Rechtssicherheit;
denn es ist nicht akzeptabel, dass 80 Prozent des afghanischen Haushalts letztlich von der internationalen Staatengemeinschaft finanziert werden. Da muss es klare
Abmachungen und einen Pfad hin zu mehr afghanischer
Verantwortung geben. Daran müssen wir die Regierung
des Landes auch messen; denn es ist nicht akzeptabel,
dass ein Land, das rohstoffreich ist und gute Voraussetzungen hat, in derartiger Abhängigkeit von der internationalen Staatengemeinschaft ist. Ich bin zuversichtlich,
dass wir es dort schaffen.
Zum Schluss möchte ich gerne die Worte meiner Vorredner wiederholen und denjenigen herzlich danken, die
in den vergangenen 13 Jahren in unterschiedlichen Kontingenten als Soldaten, als zivile Aufbauhelfer oder als
Polizeibeamte Verantwortung vor Ort getragen haben.
Wir denken im Besonderen an die 55 Gefallenen und deren Familien sowie an diejenigen, die schwer und dauerhaft gesundheitlich verletzt wurden im Dienst für ihr
Land, für unser Land und für uns. Dafür sagen wir herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Frei. - Letzter Redner in
dieser Debatte: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser sehr ausgiebigen Debatte könnte man denken: Es
bleibt nicht mehr viel zu sagen. Ich möchte an einige
Punkte erinnern, die den Einsatz in Afghanistan in den
letzten 13 Jahren begleitet haben.
Heute haben wir die afghanische Staatsführung zu
Gast in Berlin. Genau auf den Tag vor drei Jahren, am
5. Dezember 2011, fand die letzte Petersberg-Konferenz
in Deutschland statt. Sie wurde damals stark parlamentarisch begleitet; viele, die in diesem Saal sind, waren seinerzeit in Bonn auf dem Petersberg. Damals ist eigentlich das entschieden worden, was heute hoffentlich den
Geist der Resolute Support Mission ausmacht, der nämlich darin besteht, dass wir uns verpflichten, bis zum
Jahr 2024 Afghanistan zu einem normalen Entwicklungsland zu machen. Das wird ein schwerer Weg sein.
Dafür ist viel zu schultern.
Aber gerade das, was eben in die Diskussion vom
Kollegen Ströbele eingebracht wurde, zeigt doch deutlich, dass unser Weg, der Weg weg von einer Kampfmission, hin zu einer Beratungs- und Unterstützungsmission, richtig ist.
Im Übrigen haben wir das schon einmal in einem anderen Umfeld unter Beweis gestellt, auf dem Balkan:
Zunächst gab es eine UN-Mission, dann eine Mission
der NATO, und heute gibt es noch eine EU-Mission.
Bosnien ist zwar kein sonderlich prosperierendes Land;
aber die Unruhen dort haben aufgehört, und die internationale Gemeinschaft steht an seiner Seite. Genauso
muss auch der Weg Afghanistans begleitet werden: Hilfe
zur Selbsthilfe einerseits und auf der anderen Seite Entschlossenheit in der Unterstützung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
ein paar Punkte ansprechen, die wir vielleicht als Lehren
betrachten können.
Wir als Parlament haben bereits im Jahr 2010 Fortschrittsberichte gefordert. Seit Dezember 2010 hat unser
Parlament vom Auswärtigen Amt neun Fortschrittsberichte, die viel konstruktive Kritik, viele Evaluierungsvorschläge enthalten haben, erhalten. Ich möchte an dieser Stelle nicht nur im Namen unserer Fraktion dem
Auswärtigen Amt, Ihnen, Herr Außenminister, aber auch
Herrn Botschafter Koch und seinem Vorgänger, Herrn
Botschafter Steiner, und deren Afghanistan-Team für
diese solide Arbeit Dank aussprechen.
({0})
Diese solide Arbeit hat auch dazu geführt, dass wir
uns in manchen Punkten ehrlich machen mussten. Ich
spreche hier ganz gezielt die psychologische Nachsorge
für unsere Soldatinnen und Soldaten an. Als im Jahr
2001/2002 die ISAF-Mission begann, wurde nicht nur
im Bundestag, sondern auch unserer Bevölkerung erklärt, dass man sich in einem friedlichen Wiederaufbau
befindet. Das hat sich als Trugschluss erwiesen. Im Rahmen dieses „friedlichen Wiederaufbaus“ sind unsere
Soldaten in einen Einsatz geschickt worden, der sie in
erheblichem Maße gefordert hat. Wir haben eine hohe
Zahl traumatisierter Soldatinnen und Soldaten, die die
Gefechtserlebnisse und andere Eindrücke überwinden
müssen.
Da die Gesellschaft aber geglaubt hat, dass unsere
Streitkräfte im friedlichen Wiederaufbau sind, haben wir
die traumatischen Erfahrungen nicht ernst genommen.
Was die menschliche Komponente und diejenigen, die
den Einsatz geleistet haben, angeht, ist das die schwerwiegendste Folge und die gravierendste Lehre, die wir
für unser eigenes Land gezogen haben.
Ich war unlängst bei der Einweihung des Denkmals in
Potsdam, wo 104 im Kampf gefallener Menschen gedacht wird. Es ist jetzt an der Zeit, darüber nachzudenken, dass sich in den letzten Jahren in unserem Land eine
Erinnerungskultur entwickelt hat, eine Erinnerungskultur, die wir vermisst und versäumt haben und die unsere
Soldaten lange erwartet haben - nicht nur die Soldaten,
sondern auch die Entwicklungshelfer und die Polizisten,
die dort unterstützen. Ich denke, da haben wir etwas geleistet, womit wir denjenigen Ehre erweisen, die im Auftrag dieses Parlaments ihr Leben gelassen haben.
({1})
- Ich glaube, als Abgeordnete sollten Sie hinter denjenigen stehen - egal ob Sie deren Einsatz politisch mittragen oder nicht -, die ihr Leben für unser Land einsetzen,
weil sie nicht ausweichen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine weitere
Lehre, die wir daraus ziehen sollten, ist, dass wir die
Frage „Was sagen wir unserer Bevölkerung?“ beantworten müssen. Wir haben mit dem Weißbuch-Prozess 2006
einige Fortschritte erzielt. Es gibt einen weiteren Weißbuch-Prozess, der hoffentlich viele Ministerien umfassen
wird und der sicherlich federführend vom Verteidigungsministerium begleitet werden wird. Wir brauchen dort
einen inklusiven Ansatz. Wir müssen unserer Bevölkerung künftig von vornherein erklären, um was es in den
Einsätzen geht - „erklären“ heißt nicht „schönreden“ -,
({2})
und dürfen nicht von vornherein hoffen, dass alles gut
geht. Wir müssen der Bevölkerung klar sagen, dass es
möglicherweise eskalieren kann.
Das ist eine weitere Lehre, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir haben immer gesagt: Der Einsatz
des Militärs ist die Ultima Ratio. - Das ist richtig; das ist
die letzte Eskalation. Aber wir machen damit, glaube
ich, einen strategischen Fehler in der Art und Weise, wie
wir mit Militär in unserer Außenpolitik umgehen; denn
wenn wir Militär in der frühen Begleitung ausschließen
und sagen: „Der militärische Einsatz ist die Ultima Ratio
und kommt erst dann, wenn alles andere versagt hat“,
vergessen wir die Möglichkeiten, die ein militärischer
Einsatz bietet. Ich denke hier an Sicherheitssektorreform, an Militärdiplomatie, an Entwaffnung, an Überwachungsmissionen, auch an unbewaffnete Missionen. Wir
müssen bedenken, was wir damit leisten können, meine
sehr geehrten Damen und Herren.
Deshalb rate ich dazu, dass wir aus Afghanistan die
Lehre ziehen, uns der Frage zuzuwenden: Wie kann man
Militär so in ein Gesamtkonzept eingliedern, dass wir
die Eskalation bis zur Ultima Ratio von vornherein verhindern oder vermeiden? Wenn das Weißbuch darauf
eingeht, unter Einbindung der Expertise des Auswärtigen Amtes, des Ministeriums für Entwicklungszusammenarbeit, des Innenministeriums und anderer, die sich
hier berufen fühlen, bekommen wir, glaube ich, einen
echten Fortschritt, was unsere außen- und sicherheitspolitische Strategie angeht.
Ein anderer Aspekt, der mir sehr am Herzen liegt, ist
die Frage des regionalen Einbindens und des regionalen
Zusammenhangs. Wir haben deutscherseits guten Grund,
unsere Interessen zu formulieren, die Aufgaben, die wir
erfüllen wollen, und auch die Instrumente, die wir gemeinsam mit Partnern und möglichst unter einem UNMandat einsetzen wollen, zu definieren und die Region
zu diskutieren, wo wir aktiv sein wollen. Wir müssen das
erklären. Wir müssen es unserer Bevölkerung nahebringen. Wir müssen es aber auch unseren Partnern erklären.
Das führt dazu, dass wir, wo immer wir uns engagieren, den regionalen Kontext betrachten müssen. Es ist
schon auch Verdienst der Bundesrepublik Deutschland
und ihrer Diplomatinnen und Diplomaten, dass in der
Afghanistan-Kontaktgruppe fast 50 Staaten sind, dass
durch die regionale Zusammenarbeit nicht nur Geldgeber gefunden wurden; die Resolute Support Mission
wurde überhaupt erst möglich, weil Südostasien hinter
diesem Einsatz steht und weil es uns gelungen ist, bisher
5,7 Millionen Flüchtlinge aus den Nachbarländern in
ihre Heimat zurückkehren zu lassen.
In diesem Sinne, meine sehr geehrten Damen und
Herren, lassen Sie uns auch mit Blick auf künftige Einsätze an ein vernetztes Vorgehen und einen inklusiven
Ansatz denken! Lassen Sie uns als Parlament weiterhin
die Stimme erheben! Die Fortschrittsberichte hätte es
nicht gegeben, hätten wir sie nicht verlangt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3246 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?
({0})
- Weil hier so eine Absetzbewegung stattfindet, weise
ich darauf hin: Wir stimmen gleich noch über etwas anderes ab. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/3405 mit dem Titel „Transformationsdekade mit zivilen Mitteln erfolgreich gestalten“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
({1})
- Jetzt gibt es in der Tat einen Wechsel. Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die an der nächsten Debatte teilnehmen, ihre Plätze eingenommen haben, rufe ich den
Punkt auf.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Eva Bulling-Schröter, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Vizepräsidentin Claudia Roth
Stromsperren gesetzlich verbieten
Drucksache 18/3408
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat Caren
Lay für die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich kann meine heutige Rede natürlich
nicht beginnen, ohne eingangs meine Freude über Thüringen zum Ausdruck zu bringen:
({0})
meine Freude über den ersten linken Ministerpräsidenten
und vor allen Dingen über das erste rot-rot-grüne Bündnis in Deutschland. Herzlichen Glückwunsch auch von
meiner Seite!
({1})
- Da ich gerade aus der CDU/CSU-Fraktion den Zwischenruf, das sei der Niedergang Deutschlands, höre,
will ich Ihnen sagen: Opposition ist eine wichtige Aufgabe in unserem Land. Opposition kann auch Spaß machen. Ich gönne Ihnen sehr, dass Sie diese wertvolle Erfahrung bald auch auf Bundesebene machen werden.
({2})
Meine Damen und Herren, kommen wir jetzt zum
Thema. Julia S. aus München führte noch vor ein paar
Monaten ein ganz normales Leben. Dann kam ein Unfall, dann kam Arbeitslosigkeit, eines kam zum anderen.
Wenige Wochen später konnte sie ihrer kleinen Tochter
keinen Kakao und auch kein warmes Essen mehr machen; denn ihr wurde der Strom gesperrt. Das ist leider
kein Einzelfall. So wie Frau S. geht es 345 000 Haushalten in Deutschland, denen im letzten Jahr der Strom abgedreht wurde; die Tendenz ist deutlich steigend. Das
sind 24 000 Haushalte mehr als noch im Jahr zuvor. Man
kann sich vorstellen: In jedem Haushalt leben im Schnitt
zwei, drei, vier Personen. Während andere europäische
Länder gehandelt haben, ist in Deutschland nichts passiert, um Energiearmut zu bekämpfen. Deutschland ist
Europameister im Stromsperren. Ich finde, das ist einfach schändlich.
({3})
Auch die Verbraucherzentralen schlagen Alarm. Bei
der Berliner Verbraucherzentrale beispielsweise ist inzwischen jeder vierte Kunde, der zur Beratung kommt,
von einer Stromsperre bedroht, oder er kommt wegen
Schulden beim Energieversorger. Auch hier ist die Tendenz deutlich steigend. Diese Zahlen, meine Damen und
Herren, sind alarmierend. Energiearmut ist ein Problem
in Deutschland. Wir müssen hier endlich etwas tun.
({4})
Aber was tut diese Bundesregierung? Im Koalitionsvertrag spricht sie die Empfehlung aus, man möge sich
einen Prepaid-Zähler anschaffen. Na, schönen Dank
auch! Konkrete Maßnahmen: Fehlanzeige. Noch nicht
einmal die EU-Richtlinie ist aus unserer Sicht richtig
umgesetzt. Sie legt nämlich fest, dass „schutzbedürftige
Kunden“, denen der Strom nicht abgestellt werden darf,
klar zu definieren sind. Wer sind diese schutzbedürftigen
Kunden? Dieser Begriff ist in Deutschland, wie gesagt,
nicht definiert. Aber nach meinem Verständnis wären
das Familien mit kleinen Kindern, alte Menschen und
pflegebedürftige Menschen. Diese Menschen können
wir doch nicht allen Ernstes im Dunkeln sitzen lassen!
({5})
Aber diese europäische Vorgabe ist in Deutschland bis
heute nicht umgesetzt. Es wird höchste Zeit.
Unsere Nachbarländer machen uns vor, dass es auch
anders geht. In vielen Ländern ist „Energiearmut und
Stromsperren“ seit Jahren ein wichtiges politisches
Thema. Es gibt Maßnahmen, die dazu geführt haben, die
Anzahl der Fälle deutlich zu senken. Direkt nebenan, in
Belgien und Frankreich, sind Stromsperren zumindest
im Winter komplett verboten. Meine Kollegin BullingSchröter erzählte mir vorhin, dass sie vorgestern mit einer Delegation aus Frankreich, mit französischen Parlamentariern, darüber gesprochen hat. Die Mitnahmeeffekte, die Sie hier immer vermuten, sind dort nicht
eingetreten. Ich finde, daran sollten wir uns ein Beispiel
nehmen. Energieversorgung ist ein Grundrecht, und
Stromsperren müssen verboten werden, meine Damen
und Herren.
({6})
Die Einwände sind mir natürlich bekannt: Es kostet
Geld. Ja, aber an anderer Stelle zeigen Sie deutlich mehr
Verständnis, beispielsweise bei den Industrierabatten,
wenn die energieintensiven Unternehmen schreien: Unsere Stromrechnung ist zu hoch! - Aber ich sage: Statt
Menschen, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen können, subventioniert diese Regierung lieber Industriebetriebe, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen wollen.
Das sind Milliardengeschenke.
({7})
5 Milliarden Euro lässt sich die Regierung diese Industrierabatte kosten, bzw. sie lässt uns die Stromrechnung
der Industriebetriebe bezahlen. Ich finde, das ist eine
völlig falsche Prioritätensetzung.
({8})
Und hier läuft auch insgesamt etwas falsch. Der Preis
für den Haushaltsstrom ist seit dem Jahr 2008 um
38 Prozent gestiegen. Für die energieintensive Industrie
ist er im gleichen Zeitraum sogar um 1 Prozent gesunken. Das ist nun wirklich die falsche Prioritätensetzung.
({9})
Ich habe mich gefreut, dass Frau Ministerin
Hendricks zu Beginn der Legislaturperiode unsere linke
Idee von einer Abwrackprämie für Stromfresser übernommen hat. Einkommensschwache Haushalte sollen
einen Zuschuss bekommen, wenn sie sich zum Beispiel
einen energiesparenden Kühlschrank anschaffen. Dann
haben wir lange nichts davon gehört. Vorgestern hieß es
dann im Aktionsplan Klimaschutz: Wir machen einen
Prüfauftrag und gucken, ob wir das nicht auf Hartz IV
anrechnen. - Das ist doch wirklich absurd.
({10})
Meine Damen und Herren, viele Menschen, auch
viele in diesem Saal, können sich vielleicht ein Leben
ohne Strom überhaupt nicht vorstellen. Aber dahinter
stecken ganz konkrete Schicksale. Mich schrieb zum
Beispiel Dagmar Meis aus Wuppertal an, eine Frau mit
einer kleinen Rente, die von einem Großteil ihrer Lebenshaltungskosten aufgefressen wird. Sie ist schwer
krank und müsste beispielsweise regelmäßig ein heißes
Bad nehmen. Sie schrieb mir, das kann sie sich nicht
leisten. - In einem reichen Land finde ich das wirklich
unwürdig.
Zu guter Letzt möchte ich sagen: Es geht nicht nur um
das Problem der Stromsperren. Auch andere lebensnotwendige Dinge werden den Menschen vorenthalten. Beispielsweise gab es im letzten Jahr 46 000 Gassperren,
und auch hier ist die Tendenz deutlich steigend. Beispielsweise erreichte mich eine Mail aus Colditz in
Sachsen. Die Mieterinnen und Mieter haben immer ganz
brav ihre Gasrechnung bezahlt, aber der Vermieter hat
das Geld nicht an den Versorger weitergegeben. Nun
wurden die Mieterinnen und Mieter mit einer Gassperre
bedroht. Das darf doch wirklich nicht wahr sein.
({11})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir als Linke bringen das Thema Stromsperren heute erneut in den Bundestag ein, da bisher nichts passiert ist.
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, und
wir sagen: Strom, Gas und Wasser - das sind soziale
Grundrechte. Darauf hat jeder Mensch ein Recht, und
hier darf nicht gespart werden.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Caren Lay. - Nächster Redner in der
Debatte: Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lay, es fällt mir schon
schwer, bei diesem Antrag kollegial und einigermaßen
diplomatisch zu bleiben.
({0})
Das ist ein tiefer Griff in die Mottenkiste des Klassenkampfes. Sie haben eine schier unerschöpfliche Quelle
von Schauanträgen, die Sie immer wieder hervorziehen.
({1})
Damit helfen Sie den Menschen aber nicht.
({2})
Sie blenden die Menschen, und Sie werden damit
auch zum politischen Gaukler. Das sollten Sie sich nicht
antun.
Worum geht es? Sie haben den gleichen Antrag
- wortgleich - vor zwei Jahren schon einmal gestellt.
({3})
Er musste mit den gleichen Fakten abgelehnt werden,
die ich Ihnen jetzt auch wieder nennen werde und nennen muss; denn es hat sich ja nichts geändert.
({4})
Sie wollen mit diesem Antrag Stromsperren gesetzlich verbieten, wenn ein Abnehmer seine Rechnung
nicht bezahlt. Der Bundestag soll also ein Gesetz machen, mit dem in das Eigentumsrecht eingegriffen wird.
Das ist völlig absurd; denn jeder Leistungserbringer - ob
es der Handwerksmeister, der Einzelhändler, der Onlinehändler, der Tante-Emma-Laden oder der Supermarkt
ist - hat ein Recht darauf, dass seine Leistungen bezahlt
werden, und er hat auch ein Recht darauf, dass der
Rechtsstaat ihm hilft und ihn schützt.
Das, was Sie wollen, trifft ja nicht nur die aus Ihrer
Sicht bösen großen Energieversorger, sondern - dazu
wird es nicht kommen - es würde auch die Stadtwerke
treffen, den Windmüller, alle Energieversorger, also
auch die Kommunen, die Landkreise, die Städte und Gemeinden, und das, meine Damen und Herren, ist völlig
absurd.
({5})
Nun kommen wir zu den Fakten. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Es ist eine soziale Katastrophe in Deutschland.
({6})
Jetzt nenne ich Ihnen einmal die Fakten, was die Unterstützung des Sozialstaates angeht. Menschen, die ihren
Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, haben
ein Recht darauf - Sie sprechen ja insbesondere die
Hartz-IV-Empfänger an -, im Rahmen der Grundsicherung über das SGB II folgende Leistungen zu erhalten:
einen Regelsatz von circa 400 Euro; darin sind übrigens
die 30 Euro Stromkosten eingerechnet und eingepreist.
({7})
Diese Menschen bekommen die Kosten der Unterkunft
sowie die Heizungskosten komplett bezahlt. Diese Menschen bekommen die Kosten für Warmwasser komplett
bezahlt. All das erfolgt im Rahmen der Angemessenheit,
wenn ihnen kein unwirtschaftliches Verhalten nachgewiesen wird. Und das kann ihnen auch nicht nachgewiesen werden. Demzufolge bekommen sie das bezahlt. Darüber hinaus werden Mehrbedarfe und Zuschläge
bezahlt, zum Beispiel für Schwangere, Alleinerziehende
oder Behinderte. Sie bekommen beim Erstbezug einer
Wohnung Hausgeräte bezahlt.
({8})
Sie bekommen die Krankenversicherung bezahlt. Es gibt
ein Milliardenpaket des Bundes für Bildung und Teilhabe.
({9})
Die Kinder und Jugendlichen, die davon profitieren, dürfen in den Sportverein gehen, dürfen die Musikschule
besuchen. Sie dürfen an Klassenfahrten teilnehmen. Sie
bekommen eine Förderung für die Schule. Sie bekommen eine Lernförderung. Sie bekommen Mittagessen.
({10})
Sie bekommen die Schülerbeförderung bezahlt. Und
dann gibt es auch noch Eingliederungshilfe, wenn die
Menschen in Arbeit kommen; das heißt, sie bekommen
ein Einstiegsgeld.
({11})
Sie bekommen Bewerbungskosten bezahlt. Sie bekommen die Berufsausbildung bezahlt. Sie bekommen Mobilitätskosten bezahlt, wenn sie eine Arbeit gefunden haben.
({12})
Die Menschen können alle diese Möglichkeiten nutzen.
({13})
Und dann reden Sie, meine Damen und Herren von
der Linken, in Ihrem Antrag von „Armut per Gesetz“.
Wovon reden Sie eigentlich? Vor allen Dingen reden Sie
von einer „sozialen Katastrophe“. Ich will Ihnen sagen,
was eine Katastrophe ist:
({14})
Dieser Antrag ist eine Katastrophe.
({15})
Kommen wir jetzt zum Bundeshaushalt.
Herr Kollege Koeppen, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Bulling-Schröter?
Nein. Ich würde ganz gerne fortfahren - vor zwei Jahren wurde der Antrag ja schon einmal eingebracht -, damit Sie es endlich einmal verstehen. Wenn Sie es danach
immer noch nicht verstanden haben, dann können Sie
nachfragen.
({0})
Fast 42 Prozent der Ausgaben im Bundeshaushalt
2014 entfallen auf Arbeit und Soziales. Das entspricht
122 Milliarden Euro. Im Bundeshaushalt 2015 sind die
Ausgaben sogar noch höher. Da reden Sie von „unsozial“. Ich will Ihnen sagen, was das ist: Das ist unredlich,
das ist ignorant, und das ist vor allen Dingen dreist. Das
sind haarsträubende Schauergeschichten, die Sie hier erzählen.
({1})
Kommen wir zur Wahrheit: Bund, Länder und Kommunen lassen die Bedürftigen natürlich nicht, wie Sie
behaupten, im Dunkeln sitzen. Diese Menschen werden
auch nicht erfrieren; denn jeder hat ein Recht auf Sozialhilfe, jeder hat ein Recht auf Transferleistungen der Gesellschaft. Das ist Solidarität mit den Menschen, die das
brauchen.
({2})
Das werden wir natürlich auch so fortsetzen.
Kommen wir zu einem anderen Punkt in Ihrem Antrag. Sie schreiben in Ihrem letzten Absatz, dass in
Deutschland „Stromsperren rechtlich völlig unterreguliert“ sind. - Frau Präsidentin, darf ich „unwahr“ sagen?
Sie dürfen „unwahr“ sagen.
Das ist unwahr, und das ist vor allen Dingen auch
völlig absurd. Ich will Ihnen sagen, dass die Rechts7100
grundlage für Stromsperren in § 19 der Stromgrundversorgungsverordnung geregelt ist. Dort sind vier Voraussetzungen glasklar definiert:
Erstens. Man muss mit mindestens 100 Euro in Zahlungsverzug sein. Wenn die Summe darunter liegt, wird
nicht reagiert. Wenn sie darüber liegt, ist das auch nicht
so gut, weil man, wenn jemand schon verschuldet ist,
nicht möchte, dass die Schulden weiter anwachsen. Also
sind 100 Euro die Grenze.
Zweitens. Die Verhältnismäßigkeit muss gegeben
sein. Das, was Sie vorgebracht haben, würde nach § 19
überhaupt nicht gestattet werden. Nach dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit darf der Strom, wenn die Gesundheit von Bedürftigen - von Kindern, von alten Menschen oder von Menschen, die krank sind - gefährdet ist,
laut dieser Verordnung nicht abgeschaltet werden. Darüber hinaus bedeutet Verhältnismäßigkeit: Wenn abzusehen ist, dass der Kunde anfängt, seine Schulden in Raten abzuzahlen, auch wenn es kleine Raten sind, wird der
Strom nicht abgeschaltet.
Drittens. Es muss eine Sperrandrohung geben. Diese
muss mindestens vier Wochen vorher, klar und deutlich
definiert, schriftlich beim Kunden eingehen.
Viertens. Es muss eine weitere Sperrankündigung mit
ganz konkretem Datum geben. Diese muss drei Tage
vorher schriftlich beim Kunden eingehen. Erst dann
kann man überhaupt reagieren.
Zudem gibt es ein Darlehen vom Jobcenter, das man
in Anspruch nehmen kann. Es gibt Beratungsangebote
bei den Energieversorgern, wo der Kunde über Ratenzahlungen sprechen kann. Niemand, aber auch niemand,
weder der Energieversorger, das Stadtwerk noch irgendjemand, der Energie liefert, hat ein Interesse daran, jemandem den Strom zu sperren. Niemand hat ein Interesse daran, auch nicht die Kommunen und die Städte.
Jetzt kommen wir zu dem Prepaid-Zähler. Natürlich
ist der Prepaid-Zähler eine Variante - warum auch
nicht? -, eine Möglichkeit, dass Kunden, die nicht haushalten können oder nicht haushalten wollen, lernen, mit
dem Budget umzugehen, dass sie eine Kontrolle haben,
Planbarkeit haben. Der Prepaid-Zähler ist ein zusätzliches Mittel, das wir evaluieren wollen. Vielleicht kommt
es so letztendlich zu weniger Sperren.
Es gibt Pilotprojekte, wo die Energieversorger bzw.
die Stadtwerke mit den Jobcentern in Verhandlungen treten und ein Frühwarnsystem entwickeln, indem, wenn
einem Kunden eine Sperre angedroht wird, das Jobcenter sofort alles Weitere übernimmt, angefangen mit der
Ratenzahlung, damit es eben nicht zur Sperre kommt.
Diese Maßnahmen, die es bereits gibt, wollen wir weiter
ausbauen.
Der Antrag der Linken ist purer Populismus, ist Effekthascherei. Solche Schauanträge helfen wirklich niemandem. Hören Sie auf mit diesen Dingen; denn das ist
reine Energieverschwendung.
({0})
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt die Kollegin Bulling-Schröter.
({0})
Danke schön, Frau Vorsitzende. Herr Koeppen hat ja
gesagt, wenn wir es nicht verstehen, dürfen wir fragen.
Er hat die Frage trotzdem nicht zugelassen.
Herr Koeppen, Sie haben uns Populismus vorgeworfen. Ich muss der Bundesregierung auch Populismus vorwerfen; denn auf eine Anfrage der Linken hat die Bundesregierung selbst zugegeben, dass es 345 000 Stromsperren
im Jahr gibt. Sie werfen uns Populismus vor. Ich frage
Sie: Wer ist da populistisch? Es gibt genügend Beispiele
dafür. Natürlich versuchen die Kommunen und die Bundesagentur, zu helfen; das ist aber sehr unterschiedlich.
Ich kenne selbst Fälle, wo Unterlagen nicht vorhanden
waren, wo es kurz vor Weihnachten war und es dann
hieß, man habe keine Zeit mehr usw., wo dann der Strom
gesperrt wurde und wir richtig massiv werden mussten.
Jetzt noch einmal zu dem, was Frau Lay gesagt hat.
Im Wirtschaftsausschuss war eine französische Regierungsdelegation zu Gast - es ging um den Energiemix -,
die uns gesagt hat: In Frankreich gelten für 8 Millionen
Menschen Sozialtarife. So etwas gibt es in Deutschland
nicht. Wir leben in einem Europa. Ich frage mich daher:
Warum gibt es so etwas bei uns nicht? Es wurde explizit
ausgeführt, dass dort im Winter keine Strom- und Heizungssperren vorgenommen werden, dass das ausgeschlossen ist. Dann gab es noch den Zusatz: Es gibt
keine Mitnahmeeffekte.
({0})
Davor haben Sie ja Angst. Sie glauben, dass irgendjemand 2 Cent zu viel bekommen könnte. Bei denen, die
arm sind, macht Ihnen das offensichtlich sehr viel aus;
bei anderen, die dick absahnen, ist Ihnen das ziemlich
egal.
Es gibt immer noch Menschen, die frieren müssen.
Diese Menschen schreiben uns - Ihnen wahrscheinlich
nicht; warum, sei dahingestellt. Warum nehmen Sie
nicht zur Kenntnis, dass es in anderen europäischen Ländern Sozialtarife und ein Verbot von Stromsperren gibt?
({1})
Vielen Dank. - Herr Kollege Koeppen.
Wahrscheinlich haben Sie es wirklich noch nicht verstanden. Wenn Sie die europäische Richtlinie ansprechen, die in nationales Recht umgesetzt wird, dann muss
man doch sehen, dass andere Staaten - Sie haben Frankreich erwähnt - eben nicht das soziale System haben, das
wir haben. Ich kann Ihnen gerne noch einmal vorbeten,
was Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht erwirtschaften können, in Deutschland alles vom Staat, von der
Gesellschaft, vom Steuerzahler an Transfers bekommen.
Wenn Sie davon reden, die Bundesrepublik Deutschland
sei ein unsozialer Staat, dann weiß ich nicht, wo Sie leben,
({0})
in welcher Wirklichkeit Sie leben.
Noch einmal: Es gibt unterschiedliche Systeme, und
unser System ist so aufgebaut, dass niemand im Dunkeln
sitzen muss.
({1})
Wenn jemand auf die Androhung, dass in einigen Wochen der Strom gesperrt wird, reagiert, zu seinem Jobcenter geht und nur einen einzigen Euro abzuzahlen beginnt, dann wird ihm definitiv nicht der Strom gesperrt.
So ist die Realität. Man muss auch einmal an die Vernunft der Menschen appellieren und an die Jobcenter,
dass sie mit den Menschen zusammenarbeiten. Wenn das
Frühwarnsystem zwischen Energieversorgern bzw.
Stadtwerken und den Menschen besser funktioniert,
dann kommt es nicht zu Stromsperren. Wenn aber keiner
reagiert, dann wird der Zähler gesperrt. Das kann man
gesetzlich nicht anders lösen.
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist
Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Niemand sollte im Dunkeln sitzen, und es
soll auch niemand frieren. Das gilt nicht nur in der Weihnachtszeit. Es ist aber Fakt, Herr Koeppen, dass immer
mehr Menschen in Deutschland der Strom abgedreht
wird. Für ein so reiches Land wie Deutschland ist das ein
echtes Armutszeugnis. Sie, liebe Bundesregierung, haben in den letzten Jahren nichts dagegen getan; denn die
Zahlen steigen weiter.
({0})
Es geht hier nicht nur darum, Herr Koppen, dass Sie
die EU-Richtlinie zum Elektrizitätsbinnenmarkt nicht
richtig umsetzen. Es geht hier um ein handfestes soziales
Problem, was Sie versucht haben wegzudiskutieren.
({1})
Menschen ohne Strom haben kein Licht. Sie können
nicht mehr kochen, weil der Elektroherd kalt bleibt.
({2})
Die Kommunikation funktioniert nicht, wenn der Handyakku leer ist. Das schränkt die soziale Teilhabe in einem
unzumutbaren Maße ein, und - mehr noch - das ist entwürdigend und riskant.
({3})
Denn die Brandgefahr steigt, wenn in der Not auf Kerzen oder Campingkocher ausgewichen wird. Viele Heizungen laufen auch nicht ohne Strom. Also wird es kalt.
Und das ist nicht nur unangenehm, es macht die Menschen auch krank.
Wir müssen dafür sorgen, dass alle Bürgerinnen und
Bürger ausreichend versorgt sind, und zwar mit Strom
und Wärme, gerade jetzt im Winter. Wir sagen daher:
Stromsperren für Privathaushalte müssen gesetzlich eingeschränkt werden. Die Versorger müssen verpflichtet
werden, eine Ratenzahlungsvereinbarung anzubieten,
statt Strom oder Gas einfach zu sperren.
({4})
- Wenn Sie glauben, dass die Rahmenbedingungen
schon existieren, können Sie die Sperren auch einschränken. Dann gibt es ja erst recht keinen Grund, Stromsperren zuzulassen.
({5})
Dass Sie von der Großen Koalition die EU-Richtlinie
nicht umsetzen, die verlangt, eine Grundversorgung mit
Strom für schutzbedürftige Kundinnen und Kunden zu
gewährleisten, ist das eine Problem. Das andere Problem
- das wurde noch gar nicht ausreichend thematisiert ist, dass Sie die Ursachen nicht anpacken. Faire Strompreise kann es nur geben, wenn die Energiewende gerecht finanziert wird.
({6})
An dem Erfolg der Energiewende sollen alle teilhaben.
Das heißt, dass die großen Versorger die Preissenkungen, die ihnen die erneuerbaren Energien heute schon
bescheren, an die Kundinnen und Kunden weitergeben
müssen. Das tun sie aber oft nicht. Dazu haben wir Zahlen vorliegen. Gerade in den sogenannten Grundversorgungstarifen, also den Versorgungstarifen, in die man
automatisch rutscht, wenn man vor Ort mit Strom versorgt wird, werden die Kundinnen und Kunden zu oft
abgezockt, weil die Preise viel zu hoch sind. Es gibt für
viele Menschen keine Möglichkeit, einen Tarif- oder
Anbieterwechsel vorzunehmen, weil derjenige, der keine
gute Kreditwürdigkeit hat, nicht so schnell an einen
günstigeren Vertrag kommt. Also kommen wieder hohe
Rechnungen, Mahnungen und dann die Stromsperre.
Das ist ein Teufelskreis. Diesem Teufelskreis müssen wir
etwas entgegensetzen.
({7})
- Herr Koeppen, wenn Sie eine Frage haben, dann können Sie sie mir gerne stellen.
({8})
Sie, liebe Bundesregierung, haben uns Grünen auf
eine Kleine Anfrage zu dem Thema geantwortet, dass
Sie die Entwicklung zu den Grundversorgungstarifen
erst einmal beobachten und - ich zitiere - „zu gegebener
Zeit ihre Schlussfolgerungen ziehen“ wollen. So viel soziale Kälte hätte ich gerade von einer Bundesregierung
mit SPD-Beteiligung nicht erwartet, meine Damen und
Herren.
({9})
Faire Preise heißt auch, dass Bürgerinnen und Bürger
nicht für die Altlasten der Energiekonzerne verantwortlich sein dürfen, die jahrelang Gewinne aus klimaschädlichen Kohle- und Atommeilern eingestrichen haben,
ohne sich um die Zukunft zu kümmern. Wir dürfen also
nicht zulassen, dass die Folgekosten dieser fossil-atomaren Geschäftsmodelle am Ende den Bürgerinnen und
Bürgern aufgebürdet werden.
Was wir für die Menschen brauchen, sind ernsthafte
Vorschläge und Unterstützungsangebote, damit Wärme
und Strom auch für ärmere Menschen erschwinglich
bleiben. Dabei geht es nicht darum, Strom und Wärme
möglichst billig zu machen. Für uns Grüne ist klar: Jede
eingesparte Kilowattstunde ist billiger und besser als
eine verbrauchte Kilowattstunde. Gerade Menschen mit
geringem Einkommen sind oft schon längst die Sparweltmeister unserer Nation, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Trotzdem reicht es oft nicht für die
Stromrechnung oder die Heizkostennachzahlung. Deswegen müssen wir die Einnahmeseite dieser Menschen
verbessern.
({10})
Sorgen Sie dafür, dass steigende Energiepreise im Existenzminimum berücksichtigt werden! Sorgen Sie dafür,
dass endlich die Regelsätze beim ALG II, beim BAföG
und beim Wohngeld erhöht werden!
({11})
Die Heizkosten sind für Privathaushalte ein wesentlich größerer Kostenpunkt als der Strom; das sollten wir
nicht vergessen. Menschen mit geringen Einkommen
können als Mieterinnen und Mieter wenig daran ändern,
wenn ihr Haus schlecht gedämmt ist oder die Heizungsanlage vollkommen veraltet ist. Auch hier erleben wir
kaum Engagement von Ihrer Seite, liebe Bundesregierung. Die Sanierung einkommensschwacher Stadtquartiere geht viel zu langsam voran, weil Sie einfach nicht
bereit sind, dafür genügend Geld in die Hand zu nehmen.
({12})
- Ich verstehe Sie nicht. Sie müssen sich schon melden
und ans Mikro treten.
({13})
- Möchten Sie eine Frage stellen?
({14})
- Okay. Dann lassen Sie mich doch einfach weiterreden.
Ihre Redezeit ist eh schon zu Ende. Deshalb wäre eine
Frage gar nicht mehr möglich gewesen. Ich darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Das werde ich gerne tun. - Geben Sie sich doch jetzt,
in der Adventszeit, endlich einen Ruck! Strom und
Wärme gehören in unserer Gesellschaft untrennbar zu
einem menschenwürdigen Leben. Wenn Sie schon nicht
in der Lage sind, die Ursachen zu bekämpfen, also die
Einkommenssituation dieser Menschen zu verbessern,
dann sorgen Sie doch wenigstens dafür, dass niemandem
mehr einfach so Strom und Gas abgeklemmt werden.
Vielen Dank.
({0})
Danke schön. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Marcus Held.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Heute fordern Sie von der Linken in Ihrem Antrag, Stromsperren gesetzlich zu verbieten. Im ersten
Moment hört sich der Antrag ja ganz sinnvoll an; denn
wir würden so sicherstellen, dass alle Menschen in
Deutschland immer Zugang zur Teilhabe in allen Lebensbereichen hätten. Gleichzeitig würde das Verbot
aber auch bedeuten, dass es ohne Sanktion bleibt, wenn
man seinen Strom nicht bezahlt. Alle Menschen, die der
Forderung ihres Energieversorgers nachkommen und
ihre Rechnungen brav bezahlen, obwohl auch sie ihr
Geld Monat für Monat zusammenhalten müssen, würden
bestraft und würden sich fragen, warum sie eigentlich
noch ordentlich ihren Pflichten nachkommen.
So zu argumentieren, wie Sie es tun, nämlich dass die
Außenstände der Stromversorger bei den Kunden, bei
denen eine Stromsperre verhängt wurde, in Höhe von
36 Millionen Euro in einem krassen Missverhältnis zu
den Gewinnen der Stromversorger stehe, ist - das muss
ich sagen - blanker Populismus. Dies ist deutlich zurückzuweisen, meine Damen und Herren.
({0})
Ich gehe davon aus, dass Sie das Argument selbst nicht
wirklich ernst nehmen, sondern eher versuchen, damit
heute Abend in die heute-show zu kommen; denn nachvollziehbar ist es nicht wirklich.
Bei Folgendem sind wir beieinander: Wir brauchen
Verbesserungen für sozial Schwache. Ich erlebe regelmäßig in meinen Sprechstunden als Abgeordneter, aber
auch als ehrenamtlicher Bürgermeister - und das schon
seit vielen Jahren -, dass Menschen zu mir kommen, vor
mir einen Berg von Briefen auftürmen und sagen: Seit
heute Morgen ist der Strom abgeschaltet. - Wenn wir
dann gemeinsam die Briefe durchgehen, stellen wir fest,
wie viele Mahnungen und Aufforderungen geschrieben
wurden. Dann aber ist das Kind leider schon in den
Brunnen gefallen.
({1})
Dann steht die Abschaltung entweder unmittelbar bevor,
oder sie ist schon realisiert worden. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen
nicht allein bleiben,
({2})
dass sie im Kontakt mit den Behörden nicht überfordert
sind und dass sie mit dem Energiedienstleister und den
Sozialbehörden direkt in Kontakt treten können.
Es sind mehr Menschen von Stromsperren betroffen;
das ist richtig. Das hat aber auch damit zu tun - Frau
Verlinden, Sie haben das angesprochen, aber nicht richtig zu Ende geführt -, dass wir in Deutschland viele Millionen Wohnungen haben, in denen Elektroheizungen
betrieben werden. Durch entsprechende Preissteigerungen in den zurückliegenden Jahren haben sich die Kosten erhöht. Ich erinnere daran, warum diese Teuerungen
eingetreten sind: insbesondere durch die EEG-Umlage,
durch die erneuerbaren Energien und durch die Tatsache,
dass wir nicht in Quartieren sanieren können, in denen
die Leute heute schon kaum ihre Miete zahlen können.
Sie fordern in Ihren Anträgen immer wieder eine Sanierung auch in diesen Quartieren; aber das müssen wir aus
sozialen Gründen zurückweisen. Das ist die Wahrheit,
meine Damen und Herren.
({3})
Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen
- mein Vorredner hat das schon ausgeführt - sind in
Deutschland schon heute abgesichert. Ihre Wärme- und
Stromkosten werden im Bedarfsfall im Rahmen öffentlicher Leistungszuweisung übernommen. Wir brauchen
aber eine gesetzliche Mitteilungspflicht für Energiedienstleister gegenüber den Sozialbehörden bei drohenden Zahlungsunfähigkeiten. Wenn man sich früh genug
einschalten kann, kann man das Schlimmste verhindern.
Das ist meine Erfahrung aus den Sprechstunden. Wenn
ich den Kontakt hergestellt und die Menschen zum Sozialamt geschickt habe - ich spreche von meiner Praxis
als Bürgermeister und Abgeordneter -, dann ist mir noch
nie passiert, dass am Ende tatsächlich der Strom abgeschaltet wurde.
Herr Kollege Held, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen von den Grünen?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage ermöglichen. - Sie haben gerade gesagt, dass die
Kosten durch die Hartz-IV-Leistungen abgedeckt wären.
Heizkosten werden tatsächlich, solange es angemessen
ist, komplett übernommen. Bei den Stromkosten ist das
anders; der Regelbedarf ist pauschaliert. Es gab am
9. September dieses Jahres ein Bundesverfassungsgerichtsurteil, in dem explizit gesagt wird, dass, wenn die
Strompreise steigen, die Bundesregierung nachweisen
muss, dass die vorgesehenen Kosten im Regelbedarf
ausreichen, um die Strompreise zu decken. Gegebenenfalls muss der Regelbedarf entsprechend erhöht werden.
Da Sie nicken, kennen Sie das Urteil wahrscheinlich.
Deshalb frage ich Sie erstens, wie die Bundesregierung
bzw. die Große Koalition darauf reagiert, und zweitens,
wann Sie den Regelbedarf entsprechend erhöhen werden, da der Teil, der im Regelbedarf dafür vorgesehen
ist, häufig nicht ausreicht.
Vielen Dank, Herr Kollege Strengmann-Kuhn. - Bitte
schön, Herr Held.
In dieser Debatte geht es um die Frage, ob man
Stromsperren vornehmen darf oder nicht. Dazu sage ich
Ihnen: Wenn ein Bedürftiger den Strom nicht bezahlen
konnte, aber zum Beispiel eine Ratenzahlung mit dem
Energieversorger - im Zweifel auch über das Sozialamt vereinbart hat, kam es noch nie zu einer Abschaltung.
Natürlich müssen wir die Regelsätze entsprechend anpassen. Da bin ich völlig bei Ihnen; das werden wir als
SPD auch fordern. Aber wir können nicht so tun, als wären die Regelsätze nicht hoch genug und aus dem Grund
würde den Leuten in Masse der Strom abgestellt. Das ist
falsch. Das ist auch deshalb falsch, weil diese mehreren
Hunderttausend Abschaltungen, von denen der Antragsteller, die Fraktion Die Linke, spricht, keine Abschaltungen über Wochen oder Monate sind. Das sind im
Zweifel Abschaltungen über ein paar Stunden, manchmal über wenige Tage hinweg, weil der Betroffene dann
in der Regel
({0})
immer zu einer Regelung mit dem Sozialamt und dem
Energieversorger kommt.
({1})
Damit hätte ich auch schon eine Lanze für die Energieversorger gebrochen, was ich an dieser Stelle tun
wollte, weil sie in der Regel eng im Verbund mit den
Städten, den Gemeinden und den öffentlichen Trägern
stehen mit entsprechend eingebauten Mechanismen. Mechanismen sind im Übrigen auch gesetzlich eingebaut.
Es muss zunächst eine Erinnerung erfolgen, dann eine
Abmahnung des Zahlungsrückstandes und schließlich
eine Sperrandrohung, nach dem Gesetz vier Wochen vor
der tatsächlichen Sperrung. Drei Tage vor dieser möglichen Sperrung muss noch einmal entsprechend erinnert
werden, und dann kommt noch die Verhältnismäßigkeit
ins Spiel. Deshalb kann ich das Beispiel meiner Vorrednerin nicht ganz nachvollziehen. Natürlich sind soziale
Härten zu berücksichtigen. Wenn ein Stromanbieter das
nicht tut - da bin ich bei Ihnen -, dann ist der Sache
nachzugehen. Aber vom Gesetz her ist vorgesehen, dass
hier die Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen ist.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten stehen dafür, dass Regelungen eingeführt werden, die einen
noch besseren Schutz vor Strom- und Gassperren bieten,
zum Beispiel durch den Einsatz intelligenter Stromzähler mit Prepaid-Funktion. Wir wollen aber auch, dass bei
den Tarifgenehmigungen künftig beachtet wird, dass
Grundversorgungstarife angemessen gestaltet sind und
für alle Menschen, auch für sozial schwächere, erschwinglich sind. Wir wollen nicht, dass niemand mehr
Konsequenzen erfährt, wenn er seinen Strom nicht bezahlt. Das wäre ein Freifahrt- bzw. Freistromschein für
alle Kunden und damit der Niedergang der sozialen
Marktwirtschaft. Kein Kunde müsste mehr fürchten, bei
Nichtbezahlung seinen Strom abgeschaltet zu bekommen, würden wir dem Antrag heute folgen.
Sie haben das Beispiel Frankreich angesprochen. Dort
ist der Strommarkt ganz anders organisiert. Dort gibt es
von vornherein staatliche Zuschüsse und staatliche Betreiber, sodass das überhaupt nicht mit dem deutschen
System vergleichbar ist.
({2})
Wir werden gemeinsam in der Koalition dafür sorgen,
dass die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie der EU eingehalten wird und in Deutschland geeignete Maßnahmen
ergriffen werden, um den schutzbedürftigen Kunden einen noch angemesseneren Schutz zu geben. Wir wollen,
dass sich Ehrlichkeit und eine gute Zahlungsmoral auch
in Zukunft auszahlen und dass von staatlicher Seite geholfen wird, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Barbara Lanzinger.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen! Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die in Ihrem Antrag „Stromsperren gesetzlich verbieten“ genannte Zahl
der Haushalte, denen der Strom gesperrt wurde - rund
345 000 -, stammt aus dem Monitoringbericht der Bundesnetzagentur. Das ist ein leichter Anstieg von etwas
mehr als 23 000 Unterbrechungen; auch das steht drin.
Das klingt zunächst einmal viel. Aber wir müssen die
Zahl ins richtige Verhältnis setzen. Wenn wir berücksichtigen, dass wir in Deutschland 40 Millionen Haushalte haben und 345 000 davon der Strom gesperrt
wurde, betrifft das gerade einmal 0,8 Prozent der Haushalte.
In Ihrem Antrag sprechen Sie von einer „stillen sozialen Katastrophe stromloser Haushalte“. Das hört sich
fürchterlich an, so als ob mehr als der Hälfte der Haushalte in Deutschland ständig der Strom abgestellt wird.
Es sollte immer um das richtige Maß gehen, auch bei der
Wortwahl. Fakt ist: Wir wissen alle nicht, warum in
345 000 Haushalten der Strom gesperrt wird. Welche
Menschen sind betroffen? Betrifft das tatsächlich nur
Hartz-IV-Empfänger? Das wissen wir nicht, das wissen
Sie nicht.
({0})
Bei rund 4 Millionen Leistungsempfängern machen die
Stromsperren lediglich 9 Prozent aus. Ich gebe Ihnen
recht: Jeder ist einer zu viel.
({1})
Aber daraus zu schließen, dass wir in Deutschland eine
Energiearmut haben, halte ich doch für sehr überzogen.
({2})
Die Stromlieferverträge sind ganz normale schuldrechtliche Vertragsverhältnisse. Daher muss es dem
Stromlieferanten im Falle einer Nichtzahlung durch den
Kunden grundsätzlich möglich sein, die Lieferung einzustellen. Ich möchte noch einmal klarstellen - meine
Vorredner haben es erwähnt -: Ab einem Rückstand von
circa 100 Euro wird überlegt, zu sperren. Eine Sperrung
kostet zwischen 100 und 168 Euro; die Höhe ist prozentual vom Rückstand abhängig. Jeder Stromlieferant, jedes Stadtwerk überlegt sich, ob es dieses Risiko eingeht
und eventuell auf seinen Forderungen sitzen bleibt. Sie
sind daher bemüht, mit den Betroffenen zu reden.
Im BGB ist ganz klar geregelt, dass die zustehenden
Leistungsverweigerungsrechte eingeschränkt und zugunsten des Kunden an weitere Voraussetzungen geknüpft sind. Hierzu zählen: mehrere Mahnungen und
eine Androhungsfrist von mindestens vier Wochen. Die
beabsichtigte Unterbrechung muss mindestens drei
Werktage im Voraus angekündigt werden. In der Praxis
wird diese Frist seitens der Unternehmen oftmals kulanterweise verlängert. So ist wirklich sichergestellt, dass
jedem Bürger ausreichend Zeit bleibt, um die Sozialhilfeträger um eine Kostenübernahme zu bitten und damit
eine Liefersperre abzuwenden. Um soziale Härten zu
vermeiden - ich wiederhole, was schon gesagt wurde -,
besteht für sozial schwache Kunden die Möglichkeit, die
Kosten der Stromlieferung im Rahmen der GrundsicheBarbara Lanzinger
rung abzudecken. Stromsperren sind die Ultima Ratio
der möglichen Maßnahmen bei zahlungsunwilligen
Kunden oder bei Kunden, die nicht zahlen können. Aber
jeder Bürger, der sich in einer sozialen Notlage befindet,
hat die Möglichkeit, eine Liefersperre zu verhindern.
Ich sage ganz bewusst: Wir können doch nicht unsere
Rechtsstaatlichkeit außer Kraft setzen, weil 0,8 Prozent
der Haushalte ihre Stromrechnung nicht zahlen können.
Es ist jedenfalls nicht gemeinwirtschaftlich, wie Sie
schreiben, die Kosten einer Minderheit auf die Mehrheit
der Bevölkerung abzuwälzen. Zahlende Bürger können
nicht die nichtzahlenden Bürger mitfinanzieren. Das
geht nicht.
({3})
Ein völliges Verbot der Stromsperre würde einseitig zulasten der meist kommunalen Energieversorger sowie
der anderen Kunden gehen.
Alle Ihre diesbezüglichen Forderungen - das muss
ich jetzt schon einmal festhalten, weil das auch für Ihren
Antrag zu bundeseinheitlichen Netzentgelten gilt, den
Sie letzte Sitzungswoche eingebracht haben - kommen
einer Verstaatlichung der Energieversorgung durch die
Hintertür gleich. Wir sind gegen eine Verstaatlichung.
Staatliche Verpflichtungen widersprechen den europäischen Bemühungen um eine Liberalisierung der Energieendkundenmärkte und um die weitere Stärkung des
Wettbewerbs. Ich nenne das Planwirtschaft. Das wollen
wir nicht unterstützen, und das können wir nicht unterstützen.
Es wird immer Menschen bzw. Haushalte geben, die
sich Strom nicht leisten können. Für diese Menschen
brauchen wir - ich glaube, darüber sind wir uns einig soziale Unterstützung und nicht eine allgemeine, kostenlose Grundversorgung mit Strom, wie Sie es fordern.
Wir alle befürworten die Unterstützung sozial schwacher
Haushalte, um eine Grundversorgung mit Energie sicherzustellen. Eine separate Betrachtung jedoch und die
Definition einzelner Armutsfelder - mit „Energiearmut“
definieren Sie ein solches Feld - ist nicht zielführend.
Wir unterstützen das dritte Energiepaket der EU aus
dem Jahr 2009 ganz klar, bei dem es darum geht, die
Strom- und Gasmärkte in der EU weiter zu liberalisieren
und die Verbraucherrechte zu stärken. Dazu gehört unter
anderem - ich nenne jetzt nur ein Beispiel - der Schutz
von schutzbedürftigen Kunden.
Ich halte das, was wir im Koalitionsvertrag verankert
haben, für wichtig: Wir sollten die Smart Grids und die
Smart Meter zum Einsatz bringen und durch sogenannte
Prepaid-Tarife die Menschen dazu bringen, zu überlegen, wie sie sich beim Stromverbrauch verhalten. Das ist
im Übrigen nicht nur für sozial schwache Familien wichtig; das ist für uns alle wichtig. Wir alle müssen ein bisschen mehr darüber nachdenken, wie wir mit dem Strom
umgehen.
({4})
Mit der Novelle zum EEG haben wir erreicht, dass die
Strompreise konstant bleiben, zumindest nicht weiter ansteigen, und im nächsten Jahr zum ersten Mal wieder
sinken - ich füge hinzu: sinken sollen. Es ist unser langfristiges Ziel, die Strompreise zu senken.
Damit bin ich am Ende meiner Rede. Ihrem Antrag
können wir in keiner Weise zustimmen.
Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören.
({5})
Danke schön. - Letzter Redner in dieser Debatte ist
der Kollege Bernd Westphal, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Antrag der Linken ist sicherlich berechtigt. Das wird deutlich, wenn man sich die Zahlen anschaut, auf die meine Vorredner schon eingegangen sind:
345 000 Stromabstellungen dürfen die Politik nicht kaltlassen.
({0})
Deshalb ist es gut, dass wir Gelegenheit haben, über dieses Thema zu reden. Wir reden darüber übrigens nicht
zum ersten Mal. Der Antrag wurde, wie meine Vorredner
bereits gesagt haben, schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt.
Wir sollten nach den Ursachen für diese Situation fragen und überlegen, welche Lösungswege wir den Menschen aufzeigen können. Wenn es um die Frage nach den
Ursachen geht, muss man auch berücksichtigen, wie wir
das wichtige Thema Energiewende gestalten. Wir haben
drei energiepolitische Ziele. Dabei geht es um die Umwelt, um Versorgungssicherheit und vor allen Dingen
um die Bezahlbarkeit. Doch an dieser Stelle fehlt die soziale Balance; das machen die Zahlen deutlich. Wir müssen darauf achten, dass wir Energie und Strom für private Haushalte bezahlbar halten. Wenn es um die
Energiewende geht, müssen wir die soziale Balance im
Auge behalten.
Wie können Lösungen aussehen? In Deutschland ist
es nicht so, dass wir Menschen mit diesem Problem alleinlassen. So unsozial sind wir nicht. Hier ist ja schon
gesagt worden, dass wir eine ganze Reihe von sozialen
Sicherungssystemen haben, die greifen, wenn Menschen
in Not geraten. Ich glaube, wir sollten nicht nur, wie im
Antrag gefordert, den Strom einfach weiter liefern, wenn
eine Zahlungsunfähigkeit festgestellt wird, sondern
schauen, wie wir dieses Problem in Gänze bearbeiten
können. Es gibt viele Kommunen, die dieses Thema vorbildlich angehen. In Lübeck zum Beispiel setzen sich soziale Einrichtungen gemeinsam mit dem Energieversorger mit den Betroffenen auseinander, sobald eine
Rechnung nicht bezahlt werden kann, und suchen nach
Lösungsmöglichkeiten. Ich glaube, dass die Probleme,
warum die Rechnung nicht bezahlt wird, vielschichtig
sind, dass man aber, wenn man den Kontext berücksichtigt und den Menschen hilft, dieses eine Problem anzupacken, eine Lösung finden kann.
Denn was würde passieren, wenn Strom weiter geliefert würde, obwohl die Rechnung nicht bezahlt wird?
Die Ursachen würden damit nicht behoben. Deshalb,
glaube ich, brauchen wir ein Frühwarnsystem und vor
Ort Strukturen, bestehend aus dem Energieversorger,
den Sozialbehörden und sozialen Einrichtungen, die es
erlauben, herauszufinden, woher die Bedürftigkeit kommt
und welche Ursachen dazu führen, dass die Stromrechnung nicht bezahlt werden kann.
Wie könnte ein solches Frühwarnsystem aussehen?
Es gibt im Grunde genommen schon heute ein mehrstufiges Verfahren. Zunächst werden Mahnungen verschickt. Vier Tage bevor es zu einer Stromabschaltung
kommt, wird das den Betroffenen angezeigt. Das sollte
man aufgreifen. Bevor es zu einer Stromabschaltung
kommt, sollten Berater die betroffenen Haushalte aufsuchen und eine Beratung durchführen. Dazu zählen auch
Dinge wie Energieberatung, Anregungen, wie man
Strom sparen kann und wie es zukünftig gelingen kann,
regelmäßig seine Stromrechnung zu bezahlen.
Ich denke, wir haben eine ganz gute gesetzliche Regelung, die einem solchen Verfahren entgegenkommt.
Vielleicht bietet der Antrag die Möglichkeit, dass wir
konstruktiv an dieses Thema herangehen und es im Ausschuss beraten. Dann sollten wir prüfen, ob die Instrumente ausreichen oder nicht.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Vereinbarte Debatte
25 Jahre VN-Kinderrechtskonvention
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Susann
Rüthrich, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Geburtstage, zumal runde, sind immer ein
schöner Anlass, zurückzuschauen. Wie sah denn die
Welt von Kindern vor 25 Jahren aus, bevor die Kinderrechtskonvention in Kraft getreten ist? Doppelt so viele
Kinder wie jetzt auf der Welt haben damals ihren fünften
Geburtstag nicht erlebt. Es gab bei uns noch kein Recht
auf gewaltfreie Erziehung. Kinderschutz hatte sich der
Bund noch nicht zur gesetzlichen Aufgabe gemacht.
Umgangsrechte mit beiden Eltern waren nicht geklärt.
Weitere Beispiele ließen sich aufzählen.
Doch fast noch spannender, als zurückzuschauen,
finde ich es, an Geburtstagen vorauszuschauen. Wo werden wir denn wohl in 25 Jahren stehen, vielleicht auch
schon in 20 oder 10? Einmal abgesehen davon, dass ich
den Kinderrechten wünsche, dass sie sich dann selbst
weiterentwickelt haben werden, etwa um ökologische
oder digitale Rechte, wünsche ich den Kinderrechten
vier Dinge zum Geburtstag.
Zum einen: Die Kinderrechte werden dann längst im
Grundgesetz stehen.
({0})
Kein Mensch kann dann mehr so recht nachvollziehen,
warum es eigentlich so lange gedauert hat, sie in das
Grundgesetz hineinzuschreiben. Es war dann wohl einfach endlich an der Zeit, das Grundgesetz moderner zu
machen und an die gesellschaftlichen Entwicklungen in
Deutschland und der Welt anzugleichen. Die dann lebenden Kinder kennen es gar nicht mehr anders, als dass sie
gleichwertige Rechte wie Erwachsene haben, nur dass
sie diese eben etwas anders ausleben, ihrem Alter gemäß.
Das werden die späteren Erwachsenen als Bereicherung sehen, weil die jungen Leute immer neuen
Schwung in Debatten bringen, sei es über ihr Wahlrecht,
sei es über verbindliche Befragungen oder durch Beschwerden beim Bundeskinderbeauftragten. Unsere Politik und das, was daraus folgt, erleben unsere Kinder
doch am längsten. Wer von einer Entscheidung betroffen
ist, der wirkt auch an der Entscheidung mit. Das ist demokratisch. Also, hören wir Kinder an und beachten wir
das, was sie sagen.
Mein zweiter Geburtstagswunsch ist: Wir haben dann
eine Kindergrundsicherung oder etwas Vergleichbares.
Jedenfalls ererbt kein Kind mehr die Armut seiner Eltern.
({1})
Jedem Kind steht kostenfrei das Lern- und Lebensumfeld zur Verfügung, das es tatsächlich braucht. So wird
es dann der Vergangenheit angehören, dass es Kinder
gibt, die weniger gute Chancen im Leben haben, nur
weil ihre Eltern nicht wohlhabend sind; denn Bildung ist
dann für alle kostenfrei, und zwar von der Kita an.
Kitas und Schulen sind dann offen. Vereine und Verbände laden jedes Kind ein, dort seine Talente zu entdecken. Die Kinder toben, spielen und lernen. Kein Kind
braucht mehr Geld, um ein Instrument zu lernen, um
Fußball zu spielen, um Nachhilfeunterricht zu bekommen oder um Sprachförderung zu erhalten. Zur kostenfreien Bildung gehört dann auch, dass kein Kind hungrig
lernt und spielt. Gesunde Mahlzeiten gehören einfach
zum Kita- und Schulalltag.
({2})
Ich komme zu meinem dritten Wunsch. Leider wird
es wahrscheinlich auch in 25 Jahren noch Flüchtlingskinder bei uns geben. „Leider“ deswegen, weil ich
fürchte, dass es auch dann noch schreckliche Gründe geben wird, weswegen Menschen unseren Schutz suchen.
Es wird dann aber anders sein als jetzt: Da die Kinderrechte im Grundgesetz stehen, werden diese Kinder
nicht mehr anders behandelt. Sie sind bis zum 18. Geburtstag vor dem Gesetz Kinder; logisch eigentlich. Sie
erhalten die medizinische Versorgung, die jedes andere
Kind auch bekommt, und zwar dann, wenn es nötig ist,
und nicht mehr dann, wenn das Kind Schmerzen hat;
denn es ist doch einfach unmenschlich, erst zu warten,
bis die Zahnschmerzen akut sind, anstatt vorzusorgen.
Flüchtlingskinder gehen dann ganz normal in die
Schule und in die Kita nebenan. Vor allem aber werden
ihre Fluchtgründe im Asylverfahren erfragt und beachtet; denn nur sie können etwa jung zwangsverheiratet
oder als Kindersoldaten ausgebeutet werden. Im Asylverfahren werden sie angehört, und selbstverständlich
gilt auch hier: Das Kindeswohl hat Vorrang.
({3})
Was viertens spätestens in 25 Jahren anders sein wird:
Die erschütternden Zahlen von misshandelten Kindern
müssen gesunken sind. Allein die bekannten Zahlen
- ohne das Dunkelfeld - machen mich fassungslos. Tausende Kinder jedes Jahr werden geschlagen und misshandelt, und jährlich überleben 150 Kinder ihr Elternhaus nicht. Wenn wir heute also von einem Fall in der
Zeitung lesen, dann müssen wir davon ausgehen, dass in
derselben Woche wahrscheinlich zwei weitere Kinder
gestorben sind - nicht infolge eines Unfalls, sondern
durch die Hand Erwachsener.
Die Zahl der tödlichen Unfälle von Kindern im Straßenverkehr hat sich seit 1990 halbiert, und immer weniger Kinder sterben an schweren Krankheiten. Nur die
Zahl der getöteten Kinder bleibt stabil. Das muss sich in
den kommenden Jahren unbedingt ändern.
({4})
Die ganz traurigen Ausnahmefälle wird es wohl immer geben. Das müssen aber tatsächliche Einzelfälle
sein, bei denen sich zuvor keine Auffälligkeiten gezeigt
haben. Es sind ja nicht zu wenige Institutionen, die sich
mit Risikofamilien beschäftigen, aber diejenigen, die
helfen, sind zu schlecht ausgestattet und haben zu wenige bis keine Ressourcen, um etwa die Fallberatung zu
koordinieren. Das erzählen uns zumindest Kinderärzte.
Dass dann im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf
Unversehrtheit wird dazu führen, dass Kindern schneller
und besser geholfen werden muss.
In 25 Jahren werden wir hoffentlich sagen: Weil wir
Kinderleben gerettet haben, hat sich die Grundgesetzänderung gelohnt.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist
Norbert Müller, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste! Liebe Susann Rüthrich, ich
könnte mich Ihnen in vielen Punkten anschließen. Vor
wenigen Wochen hatten wir aus Anlass eines Antrags
der Grünen schon eine Debatte zur UN-Kinderrechtskommission, und es wäre nun sehr langweilig, wenn ich
all das, was Sie gesagt haben, wiederholen und mit unserer eigenen Position anreichern würde oder wenn ich das
wiederholen würde, was ich hier vor drei Wochen schon
gesagt habe. Deshalb möchte ich gerne einen anderen
Aspekt in die Debatte einbringen und damit vielleicht
ein bisschen Wasser in den Wein gießen.
Die UN-Kinderrechtskommission regelt, dass Kind
ist, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
UNICEF leitet aus der UN-Kinderrechtskonvention
- das ist spannend für die Bewertung dieser Konvention zehn Grundrechte ab. Das siebte Grundrecht ist - ich zitiere das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung
und des Friedens.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke teilt dies uneingeschränkt;
({0})
denn Kinder sind trotz ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit oft die ersten Opfer eines Krieges.
Gerade in Bürgerkriegen, wie in Syrien oder - viel
näher - in der Ukraine, die wir gerade erleben müssen,
beobachten wir immer wieder, wie Kinder unter militärischen Konflikten leiden, und wir beobachten auch immer wieder den Einsatz von Kindern und Jugendlichen
als Kombattanten in militärischen Konflikten. Oftmals
enden Kindheit oder Jugend mit Traumatisierungen, mit
Verletzungen und auch durch einen gewaltsamen Tod.
Bei der Umsetzung und Wahrung dieses Grundrechts
brauchen wir in Deutschland aber gar nicht auf andere
Staaten zu verweisen. Denn auch die Enttabuisierung
des Militärischen - mancher hier im Haus ist darauf auch
noch stolz - ist eben nicht zu bagatellisieren.
({1})
Kaum eine Ausbildungsmesse ohne Bundeswehrstand.
Jugendoffiziere werben in Schulen offensiv für den Sol7108
Norbert Müller ({2})
datenberuf, der eben kein gewöhnlicher Beruf ist. Dabei
ist es nun gerade nicht so, dass man es nicht insbesondere auf Kinder im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention abgesehen hat, sondern gerade die unter 18-Jährigen
sind im Blick der Werber.
Insofern ist es ein Stück weit verrückt, dass wir im
Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention vor
drei Wochen darüber diskutiert haben. Für die Redner
der Union war ganz klar, dass ein Wahlrecht für 16- und
17-Jährige abzulehnen ist. Es gibt aber eine Mehrheit im
Hause dafür, 17-Jährige zu rekrutieren und in eine Uniform zu stecken. Das ist politisch offenbar gewollt.
({3})
2013 wurden 1 032 17-Jährige bei der Bundeswehr
eingestellt. Dies erfolgte natürlich freiwillig. Gott sei
Dank wird niemand mit 17 Jahren zum Militär gezwungen. Warum aber kann die Bundeswehr eigentlich nicht
darauf verzichten, die Volljährigkeit abzuwarten, und damit in diesem Sinne die UN-Kinderrechtskonvention zu
beachten? Was zwingt sie eigentlich, das Rekrutierungsalter immer weiter vorzuverlegen? Warum wirbt denn
die Bundeswehr gezielt an Schulen und auf Ausbildungsmessen, gezielt bei Jugendlichen? Offenbar
scheint sich die Bundeswehr davon zu versprechen, dass
Kinder und Jugendliche offener für den Kriegsdienst
sind als Menschen in einem höheren Alter, in dem sie die
Folgen ihres Tuns besser abschätzen können.
Aber Sie treiben es noch toller. Ich will hier gar keine
weiteren Worte zur Bundeswehr an Schulen verlieren.
Die Positionen hierzu sind ausgetauscht und bekannt.
Dass Sie aber inzwischen die Bundeswehr bei Kitakindern auf Werbetour schicken, ist meines Erachtens schon
eine neue Qualität, und das ist auch verurteilenswert.
({4})
Die Bundesregierung hat erst vor wenigen Wochen
auf mehrere Kleine Anfragen der Linksfraktion zum
Thema „Bundeswehr in der Kita“ geantwortet. Sie haben
unter anderem geantwortet - ich zitiere -:
Das Kennenlernen des gesellschaftlichen Umfelds
einschließlich der Arbeitswelt der Eltern gehört
grundsätzlich zum pädagogischen Angebot von
Kindertagesstätten.
Ursache war, dass Fotos im Internet aufgetaucht sind,
auf denen zu sehen war, dass unter Sechsjährige auf Panzern herumgeklettert sind, dass offenbar Truppenbesuche vorgenommen worden sind, dass die Bundeswehr
für Kitaeinrichtungen gespendet hat usw.
Das ist schon einigermaßen frech. Aus dem Recht der
UN-Kinderrechtskonvention auf eine gewaltfreie Erziehung im Sinne des Friedens machen Sie offenbar ein
Recht, dass auch unter Sechsjährige auf Panzern herumzuklettern haben, weil das in irgendeiner Form zum gesellschaftlichen Umfeld von Kindern und Jugendlichen
gehört. Ich finde, im 25. Jahr der UN-Kinderrechtskonvention müsste man deutlich machen, dass das Militärische nicht zum gesellschaftlichen Umfeld von Kindern
und Jugendlichen gehört.
({5})
Nein. Das ist unwürdig. Die Bundesregierung hat die
Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention erst vor wenigen Jahren - im Jahr 2010, aber immerhin - zurückgenommen. Nutzen Sie jetzt die Gelegenheit des 25. Jahrestages der Konvention, um selbst beispielgebend
voranzugehen! Unterlassen Sie die Werbung an Schulen!
Stellen Sie diese schrägen Kasernenexkursionen von Kitas ein! Rekrutieren Sie keine Minderjährigen mehr!
({6})
Krieg ist das größte Leid, das man Kindern und Jugendlichen zufügen kann. Lassen Sie uns daraus Konsequenzen ziehen für die Bundesrepublik Deutschland, für
unser Land. Seien Sie so konsequent, und nehmen Sie
endlich die Kinderrechte in unsere Verfassung auf.
Ich weiß, dass es bei Grünen und der SPD hierzu
große Übereinstimmung gibt. Das geht insbesondere an
die Kolleginnen und Kollegen der SPD: Seien Sie so
mutig, und gehen Sie auch in dieser Legislaturperiode
Schritte! Drücken Sie Ihren Koalitionspartner, damit wir
bei der Frage der Verankerung von Kinderrechten im
Grundgesetz vorankommen. Das wäre ein besseres Zeichen anlässlich der Feier des 25. Geburtstags der Kinderrechtskonvention als nur wohlfeile Reden im Parlament.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Marcus
Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Damen
und Herren, man muss schon einmal zurückschauen auf
die vergangenen 25 Jahre und darüber hinaus, um die
Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention zu erkennen. Wenn man sich ein wenig umschaut, dann landet
man schnell bei der Frau, die viel für Kinder geschrieben
hat und auch vieles ausdrücken konnte, nämlich bei
Astrid Lindgren. Sie hat schon 1978 bei der Verleihung
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine ihrer so besonderen Geschichten erzählt:
Eines Tages hatte ein kleiner Junge etwas getan, wofür er nach Ansicht seiner Mutter eine Tracht Prügel verdiente, die erste in seinem Leben. Er sollte nun selbst im
Garten nach einem Stock suchen und ihn der Mutter
bringen. Ihr Sohn kam nach einiger Zeit weinend zurück
und sagte: „Ich habe keinen Stock finden können, aber
hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.“ Da fing auch die Mutter an, zu weinen; denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Sie nahm
ihren Sohn in die Arme. Dann legte sie den Stein auf ein
Bord in der Küche. Dort blieb er liegen, als ständige
Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser
Stunde selber gegeben hatte: „NIEMALS GEWALT!“
Marcus Weinberg ({0})
So weit Astrid Lindgren. - Möge in jedem Haus in
diesem Land ein kleiner Stein liegen und diese Mahnung
dann auch in jedem Haus umgesetzt werden.
({1})
Diese Geschichte bringt einen wichtigen Gedanken
zum Ausdruck, der mit der UN-Kinderrechtskonvention
verbunden war, nämlich die Welt aus Sicht der Kinder zu
sehen. Kinder sehen, fühlen und erkennen die Welt anders. Diese Verabschiedung der Konvention am 20. November 1989 ist schon ein Meilenstein in der Geschichte
der Kinderrechte gewesen.
Unser Bewusstsein für die Rechte der Kinder ist seit
damals stark angewachsen, sowohl in Deutschland wie
auch weltweit. Diese Rechte sind jetzt in einem internationalen Vertragswerk verankert. Es geht darum, wie wir
den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und
Wasser, wie wir das Recht auf Leben, den Schutz vor
Gewalt, Misshandlung und Verwahrlosung national und
- mehr noch - international umsetzen können.
Ich will in diesem Zusammenhang daran erinnern: In
diesem Jahr wurde das dritte Zusatzprotokoll verabschiedet. Danach können sich jetzt Kinder gegen die
Verletzung ihrer Rechte dadurch wehren, dass sie sich an
den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden.
Es war eine richtige Entscheidung, die Rechte der Kinder dadurch zu stärken.
Nun müssen wir auch auf die internationale Ebene
schauen. Da kann man sicherlich Erfolge verbuchen, die
uns als globaler Teil derjenigen stolz machen können,
die hierfür Verantwortung übernommen haben. Immerhin: Die Kindersterblichkeit ist gesunken, und die Zahl
der arbeitenden Kinder ging um fast ein Drittel zurück.
Aber noch heute erleben 6,3 Millionen Kinder nicht einmal ihren fünften Geburtstag. 168 Millionen Kinder
müssen arbeiten, und nur 5 Prozent aller Kinder leben in
Ländern, in denen jede Gewalt gegen Kinder verboten
ist. Es bleibt also auf internationaler Ebene noch viel zu
tun, um das zu ändern.
Deutschland hingegen hat in der Familienpolitik viel
getan. Nun kann man die familienpolitischen Leistungen
nicht nur am Geld festmachen. Aber es ist schon so, dass
wir in den letzten Jahren den Familien und den Kindern
deutlich mehr Geld haben zukommen lassen. Ganz zentral - das ist auch für uns in der Großen Koalition ein
wichtiger Punkt - ist: Das staatliche Handeln ist auf das
Wohl des Kindes ausgerichtet. Aber wir sagen auch: Wir
wollen nicht nur das Wohl des Kindes in den Fokus nehmen, sondern immer auch die Frage stellen: Wie können
wir Eltern stärken, und wie können wir Familien insgesamt stärken? Unsere Aufgabe in der Familienpolitik ist
es, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft zu stärken;
({2})
denn dann, wenn das Verhältnis zu den Kindern in der
Familie gut ist, sind die Kinder besser geschützt und haben stärkere Unterstützung.
Viele Maßnahmen dienen diesem Ziel: Die Alleinerziehenden werden bessergestellt, das Kindergeld wurde
erhöht, der Kitaausbau wurde vorangetrieben, das Elterngeld wurde nicht nur eingeführt, sondern auch modifiziert und verändert - immer im Sinne der Familien und
ihrer Wünsche. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass
es auch für Kinder gut ist, wenn die Eltern mehr Zeit für
sie haben.
Zum besseren Schutz haben wir 2012 ein Bundeskinderschutzgesetz eingeführt. Als weiteres Beispiel sei
hier der Ausbau des Netzwerkes „Frühe Hilfen“ genannt. Wir werden das Bundeskinderschutzgesetz aber
auch evaluieren. Die Frage - das ist für uns die Herausforderung - ist: Was bringen unsere Maßnahmen? Wir
geben über 8 Milliarden Euro für Hilfen zur Erziehung
aus. Trotz dieser Hilfen und trotz des Bundeskinderschutzgesetzes gibt es dramatische Fälle von Misshandlung und in Teilen eine Zunahme von Fällen von Verwahrlosung und Inobhutnahmen. Wenn 40 000 Kinder
im Jahr in Deutschland in Obhut genommen werden
müssen, dann stimmt etwas in dieser Gesellschaft nicht.
Daran müssen wir arbeiten, und daran werden wir auch
arbeiten.
({3})
Voraussetzung wird aber auch sein, dass wir uns in
den nächsten Jahren mit folgenden Fragen beschäftigen:
Was eigentlich heißt „Kindeswohl“? Was ist für Kinder
wichtig? Wo gibt es Strukturdefizite? Wo gibt es möglicherweise Finanzierungsdefizite? Wo können wir als
Bundesgesetzgeber die Kommunen entlasten und die
Länder unterstützen? Schließlich sind Länder und Kommunen für das Thema Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Dann
gibt es die interessante Diskussion: Reichen Änderungen
im Grundgesetz aus? Dazu nur zwei Bemerkungen. In
10 von 16 Länderverfassungen sind die Kinderrechte bereits verankert. Ich glaube, wir sollten uns darum kümmern, was real wirkt, und keine Symbolpolitik betreiben.
Wir sagen klar: Wir müssen die Strukturen überprüfen.
Wir müssen die Hilfsmaßnahmen verstärken. Wir dürfen
aber durch eine eventuelle Grundgesetzänderung nicht
dahin kommen, dass wir Kinder sozusagen weiter von
ihren Eltern trennen. Werter Kollege Lehrieder, Sie werden sicherlich noch das eine oder andere zu der Frage sagen, ob Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen
werden sollen. Ich bin weiterhin zurückhaltend, weil ich
glaube, dass wir schauen müssen, was wir real für Kinder tun können. In den letzten Jahren hat sich viel getan.
Unser aller Auftrag ist im Sinne von Astrid Lindgren, einen kleinen Stein im Herzen zu tragen, der uns gemahnt:
„NIEMALS GEWALT!“ und „Hilfe für Kinder“.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Franziska
Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucher! Leider sind nicht so viele
Kinder anwesend. Es wäre anlässlich unserer heutigen
Debatte über die Kinderrechtskonvention schön, wenn
die Ränge auf der Zuschauertribüne voll mit Kindern
wären.
Heute ist ein besonderer Tag, da wir über die Kinderrechtskonvention sowie die Rechte der Kinder in unserem Land und weltweit reden. Anlässlich des Jahrestags
der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention habe
ich am 20. November in meinem Wahlkreis die 3. und
4. Klassen einer Grundschule in Heidelberg besucht, um
über die Kinderrechtskonvention zu sprechen. Nachdem
ich mit den Kindern ein bisschen geredet hatte, meldete
sich ein Mädchen zu Wort und fragte: Was bedeutet „ein
Recht“? Ich fand es ziemlich schwierig, diese Frage zu
beantworten. Was bedeutet „ein Recht“? Was ist dein
Recht? Ich habe versucht, die Frage anhand von Beispielen zu beantworten. Ich habe gesagt: Dein Recht ist beispielsweise, nicht geschlagen zu werden. Daraufhin meldete sich ein Junge und sagte: Aber mein Papa haut
mich. Dann dachte ich: Das war wohl das falsche Beispiel. Was habe ich damit nur provoziert? Dann sagte
ich: Dein Recht ist, genau gleich behandelt zu werden
wie alle anderen. Daraufhin meldete sich ein Mädchen
und fragte: Darf ich trotzdem über jemand anderen lachen? Das war auch keine einfach zu beantwortende
Frage. Ich habe gesagt: Nicht weil sie aus einem anderen
Land kommt oder anders ausschaut. Daraufhin meinte
das Mädchen: Wenn sie aber die Sprache nicht kann und
deswegen lauter Blödsinn sagt? Ich habe gesagt: Nein,
auch deswegen nicht. Dann sah ich, dass ein Mädchen in
der hinteren Ecke offensichtlich nicht so gut deutsch
sprach und etwas zusammenzuckte.
Dann habe ich die Kinder etwas gefragt: Wisst ihr
denn, wo ihr euch beschweren könnt, wenn ihr euch ungerecht behandelt fühlt? Dann war es relativ ruhig in der
Klasse. Nach einer Weile meldete sich ein Mädchen und
sagte: Bei der Lehrerin. Ich fand es beruhigend, dass die
Kinder in dieser Schule offensichtlich so viel Vertrauen
in die Lehrerin haben, um sich bei ihr zu beschweren.
Ich sagte dann: Bei uns gibt es eine Kinderschutzbeauftragte in jedem Viertel. - Den Namen dieser Person hatte
keines der Kinder jemals gehört. Dann dachte ich: Eigentlich ist es die Aufgabe dieser Person, Kinder wissen
zu lassen, wo sie sich beschweren können, wenn ihre
Rechte nicht eingehalten werden.
Frau Rüthrich, Sie haben zu Recht die Missstände in
Deutschland beschrieben und darauf hingewiesen, dass
diese in Zukunft beseitigt werden müssen, wie Kinderarmut, keine gleichen Chancen für alle Kinder, Schutz
vor Gewalt und sexuellem Missbrauch sowie Ausgrenzung, nicht die gleichen Rechte für Flüchtlinge. Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass Sie, wenn wir
dorthin wollen, wo Sie in 25 Jahren sein wollen, nun entsprechende Schritte machen müssen. Sonst sind wir in
25 Jahren nicht dort.
({0})
Artikel 2 der Kinderrechtskonvention ist sehr deutlich:
Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie
jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind
ohne jede Diskriminierung unabhängig von der
Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache,
der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen
Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der
Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner
Eltern oder seines Vormundes.
Das ist doch enorm breit. Da steht nicht „jedem deutschen Kind“, sondern „jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind“. Wenn wir diesem Anspruch in Artikel 2
gerecht werden wollen, dann müssen wir dringend etwas
mit Blick auf die Kinderarmut in unserem Land tun;
denn nach Artikel 2 sind die Rechte jedem Kind zu gewährleisten, unabhängig vom Vermögen. Das ist in
Deutschland keine Realität. Genauso wenig ist es Realität, dass ein Flüchtlingskind die gleichen Chancen hat.
Daher lautet mein Appell: Sorgen Sie für Änderungen!
Wir ändern gerade ständig Asylgesetze. Vielleicht können wir sie in diesem Sinne positiv ändern. Das würde
mich und sicherlich auch viele Kinder in diesem Land
sehr erfreuen.
({1})
Ich möchte Ihnen noch Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention vorlesen, über den wir mit Blick auf
das Grundgesetz gerade noch einmal diskutiert haben:
Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen
werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt,
der vorrangig zu berücksichtigen ist.
({2})
Herr Weinberg, Sie haben gerade gesagt: Kinder oder
Familie. - Natürlich ist Familie immer ein Gesichtspunkt. Im zitierten Artikel steht, dass das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist - dort steht überhaupt nicht,
dass es andere Gesichtspunkte gibt -, der, das ist
wichtig, „vorrangig zu berücksichtigen ist“. Das ist in
Deutschland nicht überall der Fall: dass das Kindeswohl
vorrangig berücksichtigt wird.
({3})
Das gilt für Verkehrsplanungen; das gilt für unser Baurecht. Auch im Asylrecht ist das nicht der Fall. Bei Fragen von Inobhutnahmen ist es am Ende ebenfalls nicht
immer das Kindeswohl, das entscheidet.
Herr Weinberg, Sie haben gerade gesagt: Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist nur eine
Symbolik. - Ich würde da widersprechen und sagen: Es
geht um mehr als nur um eine Symbolik. Aber selbst
wenn es nur ein Symbol wäre: Warum sind Sie gegen
dieses Symbol? Warum wollen Sie als CDU-Bundestagsabgeordneter das Symbol, dass die Kinder gleiche
Rechte haben und dass ihre Rechte im Grundgesetz verankert sind, nicht haben? Wenn es nur ein Symbol ist, warum wollen Sie es dann nicht? Ich bin davon überzeugt,
dass die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz
mehr als ein Symbol ist, dass sie bei der Auslegung und
Fortentwicklung von Gesetzen etwas verändern würde.
Von daher halte ich Ihren Hinweis auf die Symbolik für
kein akzeptables Argument. Sie müssen schon inhaltlich
begründen, warum Sie das nicht wollen.
({4})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich wollte am Ende nur sagen: Erlauben Sie, dass wir
in 25 Jahren dieses Ziel erreicht haben! Lassen Sie uns,
Deutschland, Vorreiter sein bei der Umsetzung der UNKinderrechtskonvention!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Ulrike Bahr,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schutz, Förderung und Beteiligung, in diesem
Dreiklang will die UN-Kinderrechtskonvention seit
25 Jahren die Rechte der Kinder sichern. Zweifellos hat
sie damit viel bewegt im weltweiten Kampf gegen Kinderarbeit und sexuelle Ausbeutung von Kindern, für ein
Recht auf Bildung für Mädchen und Jungen, ein Recht
auf Gesundheitsversorgung und Schutz vor Kriegen und
auch für einen neuen Blick auf Kinder und Jugendliche.
Noch viel mehr bleibt aber zu tun, weltweit und bei
uns in Deutschland. Kinder sind nach wie vor die Hauptleidtragenden der zahlreichen bewaffneten Konflikte auf
dieser Welt. Allein 1,6 Millionen syrische Kinder sind
auf der Flucht. Weitere 5,6 Millionen sind innerhalb Syriens von Krieg und Gewalt betroffen. Nicht so stark im
Fokus steht die kaum weniger schädliche Lage von Millionen Kindern nach Bürgerkriegen, zum Beispiel im
Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik oder in Somalia. Einige dieser Kinder und Jugendlichen schaffen
es allein oder mit ihren Angehörigen als Flüchtlinge bis
nach Deutschland.
Als Unterzeichner der UN-Kinderrechtskonvention,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es unsere Verpflichtung, bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das
Kindeswohl als oberste Richtschnur zu nehmen. Kinder
im Sinne der UN-Konvention sind alle Menschen unter
18 Jahren ohne jede Diskriminierung nach nationaler,
ethnischer oder sozialer Herkunft. Asyl- und ausländerrechtliche Regelungen müssen darum die besondere
Schutzbedürftigkeit und das Wohl minderjähriger Flüchtlinge berücksichtigen:
({0})
für alle Kinder bei der medizinischen Versorgung und
beim Zugang zu Spracherwerb und Bildung, für die unbegleiteten Minderjährigen auch bei der unverzüglichen
Inobhutnahme durch das Jugendamt.
({1})
Flughafenverfahren und Abschiebehaft für Minderjährige und eine generelle Verfahrensfähigkeit ab 16 Jahren halte ich für nicht vereinbar mit der UN-Kinderrechtskonvention. Kinder müssen immer zuerst als
Kinder wahrgenommen werden mit den ihnen zustehenden Rechten. Auch in anderen Bereichen unseres Sozialrechts geschieht dies nicht immer. Vielmehr sind und
werden Trennlinien gezogen. Dies trifft besonders Kinder mit Behinderungen. Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung erhalten Eingliederungshilfe nicht von der Kinder- und Jugendhilfe,
sondern aus der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Haben Kinder dagegen eine seelische
Behinderung, ist die Kinder- und Jugendhilfe zuständig.
Diese künstliche Trennung führt zu großen Abgrenzungsschwierigkeiten. Sie kann die Jugend- und Sozialämter dazu verleiten, mehr über die eigene Zuständigkeit
nachzudenken, als die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien in den Mittelpunkt zu stellen.
({2})
Bürokratische Hindernisse führen oft zu ungewollten
Verschiebebahnhöfen, unter denen die Kinder mit Behinderung und ihre Familien leiden. Das widerspricht
dem Geist der Kinderrechtskonvention und der sie ergänzenden Behindertenrechtskonvention, in jedem Kind
und in jedem jungen Menschen die Potenziale zu sehen,
unterstützend zu fördern und gesellschaftliche Teilhabe
zu ermöglichen, anstatt zu trennen und auszuschließen.
Wenn wir in einer großen Lösung Hilfen für alle Kinder
und Jugendlichen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe vereinen, können wir daran etwas ändern.
({3})
Noch ein letzter Punkt ist mir sehr wichtig: In den
letzten 25 Jahren haben sich in den Kommunen, an Gerichten und bei öffentlichen Institutionen vielfältige
Strukturen entwickelt, Kinder zu beteiligen, sie zu hören
und ihre Meinungen einzubeziehen, wie es der Artikel 12 der Kinderrechtskonvention vorgibt. Vielerorts
werden Kinder schon als eigenständige Träger von
Rechten wahrgenommen, nicht nur als Schutzbefohlene
und zu Erziehende. Erst neulich haben mir bei einem Besuch in einer Grundschule Kinder vorgeführt, wie kompetent und engagiert sie bei Themen in ihrem Nahbereich mitwirken und mitentscheiden können. Es ging um
ein Schülerbegehren zur Sanierung der Schultoiletten,
und das Beste daran: Die Toiletten wurden saniert.
({4})
Darum ist es jetzt auch an der Zeit, meine Damen und
Herren, dass wir Kinder nicht nur punktuell und in Modellprojekten ernst nehmen und einbeziehen. Diese gewandelte Haltung gegenüber Kindern sollte sichtbar
werden. Mir fallen gleich mehrere Beispiele ein, wie das
geschehen kann: an erster Stelle durch Aufnahme der
Kinderrechte ins Grundgesetz - das würde sie bekannter
und akzeptierter machen und das Recht auf Beteiligung
festschreiben -, mit einer Kampagne, die Kinder über
ihre Rechte aufklärt - die breite Medienberichterstattung
zum 25. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention war
in dieser Beziehung sehr ermutigend; solche Aktionen
brauchen wir aber nicht nur zu Jahrestagen -,
({5})
außerdem mit einem eigenen Anrecht des Kindes auf
Hilfen zur gleichberechtigten Entwicklung und Teilhabe
sowie mit einem Anspruch auf eigenständige, kindgerechte und niederschwellige Beratungsangebote.
Schutz, Förderung und Beteiligung, das dürfen Kinder von unserer Gesellschaft erwarten. Darauf haben sie
ein Recht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich sehe, dass viele Jugendliche auf der Tribüne sind. Das freut mich bei diesem Debattenpunkt natürlich besonders.
Die UN-Kinderrechtskonvention hat vor 25 Jahren
erstmals die Rechte von Kindern international verbrieft.
Ihre Umsetzung ist Auftrag und natürlich Maßstab zugleich. Bevor ich jedoch in die Debatte zur Umsetzung
in Deutschland einsteige, einiges vorweg:
Kindern in Deutschland geht es gut. Einigen geht es
sogar sehr gut, anderen leider weniger. Um diese müssen
wir uns natürlich weiter kümmern. Für Kinder zu sorgen
und sie zu schützen, ist unser aller Auftrag: als Gesetzgeber, als Eltern und als Mitglieder dieser Gesellschaft.
Grundsätzlich aber gilt: Den allermeisten Kindern geht
es gut; sie fühlen sich wohl und sie sind gesund. Das hat
nicht zuletzt die KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland bestätigt.
Ich finde diesen Punkt wichtig - auch das unterstreicht den Stellenwert der UN-Kinderrechtskonvention
in Deutschland -: Schutz, Wohlbefinden, Förderung,
Wahrung der Rechte von Kindern, all dies ist bereits gelebte Praxis in Deutschland. Das heißt allerdings nicht,
dass wir uns zum Jubiläum zurücklehnen. Wir müssen
Kinderrechte jeden Tag aufs Neue verwirklichen und
achten.
Vielfach wird aus der Kinderrechtskonvention abgeleitet, dass Kinderrechte nur durchsetzbar wären, wenn
sie auch im Grundgesetz stehen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Kinderrechte in Deutschland werden geachtet,
auch wenn sie nicht explizit im Grundgesetz genannt
werden.
({0})
Durch das Ratifizierungsgesetz hat Deutschland 1992
seine Zustimmung zur Konvention zum Ausdruck gebracht. Damit ist klar, dass die Konvention geltendes
Recht in Deutschland ist.
Bei einem Treffen mit dem Aktionsbündnis Kinderrechte in der letzten Woche habe ich erneut klar zum
Ausdruck gebracht, dass die UN-Kinderrechtskonvention Deutschland nicht automatisch verpflichtet, die darin normierten Kinderrechte auch in der Verfassung festzuschreiben. Vielmehr verlangt sie eine Umsetzung in
die gesetzliche Praxis aller Rechtsbereiche. Ich möchte
hier nur exemplarisch auf das Kinder- und Jugendhilferecht verweisen; denn SGB VIII sagt in § 8:
Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem
Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen.
Ein richtiger und wichtiger Schritt. Ergänzt wird er dadurch, dass Kinder auch allein das Jugendamt um Hilfe
bitten können, wenn sie sich in ihrer Entwicklung oder
ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt fühlen.
Nun ist es, meine Damen und Herren, ein offenes Geheimnis, dass ich den Einbezug der Kinderrechte ins
Grundgesetz für einen Ansatz halte, über den man diskutieren und den man bedenken kann. Die Vorschläge, beispielsweise vom Kinderhilfswerk oder vom Deutschen
Anwaltverein, liegen auf dem Tisch. Das Kinderhilfswerk spricht sich für einen Zusatz zu Artikel 2 a des
Grundgesetzes aus, der Deutsche Anwaltverein ist für
eine Ergänzung von Artikel 6 des Grundgesetzes um die
Worte „die Kinder“.
Inhaltlich halte ich daher die Debatte um Kinderrechte für wichtig. Ich denke, dass wir sie weiterhin aktiv führen sollten. So hat sich die Kinderkommission des
Deutschen Bundestages noch einmal vertieft mit der
Umsetzung des Übereinkommens befasst. Dabei haben
wir auch über die Einrichtung einer Beschwerdestelle
diskutiert, wie die Konvention sie fordert. Norwegen
zum Beispiel hat diesen Weg gewählt und eine Kinderombudsperson eingesetzt. Frau Rüthrich, wir beide hätten das vielleicht in den Koalitionsvertrag geschrieben;
denn wir, die Mitglieder der Kinderkommission, haben
uns bereits 2011 vor Ort in Oslo über die Arbeit des Kinderombudsmanns informiert und einige interessante
Aspekte mitnehmen dürfen.
Ob also am Ende dieser Diskussion Kinderrechte tatsächlich im Grundgesetz stehen oder ob wir uns für eine
andere Lösung entscheiden, ist für mich offen. Entscheidend ist für mich, dass wir Kindern in Deutschland substanziell zu ihrem Recht verhelfen. Das fängt überall
dort an, wo die Lebenswelten von Kindern berührt werden: in der Familie, in Kitas, in Schulen, in Sportvereinen und im kommunalen Umfeld.
Die 3. World Vision Kinderstudie hat gezeigt, dass
insbesondere Elternhäuser einen ganz wesentlichen Beitrag zum Gelingen von Beteiligung leisten. Kinder machen in ihren Familien die Erfahrung der Wertschätzung,
dass sie angehört und in die gemeinsame Beratung alltäglicher Fragen eingebunden werden. Eltern leisten damit einen konkreten und enorm wichtigen Beitrag zur
Umsetzung der Kinderrechte. Sie machen die Familie zu
einem lebendigen Ort der Verhandlung.
Nun wissen wir alle, dass es leider Familien gibt, die
nicht immer ein Hort des liebevollen und respektvollen
Umgangs sind. Es gibt in allen Schichten der Bevölkerung Familien, in denen die Rechte des Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit, sein Recht auf
Respekt und freie Entwicklung nicht realisiert werden.
Doch machen wir uns nichts vor, meine Damen und Herren: Diese Familien erreichen wir auch nicht mit einer
Änderung des Grundgesetzes.
Ich möchte noch einmal deutlich machen: Entscheidend ist, dass wir Kindern in Deutschland substanziell
zu ihrem Recht verhelfen. Frau Dr. Brantner, auch ich
habe anlässlich des 25. Geburtstags der Kinderrechtskonvention mit Schülern aus meinem Wahlkreis über die
Rechte, die sie haben, diskutiert. Bei dieser Diskussion
drehten sich die Fragen der Kinder nicht darum: „In welchem Artikel finden wir diese Rechte im Grundgesetz
wieder?“, sondern die Kinder haben gefragt, wie sie
selbst ihre Rechte im Alltag wahrnehmen können und an
wen sie sich wenden könnten, wenn sie nicht entsprechend gehört werden. Das war den Kindern wichtig. Ich
meine, über diese Fragen einmal vertieft nachzudenken,
lohnt sich. In den nächsten Jahren, aber nicht erst in
25 Jahren - aber natürlich können wir den 50. Jahrestag
der Kinderrechtskonvention zum Anlass nehmen, uns
wieder einmal zu fragen, wie weit wir gekommen sind sollten wir uns daran messen lassen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Paul Lehrieder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich darf, bevor ich mit meiner Rede beginne, zunächst dem Kollegen Markus Koob aus dem
Familienausschuss im Namen unserer Fraktion alles
Gute zu seinem heutigen Geburtstag wünschen.
({0})
Meine Damen und Herren, von den Vorrednern wurde
bereits darauf hingewiesen: Im Jahr 1989 ereignete sich
nicht nur der Fall der Mauer. Im selben Jahr wurde am
20. November, just an meinem Geburtstag, auch eines
der wegweisendsten Dokumente der internationalen
Staatengemeinschaft verabschiedet. Von der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde die UN-Kinderrechtskonvention angenommen. Am 2. September
1990 traten die insgesamt 54 Artikel, die gemeinsame
Standards zum Schutz der Kinder auf der ganzen Welt
festlegten, schließlich in Kraft.
Ich will, bevor ich auf die Artikel im Einzelnen eingehe, noch zwei Sätze zu der mehrfach angesprochenen
Thematik „Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung“ verlieren. Es wurde von mehreren Kolleginnen
und Kollegen - so von Kollegin Rüthrich und Kollegin
Brantner - moniert, dass die Aufnahme der Kinderrechte
in unser Grundgesetz eine weitaus höhere Gewichtung
der Kinderrechte ergeben würde. Ich bitte Sie: Schlagen
Sie mit mir gemeinsam das silberne Buch, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das im Schubfach
Ihres Tisches liegt, Seite 15 unten rechts auf; ich gehe
somit nicht zu Artikel 6, sondern zu Artikel 3. In Artikel 3 Absatz 2 ist normiert - es ist der Gleichbehandlungsgrundsatz; das kennen Sie vielleicht -:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
({1})
Frau Kollegin Brantner, Ihre Auffassung als zutreffend unterstellt, brauchten wir in den nächsten Monaten
sicher nicht über eine Frauenquote zu diskutieren und
hätten längst nicht mehr das Problem des Gender Pay
Gap. Wir hätten viele Probleme nicht, wenn allein die
Aufnahme in die Verfassung die Lösung des Problems
wäre.
({2})
Meine Damen und Herren, am 27. November 2014,
also vor wenigen Tagen - das wurde ebenfalls zitiert -,
wurde anlässlich des 25. Jahrestages der Kinderrechtskonvention eine Entschließung der UN durch das Europäische Parlament zu den Kinderrechten gefasst. Darin
fordert es alle Mitgliedstaaten dazu auf, den Kreislauf
der Benachteiligung zu durchbrechen, die UN-Kinderrechtskonvention in nationales Recht zu gießen und si7114
cherzustellen, dass der Vorrang des Kindeswohls tatsächlich umgesetzt ist.
({3})
Selbst das Europäische Parlament hat in dieser Resolution vom 27. November noch nicht einmal die Aufnahme in die Verfassung gefordert, sondern nur, dass
sichergestellt werden muss, dass die Kinderrechte umgesetzt werden.
({4})
Kollege Weinberg hat bereits darauf hingewiesen:
Wir haben in Deutschland Kinderschutzrechte, die viele
andere Länder in diesem Umfang überhaupt nicht haben:
die materielle Absicherung, der Schutz von Kindern vor
Gewalt, unser Kinderschutzgesetz, das wir im kommenden Jahr evaluieren werden. Wir diskutieren jetzt über
Führungszeugnisse im Kinderschutz. Wir haben in den
letzten Jahren sehr vieles zum Kinderschutz auf den Weg
gebracht, und ich denke, das ist im europäischen Raum
vorbildlich. In vielen anderen Ländern der Welt wären
die Kinder heilfroh, wenn sie nur ansatzweise die Rechte
hätten, die die Kinder in Deutschland bereits jetzt für
sich in Anspruch nehmen können.
({5})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, insbesondere zählen zu den Schutzrechten der Kinder das Recht, ohne
Gewalt, Diskriminierung und in Sicherheit leben zu können, das Recht auf Zugang zu medizinischer Versorgung
- das wird in Deutschland keinem Kind ernsthaft abgesprochen -, das Recht auf Bildung, das Recht auf Nahrung sowie ein Mitspracherecht bei kinderrelevanten
Entscheidungen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 25 Jahre
nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention
ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen: Was haben wir in einem Vierteljahrhundert erreicht? Wo müssen wir noch
weiterarbeiten, und wo müssen wir noch nachbessern?
Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der
Konvention ganz klar dazu bekannt, das Wohl unserer
Kinder, unserer künftigen Generationen und somit der
Hoffnungsträger unseres Landes als Leitlinie für sein
politisches und gesellschaftliches Handeln zum Maßstab
zu nehmen.
Einige Forderungen der Konvention zur besseren Verwirklichung der Kinderrechte konnten wir bereits umsetzen, beispielsweise die gesetzliche Regelung zur gewaltfreien Erziehung in § 1631 Absatz 2 BGB seit dem Jahr
2000 oder die Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern. Zudem belegen aktuelle Forschungsergebnisse, dass es unserer heutigen jungen Generation
so gut geht wie keiner Generation zuvor.
Das außenpolitische Engagement Deutschlands zur
Förderung und zum Schutz der Kinderrechte wird weltweit ausdrücklich gelobt. Human Rights Watch und
andere Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass
Deutschland weltweit zu den Vorreitern und größten
Verfechtern des Schutzes der Kinderrechte zählt. Darüber hinaus wird den Kinderrechten in der Entwicklungshilfezusammenarbeit - auch durch unseren geschätzten Minister Dr. Gerd Müller - eine herausragende
Stellung eingeräumt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kinder und
Jugendliche brauchen den Schutz unserer Gesellschaft.
Für sie ist es schwierig, sich zu organisieren und sich eigenständig für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Sie sind auf
die Unterstützung Erwachsener angewiesen, seien es die
Familien, seien es politische oder gesellschaftliche Gremien wie wir. 1988 wurde daher vom Deutschen Bundestag die Kinderkommission eingesetzt, um die Belange der Kinder und Jugendlichen in einem besonderen
Gremium wahrzunehmen.
Ich darf den Leiter der Kinderkommission, Kollegen
Eckhard Pols, der vor mir gesprochen hat, zitieren. Lieber Eckhard, du hast darauf hingewiesen: Wir sind berufen, uns Gedanken zu machen, wie wir Kindern Beschwerdemöglichkeiten einräumen können. Ich finde die
Idee durchaus sympathisch, und es wäre erwägenswert,
sie aufzugreifen: die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Kinder im Allgemeinen, angelehnt an
die sogenannten Ombudsstellen. Man könnte es eventuell
so verwirklichen, dass man eine Beschwerdemöglichkeit
für Kinder als Unterabteilung im Petitionsausschuss einrichtet. Dann könnten Kinder sich bei empfundener Verletzung ihrer eigenen Rechte tatsächlich aktiv an ein
Gremium, in diesem Fall im Bundestag, wenden. Das
finde ich durchaus diskussionswürdig.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, lassen Sie uns
vernünftige Realpolitik für die Kinder machen. Das ist
besser, als wenn wir eine Norm in die Verfassung schreiben, liebe Frau Kollegin Brantner. Trotz einer solchen
Norm ist die Gleichstellung von Frauen bis heute ja immer noch nicht so toll umgesetzt worden.
Herzlichen Dank.
({6})
- Sie haben auch ein Exemplar der Verfassung vor sich
liegen. Dort können Sie einmal nachschauen.
Der Kollege wollte nur darauf hinweisen, dass wir
ohne die Verfassungsänderung die Quote heute vielleicht
immer noch nicht hätten.
({0})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Insofern ist eine Verfassungsänderung manchmal auch
sehr bewusstseinsbildend und bewusstseinsfördernd.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Vereinbarte Debatte
Menschenrechte global durchsetzen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist
Gabriela Heinrich, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir reden
momentan häufig von der gewachsenen Verantwortung
Deutschlands in der Welt, von einem Mehr an Verantwortung. Dieses Mehr an Verantwortung wird jedoch
höchst unterschiedlich interpretiert. Da geht es mal um
militärische Einsätze, mal um mehr Verhandlungen, um
Konflikte beizulegen. Der 10. Dezember ist der Internationale Tag der Menschenrechte. Ich nehme diesen
10. Dezember zum Anlass, zu fordern, dass Deutschland
weltweit tatsächlich noch mehr Verantwortung übernimmt, mehr Verantwortung für die Menschenrechte.
Was heißt „Menschenrechte global durchsetzen“? In
meiner Heimatstadt Nürnberg gibt es die „Straße der
Menschenrechte“. Der Künstler Dani Karavan hat die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in weiße
Säulen eingemeißelt - 30 Artikel in 30 Sprachen. Ich bin
vor kurzem mit Bürgerinnen und Bürgern durch die
„Straße der Menschenrechte“ gegangen. Uns sind zu jeder Säule Menschenrechtsverletzungen eingefallen,
manchmal auch in Deutschland, zum Beispiel wenn
Menschen Opfer von Arbeitsausbeutung werden oder
man sie auf Matratzen in Abrisshäusern zusammenpfercht. Moderne Sklaverei wird so etwas genannt. Auch
wenn wir schon sehr viel erreicht haben: Es gibt in
Deutschland durchaus noch einiges zu tun, um Menschen vor Verletzungen ihrer Menschenwürde und vor
Diskriminierung zu schützen.
Wir Parlamentarier haben ganz aktuell eine sehr konkrete Gelegenheit, Verantwortung im eigenen Land zu
übernehmen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte
droht seinen A-Status zu verlieren, wenn wir es jetzt
nicht auf eine vernünftige gesetzliche Grundlage stellen.
({0})
- Ich bin ganz bei Ihnen, Herr Koenigs. - 1993 haben
die Vereinten Nationen die sogenannten Pariser Prinzipien entwickelt. Darin wird festgelegt, welche Kriterien
nationale Menschenrechtsinstitutionen erfüllen müssen,
um bei Staatenkonferenzen oder beim Menschenrechtsrat voll handlungsberechtigt zu sein. Wie peinlich wäre
es für die Bundesregierung, wenn der A-Status, also die
Bestnote, ausgerechnet in dem Jahr entzogen wird, in
dem Deutschland den Vorsitz im Menschenrechtsrat
übernimmt.
({1})
Wie glaubwürdig ist das Mehr an Verantwortung, wenn
wir uns hier nicht einigen können?
({2})
Meine Damen und Herren, wir werden im nächsten
Jahr viele Gelegenheiten haben, uns für die Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen. Auch wenn es in
der letzten Zeit einige positive Beispiele gegeben hat
- in Tunesien, in Marokko und in einigen anderen afrikanischen Staaten -: Es gibt noch unendlich viele Länder, in denen Frauen völlig rechtlos sind. Sie sind permanent sexueller Gewalt ausgesetzt. Sie werden an den
Genitalien verstümmelt, im Kindesalter verheiratet. Sie
sterben im Kindbett und durch ungeheuerliche Verletzungen, die ihnen ihre pädophilen Ehemänner zufügen.
Ich hatte die Gelegenheit, mit der diesjährigen Preisträgerin des Menschenrechtspreises der Friedrich-EbertStiftung, der Somalierin Fartuun Adan, zu sprechen. Sie
setzt sich für vergewaltigte, rechtlose Frauen ein und
kämpft mit ihren Mitstreiterinnen gegen Genitalverstümmelungen.
Was uns Menschenrechtsverteidiger aus aller Welt erzählen - über Kindersoldaten, Folter, Verfolgung von
Schwulen und Lesben -, ist erschütternd. Sie alle brauchen unsere Unterstützung und sie fordern sie auch ein.
Alice Nkom, Schwulen- und Lesben-Rechtsanwältin aus
Kamerun, hat uns ins Stammbuch geschrieben: Lassen
Sie sich nie erzählen, dass die Menschenrechte von der
Tradition eines Landes abhängen. Die Menschenrechte
gelten für alle Menschen überall auf der Welt gleich.
({3})
Wir haben in diesem Jahr bereits einiges getan, zum
Beispiel mit dem Antrag „Gute Arbeit weltweit“, der auf
die Verantwortung deutscher Unternehmen hinweist.
Auch Konfliktrohstoffe müssen weiter Thema für uns
sein. Wir haben die Instrumente, Staaten beim Aufbau
von mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Wir haben
die Erfahrung, beim Aufbau von Zivilgesellschaften in
fragilen Staaten zu helfen. Und wir haben die Mittel,
Versöhnungsprozesse zwischen Konfliktparteien zu begleiten. Wir müssen die finanziellen Mittel dafür bereitstellen, wenn wir Fluchtursachen bekämpfen wollen.
Wenn wir humanitäre Hilfe für die Menschen in Syrien,
im Irak und in vielen anderen Ländern bereitstellen,
dann setzen wir uns unmittelbar für das Menschenrecht
auf Leben ein. Wenn wir diese durch Bürgerkriege trau7116
matisierten Menschen empfangen und Kommunen in die
Lage versetzen, Flüchtlinge aufzunehmen, menschenwürdig unterzubringen und zu integrieren, dann setzen
wir Menschenrechte durch. Das alles bedeutet: mehr
Verantwortung in der Welt.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Wolfgang
Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich darüber nachdenke, wie
eine künftige Gesellschaftsordnung aussehen könnte,
welche Elemente sich in einer solchen Gesellschaft wiederfinden müssten, dann wäre ein Zusammenführen der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit dem
Grundgesetz unseres Landes für mich der Maßstab, was
man verwirklichen müsste, wenn man über Sozialismus
nachdenkt.
Wenn man sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte anschaut, erkennt man: Sie hat einen großartigen Zug, auch dadurch, dass sie soziale und Freiheitsrechte nicht gegeneinanderstellt, sondern völlig deutlich
macht: Ohne soziale Rechte gibt es keine Freiheitsrechte, und ohne Freiheit kann man keine sozialen
Rechte erkämpfen.
({0})
Diesen Grundgedanken müssten wir viel stärker an uns
heranlassen.
Ich glaube, das Neue, was man der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hinzufügen müsste, wäre,
dass auch die Wahrung der Natur eine elementare Bedeutung hat, ein Menschenrecht ist, und es müssten viel
stärker, als das damals in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte möglich war, die Frauenrechte als
Grundrechte betont werden. Ich finde, über eine solche
Gesellschaft nachzudenken, lohnt sich.
Um auf einen Kollegen zurückzukommen, der vor
mir in dieser Debatte gesprochen hat: Wenn man die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit der Realität
des Lebens auf diesem Planeten konfrontiert, dann wird
man feststellen, dass die Realität des Lebens eine völlig
andere ist. Da muss man sich doch die Frage stellen, was
wir ändern wollen: Sollen wir die Texte an die Realität
anpassen - auch in unserem Land - oder die Realität an
die Texte, an die entsprechenden Vorgaben, an die großen gesellschaftlichen Vorstellungen? - Ich will Zweiteres, ich will diese Veränderungen. Wenn Sie über Veränderungen nachdenken, werden Sie jedoch nicht drum
herumkommen, auch über die Veränderung von Eigentumsfragen, über Verteilungsfragen nachzudenken; sonst
werden Sie das alles nicht erreichen können.
({1})
In dieser Hinsicht gefällt mir die Debatte hier. Ich
möchte diesen gesellschaftlichen Impuls.
Vieles, was die Kollegin Heinrich vorgetragen hat,
finde ich, auch unter diesem Gedanken, erschütternd. Ich
möchte das mit nur drei Dingen noch weiter erhärten:
Täglich sterben 57 000 Menschen in der Welt - täglich! - an Unterernährung. Das ist ein Krieg, der gegen
die Menschheit geführt wird, ein Krieg mit ökonomischen Waffen, mit dem Terror der Ökonomie. Ein
Mensch, der hungert oder gar am Verhungern ist, kann
nicht frei sein. Wenn wir über Freiheit in der Welt reden
wollen, dann müssen wir auch darüber reden, wie man
den Kampf gegen Hunger durch eine neue Verteilung in
der Welt gewinnen kann.
({2})
Oder schauen Sie auf die Wasserversorgung. Nach
Berichten der Vereinten Nationen sterben jährlich ungefähr 2,4 Millionen Menschen - darunter 4 000 Kinder
am Tag! - daran, dass es kein sauberes Trinkwasser für
sie gibt. Ist es vor diesem Hintergrund nicht ein Verbrechen, wenn Wasser privatisiert wird, wenn auf Wasser
zugegriffen wird? Müssten wir nicht alle sagen, dass wir
öffentliche Rechte, öffentliche Güter verteidigen müssen, gerade wenn man Menschenrechte einlösen will?
Mein dritter Gedanke - ich frage mich selber, ich
frage uns, was wir in der Realität tun können; wir können uns da schnell auf zwei Punkte einigen - gilt den
Flüchtlingen. Wenn Europa und Deutschland nicht eine
andere Flüchtlingspolitik machen, dann brauchen wir
über Menschenrechte in unserem Land überhaupt nicht
zu reden.
({3})
Es gibt kein Recht, Menschen im Mittelmeer ertrinken
zu lassen.
Wie finden wir es denn, dass im Dezember dieses
Jahres das UNO-Welternährungsprogramm angekündigt
hat, die Lebensmittelhilfe für 1,7 Millionen syrische
Flüchtlinge zu streichen? Begründung hierfür sind die
nicht eingehaltenen Spendenzusagen. Wir haben hier einen Widerspruch zur reichen Erde und zur reichen Produktivität. Mit dem, was produziert wird und produziert
werden könnte, könnten, wenn auf eine andere Art und
Weise produziert würde, alle Menschen ernährt und die
Probleme gelöst werden. Müssen wir, auch die christlich-konservativen Kollegen, nicht sagen, dass aus diesem Teil der Menschenrechte die Anforderung resultiert,
dass wir anders produzieren, anders konsumieren und
anders verteilen müssen? Dazu gehört auch, uns deutlich
zu machen: Wenn wir Rüstungsexporte nicht überwinden, dann werden wir den Flüchtlingen nicht helfen können.
Ich bitte Sie sehr, damit wir nicht folgenlos aus der
Debatte gehen, lassen Sie Folgendes an sich heran:
Wenn das Freihandelsabkommen, das jetzt zwischen der
EU und den USA ausgehandelt werden soll, nicht verhindert wird - zumindest in der Form, wie es bisher präWolfgang Gehrcke
sentiert wird -, dann wird unser Kampf für Menschenrechte in Europa, in den USA und weltweit sehr viel
schwieriger werden.
Konkrete Schlussfolgerungen sind also: zumindest
eine andere Flüchtlingspolitik und Ablehnung des Freihandelsabkommens. Das wären Initiativen an diesem bedeutsamen Tag. Ich lade Sie ganz herzlich ein: Lassen
Sie uns das gemeinsam machen. Dann bekommen wir
vielleicht auch eine andere Gesellschaftsordnung. Das
ist dann mein Ding. Dann nehme ich gerne Ihre Unterstützung entgegen.
Danke sehr.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Michael Brand,
CDU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist eine gute Tradition, dass der Deutsche Bundestag
am Tag der Menschenrechte eine Debatte zur Lage der
Menschen auf unserem Planeten führt.
Die heutige Debatte will ich dazu nutzen, als Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf konkrete Fälle im Bereich Menschenrechte und im Bereich humanitäre Hilfe hinzuweisen.
Diese Beispiele werfen auch ein Licht auf die umfangreiche Arbeit in unserem Ausschuss, der von dem gemeinsamen Bemühen geprägt ist, den Krisen auf dieser
Welt etwas entgegenzusetzen und die Menschenrechte
zu stärken.
Man kann diese Debatte heute nicht führen, ohne auf
die großen humanitären Katastrophen im Irak, in Syrien
und die Folgen für die Gesamtregion hinzuweisen. Aus
Gesprächen mit Jesiden und auch mit Angehörigen der
christlichen Minderheiten in den letzten Wochen möchte
ich ausdrücklich auf die Situation in Syrien und im Irak
hinweisen. Wir alle wissen, dass diese humanitären Katastrophen durch Krieg, Terror und Menschenrechtsverletzungen brutalster Art verursacht wurden. Wir alle spüren auch, dass wir mit den Mitteln Deutschlands und der
EU sowie der internationalen Gemeinschaft an Grenzen
stoßen, weil die Katastrophen erstens lange anhalten und
zweitens dabei Millionen von Menschen betroffen sind.
Zahlreiche Staaten in der Nachbarschaft sind in Mitleidenschaft gezogen, und eine rasche Lösung ist nicht in
Sicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was folgt daraus für
uns? Ich möchte zunächst die Frage damit beantworten,
davor zu warnen, was es nicht geben kann: Es kann keinen kalten Zynismus geben, es darf keine Gewöhnung
geben, und es darf auch keine Verzweiflung geben. - Die
Antworten auf diese Krise bleiben schwer, und sie bleiben unvollständig. Dazu ist die Krise in ihrer Breite und
ihrer Tiefe zu komplex und zu gefährlich, im Übrigen
nicht nur für die Betroffenen, sondern mittelfristig und
manchmal sogar kurzfristig auch für uns alle.
Wir alle wissen, dass die Terrorgruppe IS nicht für
den Islam steht, sondern dass sie die Welt ins dunkelste
Mittelalter zurückbomben will, manche sagen sogar: in
die Steinzeit. Wir alle wissen, dass der syrische Diktator
Assad, der erheblich zum Erfolg der Terrorgruppe beigetragen hat, dieser in ihrer Brutalität kaum nachsteht. Damit stehen diejenigen, die den Opfern helfen wollen,
nicht selten vor der Wahl zwischen Pest und Cholera.
Das kann uns aber nicht davon abhalten, den Blick auf
die Opfer zu richten.
Der bevorstehende und zum Teil schon angebrochene
Winter bringt für Millionen Flüchtlinge eine tödliche
Gefahr. Die Kinder sind dabei neben den Kranken und
den Alten am meisten gefährdet. Ich will Ihnen nicht
vorenthalten, was mich weniger politisch als sehr persönlich mitgenommen hat. Eine Gruppe von Jesiden aus
Köln, darunter übrigens langjährige deutsche Staatsbürger, hat mir vor wenigen Tagen von der Lage berichtet.
Sie berichteten mir, dass der IS nach seinem brutalen
Vorgehen die Jesiden im Sindschar-Gebirge nicht mehr
aktiv bekämpft. Der IS hat sich stattdessen darauf verlegt, Tausende Flüchtlinge in das nackte Gebirge zu treiben und sie dort notfalls den Hungertod sterben zu lassen. Die Terrorgruppe hat ihren Terror rund um das für
die Jesiden heilige Gebirge verbreitet und setzt darauf,
dass Tausende unschuldiger Menschen dort oben - man
muss es so drastisch sagen, wie es der IS auch meint elendig verrecken.
Als mir Jesiden vom Fall eines kleinen Kindes berichteten, das dort oben vor den Augen seiner Familie
schmerzvoll und langsam an einem eigentlich behandelbaren Schlangenbiss sterben musste, weil inmitten des
Terrors keine Hilfe möglich war, da war ich - das bekenne ich offen - auch persönlich betroffen. Wenn ein
Vater sagt: „Ich hätte lieber meine Tochter angesteckt,
als sie so elendig leiden und krepieren zu sehen“, dann
ist das kaum zu ertragen.
Ich sage es für mich und für die allermeisten hier im
Haus ganz klar: Es ist nicht hinnehmbar, dass wir angesichts eines solchen mörderischen Treibens nur zuschauen. Es ist bei allen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Haushalt dringend geboten, dass wir noch
vor der harten Winterzeit mehr als bisher mobilisieren,
({0})
um nicht nach dem Winter viele Verstorbene beklagen
zu müssen, deren Tod wir durchaus hätten verhindern
können. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hat sich jüngst darauf verständigt, dass wir
angesichts dieser besonderen Lage einen aktuellen
Schwerpunkt auf die Debatte über die humanitäre Lage
legen werden. Der jüngste Bericht der Bundesregierung
über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland bietet einen sehr guten Anlass dazu, sich intensiver mit dieser in
qualitativer und quantitativer Hinsicht neuen Herausforderung zu befassen. Die Antworten - das ist klar - werden sicher nicht einfach sein, und nicht jede Frage wer7118
den wir zufriedenstellend beantworten können. Aber es
bleibt richtig, die Augen vor der Realität auch oder gerade dann nicht zu verschließen, wenn es besonders
schwierig wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so ist es gut, dass
Deutschland seinen humanitären Verpflichtungen in diesen Tagen vorbildlich nachkommt; auch das will ich in
der Debatte unterstreichen. In einem einzigartigen Krisenjahr wie dem Jahr 2014 - man weiß ja gar nicht mehr,
wo man hinschauen soll; es brennt an allen Ecken - belaufen sich allein die Mittel für humanitäre Hilfe in diesem Jahr auf weit über 400 Millionen Euro; das sind
über 100 Millionen Euro mehr, als zu Beginn des Jahres
im Haushalt standen. Es ist eine besondere Sache, wenn
Bundesregierung und Bundestag in diesen Tagen noch
mal eins draufpacken, um die Versorgung der Flüchtlinge in Syrien und den Nachbarländern vor dem Winter
sicherzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ärgerliches
Thema will ich nicht aussparen. Besonders ärgerlich ist
es nämlich - alle Fraktionen waren im Ausschuss in dieser Woche völlig zu Recht darüber empört -, dass das
Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen die Hilfe
eingestellt hatte. Es muss auch von diesem Parlament ein
Signal ausgehen: Wenn die UN trotz monatelanger Warnungen nicht rechtzeitig vor dem Winter die Versorgung
der Opfer von Krieg und Massenmord sicherstellen können, dann ist das schlicht ein Armutszeugnis.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht sein,
dass auf Geberkonferenzen vollmundige Versprechungen im Sinne der Menschlichkeit abgegeben werden und
dann einzelne Regierungen die Menschen in höchster
Not im Stich lassen und ihre Zusagen nicht einhalten.
Wir bitten die Bundesregierung ausdrücklich, den internationalen Partnern diese Haltung des Deutschen Bundestages zu vermitteln. Das geht so nicht, und das wollen
wir im Sinne der Menschen nicht noch einmal erleben.
Ich habe eben meine Anerkennung gegenüber der
Bundesregierung ausgedrückt. Ich will ihr Respekt dafür
zollen, dass sie auf nationaler Ebene, innerhalb der EU
und im Rahmen der Vereinten Nationen bei denjenigen
an vorderster Stelle steht, die versuchen, die Auswirkungen dieser gewaltigen Katastrophe auf die Menschen zu
lindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte bei dieser Gelegenheit einmal auf ein anderes Gebiet unserer
Arbeit zu sprechen kommen, nämlich auf den konkreten
Einsatz für Menschenrechte und politische Gefangene,
den Abgeordnete des Deutschen Bundestages leisten.
Viele von Ihnen kennen aus der eigenen Arbeit unser
Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“.
Dieses Programm haben wir aus guten Gründen auf
Menschenrechtsaktivisten in aller Welt ausgeweitet.
Der Einsatz von Abgeordneten für einzelne Verfolgte
- das wissen wir - ändert nicht die gesamte Lage der
Menschenrechte in einem Land. Aber es bleibt ein wichtiges Signal an Tausende und Abertausende unschuldig
Inhaftierte, dass sich das Parlament eines der wichtigsten
Länder in Europa und in der Welt mit darum kümmert,
dass in den Kerkern von Diktaturen die Menschen nicht
einfach vergessen werden. Denn es gilt immer noch der
Satz: Wer dort vergessen ist, der ist auch verloren. - Ich
bin deshalb sehr froh, dass es so viele Kolleginnen und
Kollegen gibt, die mit dabei helfen, dass Menschenrechte und die Aktivistinnen und Aktivisten eben nicht
vergessen werden. Dafür allen ein herzliches Dankeschön.
Lassen Sie mich kurz ein aktuelles Beispiel konkret
schildern. Vor wenigen Monaten hatte ich das Glück und
die Ehre, die Mutter einer vietnamesischen Aktivistin
hier in Berlin zu sprechen, deren Tochter im kommunistischen Vietnam ausgerechnet wegen ihres Einsatzes für
die Rechte der Arbeiterschaft willkürlich inhaftiert worden war. Sie wurde im Gefängnis gefoltert und brutalen
Behandlungen ausgesetzt. Es haben viele dazu beigetragen - die Bundesregierung, Abgeordnete des Deutschen
Bundestags; ich nenne hier ausdrücklich unseren Kollegen Frank Heinrich, der vor Ort war und die Aktivistin
im Gefängnis besucht hat -, diese tapfere Frau aus dem
Gefängnis freizubekommen.
Ich weiß, dass es viele Tausend Fälle gibt, die nicht so
gut ausgegangen sind. Aber ich erwähne das Beispiel
deswegen, weil es uns bei unserer Arbeit motiviert und
zeigt, dass dieser Einsatz für einzelne Schicksale nicht
sinnlos ist, sondern dass er notwendig ist. Inzwischen
konnten wir hier in Berlin in der letzten Sitzungswoche
die Tochter begrüßen. Sie hat mit Tränen in den Augen
berichtet, dass sie nie geglaubt hätte, ihre Mutter wiederzusehen. Sie kämpft jetzt für ihre ehemaligen Mitinsassen. Auch dort sind wir weiter mit Unterstützung von
Kollegen aus den Parlamenten und aus der Regierung
dabei, diesen Frauen und Männern zu helfen.
({2})
Damit konnten wir gemeinsame und lange Bemühungen
zu einem glücklichen Ende führen. Wir müssen nicht
stolz sein, dass dies gelungen ist. Aber wir dürfen uns
freuen, dass unser Patenschaftsprogramm konkrete Erfolge für Menschenrechtler erreichen konnte.
So nehme ich abschließend die Gelegenheit wahr,
weitere Kolleginnen und Kollegen dazu einzuladen, sich
an diesem wunderbaren Programm aktiv zu beteiligen.
Melden Sie sich bei uns im Ausschuss für Menschenrechte! Wir helfen gern weiter, damit Sie anderen noch
effektiver helfen können.
Der Tag der Menschenrechte ist ein wichtiger Tag. Er
ist nie nur ein Tag der Freude. Das liegt in der Natur der
Sache. Dass wir im Deutschen Bundestag in jedem Jahr
im Umfeld des Tages der Menschenrechte in würdiger
Form eine Debatte um die Würde des Menschen führen,
zeichnet das Thema und ein wenig auch dieses Parlament aus.
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Tom Koenigs,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will nicht der Versuchung anheimfallen,
jetzt urbi et orbi zu reden, obwohl der Tag dazu einlädt.
Ich will ein ganz spezifisches Phänomen aufnehmen, das
auf Englisch „shrinking space“, Verkleinerung des öffentlichen Raumes, heißt. Wir kennen alle das Agentengesetz aus Russland, das NGOs, die sich für Menschenrechte einsetzen und Geld aus dem Ausland kriegen,
verpflichtet, sich als feindliche Agenten zu bezeichnen.
Das empört uns. Sie müssen diese Bezeichnung auch an
all ihre öffentlichen Äußerungen anfügen. Das diskreditiert Menschenrechtsverteidiger als Agenten.
Leider ist dieses russische Gesetz nicht das einzige,
das es gibt. Beispiel Äthiopien: Nichtregierungsorganisationen dürfen sich höchstens zu 10 Prozent aus dem
Ausland finanzieren - das in einem Staat, der seinerseits
zu 60 Prozent aus dem Ausland finanziert wird. Das Ergebnis eines solchen Gesetzes: Ein Jahr nach Inkrafttreten ist die Zahl der Nichtregierungsorganisationen um
zwei Drittel geschrumpft.
Oder ein Beispiel, das wir auch alle kennen: Ägypten.
Die Arbeit der internationalen Stiftungen wird nicht nur
beschränkt, sondern die Mitarbeiter werden wie im Fall
der Konrad-Adenauer-Stiftung zu hohen Haftstrafen verurteilt. Glücklicherweise sind sie in diesem Fall inzwischen entlassen worden. Wir erinnern uns.
Russland, Äthiopien, Ägypten. Das ist Ausdruck, weil es
auch in vielen anderen Staaten so stattfindet, eines globalen
Trends, nämlich dass der öffentliche Raum schrumpft oder
geschrumpft wird. „Shrinking space“ nennt das der zuständige Rapporteur der Vereinten Nationen. Menschenrechtsverteidiger, Umweltaktivisten, soziale Akteure, Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsinstitute - sie
alle brauchen ihre Unabhängigkeit und die Öffentlichkeit. Das wird explizit oder implizit schleichend durch
die Vorder- oder durch die Hintertür immer weiter verkleinert.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung - das steht in
Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte - und das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden vielerorts durch staatliche Maßnahmen systematisch beschränkt. Der Sonderberichterstatter
für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der VN,
Maina Kiai aus Kenia, schreibt, dass sich weltweit viele
Staaten auf die Beschränkung und nicht auf die Garantie
der Menschenrechte konzentrieren. Die Beschränkung
kann durch Gesetze, durch finanzielle oder administrative Bestimmungen geschehen.
In Ruanda kann sich ein Unternehmen in sechs Stunden registrieren lassen. Will man sich als NGO registrieren lassen, braucht man dafür mindestens sechs Monate.
In Singapur, Malaysia und Myanmar darf man zwar in
gewissen Grenzen friedlich demonstrieren; das gilt aber
nur für die Einheimischen. Die Ausländer dürfen das
nicht, obwohl die Menschenrechte doch für alle gelten.
Ja, Bürgerbewegungen fordern den Staat heraus; das
ist richtig. Ja, sie wollen ihm manchmal auch lästig fallen. Wer wüsste das besser als wir, Bündnis 90 und
Grüne, die beide aus solchen Bürgerbewegungen hervorgegangen sind.
({0})
Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dieser Gruppen immer weiter einzuschränken, beseitigt den Protest
nicht, wie die Regierungen hoffen, sondern drängt ihn in
den Untergrund, radikalisiert ihn und macht ihn dann
manchmal zu einem Problem, das völlig ausufert.
Ein typisches Beispiel ist Syrien. Dort hat es mit
friedlichen Protesten im öffentlichen Raum angefangen.
Dann ist, in dem Fall durch Scharfschützen, der öffentliche Raum beschränkt worden. Jetzt haben wir die Situation von Radikalisierungen auf allen Seiten, die völlig
ausweglos ist. Wir wissen, dass das nicht einzelne
- manchmal große, manchmal kleine - Fälle sind, sondern dass das ein weltweiter Trend ist.
Menschenrechte zu verteidigen, heißt, Menschenrechtsverteidiger zu schützen vor willkürlicher Verhaftung, vor Verschwindenlassen, vor Folter und vor Mord.
Es heißt aber auch, das System dahinter zu verstehen, die
vielen kleinen Fußangeln, Steine und Steinchen zu erkennen, über die die Menschenrechtsverteidiger stolpern
sollen.
Dem Verkomplizieren, Diskreditieren, Enervieren,
Aufreiben und schließlich Kriminalisieren zivilgesellschaftlichen Engagements und zivilgesellschaftlicher Institutionen im In- und Ausland entgegenzutreten, dem
Trend zum Shrinking Space entgegenzutreten, ihn zu
thematisieren, ihn zu erkennen und ihn zu kritisieren, das
erfordert Durchblick und Mut. Die Menschenrechtsverteidiger auf der ganzen Welt haben das. Aber ich
wünschte mir diesen Mut auch bei den Staatsbesuchen,
bei den Regierungsverhandlungen, bei den Äußerungen
auch von der Bundesregierung.
({1})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr. Karamba Diaby.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der
Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie enthält in 30 Artikeln kulturelle, politische, aber auch wirtschaftliche Rechte. Hinzu kamen
später der Zivilpakt und der Sozialpakt. Gemeinsam bilden sie die Bill of Rights. Ab 1979 kamen die Frauenrechts- und 1989 die Kinderrechtskonvention hinzu. Die
heutige Debatte ist Gelegenheit, deutlich zu machen, wo
der Schutz der Menschenrechte im Argen liegt und wie
unsere eigene Rolle dabei aussieht.
Als Bildungs- und Menschenrechtspolitiker richte ich
heute den Fokus auf das eigenständige Menschenrecht
auf Bildung. Als Berichterstatter für westafrikanische
Staaten greife ich beispielhaft die Region Subsaharaafrika heraus, um die Frage zu beleuchten, wie wir dieses Recht auf Bildung tatsächlich verwirklichen können.
Uns alle bewegt die Frage: Wie sieht es mit Deutschlands Rolle und Deutschlands Engagement in der Welt
aus? Diese Diskussion wird vor allem vor dem Hintergrund militärischer Einsätze geführt; das haben auch
meine Vorredner deutlich gemacht. Dabei dürfen wir den
präventiven und vorsorgenden Charakter guter Entwicklungszusammenarbeit nicht aus den Augen verlieren.
Mit den neuen Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung beschreitet Deutschland neue Pfade, und
das ist gut so. Der Perspektivwechsel macht es möglich,
unseren politischen Instrumentenkasten der Vielfältigkeit des afrikanischen Kontinents anzupassen. Damit erweitern wir unseren Blick auf Afrika und nehmen uns
gezielt der Frage an, wie wir positive Entwicklungen unterstützen können. Die genannten Leitlinien der Bundesregierung sind ein klares Bekenntnis zur Verwirklichung
des Menschenrechts auf Bildung.
„Bildung ist die mächtigste Waffe, die Welt zu verändern.“
({0})
Dieser Satz stammt von dem Friedensnobelpreisträger,
dem ehemaligen Präsidenten Südafrikas, dem Menschenrechtler Nelson Mandela, der genau heute vor einem Jahr verstarb. Dieser Satz von Nelson Mandela hat
nichts von seiner Aktualität verloren. Ich denke, es ist
richtig, seiner an dieser Stelle zu gedenken.
({1})
Gute Bildung für alle ist der Schlüssel für eine bessere, selbstbestimmte Zukunft. Gute Bildung emanzipiert den Einzelnen und die Einzelne, sie fördert die Persönlichkeitsentfaltung und im besten Fall die Talente.
Gute Bildung eröffnet Zukunftsperspektiven. In diesem
Sinne hat gute Bildungspolitik einen demokratiestabilisierenden Effekt. Deshalb sollten wir gute Bildung weiterhin fördern.
({2})
Was bedeutet also das Menschenrecht auf Bildung?
Zunächst: Bildung soll jeden Menschen in die Lage versetzen, an der Gesellschaft teilzuhaben. Der Bildungsbegriff meint den allgemeinen Zugang zu Grundbildung.
Das ist - ich betone das an dieser Stelle - nicht zu verwechseln mit Grundschulbildung. Dieses Recht auf Befriedigung der grundlegenden Bildungsbedürfnisse
kennt keine alters- oder geschlechtsbezogenen Einschränkungen. Es umfasst lebenslanges Lernen und die
Erwachsenenbildung ebenso wie den Zugang zu Sekundarschulen oder zu Hochschulen, je nach Fähigkeit.
Meine Fraktion und ich unterstützen, dass Deutschland sich in den Afrikapolitischen Leitlinien deutlich
zum universellen Zugang zu hochwertiger und relevanter Bildung bekennt und tatkräftig die bisherige Bildungszusammenarbeit intensivieren wird. Wir wollen
den Schwerpunkt auf die Grundbildung legen. Ein
deutsch-afrikanisches Jugendwerk nach französischem
Vorbild ist ebenso Ziel wie die Einrichtung eines Fonds
für Bildungsprogramme speziell für fragile Staaten.
Auch im Bereich des Auf- und Ausbaus arbeitsmarktorientierter beruflicher Bildung wollen wir enger zusammenarbeiten und neue Ausbildungspartnerschaften
einrichten. Denken Sie alleine an die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Äthiopien - das Land wurde in einem
anderen Zusammenhang gerade schon genannt -: Hier
beraten und unterstützen wir beschäftigungsfördernde
Projekte. So waren allein im Jahr 2012 über 350 000
Schülerinnen und Schüler an mehr als 800 äthiopischen
Berufsschulen eingeschrieben.
Auch die Einzelförderungen über Stipendien wollen
wir intensivieren. Ein Beispiel: Im Rahmen der deutschafrikanischen Zusammenarbeit steigt die Zahl der Stipendien kontinuierlich an. Alleine 2012 förderten wir
über den DAAD mehr als 6 000 Stipendiatinnen und Stipendiaten. Hier wollen wir noch mehr Förderungen auf
den Weg bringen. Daneben bestehen insgesamt nahezu
600 Hochschulkooperationen. Aktuell laufen 61 bi- und
multilaterale Forschungspartnerschaften und Studienangebote. Das BMBF ist in allen afrikanischen Ländern
bildungspolitisch engagiert. Mehr als zwei Drittel dieser
Zusammenarbeiten entwickelten sich in den letzten Jahren.
Alleine an diesem beispielhaften Ausschnitt zur Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung auf dem afrikanischen Kontinent sehen wir: In vielen Ländern ist
Bildung ein Luxus und weit davon entfernt, als Menschenrecht realisiert zu werden. Deshalb meine ich: Der
Mensch braucht nicht nur Nahrung für den Magen, sondern auch für den Kopf. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Bildung zu exportieren.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank. - Letzter Redner in dieser Debatte ist
der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Als Phirun am Strand erwacht, stehen Männer und
Frauen um ihn herum und reden auf ihn ein. Er hustet, spuckt Wasser, fühlt den Sand im Gesicht. Er
lebt.
Phirun, 26, wohnte in einem Dorf nahe der Stadt
Siem Reap, im Norden von Kambodscha, als ihn
ein Mann aus dem benachbarten Thailand ansprach
und ihm einen gut bezahlten Job in einer Konservenfabrik versprach. Bis zu 500 Baht könne er täglich verdienen, wenn er ein paar Überstunden mache, umgerechnet gut zwölf Euro. Für Phirun, der
seit Jahren schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs
machte, war das ein verlockendes Angebot.
Aber Phirun besaß keine Papiere und hatte kein
Geld für die Reise nach Thailand. Der Mann erklärte, das sei kein Problem, er würde das alles
schon organisieren. Anstatt misstrauisch zu werden,
willigte Phirun ein. Immerhin musste er kein Geld
an einen Schleuser zahlen. Anfang 2014 ließ er sich
über die Grenze schmuggeln.
Doch anstatt in einer Fabrik Ananas in Dosen zu
füllen, fand er sich auf einem alten Fischkutter wieder, auf dem es an allen Ecken rostete. Menschenhändler hatten ihn an den Schiffsbesitzer und Kapitän verkauft, für umgerechnet 300 Euro. „Man
sagte mir, dass ich dafür zwei Monate ohne Lohn
arbeiten müsse“, erzählt Phirun. Doch auch danach
sah er kein Geld. Stattdessen wurden er und andere
junge Männer an Bord geschlagen und mussten täglich 15 Stunden und mehr arbeiten, sieben Tage die
Woche, ohne Aussicht auf Urlaub. …
Neun Monate lang war Phirun Sklave an Bord eines
thailändischen Fischkutters. „Wir legten nie in einem Hafen an. Lebensmittel und sonstigen Nachschub brachte uns ein anderes Schiff, ebenso neues
Personal.“ Phirun berichtet, dass ein Sklave, der
sich einen Arm gebrochen hatte, über Bord geworfen wurde. „Der Kapitän sagte uns: ‚Wenn ihr euch
weigert zu arbeiten, blüht euch auch dieses Schicksal.‘ Dabei hatte der sich gar nicht geweigert zu arbeiten, sondern war verletzt.“
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer! Dieses Beispiel - aktualisiert
im Spiegel vor zwei Tagen - zeigt: Es gibt eine Riesenspanne zwischen den Erklärungen und Vorsätzen und der
Wirklichkeit in unserer Welt. Es gibt eine ganze Menge
zu tun, um die Menschenrechte global durchzusetzen.
Und doch hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eine große richtungsweisende und rechtliche
Bedeutung. Deshalb lohnt es sich, ganz kurz zurückzuschauen, wie sich die Menschenrechte entwickelt haben;
denn wir reden über ein globales Phänomen. Der Weg,
der zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt hat und der sehr lang war, der sich aber gelohnt hat,
darf hier nicht zu Ende sein; denn es liegt noch eine
Menge Arbeit vor uns.
Gestatten Sie mir eine kurze Rückschau. Die Geschichte der Menschenrechte begann 2 000 vor Christus
in der Antike, also vor 4 000 Jahren, mit dem Gesetz des
Hammurabi in Babylonien. In der Bibel finden wir nicht
nur die zehn Gebote, sondern auch den prägenden Begriff der Ebenbildlichkeit Gottes. Das war 600 vor
Christus. In Athen, im vierten Jahrhundert vor Christus,
gab es die Bürgerrechte, allerdings, wie wir alle wissen,
nur für eine eingeschränkte Personengruppe.
Meilensteine waren die Unabhängigkeitserklärung
der Vereinigten Staaten 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Jahr 1789. Danach gab es verschiedenste Abkommen, zum Beispiel
die Genfer Konventionen. 1948 wurde dann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.
Warum 1948? Das war eine Reaktion auf „die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte“, die
„zu Akten der Barbarei geführt“ hatten. So steht es in der
Präambel. Wir wissen, dass das sehr nahe bei uns geschah.
Die Botschaft des Artikels 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: „Alle Menschen sind
frei und an Würde und Rechten gleich geboren.“ Diese
Erklärung wurde am 10. Dezember 1948 in Paris - anlässlich dessen führen wir diese Debatte - verabschiedet.
Aus dieser Erklärung erwuchsen verschiedenste Instrumente und Konventionen. Zwei davon möchte ich nennen - jeder von uns hat seine Schwerpunkte, und es ist
gut, wenn wir uns fokussieren -:
Erstens: die 1969 - ein Jahr nach dem Tod von Martin
Luther King - verabschiedete Anti-Rassismus-Konvention. Diese Errungenschaft führte unter anderem dazu,
dass die USA inzwischen einen afroamerikanischen Präsidenten haben. Dort - in Klammern gesetzt - ist das
Thema noch lange nicht erledigt, wie wir in den letzten
Tagen und Wochen immer wieder gehört haben.
Zweitens: die Frauenrechtskonvention von 1979.
Gleichberechtigung wurde vorher schon in den Konventionen erwähnt, aber bis heute hat sie sich nicht wirklich
bis zum Ende durchgesetzt. Denken wir hier nur noch
einmal an den Sklavenhandel und an das Schicksal von
Herrn Phirun. Eurostat sagt, dass in unseren 28 EU-Mitgliedsländern - also nicht irgendwo, sondern hier, unter
und bei uns - in den Jahren 2010 bis 2012 über 30 000
Opfer von Menschenhandel registriert wurden - 80 Prozent davon weiblich.
Ich komme nun zu Deutschland: Welche Instrumente
zum Messen unserer Leistungen - auch der Deutsche
Bundestag und wir als Politiker müssen Rechenschaft
ablegen - gibt es? Sie kennen vielleicht den bekannten
Spruch von McKinsey - er wurde auch von anderen zitiert -, der in der Wirtschaftswelt eine Selbstverständlichkeit ist: „What you can measure you can manage!“
Übersetzt heißt das: Mit dem, was man messen kann,
kann man auch etwas bewegen.
Wir haben Rechenschaft abzulegen gegenüber den
Vereinten Nationen - dem Menschenrechtsrat, dem
Hochkommissar -, dem Europarat und der Europäischen
Union. Auch das von Ihnen angesprochene DIMR ist unter anderem eine kritische Instanz nach innen. Der vor
zwei Tagen herausgegebene 11. Menschenrechtsbericht
Frank Heinrich ({0})
der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen.
Ich habe es eben schon gesagt: Wir alle haben
Schwerpunkte, bei denen wir uns einbringen. Wenn wir
in den Spiegel schauen, dann müssen wir uns fragen: Wo
müssen wir noch besser werden? Ich zitiere von der
Webseite des Auswärtigen Amtes:
Die Bundesregierung betrachtet den Einsatz für
Menschenrechte als eine Querschnittsaufgabe, die
alle Politikfelder durchzieht.
Erstes Beispiel: die Wirtschaftspolitik. Wir brauchen
faire - möglicherweise fairere als bisher - Handelsabkommen. Wie weit das gehen muss, werden wir noch
weiter diskutieren. Zweites Beispiel: die Außen- und
Verteidigungspolitik. Wir brauchen Frühwarnsysteme nicht nur im humanitären Bereich. Drittes Beispiel: die
EU-Politik. Wir brauchen in kritischen Situationen ein
Eintreten für eine - aktueller kann es nicht sein - gemeinsame Flüchtlingspolitik und für gemeinsame Standards.
Hier tun wir viel; einer meiner Kollegen hat das vorhin gesagt. Aber wir tun das manchmal viel zu leise.
Dies zeigt ja auch der Zeitpunkt der Debatte ein wenig.
Wir können uns an Kampagnen beteiligen, wie
Michael Brand vorhin gesagt hat, als er die Patenschaften erwähnte. Ein Beispiel ist die Kampagne „Human
Rights Challenge“ anlässlich des Internationalen Tags
der Menschenrechte. In der nächsten Woche werden
viele von Ihnen dazu etwas zugesandt bekommen, zum
Beispiel auch ein entsprechendes Logo. Anstatt mit irgendwelcher Werbung herumzurennen, kann man ja
auch dieses Logo zeigen. Beantworten Sie die Frage,
warum Sie dafür sind! Wenn es im Netz ist, dann leiten
Sie es weiter! Unterstützen Sie diese Kampagne!
Was können wir tun? Wir können in unserer Medienlandschaft besser hinhören und vielleicht auch die Medien auffordern, die unangenehmen Nachrichten noch
mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt inzwischen
vier Krisen der Stufe 3, und über maximal drei Krisen
wissen die meisten Bürger Bescheid.
Wir können zum Beispiel den Organisationen, die im
humanitären Bereich aktiv sind, den NGOs und den vielen Ehrenamtlichen, die sich auch um die Flüchtlinge in
unserem Land bemühen - die Bandbreite reicht also vom
globalen bis hin zum persönlichen Bereich -, unsere
Wertschätzung sehr deutlich ausdrücken; denn das Engagement muss am Schluss aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen.
({1})
Schließlich - wir alle sind auch Konsumenten - ist
hier auch an unser Kaufverhalten zu denken. Es geht um
unsere Bemühungen - sowohl im politischen als auch im
privaten Bereich - in Bezug auf die Billig- und Hungerlöhne in der Textilwirtschaft, aber auch in Bezug auf Fischereiprodukte; hier können wir etwas tun.
In der letzten Woche waren Vertreter der Environmental Justice Foundation bei mir. Sie haben deutlich
gemacht, dass das Schicksal von Herr Phirun kein Einzelfall ist, sondern dass Schiffe vor Thailand teilweise
jahrelang solche Sklaven an Bord haben.
Wenn unser Fisch möglichst exotisch und zugleich
möglichst billig sein soll, werden Menschen wie Phirun
weiterhin als Sklaven arbeiten müssen.
({2})
Kollege Heinrich, achten Sie bitte auf die Zeit und
setzen einen Punkt.
Ich komme zum Ende.
Immer wieder höre ich den Satz, dem ich formell und
deutlich widersprechen möchte: Was macht es denn für
einen Unterschied, wenn ich etwas tue?
({0})
Es macht einen Riesenunterschied. Die geplagten Menschen brauchen diese Botschaft. Das ist ein wichtiges Signal.
Am schlimmsten finde ich es, wenn wir das am
Schluss gar nicht wissen wollen und uns nicht die Zeit
nehmen. Denn es ist unbequem, dies zu hören. Vielleicht
schlafen wir das eine oder andere Mal schlechter, und
wir müssten ja etwas tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Kordula Schulz-Asche, Renate
Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation von Opfern von Menschenhandel in
Deutschland
Drucksache 18/3256
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Menschenhandel ist eines der schlimmsten Menschenrechtsverbrechen, das in unserem Lande stattfindet. 500 bis
1 000 Verdachtsfälle zählt das Bundeskriminalamt jedes
Jahr. Das betrifft den Handel mit Menschen, deren Arbeitskraft ausgebeutet wird oder die sexuell ausgebeutet
werden.
Wenn wir Menschenhandel bekämpfen wollen, dann
müssen wir von den Opfern des Menschenhandels her
denken, ihre Rechtsposition schützen und sie stärken.
Dem dient der Gesetzentwurf, den wir heute vorgelegt
haben.
({0})
Meine Damen und Herren, wir fordern, dass Menschenhandelsopfern unabhängig von ihrer Aussagebereitschaft und unabhängig davon, ob sie eine Strafanzeige gestellt haben, ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik
Deutschland zugesprochen wird. Denn für viele Menschenhandelsopfer ist es aufgrund der Situation ihrer Familie, ihrer Kinder, ihrer Eltern oder ihrer Geschwister
im Heimatland nicht möglich, einfach zur Polizei zu gehen und die Täter anzuzeigen. Wenn wir das nicht durchbrechen und nicht dem Opferschutz Vorrang vor dem Interesse an der Strafverfolgung der Täter einräumen,
werden wir die überwiegende Anzahl der Täter auch
nicht fassen.
({1})
Das gegenwärtige Recht bindet den Aufenthaltstitel
allein an die Aussage- und Zeugenbereitschaft der Menschenhandelsopfer. Wenn das Verfahren vorbei ist, dann
ist der Aufenthaltstitel nicht mehr verlängerbar. Diesen
Zustand müssen wir dringend ändern. Ich bin sehr enttäuscht, dass die Bundesregierung, Herr Schröder, in ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsrechts,
den sie in dieser Woche beschlossen hat, zwar vorsieht,
dass nach einem Prozess unter Umständen aus humanitären Gründen oder aus Gründen des öffentlichen Interesses der Aufenthaltstitel verlängert werden kann. Menschenhandelsopfer, die nicht aussagen können, genießen
danach aber überhaupt keinen Schutz. Damit werden
viele Strafverfahren gegen die Täter vereitelt. Zudem
schützen wir nicht wirksam und mit Rechtssicherheit die
Rechtsposition der Opfer des Menschenhandels.
({2})
Ich will Ihnen einmal zwei Lebensschicksale schildern, die zeigen, wie sich diese Rechtslage negativ auswirkt für die Opfer, aber auch für das Strafverfolgungsinteresse. Der Katholische Verband für Mädchen- und
Frauensozialarbeit hat mir von einer jungen Frau erzählt,
die mit 14 Jahren nach Deutschland gebracht und zur
Prostitution gezwungen wurde. Als sie 17 Jahre alt war,
wurde ein Ermittlungsverfahren gegen die Täter durchgeführt. Diese Frau bekam aber nur einen Aufenthaltstitel für sechs Monate.
Zu der Angst um sich selbst, der Angst vor den Tätern, kam die Angst um ihren unsicheren Status. Das hat
dieses Mädchen psychisch stark destabilisiert und hat
dazu geführt, dass auch ihre Aussagen unzuverlässig waren, sodass die Staatsanwaltschaft gesagt hat: Diese Aussagen sind nicht verwertbar, wir müssen das strafrechtliche Ermittlungsverfahren einstellen.
Ein zweiter Fall. Eine junge Frau namens Grace aus
Nigeria, 19 Jahre alt, berichtete darüber, dass sie mit
dem Versprechen, sie könne in Deutschland eine Ausbildung machen, etwas lernen und dann hier eine gute Arbeit finden, von einem Nigerianer nach Deutschland gelockt wurde. Als sie hier ankam, wurde ihr der Pass
abgenommen und ihr eröffnet, sie schulde diesem Herrn
nun 50 000 Euro. Sie wurde zur Prostitution gezwungen
und arbeitete bei einer Bordellbetreiberin, über die sie
selber sagte: Ich arbeitete für diese Madame bis zu meiner Festnahme. - Danach war sie in Abschiebehaft.
Sie wurde 2009 nach Nigeria abgeschoben. Dort
wurde sie von dem Umfeld des Täters bedroht und erneut bedrängt. Ihr wurde mitgeteilt, sie schulde ihm immer noch 20 000 Euro. Sie konnte nicht bezahlen. Daraufhin wurde ihre Familie unter Druck gesetzt, und sie
wurde erneut nach Europa gebracht. Dort wurde sie wieder aufgegriffen und erneut abgeschoben. Vor der Abschiebung hatte sie fürchterliche Angst davor, was mit
ihr passieren würde, wenn sie ohne die 20 000 Euro nach
Nigeria zurückkommen würde.
Solchen Menschen ist es nicht zuzumuten, bei uns
auszusagen. Sie riskieren Leib, Leben und Freiheit, aber
nicht nur von sich selbst, sondern auch von ihren Familienangehörigen. Wenn wir hier als Gesetzgeber nicht
endlich ein Einsehen haben und diesen Menschen, weil
sie Opfer eines Menschenrechtsverbrechens geworden
sind, bedingungslos einen aufenthaltsrechtlichen Schutz
geben, dann brauchen wir hier im Plenum auch nicht den
Tag der Menschenrechte zu begehen. Vielmehr gehen
wir dann in unserem Land sehenden Auges an den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ihren Nöten
vorbei.
({3})
Wir wollen, dass ein Aufenthaltsrecht gewährt wird.
Wir wollen auch - das betrifft vor allen Dingen die Ausbeutung als Arbeitskraft -, dass es endlich einen Opferfonds gibt, aus dem die Menschen den ihnen vorenthaltenen Lohn bekommen können, unabhängig von der
Frage, ob die Menschen oder die Unternehmen, die sie
ausgebeutet haben, rechtlich belangbar sind. Dieser soll
sich auch darum kümmern, dass dieses Geld eingetrieben wird.
Wir wollen die Opfer besserstellen. Das verlangt von
uns, die Menschenhandelsrichtlinie umzusetzen, was
Deutschland skandalöserweise immer noch nicht getan
hat. Wir müssen in diesem Zusammenhang schauen, wo
es im Strafrecht Lücken gibt. Aber wir sollten nicht
glauben, dass dieses Problem durch mehr Strafrecht zu
lösen ist. Es ist nur zu lösen, wenn wir uns mit Empathie
Volker Beck ({4})
um die Opfer dieser Menschenrechtsverbrechen kümmern und ihren Status verbessern.
Ich hoffe, dass wir anhand Ihres und unseres Gesetzentwurfes zu einer Lösung für die Opfer kommen. Wenn
wir eine gute Lösung finden - das garantiere ich Ihnen -,
werden wir das Dunkelfeld aufhellen und viele strafrechtliche Verfahren gegen die Täter mit Erfolg führen
können. So werden wir in jeder Hinsicht eine Verbesserung der Menschenrechtslage für die vielen Frauen und
auch Männer, die Opfer dieser Verbrechen werden, erreichen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Nina Warken für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist eine traurige
Realität: Menschenhandel und die systematische Ausbeutung der Opfer sind immer noch ein erhebliches Problem, auch bei uns in Deutschland. Skrupellose Täter,
die in kriminellen Netzwerken weltweit agieren, machen
sich die Not vieler Menschen aus ärmeren Ländern zunutze und locken sie mit falschen Versprechungen auf illegalen Wegen nach Europa. Was folgt, ist ein Leben
voller Abhängigkeit, Erniedrigung und Armut. Damit ist
Menschenhandel in der Tat ein komplexes Problem. In
diesem Punkt gebe ich dem Gesetzentwurf der Grünen
recht.
Statt sich aber nur mit den Folgen zu beschäftigen,
wollen wir als Union mit einem ganzheitlichen Ansatz
die Ursachen des Menschenhandels bekämpfen.
({0})
Den Betroffenen hilft man doch damit am meisten, indem man dafür Sorge trägt, dass sie erst gar nicht Opfer
werden. Als Union setzen wir uns deshalb für eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern ein, um dort die Lebensbedingungen zu verbessern. Dadurch verlieren die falschen Versprechungen der
Menschenhändler bereits viel von ihrem Reiz. Gleichzeitig geht es in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsund Transitländern darum, dass kriminelle Schleuser und
Menschenhändler schon dort strafrechtlich stärker verfolgt und bestraft werden. Auf diese Weise wollen wir
dem Menschenhandel bereits in seinem Ursprung die
Grundlage entziehen.
({1})
Ein nächster Schritt muss die konsequente Strafverfolgung in Deutschland sein. Nur wenn auch die Täter
mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats hart
bestraft werden, wird es am Ende weniger Kriminalität
und weniger Opfer geben. Das Bundesinnenministerium
und unsere Strafverfolgungsbehörden haben deshalb
zahlreiche Initiativen wie gezielte Sonderermittlungen
und grenzüberschreitende Kooperationen mit anderen
EU-Ländern ins Leben gerufen.
Trotzdem gab es 2013 im Bereich Menschenhandel
zum Zweck der sexuellen Ausbeutung rund 13 Prozent
weniger Ermittlungsverfahren in Deutschland als im
Vorjahr. Was im ersten Moment wie eine positive Entwicklung wirkt, geht leider nicht darauf zurück, dass
etwa weniger Opfer oder Täter vorhanden wären. Nein,
vielmehr fehlen viel zu oft ausreichende Anhaltspunkte,
um ein Ermittlungsverfahren einleiten zu können. Häufig sind es die Opfer, die als einzige Zeugen sachdienliche Hinweise zu den Tätern liefern können. Ein effektives Strafverfahren durch unsere Gerichte ist mangels
anderer Beweise oft gar nicht möglich. Deshalb ist die
Mitwirkung der Opfer der Verbrechen, die zweifelsohne
in vielen Fällen viel Leid und Gewalt erfahren haben, bei
der Strafverfolgung von so entscheidender Bedeutung.
Genau deshalb muss das weiterhin gesetzlich verankert
bleiben.
Wenn man wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf sagt, dass
die Opfer von Menschenhandel aus Angst vor Repressalien besser nicht am Strafverfahren mitwirken sollen,
hilft das nicht den Opfern, sondern nur den Tätern, die
dann weiter ihre menschenverachtenden Geschäfte machen können.
({2})
Genau das gilt es doch mit allen Mitteln zu verhindern.
Stattdessen müssen wir meiner festen Überzeugung nach
mit allem, was wir hier beschließen, dazu beitragen, dass
die Opfer ermutigt werden, gegen diejenigen auszusagen, die sie gequält und ausgebeutet haben, damit nicht
andere dasselbe Schicksal erleiden müssen.
({3})
In einem sind wir uns einig: Wir wollen und wir müssen mehr für die Opfer tun. In unserem Entwurf eines
Gesetzes zur Neuordnung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung werden wir deshalb veranlassen,
dass Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung nach
der Mitwirkung im Strafverfahren ein Bleiberecht bekommen sollen.
({4})
Bisher hatten die Betroffenen nur ein vorübergehendes
Aufenthaltsrecht für den Zeitraum des Strafverfahrens.
Mit der neuen Regelung soll die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis über die Beendigung des Strafverfahrens hinaus verlängert werden können.
({5})
Eine Verlängerung kann es auch geben, wenn es zu keinem Strafverfahren kommt, weil etwa der Täter trotz der
Mithilfe des Opfers nicht ermittelt werden kann.
Ein weiterer Ansatz ist, dass im Rahmen eines Projekts
des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zusammen
mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen die zuständigen Mitarbeiter speziell geschult wurden, um Opfer von Menschenhandel früh zu erkennen. Damit soll
erreicht werden, dass sie schnellstmöglich die notwendige Versorgung und einen besonderen Schutz erhalten.
Für die Opfer bringen diese Neuregelungen und Maßnahmen erhebliche Verbesserungen. Mit ihnen bekommen sie eine Zukunftsperspektive in Deutschland aufgezeigt, frei von Zwang, Erniedrigung und Ausbeutung.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich aber auch klarstellen, dass Opfer von Menschenhandel schon heute ohne
Mitwirkung am Strafverfahren ein Aufenthaltsrecht bekommen können, wenn dies aus persönlichen oder humanitären Gründen erforderlich ist. So und nicht anders
fordert es übrigens auch die Europaratskonvention gegen
Menschenhandel, die Sie, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen, in Ihrem Gesetzentwurf ansprechen. In der
Konvention wird die Erteilung des Aufenthaltstitels ausdrücklich von der persönlichen Situation des Opfers
abhängig gemacht. Ob diese einen Aufenthaltstitel erforderlich macht, muss die zuständige Behörde entscheiden. Das hat einen guten Grund; denn bei einem gesetzlichen Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht, unabhängig
von der Situation des Opfers, besteht die Gefahr, dass
dies gezielt von Schleusern und Menschenhändlern ausgenutzt wird.
({6})
Ein solcher Anspruch könnte sie ermutigen, noch mehr
Menschen mit der Aussicht auf ein Aufenthaltsrecht in
Deutschland illegal ins Land zu bringen und auszubeuten.
({7})
Das wäre nicht im Interesse der Opfer, und es kann damit auch nicht in unserem Interesse sein.
Meine Damen und Herren, wir sind der Überzeugung,
dass der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen sich keineswegs dazu eignet, wirksam etwas gegen Menschenhandel zu tun. Wir als Koalition haben dagegen mit der
Neuregelung des Bleiberechts, mit der verstärkten Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und mit der
frühzeitigen Erkennung der Opfer Gesetzesinitiativen
und Maßnahmen auf den Weg gebracht, die einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, die den Opfern wirklich
helfen und die gleichzeitig die Ursachen von Menschenhandel konsequent bekämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Ansatz weiterverfolgt
wird, indem wir nach dem Jahreswechsel den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Aufenthaltsbeendigung und
des Bleiberechts beschließen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Linke begrüßt ausdrücklich die Initiative der Grünen,
Opfer von Menschenhandel besser zu schützen. Sie sollen ohne weitere Bedingungen ein Bleiberecht erhalten.
Bislang bekommen Menschenhandelsopfer nur dann
eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis, wenn ihre
Aussage im strafrechtlichen Verfahren benötigt wird.
Dabei sieht eine Konvention des Europarates von 2008
ausdrücklich vor, ein Aufenthaltsrecht auch unabhängig
von der Aussagebereitschaft der Opfer zu gewähren. Die
Linke fordert hier, diese Konvention endlich vollständig
umzusetzen.
({0})
Meine Damen und Herren, auch die Grünen haben in
der vergangenen Wahlperiode noch gefordert, das Aufenthaltsrecht von der Aussagebereitschaft abhängig zu
machen. Das ändert aber nichts daran, dass wir uns ganz
besonders freuen, dass sie jetzt eine ganz andere Position
vertreten und dass im vorliegenden Gesetzentwurf weitere Verbesserungen enthalten sind, etwa bei der Opferentschädigung oder die Möglichkeiten, vorenthaltenen
Lohn einzuklagen.
Man muss hier ganz deutlich sagen: Die betroffenen
Menschen sind in der Bundesrepublik Deutschland Opfer von schwersten Menschenrechtsverletzungen geworden. Viele wurden sexuell ausgebeutet oder regelrecht
als Sklaven in der Gastronomie oder zum Teil auch auf
Baustellen gehalten. Insofern haben wir hier eine besondere Verantwortung.
({1})
Im vergangenen Jahr hat die Polizei in Deutschland
542 Opfer von Menschenhandel ermittelt, davon 70 Kinder. Uns allen ist klar, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Aber nur 87 Menschen hatten Ende 2013 eine
Aufenthaltserlaubnis, weil sie als Opfer von Menschenhandel vor Gericht ausgesagt haben. Es gibt viele
Gründe, warum diese Zahl so niedrig ist:
Erstens endet die Aufenthaltserlaubnis, wenn das
Strafverfahren beendet ist. Wenn dann die Abschiebung
droht, besteht kein Anreiz, in einem Prozess auszusagen.
Zweitens müssen die Opfer mit Racheakten gegen
ihre Verwandten im Herkunftsland rechnen, wenn sie gegen die Täter aussagen.
Drittens sind vor allem die Opfer von Zwangsprostitution häufig zutiefst traumatisiert. Sie sind nicht in der
Lage, in einem Strafprozess ihren Peinigern gegenüberzutreten.
All das spricht aus unserer Sicht für ein bedingungsloses Bleiberecht aus humanitären Gründen.
({2})
Doch davon, meine Damen und Herren, liebe Kollegin Warken, ist die Regierungskoalition allerdings weit
entfernt. Sie haben zwar, wie eben berichtet, am Mittwoch im Kabinett einen Gesetzentwurf beschlossen, der
in der Tat kleinere Verbesserungen vorsieht. Nach diesem Entwurf sollen die Ausländerbehörden stärker in die
Pflicht genommen werden, solche Aufenthaltstitel zu erteilen. Außerdem wird die Möglichkeit geschaffen, auch
nach einem Prozess ein Bleiberecht zu erhalten. Doch
daran, die Aussagebereitschaft zur Bedingung für ein
Aufenthaltsrecht zu machen, hält die Regierung leider
fest. Der besondere Schutzbedarf von Kindern ist in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht berücksichtigt. Dabei sind Kinder die Opfergruppe - wir haben es vorhin in
der Debatte gehört -, die am stärksten traumatisiert ist.
Das Aufenthaltsrecht muss endlich der besonderen Verantwortung diesen Kindern gegenüber gerecht werden.
({3})
Ein Ausblick. Ich finde es schon interessant, dass in
sechs EU-Staaten die EU-Richtlinie, in der die Erteilung
eines Aufenthaltstitels vorgesehen ist, bereits umgesetzt
wurde. In sieben weiteren EU-Staaten können die Behörden von der Anforderung, dass eine Aussage gemacht wird, absehen, wenn es die persönliche Situation
der Betroffenen erfordert, beispielsweise infolge einer
Traumatisierung.
Ich meine, auch in Deutschland darf man die Opfer
von Menschenhandel nicht länger im Regen stehen lassen. Es ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein humanitäres Gebot, diesen Menschen, denen hier größtes
Unrecht geschehen ist, tatkräftig unter die Arme zu greifen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Eva Högl
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschenhandel ist ein abscheuliches Verbrechen
und ein klarer Verstoß gegen Menschenrechte. Menschenhandel, das ist sexuelle Ausbeutung. Menschenhandel, das ist auch Ausbeutung der Arbeitskraft. Im Bereich Menschenhandel, mit und durch Menschenhandel,
wird viel Geld verdient - das wissen wir -, und Menschenhandel hat ein jahrelanges Leid der Opfer zur
Folge. Deswegen sind wir uns hier im Hause, denke ich,
einig, dass wir für die Opfer von Menschenhandel etwas
tun müssen, und das nehmen wir uns hier gemeinsam
auch fest vor.
Wir müssen Menschenhandel, liebe Kolleginnen und
Kollegen, nicht nur national, sondern auch international
wirksam und engagiert bekämpfen. Deswegen ist es gut,
dass wir internationale Verpflichtungen haben: das UNZusatzprotokoll, die Europaratskonvention und seit 2011
auch die EU-Richtlinie. Ich will das auch hier ganz deutlich sagen: Natürlich ist es peinlich - wir, die wir hier
heute Nachmittag zusammensitzen, wissen das auch -,
dass Deutschland die Europaratskonvention bisher noch
nicht ordentlich umgesetzt hat und auch die Richtlinie
noch nicht umgesetzt hat. Genau daran arbeitet diese Regierungskoalition.
({0})
Wir haben in Deutschland schlimme Fälle von Menschenhandel; wir wissen das. Wir wissen auch, dass wir
die Opfer bisher nicht ausreichend schützen und dass wir
die Täter in viel zu geringem Maß und nicht wirksam
verurteilen. Deswegen haben wir uns im Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode vier Punkte vorgenommen: Wir wollen die Opfer besser schützen, und das
werden wir auch tun. Wir wollen das Strafrecht überarbeiten, um Täter wirksam bestrafen zu können. Wir wollen vor allen Dingen die Arbeitsausbeutung stärker in
den Fokus nehmen; denn die ist viel zu wenig in der Diskussion. Wir wollen, damit wir legale Prostitution von
Zwangsprostitution besser unterscheiden und Zwangsprostitution besser bekämpfen können, eine strikte Trennung vornehmen und auch dort Verbesserungen erreichen.
Ausgangspunkt - das haben Sie gesagt, Herr Beck ist der Schutz der Opfer von Menschenhandel. Das ist
der Ausgangspunkt all unserer Bemühungen. Deshalb ist
es natürlich richtig und wichtig, das Aufenthaltsrecht zu
verbessern. Wir waren zu Anfang der 17. Legislaturperiode mit dem Rechtsausschuss in den USA - Sie waren
dabei, Frau Jelpke; Jerzy Montag, unser früherer Kollege, war dabei - und haben uns gemeinsam vorgenommen, wie die USA - das ist nämlich ein gutes Beispiel ein umfassendes Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel zu schaffen.
Wir haben in den USA ganz kritisch nachgefragt:
Kommen mehr Menschen dadurch in die USA, dass sie
vorgeben, Opfer von Menschenhandel zu sein? Die Antwort war ganz klar und deutlich: Nein, das schafft keine
Sogwirkung. Niemand erklärt sich zum Opfer von Menschenhandel und nutzt ein Aufenthaltsrecht dadurch aus.
Das war für uns ein gutes Beispiel. Deswegen haben
wir gemeinsam vereinbart, dass wir das Aufenthaltsrecht
überarbeiten und dass wir für Opfer von Menschenhandel ein besseres, ein wirksames Bleiberecht in Deutschland schaffen.
Genau das steht in dem Gesetzentwurf aus dem Bundesministerium des Innern, der am Mittwoch im Kabinett verabschiedet wurde. Dieser Entwurf enthält keine
kleinen Verbesserungen, sondern ganz viele wichtige
und ganz erhebliche Verbesserungen für die Opfer von
Menschenhandel.
({1})
Das sind genau die Verbesserungen, die auch in dem Gesetzentwurf der Grünen und in dem Europaratsübereinkommen angesprochen werden. Ich will die fünf Punkte
noch einmal hervorheben - sie sind alles andere als unwesentlich -:
Wir gestalten das Bleiberecht in eine Sollvorschrift
um. Außerdem gestalten wir das Bleiberecht so um, dass
den Opfern von Menschenhandel der Aufenthalt nicht
mehr nur für sechs Monate, sondern für ein Jahr gewährt
werden soll. Es gibt außerdem eine Sollverlängerung des
Bleiberechts nach dem Strafverfahren. Auch das ist eine
deutliche Verbesserung. Wir haben zudem die Möglichkeit eines Familiennachzugs geschaffen. Ihn gab es bisher überhaupt nicht. Er war für Opfer von Menschenhandel ausgeschlossen. Der Familiennachzug ist für die
Opfer jedoch sehr wichtig.
({2})
Und: Wir schaffen einen Zugang zu Integrationskursen.
Auch das ist wichtig, weil wir die Opfer nicht nur wirksam schützen, sondern ihnen auch die Möglichkeit geben wollen, sich hier zu integrieren und länger hier zu
bleiben.
Ich freue mich auf die Beratungen dieses Gesetzentwurfes hier im Deutschen Bundestag, weil darin die
wichtige Vereinbarung enthalten ist, die Opfer von Menschenhandel wirksam zu schützen.
Am 28. November dieses Jahres haben wir im Bundesrat und vorher auch in diesem Hause eine weitere
Verbesserung für Opfer von Menschenhandel erreicht.
Wir haben sie nämlich komplett aus dem Geltungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes herausgenommen. Dafür hat sich die SPD-Fraktion sehr engagiert,
und wir haben das gemeinsam vereinbart; auch der Bundesrat fand das richtig. Denn Opfer von Menschenhandel gehören nicht in den Geltungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes. Vielmehr sollen sie dann, wenn
sie Sozialleistungen beziehen, diese auf Grundlage der
normalen Sozialregelungen beziehen.
({3})
Wir haben uns außerdem etwas vorgenommen, was
ich schon angesprochen habe - Stichwort: wirksame Bestrafung der Täter -: Wir wollen die entsprechenden Regelungen im Strafrecht, insbesondere die §§ 232 und 233
Strafgesetzbuch, so überarbeiten, dass nicht mehr allein
die Aussage der Opfer entscheidend ist für die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens, eines Strafverfahrens und für eine mögliche Verurteilung der Täter,
sondern die Gesamtumstände der Ausbeutung berücksichtigt werden. Damit werden die objektiven Tatumstände stärker herangezogen. Dadurch machen wir die
Bestrafung der Täter etwas unabhängiger von der Aussage der Opfer, als es gegenwärtig der Fall ist.
({4})
Eine letzte Bemerkung. Wenn wir Opfer besser schützen und Täter wirksamer bestrafen wollen, dann muss
man sich hier im Haus, also im Bund, aber auch in den
Ländern darüber im Klaren sein, dass wir dafür Geld in
die Hand nehmen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen bessere Schulungen, beispielsweise
der Grenzbeamten und der Behördenmitarbeiter. Wir
brauchen Beratungsstellen. Wir brauchen Sensibilisierungskampagnen. Wir brauchen einen Zugang zu Bildung. Über die rechtlichen Regelungen hinaus, über die
wir hier miteinander diskutieren, wird es erforderlich
sein, die geplanten Schritte durch solche Maßnahmen zu
ergänzen.
Ich denke, das ist ein gutes Maßnahmenpaket für die
Opfer von Menschenhandel bzw. zur Bekämpfung von
Menschenhandel insgesamt. Wir schützen damit die Opfer besser, und wir bestrafen die Täter wirksamer. Ich
würde mich freuen, wenn wir darüber diskutieren und es
gemeinsam auf den Weg bringen würden. Denn in dem
Paket der Koalition sind viele Punkte, die Sie in Ihrem
Gesetzentwurf aufführen, bereits enthalten oder sogar
schon erledigt.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Volker Ullrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist im Grunde schon eine beschämende Situation: In den Minuten, in denen wir hier über Opfer von
Menschenhandel diskutieren, werden in diesem Land
Tausende von Menschen ausgebeutet. Sie müssen zum
Zwecke eines unnatürlichen Gewinnstrebens dienen,
und sie werden an Körper und Seele ausgebeutet. Wir in
Deutschland sind stolz auf unseren Rechtsstaat, auf unsere Werte und Traditionen. Aber wir müssen selbstkritisch sagen: Wir haben es nicht geschafft - bislang nicht
geschafft -, die Strukturen und Umstände von Menschenhandel in Deutschland wirksam zu bekämpfen.
Das bleibt unsere Pflicht.
Das Wort einer jungen Frau, die selbst Opfer von
Menschenhandel war und ein Buch darüber geschrieben
hat, soll uns zur Mahnung gereichen. Sie schreibt:
Kein junger Mensch … verkauft gern seinen
Körper. Doch wenn man diesen Weg erst einmal beschritten hat, führt er unaufhaltsam nach unten. Es
wird dunkler, … und man sieht nirgendwo einen
Ausweg.
Es ist unsere Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die
Menschen, die Opfer von Menschenhandel sind, einen
Ausweg sehen. Durch gesetzgeberische Maßnahmen
müssen wir diesem Leid ein Ende bereiten und sicherstellen, dass der wehrhafte Rechtsstaat diesen Menschen
zur Seite steht. Dafür stehen wir.
Es ist richtig, dass der Gesetzentwurf der Grünen in
vielen Punkten wahre Dinge anspricht,
({0})
Dinge, die der Gesetzentwurf der Regierung in den
nächsten Monaten anpacken und umsetzen wird.
({1})
Interessant ist aber auch, das anzusprechen, was die Grünen nicht in ihren Gesetzentwurf geschrieben haben.
Es gibt nämlich gerade auch im Bereich der sexuellen
Ausbeutung Umstände, die ein Handeln von uns allen
erfordern, und dieses Handeln fordern die Grünen gerade nicht ein. Es geht um das Handeln im Bereich der
Prostitution, um eine Reform des Prostitutionsgesetzes
aus dem Jahr 2002.
({2})
Ich mache Ihnen überhaupt keinen Vorwurf, dass im
Jahr 2002 dieses Gesetzgebungsverfahren so über die
Bühne ging. Es war sicherlich aus manchen Gründen gut
gemeint. Aber es hat sich in der Realität als nicht gut erwiesen, deshalb muss der Gesetzgeber den Mut haben,
dies anzusprechen und zu ändern. Wir wollen es ändern.
({3})
Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage? - Bitte, Herr Beck.
Nur damit das Hohe Haus bei der Chronologie durch
Ihren Sachvortrag nicht durcheinanderkommt: Würden
Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir als Grüne schon 2002
eine Ausgestaltung des Berufs- und Gewerberechts der
Prostitution für erforderlich gehalten haben und im Jahr
2013, als die schwarz-gelbe Koalition einen später im
Bundesrat gescheiterten Versuch unternommen hat, die
Menschenhandelsopferfrage zu regeln - wobei übrigens
auf das Aufenthaltsrecht gar nicht eingegangen wurde,
sondern nur auf das Strafrecht -, Änderungsanträge gestellt haben, um die gewerberechtliche Reglung der Prostitution vorzunehmen, die die Koalition jetzt auch im
Grundsatz aufgegriffen hat?
In vielen Details werden wir uns wahrscheinlich noch
auseinandersetzen müssen, aber wir sind uns einig, dass
wir Prostitutionsstätten gewerberechtlich durchregeln
müssen. Der Kollege Uhl war damals bass erstaunt, dass
von uns Anträge kamen, die offensichtlich in der damaligen Koalition nicht mehrheitsfähig gewesen sind. Wir
sind sogar so weit gegangen - was in Ihren Reihen,
glaube ich, jetzt auch diskutiert wird -, zu sagen: Wer als
Freier vorsätzlich die Dienstleistung eines Menschenhandelsopfers ausnutzt, der muss dafür natürlich bestraft
werden, weil er sich zum Täter macht und sich nicht darauf berufen kann, dass ihm jemand anderes das Menschenhandelsopfer zugeführt hat.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
vielleicht schon etwas weiter waren als Sie, gezwungen
durch Ihren Koalitionspartner in der letzten Legislaturperiode? - Sie müssen nur Ja sagen.
({0})
Herr Kollege Beck, Ihre Rhetorik kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Sie von völlig falschen Voraussetzungen ausgehen. Wenn Sie sich mit Opferverbänden,
mit Personen unterhalten, die sich beruflich mit den Folgen des Menschenhandels beschäftigen, dann wird Ihnen
unisono gesagt: Das rot-grüne Prostitutionsgesetz aus
dem Jahr 2002 hat es erst ermöglicht, dass in Deutschland
({0})
- Kollege Beck, Zuhören erleichtert manchmal die Findung der Realität ({1})
Hunderttausende von jungen Frauen in Bordellen ausgebeutet werden konnten,
({2})
weil man es aufgrund der laxen Rechtslage den Bordellbesitzern einfach gemacht hat, diese Menschen auszubeuten. Legale Prostitution lässt sich oftmals in einem
Graubereich nicht von Zwangsprostitution trennen, deswegen tragen Sie Mitverantwortung für dieses Gesetz.
({3})
Daher wäre ich an Ihrer Stelle eher ruhig geblieben.
({4})
Wir wollen in diesem Hohen Hause die gesetzlichen
Maßnahmen umsetzen, um zukünftig junge Frauen stärker vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Dazu braucht
es nicht allein eine Reform der Erlaubnispflicht von Bordellen. Es braucht auch eine Anhebung des Mindestalters auf 21 Jahre. Wir brauchen eine verpflichtende Beratung und verpflichtende Gesundheitsuntersuchungen.
Wir brauchen eine Abschaffung des eingeschränkten
Weisungsrechts, und wir brauchen am Ende auch eine
Änderung der Kultur in diesem Land. Körper sind keine
Ware.
({5})
Man kauft Menschen nicht. Der Respekt vor Menschen
verbietet es, dass wir sexuelle Dienstleistungen als Ware
ansehen. Es geht um Menschen, die oftmals vor dem
Hintergrund einer legalen Fassade ausgebeutet wurden.
({6})
Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren und tolerieren
wollen.
({7})
Meine Damen und Herren, die Frage der Bekämpfung
von Menschenhandel ist geprägt durch ein Mosaik von
vielen Maßnahmen.
({8})
Wir müssen stärker überwachen, dass Unternehmer
Menschen nicht ausbeuten. Wir müssen zukünftig die
Bordellszene in Deutschland stärker reglementieren, um
damit die Opfer zu schützen. Wir müssen dieses Thema
aber immer auch vor dem Hintergrund der Würde des
Menschen betrachten. Dort, wo die Würde des Menschen verletzt ist, haben wir die Pflicht, zu handeln. Die
Würde des Menschen ist die beste Idee, die wir haben.
Deswegen ist das Handeln unsere allererste Pflicht.
({9})
Dafür wollen wir kämpfen.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin Susanne Mittag hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeskriminalamt vermeldete in seinem Bundeslagebild
Menschenhandel 2013 - damit wollen wir wieder zu den
Fakten kommen - 603 Opfer des Menschenhandels in
Deutschland. 542 davon sind Opfer des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung geworden.
Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Frauen. Ihr
Anteil beträgt 96 Prozent. Weiter registrierte das BKA
61 Opfer des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann sieht man, dass es sich also in erster Linie
um sexuelle Ausbeutung handelt.
Insgesamt sind es 603 Menschen, die wie ein Handelsgut von Kriminellen über Staatsgrenzen hinweg verkauft und ausgenutzt werden. Diese Straftaten gehen oftmals mit Gewalttaten, Freiheitsberaubung, Schleusungsund Fälschungsdelikten sowie anderen Delikten einher,
also der gesamten Bandbreite organisierter Kriminalität.
Das findet nicht in der Dritten Welt oder sonst wo statt,
sondern hier in Deutschland. Das sind erschreckende
Zahlen, aber sie zeigen leider nur die ermittelte Spitze
des Eisbergs; denn das BKA listet nur die abgeschlossenen polizeilichen Ermittlungsvorgänge auf. Es gibt also
noch jede Menge mehr. Es gibt ein riesiges Dunkelfeld.
Vor diesem Hintergrund finde ich es gut, dass wir
jetzt diese Diskussion führen. Ich finde es auch gut, dass
Sie - damit meine ich die Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen - hier einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der
Situation von Opfern des Menschenhandels in Deutschland eingebracht haben. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, wie es sein kann, dass
Hunderte Menschen wie Sklaven verkauft und ausgebeutet werden - genau das findet nämlich dabei statt -,
Hunderte oftmals unerkannt, Hunderte, vor denen wir als
Gesellschaft die Augen verschließen. Sie leben mitten
unter uns, mit falschen Versprechungen angelockt, in
teils unwürdigen Unterkünften, müssen sich prostituieren oder werden als billige Arbeitssklaven ausgebeutet,
werden um ihr Einkommen betrogen. Sie fühlen sich
nicht nur alleine, sie sind es auch. Sie wissen oftmals
nicht einmal, in welchem Land sie leben, da sie so häufig über Landesgrenzen hinweg verkauft werden. Sie
trauen sich kaum, Hilfe bei staatlichen Stellen oder sonstigen Organisationen zu suchen; denn die staatlichen Behörden in ihren Herkunftsländern sind weiß Gott oftmals
keine Hilfe.
Das ist, denke ich, erschreckend und nicht länger hinnehmbar. Deswegen sind die Diskussionen, die heute
und im Anschluss stattfinden, sehr gut und sehr wichtig.
Wir als Große Koalition haben uns im Koalitionsvertrag
vorgenommen, den Opfern des Menschenhandels in
Deutschland zu helfen. Das wollen wir jetzt tun. Die
Bundesregierung hat am Mittwoch im Kabinett einen
entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Dieser Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und
der Aufenthaltsbeendigung wird uns bald hier im Bundestag beschäftigen, nicht nur heute, sondern auch im
Rahmen einer größeren Diskussion. Ich gebe zu, dass
wir als SPD uns für alle Opfer einen eigenständigen Auf7130
enthaltstitel unabhängig von einer Aussage in einem
Strafverfahren gewünscht hätten.
({0})
Darüber müssen wir vielleicht noch ein bisschen verhandeln. Das haben wir nicht für alle, aber zumindest für
minderjährige Menschenhandelsopfer erreicht; das ist
doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.
Gleichwohl sind in diesem Gesetzentwurf jede Menge
Verbesserungen enthalten: Eine Aufenthaltserlaubnis soll
nun für ein Jahr erteilt werden bzw. verlängert werden
bei Strafverfahren und soll nach Abschluss des Verfahrens aus humanitären oder persönlichen Gründen für
zwei Jahre erteilt werden. Das waren vorher nur sechs
Monate; das ist schon mal ein Riesenunterschied. Damit
geben wir den Menschen hier eine aufenthaltsrechtliche
Perspektive. Nur so können wir erreichen, dass die Opfer
vielleicht doch bereit sind, in einem Prozess auszusagen;
das ist nicht unbedingt zwingend.
Verbessert wurde auch, dass die oben beschriebene
Vorschrift zur Aufenthaltserlaubnis eine Soll- und nicht
mehr eine Kannbestimmung ist; das ist ebenfalls ein riesiger Unterschied.
({1})
Das schafft sehr wohl Klarheit und verbessert die Sicherheit der Betroffenen.
({2})
- Da arbeiten wir noch dran.
({3})
Wir haben ja noch Zeit zum Diskutieren, da steigen wir
noch ein.
({4})
Jetzt kommt der Punkt für Sie: Verbessert wurde auch
der Familiennachzug der Opfer, schon während des Verfahrens. Herr Beck, das ist ganz wichtig für die Diskussion mit Ihnen; das fehlt nämlich gänzlich in dem Gesetzentwurf der Grünen. Der Familiennachzug ist aber
entscheidend für die Opfer von Menschenhandel. 30 Prozent der Opfer geben laut Lagebericht des BKA an, dass
auf ihre Aussagebereitschaft bei Polizei oder Gericht
durch die Täter oder deren Umfeld eingewirkt wurde.
Das ist nicht zu unterschätzen; denn „eingewirkt“ ist ein
sehr milder Ausdruck für das,
({5})
was da abgeht: dass entweder direkt, auf die Opfer
selbst, oder indirekt, auf ihre Familien, eingewirkt
wurde. Ich denke, jeder kann sich gut vorstellen, dass
Frauen - ich erinnere an die Zahl, die ich zu Anfang genannt habe: 96 Prozent der Opfer von Menschenhandel
sind Frauen - um die Sicherheit ihres Kindes besorgt
sind, wenn sie wissen, dass ihr Kind in der Reichweite
der Täter ist und bleibt, und das machen die Täter den
Opfern auch sehr deutlich klar. Es ist also existenziell für
die Opfer von Menschenhandel, mit ihren Familien in einem sicheren Umfeld - das heißt: nicht wieder in dem
Dorf oder in der Gegend, aus der sie kamen - zusammen
leben zu können. Es ist auch ein Gebot der Menschlichkeit, dass wir uns hier auch darum kümmern.
({6})
- Schön. - Und es hilft den Ermittlungsbehörden, weil
dadurch die Bereitschaft der Opfer zur Aussage gegen
die Täter wahrscheinlicher wird. Mit dem Familiennachzug nimmt man den Tätern ein erhebliches Druckpotenzial, endlich.
Ich freue mich auf die anstehenden parlamentarischen
Beratungen zu diesem Thema; sie sind ja heute schon ordentlich losgegangen. Ich denke, im Ziel - der Verbesserung der Situation der Opfer - sind wir uns parteiübergreifend einig. Ich bin mir sicher, dass wir hier im
Parlament eine konstruktive Diskussion darüber führen
werden, wie wir den Opfern von Menschenhandel insgesamt am besten helfen können.
Vielen Dank für Ihre Mitarbeit schon mal im Voraus.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns eint in diesem Haus, dass wir die Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuregelung zur Bekämpfung von Prostitution und Menschenhandel in Deutschland sehen. So
sollte das Ergebnis auch konkrete Verbesserungsmaßnahmen für die Opfer von Menschenhandel zur Folge
haben.
Das von der rot-grünen Regierung 2002 eingeführte
Prostitutionsgesetz - Ziel war die Einführung der Sozialversicherungspflicht - war sicherlich gut gemeint, hat
aber vielen betroffenen Frauen nicht geholfen.
({0})
Denn der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Prostituierten blieb minimal. Daher brauchen
wir wirksame Entscheidungen für die Betroffenen.
Liebe Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
Sie beziehen sich in Ihrem Gesetzentwurf auf die Opfer
von sexueller Ausbeutung und die Opfer von AusbeuChristel Voßbeck-Kayser
tung der Arbeitskraft. Natürlich müssen die Opfer immer
im Mittelpunkt stehen! Ohne die Opferhilfe, den Opferschutz geht es nicht. Aber der Staat kann nicht alles
leisten. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank den zahlreichen Organisationen, Vereinigungen und Initiativen in unserem Land aussprechen, die, getragen von hohem ehrenamtlichem
Engagement, den Opfern direkte Begleitung, Hilfe und
Unterstützung im Alltag zukommen lassen, die einfach
zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden. Vielen Dank
für diese Ihre Arbeit!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, aus unserer Sicht geht Ihr Entwurf jedoch nicht weit genug;
denn er befasst sich nur mit einem Teilaspekt: Sie kümmern sich nur um die Nachsorge. Es geht aber auch um
Prävention, also um Maßnahmen zur Verhinderung der
Entstehung von Menschenhandel.
({2})
Sie wollen am Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Berichterstatterstelle für Menschenhandel
schaffen. Das ist sicherlich eine Überlegung wert. Aber
schaut man sich einmal in Ihrem Gesetzentwurf die Aufgabenbeschreibung für diese Stelle an, stellt man fest, es
soll beobachtet werden, es sollen Daten erfasst und es
soll über Geschehenes berichtet werden. Was hilft das
bitte den Opfern? Aufgaben im Bereich der Präventionsarbeit sucht man in Ihrer Stellenbeschreibung vergebens.
Warum soll diese Stelle im Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelt sein? Menschenhandel ist
ein vielschichtiges und ein ressortübergreifendes Problem.
({3})
Wir haben es mit Menschenhandel zum Zweck der
Ausbeutung der Arbeitskraft zu tun. Hier ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefragt. Aber - das
wurde heute festgestellt - ein großer Teil des existierenden Menschenhandels ist im Bereich der sexuellen Ausbeutung. Hier ist das Bundesfamilienministerium in der
Pflicht. Auch dort wird an einem neuen Gesetz gearbeitet. Denken wir auch an den Menschenhandel zum
Zweck des Organhandels. Dies fällt in das Ressort des
Bundesgesundheitsministeriums.
Menschenhandel ist ein grenzüberschreitendes Problem. Daher kann eine Bekämpfung nur gelingen, wenn
im internationalen Bereich eng zusammengearbeitet
wird. Somit sind auch das Auswärtige Amt und das Bundesentwicklungsministerium unbedingt mit einzubeziehen.
Dies macht doch deutlich: Eine ressortübergreifende
ganzheitliche Abstimmung ist unabdingbar. Und: Wir
dürfen in den verschiedenen Ressorts keine Parallelstrukturen aufbauen, sonst entstehen nur Reibungsverluste. Deshalb mein Fazit: Wir brauchen im Sinne der
Opfer und der Vielschichtigkeit von Menschenhandel
ressortübergreifende Lösungen. Die Ursachen von Menschenhandel bekämpfen wir nur mit direkten Maßnahmen, so wie sie im Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb
noch im Jahr 2013 vorgelegt wurden. Dort ging es um
die Änderung des Gewerberechts und des Strafrechts.
Dies wurde aber im rot-grün dominierten Bundesrat verhindert.
({4})
Dies hilft den Opfern so nicht. Stützen und stärken wir
doch besser alle gemeinsam die bestehenden Strukturen
mit entsprechenden Gesetzen, statt einseitige und damit
wenig wirksame neue Strukturen zu schaffen!
({5})
Ich glaube, wir alle haben einen Ausblick auf die
spannenden Aussprachen und Verhandlungen zu diesem
Thema bekommen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3256 an die an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Dezember 2014, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute und, soweit es geht, einen schönen zweiten Advent.